Marxismus als Sozialwissenschaft. Rechts- und Staatsverständnisse im Austromarxismus 9783848712373, 9783845253527

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Marxismus als Sozialwissenschaft. Rechts- und Staatsverständnisse im Austromarxismus
 9783848712373, 9783845253527

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Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Wolfgang Kersting, Kiel Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Pier Paolo Portinaro, Torino Volker Reinhardt, Fribourg Tine Stein, Göttingen Ryuichiro Usui, Tokyo Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau

Staatsverständnisse herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 115

Andreas Fisahn | Thilo Scholle Ridvan Ciftci [Hrsg.]

Marxismus als Sozialwissenschaft Rechts- und Staatsverständnisse im Austromarxismus

© Titelbild: ÖNB/Wien, H1703/2. Von links nach rechts: Otto Bauer (1881 – 1938), Max Adler (1873 – 1937), Karl Renner (1870 – 1950).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-1237-3 (Print) ISBN 978-3-8452-5352-7 (ePDF)

1. Auflage 2018 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Editorial

Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Verände‐ rungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die »Entgrenzung der Staatenwelt« jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien der Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben, einen Wandel, der nicht mit der Glo‐ balisierung begonnen hat und nicht mit ihr enden wird. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema »Wiederaneignung der Klassiker« im‐ mer wieder zurück zu kommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver‐ ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den Wei‐ marer Staatstheoretikern Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller und weiter zu den zeitgenössischen Theoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideolo‐ gie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer von einander zu trennen sind. Auch die Verstrickungen Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusam‐ menhang nicht verzichtet werden.

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Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen, sondern vor allem auch an Stu‐ dierende der Geistes- und Sozialwissenschaften. In den Beiträgen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. So wird auch der / die Studierende unmit‐ telbar in die Problematik des Staatsdenkens eingeführt. Prof. Dr. Rüdiger Voigt

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Inhaltsverzeichnis

Thilo Scholle Das Staatsverständnis im Austromarxismus - Einleitung

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Nationalstaat – Rechtsstaat – Sozialstaat – Demokratie im Austromarxismus Andreas Fisahn Adlers staatstheoretischer Disput mit Kelsen – zur Staatstheorie des Austromarxismus

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Armin Puller Demokratietheoretische Überlegungen bei Otto Bauer und Max Adler

43

Folke große Deters Notwendigkeit und Freiheit. Austromarxismus zwischen Kant und Marx

63

Richard Saage Karl Renners Version des „Austromarxismus“

77

Der Austromarxismus – zeitgenössische Debatten Lutz Musner Der Februar 1934: Otto Bauers Nachbetrachtungen im Kontext der aktuellen Faschismusforschung

91

Günther Sandner Der Austromarxismus und die Wiener Moderne

111

Ridvan Ciftci „Von den Österreichern lernen!“ – Der Einfluss des Austromarxismus auf die Parteilinke der Weimarer Sozialdemokratie

125

Eveline List Austromarxismus und Psychoanalyse

139

7

Gerhard Botz Austromarxistische Faschismustheorien: Otto Bauer und Karl Renner über faschistische Massenbewegungen und Herrschaftsformen

157

Uli Schöler Bolschewismus oder Sozialdemokratie. Die österreichischen Sozialdemokraten und Sowjetrussland

177

Zur Aktualität des Austromarxismus Andreas Fisahn Zur Aktualität der Nationalitätenfrage

195

Thilo Scholle Austromarxismus und soziale Demokratie – zur Suche nach aktuellen Anschlüssen an die Staats- und Verfassungstheorie des Austromarxismus

211

Kolja Möller Der rote Polybios: Form und Konflikt in Otto Bauers Theorie der demokratischen Republik

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Die Autorinnen und Autoren

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Thilo Scholle Das Staatsverständnis im Austromarxismus - Einleitung

„Das Ringen zwischen dem Marxismus und dem Revisionismus, das um die Jahr‐ hundertwende das geistige Leben aller sozialistischen Parteien beherrschte, gab der jungen sozialistischen Intelligenz starke Anregung. So ging damals aus der Wiener sozialistischen Studentenbewegung eine junge marxistische Schule hervor, deren hervorragendste Vertreter am Ende der 90er Jahre Max Adler, Karl Renner und Ru‐ dolf Hilferding waren. Ihnen gesellten sich etwas später Gustav Eckstein, Friedrich Adler und ich. Auf akademischem Boden, in der Auseinandersetzung mit den Geis‐ tesströmungen der akademischen Welt jener Jahre, war diese junge marxistische Schule den Geistesströmungen der Zeit näher als die ältere Marxistengeneration, als die Kautsky, Mehring, Lafargue, Plechanow. Der amerikanische Marxist Boudin hat diese junge Wiener Marxistenschule zuerst als die Austromarxisten bezeichnet. Krieg und Revolution haben allerdings später die Geistesgemeinschaft der aus‐ tromarxistischen Schule von damals gesprengt (…).“1 Diese von Otto Bauer in der Rückschau etwa 30 Jahre später getroffene Beschrei‐ bung des Ausgangspunktes austromarxistischen Denkens wird eindrücklich durch einen Blick in den ersten Band der „Marx-Studien“ von 1904 bestätigt. Dort formu‐ lieren die Herausgeber Max Adler und Rudolf Hilferding für ihre neu ins Leben ge‐ rufene Publikation den Anspruch, „die systematische Erfassung und Durcharbeitung der Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels, die Herausholung ihres vollen In‐ haltes in einer bewussten Nachschöpfung aus dem Zusammenhange des gesamten Denkens bei ihren Schöpfern, endlich ihre Weiterbildung durch eine unausgesetzte Verknüpfung und Ineinssetzung ihrer Ergebnisse mit aller übrigen philosophischen und wissenschaftlichen Arbeit unserer Zeit“2 leisten zu wollen. Ganz bewusst ver‐ weigern die beiden Herausgeber eine Antwort auf die hypothetische Frage, ob sie denn orthodoxe oder revisionistische Marxisten seien. „So ist denn sicher auch uns der Marxismus kein starres System. Es werden gerade die Arbeiten dieses Bandes zeigen, wie sehr wir alles an ihm in Entwicklung sehen, eine Entwicklung, die wir aber nur dann richtig fassen zu können glauben, wenn nunmehr allenthalben die be‐ wusste Verknüpfung der marxistischen Denkresultate und –Methoden mit dem ge‐

1 Bauer/Adler 1934: S. 297ff., hier zitiert nach: Bauer 1980: S. 754ff. 2 Adler/Hilferding 1904: S. V.

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samten modernen Geistesleben, das ist mit dem Inhalt der philosophischen und sozi‐ alwissenschaftlichen Arbeit unserer Zeit hergestellt wird.“3

Austromarxismus als Diskursgemeinschaft Die genaue Definition und Abgrenzung „austromarxistischen“ Denkens ist nicht ganz einfach. Möglich ist eine Beschreibung als Personenensemble, wie im Ein‐ gangszitat dieses Beitrags durch Otto Bauer selbst. Denkbar ist darüber hinaus auch eine gelegentlich von politischen Gegnern der Sozialdemokratie vorgenommene Be‐ zeichnung, mit der schlicht sämtliches marxistisch orientiertes Denken im Österreich der Zwischenkriegszeit gemeint sein sollte. Politisch und wissenschaftlich am inter‐ essantesten ist die in der Einleitung zu den Marx-Studien umrissene Definition: Aus‐ tromarxismus als eine Entwicklung in an Marx und Engels orientierter Gesell‐ schaftsanalyse, die gerade nicht schlichte Textexegese der „großen Meister“ treiben wollte, sondern ein stetiges – auch streitiges und kontrovers zu diskutierendes - Wei‐ terdenken mit Marx und Engels unter Verarbeitung und Einbeziehung sämtlicher an‐ derer zeitgenössischer Wissenszugänge – kurz: eine Idee von Marxismus als kriti‐ scher Sozialwissenschaft.4 Publizistischen Niederschlag fanden die Debatten der Austromarxisten in den 1904 von Max Adler und Rudolf Hilferding gegründeten und dann in fünf Bänden erschienenen „Marx-Studien“ sowie in der 1907 von Otto Bauer, Adolf Braun und Karl Renner gegründeten Zeitschrift „Der Kampf“, die bis in das Exil der 1930er Jahre hinein die Theoriezeitschrift der österreichischen Sozialdemokratie bleiben sollte. Daneben publizierten die beteiligten Akteure eine Vielzahl weiterer Bücher, Abhandlungen, Broschüren, Zeitschriftenartikel und Zeitungsbeiträge. Die diskutier‐ ten Themen waren weit gespannt und standen in ständiger Auseinandersetzung mit den damals elaboriertesten Versuchen in der akademischen Philosophie und Sozial‐ wissenschaft: mit der Wissenschaftstheorie Ernst Machs, mit dem Neukantianismus, mit dem “Wiener Kreis”, mit der Soziologie Webers, Simmels und Tönnies’, mit der Rechtstheorie Hans Kelsens und Georg Jellineks, mit der österreichischen Variante der Grenznutzentheorie des Werts, mit der Geldtheorie von Mises’ und Hayeks, mit der neuen Psychologie und vielen weiteren Neuerungen, Pionierleistungen und geis‐ tigen Strömungen, die im Wien der belle époque und der Zwischenkriegszeit zur Blüte kamen. Dabei befassten sich die Protagonisten des Austromarxismus nicht nur mit politischen und ökonomischen Fragen im engeren Sinne – wie beispielsweise Ernst Glaser in seinem Standardwerk „Im Umfeld des Austromarxismus“ mit Ver‐ weis auf die Niederschläge austromarxistischer Debatten in den Bereichen der Psy‐ 3 Ebd., S. VIIf. 4 Siehe zu den Definitionsmöglichkeiten auch Möckel 1994: S. 755- 763.

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chologie, Pädagogik, Kunst, Literatur, Musik und Film eindrucksvoll aufzeigt.5 Kern der intellektuellen Arbeit blieb das Nachdenken über die ökonomische und politi‐ sche Verfasstheit der zeitgenössischen (österreichischen) Gesellschaft. So enthält Band 1 der Marx-Studien Karl Renners wegweisende rechtssoziologische Arbeit über „Die soziale Funktion der Rechtsinstitute“, Band 2 Otto Bauers „Die Nationali‐ tätenfrage und die Sozialdemokratie“, mit der sich der junge Jurist mit einem Schlag einer breiten wissenschaftlich-politischen Öffentlichkeit bekannt machte, Band 3 Rudolf Hilferdings „Finanzkapital“, eine Arbeit die bis heute zurecht als eine der wichtigsten Weiterentwicklungen Marxschen Denkens im Bereich der Ökonomie gilt, Band 4 u.a. Gustav Ecksteins „Der Marxismus in der Praxis“ (Teilband 1) sowie Max Adlers Arbeit über den Staatsbegriff (Teilband 2) und schließlich Band 5 Otto Leichters „Wirtschaftsrechnung in der sozialistischen Gesellschaft“ als Antwort auf Max Webers und Ludwig Mises‘ These, wonach eine rationale Wirtschaftsrechnung im Sozialismus nicht existieren könne.6 Wichtig zu beachten ist, dass alle Protagonisten austromarxistischer Debatten auf die eine oder andere Art mit praktischer Politik beschäftigt waren. Auf gesamtstaat‐ licher Ebene in Österreich zwar von fast 40 % der Wählerinnen und Wähler getra‐ gen, mangels politischer Partner aber ohne Mehrheitsperspektive, wurde die Sozial‐ demokratische Partei in Wien nahezu hegemonial, und erreichte bei Gemeinderats‐ wahlen nahe 60 % der Stimmen. Insbesondere in den Bereichen der Sozial- und Ge‐ sundheitsversorgung, im (sozialen) Wohnungsbau sowie bei der Volksbildung erziel‐ te sie dabei bis heute bemerkenswerte Fortschritte. Das „Rote Wien“ stand so auch als Schaufenster für die praktische Umsetzung austromarxistischer Politik und als Ort einer lebendigen und vielfältigen Arbeiterkultur. Zugleich wird von manchen Kommentatoren das Ende der ersten Republik nach den Februar-Kämpfen 1934 als Zeichen des Scheiterns auch der politischen Theorie und Strategie des Austromar‐ xismus gesehen. Die theoretischen Debatten und Weiterentwicklungen im Austromarxismus verar‐ beiten immer auch jeweils aktuelle politische Fragestellungen. Die Autoren stehen nicht außerhalb der Ereignisse, sondern gehören selbst mit zu den Akteuren der je‐ weiligen politischen Entwicklung. Besonders eindrucksvoll zeigt sich diese unmit‐ telbare sozialwissenschaftliche Verarbeitung politischer Entwicklungen bei Otto Bauer: In seiner 1923 erschienen Analyse „Die österreichische Revolution“7 zur ge‐ sellschaftlichen Entwicklung nach dem Ende der Habsburger Monarchie, den vor‐ handenen Entwicklungsmöglichkeiten und der Rolle der Sozialdemokratie, sowie in seiner Auseinandersetzung mit den Gründen für die Niederlage der Arbeiterbewe‐ 5 Vgl. Glaser 1981. 6 Vgl. zur Ideengeschichte des Austromarxismus umfassend Glaser, a.a.o.; zur ideengeschichtli‐ chen Einordnung und zu den methodologischen Prämissen des Austromarxismus siehe auch Motzetic 1987. 7 Bauer 1976: S. 489ff.

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gung im Kampf gegen den Austrofaschismus im Februar 1934, „Zwischen zwei Weltkriegen?“8 Auch Karl Renner, der als einziger aus der Kerngruppe der Aus‐ tromarxisten nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch auf großer Bühne politisch ak‐ tiv, spiegelt in vielen seiner Schriften das Wechselverhältnis zwischen Theorie und Praxis. Über die Prämisse eines als empirische Sozialwissenschaft verstandenen Marxis‐ mus hinaus lassen sich bei den Protagonisten kaum übergreifende gemeinsame Theoreme feststellen. Schon vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs begannen sie zu‐ dem, unterschiedliche politische, aber auch geographische Wege zu nehmen. Rudolf Hilferding ging nach Deutschland, wurde Dozent für Nationalökonomie an der Par‐ teischule der SPD, in der Weimarer Republik u.a. Chefredakteur der SPD-Theorie‐ zeitschrift „Die Gesellschaft“ sowie zwei Mal Finanzminister. Hilferding starb 1941 in deutscher Gestapo-Haft in Paris. Otto Bauer, der den größten Teil des Ersten Weltkrieges in russischer Kriegsgefangenschaft verbringen musste, wurde 1918 kurzzeitig österreichischer Außenminister, und schließlich die gesamte Zeit der Re‐ publik über Parlamentsabgeordneter und unumstrittener Kopf der österreichischen Sozialdemokratie – auch wenn er nie offiziell Parteivorsitzender war. Mit dem „Lin‐ zer Programm“ der SDAP von 1926 gestaltete er zudem eines der zentralen politi‐ schen Dokumente der europäischen Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit. Nach der Niederlage des sozialdemokratischen Schutzbundes im Februar-Aufstand 1934 ins tschechoslowakische Exil gezwungen, nahm sich Bauer politisch zurück, und un‐ terstützte die in Österreich aktiv gebliebenen Sozialdemokraten. Nach der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei erneut zur Flucht gezwungen, starb er 1938 in Pa‐ ris.9 Max Adler bekleidete keine Parteiämter, übte durch seine Schriften aber großen intellektuellen Einfluss innerhalb der gesamten deutschsprachigen Sozialdemokratie aus, und schaffte es, als außerordentlicher Professor an der Universität Wien zumin‐ dest einen Fuß auch in die von konservativen und reaktionären Kräften dominierte akademische Welt zu setzen.10 Karl Renner, nach der österreichischen Revolution 1918 kurzzeitig Regierungschef, und lange Zeit Präsident des Nationalrats, blieb nach dem Februaraufstand in Österreich, und zog sich aufs Land zurück.11 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Renner zum ersten Bundespräsidenten Ös‐ terreichs gewählt, was er bis zu seinem Tod im Jahr 1950 blieb.12 Insbesondere Ren‐ ner wird in manchen Einordnungen eine zunehmende Distanz zu marxistischen Den‐ ken unterstellt. Naheliegender ist das Urteil von Richard Saage, der in seiner um‐ fangreichen intellektuellen Biographie Renners ausführt, auch nach dem Zweiten 8 9 10 11

Bauer 1976a: S. 49ff. Krätke 1997; Saage 2007: S. 249-63; Scholle 2016: S. 53-70 sowie zuletzt Hanisch 2011. Pfabigan 1982, sowie Leser/Pfabigan 1981. Näheres zu Renners Haltung beim Anschluss an das Dritte Reich und dem Münchner Abkom‐ men 1938: Saage 2016, S. 264 ff. 12 Saage 2016.

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Weltkrieg habe dieser „die austromarxistische Methode der Analyse gesellschaftli‐ cher Phänomene nach wie vor als uneingelöstes Erbe und Auftrag für die Zukunft des demokratischen Sozialismus“ betrachtet.13 Robert Danneberg, der eigentliche Verfassungsjurist der Sozialdemokraten, Mitautor der neuen Wiener Gemeindever‐ fassung und maßgeblicher Akteur des „Roten Wien“ wurde 1942 im Konzentrations‐ lager Auschwitz ermordet.14 So lässt sich das austromarxistische Denken am besten als Diskursgemeinschaft verstehen: Die beteiligten Akteure lasen, reflektierten und publizierten unter enger Bezugnahme – und auch Abgrenzung – zueinander, und entwickelten so eine greif‐ bare „austromarxistische Diskursgemeinschaft“. Dies galt in den 1920er Jahren über Ländergrenzen hinweg im gesamten deutschsprachigen Sprachraum. Die Gruppe der beteiligten Personen lässt sich dabei nicht abschließend festmachen. Neben den bis‐ lang genannten ließen sich auch noch Carl Grünberg, der als Professor in Wien um die Jahrhundertwende mit nahezu allen in Wien studierenden jungen Sozialdemokra‐ ten im Austausch stand, und auch der seit den 1920er Jahren wieder in Wien lebende Karl Kautsky hinzurechnen. Neben dem engen Kreis der tatsächlich sowohl in der Sozialdemokratie politisch organisierten wie auch analytisch auf Marx bezogenen Denker gab es ein größeres intellektuelles Umfeld gerade in Wien, mit dem der Austromarxismus in einem Aus‐ tausch stand. Besondern fruchtbar entwickelte sich dies beispielsweise mit Hans Kelsen, der sich selbst als Sozialdemokrat verstand und mit Otto Bauer gut befreun‐ det war, und der intensive intellektuelle Auseinandersetzungen mit der Staats- und Rechtstheorie nach Marx und Engels wie auch der austromarxistischen Interpreten führte.15 Auch Otto Neurath, einer der führenden Vertreter des „Wiener Kreises“ pflegte intensiven Austausch in austromarxistische Debatten hinein.16

(Kritische) Einordnungen Der austromarxistische Versuch einer eigenständigen, an Marx wie an die zeitgenös‐ sische Staatslehre kritisch anknüpfenden politischen Theorie hat vor allem in den 1920er Jahren, anknüpfend an die großen Werke der Vorkriegszeit, eine ganze Reihe von Arbeiten des klassischen Marxismus hervorgebracht, die heute weitgehend ver‐ gessen bzw. nur noch Spezialisten bekannt sind. Ein Grund dafür ist auch der Kul‐ turbruch der NS‑Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs. Die Machtübernahme zu‐ 13 Ebd, S. 339. 14 Parcher 2014. 15 Vgl. die Beiträge in: Schriftenreihe des Hans-Kelsen-Instituts, Band 3, Reine Rechtslehre und marxistische Rechtstheorie, Wien 1978, sowie zuletzt zu Max Adler und Hans Kelsen siehe Somek 2001: S. 397 – 420. 16 Sandner 2014.

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nächst des Austrofaschismus und dann der Nationalsozialisten in Österreich zerstör‐ ten nicht nur den politischen Diskussionszusammenhang, sondern trieben die Prota‐ gonisten ins Exil oder in den Tod. Die breite Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur, die den Debatten des Austromarxismus ihren Raum und Rahmen gab, wurde so größtenteils ausgelöscht. Neben die weitgehend fehlende personelle Kontinuität trat mit der beginnenden Blockkonfrontation, Wiederaufbau sowie dem verdrucksten Umgang mit der jeweils eigenen Verstrickung in die NS‑Herrschaft durch breite Tei‐ le der Gesellschaft in Österreich auch ein anderes politisches und gesellschaftliches Umfeld auf. Im deutschen Sprachraum weitgehend vergessen17, sind diese Beiträge, da nur wenig übersetzt,18 in der heute dominanten angelsächsischen Diskussion weitgehend unbekannt geblieben. „This oblivion is quite undeserved, for the AustroMarxists made a notable contribution to the development of Marxist social science, and their analyses of the changes in twentieth-century capitalism, as well as their studies in Marxism as a method of social inquiry, retain much of their value today. (…) But the Austro-Marxist elaborated, so to speak, a scientific programme, a syste‐ matic framework of ideas within which intellectual inquiry – and more particularly, social research – could be carried on in a co-ordinated way by a group of thin‐ kers.”19 “(…) I think it can be argued that this was one of the most thorough, consis‐ tent, and intelligent attempts yet made to develop Marxism as an empirical social science, and that the neglect it has suffered is less the consequence of a considered intellectual judgement than the product of a collocation of unfavorable historical events.”20 Viele dieser Arbeiten Bauers, Adlers, Renners und anderer aber enthalten Ansätze zur Systematisierung und Differenzierung der Staatstheorie, die weit über alles hinausgehen, was zur gleichen Zeit und danach im Kontext des LeninismusStalinismus geleistet wurde. Diese Einschätzung ist nicht unwidersprochen, sie hängt insbesondere an der Fra‐ ge, was der jeweilige Autor unter „Marxismus“ eigentlich versteht. So hält beispiels‐ weise Alfred Pfabigan, Verfasser einer umfangreichen Arbeit über Max Adler fest, die Austromarxisten könnten nicht wirklich als Marxisten bezeichnet werden, es sei eine „in sich widersprüchliche Denkweise, die viele Elemente enthält, die den histo‐ risch fixierten Theoremen von Marx und Engels opponieren.“21 Die Austromarxis‐ ten hätten sich diese Widersprüche ersparen können, wenn sie für den Vorschlag ei‐ 17 Die meisten Arbeiten austromarxistischer Denker sind nur noch antiquarisch erhältlich. Eine Werkausgabe mit Aufnahme der meisten publizierten Texte erfuhr nur Bauer 1976-1980. 18 Siehe als Ausnahme den 1978 erschienen Sammelband von Bottomore/Goode 1978, der Über‐ setzungen einer Reihe kürzerer Texte der austromarxistischen Debatten enthält. Es wäre sehr zu wünschen, dass die im Jahr 2018 erschienen beiden umfangreichen Bände von Blum und Smaldone zu einer etwas breiteren Rezeption austromarxistischen Denkens im englischen Sprachraum führen werden. 19 Bottomore 1978: Introduction, S. 2. 20 Ebd., S. 7. 21 Pfabigan 1986: S. 102-113, S. 102.

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nes „Marxismus ohne Marx“ offen gewesen wären.22 Eine solche Sichtweise schließt allerdings selbst das Denken von Marx und Engels in ein viel zu enges intel‐ lektuelles Korsett. Ähnlich problematisch ist auch die Einschätzung, dass, was man als die politische Philosophie des Austromarxismus bezeichnen könne, berufe auf Prämissen, „die heute niemand mehr zu teilen vermag“, stehe es doch für alle Vertre‐ ter außer Zweifel, dass die kapitalistische Entwicklung zum Umschlag in den Sozia‐ lismus führen müsse. „Alle ihre Analysen entfalten sich auf dieser gleichsam axio‐ matischen Grundlage (von der freilich angenommen wird, sie sei von Marx und En‐ gels wissenschaftlich bewiesen worden), und umstritten kann daher nur mehr die Frage sein, wie weit man noch vom Sozialismus entfernt ist und in welchen Etappen und durch welche Politik er zu erreichen ist.“23 Auch Ewa Czerwinska-Schupp hält in ihrer Arbeit zu Otto Bauer fest, dieser sei zwar „kein tragischer Held“, das Ziel des Sozialismus habe ihn nie blind gemacht „für die kurzfristigen Vorteile, welche die Arbeiterklasse in einem Bürgerstaat aus einer Reformpolitik schöpfen konnte“, Erfolge in Form von sozialer Gesetzgebung habe die Lebens- und Arbeitsbedingun‐ gen einer breiten Masse zu ihrem Vorteil verändert. „Aber die Frage nach dem heuti‐ gen Wert der philosophischen, politischen und kulturellen Ideen des Austromarxis‐ mus bleibt bis jetzt offen. Denn die Tatsache, dass die Geschichte die Vision dieser Bewegung falsifiziert hat, schmälert nicht den tatsächlichen Wert der Errungen‐ schaften dieser politischen Bewegung.“24

Perspektiven Die Wiederentdeckung des Austromarxismus in der kurzen Phase der Wiederannä‐ herung von Sozialdemokratie und Kommunistischen Parteien in Westeuropa im Zei‐ chen des sogenannten “Eurokommunismus” war kein Zufall.25 Eine kurze – und um‐ strittene - Renaissance erlebte der Austromarxismus Ende der 1970er/ Anfang der 1980er Jahre in den Theorie-Debatten der Jungsozialisten in der SPD.26 Die Aus‐ tromarxisten waren Zeitgenossen Antonio Gramscis, Rosa Luxemburgs und Wladi‐ mir Iljitsch Lenins, aber überaus kritische Zeitgenossen, die die vermeintlich “ortho‐ doxe” Staatstheorie des Leninismus in all ihren Varianten und Wendungen konse‐ quent bestritten. Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen der von der italienischen KP mit großem Erfolg kanonisierten politischen Theorie Antonio Gramscis und der po‐ 22 23 24 25 26

Ebd. S. 106. Mozetic 2001: S. 421 – 438, S. 426. Czerwinska-Schupp 2005: S. 583ff. Siehe dazu Albers/Hindels/Radice 1978; sowie skeptisch Storm/Walter 1984. Vgl. dazu zum einen den ablehnenden Beitrag von Butterwegge 1980, S. 87-96 und die Gegen‐ kritik bei Schöler 1984. Zu einer wesentlich positiveren Einordnung des Austromarxismus durch Butterwegge in späteren Arbeiten siehe Butterwegge 1991.

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litischen Theorie des Austromarxismus sind offensichtlich. In der Problemstellung (Hegemonie, Stellungs- und Bewegungskrieg, passive Revolution, demokratisch or‐ ganisierte Bewegungen und Massenparteien, Formen der Staatsmacht, Legitimation und Herrschaft) gibt es viele Gemeinsamkeiten; die Art der Problembearbeitung, die analytischen Kategorien, die Erklärungsmuster sind unterschiedlich. Die führenden Köpfe der Gruppe – Max Adler, Otto Bauer, Karl Renner, Rudolf Hilferding, Gustav Eckstein – haben alle höchst bemerkenswerte und innovative Beiträge zur Staatstheorie und zur politischen Theorie im weiteren Sinne geleistet, die für gegenwärtige Auseinandersetzungen um die Krise bzw. die Zukunft ei‐ nes “demokratische” und “sozialstaatlichen” Kapitalismus wegweisend sein können. Es zeichnet diese Autoren aus, dass sie die traditionellen Dichotomien von “Re‐ form” und “Revolution” bzw. “Evolution” und “Revolution” zu überwinden suchten. Bereits in ihren Analysen der Vorkriegszeit haben sich die Austromarxisten, Otto Bauer und Karl Renner voran, mit der Problematik des Nationalstaats bzw. des mul‐ tinationalen oder Nationalitätenstaats auseinandergesetzt. Mit ihnen begann die lan‐ ge Debatte um Nationalismus, Nationalstaat, Volkssouveränität, Selbstbestimmungs‐ recht der Völker und Menschenrechte im Marxismus, die die Geschichte des europä‐ ischen und des internationalen Sozialismus entscheidend geprägt hat. Mit dem Zu‐ sammenbruch des Habsburgerreichs und der Gründung der ersten Republik wechselt die Perspektive und verschiebt sich der Schwerpunkt der staatstheoretischen Debatte – hin den Problemen der Verfassung, der politischen und sozialen Grundrechte, der Institutionen einer parlamentarischen Demokratie und des Funktionierens der Demo‐ kratie in einem parlamentarischen und föderalen System mit allgemeinem Wahlrecht und ungleich verteilten Gewalten. Die Austromarxisten führen in der ersten Repu‐ blik und in der Emigration eine lange Debatte um den Sinn, die Formen und die In‐ halte, die Grenzen und die Krisen der modernen parlamentarischen Demokratie, der von Massenparteien und Massenmedien geprägten Zivilgesellschaft – in ständiger Auseinandersetzung mit dem staatsrechtlichen Positivismus wie mit der leninisti‐ schen Orthodoxie. Bis heute bieten die politischen Analysen und staatstheoretischen Überlegungen der Austromarxisten aus der Vorkriegs- und Zwischenkriegszeit etwas, das man ge‐ trost als Seltenheit in der Geschichte des marxistischen Staatsdenkens bezeichnen kann und das einen Teil seiner Faszination ausmacht: Die Austromarxisten waren Beobachter, um Distanz und Objektivität bemühte Sozialforscher, nach begrifflicher Klarheit und Systematik strebende Analytiker und Akteure, sogar Hauptakteure ihres eigenen historischen Dramas zugleich. In der österreichischen Arbeiterbewe‐ gung, als parlamentarische Opposition im Habsburgerreich, in der ersten österreichi‐ schen Republik als Regierende und als Opposition, im Bundesland Wien als mit ab‐ soluter Mehrheit unangefochten Regierende und Verwaltende hatten ihre politischen Theorien direkten Einfluss auf ihr politisches Handeln und vice versa. Für die füh‐

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renden Theoretiker des Austromarxismus, als Juristen gebildet wie Adler, Bauer und Renner es waren, spielten Rechtsnormen, politische Moral und Ethik eine große Rolle. Auch in dieser Hinsicht sind ihre politische Theorie wie ihr politisches Han‐ deln vom Leninismus grundverschieden. Die Austromarxisten waren die ersten, die sich systematisch wie im Blick auf ak‐ tuelle Zeitereignisse mit der Problematik des “demokratischen Kapitalismus” befass‐ ten. Zwischen der Staats- und Regierungsform der (parlamentarischen, konstitutio‐ nellen) Demokratie und dem modernen Kapitalismus besteht keine prästabilierte Harmonie, sondern tiefgehende und weitreichende Spannungen, wie das die Konser‐ vativen, die Liberalen und die Sozialisten (z. B. Marx) des 19. Jahrhunderts des Öf‐ teren bemerkt haben. Der moderne Kapitalismus kann mit einer Vielzahl von Staatsund Regierungsformen (oder politischen Regimes) koexistieren und beide, Kapita‐ lismus und Staat, entwickeln sich durchaus nicht nach derselben Logik. Ein Regime des “demokratischen Kapitalismus” ist inhärent unstabil und alle Versuche, durch staatlich betriebene Reformationen oder Transformationen des Kapitalismus beseiti‐ gen diese inhärente Instabilität nie vollständig. In jeder großen Krise des Kapitalis‐ mus werden sie wieder aufbrechen und die demokratische Ordnung in Frage stellen. Im Blick auf diese Problematik sind die politischen und ökonomischen Krisenanaly‐ sen der Austromarxisten hochaktuell. Dies umso mehr als die Austromarxisten im‐ mer wieder versucht haben, Wege aus der Krise des “demokratischen Kapitalismus” zu weisen (funktionelle Demokratie, wirtschaftliche Demokratie). In einem Tagungsband zum Werk Otto Bauers notierte der damalige Minister für Wissenschaft und Forschung und spätere österreichische Staatspräsident Heinz Fischer: „Ich persönlich empfinde das wachsende Ausmaß am Interesse an Otto Bauer als eine Bestätigung für das, was man etwas unscharf das Gesetz der Erhal‐ tung geistiger Energie nennen kann: Ich glaube, wir sind oft mit diesem Phänomen beschäftigt, daß – selbst wenn widrige historische Umstände, wenn bestimmte ge‐ schichtliche oder politische Konstellationen es verhindern, eine geistige oder morali‐ sche Leistung zugleich in ihrem vollen Umfang zu erkennen und zu werten – den‐ noch früher oder später die Substanz und das Wesentliche einer solchen geistigen Leistung Anerkennung findet und sich letzten Endes durchsetzt.“27 Auch wenn diese Einschätzung Fischers vielleicht etwas zu optimistisch er‐ scheint: Eine Rekonstruktion der Staatsdiskussion im Austromarxismus ist nicht nur von historischer Bedeutung. Die zentralen Themen – Umgang und Ausgestaltung des Verfassungsstaates, Rolle und Grenzen von Parlamentarismus für soziale Um‐ wälzungen, der Umgang mit Nationalität und Kultur im Nationalstaat – sind auch heute noch von Bedeutung. Im Zuge der Internationalisierung von Staatlichkeit und gerade auch im Zusammenhang mit dem Staatsprojekt der Europäischen Union bie‐

27 Fischer 1985, S. 7.

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ten sich exemplarische Anwendungsfälle für die Überprüfung der Aktualität dieser Theorien.

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Nationalstaat – Rechtsstaat – Sozialstaat – Demokratie im Austromarxismus

Andreas Fisahn Adlers staatstheoretischer Disput mit Kelsen – zur Staatstheorie des Austromarxismus

1. Kontext der Diskussion Eine kritische Würdigung „des“ Staatsbegriffs im Austromarxismus ist ein vermes‐ senes Unterfangen, weil in allen politischen Schriften der Austromarxisten und auch in Hilferdings „Finanzkapital“ ein Begriff oder Verständnis des Staates unterlegt ist. Die Diskussion wäre uferlos und vermutlich eher verwirrend als klärend. Deshalb soll hier nur die Kontroverse zwischen Max Adler, der dem Austromarxismus zuge‐ rechnet wird, und Hans Kelsen, der kein Austromarxist war, wohl aber einflussrei‐ ches Mitglied der SPÖ, kritisch gewürdigt werden. Max Adler wurde 1873 in Wien geboren, studierte Rechtswissenschaften in Wien. Er promovierte sich 1896 zum Dr. jur. und habilitierte 1920 an der Universität Wien. Dort wurde er a. o. Professor für Soziologie und Sozialphilosophie. Von 1919 bis 1923 war er sozialdemokratischer Abgeordneter im Landtag von Niederöster‐ reich. Adler war in der Volkshochschulbildung stark engagiert und von 1904 bis 1923 gemeinsam mit Rudolf Hilferding Herausgeber der Marx-Studien. Im Zuge des Februar-Aufstandes 1934 zur Verteidigung der Republik in Österreich wurde Adler vorübergehend inhaftiert, obwohl er sich schon vorher von allen Parteiaktivi‐ täten zurückgezogen hatte. Seither widmete er sich intensiv seinen soziologischen und philosophischen Studien. Adler starb 1937 in Wien. Hans Kelsen wurde 1881 in Prag geboren. Er studierte an der Universität Wien Rechtswissenschaften und habilitierte sich 1911 in Staatsrecht und Rechtsphiloso‐ phie. 1917 wurde Kelsen Professor an der Universität Wien. Nach der Revolution wurde Kelsen mit der Ausarbeitung der Verfassung des neuen Staates beauftragt. Er verließ Österreich 1930 und wurde Professor für Völkerrecht an der Universität zu Köln. Dort wurde er 1933 nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wegen seiner bekannten demokratischen Auffassungen und seiner jüdischen Abstammung beurlaubt. Carl Schmitt war der einzige Fakultätskollege, der sich einer an die preu‐ ßische Regierung gerichteten Petition der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zu‐ gunsten Kelsens nicht anschloss. Noch 1933 trat Kelsen eine Professur für Völker‐ recht am Institut universitaire de hautes études internationales in Genf an, wo er bis 1940 lehrte. 1940 emigrierte Kelsen in die USA. An der Harvard University er‐ hielt er ein Ehrendoktorat, aber keine feste Anstellung. 1942 wechselte er an die

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University of California, Berkeley, wo er 1945 zum „Full Professor“ ernannt wurde und bis 1957 Politikwissenschaft lehrte. Kelsen starb 1973 in Orinda. Im Jahre 1920 veröffentlichte Hans Kelsen eine Schrift mit dem Titel „Sozialis‐ mus und Staat“, die 1923 in einer erweiterten Auflage erschien. Kelsen diskutiert in dieser Schrift sein Verständnis der Staatstheorie von Marx und Engels, der er erstens Widersprüchlichkeit vorwirft und zweitens eine Nähe zum Anarchismus bescheinigt, was ebenfalls als Vorwurf und Kritik gemeint war. Auf diese Kritik antwortete Max Adler im Jahre 1922 mit einem umfangreicheren Werk, das den Titel „Die Staatsauf‐ fassung des Marxismus“ trägt und eine marxistische Staatstheorie in Auseinander‐ setzung mit Kelsen entfaltet.1 Beide schreiben selbstverständlich nicht ohne histori‐ schen Kontext. In Russland hatten die Bolschewiki erfolgreich eine Revolution angeführt und das Sowjetsystem eingeführt. Die Diskussion des marxistischen Staatsverständnisses musste diese Entwicklung berücksichtigen. Es stand schlicht die Frage im Raum: Kann die russische Revolution und die Sowjetrepublik als Vorbild für die Entwick‐ lung im Westen dienen? Beide Autoren verneinen das, weil beide die Herrschaft der Bolschewiki für eine Diktatur im „bürgerlichen Sinne“, für eine Diktatur einer Partei oder einer Avantgarde halten, aber nicht für eine Form der „Diktatur des Proletari‐ ats“. Der proletarische Staat kann für beide − auch Kelsen ist Sozialist und will die kapitalistische Ordnung überwinden − nur die Form einer Demokratie annehmen. Um ihre Differenz zu verstehen, ist ein weiterer Bezugspunkt der Diskussion von Bedeutung. Im Jahre 1899 hatte Rosa Luxemburg ihre Schrift „Sozialreform oder Revoluti‐ on“ veröffentlicht. Vorangegangen (1896 ff.) war eine theoretische Auseinander‐ setzung zwischen Eduard Bernstein und Karl Kautsky, die als Revisionismusstreit der Sozialdemokratie in die Geschichte eingegangen ist. Auch dabei ging es um die Frage: Reform oder Revolution? Was hat das mit dem Staatsverständnis des Marxis‐ mus zu tun? Ist man der Auffassung, dass auch die parlamentarische Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft nur die besondere Form eines Klassenstaates oder ge‐ nauer einer Klassendiktatur ist, muss man die Revolution favorisieren. Denn die Re‐ form stößt an Grenzen, die durch den Klassencharakter des Staates gezogen werden und überwunden werden müssen, wenn man eine sozialistische Transformation ein‐ leiten will – das ist die Grundposition Adlers. Umgekehrt meint Kelsen, dass das all‐ gemeine Wahlrecht der Arbeiterbewegung (alsbald) zur Mehrheit im Parlament ver‐ helfen könne, weil die Arbeiter die Mehrheit der Bevölkerung stellten. Dann hindert nichts diese Mehrheit, die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft durch Geset‐ 1 Matzka gibt ein Buch über Sozialdemokratie und Verfassung heraus und behauptet in der Einlei‐ tung: „Kelsen veröffentlichte seine Arbeit Sozialismus und Staat im Jahr 1923 offenbar als ant‐ wort auf Adlers ein Jahr zuvor erschienenes Buch Die Staatsauffassung des Marxismus.“ (Matz‐ ka 1985, S. 30) Ein Blick in die Bücher hätte Matzka diese Peinlichkeit erspart, aber offenbar meint er, über die Austromarxisten schreiben zu können, ohne sie zu lesen.

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ze zu ändern, d.h. die Produktionsmittel zu vergesellschaften, um so den Sozialismus einzuführen. Das ist die Grundposition Kelsens – natürlich wurden beide Positionen stark zugespitzt und vereinfacht. Kelsen bewegt sich im Spektrum der (deutschen) Mehrheitssozialdemokratie jener Jahre, während Adler einen „dritten Weg“ zwi‐ schen Bolschewismus und sozialdemokratischem Reformismus sucht. Als „Dritter Weg“ lässt sich die austromarxistische Position generell charakterisieren.2 Für den Austromarxismus war es der „Dritte Weg“ zwischen autoritärem Bolschewismus und reformistischer Sozialdemokratie, die in der Praxis auch schon während der Weimarer Republik auf Anstrengungen zur Systemüberwindung verzichtete. Adler wird zugeschrieben, dass er „lebenslang vom Marxismus der Zeit um die Jahrhun‐ dertwende beeinflusst“3 war, was der Urheber kritisch meinte. Kelsen und Adler streiten so um drei große Fragen, die miteinander zusammen‐ hängen. Erstens ging es um Reform oder Revolution; zweitens um die Bedeutung des Parlamentarismus – ist der Mittel oder Zweck oder beides? Drittens ging es um die Frage, ob man das „Absterben des Staates“ anstreben oder annehmen könne. Be‐ vor diese drei Fragen diskutiert werden, muss der Begriff des Staates bei Kelsen und Adler diskutiert werden, weil er die Antworten präjudiziert.

2. Der Staatsbegriff 2.1 Allgemeiner oder historischer Begriff Kelsen geht explizit von einem juristischen Staatsbegriff aus: „Die moderne Staats‐ lehre versteht unter ‚Staat’ einen Herrschaftsverband.“4 Dieser Herrschaftsverband werde durch ein System von Normen konstituiert. So ist der Staat für ihn eine Rechtsordnung, die mit Zwang durchgesetzt wird, also eine Zwangsordnung. Wo‐ rauf es nicht ankomme, sei der Inhalt oder der Zweck des Staates, weil der variabel sei. Es handele sich beim Staat um eine „spezifische Form“ gesellschaftlichen Le‐ bens mit „variablem Inhalt“.5 Adler wirft Kelsen einen methodischen Formalismus vor, der mit der marxisti‐ schen Methode nicht vereinbar sei. Und in der Tat hört sich diese Definition nach juristischem Formalismus an und sicherte den Juristen gleichzeitig die dominierende Stellung als Fachpersonal des Staates. Denn wer kennt sich am Ende mit der Rechts‐ ordnung aus? Damit soll nicht abgestritten werden, dass der Juristerei eine wichtige Funktion bei der Entstehung des bürgerlichen Staates und damit in der bürgerlichen 2 Der „Dritte Weg“ von Blair und Schröder war eine beinahe eklige Übernahme dieses Marken‐ zeichens, die in Deutschland den neoliberalen Weg radikalisierte und keineswegs abschwächte. 3 Pfabigan 1982, S. 66. 4 Kelsen 1965, S. 24. 5 Kelsen 1965, S. 25.

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Gesellschaft, dem Kapitalismus, insgesamt zukommt.6 Aber die Dominanz der Rechtsordnung scheint doch ein Charakteristikum des bürgerlichen Staates zu sein und kein überhistorisches Merkmal des Staates. Der mittelalterliche Staat lässt sich recht offensichtlich nicht mit der Rechtsordnung, die vergleichsweise unausgebildet war, gleichsetzen. Nimmt man Kelsen beim Wort, wäre die politische Organisation des Kapitalismus danach ein Phänomen sui generis. Damit verböte sich der Ver‐ gleich mit früheren historischen Perioden. Der Staat wäre das oder zumindest ein Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft und existierte nur in dieser. Zum Teil wird dies heute angenommen, womit sich Vergleiche unterschiedlicher Formen politi‐ scher Herrschaft erübrigen. Genau das aber will Kelsen nicht. Er meint, seine Staats‐ definition sei auf Herrschaftsformen in unterschiedlichen historischen Epochen an‐ wendbar – eben eine formale Definition, die in der Geschichte verschiedene Inhalte erhalten habe. Der Clou ist nun aber, dass Kelsen meint, Marx und Engels würden im Grunde seinen Staatsbegriff teilen. Sie würden den Staat als „Maschine der Klassenherr‐ schaft“ definieren. Wenn man vom Inhalt, also der Herrschaft der Bourgeoisie, ab‐ strahierte, bleibe eben ein Herrschaftsverband oder eine Zwangsordnung: „…, darum kann gerade von marxistischer Seite nicht ernstlich widersprochen werden, wenn eine immanente Kritik der politischen Theorie des Marxismus den Begriff des Staates als bloße Zwangsordnung voraussetzt. Nur darum kann es sich drehen, ob eine solche Zwangsordnung, wie es allerdings der Marxismus annimmt, ausschließ‐ lich und allein zur Aufrechterhaltung einer Klassenherrschaft, zum Zwecke ausbeu‐ tender Unterdrückung einer Klasse durch eine andere, nötig ist oder nicht.“7 Adler beginnt seine Kritik an Kelsen als Methodenkritik. Kelsen habe nicht ver‐ standen, dass Marx Gesellschaften als Totalität begreife und folglich Staat und Recht als Teil der gesellschaftlichen Formation zu analysieren sind. Konkreter: bestim‐ mend seien für Marx und Engels die Produktionsverhältnisse, die über die staatliche und rechtliche Ordnung mitkonstruiert werden. Und er greift zu dem bekannten Bild: die ökonomische Basis bestimme den Überbau. Deshalb sei der Staat nur in seinem Kontext, in seiner historischen Bedingtheit zu analysieren. Eine formale ju‐ ristische Definition wie Kelsen sie formuliere, verfehle das Wesentliche des Staates. Marx habe die soziologische Methode verwandt und nur mit dieser könne der Staat sinnvoll analysiert werden. Jeder historischen Produktionsstufe entspricht also, schreibt Adler, „eine bestimmte Ordnung des gesellschaftlichen Lebens, oder besser gesagt: ist eine solche bestimmte Ordnung, die in den spezifischen Formen des so‐ zialen Bewusstsein erlebt wird, deren eine sich als besondere Form des rechtlichen Bewusstseins entfaltet.“8 Der Staat sei deshalb immer nur eine historische Erschei‐ 6 Bourdieu 2014, S. 110. 7 Kelsen 1965, S. 28. 8 Adler 1922, S. 33.

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nung und nur als solche konkret zu analysieren, nicht dagegen abstrakt zu definie‐ ren: „’Der Staat’ ist ebenso wenig eine Wesensform des gesellschaftlichen Daseins wie ‚der Kapitalismus’. Die Begriffe Staat, politische Gewalt, öffentliche Interessen u. dgl. sind im Gedankenzusammenhang des Marxismus durchaus nur historische Begriffe.“9 Und er folgert: „In Durchführung dieser historischen Auffassung versteht der Marxismus unter Staat ‚die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen’, wie bereits im ‚Kommunistischen Manifest’ zu lesen ist. Somit wird es klar, dass jede Kritik, die gegenüber diesem Staatsbegriff mit einem allgemeinen Begriff vom Wesen des Staates überhaupt zu Felde zieht, an dem eigentlichen Stand‐ punkt des Marxismus ganz vorbeigeht.“10 Man reibt sich verwundert die Augen, denn wenn das keine allgemeine Staatsdefinition ist, welche dann? Es ist nur eine andere als Kelsen sie verwendet: Der Staat ist eben in Adlers allgemeiner Definition „die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen“ und nicht Kelsens Zwangsordnung. Obwohl Adler also gegen Kelsen einwendet, dass er ahistorisch argumentiere, hat er selbst – wie Marx und Engels auch − einen Begriff des Staates, der weiter ist als der Staat der bürgerlichen Gesellschaft. Das Problem ist ein objektives: wenn man den Staat diskutieren will, müssen seine historischen Besonderheiten ebenso in den Blick geraten wie die Gemeinsamkeiten in verschiedenen Epochen. Wenn man Staat nur als historischen Begriff versteht, nur historisch analysieren will, hat man – wie oben schon angesprochen – ein Problem mit der Vergleichbarkeit. Der Gegenstand geht in der historischen Entwicklung unter und ein anderer entsteht, bis sich der Be‐ griff Staat als allgemeiner verflüchtigt und nur noch die politische Organisation der Antike, des Feudalismus und der bürgerlichen Gesellschaft nebeneinander stehen. Mangels Verbindendem erübrigt sich der Vergleich, d.h. die Analyse des Spezifi‐ kums der Herrschaft. Wenn Engels in „Der Ursprung der Familie, des Privateigen‐ tums und des Staats“ das Ende der Stammesgesellschaft und die Entstehung des Staates mit der Klassengesellschaft analysiert, geht er offenbar von einem Kontinu‐ um seit der Antike aus. Eine Diskussion um das „Absterben des Staates“ erübrigt sich ebenfalls, wenn man Staat nur als jeweils feudalen Staat, bürgerlichen Staat usw. versteht. Die historische Form geht dann logischerweise unter: die Prognose vom Absterben ist kein Aufreger mehr. Es nützt dann auch wenig, auf Oberbegriffe wie politische Organisation oder Form öffentlicher Herrschaft zurückzugreifen. Will man vergleichen, braucht man einen allgemeinen überhistorischen Begriff. Ähnlich wie Produktionsmittel oder -verhältnisse keine Begriffe sind, die nur für eine histo‐ rische Epoche relevant sind, verhält es sich mit Staat und Recht – wobei sie selbst‐ verständlich alle in spezifischer Weise Form und Inhalt wechseln.

9 Adler 1922, S. 62. 10 Adler 1922, S. 63.

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Kelsen wie Adler greifen das Bild von Marx und Engels auf und bezeichnen den Staat als „Maschine der Klassenherrschaft“. Bei Kelsen wird daraus eine allgemeine Zwangsordnung, die Klasse verschwindet. Adler dagegen betont den Klassencharak‐ ter des Zwanges. Das Problem ist, dass das Maschinenbild neben der Sache liegt. Dazu drei Argumente: 1. Marx und Engels benutzen den Ausdruck „Maschine der Klassenherrschaft“ meist eher polit-agitatorisch als analytisch. Die politischen Schriften von Marx sind differenzierter. In seinen Betrachtungen zur Entwicklung in Frankreich polemisierte er zwar gegen den Staat, aber er beobachtete sehr genau die Kräfteverhältnisse und den Funktionswandel von Instituten wie dem allgemeinen Stimmrecht. Bonaparte nutzte es, um mithilfe der Stimmen der Bauern das Kaiser‐ tum gegen Bürgertum und Arbeiter durchzusetzen. Die Entwicklung der Kräftever‐ hältnisse sind in einer Maschine ebenso wenig unterzubringen wie in der „organi‐ sierten Gewalt“. 2. Daraus folgt, dass das Maschinenbild zu simpel ist, jedenfalls wenn man es im Sinne des üblichen Sprachgebrauchs als Werkzeug versteht. Der Staat entwickelt Eigengesetzlichkeiten und eigene „Interessen“, die es unangemes‐ sen machen, ihn als Werkzeug oder Instrument zu begreifen. Auch das kann man aus den Schriften von Marx zum Bürgerkrieg und Klassenkampf in Frankreich lernen. Allenfalls wenn man die Maschine – wie Marx im Kapital – als komplexes ver‐ selbstständigtes Phänomen begreift, dass seine Herren zum Sklaven, die Arbeiter zu seinem Anhängsel macht, dann ist das Maschinenbild halbwegs angemessen. Trotz‐ dem verdunkelt es den Zusammenhang eher als ihn zu erklären. 3. Marx und Engels und ihnen folgend die marxistische Orthodoxie sind gleichsam auf das Selbstbild des Liberalismus hereingefallen, der den Nachtwächterstaat propagierte. Als Staat nahmen sie im Wesentlichen den repressiven Apparat wahr, d.h. Polizei, Justiz und Heer. Die vielen Funktionen, die der Staat wahrnehmen muss, um die Reproduktion der kapitalistischen Ökonomie zu gewährleisten − vom Recht über Bildung und In‐ frastruktur bis zum Umweltschutz − bleiben unterbelichtet, wenn der Staat nur als Unterdrückungsmaschine erscheint. Und diese Aufgaben sind allesamt ambivalent, d.h. sie haben auch eine emanzipatorische Dimension. Sicher hat sich der bürgerli‐ che Staat gewandelt und seine Aufgaben haben sich vermehrt, aber die Orthodoxie verharrt gewissermaßen in der Rolle von John Cleese im „Leben des Brian“, der fragt: „Was haben die Römer gebracht außer Unterdrückung und Ausbeutung?“ Wo‐ rauf seine Genossen ihm zunächst den Aquädukt nennen und dann eine ganze Liste von Errungenschaften, also Ausnahmen von der Unterdrückung, die die Römer brachten. Wenn man den Staat nicht als Maschine der Klassenunterdrückung definieren kann, braucht es offenbar einen anderen allgemeinen Begriff des Staates, der in ver‐ schiedenen Gesellschaften gelten kann, aber jeweils durch spezifische Besonderhei‐ ten zu ergänzen und zu konkretisieren ist. Hier ein Vorschlag, der nicht weiter be‐ gründet werden kann: Staat lässt sich verstehen als ein Ensemble von Institutionen,

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die so viel symbolisches Kapital angesammelt haben, dass der Staat als legitime Herrschaft anerkannt wird. Er organisiert öffentliche Aufgaben (sehr archaisch zum Beispiel die Streitschlichtung) im echten oder vorgespiegelten allgemeinen Interes‐ se, woraus er zum Teil sein symbolisches Kapital bezieht. Der Staat versucht mehr oder weniger erfolgreich, sich die Gewaltmittel zu subsumieren und Anordnungen gegenüber der Bevölkerung seines Territoriums durchzusetzen, wobei er auf die Ge‐ waltmittel und andere Institutionen zurückgreift, z.B. Befehlshierarchien, die wegen der Anerkennung als Staat akzeptiert werden. Der Staat ist durchzogen von verdich‐ teten Kräfteverhältnissen. Der bürgerliche Staat unterscheidet sich durch folgende Besonderheiten: Er ist von der ökonomischen Macht und Elite getrennt, basiert auf einem Rechtssystem und einem professionellen, besoldeten Verwaltungsstab, durch die ein ökonomisches Konkurrenzsystem organisiert und gewährleistet wird. Der bürgerliche Staat ist auf die Generierung von Mitteln (Steuern) angewiesen, die au‐ ßerhalb produziert werden. All die Institutionen des bürgerlichen Staates bilden Re‐ sistenzen gegen die Transformation des Systems aus, d.h. sind darauf angelegt, sei‐ nen Charakter als bürgerlicher Staat zu bewahren.11

2.2 Der Begriff des proletarischen Staates Nun aber zurück zu Kelsen und Adler. Kelsen will die Widersprüche im marxisti‐ schen Staatsverständnis offen legen und argumentiert weiter, indem er zunächst den Begriff der Klassenherrschaft erläutert. Ihr typisches Merkmal sei die Ausbeutung der einen durch die andere minoritäre Klasse. Klasse ist für ihn der „Inbegriff der Ausbeuter oder der Ausgebeuteten.“12 Dann ist die „Maschine der Klassenherr‐ schaft“ ein Mittel der „ausbeutenden Klassenunterdrückung“.13 Das Kommunisti‐ sche Manifest interpretiert Kelsen in der bekannten Weise. Marx und Engels pro‐ gnostizierten und postulierten dort, so schreibt er, dass die Arbeiterklasse die Staats‐ macht erobern und den bürgerlichen Staat in einen proletarischen oder sozialisti‐ schen Staat verwandeln werde oder solle. Erst in der nächsten Entwicklungsstufe, im Kommunismus, sterbe der Staat ab. Wie aber, fragt Kelsen, ist der proletarische Staat zu verstehen, wenn es sich um ausbeuterische Klassenherrschaft handeln soll? Die Ausbeutung der kleinen Zahl von Kapitalisten könne doch nicht der Sinn der Klassenherrschaft des Proletariats sein. In der Tat: wenn man herrschende Klasse über Ausbeutung definiert, ergibt sich dieses Problem. Adler wendet ein, dass die Ausbeutung nicht Bestandteil der staatlichen Herr‐ schaft sein müsse. „Denn die Ausbeutung einer Klasse durch die anderen wird ja 11 Fisahn 2008, passim. 12 Kelsen 1965, S. 41. 13 Kelsen 1965, S. 27.

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nicht vom Staat gesetzt, sie ist eine ökonomische Tatsache. Die Ausbeutung ist nicht der Zweck des Staates, ja nicht einmal der Zweck des kapitalistischen Produktions‐ prozesses. Dessen einziger Zweck ist der Profit, die Mehrwerterzeugung, und die Ausbeutung ist nur eine notwendige Bedingung für die Realisierung dieses Zwe‐ ckes. Nicht also der Staat beutet die unterworfene Klasse aus, respektive unterwirft eine Klasse zum Zwecke der Ausbeutung, sondern die im Produktionsprozess ausge‐ beutete Klasse wird auch politisch zur unterworfenen. Der Staat hat nicht die Aus‐ beutung zum Zweck, er ist kein Mittel der Ausbeutung, sondern er ist ihre öffent‐ lich-rechtliche Form.“14 Klassenherrschaft bedeutet nur, meint Adler, dass die „Ge‐ meinschaftsorganisation als Staat stets eine Form der Unterdrückung darstellt.“15 Dann kann das Proletariat im sozialistischen Staat mithilfe der Staatsgewalt die an‐ dere Klasse, die Bourgeoisie, beherrschen, um die eigene Ausbeutung zu beenden, nicht um die Bourgeoisie auszubeuten. Der Widerspruch, den Kelsen glaubt gefun‐ den zu haben, beruht eher auf einem Trick. Dieser Trick funktioniert dadurch, dass Kelsen die Ausbeutung in den Staatsbegriff hinein nimmt, sie dem Staat als eigenen Zweck unterschiebt.

2.3 Diktatur des Proletariats Definiert man den Staat als Unterdrückungsmaschine, drängt sich die Frage nach der Diktatur auf. Wie erfolgt die Unterdrückung oder Beherrschung der Bourgeoisie in Form der Diktatur des Proletariats? Adler und Kelsen verstehen beide Diktatur nicht als Staatsform, d.h. als Art und Weise wie Herrschaft ausgeübt wird, sondern als Merkmal der Klassenherrschaft überhaupt, also als Begriff dafür, dass Herrschaft ausgeübt wird. Adler schreibt: „Dann besagt die Idee der Diktatur, dass politische Demokratie, weil stets eine Form der Klassenherrschaft, ohne Diktatur überhaupt nie möglich war noch möglich sein wird. Die Diktatur des Proletariats ist dann gar nichts Unerhörtes mehr, sondern sie ist – wenn auch in den Formen der politischen Demokratie die Ablösung der bürgerlichen durch die proletarische Diktatur.“16 Und Kelsen formuliert: „Aber es kann kein Zweifel sein, dass das Manifest die Diktatur des Proletariats sich in der Staatsform der Demokratie vorstellt.“17 Klassenherrschaft ist für beide immer eine Diktatur, die in unterschiedlicher Form ausgeübt werden kann: als Monarchie, parlamentarische Demokratie oder als Räte‐ herrschaft. Und Adler wie Kelsen kritisieren das bolschewistische Verständnis der Diktatur des Proletariats, weil eben nicht das Proletariat, sondern die Kommunisti‐ 14 15 16 17

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Adler 1922, S. 74. Adler 1922, S. 84. Adler 1922, S. 191. Kelsen 1965, S. 59 – gemeint ist das „Kommunistische Manifest“, in dem aber der Begriff Dik‐ tatur überhaupt nicht auftaucht, nicht einmal als Diktatur der Bourgeoisie.

sche Partei die Macht übernommen hat und das Proletariat mit dem übrigen Volk un‐ terdrückt. Adler schreibt über die russischen Verhältnisse: „Was sich dort Diktatur des Proletariats genannt hat und noch nennt, ist, wie wir schon gezeigt haben, weit entfernt vom Wesen dieses Begriffs im Sinne des Marxismus, wonach derselbe stets eine Klassenherrschaft bedeutet, also die Herrschaft der Klasse des Proletariats, während in Russland nicht einmal die Majorität des Proletariats, sondern nur eine Partei desselben, ja, im Grunde sogar nur ein kleiner Kreis entschlossener und theo‐ retisch das Interesse des Proletariats verfolgender Revolutionäre unter ganz singulä‐ ren Verhältnissen eine Diktatur über die ganze Gesellschaft, d.h. auch über das Pro‐ letariat ausübt. Sieht man nun also von diesen Zuständen ab, die nur den Namen der Diktatur des Proletariats tragen, während sie in der Wirklichkeit bloß den Terroris‐ mus einer Partei bedeuten“, so sei völlig klar, dass auch proletarische Demokratie die Ausübung von Herrschaft impliziere. Deshalb bleibe politische Demokratie unter den Bedingungen des Klassengegensatzes die Diktatur einer Klasse.18 Wenn Kelsen den Staat abstrakt als Zwangsordnung definiert, ist es entweder in‐ konsequent, die Demokratie der Diktatur (des Proletariats) zu subsumieren. Die Zwangsordnung kann eben die Form einer Demokratie oder einer Diktatur haben, was mit Blick auf den Zwang einen großen Unterschied macht. Diktatur kann man dann nur − wie im heutigen Sprachgebrauch üblich − als von der Demokratie unter‐ scheidbare Herrschaftsform definieren. Oder aber die Zwangsordnung wird immer mit Diktatur gleichgesetzt, dann verliert der Begriff bei Kelsen jede Bedeutung. Weil alle Gesellschaften nach seiner Auffassung eine Zwangsordnung brauchen, wären sie also immer eine Form der Diktatur. Der Begriff wäre entbehrlich. Wenn der Staat − Adler folgend − eine Maschine der Klassenherrschaft ist, also immer die Diktatur einer Klasse bezeichnet, dann ließe sich die sozialistische Demo‐ kratie in der Tat als Diktatur des Proletariats bezeichnen. Jenseits der Diktatur ist man dann bei Adler nur in der kommunistischen Gesellschaft, in der es keine Klas‐ sengegensätze mehr gibt. Aber jeder Staat ist nach dieser Definition eine Diktatur, so dass sich die Frage stellt, wie die Staatsform Diktatur zu bezeichnen wäre. Es trägt wenig zur Klärung unterschiedlicher Herrschaftsformen bei − in denen unterschied‐ liche politische Strategien möglich und sinnvoll sind −, wenn man jeden Staat we‐ gen seines Klassencharakters als Diktatur bezeichnet und dann Demokratie, Faschis‐ mus oder Diktatur als mögliche Form der Klassendiktatur definiert. Adler schlägt in seiner Abhandlung über „Politische und soziale Demokratie“ vor, die Herrschaft und Unterdrückung der Majorität durch eine Minorität in Abgrenzung zur Diktatur als Terrorismus zu bezeichnen. Er schreibt: „Es wird sich empfehlen, diesen Ausdruck (Terrorismus A.F.) wirklich als unterscheidende Bezeichnung der Diktatur beizube‐ halten. Denn damit wird viel Verwirrung aufgeklärt, die sich sonst an die Gleichset‐

18 Adler 1922, S. 196 f.

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zung von Diktatur und Terrorismus knüpft. Sicherlich sind beide Begriffe darin übereinstimmend, dass sie eine Vergewaltigung anderer bedeuten. Aber beim Terro‐ rismus ist es die Majorität, die vergewaltigt wird, bei der Diktatur bloß die Minori‐ tät.“19 Dann aber sind alle Staaten eine Diktatur und alle nicht demokratischen Staatsformen Terrorismus. Überzeugend ist diese Begriffsbestimmung nicht. Der Fehler ist vorgelagert und eine grundsätzlicher: Der Klassencharakter des Staates liegt nicht in seinem Begriff, sondern ergibt sich aus spezifischen Strukturen des Staates, die genau zu analysieren sind. Dann kann der Staat nicht per se als Dik‐ tatur einer Klasse verstanden werden. Demokratie ist nicht eine der möglichen For‐ men der Diktatur einer Klasse, sondern ist eine besondere Staatsform, die mit der Herrschaft einer Klasse in Widerspruch geraten kann, aber nicht muss.

3. Demokratie 3.1 Was ist Demokratie? Kelsen versteht Demokratie in der geläufigen Weise: „Denn unter ‚Demokratie’ ist jene Staatsform zu verstehen, bei der der Wille des Staates, das ist die Rechtsord‐ nung, von denjenigen selbst erzeugt wird, für die die staatliche Ordnung Geltung be‐ ansprucht, und zwar in der Weise, dass der Wille der Mehrheit maßgebend ist.“ De‐ mokratie ist für Kelsen deshalb „Majoritätsherrschaft“.20 Er zeigt dann überzeugend, dass Marx und Engels zumindest unklar in der Verwendung des Begriffs oder der Beurteilung der Demokratie waren. Mal scheint das allgemeine Wahlrecht und der Parlamentarismus das Mittel zu sein, um die Staatsmacht durch das Proletariat zu er‐ obern und die Transformation zu einer sozialistischen Gesellschaft einzuleiten. Mal muss der Staat auch mit Gewalt zerschlagen werden und die parlamentarische De‐ mokratie ist nur eine besonders stabile Form bürgerlicher Herrschaft. Eindeutig sei‐ en Marx und Engels, meint Kelsen, allerdings in der Frage, wie der proletarische Staat organisiert werden müsse, nämlich demokratisch. Kelsen rezipiert hier insbe‐ sondere Marx Stellungnahme zur Pariser Kommune (1871). Diese interpretierte Marx als radikal demokratische Selbstorganisation der Pariser Bevölkerung. Die durch den proletarischen Staat „zu errichtende Herrschaft“ sei, meint Kelsen, „die Demokratie.“21 So kommt Kelsen in völliger Übereinstimmung mit Engels zu der in heutigen Ohren merkwürdig klingenden Schlussfolgerung: Die radikale Demokratie ist die Form der Diktatur des Proletariats.

19 Adler 1926, S. 97. 20 Kelsen 1965, S. 57 f. 21 Kelsen 1965, S. 42.

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Von hier aus ist noch einmal ein Blick auf das oben diskutierte Problem der Staatsdefinition im proletarischen Staat zu werfen. Wenn der proletarische Staat in Form einer radikalen Demokratie organisiert ist und die Arbeiterklasse die übergro‐ ße Mehrheit der Bevölkerung ausmacht, wird es schwierig, den Staat als Instrument der Klassenunterdrückung zu definieren. Die Bourgeoisie müsste sich als Minderheit den Entscheidungen der Mehrheit beugen. Den Zweck eines solchen Staates in der Klassenunterdrückung zu sehen, ist dann wenig überzeugend. Kelsen konstatiert: „In der Demokratie, in der alle Staatsbürger entweder unmittelbar oder mittelbar durch das allgemeine und gleiche Wahlrecht zur Volksvertretung an der Bildung des Staatswillens, an der Ausübung der politischen Herrschaft beteiligt sind, kann poli‐ tisch eine Klassenherrschaft überhaupt nicht zum Ausdruck kommen, sofern alle – Arbeiter und Unternehmer, Proletarier die Bourgeoisie – politisch gleichberechtigt sind. Nur eine wirtschaftliche Klassenherrschaft ist möglich, wenn die Partei, die in der Volksvertretung die Mehrheit hat – unter Wahrung der formalen politischen Gleichberechtigung –, durch den Inhalt der Rechtsordnung eine Ausbeutung ermög‐ licht. Ist auch das Letztere nicht der Fall, dann kann von einer Klassenherrschaft überhaupt nicht gesprochen werden.“22 Adler ist – wie zu erwarten − nicht einverstanden. Er kritisiert, dass Kelsens Be‐ griff der Demokratie ein „ebenso formaler (ist), wie sein Staatsbegriff.“ Demokratie nach Kelsen könne „den verschiedenartigsten Inhalt und die mannigfachsten Organi‐ sationszwecke“ erhalten.23 Demokratie bedeute „Herrschaft des Volkes“ und folglich komme es darauf an, dass diese Herrschaft auch hergestellt werde. Von Demokratie könne man nur sprechen, wenn die staatlichen Entscheidungen mit dem Willen des Volkes übereinstimmen. Das Problem dieser Begriffsbildung ist offensichtlich: Wie stellt man den „Willen des Volkes“ fest, wenn nicht durch ein demokratisches Ver‐ fahren? Genauer gesagt: In einem demokratischen Verfahren, das freilich nicht auf den Wahlakt zu beschränken ist, sondern gleiche Partizipation vielfältiger Art vor‐ aussetzt, wird der „Wille des Volkes“ erst ermittelt. Das Volk ist eben keine homoge‐ ne Einheit und erst recht keine Einheit mit einem artikulierten Willen. Genau diese Einheit macht Adler aber zur Voraussetzung der Demokratie, dabei ist sie allenfalls Ergebnis des demokratischen Prozesses. Selbstbestimmung des Vol‐ kes, schreibt Adler, „ist nun in der Klassengesellschaft auch bei noch so ‚demokrati‐ scher’ Verfassung nicht möglich, weil in kapitalistischen Staaten die Grundvoraus‐ setzung einer Volksherrschaft fehlt, nämlich das einheitliche Volk. In kapitalisti‐ schen Staaten gibt es noch keine Volkseinheit, sondern nur eine Bevölkerung, die weder eine wirtschaftliche, noch eine kulturelle, noch eine ideologische Einheit dar‐ stellt, sondern in jeder dieser Richtungen vielmehr eine Zerrissenheit von Klassen,

22 Kelsen 1965, S. 43. 23 Adler 1922, S. 120.

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die nur durch den Zwang der Klassenherrschaft zusammengehalten ist.“24 Demokra‐ tie sei nicht zu definieren über den Mehrheitswillen, sondern über den „Gemeinwil‐ len“. Demokratie sei nur möglich in einer „solidarischen Gemeinschaft“. Sobald es nämlich „keine Lebensgegensätze mehr im Volksganzen gibt, … bedeutet … die Verschiedenheit in der Stimmenzahl keine Vergewaltigung von Lebensinteressen mehr, sondern nur noch mehr oder minder sachliche Meinungsverschiedenheiten über Zweckmäßigkeit und Dringlichkeit vorgeschlagener Entscheidungen. Die Ab‐ stimmung wird zu einem bloßen Akt gesellschaftlicher Verwaltung oder Geschäfts‐ führung.“25 Da wird er sichtbar, der Kardinalfehler orthodox-marxistischer Demokratietheo‐ rie. Wenn man Demokratie inhaltlich auffüllen will, braucht man einen Volkswillen, Adler nennt ihn Gemeinwille, welcher dem „rein formalen“ demokratischen Verfah‐ ren vorgelagert ist. Wie stellt man diesen Gemeinwillen aber fest, jenseits des for‐ mal-demokratischen Verfahrens? Im Zweifel fühlt sich eine Avantgarde, eine Partei berufen, den „wahren Volkswillen“ oder die „objektiven Interessen“ der Arbeiter‐ klasse zu kennen und diese auch gegen die geäußerten Meinungen der realen Men‐ schen durchzusetzen. Die Folgen einer solchen Vorstellung von Demokratie waren verheerend und haben den demokratischen Sozialismus um Jahrzehnte zurückge‐ worfen. Adler und anderen, vor allem Rousseau, ist es sicher nicht zum Vorwurf zu ma‐ chen, aber die Homogenitätsvorstellung wurde von rechts aufgenommen und ge‐ dreht. Die Konzeption eines „homogenen Volkes“ wurde vom „Kronjuristen der Na‐ zis“ (Bloch), vom Vordenker des autoritären Staates, nämlich von Carl Schmitt na‐ tionalistisch gewendet. Schmitt setzte an die Stelle der Klassenhomogenität die eth‐ nische und politische Homogenität, mit der Konsequenz, dass „das Andere“, „das Fremde“ ausgesondert werden sollte und schließlich wurde. Kommunisten und So‐ zialisten verschwanden ebenso im KZ wie Juden und Homosexuelle, weil sie die Homogenität des Volkskörpers störten. Auch aus dieser Perspektive hatte die Kon‐ struktion eines homogenen Volkes mit einheitlichem Willen verheerende Wirkun‐ gen. Um die von Kelsen aufgespürten Widersprüche in den Äußerungen von Marx und Engels zur Demokratie zu klären, will Adler zwischen politischer und sozialer De‐ mokratie unterscheiden. Soziale Demokratie sei die wirkliche Volksherrschaft in einer klassenlosen Gesellschaft. Politische Demokratie will er dagegen das parla‐ mentarische System in der Klassengesellschaft, also im Kapitalismus, nennen.26 Und er meint: „Hält man diesen Doppelsinn des Wortes Demokratie auseinander, dann lösen sich die scheinbaren Widersprüche in den Worten von Marx und Engels, dann 24 Adler 1922, S. 122. 25 Adler 1922, S. 123. 26 Ausführlich Adler 1926, S. 49 ff.

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erscheint es nicht mehr verwunderlich, dass Engels einmal die Demokratie als Chi‐ märe bezeichnet und sie dann doch als die Form deklariert, in welcher das Proletari‐ at zu Herrschaft kommen kann oder dass Marx den ‚demokratischen Wunderglau‐ ben’ verspottet, der ‚in der Demokratischen Republik in das tausendjährige Reich sieht’, und gleichwohl die Commune, die doch tatsächlich eine Demokratie war, als ein Beispiel der Diktatur des Proletariats hinstellt.“27 Adler folgt also Kelsen in der Feststellung, dass die Äußerungen von Marx und Engels uneinheitlich oder gar wi‐ dersprüchlich sind. Seine Erklärung, die Unterscheidung von sozialer Demokratie und politischer Demokratie findet man bei Marx und Engels dagegen nicht und Ad‐ ler zeigt auch nicht, dass die beiden Klassiker den Begriff konsequent in der einen oder anderen Weise verwendet hätten. Das ist auch ein Problem der Orthodoxie: die Klassiker werden zu ewigen Wahrheiten, zur Bibel, was einen Irrtum ihrerseits aus‐ schließt. Die Marxsche Methode richtig verstanden, können auch Marxisten feststel‐ len, dass Marx und Engels an diesem und jenem daneben lagen oder inkonsistent ar‐ gumentiert haben. Schließlich: ein (Marx-)Zitat ist noch kein Beweis der Wahrheit.

3.2 Demokratie und der Übergang zur sozialistischen Gesellschaft Kelsen stellt auf der Grundlage seines Begriffs der Demokratie explizit die Frage: Reform oder Revolution? Die Frage nach dem Übergang zur sozialistischen Gesell‐ schaft spitzt er allerdings in folgender Weise zu Frage, „ob das Proletariat die politi‐ sche Macht durch einen gewaltsamen Umsturz oder, gestützt auf die Tatsache, dass es die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung bildet, mit friedlichen, gesetzlichen Mitteln durch die Erringung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in die Volks‐ vertretung anstreben solle.“28 Er stellt also die „gewaltsame Revolution“ dem „fried‐ lichen Parlamentarismus“ gegenüber. Nun müssen Revolutionen keineswegs gewalt‐ sam sein, man könnte für die Gegenwart sogar behaupten: Sie können nicht gewalt‐ sam sein, wenn sie erfolgreich sein wollen. Und für erfolgreiche friedliche Revolu‐ tionen gibt es in der jüngsten Vergangenheit einige Beispiele. Sie reichen vom Sturz des Schahs (1979) über die „Wende“ in der DDR oder die Wahl Hugo Chavez in Ve‐ nezuela bis zum arabischen Frühling 2011. Auch wenn man die Ergebnisse dieser Revolutionen durchaus kritisch beurteilen kann, sie blieben nicht beim Regierungs‐ wechsel stehen, sondern leiteten einen Systemwechsel ein. Kelsen konstruiert des‐ halb eine falsche Alternative. Kelsen lehnt den gewaltsamen Umsturz ab und ist Anhänger des demokratischen Übergangs in den Sozialismus. Mittels allgemeiner Wahlen gewinnen die Parteien der Arbeiterklasse, so die Vorstellung, die politische Macht und nutzen diese zum 27 Adler 1922, S. 127. 28 Kelsen 1965, S. 54.

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Umbau der Gesellschaft, d.h. zur Transformation in eine sozialistische Gesellschaft. Adler unterscheidet sich nur graduell von dieser Auffassung. Er meint, die politische Demokratie bedeute in der Klassengesellschaft immer noch die Diktatur der Bour‐ geoisie, was den weichen parlamentarischen Übergang zur sozialistischen Gesell‐ schaft schwierig mache. Dabei akzeptiert er durchaus die Annahme, dass die Arbei‐ ter (demnächst) die Mehrheit der Gesellschaft und ihre Parteien auch die Mehrheit im Parlament stellen. Wie, fragt man sich zunächst, gestaltet sich eigentlich die politische Herrschaft der Bourgeoisie im parlamentarischen System? Auf welchem Wege, mit welchen Mitteln, bleibt der Staat ein Klassenstaat, also die Diktatur der Bourgeoisie, wenn die Parteien der Arbeiter überall Mehrheiten stellen? Marx hat dieses Problem gese‐ hen und charakterisiert es als den Widerspruch der demokratischen Verfassung in der bürgerlichen Gesellschaft, dass die politische Macht in die Hände des Proletari‐ ats geraten kann, während die ökonomische Macht bei der Bourgeoisie bleibt. Er folgert: die politische Demokratie ist in der bürgerlichen Gesellschaft fragil und droht immer, in ein autoritäres Regime umzuschlagen. Während die Arbeiterklasse das allgemeine Stimmrecht nutzen könnte, um mit der politischen Macht die soziale Revolution voranzutreiben, ist es der Bourgeoisie daran gelegen, die soziale Revolu‐ tion zu verhindern, um die Eigentums- und Aneignungsverhältnisse zu sichern.29 Wenn man diese Position ernst nimmt, ergibt sich aus dem „Wesen“ des Staates, sei‐ nem Klassencharakter überhaupt nichts für die eingangs gestellten Fragen. Es sind dann offenbar die Kräfteverhältnisse, die bestimmen, ob das allgemeine Wahlrecht zu einer sozialen Revolution führt. Gleichzeitig stellt sich die Frage, auf welchem Wege, über welche Strukturen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse nicht nur bei allgemeinem Wahlrecht, sondern auch wenn sozialistische Parteien die Regie‐ rung stellen, gesichert werden. Die Frage nach den Strukturen der Herrschaftssiche‐ rung in der parlamentarischen Demokratie ist die Frage nach dem „Wie“ bürgerli‐ cher Herrschaft. Diese kann wiederum nur historisch beantwortet werden, d.h. die Herrschaftsmethoden wechseln, die eine bekommt eine größere Bedeutung, andere treten in den Hintergrund. 30 Herrschaftsmethoden reichen etwa von Repression, über ideologische Hegemonie oder soziale Integration bis zur Entleerung der Demokratie. Selbst wenn das parlamentarische System nicht durch autoritäre oder faschistische Herrschaft beseitigt wird, lässt sich deshalb von einem Strukturwandel bürgerlicher Herrschaft sprechen. Das „Wie“ der Herrschaftssicherung ergibt sich nicht aus dem Klassencharakter des Staates, der Begriff ist nur ein Symbol, eine Floskel, mit der die Mühen der Ebene umgangen werden, nämlich die Strukturen zu analysieren, die das Bestehende stabilisieren.

29 Marx 1978, S. 47. 30 Fisahn 2008, passim.

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Adler beantwortet die Frage nach dem „Wie“ bürgerlicher Herrschaft in der parla‐ mentarischen Demokratie mit einem Zitat von Trotzki: „Die kapitalistische Bour‐ geoisie kalkuliert: solange in meinen Händen der Grund und Boden, die Fabriken, Werke, Banken sind, solange ich die Zeitungen, Universitäten und Schulen beherr‐ sche, solange – und das ist die Hauptsache – in meinen Händen die Leitung der Ar‐ mee liegt, solange wird der Apparat der Demokratie, wie ihr ihn auch ausbauen mögt, meinem Willen Untertan bleiben. Ich unterwerfe mir geistig das stumpfsinni‐ ge, konservative, willenlose Kleinbürgertum, wie es mir materiell untergeordnet ist. … In den Momenten seiner Unzufriedenheit werde ich Sicherheitsventile und Blitz‐ ableiter schaffen. Ich werde im nötigen Moment Oppositionsparteien schaffen, die morgen verschwinden, heute aber ihrer Aufgabe dadurch gerecht werden, dass sie dem Kleinbürgertum die Möglichkeit geben, seine Empörung ohne Schaden für den Kapitalismus zum Ausdruck zu bringen. Ich werde die Volksmassen bei dem Re‐ gime der allgemeinen Schulpflicht an der Grenze der vollständigen Unwissenheit halten und ihnen nicht erlauben, sich über die Stufe zu erheben, die meine Sachver‐ ständigen der geistigen Sklaverei als ungefährlich annehmen werden. Ich werde die privilegierten oder rückständigeren Schichten des Proletariats selbst demoralisieren, betrügen und einschüchtern. Durch die Gesamtheit aller dieser Maßregeln werde ich dem Vortrupp der Arbeiterklasse nicht gestatten, das Bewusstsein der Mehrheit des Volkes zu beherrschen, solange die Unterdrückungs- und Einschüchterungswerkzeu‐ ge in meinen Händen bleiben werden.“31 Man darf Trotzki an dieser Stelle ebenso wenig vor der Folie von Gramsci lesen wie Adler − es geht nicht um Hegemonie, sondern man muss die Herrschaft in den Schulen und Fabriken wörtlich verstehen, nämlich als Hierarchie und Repression. Dann aber wirkte und wirkt diese Beschrei‐ bung in ihrer Schlichtheit nicht erhellend. Und sie ist nicht logisch: Die „Unterdrü‐ ckungs- und Einschüchterungswerkzeuge“ sind ja Teil des Staates und damit unter den oben angenommenen Voraussetzungen in der Hand der Arbeiterparteien. Insge‐ samt ist es zu simpel, fast verschwörungstheoretisch, Herrschaft auf Manipulation, Unterdrückung und Einschüchterung zu reduzieren. Warum, muss man doch fragen, funktioniert diese Manipulation so gut? Es ist geradezu ein Phänomen der bürgerli‐ chen Gesellschaft, dass ihre Form und damit auch die Form der Herrschaft sich in der Geschichte wandelt; Unterdrückung, ideologische Hegemonie und Integration sich abwechseln, mal im Vordergrund stehen, mal an Bedeutung verlieren und im‐ mer wieder neue Formen der Absicherung ökonomischer Macht gefunden werden. Man kann Trotzkis schlichte Erklärung nicht stehen lassen, weil ohne Analyse der Strukturen alle Versuche scheitern müssen, Systemgrenzen zu überwinden. Anders gesagt: man steht immer wieder verwundert da, wenn eine linke, emanzipatorische, sozialistische, wie auch immer Regierung gewählt wurde und keine fortschrittlichen

31 Trotzky 1920, zitiert nach Adler 1922, S. 152.

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Veränderungen durchsetzen kann, also völlig scheitert und folglich abgewählt wird. Das liegt ja nicht am schlechten Charakter der handelnden Personen. Wenn bürgerliche Herrschaft – auch in der politischen Demokratie – nach Adler mittels Beeinflussung und Unterdrückung ausgeübt wird, setzt die Transformation zur sozialistischen Gesellschaft eine Durchbrechung oder Zerschlagung dieser Herr‐ schaft, also des Staates, voraus. So plädiert Adler auch für die Revolution. Überra‐ schend ist dann, wie er sie definiert. Er greift zurück auf Lassalle, der schrieb: „Re‐ volution heißt Umwälzung, und eine Revolution ist somit stets eingetreten, wenn, gleichviel ob mit oder ohne Gewalt – auf die Mittel kommt es dabei gar nicht an – ein ganz neues Prinzip an die Stelle des bestehenden Zustandes gesetzt wird. Reform dagegen tritt dann ein, wenn das Prinzip des bestehenden Zustandes beibehalten und nur zu milderen oder konsequenteren und gerechteren Folgerungen entwickelt wird. Auf die Mittel kommt es wiederum dabei nicht an. Eine Reform kann sich durch In‐ surrektion und Blutvergießen durchsetzen und eine Revolution im größten Frie‐ den.“32 Einverstanden − nur in welcher Beziehung steht diese Auffassung zur Defi‐ nition des Staates als Instrument der Klassenunterdrückung? Wie lässt sich dieses Instrument für die sozialistische Umgestaltung nutzen? Die Fragen muss man Adler stellen, die Antwort aber bleibt aus. Das Problem dieser Argumentation liegt nicht so sehr in der Schlussfolgerung, sondern in der mangelnden Tiefe der Analyse des Staates, die als Prämisse ausgewiesen wird. In der Tat bildet der Staat der bürgerli‐ chen Gesellschaft Resistenzen gegen eine Systemüberwindung aus. Diese Resisten‐ zen sind aber genau zu analysieren und es reicht nicht, sie im dogmatischen Begriff „Klassenstaat“ zusammenzufassen und zu meinen, sie durch „Unterdrückung und Manipulation“ erklärt zu haben. Weiterhin unklar bleiben muss, was emanzipatori‐ sche, historische Errungenschaften des Staates sein könnten und was einer solidari‐ schen Gesellschaft im Wege steht. Adler plädiert für die Revolution, die aber auf parlamentarischem Wege stattfinden kann.

3.3 Finalität der Demokratie oder das Absterben des Staates Bleibt die Frage, was mit dem Staat in der kommunistischen Gesellschaft passiert. Die klingt in unseren Ohren äußerst merkwürdig, ist doch diese Utopie in weite Fer‐ ne gerückt. Marx und Engels gingen davon aus, dass sie in naher Zukunft auf der Tagesordnung der Geschichte steht und der Staat im Kommunismus abstirbt, auf den Müllhaufen der Geschichte katapultiert wird. Trotz des Bilderverbotes, der Distanz zur Utopie, die es verbietet, die sozialistische oder kommunistische Gesellschaft

32 Lassalle zitiert nach Adler 1922, S. 158.

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auszumalen, finden sich diese Aussagen bei den Klassikern. Der Staat stirbt ab und an die Stelle der Herrschaft über Menschen tritt die Verwaltung von Sachen. Kelsen greift diese Bemerkungen auf und stellt deshalb eine Nähe der Klassiker zum Anarchismus fest, der den Staat abschaffen will. „Nähe zum Anarchismus“ meint Kelsen als Vorwurf und entwickelt diesen so, dass damit auch der Marxismus diskreditiert sein soll. Aber Kelsen ist ein zu scharfer Denker, als dass er es bei Fest‐ stellung einer Parallele von „Absterben des Staates“ und „Abschaffen des Staates“ belassen und auf weitere Argumente verzichten würde. In der kommunistischen Ge‐ sellschaft solle die Anarchie der kapitalistischen Produktion überwunden werden und die Gesellschaft sich ihrer selbst bewusst bestimmen, was, wann, wo und wie produziert wird. Das bedürfe offensichtlich einer außerordentlichen organisatori‐ schen Anstrengung und die getroffenen Entscheidungen müssten irgendwie durchge‐ setzt werden. Dazu brauche man eine effiziente Organisationsform der Gesellschaft, die im Zweifel ihre Entscheidungen auch durchsetzen, d.h. Zwang anwenden kann. Da haben wir die Zwangsordnung, die Kelsen als zentrales Element bei der Begriffs‐ bestimmung des Staates verwendet hatte. Adlers Contra fällt eher schwach aus: Der Staat sei bei Marx und Engels definiert als Organisation der Klassenunterdrückung. Mit Beseitigung des Klassenwider‐ spruchs brauche es den Staat nicht mehr: ohne Klassen keine Unterdrückung, folg‐ lich auch kein Staat. Aber natürlich brauche auch eine kommunistische Gesellschaft eine Organisationsform, nur sei diese keine Herrschaft von Menschen über Men‐ schen, sondern reine Verwaltung von Sachen. Adler schreibt: „Die Produktion ist ganz und gar aus einem Mittel, mit welchem ein Teil der Gesellschaft den anderen beherrscht, zu einem Prozess geworden, durch den die Gesamtheit sich selbst erhält und befriedigt: die Regierung ist Verwaltung geworden.“33 Das schließe die Einglie‐ derung von Menschen in eine Ordnung nicht aus. Kelsen wendet ein: „Es gibt keine Verwaltung von Sachen, die nicht Verwaltung von Menschen, d.h. die Bestimmung des einen menschlichen Willens durch den anderen, es gibt keine Leitung von Pro‐ duktionsprozessen, die nicht Regierung über Personen, d.h. Motivation des einen menschlichen Willens durch den anderen wäre.“34 In der Tat scheint die Entgegen‐ setzung der „Verwaltung von Sachen“ zur „Herrschaft über Menschen“ nur ein ter‐ minologischer Trick zu sein. Adler sucht deshalb Zuflucht bei einem weiteren Argument. In der kommunisti‐ schen Gesellschaft würden mit den Klassengegensätzen auch die Interessengegen‐ sätze verschwinden, Konflikte würden auf harmlose Meinungsverschiedenheiten re‐ duziert, so dass eine gesellschaftliche Homogenität oder Harmonie entsteht, die den Zwang weitgehend entbehrlich macht. An die Stelle der Rechtsregel trete die Kon‐ ventionalregel, eben eine auf Übereinstimmung beruhende Konvention, die sich als 33 Adler 1922, S. 214. 34 Kelsen 1965, S. 89.

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Regel formulieren ließe. So folgert er: „Die Negierung und Beseitigung des Staates im Sinne einer Klassenherrschaft und als Anwender einer Rechtsordnung, die da‐ durch notwendig Herrschaftsordnung sein muss, und ihr Ersatz durch Konventional‐ regelung der Gemeinschaftsgenossen bedeutet also keineswegs auch die Negierung eines Rechtszwanges, sondern nur die totale soziologische Änderung seines Charak‐ ters.“35 Mit Verlaub: ein so verstandener Marxismus wird zur Heilsbotschaft – am Ende steht das Paradies, in dem Tiere und Menschen in Eintracht leben. Die Frauenund Ökologiebewegung hat die Arbeiterbewegung gelehrt, dass mit der Überwin‐ dung des Klassengegensatzes keineswegs weitgehende Harmonie sich verbreitet. Die einst als „Nebenwidersprüche“ titulierten Problemlagen haben es in sich und lö‐ sen sich keineswegs von selbst. Heißt das, man müsse auf das Ideal einer herr‐ schaftsfreien Gesellschaft verzichten? Ich meine nicht, wenn man es als transzen‐ dentale Idee im Sinne Kants versteht, als Leitstern, Leitmotiv, wie eine Gesellschaft zu organisieren ist. Und diese Organisationsweise ist eine demokratische, in der die kollektiv wirkenden Entscheidungen an deren Adressaten zurückgebunden werden und der einzelne Mensch sich auf allen Ebenen in unterschiedlichen Formen in den Entscheidungsprozess einbringen kann. Daraus folgt nicht, dass der Einzelne mit je‐ der Entscheidung einverstanden ist und Zwang entbehrlich wird. Es heißt nicht, dass keine Konflikte entstehen. Aber über die demokratische Legitimität wird Herrschaft reduziert. Das demokratische Procedere freilich verlangt eine Organisation, ein En‐ semble von Institutionen, für die sich der Begriff Staat eingebürgert hat.

Literatur Adler, Max 1922: Die Staatsauffassung des Marxismus – Ein Beitrag zur Unterscheidung von soziologischer und juristischer Methode, Wien. Adler, Max 1926: Politische oder soziale Demokratie – Ein Beitrag zur sozialistischen Erzie‐ hung, Berlin. Bourdieu, Pierre 2014: Über den Staat, Frankfurt. Fisahn, Andreas 2008: Herrschaft im Wandel. Überlegungen zu einer kritischen Theorie des Staates, Köln. Kelsen, Hans 1965: Sozialismus und Staat – Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus, Wien. Lassalle, Ferdinand 1918: Die Wissenschaft und die Arbeiter. In: Sämtliche Werke. Band II, Leipzig. Marx, Karl 1978: Die Klassenkämpfe in Frankreich. In: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Ausge‐ wählte Werke in sechs Bändern, Band II, Berlin, S. 7 - 125, Matzka, Manfred 1985: Einleitung zu ders. (Hrsg.), Sozialdemokratie und Verfassung, S. 10 32, Wien, München, Zürich. 35 Adler 1922, S. 242.

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Pfabigan, Alfred 1982: Max Adler. Eine politische Biographie, Frankfurt/ New York. Trotzki, Leo 1920: Terrorismus und Kommunismus, Wien.

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Armin Puller Demokratietheoretische Überlegungen bei Otto Bauer und Max Adler1

Fragen der Demokratie beschäftigten die austromarxistische theoretische und politi‐ sche Praxis nach 1918 in zumindest doppelter Hinsicht: (1) Die Gründung der Repu‐ blik und die Einsetzung eines ernstzunehmenden Parlamentarismus waren ange‐ sichts der Abwesenheit eines demokratischen Bürgertums in Österreich fast aus‐ schließliche Anliegen der Sozialdemokratie und ihrer sozialen Basis, die mit der neuen Staatsform eine Reihe sozialer Errungenschaften erkämpfen konnte. Neben der Verteidigung der Republik gegen die monarchistische Restauration, konservative Widerstände und später auch faschistische Angriffe trat die Sozialdemokratie zu‐ gleich programmatisch für eine Vertiefung und Ausweitung der Demokratie in Rich‐ tung eines demokratischen Sozialismus ein, der die Transformation der ökonomi‐ schen Verhältnisse zum Gegenstand hatte. Nicht zuletzt die Stoßrichtung der Sozial‐ gesetzgebung in der Konzentrationsregierung, die Sozialisierungspläne 1918/19, das Betriebsrätegesetz 19192 oder auch die Debatten um „Wirtschaftsdemokratie“ zei‐ gen konkrete Demokratisierungsbestrebungen auf. (2) Die in der Folge der Russi‐ schen Revolution von 1917 und der Gründung der Sowjetunion aufgekommene Spaltung der europäischen ArbeiterInnenbewegung bestimmte maßgeblich auch die 1 Für Diskussion und Hinweise danke ich Florian Wenninger. 2 Das Betriebsrätegesetz 1919 stellte das bedeutendste Ergebnis der Sozialisierungskommission unter Otto Bauer dar und verfolgte den Anspruch, über (in fabrikmäßigen Betrieben) zu wählen‐ de ‚Vertrauensmänner‘, „den Arbeitern und Angestellten das Recht und die Möglichkeit [zu ge‐ ben], nicht nur die soziale, sondern auch die kaufmännische und technische Führung der Betrie‐ be zu kontrollieren und zu beeinflussen“, Bauer 1976a, S. 204. In der Programmatik Bauers wurden die Vertrauensmänner als künftige Betriebsleitende vorgestellt, die nach Schulung und Einsicht in die Produktionsleitung die Überflüssigmachung der Industrieherren einleiten wür‐ den. Das Betriebsrätegesetz ist auch vor dem Hintergrund der österreichischen Rätebewegung zu sehen, die in den Nachkriegsjahren einen wesentlichen Machtfaktor darstellte und eine Vor‐ machtstellung der Räte sowie eine sozialistische Transformation der Gesellschaft verfolgte. Die zeitgenössischen Einschätzungen der Lage Österreichs hielten angesichts des Machtvakuums im Lande und der Demoralisierung der bürgerlichen Kräfte nach dem Krieg die Ausrufung einer Räterepublik für sehr realistisch, wandten sich aber aufgrund von Einschätzungen über das all‐ gemeine wirtschaftliche Niveau des Landes, folgende nachteilige Produktionsausfälle, ausländi‐ sche Abhängigkeiten und drohende Gegenschläge, politische Instabilitäten und mittelfristige so‐ ziale Kräfteverhältnisse gegen dieses Projekt. Es gehörte mitunter zur Strategie der SDAP, die Rätebewegung in ihrem politischen Elan zu bremsen und die Arbeiterräte durch Zuweisung be‐ grenzter Verwaltungsaufgaben im Bereich der Ressourcenzuteilung in das politische System zu integrieren. Das Betriebsrätegesetz kann neben seiner Bedeutung für den Sozialisierungsgedan‐ ken daher auch als Mittel zur Schwächung der Eigenständigkeit der Rätebewegung und Kanali‐ sierung ihrer Begehren bewertet werden, cf. Hautmann 1987.

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Debatten in den Organisationen des Westens und stellte viele Fragen über die Be‐ deutung der bestehenden Institutionen der ‚formalen Demokratie‘, der Schaffung neuer demokratischer Organe, des Verhältnisses von repräsentativer Demokratie und Räten sowie der Interpretation des Marx’schen Begriffs der ‚Diktatur des Proletari‐ ats‘ in neuer Weise. Während sich die bestimmende Positionierung der II. Internatio‐ nale zur Sowjetunion an der Beseitigung demokratischer Strukturen und Rechte mit‐ tels einer idealtypischen Gegenüberstellung der Kampfbedingungen im Westen abar‐ beitete, fiel das Urteil einiger austromarxistischer VertreterInnen wie Otto Bauer und Max Adler trotz kritischer Analysen differenzierter aus und betonte entsprechend der Unterschiedlichkeit nationaler Kontexte eine Vielfalt der Wege zum Sozialismus, ohne dabei die hemmende Wirkung der sowjetischen Programmatik und politischen Praxis auf die ArbeiterInnenbewegung des Westens unthematisiert zu belassen oder der ‚Staatsgläubigkeit‘ der II. Internationale zu verfallen. Obwohl die politische Konjunktur dem Austromarxismus das Thema der Demo‐ kratie aufdrängte, haben seine VertreterInnen keine staatstheoretisch fundierte De‐ mokratietheorie ausgearbeitet, die sich systematisch mit dem Verhältnis von Staats‐ formen und Produktionsverhältnissen oder den inneren Widersprüchen in den Staats‐ apparaten befasste. Neben allgemeintheoretischen Ausführungen über Differenzen der Demokratie in kapitalistischen und in sozialistischen Staatstypen bzw. Gesell‐ schaften zerfällt die Demokratietheorie in konkrete Zeitdiagnosen und Strategiedis‐ kussionen mit dem Fokus auf die Ebene von Parteiauseinandersetzungen auf der po‐ litischen Bühne. Dies hängt auch und vor allem mit einem bestimmten, vom Aus‐ tromarxismus praktizierten, Verständnis von Marxismus als Theorie zur Analyse konkreter Klassenverhältnisse in einer jeweils historisch spezifischen Konjunktur zusammen, worin durchaus ein bedeutender Unterschied zu kanonisierten und dog‐ matisierenden Lehren über mechanische Bewegungsgesetze der Geschichte mit All‐ gemeingültigkeitsansprüchen besteht. Die Konzentration auf die Analyse konkreter Situationen hat dem Austromarxismus einen detaillierteren Blick auf das Politische und das Kulturelle als gesellschaftliche Bereiche mit eigenen Wirksamkeiten sowie der Überdeterminiertheit sozialer Kämpfe jenseits von ökonomistischem Reduktio‐ nismus verschafft. Die Stärke des Austromarxismus, den Kampf um Demokratie und die Erringung der Hegemonie in den Mittelpunkt zu rücken, woraus sich wesentlich seine Faszinationskraft speist, ist anderseits zugleich mit einer, in der Nachbetrach‐ tung immer leichter festzustellenden und auch mit den kontextuellen Restriktionen der österreichischen Situation zusammenhängenden, Tendenz zur Verengung politi‐ scher Mobilisierung auf die Schaffung einer ideologischen Gegenkultur verbunden, die sich in der politischen Praxis bemerkbar gemacht hat. Nichtsdestotrotz kann der Austromarxismus für sich eine genuine und differenzierte politische Analysefähig‐ keit beanspruchen, deren politische Strategie beharrlich auf Demokratisierung und soziale Transformation abzielte.

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1. Periodisierung austromarxistischer politischer Theorie und Praxis Die austromarxistischen Überlegungen zur Demokratie sind jeweils vor dem Hinter‐ grund der Verschiebungen in den politischen Verhältnissen der Ersten Republik zu sehen, deren stetige Neubewertung insb. zum Kennzeichen der Originalität von Otto Bauer gehört. Entsprechend der Bauer’schen Periodisierung der politischen Verhält‐ nisse von 1918 bis 1938 lässt sich folgende Einteilung vornehmen:

1.1. 1918-1919 Als Folge der Republiksgründung bestand in Österreich in der Analyse von Bauer vorerst eine Situation der Vorherrschaft der ArbeiterInnenklasse, die sich in der ‚funktionellen Demokratie‘ ausdrückte – einer Regierungspraxis, in der parlamenta‐ rische Beschlüsse nur im Einvernehmen mit der organisierten Macht der ArbeiterIn‐ nenbewegung (sowie anderer organisierter Wirtschaftsinteressen) getroffen werden können.3 Politisch und theoretisch wurde die Existenz der demokratischen Staats‐ form in dieser Phase durch den Austromarxismus stark überhöht: Unter dem Ein‐ druck des revolutionären Enthusiasmus‘ der Arbeiter- und Soldatenräte sowie der Räterepubliken in Ungarn und Bayern erschien die sozialistische Transformation fast nur mehr als gesetzlich zu erreichende Ausweitung der Demokratie auf die Wirt‐ schaft.4 Einerseits speisten sich daraus die ambitionierten Pläne der Sozialisierung der Industrie und einer Bodenreform, andererseits wurden Fragen der Transformati‐ on des Staatsapparats kaum gestellt.5

1.2. 1919-1922 Die Jahre im Anschluss an den Vertrag von St. Germain und die Regierungsumbil‐ dung im Oktober 1919 wurden von Bauer als „Gleichgewicht der Klassenkräfte“ und als Fortbestehen der „Volksrepublik“6 bezeichnet, worunter eine prekäre Situati‐ on der Machtteilung und Kompromissfindung zwischen den Klassenkräften auf der politischen Bühne im Sinne der fortgesetzten funktionellen Demokratie verstanden werden kann. Die Volksrepublik ist zwar von Klassenherrschaft gekennzeichnet, je‐ doch kann der Staatsapparat vom Bürgertum angesichts der Notwendigkeit der Tei‐ lung der Staatsmacht (und der fehlenden Kontrolle des Militärs durch das Bürger‐

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cf. Bauer 1980, S. 68f.; Adler 1926, S. 151ff. cf. Bauer 1976. cf. Leichter 1964, S. 36. Bauer 1976c.

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tum) nicht als Instrument der Klassenherrschaft in Stellung gebracht werden.7 In der Bewertung dieser Periode haben sich unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten über den genauen Status dieser Begriffe aufgetan, die nicht zuletzt aus einer man‐ gelnden staats- und klassentheoretischen Verankerung hervorgehen. Politisch zeich‐ net sich eine Polarisierung zwischen einem gestärkten bürgerlichen Lager und der zunehmend auf die kommunale Ebene des ‚Roten Wien‘ und einiger weiterer Indus‐ triestädte beschränkten und ab Oktober 1920 aus der Koalitionsregierung verdräng‐ ten Sozialdemokratie ab.

1.3. 1922-1927 Mit der Genfer Sanierung von 1922, einem Rettungsschirm zur Abwendung eines Staatsbankrotts und zur Beendigung der Nachkriegsinflation, konnte das Bürgertum unter Mithilfe des Völkerbundes seine politische Vorherrschaft restaurieren und die funktionelle Demokratie in die „funktionelle Oligarchie“8 rückverwandeln. Obwohl mit der Anleihe eine Verpflichtung zu einem restriktiven Konsolidierungskurs auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung verbunden wurde, setzte sich die Sozialdemo‐ kratie nur mit einer „zwiespältigen Haltung“9 aus verbalem Radikalismus und passi‐ ver Konzessionsbereitschaft zur Wehr. Angesichts der fehlenden Kontrolle des Bür‐ gertums über das Bundesheer, vorzuweisender parlamentarischer Erfolge und der bestehenden Kampfkraft der Sozialdemokratie beurteilte Bauer10 die Restauration der Bourgeoisrepublik als noch nicht vollständig vollzogen und betonte die Mög‐ lichkeit und Notwendigkeit der Verteidigung der Ergebnisse der „Revolution von 1918“ und des Kampfes um die Staatsmacht, indem es der SDAP „gelingt, einen Teil der kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Massen von den bürgerlichen Partei‐ en loszureißen.“11 In dieser Periode entwickelte sich die austromarxistische Politik‐ theorie zu ihrer Höchstphase, von der die Schriften Bauers und Adlers zeugen sowie das Linzer Programm von 1926, in dem die SDAP ihren ‚dritten Weg‘ zwischen Re‐ formismus und Bolschewismus ausformulierte und die mittelfristige sozialistische Transformation auf die Tagesordnung setzte.

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cf. Bauer 1976c, S. 805ff. Bauer 1980, S. 69. Löw 1986, S. 34. cf. Bauer 1976c, S. 844. Bauer 1976d, S. 952.

1.4. 1927-1933 Mit der nach den Juliereignissen von 1927 einsetzenden Radikalisierung der antide‐ mokratischen Kräfte veränderten sich die sozialen Kräfteverhältnisse zuungunsten der Sozialdemokratie, die trotz radikaler Rhetorik mit einer Politik des Abwartens und der Defensive reagierte. In theoretischer Hinsicht diskutierte die Partei das Phä‐ nomen der „Pause“ der revolutionären Situation, die die gesamteuropäische Lage der ArbeiterInnenbewegung beschrieb. Während die Theorie der Pause ursprünglich von Parteilinken zur Abwehr eines programmatischen Rechtskurses sowie des Begehrens zum Eintritt in eine Koalition mit den Christlich-Sozialen aufgebracht wurde und dagegen die Notwendigkeit der Kampfbereitschaft der Sozialdemokratie angesichts konterrevolutionärer Bestrebungen betonte, wirkte sie zugleich desorientierend und behinderte die Entwicklung einer weiterführenden Strategie.12 Die nach 1927 in der SDAP einbrechende Debatte über eine Koalitionsbeteiligung spielte eher der Partei‐ rechten die Themenführerschaft in die Hände, während die Gesamtpartei angesichts der Weltwirtschaftskrise und der Offensive der austrofaschistischen Kräfte nicht aus der Defensive kam.

1.5. 1933/34-1938 Die Ereignisse der Ausschaltung des Parlaments im März 1933, die von der Partei‐ führung der SDAP defensiv beantwortet wurden, sowie der Bürgerkrieg im Februar 1934, der aufgrund der vormaligen defensiven Gesamtstrategie letztlich ohne Plan und Führung sowie auf einzelne Stellungen begrenzt geführt wurde, leiteten die aus‐ trofaschistische Umwandlung der ‚Bourgeoisrepublik‘ ein. Der Austrofaschismus errichtete unter Einsatz einer, der Realität jedoch niemals entsprechenden und kaum mobilisierenden, berufsständischen Staatsideologie autoritäre Verhältnisse im Politi‐ schen und beantwortete die Frage der notwendigen Lösung der ökonomischen Krise mit einer angebotsorientierten und prozyklischen Wirtschaftspolitik sowie mit einer auf Massensteuern ausgerichteten Steuerpolitik. Mit der Illegalisierung der Sozialde‐ mokratie verschob sich der Schwerpunkt Bauers, der (u.a. gemeinsam mit dem Ob‐ mann des Republikanischen Schutzbundes, Julius Deutsch) ins Exil nach Brünn ging, neben der Beteiligung an der Arbeit des Untergrunds bis zu seiner weitgehen‐ den Ausmanövrierung 1935 zunehmend auf die theoretische Praxis. Das in dieser Zeit – neben der gegenüber vielen zeitgenössischen Beiträgen ausgesprochen tiefge‐ henden Faschismusanalyse – entwickelte Konzept des ‚integralen Sozialismus‘ stell‐ te den Versuch einer Aktualisierung des ‚dritten Wegs‘ vor dem Hintergrund der Be‐

12 cf. Butterwegge 1991, S. 366ff.

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seitigung des parlamentarisch-demokratischen Kampfbodens zur Verwirklichung des Sozialismus dar. Mit dem Wegfall der Möglichkeit eines demokratischen Wegs zum Sozialismus verliere die Dichotomie von reformistischen und revolutionären Strate‐ gien als Differenzierungskriterium in der internationalen ArbeiterInnenbewegung an Bedeutung und eröffne sich die Notwendigkeit einer politisch-ideologischen Wie‐ dervereinigung als gegenseitiger Lernprozess unterschiedlicher Traditionen, als „Synthese des demokratischen Sozialismus des Westens und des revolutionären So‐ zialismus des Ostens, […] geistig-politischer Freiheit und ökonomisch-sozialer Be‐ freiung.“13

2. Kampf um die Staatsmacht Die politische Strategie des Austromarxismus dreht sich, ganz im Anschluss an die Thesen des ‚Kommunistischen Manifests‘, um die „Erkämpfung der Demokratie“14, wobei seine VertreterInnen Demokratie in erster Linie entlang der Institutionen des Parlamentarismus und der nach 1918 geschaffenen Staatsform der demokratischen Republik definieren. Zugleich wird Demokratie auch als eine politische Logik ver‐ standen, in der Interessen auf eine bestimmte Weise, nämlich im „Gedanke[n] des Allgemeininteresses“15 artikuliert und verhandelt werden und die daher über formale Gleichheit hinausweist. Die Doppeldeutigkeit des Konzepts der Demokratie war ein Thema, das insb. Max Adler16 in der Unterscheidung von politischer, auf formale Rechtsgleichheit beschränkter Demokratie und sozialer, auf soziale Gleichheit abzielender Demokra‐ tie bearbeitete. Die Unterscheidung fokussiert auf unterschiedliche Artikulationen des Verhältnisses von Politik und Ökonomie und rückt Fragen der Klassengegensät‐ ze und der ungleichen Verfügung über die Mittel des Lebens in den Blick: Während die politische Demokratie Mehrheitsbeschlüsse in der Form von Abstimmungen über unterschiedliche Lebens- und Entwicklungsinteressen zwischen klassenförmi‐ gen sozialen Gruppen organisiert, beruht die soziale Demokratie auf einer zu schaf‐ fenden solidarischen und klassenlosen Gesellschaftsorganisation, in der Lebensinter‐ essen für alle sichergestellt und stattdessen Verwaltungsverfügungen Thema politi‐ scher Auseinandersetzungen sind. Adlers Überlegungen sind auch und vor allem in Debatten mit Hans Kelsens Rechtspositivismus entstanden, der Konflikte über die gesellschaftliche Organisation auf den Boden der politischen Demokratie beschränkt wissen wollte und – ähnlich dem sozialdemokratischen Reformismus, den Adler als 13 14 15 16

48

Bauer 1976e, S. 216. Marx/Engels 1977, Bd. 4, S. 481. Adler 1926, S. 57. cf. Adler 1922, S. 126f.

Parteilinker scharf kritisierte – die Existenz der demokratischen Staatsform bereits als Ende des Klassenstaats betrachtet. Der Begriff der sozialen Demokratie verweist dagegen auf eine gesellschaftliche Umwälzung, die über die politische Umgestal‐ tung des Staates im Sinne der Übernahme und Ausübung von Regierungsmacht durch sozialistische Parteien hinausgeht und sich dabei auf den im Demokratiebe‐ griff angelegten „programmatischen Inhalt“ der Herstellung von Gleichheit bezieht. Adlers Begriffspaar ist daher auch eine Konkretisierung, die den in der marxisti‐ schen Diskussion für die Übernahme der Staatsmacht gebräuchlichen Begriff der ‚proletarischen Demokratie‘ gänzlich der politischen Demokratie zuschlägt17, die noch vom Klassenstaat geprägt ist. Zusätzlich unterstreicht Adler mit dem Konzept der ‚sozialen Demokratie‘ die starke Verbindung von sozialistischer Gesellschaftsor‐ ganisation und demokratischen Verhältnissen im Politischen sowie den Weg der so‐ zialistischen Transformation als Vertiefung, im Unterschied zur Aussetzung, der po‐ litischen Demokratie. Die politische Demokratie wird vom Austromarxismus stets als etwas Beschränk‐ tes, nicht aber als eine Hürde auf dem Weg zur sozialen Demokratie verstanden. Da sie einen tiefen Bruch mit der Monarchie und der Militärdiktatur im Ersten Welt‐ krieg vollzogen hat, die militärischen Machtmittel nach ihrer Niederringung im Krieg nicht wieder den alten Machthabenden in die Hände gelegt, sondern dem Par‐ lament mittels des allgemeinen Wahlrechts die politischen Machtbefugnisse ver‐ schaffte, hat sie politische Rechte verankert, die gewaltförmige politische Unterdrü‐ ckung beseitigt und Perspektiven auf soziale Veränderungen befördert. 1919 sprach Otto Bauer voller Zuversicht: „Der Sieg der Demokratie leitet den Kampf um den Sozialismus ein.“18 Institutionell betrachtet hängt der Übergang von der politischen zur sozialen Demokratie mit einer Ausweitung und Vertiefung zusammen: Immer weitere gesellschaftliche Bereiche sollen mit der Logik der Demokratie durchflutet (Ausweitung) sowie der Masseninvolvierung und Formen der Selbstverwaltung un‐ terworfen (Vertiefung) werden – bis auch in der Wirtschaft feudale Herr-KnechtVerhältnisse überwunden sind. Bauer entwickelte bereits früh und im Zusammen‐ hang mit Schritten zur Sozialisierung der Produktion konkrete institutionelle Überle‐ gungen, die sich von bloßer (juristischer) Verstaatlichung oder bürokratischer Zen‐ tralplanung unterscheiden und im Sinne einer, breite soziale Gruppen involvieren‐ den, ökonomischen Vergesellschaftung auf basisnahe Planung und Selbstverwaltung von Betrieben, Wohnbauten, Landwirtschaft oder des Konsumbereichs setzten.19 17 cf. Adler 1926, S. 53f. 18 Bauer 1976, S. 91. 19 Bauer sprach 1919 in diesem Zusammenhang vom „demokratischen Sozialismus, und das heißt die wirtschaftliche Selbstverwaltung des ganzen Volkes. Durch ein ganzes System demo‐ kratischer Organisationen soll das Volk sein Wirtschaftsleben selbst verwalten […]“, Bauer 1976, S. 129. Die Sozialisierungsaktion betrachtete Bauer im Wesentlichen nicht als eine tech‐ nische, sondern als eine Machtfrage und beurteilte ihren geringen Erfolg später als Ergebnis

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Die von der Demokratie bereitgestellten Möglichkeiten der Organisierung als Massenpartei, des Kampfes um die parlamentarische Mehrheit sowie um die Errin‐ gung der Hegemonie eröffnen ein neues Terrain des politischen Kampfes. Demokra‐ tie stellt aus Sicht des Austromarxismus „für das Proletariat eine unentbehrliche Waffe, ein gewaltiges Mittel [dar], seinen Einfluß im Staate zur Geltung zu bringen und seine Massenanziehung zu verstärken.“20 Im Unterschied zur Vorstellung der klassenförmigen Neutralität und Schiedsrichterfunktion des Staates bei Karl Kautsky oder Hans Kelsen haben Otto Bauer und Max Adler dabei die Asymmetrie des de‐ mokratischen Kampfterrains stärker betont. In der Differenzierung von herrschender und regierender Klasse sowie in der Feststellung der Kombinierbarkeit von Parla‐ mentarismus und Klassenherrschaft21 hat Bauer22 Illusionen über eine Unbegrenzt‐ heit von sozialistischer Regierungsmacht oder über ein Verschwinden von Klassen‐ kämpfen in der republikanischen Staatsform zurückgewiesen. In der Republik iden‐ tifizierte Bauer folgende herrschaftsreproduzierende Mechanismen23: (a) In ökono‐ mischer Hinsicht hängen die Möglichkeiten staatlicher Politik maßgeblich von Fi‐ nanzmitteln der Fraktion des zinstragenden Kapitals ab, die daher einen erheblichen Einfluss mittels der Gewährung staatlicher Kredite ausüben kann. Aufgrund der Ab‐ hängigkeit des Beschäftigungsniveaus und der Arbeitslosigkeit von erfolgreichen Akkumulationsstrategien der Industrie, vermag auch die industrielle Fraktion des Kapitals ihr Profitstreben wirksam staatlich zu verankern. Auch wenn die ökonomi‐ sche Macht des Kapitals in der Demokratie der Mobilisierung für ihre Interessen be‐ darf, verfügt sie über leicht einsetzbare Druckmittel. (b) In den politischen Verhält‐ nissen haben Demokratie und Parlamentarismus zwar die zuvor bestehende Diktatur der Bourgeoisie beendet, nicht aber deren politische Herrschaft selbst: Basierend auf Bündnissen mit dem städtischen Kleinbürgertum und den bäuerlichen Klassen über‐ lässt die Bourgeoisie die Regierungsgeschäfte mehrheitsfähigen Parteien, die „nicht als die Verteidiger des Kapitals, sondern als die Anwälte der Religion, der Nation, der Ordnung [auftreten]“24, aber abseits von (für die Bourgeoisie teilweise auch un‐ liebsamen) Zugeständnissen an die „antikapitalistischen Instinkte, Traditionen, Stim‐ mungen ihrer Gefolgschaft“25 als „Organe der Herrschaft der unter der Führung der Kapitalistenklasse gesammelten Bourgeoisie“26 handeln. (c) In ideologischer Hin‐ sicht benennt Bauer herrschende Ideensysteme, „die die Interessen des Kapitals als Interessen des Volkes, des Staates, der Produktion, des Bürgerfriedens, der Nation,

20 21 22 23 24 25 26

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objektiv ungünstiger Umstände, insb. vor dem Hintergrund der Abhängigkeit Österreichs von ausländischem Kapital, cf. Bauer 1976a, S. 209; Euchner 1985. Adler 1926, S. 11. cf. SDAP 1926, S. 383ff. cf. Bauer 1980a, S. 212. cf. Bauer 1976c, 1976d, 1980a. Bauer 1980a, S. 209f. Bauer 1980a, S. 208. Bauer 1980a, S. 216.

der Religion proklamieren“27 sowie die Arbeit von Intellektuellen in den Apparaten zur Anbindung des Denkens der Massen an die kapitalistische Gesellschaftsordnung und Schaffung einer öffentlichen Meinung in diesem Sinne. Die Zurückdrängung der herrschenden Ideen und die Entwicklung von „moralischen und intellektuellen Qualitäten“28 eines „proletarischen Klassenbewußtseins“, das über einfache Formen von Solidarität hinaus ein ‚Gesamtklasseninteresse‘ vor Augen hat und sich in der demokratischen Selbsterziehung schult, macht daher den ideologischen Kampf ge‐ gen den Kapitalismus aus. Entsprechend der Analyse der Komplexität kapitalistischer Herrschaft kann die Herausforderung der ökonomischen Macht des Kapitals nicht alleine mittels der blo‐ ßen Eroberung der Regierungsmacht erfolgen, sondern muss auch und vor allem das soziale Bündnis zwischen Bourgeoisie und Mittelklassen durch Unterminierung der ideologischen Macht der Bourgeoisie (Tradition, Presse, Schule, Kirche etc.) desta‐ bilisieren. Das auf Bauers Analysen beruhende ‚Linzer Programm‘ formulierte eine damit verbundene Strategie des „Ringen[s …] um die Seele der Volksmehrheit“29: Schaffung eines Bündnisses mit Teilen der Kleinbauernschaft und des Kleinbürger‐ tums unter Führung der SDAP als Partei der geeinten ArbeiterInnenklasse mit dem Ziel der Eroberung der Staatsmacht, die in weiterer Folge zur Veränderung der Ver‐ fügungsmacht über die gesellschaftliche Produktion genutzt werden soll. Hinter‐ grund der Strategie ist das von Bauer ab 1924 in Auseinandersetzung mit Lenin ent‐ wickelte Konzept der Hegemonie. Obwohl Bauer, im Unterschied zu Gramsci, das Konzept der Hegemonie zur Konzeptualisierung der Führung der Partei der als Ein‐ heit konstituierten ArbeiterInnenklasse über die Gesamtheit des „arbeitenden Volks“ einsetzte,30 besteht kein Zweifel daran, dass der Aspekt der Führung ein politischideologisches Klassenbündnis zum Gegenstand hat: „Die Hegemonie des Proletari‐ ats über das arbeitende Volk kann […] nur dadurch verwirklicht werden, daß wir kleinbürgerlich-kleinbäuerliche Massen zu aktiver Kooperation mit dem Proletariat, zu gemeinsamem Kampfe mit dem Proletariat gewinnen, indem wir sie für die Partei des Proletariats gewinnen.“31 Bauers Überlegungen zu Hegemonie grenzen sich ex‐ plizit von der russischen Situation ab – einerseits basierend auf einer politischen Ab‐ lehnung des Modells der Parteidiktatur, andererseits aufgrund einer Analyse der ös‐ terreichspezifischen Eingebundenheit von kleinbäuerlichen und kleinbürgerlichen sozialen Gruppen in ein umfassendes zivilgesellschaftliches Netz, das eine Einschät‐ zung dieser Klassenteile als politisch unbewusst und indifferent verbietet.32 Zur The‐ matisierung der Organisation der Landwirtschaft und zur Gewinnung von Teilen der 27 28 29 30 31 32

Bauer 1980a, S. 205f. Bauer 1978, S. 419. SDAP 1926, S. 383. cf. Marramao 1979, S. 68; Albers 1979, S. 43ff. Bauer 1976d, S. 957. cf. Bauer 1976d, S. 955f.

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bäuerlichen Klassen wurde von der SDAP 1925 ein eigens von einer Kommission erstelltes und auf detaillierten Analysen der Lebensverhältnisse auf dem Land beru‐ hendes Agrarprogramm33 beschlossen, das den Übergang zu einer sozialisierten Landwirtschaft konzipiert. Es zeichnet sich aus durch eine Kombination aus konkre‐ ten Maßnahmen zur Demokratisierung der Eigentums- und Verfügungsrechte über Bodenbesitz unter Berücksichtigung von Produktivitätssteigerungen und techni‐ schem Fortschritt, gegen die Überbewertung des Bodens und ihres Effekts der Schuldknechtschaft von Kleinbauern, zur Verbesserung der Arbeitsverhältnisse der Landarbeitenden oder etwa zur Verbesserung des ländlichen Bildungswesens. Im umfassenden Kenntnisreichtum über die Situation auf dem Land und in den ernst‐ haften Überlegungen, die Land- und Forstwirtschaft mit dem Sozialisierungs- und Selbstverwaltungsgedanken zu verbinden, zeigt sich, dass die Bündnisstrategie des Austromarxismus nicht einfach auf kurzfristige elektorale Verschiebungen abzielte, sondern die Transformationsstrategie selbst weiterentwickelte und soziale Gruppen außerhalb der urbanen ArbeiterInnenschaft einbezog. Bauers politische Strategie, die immer wieder mit WählerInnenpotentialanalysen exemplifiziert wird,34 scheint die Machteroberung als reine Frage des Wahlkampfs zur Eroberung der parlamentarischen Mehrheit zu betrachten. Nichtsdestotrotz be‐ steht in Bauers Vorstellung aber ein eindeutiges Primat der außerparlamentarischen politischen Praxis: der politisch-ideologischen Aufklärungs- und Kulturarbeit zur Stärkung des Klassenbewusstseins der ArbeiterInnenklasse und zur Erringung der Hegemonie über das „arbeitende Volk“. Die parlamentarische Mehrheit ist nicht Selbstzweck, aber notwendiges Mittel auf dem Weg zur Eroberung der politischen Macht und zugleich kann sie nur dann erfolgreich sein – d.h. die politische Macht gegenüber dem Kapital behaupten und das Projekt der sozialen Demokratie verwirk‐ lichen –, wenn sie auf die Begeisterung und Mobilisierung der sozialen Basis der Partei setzen kann. Gerade diese Aktualisierung der Frage der Eroberung der politi‐ schen Macht und ihre Verknüpfung mit dem Problem der Hegemonie in Form einer Strategie der Vertiefung von Demokratie auf einem ungleichen politischen Terrain stellt den vermutlich originellsten demokratietheoretischen Beitrag des Austromar‐ xismus dar. Die langen Streitigkeiten innerhalb der SDAP über die Frage einer Koalition mit bürgerlichen Parteien, die im Anschluss an diese Strategie entstanden, erklären sich dabei daraus, dass die, insb. von Karl Renner vertretene Position, wonach eine parla‐ mentarische Koalitionsbildung mit den Christlich-Sozialen Ausgangspunkt des Auf‐ brechens des Bürgerblocks sein sollte, im Unterschied zu Bauer oder Max Adler die Eroberung der Hegemonie und der Massenmobilisierung der parlamentarischen Ar‐ beit der Partei unterordnete. Bauer, der (so wie auch das Linzer Programm) Koaliti‐ 33 cf. SDAP 1925. 34 cf. Bauer 1976d, S. 959f.

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onsbeteiligungen keineswegs grundsätzlich ablehnte, sondern außerhalb von Situa‐ tionen eines Klassenkräftegleichgewichts als wenig fruchtbar bewertete, befürchtete bei Renners Koalitionsbestrebungen nicht nur eine Erfolglosigkeit (mangels in Österreich bestehender und sich im Politischen ausdrückender manifester ökonomi‐ scher Spaltungslinien zwischen den Kapitalfraktionen sowie zwischen Kapital und Kleinbürgertum), sondern auch ein gefährliches Risiko für die Einheit der Partei und daher der Voraussetzung einer gelingenden Machteroberung.35

3. Demokratie und Diktatur Das Linzer Programm von 1926 verpflichtet den Weg zum Sozialismus zu demokra‐ tischen Mitteln, bekennt sich zur demokratischen Republik und grenzt sich von der Diktatur sowohl im Sinne diktatorischer Staatsformen als auch diktatorischer politi‐ scher Logiken ab. Es enthält dabei einen Passus, der im Falle gewaltsamer Aufleh‐ nungen oder Verschwörungen gegen die demokratische Machtausübung einer sozial‐ demokratischen Regierungsmehrheit, „den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mit‐ teln der Diktatur zu brechen“36 rechtfertigt. Auf dem Beschlussparteitag wurde die Frage des Einsatzes von Gewalt vor allem vor dem Hintergrund des Konzepts der „Diktatur des Proletariats“ diskutiert. Die Parteilinke, allen voran Max Adler, sprach sich für eine Verwendung des Begriffs aus und bemühte dabei die Marx’sche Defini‐ tion der Herrschaft der proletarischen Mehrheit über die bürgerliche Minderheit.37 Adler argumentierte dabei, dass sich die Diktatur des Proletariats nicht auf bestimm‐ te politische Mittel bezieht, sondern einzig auf eine neue Form der Mehrheitsherr‐ schaft als „Konsequenz der von der Macht des Proletariats erfüllten Demokratie“.38 Als Projekt der Überwindung von bestehenden Klassengegensätzen befinde sie sich nicht im Widerspruch mit der politischen Demokratie, sondern stelle lediglich eine 35 cf. Bauer 1980a, S. 212f., S. 287f.; Butterwegge 1991, S. 385ff., S. 390. 36 SDAP 1926, S. 385. 37 Der Begriff der ‚Diktatur des Proletariats‘ ist der französischen politischen Debatte der 1840er Jahre entnommen und geht auf den Revolutionär Louis-Auguste Blanqui zurück. Im damaligen Kontext hebt er sich nicht wesentlich von zeitgleich aufgekommenen Begriffen mit egalitären Bezügen ab und bezieht sich auf eine nicht-bürgerliche, sozialistische Form gesellschaftlicher Modernisierung, cf. Harvey 2003, S. 64ff., 83ff. Bei Marx taucht der Begriff einerseits in den Frankreichschriften als Bezeichnung für die vom Proletariat übernommene Staatsgewalt im Sinne einer Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit der Bourgeoisie mit dem Ziel der Aufhebung von Klassenherrschaft und Staatsgewalt auf, cf. Marx 1976a, Bd. 7, S. 89, anderer‐ seits in der Kritik am Gothaer Programm der deutschen Sozialdemokratie von 1875 als Be‐ zeichnung für den sozialistischen Staatstyp des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunis‐ mus, cf. Marx 1976b, Bd. 19, S. 28f. Die nachfolgende (neo-)marxistische Debatte drehte sich insbesondere um die Frage der Interpretation der Diktatur des Proletariats als eines postkapita‐ listischen Staatstyps oder als einer nicht-demokratischen Regierungsform und Regierungspra‐ xis. 38 Adler 1926, S. 100.

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andere ‚Äußerungsform‘ dar. Die von ihr eingesetzten politischen Mittel hängen von den politischen Umständen ab, d.h. im Wesentlichen von der Bereitschaft bzw. dem Widerstand der Bourgeoisie zur Aufgabe jener Machtstellungen, die ihnen eine über‐ geordnete Position in den Klassenverhältnissen verschaffen (etwa das Privateigen‐ tum an Produktionsmitteln). Die Diktatur des Proletariats sei daher jener Übergangs‐ staat, der die politische in die soziale Demokratie überführen könne.39 Den Diktatur‐ begriff bezog Adler auf eine Form der Mehrheitsherrschaft, die sich durch Unter‐ werfung einer Minderheit auszeichnet: „Die Diktatur ist selbst eine Form der Demo‐ kratie, nämlich der politischen“40 – und muss entsprechend ihrem ‚Inhalt‘, d.h. den konkreten sozialen Kräfteverhältnissen nach beurteilt werden. Demgegenüber müsse man von der Sowjetunion – von deren politischen Verhältnissen und Revolutions‐ strategie sich Adler als Bezugspunkt abgrenzt – nicht als Form der Diktatur, sondern als Form des ‚Terrorismus‘ sprechen, da hier nicht eine Mehrheit, sondern eine Min‐ derheit herrscht. Die Entgegensetzung von politischer Demokratie und Diktatur mar‐ kierte für Adler eine falsche Akzentsetzung, da nicht die Abgrenzung von der Dikta‐ tur, sondern die Differenzierung zwischen politischer und sozialer Demokratie im Vordergrund sozialdemokratischer Theorie und Politik stehen sollte. Diese Anschau‐ ung der Entgegensetzung von Demokratie und Diktatur entspricht, Adler zufolge, der impliziten Gleichsetzung von politischer Demokratie und Parlamentarismus so‐ wie von Diktatur mit bestimmten (in Russland vorherrschenden) Regierungsprakti‐ ken und beruht auf einer „schädliche[n] Begriffsverwirrung, die zu einer noch schädlicheren Schwächung des proletarischen Klassenbewußtseins und Kampfwil‐ lens führen muß“,41 nämlich der Vorstellung, dass sich die Machteroberung im Sinne der Staatsmacht bereits in der Übernahme der Regierungsmacht im Rahmen der po‐ litischen Demokratie erschöpfen würde. Obwohl Bauer (und der zentristische Parteiflügel) die von Adler dargestellte ein‐ fache Entgegensetzung von Diktatur und Demokratie ebenfalls ablehnte bzw. relati‐ vierte, kritisierte er – wie Friedrich Adler42 – die Begriffsverwendungen Max Adlers für ihre Distanz zum ‚allgemeinen Sprachgebrauch‘ des Wortes Diktatur und ver‐ wies den Diktaturbegriff wieder auf die Ebene der (abzulehnenden) Regierungspra‐ xis. Mit einem breiten Begriff von Diktatur als letztlich jeder Form der Mehrheits‐ herrschaft könne nicht sinnvoll zwischen verschiedenen Formen der Mehrheitsherr‐ schaft einerseits und zwischen diesen und Formen der bloßen Mehrheitsregierung andererseits unterschieden werden.43 Gerade weil sich die Bolschewiki in ihrem Ver‐ such, einen neuen Staatstyp der Diktatur des Proletariats aufzubauen, nicht-demo‐ kratischer Regierungspraktiken bedient haben, hat sich auf der Ebene der Regie‐ 39 40 41 42 43

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cf. Adler 1926, S. 108f. Adler 1922, S. 198. Adler 1926, S. 110. F. Adler 1926, S. 264f. cf. Bauer 1980a, S. 208f.

rungsformen ein Gegensatz von Diktatur und Demokratie aufgetan, der durch eine begriffliche Verschiebung auf die Unterscheidung von Diktatur und Terrorismus nicht nur nicht erfasst werden, sondern außerdem nicht adäquat die politische Strate‐ gie der SDAP darstellen könne: Die Machteroberung muss erfolgen „unter voller Aufrechterhaltung aller jener bürgerlichen Freiheiten, der Freiheit des Wortes und der Schrift, der Versammlung, der Presse, die die Basis der Demokratie sind. Denn […] nur solange wir auf diese Weise handeln, besteht die Gewähr, daß die Regie‐ rung, die das Proletariat einsetzt, auch wirklich der von der Arbeiterklasse geführten Volksmehrheit verantwortlich bleibt und entsprechend handeln muß. […] Nur diese Freiheiten garantieren, daß das Proletariat teilnimmt an dem Aufbau des proletari‐ schen Sozialismus; sowie wir die Freiheitsrechte zerstören, ist diese Garantie im höchsten Maße gefährdet.“44 Das Besondere an der Demokratie ist, dass sie den „weitaus günstige[n] Weg“45 zur Macht bildet, da in ihr die Möglichkeiten der Ent‐ wicklung eines demokratischen und solidarischen Klassenbewusstseins – der not‐ wendigen Flankierung der Machteroberung durch Hegemonie – gegeben sind,46 die bei einem diktatorischen Weg zur Macht verbaut werden. Bei der Debatte zwischen Adler und Bauer ist zu bedenken, dass beide Positionen auf einer sehr ähnlichen und differenzierten Einschätzung der Sowjetunion beruhen. Für Bauer und Adler stellten die Bolschewiki nicht einfach eine rückständigere oder antidemokratische Richtung der ArbeiterInnenbewegung dar, von der man sich leicht abgrenzen konnte, sondern eine unter den besonderen Umständen von Zaris‐ mus, Welt- und Bürgerkrieg aufgekommene Strömung, von deren Erfahrungen man notwendigerweise auch lernen musste und zu der eine Haltung der kritischen Solida‐ rität eingenommen werden sollte. Gerade Bauer hat im Rahmen seines Interesses an den jeweils aktuellen politischen und theoretischen Entwicklungen in der UdSSR detaillierte Analysen betrieben und sich um ein Verständnis der besonderen Bedin‐ gungen der Möglichkeit des Bolschewismus bemüht.47 Seine Kritiken an Parteidik‐ tatur, ‚bürokratischem Absolutismus‘ und Stalinismus waren stets verbunden mit klassenanalytisch begründeten Erklärungen der Genealogie des russischen Wegs und getragen von der betonten Zuversicht, dass der Machteroberung in Russland künfti‐ ge Demokratisierungsschritte folgen müssten, die auf Tendenzen wachsender popu‐ lärer Begehren nach persönlicher und geistiger Freiheit sowie auf Gefahren der tech‐ nokratischen Erlahmung und des kulturellen Stillstands der Sowjetunion beruhten.48 Gegen die festgefahrene Spaltung der europäischen ArbeiterInnenbewegung in Bol‐ schewiki und Sozialdemokratie richtete sich die SDAP auch in organisatorischer Weise mit der von Friedrich Adler initiierten ‚Internationalen Arbeitsgemeinschaft 44 45 46 47 48

Bauer 1978, S. 417f. Bauer 1978, S. 424. cf. Bauer 1978, S. 419. cf. Bauer 1976b, 1980b. cf. Bauer 1980b, S. 284ff.; Bauer 1976e, S. 278ff.

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sozialistischer Parteien‘, die sich von 1919 bis 1923 für einen Annäherungsprozess engagierte. Der Konflikt um die Frage der Diktatur ist dennoch nicht nur eine semantische Frage. Bauers Fokus lag auf der Ablehnung von Gewalt als offensiver Strategie in der demokratischen Staatsform, in der die Machtverteilung nicht mehr von Gewalt‐ anwendung abhängt,49 und hielt sie nur als defensives Mittel für gerechtfertigt und notwendig. Dabei handelte es sich weniger um einen Ausdruck der ‚Politik des Ab‐ wartens‘, die die SDAP in ihrer politischen Praxis 1927, 1933 und 1934 an den Tag legte, sondern um den Ausdruck einer eigenständigen theoretischen Position, die sich an Demokratisierung orientierte. Frank Heidenreich50 zeigt auf, dass Bauers Ablehnung eines gewaltförmigen Wegs zum Sozialismus nicht einfach auf eine Fra‐ ge taktischer Einschätzung (wie Max Adler meinte) oder auf humanistische Beweg‐ gründe (wie Norbert Leser in seinem Standardwerk über den Austromarxismus er‐ klärte) reduziert werden kann, sondern mit Überlegungen über die sozialen Folgen eines Bürgerkriegs, die einer sozialen Revolution unlösbare Probleme einbringen würden, zusammenhing: Ökonomische Abwärtsspiralen verschlechtern die materiel‐ le Situation der Massen, der Aufbau einer Gewaltherrschaft und der damit verbunde‐ ne Abbau demokratischer Rechte würden die politischen und ideologischen Mög‐ lichkeiten demokratischer Selbstregierung von unten schwächen. Die Thematisierung von Gewalt im Linzer Programm kann vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen der Ersten Republik und dem Aufstieg der Heim‐ wehrbewegung sicherlich auch als Versuch einer Drohkulisse nach außen und als Warnung vor der Prekarität der demokratischen Republik und Aufruf zur Verteidi‐ gungsbereitschaft nach innen interpretiert werden. In dieser Hinsicht richtete sich Bauer auch gegen die Staatsauffassung von Karl Renner, der den Klassencharakter des Staates negierte, den ihn bezeichnenden Begriff der ‚Bourgeoisrepublik‘ ablehn‐ te und die Radikalisierung der Christlich-Sozialen kaum wahrnahm. Entsprechend vertrat Renner im Prozess bürgerlicher Radikalisierung auch die Position, dass zur Bewahrung der demokratischen Republik statt Wehrhaftigkeit einseitige verbale und politische Abrüstung auf Seiten der Sozialdemokratie angebracht sei.51 Die spezifi‐ sche Form, in der die Konzeption der defensiven Gewalt aufgebracht wurde, war je‐ doch kaum in der Lage, politische Praktiken angemessen anzuleiten, denn in der Re‐ duktion der politischen Strategien auf die beiden einander ausschließenden Mittel des Wahlkampfs und der Gewalt – „Stimmzettel oder Bürgerkrieg?“52 – wurde bes‐ tenfalls der Unterschied zur russischen Revolutionsstrategie markiert. Wie Christoph Butterwegge anmerkt, liegt hier eine „Achillesferse des Linzer Programms“53, denn 49 50 51 52 53

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cf. Bauer 1976b, S. 345ff. Heidenreich 1985, S. 53. cf. Hannak 1965, S. 477f. Bauer 1976d, S. 964. Butterwegge 1991, S. 319.

die Gewaltfrage wurde nur als Abgrenzungsschablone aufgebracht, nicht aber hin‐ sichtlich unterschiedlicher Gewaltformen differenziert behandelt oder in konkreten politischen Schritten ausformuliert. Auch wenn der Schluss, wonach die – ange‐ sichts der von den Christlich-Sozialen eingesetzten sukzessiven „Salamitaktik“ (Dollfuß) – erlittene Niederlage der SDAP 1933/34 unmittelbar aus dem Konzept der defensiven Gewalt resultierte, übertrieben ist und nicht ausreichend zwischen theoretischer und politischer Praxis differenziert, kann man dennoch konstatieren, dass das Konzept nicht hinreichend sensibel gedacht wurde, um rechtzeitige Inter‐ ventionen gegen die Aushöhlung und Ausschaltung der Demokratie zu organisieren und dem Aufstieg des (Austro-)Faschismus angemessen entgegenzutreten. Es wäre aber zu kurz gegriffen, das dem Konzept der defensiven Gewalt an sich zum Vor‐ wurf zu machen und nicht dessen unterkomplexer, Ausmaß und Tragweite der bür‐ gerlichen Radikalisierung nicht ausreichend erkennender Fassung bzw. der politi‐ schen Praxis der Unentschlossenheit und den verpassten Chancen. Eine Neubewertung der Gewaltfrage und des Diktaturkonzepts kann man bei Bauer nach 1934 feststellen. Unter Bedingungen der Beseitigung politischer Demo‐ kratie blieb für Bauer als einzig realistischer Weg der Demokratisierung nur mehr die Diktatur des Proletariats im Sinne des gewaltförmigen Kampfs gegen den Fa‐ schismus.54 Bauers Überlegung war – neben dem Versuch, für die nach radikaleren politischen Mitteln drängende sozialdemokratische Untergrundorganisation der ‚Re‐ volutionären Sozialisten‘ anschlussfähig zu bleiben – sicherlich auch von politischen Hoffnungen auf Russland gekennzeichnet. Dennoch war er auch nach 1934 davon entfernt, das Konzept der Diktatur des Proletariats auf das historisch besondere Mo‐ dell der totalitären Diktatur von Partei, Staat und Wirtschaftsapparat zu begrenzen und nannte Bedingungen, von denen die genaue Ausgestaltung einer ‚Diktatur‘ stets abhänge: Entwicklung revolutionärer Prozesse, parlamentarische Mehrheitsverhält‐ nisse, Klassenposition des Militärs. Das Verhältnis von Diktatur und Demokratie wurde nicht als Widerspruch gedacht, schließlich benannte Bauer als diktatorisches Moment bloß die „Niederhaltung der Bourgeoisie“ und die Brechung ihres „Wider‐ stand[s …] gegen den Willen der werktätigen Massen“55 und nicht die Ausschaltung aller demokratischen Freiheiten und Institutionen. Die vor 1934 betonte Differenz von demokratischen und diktatorischen Regierungsformen und -praxen wurde viel‐ mehr nun innerhalb des Modells der Diktatur des Proletariats – als Differenz von to‐ talitärer Diktatur und „Diktatur einer Demokratie der Werktätigen“56 – gedacht: Je weniger demokratische Freiheiten und Kontrollen eingeschränkt würden, umso schneller könnten demokratische Institutionen der Selbstbestimmung aufgebaut wer‐ den. Die Neubetrachtung stellte strategisch eine Umkehrung des Wegs, nicht aber 54 cf. Bauer 1976e, S. 159; 321. 55 Bauer 1980c, S. 387; cf. Bauer 1976e, S. 211ff. 56 Bauer 1980c, S. 386.

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eine Abkehr vom demokratischen Sozialismus dar: So wie es für Bauer nach 1918 um den Aufbau des Sozialismus über die bürgerliche Demokratie ging, stand nach 1934 die Demokratisierung über die gegen den Faschismus durchzusetzende sozia‐ listische Werktätigendiktatur auf der Agenda. Bauer betonte, dass „die politische[.] Emanzipation […] das wertvollste Resultat vierhundertjähriger Kämpfe, das wich‐ tigste Ergebnis der ganzen bürgerlichen Geschichtsepoche, die Grundlage aller Kul‐ tur unserer Zeit gewesen ist“.57 Das für den ‚integralen Sozialismus‘ zu schmieden‐ de Bündnis mutet angesichts der historischen Entwicklungen in der Nachbetrach‐ tung seltsam an, lässt aber an den im Zentrum stehenden Demokratisierungsperspek‐ tiven für die zu erreichende sozialistische Gesellschaftsordnung keinen Zweifel.

4. Denk-Anschlüsse an Bauer und Adler? Die demokratietheoretischen Überlegungen des Austromarxismus zeichneten sich durch große Innovativität und als auf ihre Zeit der Herausbildung einer neuen demo‐ kratisch-parlamentarischen Staatsform weitsichtig bezogene Analysen und Strategi‐ en sozialer Veränderung aus. Die Verknüpfung einer Strategie zur Eroberung der po‐ litischen Macht unter demokratischen Verhältnissen mit dem Problem der Hegemo‐ nie führte insbesondere Otto Bauer in sehr konkreten Zeitdiagnosen aus, die in den 1970er Jahren für den Eurokommunismus und das Projekt eines demokratischen So‐ zialismus zahlreiche Denkanstöße boten und zu neuen Rezeptionen führten, die mitt‐ lerweile (bis auf kleinere Auseinandersetzungen) eher abgeklungen sind. Vom Aus‐ tromarxismus trennen uns heute nicht nur die politischen Strategien sozialdemokra‐ tischer Parteien und die weniger an sozialer Repräsentation als an Medienprofessio‐ nalität und kurzfristigen Zielen orientierten Parteiformen, sondern die politische Konjunktur insgesamt: Parlamente werden heute nur mehr selten als Zentren der po‐ litischen Macht gesehen, wie dies bereits von Nicos Poulantzas Ende der 1970er Jahre für die Endzeit der fordistischen Konstellation mit dem Begriff des ‚autoritä‐ ren Etatismus‘, der einen Verfall von Gesetz, Parlament und Parteien gegenüber Exekutive und Administration feststellt, bezeichnet wurde. Die politischen Verhält‐ nisse der Gegenwart werden vielmehr als ‚Postdemokratie‘ (Colin Crouch) oder gar ‚Postpolitik‘ (Jacques Rancière) beurteilt, in denen sich Demokratie in ausgehöhltem Zustand unter zunehmend abwesenden politischen Differenzen befindet und nur mehr ein institutionelles Gerippe darstellt. Viele Intellektuelle, von Slavoj Žižek bis Wolfgang Streeck, sehen das Szenario des langsam auslaufenden Zeitalters der Ver‐ bindung und sogar der Kombinierbarkeit von Kapitalismus und Demokratie aufkom‐ men – mit dem Hinweis, künftig werde wohl eher der Kapitalismus ohne Demokra‐

57 Bauer 1976e, S. 196.

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tie auskommen und in autoritärer Weise auftreten. Wenngleich man schon bei Bauer deutliche Aussagen über die Prekarität der Verbindung von Kapitalismus und Demo‐ kratie finden kann, können jedoch die Entwicklungen der Gegenwart – von der lan‐ gen Phase des Postfordismus bis hin zur verstetigten Finanz- und Wirtschaftskrise – mit den austromarxistischen Begriffen (funktionelle Oligarchie, Bourgeoisrepublik etc.) nur sehr bedingt analysiert werden. Hinsichtlich einiger Aspekte ihrer theoretischen Problematik können die Texte des Austromarxismus sicherlich als moderne Klassiker der politischen Theorie gele‐ sen werden, deren Art und Weise der Thematisierung und Bearbeitung sozialer Pro‐ zesse neue Sichtweisen begünstigte, wie sich an Konzepten der sozialen und politi‐ schen Demokratie, der funktionellen Demokratie, des Gleichgewichts der Klassen‐ kräfte, der defensiven Gewalt oder des integralen Sozialismus zeigen lässt. Wenn man vom Austromarxismus als einer ‚Schule‘ sprechen möchte, so handelt es sich möglicherweise um die zu ihrer Zeit einzig pluralistische Variante des Marxismus. Ihre Konzepte blieben nie auf einer abstrakt-formalen Stufe stehen, sondern dräng‐ ten auf konkrete Erklärungen, schreckten nicht davor zurück, ihre Ansätze in ehrli‐ chen Debatten mit den jeweils stärksten Thesen konkurrierender bzw. divergierender Ansätze zu artikulieren und lehnten in bester sozialwissenschaftlicher Tradition dog‐ matische Schlüsse ab. In dieser Hinsicht fällt insbesondere Otto Bauer nicht hinter den weitaus aktiver rezipierten Antonio Gramsci zurück, insofern beide Politisches stets in Verbindung mit sozialen Kräfteverhältnissen, ökonomischen Prozessen und hegemonialen Mobilisierungen dachten. Wie auch mit Gramsci können mit Bauer bspw. hinter aktuellen Krisendynamiken weder moralische Fehlentwicklungen noch allgemeine ökonomische Bewegungsgesetze entdeckt, sondern Krisenverlauf und Krisenmanagement als Ergebnis politischer Kämpfe und ideologischer Einbindun‐ gen interpretiert werden. Die vom Austromarxismus betriebene Verbindung des parteipolitischen Tagesge‐ schäfts und konkreter Politiken mit grundsätzlichen Projekten gesellschaftlicher Transformation im Rahmen einer integrativen und demokratisierenden politischen Strategie würde zweifellos auch heute für eine Aktualisierung sozialdemokratischer Politik wichtige Impulse liefern können. Angesichts des Scheiterns des neueren ‚dritten Wegs‘ von Tony Blair und Gerhard Schröder, der die „Marktsozialdemokra‐ tie“ (Oliver Nachtwey) konstituierte, und der gegenwärtig feststellbaren und bislang wenig fruchtbaren Suche sozialdemokratischer Parteien nach neuer ideologischer Kohärenz und politischer Neuorientierung wären Versuche, die Repräsentationsbe‐ ziehungen zu einer neu zu definierenden sozialen Basis zu stärken, sicherlich viel‐ versprechender als die aktuelle Fortführung der blairistischen Politik bei gleichzeiti‐ gen Versuchen zu ihrer Camouflierung. Die austromarxistische Hegemonie- und Bündniskonzeption ging stets davon aus, dass Repräsentation an konkreten Lebens‐ verhältnissen und Erfahrungen ansetzen müsste, konkrete Verbesserungen sowie rea‐

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listische Perspektiven anzubieten habe und dafür Organisierung erforderlich sei. Die vermehrt auftretenden und heterogenen Protestbewegungen in Europa zeigen, dass die vielfach thematisierten Prozesse der Depolitisierung des Politischen weder die ‚soziale Frage‘ noch Demokratisierungsbegehren endgültig vom Tisch gewischt ha‐ ben. Das Projekt der Verbindung von Demokratie und Sozialismus erscheint heute jedenfalls als Relikt einer unerfüllten Vergangenheit. Sollte es im Bereich der politi‐ schen Ideen jedoch wieder lebendiger werden, könnte sich der Austromarxismus da‐ für sicher als anschlussfähig erweisen.

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Folke große Deters Notwendigkeit und Freiheit. Austromarxismus zwischen Kant und Marx

Der ideengeschichtliche Kern des Revisionismusstreits zwischen Karl Kautsky und Eduard Bernstein wird nicht zu Unrecht als ein Aufeinanderprallen zweier Denk‐ schulen angesehen, von der die eine ihren Ausgang bei Karl Marx und die andere bei Immanuel Kant nahm. Wenn der Austromarxismus tatsächlich ein „dritter Weg“ zwischen orthodoxem Marxismus und Reformismus war – wie haben seine Theore‐ tiker die Spannung zwischen beiden Denkweisen aufgelöst? Nachgespürt werden soll dieser Frage anhand der Texte des „marxistischen Kantianers“ Max Adler, aber auch des jungen Otto Bauer, der anfangs stark von Adler beeinflusst war.1 Dabei ist es nicht meine Absicht, einen weiteren Text zum Überblick über die Lehre Max Ad‐ lers beizusteuern.2 Vielmehr will ich von den philosophischen Grundfragen ausge‐ hen, die nach meiner subjektiven Einschätzung den überzeitlichen Gehalt der dama‐ ligen Debatten ausmachen.

Das Problem: Theorie und Praxis Wie hilflos der orthodoxe Marxismus ethischen Fragen gegenübersteht, verdeutlicht Otto Bauer3 in einer Besprechung des Buches „Ethik und materialistische Ge‐ schichtsauffassung“4 von Karl Kautsky in der „Neuen Zeit“.5 Dabei geht er von einem Beispiel aus dem Leben aus.6 Ein Arbeiter X, in dessen Betrieb ein Streik ausgebrochen ist, steht vor der Frage, ob er zum Streikbrecher werden soll, um seine hungernde Familie versorgen zu können. Er wendet sich an Bauer und bittet ihn um Rat. Bauer weist ihn auf sein wohlverstandenes Eigeninteresse und danach auf seine Zugehörigkeit zur kämpfenden Arbeiterklasse hin. Passagenweise zitiert er dabei aus 1 Vgl. Mozetic 1989, S. 175. 2 Einen guten Überblick liefert Leser 1974. 3 Trotz vielfacher politischer Aktivitäten hat Otto Bauer zeitlebens auf hohem theoretischem Ni‐ veau publiziert. Dies kontrastiert – leider –- stark mit der ostentativen Theorie-Ferne vieler sozi‐ aldemokratischer Politiker/innen unserer Zeit. Einen Überblick zu Otto Bauer als Politiker und Theoretiker liefern Krätke 2013 und Scholle 2015. 4 Kautsky 1906. 5 Bauer 1906, S. 485 ff. 6 Instruktiv zu diesem Beispiel auch die zeitgenössische Stellungnahme von Karl Vorländer, vgl. Vorländer 1911, S. 266 ff.

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Kautskys Schrift und führt aus, wie Klassenbewusstsein entsteht und dass „ihr un‐ vermeidlicher Klassenkampf sie auch unvermeidlich zum Siege führt.“7 Doch der Arbeiter gibt sich mit dieser Antwort nicht zufrieden: „Du sollst mir nicht sagen, wie ursächlich zu erklären wäre, wenn ich den oder jenen Entschluss gefasst hätte, sondern Du sollst mir sagen, welchen Entschluss ich fassen soll!“ Dem Befragten wird deutlich, „dass es doch etwas anderes ist, […] zu forschen, wie in‐ haltlich bestimmte, sittliche Erscheinungen unter gewissen natürlichen und sozialen Bedingungen notwendig entstehen müssen, und auf eine sittliche Frage des Lebens zu antworten, auf jene leidenschaftliche Frage zu antworten, mit der mein armer Freund mich gequält: Was soll ich tun?“8 Mit diesem plastischen Beispiel wirft Bauer nichts weniger als eine der Grundfra‐ gen der Philosophiegeschichte auf, das Verhältnis zwischen „Sein“ und „Sollen“ nämlich, zwischen Beobachter und handelnder Person. Immanuel Kant tritt für eine klare Trennung beider Perspektiven ein. Aus der „Beobachterperspektive ist der Mensch „Naturwesen“ (homo phaenomenon). Sein Verhalten kann nach naturwis‐ senschaftlichen Methoden untersucht und Wirkungszusammenhänge können aufge‐ zeigt werden. Diese Perspektive nimmt Karl Marx im Kommunistischen Manifest ein, wenn er die Menschheitsgeschichte betrachtet, daraus Entwicklungsgesetze ab‐ leitet und hieraus dann Prognosen für die Zukunft gewinnt. Die „Geschichte der Klassenkämpfe“ nimmt für ihn ein glückliches Ende: der Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie, der Sieg des Kommunismus, die Bildung von freien Assoziationen, „worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist.“9 Anders in der Teilnehmerperspektive, in der nicht mehr von einem externen Standpunkt aus beobachtet wird. Hier ist das Subjekt Teil der Situation. Es darf nicht nur zuschauen, sondern es muss handeln. Ausführungen über die Genese von Klas‐ senbewusstsein sind irrelevant, wenn man sich fragt, welche Handlung in einer kon‐ kreten Situation die richtige ist. Soll die Welt nicht nur beobachtet, sondern durch aktives Handeln verändert werden, so bedarf es zwingend eines wertenden Ele‐ ments, um zu einem solchen Handeln zu motivieren. „Denn die Erkenntnis, dass der Sozialismus sein wird, macht mich noch nicht zum Kämpfer für ihn.“10 Bauer erkennt klar, dass die fehlende Trennung zwischen „Sein“ und „Sollen“, zwischen Beobachtung und Wertung, ein Rückfall in die alte Metaphysik der vorkri‐ tischen Zeit ist. Denn die Aussage, dass was ist und sein wird, auch sein soll, ist nichts mehr als eine unbewiesene Behauptung. Diesen Fehler hat der orthodoxe Marxismus von Hegel geerbt. Sein verhängnisvoller Satz aus der Rechtsphilosophie „Was vernünftig ist, ist wirklich und was wirklich ist, ist vernünftig“11 postuliert, 7 8 9 10 11

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Bauer 1905, S. 487. Bauer 1905, S. 487. Marx 1972, S. 52. Bauer 1905, S. 497. Hegel 1994, S. 24.

wie Bauer richtig ausführt, dass „die Entwicklung der Natur und der Gesellschaft die Eigenbewegung des Geistes ist, in der, wenn auch in einem unendlichen Prozess, das Seiende zum Sein-Sollenden wird.“12 Die Tatsache, dass der orthodoxe Marxismus den Idealismus Hegels in einen Ma‐ terialismus verwandelt, ändert an einer Tatsache nichts: Hier wie dort wird die Ge‐ schichte erstens aus der Beobachterperspektive betrachtet und zweitens wird be‐ hauptet, dass ihr eine Entwicklungstendenz zum Besseren innewohnt. Diese beiden Elemente sind gedanklich mitzuführen, wenn ich in der Folge verkürzt von Ge‐ schichtsdeterminismus spreche.13 In der Replik Karl Kautskys auf Bauers Rezension14 wird deutlich, dass er „Sein“ und „Sollen“ nicht auseinander hält, und sich offensiv zum naturalistischen Fehl‐ schluss bekennt: „Denn wir ziehen unser ethisches Grundgesetz aus der Beobachtung der Wirklichkeit, aus der Erfahrung, aus dem Wesen jeglicher Gesellschaft, und zwar ohne Unterschei‐ dung zwischen Mensch und Tier.“15

Warum dies nicht überzeugen kann, zeigt das eingangs genannte Beispiel Otto Bau‐ ers: Wer für den Sozialismus werben will, muss vernünftige Gründe dafür benennen. Die Aussage allein, dass mit seinem Kommen fest zu rechnen ist, reicht nicht aus, um zu begründen, dass dieses Ergebnis auch erstrebenswert ist und es sich lohnt, da‐ für zu kämpfen.

Praktische Freiheit Ich bin – ausgehend von Bauers Beispiel – auf das Verhältnis von „Sein“ und „Sol‐ len“ eingegangen und habe dafür die Unterscheidung von „Beobachterperspektive“ und „Teilnehmerperspektive“ erörtert. Diese Unterscheidung ist auch wichtig, um das Kantische Konzept von Freiheit zu erläutern und sodann die Spannung zwischen diesem Konzept und dem Geschichtsdeterminismus marxistischer Herkunft aufzu‐ zeigen. 12 Bauer 1905, S. 487. Die Verteidiger dieses Satzes in der Sekundärliteratur sind Legion. Selbst‐ verständlich hat Hegel nicht behauptet, dass die gegenwärtigen Zustände zwanglos mit dem Vernünftigen gleichzusetzen seien. Jedoch hat er, wie Bauer richtig erkennt, die unbeweisbare Behauptung aufgestellt, dass sich das Vernünftige und damit das Gesollte auf lange Sicht auch realisiere. Damit hat er den Boden einer möglichen philosophischen Erkenntnis verlassen. 13 Inwiefern der so beschriebene Geschichtsdeterminismus und die mit ihm verbundenen Miss‐ verständnisse in erster Linie ein Produkt der Schüler wie Karl Kautsky ist oder ob sie Karl Marx und Friedrich Engels selber zuzurechnen sind, kann hier nicht diskutiert werden. Auf‐ schlussreich die Darstellung der Entwicklung des Denkens von Marx und Engels bei Bernstein 1969. Differenziert hierzu Schmidt 1994, 67 ff. 14 Kautsky 1905, S. 516 ff., vgl. Vorländer 1911, S. 269 ff. 15 Kautsky 1905, S. 519.

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In der Teilnehmerperspektive finden wir die Freiheit wieder, die es im Rahmen der naturwissenschaftlichen Beobachterperspektive nicht geben kann. Wir erleben uns als fähig, von unseren eigenen Wünschen und Gefühlen abstrahieren zu können und nach dem zu handeln, was wir als richtig erkennen.16 Der kategorische Impera‐ tiv Immanuel Kants beschreibt genau diesen Denkvorgang. Er beschreibt, wie Men‐ schen, die unabhängig von ihren Gefühlen und Bedürfnissen aus vernünftigen Grün‐ den moralisch handeln wollen, die Frage „Was soll ich tun?“ beantworten. In den Worten Kants: „Handle so, dass die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allge‐ meinen Gesetzgebung gelten könne.“17

Eine Maxime ist ein bloß subjektiver Handlungsgrundsatz. Will der Handelnde über‐ prüfen, ob seine Handlung moralisch ist, so muss er in einem ersten Schritt den sub‐ jektiven Handlungsgrundsatz ermitteln, dem seine Handlung zu Grunde liegt. In einem zweiten Schritt untersucht er dann, ob dieser allgemeine Handlungsgrundsatz fähig zur allgemeinen Gesetzgebung ist. Natürlich, und darauf kommt es Bauer an, wird sich diese Beurteilung je nach Situation, geschichtlicher Epoche und Kontext von Subjekt zu Subjekt unterscheiden: „Es geht nicht darum, ein Sittengesetz zu er‐ finden, sondern die Gesetzlichkeit des sittlichen Wollens zu entdecken. Es gibt kei‐ nen einzigen inhaltlich bestimmten Satz der Ethik, der überall und immer gelten würde.“18. Die Ethik Kants ist also nicht geeignet, eine überzeitlich und absolut gel‐ tende Moral zu errichten, sondern sie beschreibt, wie Menschen zu moralischen Ur‐ teilen kommen.19 Bauer hat recht, wenn er kritisiert, dass Kant diesen Punkt nicht ausreichend klar gemacht hat.20 Zwar unterscheidet Kant zwischen Form und Inhalt, aber er legt in seinen konkreten Beispielen eine apodiktische Gewissheit an den Tag, die den Eindruck erweckt, sein Sittengesetz fördere nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv das moralisch Richtige zutage: „Welche Form in der Maxime sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicke, welche nicht, das kann der gemeinste Verstand ohne Unterweisung unterscheiden.“21 Zu wenig hat Kant betont, dass hieraus nicht folgt, dass die Ergebnisse bei der „Anwendung“ des Sittengesetzes gleich sein müs‐ sen. Er hat wohl auch unterschätzt, wie unterschiedlich diese Ergebnisse tatsächlich sind, je nachdem welche Wertungen und welches Vorverständnis dem Urteil zugrun‐ 16 Vgl. hierzu Zaczyk 2014, S. 50 ff. 17 Kant 1974b, A 54. 18 Bauer 1905, S. 492. Dieser Satz ist in dieser Radikalität allerdings problematisch, da etwa eine völlige Verweigerung der Anerkennung des Mitmenschen als „Person“ nach Kant zeitunabhän‐ gig unmoralisch ist. 19 Mit diesem Argument ist auch auf die Kritik Hegels an Kant zu erwidern, der diesem vorwirft, die Moralphilosophie zu einem „leeren Formalismus“ und einer „Rednerei von der Pflicht um der Pflicht willen“ zu machen (Hegel 1994, S. 135). 20 Vgl. Hegel 1994, S. 493. 21 Kant 1974b, A 49/50.

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de liegen. Wer den kategorischen Imperativ als einfache Formel zur Lösung aller moralischen Konflikte missversteht, wird zwangsläufig enttäuscht werden.

Praktische Freiheit und naturwissenschaftliche Kausalität Ich bin nicht abgeschweift. Das Verständnis des kategorischen Imperativs ist eng mit dem Kantischen Freiheitsbegriff verbunden. In der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant aufgezeigt, dass Freiheit mit einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise nicht vereinbar ist. Alles Geschehen in der Natur erscheint uns notwendig dem Ge‐ setz von Ursache und Wirkung unterworfen zu sein. Freiheit, zum Beispiel Hand‐ lungsfreiheit, setzt aber gerade Unabhängigkeit von einer sie determinierenden Ursa‐ che voraus. Gleichzeitig zeigt Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ die Grenzen der naturwissenschaftlichen Sichtweise auf. Er tut dies mit einem einfachen Bei‐ spiel: Spätestens bei der Frage nach der Ursache der ersten Ursache (modern gespro‐ chen zum Beispiel: Die Ursache des Urknalls) werden die Grenzen der naturwissen‐ schaftlichen Sichtweise sichtbar. Löst sich die naturwissenschaftliche Betrachtungs‐ weise von der Gegenstandserkenntnis, endet sie in einem infiniten Regress, weil je‐ de Wirkung ihrerseits wieder eine Ursache voraussetzt und so fort.22 Freiheit in einem anspruchsvollen Sinne ist also mit der naturwissenschaftlichen Sichtweise nicht vereinbar. Jedoch ist diese Sichtweise begrenzt und darf deshalb nicht als einzig gültige Perspektive verabsolutiert werden. Die andere Perspektive, die Perspektive des handelnden Menschen, gibt uns – ich hatte es oben erläutert – die Freiheit wieder, die in theoretischer Hinsicht nicht be‐ wiesen werden kann. Die Fähigkeit, in der beschriebenen Weise von eigenen Nei‐ gungen zu abstrahieren und nach vernünftigen Gründen für die Richtigkeit einer Handlung zu suchen, lässt uns unsere Freiheit in praktischer Hinsicht erkennen. Des‐ halb nennt Kant den kategorischen Imperativ auch die „ratio cognoscendi“23, den Erkenntnisgrund, der Freiheit. Der Arbeiter in Bauers Beispiel sucht mit großer Ernsthaftigkeit nach vernünfti‐ gen Gründen für seine Entscheidung. Er geht davon aus, dass er sein Handeln auch nach diesen Gründen ausrichten kann. Das ist die Freiheit im praktischen Sinne. In den Worten Kants: „Er urteilet also, dass er etwas kann, darum, weil er sich bewusst ist, dass er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblie‐ ben wäre.“24

22 Kant 1974a, B 474/A 446. 23 Kant 1974b, A 5,6. 24 Kant 1974b, A 54.

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Die Freiheit ist genauso eng mit der menschlichen Existenz verbunden wie die Wahrnehmung der Gegenstände um uns herum. Plakativer: Die Fähigkeit, mein Handeln nach Gründen bestimmen zu können, ist genauso „real“ wie die Wahrneh‐ mung der äußeren Gegenstände, die mich umgeben. Kant räumt der praktischen Vernunft (=Teilnehmerperspektive) sogar das Primat über die theoretische Vernunft (=Beobachterperspektive) ein, „weil alles Interesse zuletzt praktisch ist.“25 Eine solche Sichtweise mag in unserer naturwissenschaftlich dominierten Welt verstörend wirken. Sie ist nur vor dem Hintergrund der „kopernikanischen Wende“ der kantischen Philosophie zu verstehen. Sie besteht darin, dass sowohl bei theoreti‐ scher als auch bei praktischer Erkenntnis das erkennende Subjekt mitgedacht ist. Wir wissen nicht, wie die Welt „an sich“ ist, sondern nur wie sie uns erscheint. Eine sub‐ jektlose Erkenntnis gibt es nicht.26 In den Worten Kants: „Das: „Ich denke“ muss alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte.“27

Die Synthese Adlers Mit dem Befund, dass theoretische und praktische Perspektive zwar unvereinbar sind, aber dennoch beide ihre Berechtigung haben, ist der austromarxistische Kantia‐ ner Max Adler ganz und gar einverstanden. Der Marxismus, so schreibt er, „gründet den Sozialismus auf Kausalerkenntnis der Vorgänge des sozialen Lebens. […] der Marxismus will nichts anderes sein als die Wissenschaft von den Gesetzen des ge‐ sellschaftlichen Lebens und seiner kausalen Entwicklung. […] Nach marxistischer Auffassung kommt der Sozialismus nicht, weil er ethisch berechtigt ist, sondern weil er kausal bewirkt wird.28 Damit wird der Marxismus der Beobachterperspektive zu‐ geordnet und kommt der Ethik nicht in die Quere, weil diese einen fundamental an‐ deren Blickwinkel, nämlich die Perspektive des Teilnehmers, einnimmt. Für Adler ist damit der Widerspruch zwischen Indeterminismus und Determinismus aufgelöst. „Der Indeterminismus erhält Unrecht, wenn er meint, dass irgendein Willensentschluss sich der Bestimmung durch die äußere Notwendigkeit alles Geschehens entziehen kann. Durch sie wird er vielmehr derart bestimmt, dass er, die Kenntnis aller seiner Momente vorausgesetzt, ebenso vorausberechnet werden könne wie der Eintritt einer Sonnen- und / oder Mondfinsternis. Aber auch der Determinismus hat Unrecht, wenn er das Phänomen

25 26 27 28

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Kant 1974b, A 220. Vgl. zu diesem Absatz Zaczyk 1999, S. 51 ff. Kant 1974a, B 132. Adler 1975b, S. 140-141.

der eigenen Verantwortung und das Bewusstsein eines sich selbst bestimmenden Willens‐ entschlusses einfach als bloßen Schein betrachtet. Denn er verkennt, dass die Gebunden‐ heit des Willens in äußere Notwendigkeit doch nur für die Auffassung des Wollens als Er‐ scheinung besteht, d.h. als ein Geschehen, nicht aber für die Beziehung alles wie immer bestimmten Wollens auf seine eigene Gesetzlichkeit als Wollen. Auf diese Weise vollzieht die Kantische Philosophie durch Auseinanderhaltung der Erkenntnisarten, nämlich der bloß theoretischen Betrachtung des Wollens als ein Geschehen [die Beobachterperspekti‐ ve, FgD] und seiner praktischen Beurteilung als ein Sollen [die Teilnehmerperspektive, FgD], die Vermittlung des bis dahin in der Geschichte der praktischen Philosophie un‐ versöhnbar scheinenden Gegensatzes des Determinismus und Indeterminismus.“29

Selbstverständlich steht dem nicht entgegen, dass aktuelle und erwartbare Wertun‐ gen von Menschen einen erheblichen Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen haben. In den Worten Max Adlers: „Wenn es also dem Marxismus darum handelt, zu zeigen, wie ein bestimmtes Ziel in der Geschichte „naturnotwendig“ entstehen muss, so ist darin immer der wertende Mensch, der dieses Ziel auch für richtig hält, als Kausalfaktor eingeschlossen.“30

So ist nach Adler zu erklären, dass die vom Marxismus vorausgesagte Entwicklung und das von ihm postulierte Ideal sich in der Wirklichkeit treffen.31 Die Bewertung als „Ideal“ folgt aber nicht daraus, dass es faktisch von vielen als solches angesehen wird, sondern aus der Ethik.

Welche Sichtweise geht vor? Erinnern wir uns: Oben hatten wir zwei Momente des Geschichtsdeterminismus marxistischer Provenienz festgehalten. Die geschichtliche Entwicklung ist erstens kausal determiniert und sie ist zweitens auch gesollt. Bei Adler ist das zweite Mo‐ ment suspendiert, das „Sollen“ ergibt sich bei ihm aus der Ethik. Die kausale Deter‐ miniertheit jedoch bleibt. Der Beitrag könnte also mit der – für sich genommen zu‐ treffenden - Feststellung beendet sein, dass Adler das eingangs aufgeworfene Prob‐ lem überzeugend gelöst hat, und dass er anders als der orthodoxe Marxismus nicht den Fehler macht, „Sein“ und „Sollen“ miteinander zu vermengen. Es bleibt jedoch ein Problem. Zwar sind theoretische und praktische Perspektive miteinander unvereinbar. Die eine kann nicht durch die andere widerlegt werden. Die Arena, in denen sich beide behaupten müssen, ist aber diese eine Welt. Welche Sichtweise ist die maßgebliche? Sollen wir den Lauf der Geschichte nun als determi‐

29 Adler 1975a, S. 68. 30 Adler 1973, S. 26. 31 Adler 1973, S. 28.

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niert ansehen oder sollen wir davon ausgehen, dass der jeweils freie Wille der poli‐ tisch Handelnden bestimmt, was passiert? Der Austromarxismus in der Theorie von Max Adler gibt der theoretischen Per‐ spektive ein starkes Gewicht. Der Anspruch des Marxismus, die Überwindung des Kapitalismus und den Weg zum Sozialismus auf wissenschaftliche Weise tatsächlich vorherzusagen, wird von Adler, wie oben erläutert, nicht grundsätzlich in Frage ge‐ stellt. In bewusster Abgrenzung zu Kant formuliert er: Auf der kausalen Notwendigkeit der Entstehung immer massenhafterer moralischer Wer‐ tungen gegen den Kapitalismus, hervorgetrieben in letzterer Linie aus dem ökonomischen Prozess des kapitalistischen Wirtschaftssystems, beruht die Erkenntnis von der „Natur‐ notwendigkeit“ des kulturellen Fortschrittes, des Sieges des Sozialismus. Im Marxismus ist die Idee des Fortschrittes zum erstenmal aus einem bloßen Glauben, die sie noch bei Kant ist, zu einer sicheren T e n d e n z des Kausalgeschehens selbst geworden.32

Sicher hat Adler das Wort „Tendenz“, das auch im Original gesperrt gedruckt ist, mit Bedacht gewählt. Die materialistische Geschichtsauffassung von Marx und Engels erfährt bei ihm einige Einschränkungen und darf keineswegs mit der Darstellung im „Kommunistischen Manifest“, das überdies kein wissenschaftlicher Text, sondern eine politische Kampfschrift ist, gleichgesetzt werden.33 Trotz dieser Einschränkung lässt sich rückblickend konstatieren, dass Kant die Kapazität von Wissenschaften, gesellschaftliche Entwicklungen oder gar den Lauf der Geschichte vorherzusagen, realistischer eingeschätzt hat. Deshalb lässt er es in seiner Geschichtsphilosophie mit einem „Vernunftglauben“ bewenden.34 Lapidar stellt er fest: „[…]die Vernunft ist nicht erleuchtet genug, die Reihe der vorbestimmenden Ursachen zu übersehen, die den glücklichen oder schlimmen Erfolg aus dem Tun und Lassen der Men‐ schen nach dem Mechanism der Natur mit Sicherheit vorherverkündigen […] lassen.“35

Die „sichere Tendenz“ Adlers ist Ausdruck einer größeren Selbstgewissheit hinsicht‐ lich der eigenen theoretischen Einsicht, als wir Heutigen sie an den Tag legen wür‐ den. Diese Selbstgewissheit ist in vielerlei Hinsicht gefährlich. So birgt sie die Ge‐ fahr der Geringschätzung demokratischer Verfahren: Wer schon weiß, was passieren wird, der wird notwendig Verfahren kollektiver Willensbildung und Entscheidung eine geringere Bedeutung beimessen. Wenn der richtige und gangbare Weg bereits feststeht, dann ist es müßig, in einem Parlament darum zu ringen.36 32 Adler 1973, S. 27-28. 33 Zur „Läuterung“ der materialistischen Geschichtsauffassung durch Max Adler vgl. Leser 1974, S. 86 ff. 34 Höffe 2011, S. 25. 35 Kant 1977b, B 73. 36 Instruktiv zur Bedeutsamkeit des „subjektiven Faktors“ sind nach wie vor die Überlegungen Bernsteins, vgl. Schmidt 1996, S. 114 ff.

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Vorrang der Demokratie vor der theoretischen Erkenntnis bei Kant Ich möchte diese These erläutern, indem ich skizzenhaft die Demokratietheorie Kants und danach das Verhältnis Adlers zur Demokratie darstelle. Bei Kant spielt das Verfahren der Entscheidungsfindung, die Demokratie, eine herausragende Rolle. In seiner „Metaphysik der Sitten“ hat er bewusst versucht, von allen empirischen Data abzusehen. Dort hat er eine politische Philosophie entwickelt, in der soziologi‐ sche oder ökonomische Erkenntnis keine Rolle spielen sollten und sich alle Subjekte mit gleichen Rechten gegenüberstehen. Bekanntermaßen ist nach der berühmten Definition aus der Metaphysik der Sitten „das einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht die Freiheit.“ Hierunter versteht Kant die „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Will‐ kür, sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusam‐ men bestehen kann.“37 Wer aber entscheidet über den Umfang der Freiheitssphären, die dem Einzelnen durch das allgemeine Gesetz zugewiesen sind? Mit anderen Worten: Wer entscheidet über das allgemeine Gesetz? Mit seiner Antwort liefert Kant die Begründung für die Notwendigkeit von Demokratie: Die Zuweisung einer Freiheitssphäre für den einen bedeutet gleichzeitig, dass ein anderer diese Freiheitssphäre respektieren muss. Die Gewährung von Freiheit für den einen ist notwendig ein Eingriff in die Freiheit eines anderen. Deshalb kann nach Kant die gesetzgebende Gewalt „nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn, da von ihr alles Recht ausge‐ hen soll, so muss sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand Unrecht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen Anderen verfügt, immer möglich, dass er ihm da‐ durch Unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria)38. Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille Aller, sofern ein jeder über Alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allge‐ meine vereinigte Volkswille gesetzgebend sein.“39

Wichtig für unseren Gedankengang ist hier Folgendes: Das Erfordernis von Demo‐ kratie wird von Kant aus dem einzigen, ursprünglichen Menschenrecht hergeleitet. Wir befinden uns also in der praktischen Philosophie, es wird nicht empirisch oder anthropologisch, sondern normativ argumentiert. Es geht um ein „Sollen“, das unab‐ hängig von empirischen Data ist.

37 Kant 1977a, S. 238. 38 lat.: Dem Einwilligenden geschieht kein Unrecht. 39 Kant 1977a, S. 313-314.

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Demokratie und Diktatur bei Max Adler Max Adler hatte, wie gezeigt, anders als etwa Karl Kautsky ein tiefes Verständnis vom Eigenwert der praktischen Perspektive, vom Eigenwert der Ethik und damit der menschlichen Freiheit. Dennoch bleibt sein Demokratie-Konzept im Sinne meiner oben genannten These nicht unberührt von seiner Überzeugung, mit den Mitteln der Soziologie gesellschaftliche Entwicklungstendenzen vorhersagen zu können. Nach‐ vollziehbar unterscheidet er zwischen der politischen Demokratie und der sozialen Demokratie. Die erstgenannte Form ist der demokratische Verfassungsstaat, den Ad‐ ler auch in Österreich vorfindet. Diese „Demokratie innerhalb einer Klassengesell‐ schaft“40 ist jedoch nach Adler keine wirkliche Demokratie, weil die Klasseninteres‐ sen verschieden seien und daher eine Mehrheitsentscheidung lediglich die Vergewal‐ tigung einer Minderheit durch eine Mehrheit darstelle.41 Demgegenüber sei die so‐ ziale Demokratie eine wirkliche Demokratie, weil hier ein solidarisches Volksganzes ohne Klassengegensätze entscheide. Dann erst bedeute „die Verschiedenheit in der Stimmenzahl keine Vergewaltigung von Lebensinteressen mehr, sondern nur noch mehr oder minder sachliche Meinungsverschiedenheiten über Zweckmäßigkeit und Dringlichkeit vorgeschlagener Entscheidungen.“42

So kann Adler dann auch der „Diktatur des Proletariats“ ihren Schrecken nehmen. In der sozialen Demokratie kann es laut Adler keine Diktatur mehr geben, „weil die Majoritätsherrschaft der sozialen Demokratie mangels eines vitalen Interessensge‐ gensatzes der Minorität eben keine Beherrschung der Minorität ist, sondern eine Verfügung auch in ihrem Namen und Willen.“43 In der politischen Demokratie hin‐ gegen bezeichnet die Diktatur des Proletariats „die Ablösung der bürgerlichen durch die proletarische Diktatur.“44 Diese Diktatur lässt nach Adler dann auch die vorübergehende Suspendierung von Freiheitsrechten zu: „Herrscht das Proletariat, so wird es naturgemäß seine Herrschaft ebenso als eine Machtfrage gegenüber widerstrebenden sozialen Bestrebungen betätigen, wie es bisher die Bourgeoisie tat. Daß also die Preßfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinsfrei‐ heit etc. für gewisse Volksteile sich dann mit der gestürzten herrschenden Klassen decken werden, in kritischen Situationen beschränkt oder aufgehoben werden, ist gar kein Wi‐ derspruch gegen die Demokratie.“45

40 41 42 43 44 45

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Adler 1973, S. 127. Adler 1973, S. 125. Adler 1973. S. 123. Adler 1973, S. 198. Adler 1973, S. 191. Adler 1973, S. 192-193.

Zum Verhältnis der Diktatur des Proletariats und der Freiheit zitiert Adler zustim‐ mend Friedrich Engels Kritik des Gothaer Programms: „Da der Staat doch nur eine vorübergehende Erscheinung ist, denen man sich im Kamp‐ fe, in der Revolution bedient, um seine Gegner gewaltsam niederzuhalten, so ist es purer Unsinn, vom freien Volksstaat zu sprechen: solange das Proletariat den Staat noch ge‐ braucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung sei‐ ner Gegner, und sobald von Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher zu bestehen auf.“46

Für seine Auffassung führt Adler ferner die Untersuchung von Carl Schmitt47 mit dem Titel „Die Diktatur“48 ins Feld und setzt die Diktatur des Proletariats mit der „souveränen Diktatur“ im Schmittschen Sinne gleich.49 Übereinstimmend mit Schmitt stellt Adler fest, „dass man die Diktatur, nur weil sie ein Mittel ist, um einen bestimmten Zweck zu erreichen, nicht „allgemein als die Aufhebung der Demokratie definieren“ kann.“50 Diese Sichtweise ist in hohem Maße problematisch: Zwar ist die Unterscheidung zwischen politischer und sozialer Demokratie luzide, da die Demokratie bei starken Machtasymmetrien ihr Gleichheitsversprechen tatsächlich nicht einlösen kann. Gefährlich sind aber die normativen Folgerungen, die aus dieser soziologischen Erkenntnis gezogen werden. Verabschiedet wird nichts weniger als die formale Gleichheit vor dem Gesetz. Schmitt wie Adler stellen ihre Auffassung einer „wah‐ ren“ Demokratie über das formal-demokratische Verfahren der Entscheidungsfin‐ dung. Das bestehende Recht wird „um der Vollendung des Rechts willen“ negiert.51 Worin aber die Vollendung des Rechts besteht, ist einer demokratischen Entschei‐ dung entzogen, sondern wird einseitig vom Diktator definiert. Damit ist Freiheit in Form von demokratischer Selbstbestimmung abgeschafft. Der Vollständigkeit halber ist klarzustellen, dass die hier beschriebene Haltung Max Adlers nicht der herrschenden Meinung innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutschösterreichs (SDAP) jedenfalls zum Zeitpunkt des Linzer Programm‐ parteitages 1926 entsprach.52 Dort wurde Adlers Definition der „Diktatur“ bewusst nicht ins Programm aufgenommen und grundsätzlich ein Bekenntnis zu den rechtli‐ 46 47 48 49 50 51 52

Adler 1973, S. 193. Bei Adler noch zitiert als „Karl Schmitt-Dorotic“. Schmitt 1921. Schmitt 1921, S. 193 ff. Schmitt 1921, S. 195. Schmitt 1921, S. 194. Zur Programmdebatte um das Linzer Programm von 1926 Butterwegge 1991, S. 310 ff. Butterwegge befindet sich bei der Diskussion der Programmdebatte phasenweise auf größeren Abwegen als Max Adler, wenn er „den bewaffneten Aufstand des Proletariats“ unter den sei‐ nerzeit obwaltenden Rahmenbedingungen als „diskussionswürdig“ einstuft (S. 317). Dabei ist zu beachten, dass er dem bewaffneten Kampf nicht gegen ein diktatorisches und totalitäres System, sondern gegen eine Demokratie und einen Rechtsstaat das Wort redet.

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chen Garantien der Republik abgegeben. Gewalt und Diktatur sollen nur die Ultima Ratio sein. So heißt es in dem Programm: Wenn sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, durch planmäßige Unterbindung des Wirt‐ schaftslebens, durch gewaltsame Auflehnung, durch Verschwörung mit ausländischen ge‐ genrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen.53

Allerdings blieb auch im Programm und seiner Diskussion in der Schwebe, welches legitimatorische Gewicht dem formal-demokratischen Verfahren zugebilligt wird. Mit anderen Worten: Es wird nicht klar, inwieweit der Verzicht auf Gewalt taktischer und inwieweit er prinzipieller Natur war. Hierauf kann ich nicht näher eingehen, da es mir hier nur darum geht, die Gefahren einer zu starken Dominanz der theoreti‐ schen Perspektive zu veranschaulichen.

Fazit: Vorrang der Demokratie Selbstgewissheit im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen verleiten zu einer Ab‐ kehr von prinzipiengeleitetem Handeln. Politische Teilhaberechte erscheinen dann angesichts der unverkennbar ersichtlichen Notwendigkeiten schnell als übermäßiger Formalismus. Immanuel Kant hat sich in seiner Abhandlung „Zum ewigen Frieden“ vehement dagegen ausgesprochen, der Beobachterperspektive in der politischen Phi‐ losophie den Primat einzuräumen. Er schreibt: „Freilich, wenn es keine Freiheit und darauf gegründetes moralisches Gesetz gibt, son‐ dern alles, was geschieht oder geschehen kann, bloßer Mechanism der Natur ist, so ist Politik (als Kunst diesen zur Regierung der Menschen zu nutzen) die ganze praktische Weisheit und der Rechtsbegriff ein sachleerer Gedanke.“54

Der Gedanke lässt sich verallgemeinern. Das Recht, bei Kant gleichbedeutend mit der Freiheit des Subjekts, ist in akuter Gefahr, wenn der Mensch, statt als freies Sub‐ jekt wahrgenommen zu werden, in erster Linie zum Objekt gesellschaftswissen‐ schaftlicher Betrachtung gemacht wird. Heute geht diese Gefahr freilich nicht mehr vom orthodoxen Marxismus aus. Es sind die „Neurowissenschaften“, die „Ökono‐ mische Analyse des Rechts“ oder die Systemtheorie, welche zum Beispiel meinen, die Durchführbarkeit demokratischer Selbstbestimmung theoretisch widerlegen zu können.55

53 Sandkühler/Vega 1970, S. 385. 54 Kant 1977b, B 76. 55 Instruktiv hierzu Lepsius 1999.

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Die politische Linke befand sich immer dann auf Abwegen, wenn sie diesen Weg mitgegangen ist. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, das Recht der freien und verantwortli‐ chen Person zum Ausgangspunkt sowohl ihrer theoretischen Überlegungen als auch ihres praktischen Handelns zu machen. Sie muss im Gefolge von Max Adler für eine soziale Demokratie kämpfen, in der die demokratische Selbstbestimmung auch materiell unterfüttert ist. Damit darf aber nicht einhergehen, dass demokratische Entscheidungsverfahren zugunsten von an‐ geblich überlegener theoretischer Erkenntnis relativiert werden.56

Literatur Adler, Max, 1973: Die Staatsauffassung des Marxismus. Ein Beitrag zur Unterscheidung von soziologischer und juristischer Methode. Darmstadt. Adler, Max, 1975a: Immanuel Kant zum Gedächtnis. In: Max Adler, Kant und der Marxismus. Gesammelte Aufsätze zur Erkenntniskritik und Theorie des Sozialen. Aalen, S. 1-79. Adler, Max, 1975b: Die Beziehungen des Marxismus zur klassischen deutschen Philosophie. In: Max Adler, Kant und der Marxismus. Gesammelte Aufsätze zur Erkenntniskritik und Theorie des Sozialen. Aalen, S. 133-190. Bauer, Otto, 1905: Marxismus und Ethik. In: Die Neue Zeit 1905/6 II, S. 485-499. Bernstein, Eduard, 1969: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozial‐ demokratie. Reinbek. Butterwegge, Christoph, 1991: Austromarxismus und Staat: Politiktheorie und Praxis der ös‐ terreichischen Sozialdemokratie zwischen den beiden Weltkriegen. Marburg. Deters, Folke große, 2011: Die Schuldenbremse als Demokratiebremse. Warum das Budget‐ recht in die Hände des Parlamentes gehört. In: spw 4 2011, S. 56-61. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 1994: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Natur‐ recht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Frankfurt am Main. Höffe, Ottfried (Hrsg.), 2011: Immanuel Kant, Geschichtsphilosophische Schriften (Klassiker Auslegen). Berlin Kant, Immanuel, 1974a: Kritik der reinen Vernunft, Werksausgabe Band III und IV. Frankfurt am Main. Kant, Immanuel, 1974b: Kritik der Praktischen Vernunft, Werkausgabe Band VII. Frankfurt am Main. Kant, Immanuel, 1977a: Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe VIII. Frankfurt am Main. Kant, Immanuel, 1977b: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Werkausgabe Band XI, Frankfurt am Main Kautsky, Karl, 1905: Leben, Wissenschaft und Ethik. In: Die Neue Zeit 1905/6 II, S. 516-529. Kautsky, Karl, 1906: Ethik und materialistische Geschichtsauffassung. Stuttgart. 56 Dies geschieht etwa bei der Einführung von „Schuldenbremsen“, in denen die Annahmen einer bestimmten ökonomischen Theorie zur Haushaltspolitik der parlamentarischen Willensbildung entzogen ist, vgl. große Deters 2011, S. 56 ff.

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Krätke, Michael R., 2013: Otto Bauer und der integrale Sozialismus. In: spw 5 2013., S. 54-58. Lepsius, Oliver, 1999: Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik. Tü‐ bingen. Leser, Norbert, 1974: Max Adlers geistesgeschichtliche Bedeutung. In: ders., Sozialismus zwischen Relativismus und Dogmatismus. Aufsätze im Spannungsfeld zwischen Marx und Kelsen. Freiburg, S. 70-103. Marx, Karl, 1972: Manifest der kommunistischen Partei, Marx/Engels Werke, Band 4. Berlin. Mozetic, Gerald, 1987: Die Gesellschaftstheorie des Austromarxismus. Geistesgeschichtliche Voraussetzungen, Methodologie und soziologisches Programm. Darmstadt. Sandkühler, Hans-Jörg/Vega, Rafael de la, 1970: Austromarxismus. Texte zu Ideologie und Klassenkampf. Wien. Schmidt, Alfred, 1994: Ethik und materialistische Geschichtsphilosophie – Komplement oder Korrektiv? In: Holzhey, Helmut (Hrsg.), Ethischer Sozialismus. Zur politischen Philoso‐ phie des Neukantianismus. Frankfurt am Main, S. 67-93. Schmidt, Alfred, 1996: Kants Geschichtsphilosophie und der neukantianische Sozialismus. In: Lutz-Bachmann, Matthias/Bohman, James (Hrsg.), Frieden durch Recht. Kants Friedens‐ idee und das Problem einer neuen Weltordnung. Frankfurt am Main, S. 114-139. Schmitt, Carl, 1921: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf. Berlin. Scholle, Thilo, 2015: Otto Bauer und der Austromarxismus. In: Christian Krell (Hg), Vorden‐ kerinnen und Vordenker der Sozialen Demokratie. Bonn, S 47-52. Vorländer, Karl, 1911: Kant und Marx. Ein Beitrag zur Philosophie des Sozialismus. Tübin‐ gen. Zaczyk, Rainer, 1999: Die Freiheit der Person als Zentrum der Rechtsbegründung. Kritische Anmerkungen zu einer Diskurstheorie des Rechts aus Kantischer Sicht. In: Siller, Peter/ Keller, Bertram, Rechtsphilosophische Kontroversen der Gegenwart. Baden-Baden, S. 51-54 Zaczyk, Rainer, 2014: Selbstsein und Recht. Frankfurt am Main.

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Richard Saage Karl Renners Version des „Austromarxismus“

In der Forschungsliteratur wird die These vertreten, mit Karl Renners Aufstieg zum ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik in Österreich habe er die Pfade des Marxismus verlassen und sich zum „Pater Patriae“ verwandelt.1 Doch dem steht die Tatsache entgegen, dass Renner sich auch ab 1945 öffentlich zum Marxismus be‐ kannte, und zwar zu einer bestimmten Variante desselben, dem Austromarxismus.2 Freilich bleibt dieses Bekenntnis zur Mitgliedschaft einer „Schule“, die vor dem Ers‐ ten Weltkrieg in Wien entstand, ungenau, wenn sie – wie im Fall des Austromarxis‐ mus – prominente Denker und Politiker umfasst, deren Namen von Rudolf Hilfer‐ ding und Gustav Eckstein über Max Adler und Otto Bauer bis hin zu Karl Renner reichen. Welchen Beitrag hat der zuletzt Genannte zu der recht heterogenen Schule des Austromarxismus geliefert? Und was verleiht seinem Werk ein unverwechselba‐ res Profil? In der gebotenen Kürze möchte ich mich meinem Thema auf vier Ebenen nähern. Meine Ausführungen 3 beginnen erstens mit einer Skizzierung des Paradigmas Ren‐ ners, das unter dem Titel „Induktiver Marxismus“ sein Profil im austromarxistischen Umfeld prägte. Sodann stelle ich zweitens ansatzweise und verkürzt die Transforma‐ tionsstrategie dar, die Renner aus diesem Muster ableitet. Es folgt eine kurze Funkti‐ onsbestimmung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), der Genossen‐ schaften und der Gewerkschaften als Institutionen austromarxistischer Hegemonie. Und viertens stelle ich mir die Frage, welche Aspekte der Rennerschen Version des Austromarxismus noch heute Relevanz beanspruchen können.

1. Induktiver Marxismus in der Lesart Karl Renners Eine Annäherung an Karl Renners4 Paradigma des induktiven Marxismus kommt um seine Bestimmung des Verhältnisses von Ideologie und Arbeiterklasse nicht her‐ um. Dessen Merkmal besteht ihm zufolge darin, dass sie von der ökonomischen 1 Vgl. u.a. Pelinka 1989, S. 13. 2 Vgl. Renner 1953. 3 Der vorliegende Aufsatz ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den ich im Rahmen der Veran‐ staltung „Der Austromarxismus in seiner Epoche“ in der Hellen Panke Berlin (Rosa-Luxem‐ burg-Stiftung) am 12. Mai 2016 gehalten habe. 4 Zu Renners Biografie vgl. Saage 2016.

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Lage bestimmt wird, in der sie „schaffend und duldend“ 5 ihre Gedankenwelt als Klasse hervorbringt. Für Renners Ansatz ist nun entscheidend, dass für die Ideologiebildung des Prole‐ tariats nicht die Doktrinen linker Intellektueller entscheidend ist, die von außen die Arbeiterschaft durch einen sozialistischen Katechismus zu indoktrinieren suchen, um sie „reif“ für den Klassenkampf und die Überwindung der kapitalistischen Struk‐ turen zu machen. Renner argumentiert vielmehr umgekehrt: Der kapitalistische Wirtschaftsprozess bringe nicht nur das Proletariat hervor; „er macht auch die Prole‐ tarier zu Sozialisten wider den eigenen Willen der Kapitalisten, ja gegen das Wider‐ streben der überlieferten Gefühls- und Gedankenwelt der Proletarier selbst“.6 Die Implikationen des Satzes: „Im Anfang war die Tatsache, nicht das Wort! Und die Tatsachen bestimmen auch die Tat“7 sind auf der Folie der „reinen Lehre“ des Mar‐ xismus dramatisch genug. Die folgenden Aspekte charakterisieren nach Renner das Verhältnis zwischen Ar‐ beiterklasse und Ideologie. 1. Die inhaltliche Füllung der proletarischen Gedanken‐ welt ist offen, weil sie von den ökononomischen, sozialen und politischen Kontexten der einzelnen Länder abhängt, innerhalb derer sich im Zuge der Industrialisierung die Arbeiterschaft als Klasse konstituiert. Konkret bedeutet dies: Die proletarische Ideologie ist nicht auf den Marxismus festlegbar. So beziehe sich die britische Labour Party, die nach dem Ersten Weltkrieg zur Führungsrolle des Weltproletariats aufgestiegen sei, nicht auf Marx, sondern z.B. auf die Demokratiebewegung der Le‐ veller im England des 17. Jahrhunderts. 2. Überall dort, wo die proletarische Gedan‐ kenwelt marxistisch imprägniert ist, schlägt auch hier deren Kontextabhängigkeit voll durch: Statt universalistisch zu sein, zersplittere sich „der“ Marxismus in seine russischen, niederländischen, österreichischen, deutschen u.a. Varianten. Wer nach Renner diese Differenzierung der verschiedenen Marxismen durch ein universalistisches Konzept zu substituieren sucht, wie dies insbesondere bei den Bolschewiki, aber auch bei Strömungen des westlichen Marxismus zu beobachten sei, löst nach Renner schwere Fehlentwicklungen in der organisierten Arbeiterbewe‐ gung aus. Statt die Pluralität positiv aufzuwerten und die Kreativität dieses Vorgan‐ ges zu betonen, trete vielmehr oft das Gegenteil ein: Er werde als Indiz der Auflö‐ sung des Marxismus interpretiert. Dieser Eindruck verschärfe sich noch durch „die Schuld vieler Theoretiker, die in jeder abweichenden Auffassung, statt sie aus den Tatsachen zu erklären, nur Irrtum, Irrlehre, Abfall, Verrat sehen und allzu bereit sind, dort ein Ketzergericht aufzurichten, wie sie selbst für sich eine unbesetzte Schulbank für erweitertes Lernen vorfinden“.8 Von diesem doktrinären „Schulstreit“ bis zur 5 6 7 8

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Vgl. Renner 1983, S. 74. Ebd. Ebd. Ebd., S. 77.

Spaltung der Arbeiterbewegung ist nach Renner der Weg sehr kurz, wie die Frag‐ mentierung der deutschen Soziademokratie in MSPD, USPD und KPD in der Wei‐ marer Republik zeigt. Es besteht kein Zweifel: Renner lehnte eine für das gesamte Weltproletariat ver‐ bindliche Marx-Ideologie ohne Einschränkung ab. Sie sei nicht nur „vieldeutig, ver‐ wirrend, spaltend, sie ist auch für das heutige Vorland der sozialistischen Entwick‐ lung (d.h. England in Gestalt der Labour Party, R.S.) – nichtssagend“.9 Wenn im Na‐ men des Marxismus Arbeiter Arbeiter einkerkerten, erschießen ließen und nach Si‐ birien verschickten, dann mutiere der „Dogmatismus aus einem Segen zu einer Ge‐ fahr. Wenn vollends die größte Arbeiterbewegung der Welt nach dem Ersten Welt‐ krieg (d.h. die Labour Party, R.S.) von Marx beinahe noch nichts weiß und zum Teil gar nichts wissen will, so wird dieser Dogmatismus vollends ad absurdum geführt. Nichts ist geeigneter, den Marxismus zu diskreditieren als die ‚Marxideologie’“.10 Renner sieht im Marxismus also keine legitimatorische Ideologie, sondern eine ökonomische und soziologische Methode, die induktiv von den Erfahrungstatsachen des kapitalistischen Wirtschaftssystems auszugehen hat. Sein Credo ist, dass sich das marxistische Paradigma induktiv, d.h. von der Empirie her, seinem Untersuchungs‐ gegenstand zuwenden muss, nicht deduktiv auf der Grundlage von Marx-Zitaten. Renner lehnte also alle Varianten eines Ableitungsmarxismus als Ausfluss eines Be‐ griffsrealismus ab, der aus Passagen des Marxschen Kapitals die Strukturen des Ka‐ pitalismus deduzieren will und diese mit dessen empirischer Wirklichkeit verwech‐ selt. Erst in einem zweiten Schritt kommen Marxsche Kategorien, wie Mehrwert und Mehrarbeit zur Anwendung, nämlich dann, wenn es um die Analyse der Wirt‐ schaftstatsachen des Kapitalismus unter dem Gesichtspunkt der Ausbeutung der Ar‐ beit einerseits und der Vergesellschaftung der sozialen Funktionen der Rechtsinstitu‐ te, vor allem des Privateigentums, geht. Diese methodologische Option hat in der Sicht Renners weitgehende Konsequen‐ zen. Sie ermöglicht nicht nur den Anschluss des Marxismus an das naturwissen‐ schaftlich geprägte Zeitalter, das prinzipiell induktiv verfährt. Da der Kapitalismus, so Renner, ein dynamisches System ist, das sich in jeder Entwicklungsepoche verän‐ dert, ist darüber hinaus ihm zufolge nur der Marxist, der mit Marx über Marx hin‐ ausgeht. Das heißt: die marxistische Interpretation des Kapitalismus steht permanent vor der Aufgabe, dessen Entwicklungsschübe und ihre Auswirkungen auf die innere Verfassung der Arbeiterbewegung analytisch nachzuvollziehen und nicht auf dessen weitgehend staatsfreien Zustand um 1880, auf den Marx sich bezog, stehen zu blei‐ ben. Bei gleichzeitiger Öffnung zu den „bürgerlichen“ Wissenschaftsansätzen kommt es ihm darauf an, die Resultate seiner induktiven Methode für die Befreiung der Arbeit zu nutzen. 9 Ebd., S. 81. 10 Ebd., S. 81f.

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Aber die marxistisch inspirierte induktive Methode der Analyse der kapitalisti‐ schen Wirtschaftstatsachen ist nach Renner kein Selbstzweck. Ihre Aufgabe ist viel‐ mehr, realistische Möglichkeiten für die Verwirklichung von Teilaspekten des demo‐ kratischen Sozialismus zu eröffnen. Die logische Folgerung des induktiven Marxis‐ mus ist eine Transformationsstrategie, der wir uns im Folgenden zuzuwenden haben.

2. Die Transformationstheorie Renners Renners Transformationstheorie ist ohne seine Revision eines zentralen Elements des Marxschen Ansatzes nicht zu verstehen. Er sieht das Defizit der Revolutions‐ theorie des orthodoxen Marxismus darin, dass sie im Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus keine Zwischenstufen vorsieht, sondern von einem abrupten Um‐ schlag ausgeht. Das hatte zur Folge, dass seine Anhänger daraus die Totalsozialisie‐ rung auf einen Schlag ableiteten. Diese Sicht ist aber nach Renner grundsätzlich falsch, weil die kapitalistische Wirtschaft nicht als Ganze sozialisierungsreif ist, son‐ dern nur in gewissen Aspekten und Funktionen. Daher würde eine Vollsozialisierung Chaos und Arbeitslosigkeit bewirken, weil es zum Kapitalismus als Ganzem eine tragfähige integrale sozialistische Alternative gar nicht gibt, wie seine - im Gegen‐ satz zu Otto Bauer – eher skeptische Einschätzung der sozio-politischen Verhältnisse in der SU zeigt. Gegen die orthodoxe Revolutionstheorie des Marxismus setzte Renner sein Theo‐ rem der Entwicklung des Kapitalismus „von der staatlosen zur durchstaatlichten Ökonomie“.11 Auf die zunehmende Organisierung der Privatwirtschaft und ihre An‐ gleichung an die Staatstätigkeit reagiere die Arbeiterklasse flexibel und konstruktiv. Zwar bekämpfe sie die bürgerliche Ökonomie und den Staat, solange sie von ihnen ausgeschlossen sei. Doch „je mehr sie zu Macht und zu Recht kommt, desto positi‐ ver nimmt sie an der Wirtschaft und am Staate teil“.12 In dem Maße, wie dies gelin‐ ge, mutiere der Staat zum „Hebel des Sozialismus“.13 Der Gefahr einer einseitigen Staatsfixiertheit seines Ansatzes begegnete Renner dadurch, dass er in Anlehnung an den britischen Gildensozialismus die „lebendigen Gegenkräfte der Gesellschaft“14, die innerhalb und gegen den Kapitalismus wirkten, in seine Konzeption integrierte.15 Die so durch den Außendruck der Arbeiterorganisationen vorangetriebene Transfor‐ mation des Staates werde dadurch vollendet, dass die Arbeiterklasse nach ihrem durch Wahlen vermittelten Sieg den Staatapparat mit ihren Interessen besetze und

11 12 13 14 15

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Renner 1917, S. 6. Ebd., S. 314. Ebd., S. 28. Renner 1929, S. 7. Vgl. Euchner 2000, S. 308.

gleichzeitig die ökonomischen Institutionen mit proletarischem Inhalt fülle.16 In der Tat sucht man bei Renner eine spezielle Sozialisierungskonzeption vergeblich. Auch interpretierte er seine Abkehr vom revolutionstheoretischen Ansatz des orthodoxen Marxismus keineswegs als einen Bruch mit dem Marxschen System. Denn Renner knüpfte in seiner Transformationstheorie an Marx’ Lehre von der Vergesellschaftung des Kapitals in den Aktiengesellschaften an. Sie ließ ihm zufolge nur einen Schluss zu: Die Sozialisierung ist keine Aktion, sondern eine evolutionäre Entwicklung in Gestalt des graduellen Zugriffs auf den Zirkulationsprozess. „Eine Sozialisierung, die von diesem absehe, die Produktionsbetriebe sozialisiere und zu‐ gleich den Zirkulationsprozess beibehalte, ändere am anarchischen Markt und der Herrschaft des Wertgesetzes nichts. Deshalb müsse die Zirkulation der ‚Angriffs‐ punkt der Sozialisierung’ (Renner) sein“.17 Ihn zu nutzen, sei aber ohne die Inter‐ vention des Staates nicht möglich. Seine Aufgabe bestehe nicht darin, existierende wirtschaftliche Institutionen wie Kartelle und Konzerne zu zerstören, sondern sie umzugestalten und mit einem neuen Geist zu erfüllen. „So kann man Schritt für Schritt vorgehen und von der Zirkulation aus den Kapitalismus in der Produktion aus den Angeln heben. Das heißt: Es ist eine schrittweise organisatorische Leistung von größtem Umfang und von beträchtlicher Zeitdauer zu leisten“.18 Daher stigmati‐ sierte er die Vollsozialisierung, die sich durch Dekret mit einem Schlag vollzieht, als „Generalunsinn“ oder als „Ungedanke“. Für orthodoxe Marxisten der 1920er Jahre war nicht selbstverständlich, dass Ren‐ ner das Angriffsziel der Sozialisierung in der Zirkulation und nicht in der Produktion sah. Vielleicht hat ihn zu diesem Schritt auch sein Engagement in der auf die Zirku‐ lationssphäre festgelegte Konsumgenossenschaftsbewegung motiviert. Der entschei‐ dende Grund dürfte aber gewesen sein, dass Renner den Vergesellschaftungsgrad des Privateigentums im Kapitalumlauf am weitesten fortgeschritten sah. Er erwartete, in absehbarer Zeit werde es zu einer Organisation des Weltmarktes kommen, die sich in einer Ordnung der Gesamtzirkulation der kapitalistischen Wirtschaft abbilde. Die‐ se Vergesellschaftung der Zirkulation im Weltmaßstab, die alle bisherigen Ausmaße übertreffe, schaffe erst die vollen Voraussetzungen des Weltsozialismus. Der soziali‐ sierende Zugriff auf die Zirkulation sollte dort erfolgen, wo Zins, Rente und Divi‐ dende reine Titelform angenommen haben. Die Methode der Sozialisierung sei die graduelle Umwandlung halböffentlicher Banken in öffentliche bzw. direkt gesell‐ schaftliche Anstalten. Andererseits lehnte Renner jeden Automatismus des Übergangs vom Kapitalis‐ mus zum Sozialismus ab. Es sei die historische Aufgabe der Arbeiterbewegung, die‐ sen Prozess voranzutreiben und zu beschleunigen. Er sah drei Agenturen vor, welche 16 Vgl. Ebd., S. 280. 17 Ebd., S. 296. 18 Renner 1924, S. 374.

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der Arbeiterklasse den Weg in den Sozialismus ebnen: Die Partei (SDAP), die Ge‐ nossenschaften sowie die Gewerkschaften.

2.1 Die Partei (SDAP) als Kampforganisation und Solidargemeinschaft des Proletariats Die primäre Aufgabe der Partei besteht Renner zufolge darin, durch den demokrati‐ schen Prozess (Wahlen) im proletarischen Interesse Einfluss auf den Staat zu neh‐ men.19 Das geschieht durch die Gesetzgebung sowie deren Umsetzung durch die Verwaltung. Anders ausgedrückt: Es gibt nach Renner nur eine Instanz als den be‐ wusstesten Ausdruck der Gesellschaft, der die sozialen Errungenschaften der Arbei‐ terbewegung dauerhaft und gesellschaftsgestaltend verbindlich kodifizieren kann: den demokratischen Staat, den die SDAP so weit wie möglich durch Mehrheiten er‐ obern muss. Aber auch Zwischenschritte im Rahmen von Koalitionsregierungen sind ohne Einschränkung legitim, selbst dann, wenn die SDAP nur als Juniorpartner fungiert. Renners Konzeption einer Konsensdemokratie stieß auf die Kritik Otto Bauers. Für ihn war der Staat der bürgerlichen Gesellschaft selbst unter demokratischen Be‐ dingungen im Kern ein bürgerlicher Staat, dem nur unter Druck Konzessionen zu Gunsten der in der SDAP organisierten Arbeiter abzuringen war. Nur eine geeinte Arbeiterbewegung, die zu ihrer inneren Integration auf revolutionäre Rhetorik nicht verzichtet, könne es gelingen, Koalitionen entweder auf gleicher Augenhöhe oder als überlegener Partner mit den bürgerlichen Parteien einzugehen. Renner dagegen kritisierte nicht nur Bauers Koalitionsansatz, sondern auch dessen revolutionsaffine Redekunst, die dazu beitrage, dass das bürgerliche Lager seine Koalitionsfähigkeit nach links einbüße. Stattdessen sah Renner einen zentralen Aufgabenbereich der Partei in der Detailarbeit der Verwaltung, auf die sich die sozialdemokratischen Funktionäre als ihre Hauptaufgabe zu konzentrieren haben. Konsens herrschte zwischen Bauer und Renner freilich, dass die Partei mehr sein sollte als eine Megamaschine zur Durchsetzung proletarischer Interessen gegenüber dem bürgerlichen Lager.20 Für sie war sie auch ein Kosmos proletarischer Lebens‐ welten, deren zahlreiche Kultur- und Freizeitorganisationen das Leben der Arbeite‐ rinnen und Arbeiter von der Wiege bis zur Bahre prägte und auf ein höheres Exis‐ tenzniveau hob, wie dies in der Kommunalpolitik im Roten Wien exemplarisch zum Ausdruck kam. Obwohl vom bürgerlichen Lager politisch ausgegrenzt und soziokulturell als “Austromarxismus“ stigmatisiert, konnte von einer Abschottung der SDAP und ihrem kommunalen Aufbauwerk in Wien nach außen keine Rede sein. 19 Vgl. Saage 2015, S. 99-109. 20 Vgl. Miller 1985, S. 65-73.

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Offen für nichtsozialistische Strömungen in Literatur, Architektur und Kunst, gelang es ihr, den meisten ihrer Mitglieder eine politische Heimat zu bieten, in der sie die besseren Stunden ihres Lebens nach dem Motto verbrachten: „Proletarisch gelebt, proletarisch gestorben und dem Kulturfortschritt entsprechend eingeäschert“.21 Flankiert wurde die Partei in ihrem strategischen Ziel, vor allem eine Kulturbewe‐ gung der lohnabhängigen Bevölkerung zu sein, vom Genossenschaftswesen und den Gewerkschaften. Deren Funktionsbestimmungen durch Renner haben wir uns im Folgenden zuzuwenden.

2.2 Genossenschaften als proletarische Umverteilungsinstanz Renner ordnet das Genossenschaftswesen historisch ein. Als Ausgangspunkt wählte er den integralen Genossenschaftsansatz bei Robert Owen. „Integral“ bezeichnet eine Gesamtkonzeption, die alle genossenschaftlichen Funktionen im wirtschaftli‐ chen, politischen, sozialen und privaten Bereich zusammenfasst nach dem Vorbild der klassischen Utopien seit Thomas Morus. Dieser Ansatz fand insbesondere in der frühen englischen Arbeiterbewegung großen Anklang. Renner zufolge scheiterte das integrale Muster spätestens mit der systematischen Nutzung des naturwissenschaft‐ lich-technischen Fortschritts im Interesse der Kapitalverwertung. Es setzt nun eine Spezialisierung des Genossenschaftswesens in zwei Stufen ein: Anstelle der integra‐ len Konzeption trat zunächst eine Fokussierung auf die Güterherstellung in Gestalt der Produktivgenossenschaften. Aber auch sie hielten aufgrund ihres Kapitalman‐ gels der Konkurrenz mit den technisch aufgerüsteten und kapitalistisch geführten Betrieben und Fabriken auf industriellem Niveau nicht stand. Nach dem Scheitern der Produktivgenossenschaften spezialisierte sich das Genossenschaftswesen in einem zweiten Schritt auf die konsumtiven Bedürfnisse der Arbeiterklasse in Form der Konsumgenossenschaften. Sie waren bis in Renners eigene Gegenwart hinein er‐ folgreich, weil sie eine optimale Rückführung eines Teils des von den Arbeitern her‐ vorgebrachten Mehrwerts an die proletarischen Haushalte ermöglichte. Karl Renner wurde 1911 Verbandsobmann der österreichischen Konsumgenos‐ senschaften.22 Auch gründete er eine Arbeiterbank, die 1923 eröffnet wurde. Sich auf österreichische, aber auch auf deutsche Erfahrungen stützend, trieb er den An‐ satz einer ökonomischen Theorie des Genossenschaftswesens im sozialdemokrati‐ schen Kontext der 1920er Jahre am weitesten voran. Im Blick auf die Konsumge‐ nossenschaften ging er von der Prämisse aus, dass „ihr Erfolg auf der Planbarkeit von Konsum, Eigenproduktion und Einkauf beruhe, die durch Organisierung einer

21 Vgl. Frei 1984, S. 61. 22 Vgl. Jagschitz/Rom/Wiedey 2014.

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Kundschaft mit im wesentlichen bekannten Bedürfnissen erreicht werde“.23 Dies er‐ mögliche es, die Differenz zwischen Gestehungskosten und Verkaufspreis zur Finan‐ zierung der Rückvergütung wie der erforderlichen Kapitalexpansion zu nutzen. Allmählich mutiere das Kapital der Arbeiterklasse „zur Waffe gegen das privat‐ wirtschaftlich fungierende Kapital. Es werde der Arbeiterschaft schließlich gelingen, über die Genossenschaften einen erheblichen Teil der Industrie (...) wirksam (zu) be‐ einflussen. Auch die Gründung von Versicherungen wie etwa der Volksversicherung hätten diesen Effekt. Beide griffen in die ‚Mehrwertverteilung sehr wirksam ein. Sie reißen ein größeres Stück des Mehrwerts, der sonst den Privatkapitalisten zufiele, an sich’ (Renner)“.24 Dadurch komme es zu einer „Reexpropriation des Mehrwerts“ (Renner). Diese generiere das Solidarkapital, bzw. das „Sozialkapital, das heißt (es ist) einer bestimmten wechselnden Masse gehörig, so daß der Einzelne auf dieses Kapital keinen anderen Einfluss hat als das Mitbestimmungsrecht in der Generalver‐ sammlung, wenigstens bis zu dem Augenblick, wo er austritt und seinen Anteil be‐ hebt“.25 Gestützt wird die genossenschaftliche Bildung von Solidarkapital durch die Ar‐ beiter- und Genossenschaftsbanken. Die Lohn- und Gehaltsrücklage sowie die sons‐ tigen Barbestände der arbeitenden Klassen stellten so gewaltige Geldsummen dar, dass sie einen wesentlichen Teil des flüssigen Geldkapitals einer Nation ausmachten und den finanziellen Bedarf in Form von Betriebskrediten für die Genossenschafts‐ betriebe mehr als decken könnten. Gelänge es, das Barkapital der arbeitenden Bevöl‐ kerung zu sammeln, so wäre sie ihr eigener Leihkapitalist. Der gezahlte Zins fiele in ihren Schoß zurück. Dabei entstehende Gewinne flössen ins Sozialkapital ab.26 An‐ dererseits stellte Renner klar, dass auch das proletarische Genossenschaftswesen zwar in die Verteilung des Mehrwerts eingriff, diesen aber keineswegs abschaffte. Diese Feststellung leitet über zum dritten Transformationsinstrument: den Gewerk‐ schaften.

2.3 Die Gewerkschaften als Garanten der Verbesserung des materiellen und kulturellen Lebensstandards der Arbeiter In Anlehnung an Marx ging Renner bei der Funktionsbestimmung der Gewerkschaf‐ ten von der Figur des Gesamtarbeiters aus, der im industriellen Produktionsprozess zwar ein reales Kollektiv ist, das sich aber nach dem Gesetz der Maschine und dem Willen des Kapitals bewegt, welche die Individualität des Arbeiters auslöschen. Eine 23 24 25 26

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Euchner 2000, S. 238f. Ebd., S. 239. Renner 1951, S. 28. Vgl. Ebd., S. 34.

zentrale Aufgabe der Gewerkschaft besteht Renner zufolge darin, den Gesamtarbei‐ ter als bewusst agierendes Kollektiv wieder herzustellen und aus ihm eine hand‐ lungsfähige politische Größe zu entwickeln. 27 Hand in Hand mit Entstehung des bewussten und aktiven Gesamtarbeiters treten in Renners emanzipatorischem Demokratieverständnis den Gewerkschaften Arbeit‐ geberverbände gegenüber, mit denen sie Kollektivverträge abschließen, welche die Arbeitsverhältnisse und die Lohnhöhe regeln.28 Dadurch kommt es zu einer Ver‐ rechtlichung des Klassenkampfes und zu einer Hebung des Lebensstandards der Ar‐ beiterklasse. Renner warnte vor der syndikalistischen Illusion, die Gewerkschaften seien in der Lage, die Tatsache des Mehrwerts aufzuheben. Durch den gewerkschaft‐ lichen Kampf könne lediglich der Unternehmergewinn und die durchschnittliche Profitrate beschränkt werden. Würden diese aber vollständig absorbiert, stünde die Produktion still und Massenarbeitslosigkeit wäre die Folge. Durch die Beschränkung, nicht durch die Abschaffung des Mehrwerts wirken die Gewerkschaften in doppelter Hinsicht als Kulturfaktoren: 1. Sie erkämpfen eine per‐ manente Erhöhung der Löhne und dadurch eine Verbesserung des Lebensstandards als Voraussetzung der kollektiven kulturellen Entfaltung. Renner trug damit der Tat‐ sache Rechnung, dass der Austromarxismus im Kern eine proletarische Kulturbewe‐ gung war. 2. Durch den gewerkschaftlichen Druck im Rahmen der Tarifverhandlun‐ gen sehen sich die Unternehmer gezwungen, mit Hilfe technischer Innovationen die Produktivität der Arbeit zu erhöhen, um ihre Profite zu sichern. Alles, was die Ge‐ werkschaften erreichen können, ist also, die Betriebe sozialisierungsreifer zu ma‐ chen. Sie können selbst nicht sozialisieren, sondern lediglich die Arbeiterklasse als Produzenten und Lohnempfänger zu einer aktiven Größe gestalten, um dadurch wichtige Voraussetzungen für die Sozialisierung zu schaffen.

3. Abschließende Bemerkungen Renners Transformationsstrategie lebte von der Erfahrungstatsache des aufsteigen‐ den Kapitalismus in Europa und den USA in der Zeit von 1870 bis 1914 und teilwei‐ se von der Konjunktur- und Rationalisierungsphase in den Ersten Republiken in Deutschland und Österreich zwischen 1924 und 1928. Steigende Zuwachsraten er‐ möglichten es den Unternehmern, die Verteilungskonflikte mit der organisierten Ar‐ beiterbewegung abzumildern. Unter dieser Bedingung hatte seine These, durch die vom Kapitalismus selbst hervorgebrachte Vergesellschaftung könne die Gesellschaft relativ konfliktfrei durch die staatlich gestützte Sozialisierung von ökonomischen Teilfunktionen in den Sozialismus hineinwachsen, eine beträchtliche Relevanz: vor‐ 27 Renner 1929, S. 56f. 28 Vgl. Ebd., S. 65-79.

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ausgesetzt freilich, dass es der Sozialdemokratie gelingt, gegen den bürgerlichen Wi‐ derstand den Staat mit demokratischen Mitteln nachhaltig zu beeinflussen. Diese evolutionäre Erwartung erwies sich aber ex-post lediglich als Ausfluss einer „Schonphase der Arbeiterbewegung“ (Fritz Sternberg).29 Sie wurde von der Tiefe und Wucht der Weltwirtschaftskrise ab 1929 beendet, die nicht zu einer Über‐ windung, sondern eher zu einer Stabilisierung des Kapitalismus führte - entweder mit demokratischen Methoden (New Deal in den USA) oder mit faschistischen Kri‐ senlösungsmodellen (deutscher Faschismus). Nach 1945 lagen freilich in Österreich wirtschaftliche Bedingungen vor, die Renners Konzept der Sozialpartnerschaft zu neuer Aktualität verhalfen. Im Zeichen eines korporativen Produktionismus gelang Österreich der Aufstieg von einem der Armenhäuser Europas nach dem Ersten Welt‐ krieg zu einem der Ländern mit dem weltweit höchsten Lebensstandard. Als Erbe Renners wirkte in diesem Prozess unter anderem seine Bestimmung des Verhältnis‐ ses von Staat und Markt. Er polemisierte nicht gegen den Markt, wo dieser seine Funktion erfüllt, eine optimale Bedürfnisbefriedigung der Konsumenten zu sichern. Aber er wies auf dessen Destruktionspotenziale hin, die sich dann destabilisierend auf die Sozialsysteme, auf die Kultur und letztlich auf die Demokratie auswirken müssen, wenn sich die Orientierung an ihm, vom Staat unreguliert, absolut setzt. Aber auch auf dem Gebiet der marxistischen Theorie ist Renners Ansatz nach wie vor aktuell. So ist heute viel von der Krise des Marxismus die Rede. Zu ihrer Über‐ windung könnte Renners Marxismusverständnis erheblich beitragen, wenn man ihm eine krisentheoretische Dimension assimilierte. Renner sieht, wie gezeigt, im Mar‐ xismus eine ökonomische und soziologische Methode, die, von allen Residuen eines philosophischen Materialismus und ideologischem Ballast befreit, von den prozes‐ sualen Erfahrungstatsachen des kapitalistischen Wirtschaftssystems auszugehen hat. Dieser Ansatz ermöglichte ihm die Konzipierung einer marxistischen Rechtstheorie, die bis auf den heutigen Tag Bestand hat und ihn zu einem der Väter der modernen Rechtssoziologie werden ließ.

Literatur Euchner, Walter, 2000: Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland. Teil I. In: Grebing, Helga (Hrsg.): Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus–Katholische So‐ ziallehre-Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, Essen 2000, S. 15-354. Frei, Alfred Georg, 1984: Rotes Wien. Austromarxismus und Arbeiterkultur. Sozialdemokrati‐ sche Wohnungs- und Kommunalpolitik 1919-1934, Berlin. Jagschnitz, Florian/Rom, Siegfried/Wiedey, Jan, 2014: Karl Renner und die Konsumgenos‐ senschaften, Wien.

29 Vgl. Sternberg 1932, S. 317f.

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Miller, Susanne, 1985: Politische Führung und Spontaneität in der österreichischen Sozialde‐ mokratie. In: Albers, Detlef/Heimann, Horst/Saage, Richard (Hrsg.): Otto Bauer: Theorie und Politik, Berlin 1985, S. 65-73. Pelinka, Anton, 1989: Karl Renner zur Einführung, Hamburg. Renner, Karl, 1917: Marxismus, Krieg und Internationale. Kritische Studien über offene Pro‐ bleme des wirtschaftlichen und den praktischen Sozialismus in und nach dem Weltkrieg, Stuttgart. Renner, Karl, 1924: Die Wirtschaft als Gesamtprozeß und die Sozialisierung. Populärwissen‐ schaftlich dargestellt nach Karl Marx’ System, Berlin. Renner, Karl, 1929: Wege der Verwirklichung. Betrachtungen über politische Demokratie, Wirtschaftsdemokratie und Sozialismus, insbesondere über die Aufgaben der Genossen‐ schaften und der Gewerkschaften, Berlin. Renner, Karl, 1951: Sozialismus, Arbeiterschaft und Genossenschaft. Skizze einer ökonomi‐ schen Theorie des Genossenschaftswesens (1931), Hamburg. Renner, Karl, 1953: Wandlungen der modernen Gesellschaft. Zwei Abhandlungen über die Probleme der Nachkriegszeit, Wien. Renner, Karl, 1983: Ist der Marxismus Ideologie oder Wissenschaft? In: Mozetic, Gerald (Hrsg.): Austromarxistische Positionen, Wien/Köln/Graz 1983, S. 74-91. Saage, Richard, 2015: Koalition oder Opposition in der Ersten Österreichischen Republik. Ein sozialdemokratisches Lehrstück. In: perspektiven ds 1/2015, 32. Jg., S. 99-109. Saage, Richard, 2016: Der erste Präsident. Karl Renner. Eine politische Biografie, Wien. Sternberg, Fritz, 1932: Der Niedergang des deutschen Kapitalismus, Berlin.

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Der Austromarxismus – zeitgenössische Debatten

Lutz Musner Der Februar 1934: Otto Bauers Nachbetrachtungen im Kontext der aktuellen Faschismusforschung

Nachdem Otto Bauer kurz nach dem Beginn der blutigen Auslöschung der österrei‐ chischen Sozialdemokratie im Februar 1934 nach Brünn ins Exil flüchten musste, verfasste er dort – neben anderen einschlägigen Artikeln im „Kampf“ – zwei we‐ sentliche Schriften, die sich mit den Ursachen der Zerschlagung seiner Partei und dem Charakter des [Austro]Faschismus auseinandersetzen. Es ist dies zum einen der Artikel „Der Aufstand der Österreichischen Arbeiter“1 und zum anderen die um‐ fangreiche Studie „Zwischen zwei Weltkriegen?“2. In diesem Beitrag geht es darum, Bauers Analysen der mitteleuropäischen Faschismen der 1920er und frühen 1930er Jahre im Kontext der neueren, vergleichenden Faschismusforschung zu rekonstruie‐ ren sowie historisch bzw. politisch bedingte Übereinstimmungen und Divergenzen aufzuzeigen. In der neueren Faschismusforschung ist man nach vielen Versuchen einer idealbzw. realtypischen Definition dieser spezifischen Form von Terrorherrschaft, die die bürgerlichen Demokratien zerstörten, das politische Leben gewaltsam gleichschalte‐ ten, politische Gegner in Lager sperrte bzw. ermordete und letztlich den 2. Weltkrieg mit seinem entsetzlichen Zivilisationsbruch [Holocaust] und Abermillionen Toten auslöste, abgekommen. Zu unterschiedlich waren die verschiedenen „Mutationen“ faschistischer Bewegungen, die nicht nur Italien und Mitteleuropa, sondern auch Westeuropa, Nordeuropa, das Baltikum sowie Ungarn, Rumänien und Jugoslawien erfassten. Durchgesetzt hat sich mittlerweile eine genetische Definition3, die sich auf den Zeitraum 1918 bis 1945 bezieht und jene Bewegungen bzw. Herrschaftssysteme bezeichnet, die sich ausgehend vom italienischen Modell des Mussolini-Faschismus nach folgenden Kriterien definieren lassen: sie sind nach dem Führerprinzip geglie‐ dert, verfügen über bewaffnete paramilitärische Verbände, inszenieren einen neuen politisch-theatralischen Stil mit Massenkundgebungen, die einen gewaltbetonten Männlichkeits- und Jugendlichkeitskult verherrlichen, bedienen sich pseudoreligiö‐ ser bzw. fundamentalistischer Ideologien und erobern fallweise den Staat samt all seiner legislativen und exekutiven Organe. Ihr Kern ist die Bereitschaft zur schran‐ kenlosen und umfassende Gewalt gegen „Feinde“ aller Art, die sich je nach politi‐ 1 Bauer 1976a. 2 Bauer 1976b. 3 Vgl. dazu: Bauernkämper 2006, S. 39f.

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scher Lage anders bestimmen lassen, aber insbesondere gegen Sozialisten, Kommu‐ nisten, Juden sowie anderen rassistisch stigmatisierten Minderheiten gerichtet ist. Die NS‑Herrschaft unter Hitler kann dabei als radikale Kulminationsform all dieser Elemente gesehen werden. Direkt an die staatliche Macht gelangt ist neben dem ita‐ lienischen Faschismus allerdings nur noch der deutsche, nationalsozialistische Fa‐ schismus. Letzterer kann wegen seiner exzessiven, viele Länder und Ethnien über‐ greifenden Gewaltausübung als „radikalfaschistisch“ bezeichnet werden kann. In Spanien und Österreich hingegen sind die Diktaturen nicht durch die direkte Macht‐ ergreifung einer faschistischen Partei entstanden, sondern unterschiedliche Gruppie‐ rungen wurden entweder zu einer neuen Einheitspartei verschmolzen [„Movimento Nacional“, Franco-Diktatur] oder neu als faschistische Staatspartei gegründet [Vater‐ ländische Front, Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur]. Beide Varianten vermengen einen reaktionären, anti-sozialistischen, politischen Katholizismus mit Elementen faschis‐ tischer Ideologien nach italienischem Vorbild und können daher als fundamentalis‐ tisch-faschistisch eingeschätzt werden. Dabei ist es kategorial nicht maßgeblich, in welchem quantitativen Umfang der spanische und österreichische Faschismus die Arbeiterklassen ihrer Rechte beraubt, ihre Aufstände niedergeschlagen haben bzw. wie viele Menschen durch Standgerichte, Exekutionen und Lagerhaft umgebracht wurden. Maßgeblich sind für die Einordnung im Spektrum verschiedenster Formen faschistischer Bewegungen vielmehr die oben angeführten Merkmale. In Bezug auf die klassische Moderne und den von ihr evozierten Modernisie‐ rungsschüben ökonomischer, technisch-wissenschaftlicher und kultureller Art kon‐ kurrieren der italienische und deutsche Faschismus mit einem Paradoxon, nämlich einer „modernen“ Anti-Moderne, die sich jeweils unterschiedlich ausformt, aber in zweierlei Hinsicht Gemeinsamkeiten aufweist: beide Systeme übernehmen weitge‐ hend die technischen Errungenschaften der industriellen Moderne, entwickeln sie teilweise weiter und schaffen einen im Kern militärisch-industriellen Komplex so‐ wie eine umfassende Medienmacht zur Stützung ihrer totalitären Herrschaft4. Sie lö‐ schen zugleich aber alle Errungenschaften der politischen und kulturellen Moderne aus, d. h. die bürgerliche Demokratie, den Liberalismus, die Ideen der Aufklärung, die freie, ungelenkte Entfaltung der Wissenschaften sowie den Pluralismus in Litera‐ tur, in den Künsten, in der Musik und bekämpfen jegliche Form einer auf individuel‐ le und soziale Emanzipation ausgerichteten Avantgarde. Das kosmopolitische, intel‐ lektuell wie emotional ausdifferenzierte Subjekt der Avantgarden ersetzen sie durch einen monolithischen konzipierten „neuen Menschen“, der sich völlig dem Führer‐ prinzip unterwirft und buchstäblich körperlich den Traum einer wieder geborenen, martialischen Nation, erstanden aus dem Trauma der Niederlage im Ersten Weltkrieg repräsentieren soll. Im Falle Italiens ist es jedoch nicht die Niederlage, sondern es

4 Vgl. dazu: Herf 1984, passim.

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sind die uneingelösten, alliierten Versprechungen auf Gebietseroberungen im neuen jugoslawischen Staat, d.h. der so genannte „verstümmelte Sieg“ [vittoria mutilata], die den Faschismus befeuern. Aber so wie die Moderne multipel ausgeformt ist, so gestaltet sich auch die Anti-Moderne unterschiedlich, was sich treffend am Unter‐ schied der Architektur im Mussolini-Italien und in Hitler-Deutschland demonstrie‐ ren lässt. Während sich unter Mussolini eine moderne, fast nach Le Corbusier ausge‐ richtete Sachlichkeit ausbildet, wird im NS-Staat einem architektonischen Monu‐ mentalismus gehuldigt, wie die teilweise realisierten Pläne von Albert Speer zur Neugestaltung von Berlin zeigen. Letzteres Phänomen, also ein eingleisig verlaufen‐ der Technologiefortschritt, mag mit der These Hans Mommsens zusammenhängen, dass die NS‑Herrschaft parasitär die überkommenden gesellschaftlichen Strukturen usurpierte, ohne an deren Stelle neue und klar strukturierte Institutionen zu platzie‐ ren. Die daraus folgende Verschmelzung von Partei- und Staatsämtern im NS-Staat führt dazu, dass es kaum noch Bereiche der Wirtschaft, der Armee und Verwaltung gab, für die sich nicht mehrere Instanzen gleichzeitig zuständig erklärten.5 Dies ver‐ unsicherte die alten Eliten, somit auch die Großindustriellen und bewirkte eine Min‐ derung der Innovationsfähigkeit der wissensbasierten Industrien, die sich den Vorga‐ ben einer Kriegswirtschaft zu unterwerfen hatten. Im Austrofaschismus hingegen fehlt dieser halbierte, technische Modernismus zur Stützung des Regimes weitgehend. Die kulturelle Anti-Moderne wird primär in Form einer rückwärts gewandten Verklärung Österreichs als eigentliche Verkörpe‐ rung des Deutschtums im Sinne der überkommenen katholisch-habsburgischen Tra‐ dition sowie als mythische Verklärung des bäuerlichen Provinzialismus zelebriert. Im Unterschied zu Italien und Deutschland, wo man dem urbanen Faktor und ihren gemischtem Wählerklientel politisch Rechnung tragen musste, setzen Dollfuß und Schuschnigg auf eine agrarisch-religiös grundierte Anti-Moderne, da sie sich vor al‐ lem in den großen Städten einer breiteren Anhängerschaft nicht sicher sein konnten.6 Gemeinsam ist allen drei Regimeformen in Italien, Deutschland und Österreich je‐ doch eine Art von „Kulturrevolution von oben“, die sich in Männlichkeitsritualen, plakativen Initiationsritualen für die Jugend, einem Totenkult für die „Helden“ des großen Krieges7 und einem radikalen Antifeminismus zeigt. Bei den Frauen geht es darum, diese wieder aus den Büros und Fabriken zu verbannen und ihnen die Funk‐ tion von Müttern möglichst zahlreicher Kinder und treuen Gefährtinnen der Männer zuzuweisen. Die manische Angst des heldischen Mannes vor der berufstätigen, auch sexuell emanzipierten Frau der 1920er Jahre, die aus faschistischer Sicht nur jüdisch und bolschewistisch oder rassisch minderwertig sein kann, ist ein Angelpunkt der modernen Anti-Moderne. 5 Vgl. dazu: Mommsen 1981, S. 43 – 69. 6 Vgl. dazu: Maderthaner 2004, S. 140ff. 7 Vgl. dazu: Mosse 1990, passim.

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Otto Bauers Auseinandersetzung mit dem Faschismus als einer konterrevolutio‐ nären Bewegung gegen die Demokratien und Arbeiterbewegungen Mitteleuropas beginnt nicht erst im Gefolge des Februar 1934. Wie Richard Saage herausgearbeitet hat, stand die Frage einer möglichen faschistischen Gegenrevolution in der Ersten Republik schon im Mittelpunkt des Linzer Parteiprogramms der SDAP von 1926, das im Wesentlichen von Bauer entworfen wurde. Er entwickelte darin eine bona‐ partismustheoretische Konzeption des Faschismus, die analysiert was passiert, wenn das Gleichgewicht der Klassenkräfte – auf der einen Seite die Bürgerblockregierung und auf der anderen Seite die Sozialdemokratie – kippen könnte. Denn, wie würde sich das bürgerlich-christlich-soziale Lager verhalten, wenn sich bei parlamentari‐ schen Wahlen das Gleichgewicht der Kräfte zu Gunsten einer Mehrheit der SDAP veränderte? Würde es sein Hegemoniestreben einhegen und auf dem Boden der de‐ mokratischen Verfassung verbleiben oder würde es dem italienischen Vorbild fol‐ gend mit einer monarchistischen oder faschistischen Gegenrevolution antworten? Laut Saage kann man im Linzer Programm drei bonapartismustheoretische Elemen‐ te entdecken, die in ihren späteren Varianten ab 1930, vor allem in Bauers Buch „Zwischen zwei Weltkriegen?“ eine zentrale Rolle spielen sollten: „1. Faschismus‐ gefahr besteht dann, wenn sich das bürgerliche Lager auch gegen eine demokratisch agierende sozialdemokratische Partei in die Defensive gedrängt fühlt, sich das ‚das Klassengleichgewicht’ zu ihren Ungunsten verändert oder ihre Profitmaximierung erschwert zu werden droht. 2. Faschismustheoretische Konzeptionen haben ihren Ursprung in der Frage, mit welchen Mitteln die Arbeiterbewegung antworten soll, wenn sie einer faschistischen Offensive gegenübersteht. 3. Die ‚faschistische Kon‐ terrevolution’ wird nicht auf eine Soziologie der ‚herrschenden Klasse’ reduziert, sondern als Ausfluss einer gesamtgesellschaftlichen Klassenkonstellation interpre‐ tiert.“8 Vorerst genügt hier der Hinweis, dass Bauers bonapartistische Interpretation des Faschismus impliziert, dass im Falle einer Zurückdrängung der Arbeiterklasse und eines daraus resultierenden Gleichgewichts der Schwäche zwischen dem prole‐ tarischen und bürgerlichen Lager sich die große Chance für eine faschistische Bewe‐ gung eröffnet. Diese würde dann versuchen, ein Bündnis mit dem Großkapital und den bürgerlichen Eliten zu schließen und eine derartige Konstellation kann sich dann in einen faschistischen Staatsapparat weiterentwickeln, wenn die sozialen und politi‐ schen Errungenschaften der Arbeiterklasse abgeschafft sind, das Kapital wieder die Möglichkeit bekommt, wieder uneingeschränkt über die Arbeits- und Produktions‐ verhältnisse zu bestimmen, aber die Bourgeoisie nicht mehr in der Lage ist, die zur Hilfe gerufenen Paramilitärs von der Machtergreifung abzuhalten, sondern ihnen freiwillig die Staatsmacht überantwortet.

8 Saage 2007, S. 52.

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Der Kampf um die Demokratie Es sollte nicht lange dauern bis die Hitler-Bewegung ein solches Bündnis mit dem Großkapital schmieden und vorerst im Wege der Wahlen 1932 zur stärksten Partei im deutschen Reichstag werden konnte, um schließlich 1933 die staatliche Macht völlig an sich zu reißen. In diesem Jahr warnte Bauer davor, dass die Nazi-Bewe‐ gung auch Österreich in einem größeren Umfang erfassen könnte als gemeinhin ab‐ sehbar war. Die Wiener Landtags- und Gemeinderatswahlen im April 1932 zeigten schon eine merkliche Präsenz der Nationalsozialisten, die 17,37 % erzielen konnten und damit nahe an die Christlich-Soziale Partei heran kam, die 20,15 % der Stimmen erhielt. Nach der Ausschaltung des österreichischen Parlaments am 7. März 1933 analysierte Bauer die Lage in Österreich äußerst nüchtern. Zwar könne man das Re‐ gime des seit 1932 regierenden Kanzlers Engelbert Dollfuß nicht mit Italien oder Deutschland vergleichen, da ihm wesentliche Merkmale des totalitären Faschismus fehlen würden, aber unzweifelhaft könne der neue Kurs wohl als eine Diktatur be‐ zeichnet werden, denn „die Ausschaltung der Volksvertretung der Regierung, die Gesetzgebung durch Verordnungen der Regierung, die Suspendierung oder doch empfindliche Einschränkung wichtiger Freiheitsrechte, die Ausschaltung der verfas‐ sungsgerichtlichen Kontrolle machen das Wesen einer Diktatur aus.“9 Aber in den faschistisch zu nennenden Heimwehrverbänden von Emil Fey, dem als Sicherheits‐ minister Polizei, Gendarmarie und die Sicherheitsdirektionen der Länder unterstehen und der aus den Heimwehren Assistenzkörper des Heeres, Hilfspolizei und Hilfs‐ gendarmarie rekrutieren lässt, sieht Bauer die Gefahr einer Fortentwicklung der bür‐ gerlichen hin zu einer faschistischen Diktatur. Noch sieht er in den inneren Rivalitä‐ ten des bürgerlich-autoritären Lagers, in der eine Richtung hin zum Faschismus drängt und eine andere zwischen Demokratie und Faschismus hin und her schwankt, eine Chance letztere für die Wiederherstellung der Demokratie zu gewinnen. Zwar sei der Nationalsozialismus der gefährlichere Gegner, da er über mehr Anziehungs‐ kraft auf die Massen verfüge als die Regierungsparteien, aber die Regierung besitzt die staatlichen Gewaltmittel und ist insofern gefährlicher für die Sozialdemokratie. Noch seien, so Bauer, alle Möglichkeit offen, weil sich das gegenwärtige System nur auf eine Minderheit der Bevölkerung stützen kann, jedoch dürfe sich die SDAP kei‐ nerlei Illusionen über das Ausmaß der Wirtschaftskrise, deren demoralisierende Wir‐ kung auf die Arbeiterschaft und die militärische Stärke des Gegners hingeben. Viel‐ mehr müsse man versuchen den demokratischen Kräften in der Regierung dabei be‐ hilflich sein, die Rückkehr zur Demokratie zu befördern. Jetzt einen offenen Kampf gegen das Regime von Engelbert Dollfuß zu eröffnen wäre ein Fehler, so lange noch „die Möglichkeit einer Entwirrung mit viel geringern Opfern und Gefahren be‐

9 Bauer 1933b, S. 270.

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steht“.10 Aber zugleich müsse die Wachsamkeit der Arbeiterschaft geschärft werden für den Fall, dass das die bürgerliche Diktatur den Nationalfaschismus mit ihren Ge‐ waltmitteln nicht niederringen kann. Es sei daher notwendig den Willen der Arbei‐ terschaft lebendig zu halten und die Freiheit, falls notwendig, mit ganzer Kraft selbst zu verteidigen. Bauer ist sich bewusst, dass nicht allein die innenpolitische Entwick‐ lung das Schicksal der österreichischen ArbeiterInnen bestimmen wird, sondern dass außenpolitische Einflüsse, vor allem seitens Italiens und Deutschlands, eine ebenso bedeutende, vielleicht sogar entscheidende Rolle spielen werden. Noch glaubt er, dass dem deutschen Faschismus nur eine kurze Lebenszeit beschieden sei, da er bald breite Massen enttäuschter Kleinbürger, Bauern und Intellektuelle mit Hass gegen sich erfüllen würde und noch glaubt er, dass nach der schweren Niederlage des So‐ zialismus und der brutalen Naziherrschaft in Deutschland dort letztlich eine revolu‐ tionäre Situation entstehen würde. Zwar büße das deutsche Volk dafür, dass 1918 unter schwerem äußeren politischen Druck die sozialistische Umgestaltung der Ge‐ sellschaft nicht auf der Tagesordnung stehen und deshalb die faschistische Despotie errichtet werden konnte. „Aber gerade die faschistische Despotie schafft einen Zu‐ stand, aus dem eine neue Revolution werden muß, die der Frage der sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft nicht mehr wird ausweichen können, eine Revolution, die vor der unerbittlichen Wahl gestellt sein wird: entweder faschistische Sklaverei oder Sozialismus!“11 War nun Otto Bauer der große Illusionist12, der die Gewaltbereitschaft und die Kompromisslosigkeit des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes unterschätzt hat? War er angesichts der schwer wiegenden Differenzen im eigenen Lager, in der die eine Seite für eine Verständigung mit der Regierung – auch um den Preis großer Konzessionen – eintrat, und die andere Seite sich für den Sturz von Dollfuß und dem umfassenden revolutionären Kampf gegen den Faschismus aussprach, seiner innerparteilichen Autorität beraubt und politisch isoliert, sodass ihm nur mehr seine „Würde“ als Mann und Politiker blieb?13 Darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein, je nachdem, wie groß man die Kluft oder gar die Widersprüchlichkeiten zwischen sei‐ nen praktisch-pragmatischen und seinen theoretisch-ideologischen Persönlichkeits‐ komponenten einschätzt. Man kann aber davon ausgehen, dass Bauer – so sehr er auch als brillantester Kopf der SDAP nicht nur nationale, sondern auch internationa‐ le Entwicklungen treffend analysieren konnte – die Radikalität des Heimwehrfa‐ schismus und dessen geballten Hass auf alle arbeits- und sozialrechtlichen Errungen‐ schaften, die die Sozialdemokratie im Parlament und vor allem in Gestalt des „Rote Wien“ für die ArbeiterInnen durchsetzen konnte, völlig unterschätzte. Vielleicht 10 11 12 13

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Bauer 1933b, S. 276. Bauer 1933a, S. 322. Hanisch 2011, passim. Hanisch 2011, S. 293ff.

trifft es auch zu, dass er sich mitunter wie ein „Mandarin“ in der Partei verhielt, wie Leo Trotzki dies seinerzeit Victor Adler und seinem Führungskreis unterstellt hat‐ te.14 Andererseits jedoch standen Bauer jedoch objektive Barrieren im Wege, die eine umsichtige Politik in den Krisenjahren nach 1929 und vor allem während der Jahre 1933 und 1934 erschwert bzw. verhindert haben. Zum einen ließ die Weltwirt‐ schaftskrise und die dramatische Ausmaße annehmende Massenarbeitslosigkeit die Arbeiterschaft verzweifeln, lähmte ihren Kampfgeist und veranlasste sie teilweise sogar die Partei zu verlassen. Zum anderen wusste Bauer als ehemaliger Offizier ge‐ nauestens darüber Bescheid, über welche umfangreiche technische Mittel das staatli‐ che Gewaltpotenzial mittlerweile verfügte. Es waren nicht nur die Beobachtungs‐ flugzeuge, die schwer armierten Panzerwagen und Tanks, die Artillerie und Haubit‐ zen sowie die Bewaffnung von Heer und Teilen der Heimwehr mit schweren Ma‐ schinengewehren, die einen bewaffneten Aufstand des technisch völlig unterlegenen Schutzbundes äußerst verlustreich, wenn nicht gar von vorn herein aussichtslos er‐ scheinen ließen. Es war auch die umfassende staatliche Verfügungsmacht über den Rundfunk und die anderen Medien, die gleichsam als militärische „Software“ gegen eine aufbegehrende Arbeiterschaft eingesetzt werden würde, um sie demoralisieren und ihren politischen Widerstand zu brechen. Sollte man also angesichts dieser ob‐ jektiven Gegebenheiten und angesichts der militärischen und medialen Übermacht des Dollfuß-Regimes leichtfertig einen Aufstand anzetteln? Schließlich darf man nicht vergessen, dass Otto Bauer – wie er in seinen Schriften immer wieder durch‐ blicken lässt – sich der Tradition der europäischen Aufklärung und ihren individuel‐ len Freiheitsrechten verpflichtet sah und im Sinn Immanuel Kants den Standpunkt einer Verantwortungsethik vertrat, der es ihm nicht erlaubte, Arbeiter und ihre Fami‐ lien leichtfertig in den Tod zu schicken.

Der Februar-Aufstand im Rückblick Nachdem Bauer am 13. Februar 1934 ins Exil flüchten musste, um dem Galgenge‐ richt des Dollfuß-Regimes zu entgehen, machte er sich gleich an die Arbeit, um die Niederlage des Schutzbundes, ja der ganzen Partei, eingehend zu analysieren. Der Faschismusbegriff, den er im Artikel „Der Aufstand der Österreichischen Arbeiter“ entwickelt, ist aufgrund seiner Erfahrungen mit den Kämpfen in Wien und ihrer Vor‐ geschichte empirisch unterlegt und deshalb viel konkreter als dies in früheren Ana‐ lysen der Fall war. Zwar hatte er bereits 1924 in einer Kontroverse mit dem Staats‐ rechtler Hans Kelsen die These vertreten, dass das labile Gleichgewicht der Klassen‐ kräfte dazu geführt hat, dass sich bewaffnete Parteien der Staatsgewalt bemächtigen

14 Trotzki 1929, S. 208.

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und auf diese Weise diktatorisch alle Klassen unterwerfen. „In Italien war es der Fa‐ schismus, der diese Aufgabe besorgte. Der italienische Faschismus von 1922 ist das Gegenstück des französischen Bonapartismus von 1851. In beiden Fällen hat ein Abenteurer, auf Banden bewaffneter Abenteurer gestützt, das bürgerliche Parlament auseinanderjagen, damit die politische Herrschaft der Bourgeoisie stürzen und seine Diktatur über alle Klassenaufrichten können, weil die Bourgeoisie selbst ihre politi‐ sche Vertretung in Stich ließ, ihre eigene Klassenherrschaft preisgab, sich der gegen ihre eigene Staatsmacht rebellierenden Gewalt in die Arme warf, um, gegen Preisga‐ be ihrer politischen Herrschaft, ihr vom Proletariat bedrohtes Eigentum zu retten.“15 Angesichts der historischen Niederlage der österreichischen Arbeiterschaft unter‐ zieht er diese einer detaillierten Betrachtung. Er sieht als Initialzündung für die voll‐ ständige Unterwerfung von Dollfuß unter die Direktiven des Duce die Aufdeckung eines einer groß angelegten, illegalen Waffenschiebung Italiens nach Ungarn durch die SDAP im Januar 1933. Er stellt fest, dass seit diesem Vorfall es Italiens erklärter Wille gewesen sei, dass sich Österreich realiter in einen faschistischen Staat verwan‐ deln, die Sozialdemokratie vernichten und sich in das Bündnis Italien – Ungarn ein‐ gliedern soll, damit den Waffenlieferungen Roms an Budapest kein Hindernis mehr im Wege steht. Bei der entscheidenden Unterredung zwischen Mussolini und Dol‐ lfuß in Riccone am 19./20. August 1933 hatte Dollfuß im Gegenzug für die weitere politische und militärische Unterstützung durch Italien weitgehende Zusagen ge‐ macht, die, so Bauer, „Österreich zu einer Kolonie Italiens“ gemacht haben.16 Um zu demonstrieren, wie sehr er dem Duce politisch nahe stehen und ihn zum Vorbild nehmen wolle, hatte Dollfuß im Vorfeld des August-Treffens eine Reihe von Maß‐ nahmen angekündigt, um einen Faschismus nach Wiener Art zu installieren. In einem Schreiben an Mussolini vom 22. Juli versichert er diesem, dass er zunächst den angehäuften Schutt der Republik wegräumen müsse, um die autoritäre Struktur seines neuen Staates zu vollenden. Leider ginge aber alles nicht so schnell vonstat‐ ten, da ihm der Nationalsozialismus in den Rücken gefallen sei, der dem Marxismus direkte bzw. direkte Schützenhilfe leiste. Aber er habe alles in die Wege geleitet, um die Umbildung des Bundesrates in eine berufsständische Körperschaft mit weitge‐ henden gesetzgeberischen Vollmachten durchzuführen. Weiters hielte die Regierung unerschütterlich am Ziel fest, den Marxismus in allen Formen zu überwinden und diesen durch einen über den Klassen stehenden, autoritären Staatspatriotismus zu er‐ setzen. Man beabsichtige auch der Gemeinde Wien Finanzen zu entziehen und so die letzte Bastion der Marxisten entscheidend zu schwächen. Die Vaterländische Front werde nach dem Führerprinzip aufgebaut und der Führer sei er, Dollfuß, selbst.17 Bevor Dollfuß die Reise nach Riccione antrat, veranlasste er noch der Ge‐ 15 Bauer 1924, S. 64. 16 Bauer 1976a, S. 976. 17 Maier/Maderthaner 2004, S. 31ff.

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meinde Wien eine Lastenabgabe von 36 Millionen Schilling, rückwirkend vom 1. Jänner 1933, aufzuerlegen und führte damit Mussolinis Auftrag durch „den Sozial‐ demokraten in ihrer Felsenfestung Wien einen Schlag zu versetzen“.18 Bei seiner Rede am Katholikentag am 11. September wurden die Ergebnisse der Unterredun‐ gen mit dem Duce seitens Dollfuß so zusammen gefasst, dass sein erklärtes Ziel die Errichtung eines „sozialen, christlichen, deutschen Staates Österreich auf ständischer Grundlage und starker autoritärer Führung“ sei. Und bei der Regierungsumbildung am 20. September 1933 mussten die Kritiker dieses Kurswechsels, Carl Vaugoin so‐ wie Franz Winkler ihre Regierungsämter zurücklegen, der Heimwehrführer Emil Fey wurde zum Vizekanzler ernannt und damit die Heimwehr praktisch zum integra‐ len Teil des Staatsgefüges. Der politische Arm der Heimwehr, der Heimatblock wur‐ de in die neue Vaterländische Front eingegliedert, die als politische Organisation „al‐ ler Österreicher, die vaterländisch denken, empfinden und handeln“ aus der Taufe gehoben worden war. Auf diese Weise war der Umwandlung vom autoritären hin zum faschistischen Staat vollzogen und Dollfuß konnte sich als Führer seines neuen Österreichs feiern lassen. Im Februar 1934 holten er und Emil Fey zum entscheiden‐ den Schlag gegen die SDAP aus. Binnen vier Tagen war die Arbeiterbewegung zer‐ schlagen. Otto Bauer resümiert: „Hat das sein müssen? Hätten wir siegen können? Nach den Erfahrungen dieser vier Tage darf man sagen: Wenn die Eisenbahnen still‐ gelegt worden wären, wenn der Generalstreik das ganze Land erfasst hätte, wenn der Schutzbund die ganze große Masse der Arbeiter im ganzen Lande mitgerissen hätte, dann wäre es der Regierung kaum gelungen, des Aufstands Herr zu werden.“19 Doch all diese Voraussetzungen waren nicht gegeben: die ohnehin politisch unter Kuratel gestellten Eisenbahner fürchteten um ihre Arbeitsplätze ebenso wie die gut entlohnte Arbeiterschaft und der Schutzbund war durch die vorher von Emil Fey angeordnete Verhaftungswelle seiner fähigsten Köpfe beraubt worden. Bauer weist auf die Ein‐ zigartigkeit des österreichischen Aufstands hin, denn weder in Italien noch in Deutschland hatte sich die Arbeiterschaft mit Waffen gegen den Faschismus erho‐ ben. Er lässt auch die Fehler der Parteiführung nicht unerwähnt. Hätten die Sozialde‐ mokraten schon früher losschlagen sollen oder hätten sie einen nationalen rechten Weg wie die SPD in Deutschland einschlagen sollen? Aber weder die Oppositions‐ politik nach den Wahlen 1930, um zu verhindern, dass die durch die Krise verelen‐ deten Massen zu den Nationalsozialisten hin strömen noch ein Aufstand nach der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 erschien der Parteiführung als taktisch richtiger Weg. Keine der Optionen schien zum jeweiligen Zeitpunkt im Gesamtinter‐ esse der Partei, nämlich eine starke oppositionelle Vertretung der Arbeiterschaft zu sein, die deren Rechte soweit als möglich verteidigt. Weder ein rechter Weg weitge‐ hender Konzessionen zu Lasten der Arbeiterschaft noch die Wiederaufrichtung der 18 Maier/Maderthaner 2004, S. 38. 19 Bauer 1976a, S. 983.

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Demokratie mit Waffengewalt, sei zur Debatte gestanden. Indirekt gesteht Bauer sein Versagen ein, aber verweist zugleich darauf, dass die Ursachen der Niederlagen der Arbeiterklasse in Mitteleuropa wohl tiefer liegen müssen als bloß in den takti‐ schen Manövern ihrer Parteien. Die Ursache der Katastrophe sieht Bauer vielmehr in der allgemeinen Proletarisierung, die die bis dahin größte Krise des Kapitalismus mit sich gebracht habe, nämlich nicht nur die Verelendung breiter Teile der Arbeiter‐ schaft, sondern auch die Proletarisierung der Kleinbürger und Bauern. „[Die] bürger‐ liche Demokratie hat die Massen nicht vor der Krise bewahren können. Sie konnte sie vor der Krise nicht bewahren, nicht deshalb, weil es Demokratie, sondern des‐ halb, weil es bürgerliche Demokratie, Demokratie auf der Grundlage der kapitalisti‐ schen Eigentums- und Produktionsverhältnisse war. Aber das haben die kleinbürger‐ lichen und bäuerlichen Massen nicht verstanden. Verelendet, erbittert, haben sie sich von der Demokratie überhaupt abgewendet, haben sie etwas Neues, Unverbrauchtes, Unkompromittiertes gesucht, das sie retten könne. So wurden sie reif für den Fa‐ schismus. So ließen sich Kleinbürger- und Bauernsöhne von den Heimwehragenten anwerben. So gerieten sie unter die Führung der aristokratischen Großgrundbesitzer und der k. u. k. Generale, die die Heimwehrbataillone kommandieren – unter der Führung der durch die Revolution von 1918 entthronten Klassen.“20 Bauer resümiert abschließend sehr klar, dass der klerikale Faschismus österreichi‐ scher Prägung nicht auf Dauer Bestand haben werde, weil er sowohl die verbitterte Arbeiterschaft wie auch die nach Macht gierenden Anhänger der Nationalsozialisten – also eine Mehrheit der Bevölkerung – sich zum Gegner gemacht habe. Auch wer‐ de die von oben angeordnete Versöhnung der Klassen unter dem Dach der Vaterlän‐ dischen Front keinen Bestand haben. Die Diktatur Dollfuß-Fey verfüge auch nicht über straff geführten militärischen Organisationen wie Hitler mit der SA und der SS und Mussolini mit seinen fanatischen Schwarzhemden. Die Vaterländische Front sei dagegen bloß ein Sammelsurium von Bourgeoise, Aristokraten, Kleinbürgern und Heimwehr, die Dollfuß fortwährend erpressen würden. Zudem bestünde ein Antago‐ nismus zwischen den christlich-sozialen Bauern und Kleinbürgern einerseits und von die Heimwehr kommandierenden Aristokraten, die gegeneinander intrigieren und gegeneinander rüsten würden. Aber selbst, wenn das austrofaschistische System nicht zerfallen würde, so hätte es immer noch mit dem Massenhass zu kämpfen, den der Februar 1934 ausgelöst hat und den Nationalsozialismus stärken werde. Die Zer‐ störung der Sozialdemokratie habe, so Bauer, jene Dämme niedergerissen, die bisher der Ausbreitung der NS-Bewegung im Wege gestanden sind. Was soll Dollfuß als Treibender wie Getriebener nun tun, um sich und sein System zu retten? Er könne nochmals eine Versöhnung mit Hitler versuchen oder die Restauration der Habsbur‐ ger betreiben. Die erste Option wäre nur der Schritt zur Gleichschaltung und würde

20 Bauer 1976a, S 991.

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unweigerlich zum Anschluss an Hitler-Deutschland führen. Die zweite Option, eine Wiedererrichtung der Habsburgerischen Herrschaft würde ebenfalls Konflikte schaf‐ fen, denn dies könne nur in einer Allianz mit Ungarn unter Gyula Gömbös21 gesche‐ hen und österreichische Soldaten müssten dann mit ihrem Blut die Slowakei und Kroatien für die ungarische Krone zurückerobern. Beide Wege würden auf die eine oder andere Weise zum Krieg führen. Der Anschluss an Deutschland würde einen europäischen Krieg entfachen und eine Renaissance der Habsburger Herrschaft wür‐ de zumindest einen mitteleuropäischen Krieg herauf beschwören. „Die Niederwer‐ fung der österreichischen Sozialdemokratie hat beide Wege freigelegt: den Weg zu Hitler und den Weg zu Habsburg. Aber beide führen zum Krieg. Europa wird noch erfahren, welche Schlüsselstellung des europäischen Friedens mit der österreichi‐ schen Sozialdemokratie zerstört worden ist.“22 Wie auch immer sich die Dinge ent‐ wickeln werden – ob die Dollfuß-Diktatur an den Gegensätzen im eigenen Lager oder am Gegensatz zwischen Austrofaschismus und Nationalfaschismus scheitert, ob sie die Verständigung mit Hitler oder die Restauration der Habsburger versuchen – in jedem Fall, so Bauer abschließend, sind ihre Tage gezählt.

Zwischen zwei Weltkriegen In der 1936 erschienen Studie „Zwischen zwei Weltkriegen?“ widmet sich Bauer der Analyse des italienischen und des deutschen Faschismus. Schon die demokratischen bzw. sozialistischen Revolutionen von 1918 wären in mehreren Ländern mit Gegen‐ revolutionen niedergeworfen worden. Dies sei in Polen mit der Militärdiktatur Pil‐ sudskis und in Jugoslawien mit einem dynastisch-militärischem Absolutismus alten Schlages geschehen. Die Konterrevolutionen in Ungarn und in Bulgarien hätten je‐ doch schon einen, den faschistischen Stoßtrupps ähnlichen Charakter gehabt, seien aber wieder von der alten Oligarchie abgelöst worden. Die neue Form der faschisti‐ schen Despotie sei zuerst in Italien und dann in Deutschland zum Sieg gelangt. „Heute freilich ist sie die neugefundene Form der Diktatur der kapitalistischen Klas‐ sen, deren Methoden nun auch von gegenrevolutionären Regierungen anderen Ur‐ sprungs nachgeahmt werden.“23 Bauer sieht den Faschismus als Resultat von drei eng mit einander verbundenen gesellschaftlichen Prozessen: zum einen würden de‐ mobilisierte Offiziere und Soldaten des Weltkriegs, unfähig sich wieder ins zivile Leben einzugliedern, den Kern der faschistischen paramilitärischen Milizen bilden, die die Ideologie der Schützengräben gewaltsam in die politische Arena einbringen. 21 Gyula Gömbös von Jákfa war ein Ex-Militär und führender rechtsextremer Politiker des Hor‐ thy-Regimes sowie Ministerpräsident Ungarns (1932–1936). In dieser Funktion suchte er eine politische Annäherung sowohl an Italien unter Mussolini wie auch an Hitler-Deutschland. 22 Bauer 1976a, S. 996. 23 Bauer 1976b, S. 136.

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Zum anderen seien es die durch die Wirtschaftskrise verarmten Bauern und Klein‐ bürger, die sich von der Demokratie abwenden würden, weil sie ihre Lebensinteres‐ sen von ihren Parteien nicht mehr gewahrt sähen und sich deshalb um die rechten paramilitärischen Formationen scharren würden. Und schließlich sei es die Kapita‐ listenklasse, die um ihre Profite fürchtend, den Widerstand der Arbeiterklasse bre‐ chen wolle, diese Forderung jedoch nicht mehr durch den bürgerlichen Staat ge‐ währleistet sähe. Zur Erreichung ihrer Ziele würden sie sich der faschistischen Mili‐ zen bedienen, um zuerst die Arbeiterklasse in die Defensive zu drängen und schließ‐ lich die Demokratie zu zerschlagen. Ihre Instrumente seien Geld für die Milizen, der Staat um diese ausreichend zu bewaffnen sowie ihre Gewalt gegen die Arbeiterklas‐ se straffrei zu stellen und schließlich der Putsch, der den Faschisten schlussendlich die Staatsmacht überantwortet. Am Beispiel Italiens und Deutschlands erläutert Bauer diese drei ineinander ver‐ wobenen Prozesse im Detail. In Italien hätten die ausgemusterten Reserveoffiziere die Basis der faschistischen Partei gebildet und um sich Deklassierte aus den Reihen der Arditi, der italienischen Sturmtruppen des Krieges, versammelt. Unfähig die im Krieg erworbenen Gewohnheiten und Weltanschauungen zu ändern, würden sie die Kriegserfahrungen nun in eine martialische Form von Gewaltpolitik übersetzen. „In diesen Keimzellen des Faschismus entwickelte sich seine ursprüngliche Ideologie. Aus dem Krieg erwachsen, ist sie vor allem militärisch: Sie fordert Disziplin der Masse gegenüber der Kommandogewalt des Führers. Sie wendet sich schroff gegen das Selbstbestimmungsrecht der nur zu diszipliniertem Gehorsam berufenen Masse und ist damit aller Demokratie feind. Sie verachtet das bürgerliche, zivilistische Streben nach Frieden, Wohlstand und Behagen und stellt ihm ein kriegerisches, he‐ roisches Lebensideal entgegen.“24 In Deutschland sei es zu ähnlichen Entwicklun‐ gen gekommen, denn der durch den Versailler Vertrag erzwungene Abbau von Be‐ rufsoffizieren, die die neue Demokratie nicht akzeptieren wollten, hätte zur Bildung einer Führungsschicht der militärischen Freikorps und Wehrverbände geführt. Und wie in Italien waren auch in Deutschland die politischen Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit ein idealer Nährboden für die Entfaltung von faschistischen Stoß‐ trupps: in Italien war es die Inbesitznahme von Fiume durch Gabriele D’Annunzio und seinen Arditi und in Deutschland die Kämpfe der Freikorps im Baltikum und in Oberschlesien. Freilich seien die Ursachen der antisozialistischen Haltung beider Formationen unterschiedlich gewesen. In Italien war die Popularität der Sozialisten nach dem Krieg gewachsen, weil sie 1915 gegen den Kriegseintritt eingestellt waren und sich gegen die Kriegshetzer, die Interventionisten u. a. Benito Mussolini gestellt hatten. Dem stellten die Faschisten, viele aus den früheren Reihen der Interventio‐ nisten kommend, eine heroische Lebensphilosophie entgegen. Der Hass gegen alles

24 Bauer 1976b, S. 138.

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was links war, entlud sich gegen die Bewegung der Arbeiter ebenso wie gegen jene der rechtlosen Landarbeiter. In den Jahren 1919/1920 konnten die Arbeiter durch Fa‐ briksbesetzungen und die agrarischen Taglöhner durch Besetzungen der Latifundien der Großgrundbesitzer Lohnerhöhungen erzwingen. Jedoch währte diese Phase des sozialen Fortschritts nicht lang, denn bald, so Bauer, hätten die Großgrundbesitzer die Faschisten um Hilfe gerufen, die gnadenlos gegen das Landproletariat vorgegan‐ gen seien, ihre Führer ermordet und schließlich die Bewegung zerschmettert hätten. Ähnlich habe auch die städtische Bourgeoisie gehandelt um die Arbeiterschaft poli‐ tisch zu knebeln und den Forderungen des Kapitals zu unterwerfen. Freilich sei dies ein zweifelhafter Sieg über das industrielle wie ländliche Proletariat gewesen, denn der mit dem Geld der Kapitalisten und den Waffen der Armee herbeigeführte Erfolg der brutalen Schwarzhemden hätte die faschistische Miliz „zur Sammelstelle der De‐ klassierten aller Klassen“ gemacht. Diese Privatarmee sei aber schließlich so stark geworden, sodass ihre Entwaffnung wohl zu einem Aufstand des unterdrückten Pro‐ letariats geführt hätte. „Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit, in dessen Verlauf sich die Bourgeoisie der faschistischen Gewalthaufen bedient hatte, schien damit zu enden, daß der Gewalthaufen, nachdem sie das Proletariat niedergeworfen hatten, nun auch die Repräsentanten der Bourgeoisie aus dem Parlament und der Regierung davonjagen, auch die Bourgeois-Parteien auflösen, über die Klassen des Volks ihre Gewaltherrschaft aufrichten konnten.“25 Dies sei ähnlich geschehen wie es Karl Marx im 18. Brumaire geschildert habe, nämlich dass alle Klassen gleich machtund lautlos vor den Gewehrkolben niederknieten. Die Geschichte habe sich dann in Deutschland wiederholt und auch hier sei der Faschismus in der Phase der Geldentwertung von der Bourgeoisie und der Staatsge‐ walt gefördert worden. Die Junker hätten den aus dem Baltikum und Oberschlesien heimgekehrten Freikorps Unterkunft gewährt, die Schwerindustrie hätte die Wehr‐ verbände subventioniert und aus ihnen die Schwarze Reichswehr geformt. Vorerst hätte die Regierung die anwachsende völkische Bewegung dazu genützt, die Arbei‐ terbewegung einzuschüchtern, den Achtstundentag zu durchlöchern und die Arbei‐ terbewegungen in Sachsen und Thüringen abzusetzen. Erst im Zuge des so genann‐ ten Ruhrkampfes sei das Bündnis zwischen Kapital und dem frühen Faschismus zer‐ brochen. Die Bourgeoisie benötigte eine zivile Verständigungspolitik zur Einwer‐ bung ausländischen Kapitals und nutze die bürgerlichen Parteien um ihre Interessen durchzusetzen. Erst als mit der Krise bäuerliche und kleinbürgerliche Schichten ver‐ armten, hätten Großindustrie und das Junkertum wieder die Nationalsozialisten un‐ terstützt, um den Einfluss der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften zurück zu drängen und die Barrieren zur Steigerung des Profits nieder zu reißen. Die Regie‐ rung Brüning habe die Angst der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften vor der

25 Bauer 1976b, S. 144.

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wieder erstarkten NS-Bewegung dafür genützt, einer Deflationspolitik zuzustimmen und die Sturmtrupps hätten sich nützlich erwiesen, die Zustimmung der Arbeiteror‐ ganisationen zur Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiter zur erpres‐ sen. Nach Bauer seien weder die Kapitalistenklasse noch das Junkertum über Nacht faschistisch geworden, aber der Selbstläufigkeit der fanatischen NS-Sturmtrupps waren auch sie nicht gewachsen, denn deren Entwaffnung und Entmachtung hätte die Machtbalance wieder zu Gunsten der Arbeiterschaft verschoben. Stattdessen ent‐ schied man sich unter der Führung des Reichspräsidenten Hindenburg dazu, die Staatsmacht an Hitler zu übergeben. „Wie in Italien traten auch hier die die Reprä‐ sentanten der historischen bürgerlichen Parteien in die Regierung ein, glaubten sie auch hier, sich den Faschismus in der Regierung unterzuordnen und assimilieren zu können. Aber noch schneller als in Italien hat der deutsche Faschismus die einmal eroberte Staatsmacht benützt, die Parteien und Organisationen der Bourgeoisie auf‐ zulösen und seine totalitäre Diktatur zu etablieren. Auch hier schien der Klassen‐ kampf damit zu enden, daß die faschistischen Gewalthaufen ihre Herrschaft über al‐ le Klassen aufrichteten.“26 Es sei den Faschisten gelungen sich als Retter vor einem drohenden Bolschewismus darzustellen, Kleinbürger, Bauern und Intellektuelle mit diesem Schreckgespenst einzuschüchtern und so einen „Sieg“ auszurufen, der gar keiner gewesen sei. Denn das Proletariat sei schon längst geschwächt gewesen und in die Defensive gedrängt worden; von einer revolutionären Stimmung in der Arbei‐ terschaft konnte schon gar nicht mehr die Rede sein. So sei den Nationalsozialisten eine Blendung gelungen – was man als Kampf gegen eine drohende Revolution von links ausgegeben habe – hätte nur dazu geführt, die sozialen Errungenschaften des reformistischen Sozialismus zu zerschlagen. Aber einmal los gelassen, hätten sich, so Bauer, die faschistischen Banden zu Herrn über die Grundbesitzer und Kapitalis‐ ten aufgeschwungen, denn ihre Neutralisierung hätte bei der Bourgeoisie die Angst vor einer Revanche von links erweckt. Die faschistische Diktatur entsteht so als das Resultat eines eigentümlichen Gleichgewichts der politischen Kräfte, wie schon eingangs in Bezug auf Richard Saages bonapartistische Interpretation erwähnt. Auf der einen Seite steht eine Bour‐ geoisie, die zu schwach ist auf dem Boden der Demokratie ihre Profitinteressen hemmungslos durchzusetzen, aber sehr wohl die Mittel aufbringen kann, um eine gesetzlose Privatarmee auszurüsten und auf die Arbeiter zu hetzen. Auf der anderen Seite steht ein reformistischer Sozialismus, der die Zerstörung der sozialen Errun‐ genschaften für die Arbeiter verhindern will, aber zu schwach ist, sich der paramili‐ tärischen Gewalt zu widersetzen. Seine Schwäche aber lässt den reformistischen So‐ zialismus breiten Schichten von Kleinbürgern, bäuerlichen und proletarischen Mas‐ sen als eine Systempartei erscheinen, unfähig sie vor der Wucht der Wirtschaftskrise

26 Bauer 1976b, S. 146.

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zu schützen. „Das Resultat dieses Gleichgewichts der Kräfte oder vielmehr der Schwäche beider Klassen ist der Sieg des Faschismus, der die Arbeiterklasse im Dienste des Kapitalisten niederwirft, aber im Solde der Kapitalisten diesen so über den Kopf wächst, daß sie ihn schließlich zum unbeschränkten Herrn über das ganze Volk und damit auch über sich selbst machen müssen.“27 Für Bauer ist es kein Zufall, dass der Faschismus in Italien und Deutschland zu‐ erst gesiegt hat. In beiden Fällen sei es eine besondere nationalpolitische Konstellati‐ on gewesen, die dazu beigetragen hätte: In Italien die Logik des Klassenkampfes un‐ ter der Wirkung des Kampfes für und gegen das Eingreifen Italiens in den Weltkrieg. In Deutschland durch die Folgen der Niederlage im Krieg. Ein siegreicher Faschis‐ mus kann als Rollenmodell auch in anderen Ländern unter anderen Bedingungen nachgeahmt werden. Schließlich habe er vorgeführt, dass eine Bande wagemutiger Landsknechte die Arbeiterklasse besiegen könne und eine kapitalistisch-militaristi‐ sche Diktatur errichten kann. Österreich sei, freilich unter anderen Voraussetzungen, den Schritt der Nachahmung gegangen. Die klerikale, Österreich-patriotische, dem Anschluss an Deutschland feindlich gegenüber stehende Fraktion der Bourgeoisie habe Hitlers Machtergreifung dazu genützt, eine Diktatur zu errichten mit dem Ziel einen Zweifrontenkrieg zu führen: zum einen den Kampf gegen den anschwellenden deutsch-nationalistische Faschismus und zum anderen den Kampf zur gewaltsamen Zerschlagung der Sozialdemokratie. Diese Fraktion, also Dollfuß und die Heimweh‐ ren, hätten äußerlich die Methoden des Faschismus nachgeahmt und die faschisti‐ sche Ideologie mit dem klerikalen Katholizismus verknüpft, aber der Austrofaschis‐ mus sei nicht aus einer Massenbewegung hervorgegangen wie Italien und Deutsch‐ land, sondern sei als Artefakt geschaffen worden, dass die gesetzliche Staatsgewalt dem Volk übergestülpt hat. Neue Medien wie Rundfunk und Film sowie die neuen Waffentechniken können der Kapitalisten überall dazu benützen, um faschistische Bewegungen zu stärken und sie zur Errichtung einer Diktatur zu benützen, die sich dann ihrerseits des Staatsapparates bemächtigen wollen. Und so würden nun in allen Ländern faschistische Verbände darum ringen, sich an die Staatsmacht anzunähern, um dadurch die Alleinherrschaft an sich zu reißen. Bauer schätzt die Siegeschancen unterschiedlich ein – je nach Wirtschaftslage eines Landes und je nach Wertschät‐ zung der Demokratie und ihrer kulturellen Errungenschaften seitens der bürgerlichen Eliten. Aber im ökonomischen Krisenfall und bei einer Bedrohung der Profite und des Eigentums, werde die Bourgeoisie erst recht die Zuflucht in der Diktatur suchen. Zwar sei in Großbritannien und in den skandinavischen Ländern die Gefahr kleiner, aber in Frankreich bliebe die Gefahr eines erstarkten Faschismus lebendig und wenn er dort erst die Macht erringen würde, so könnte kaum eine kontinentale Demokratie seinem Angriff widerstehen. Bauers Schlussfolgerung ist eindeutig: der reformisti‐

27 Bauer 1976b, S. 149.

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sche Sozialismus, der mit friedlichen Mitteln die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung auf dem Boden der Demokratie anstrebt, hat sich als Illusion erwiesen. Hat die Arbeiterklasse „gehofft, durch Ausnützung der Demokratie eine sozialistische Gesellschaftsordnung erringen zu können, so muß sie jetzt erkennen, daß sie zuerst ihre eigene Herrschaft erkämpfen und durch sie eine sozialistische Ge‐ sellschaftsordnung aufbauen muß, ehe eine vollkommene und dauerhafte Demokra‐ tie möglich ist.“28 Daraus ergibt sich für ihn die Konzeption eines übergreifenden Sozialismus, der die Spaltung zwischen der kommunistischen und sozialistischen In‐ ternationale überwindet und im kommenden Krieg die Sowjetunion, dem erklärten Hauptziel von Hitlers militärisch-imperialistischer Politik , verteidigt und im Feuer des Krieges eine unzerstörbare Allianz mit den arbeitenden Massen der Sowjetunion schließt. Diese neue Utopie Bauers, auch wenn ein Krieg politische Rückschläge und Spaltungen der proletarischen Kräfte mit sich bringen könne, setzt darauf, dass die durch den Krieg ausgelösten revolutionären Umwälzungen die Arbeitermassen des Westens mit jenen des Ostens zusammenschweißen und im Gefolge als führende politische Klasse eine integral sozialistische Gesellschaft schaffen wird. Oder anders und prägnanter formuliert: „Hat der letzte große Krieg das Weltproletariat gespalten, so muß ein neuer Weltkrieg es einigen und damit den integralen Sozialismus ver‐ wirklichen.“29

Resümee Dass die geschichtliche Entwicklung einen ganz anderen Verlauf genommen hat, soll hier nicht Gegenstand der Erörterungen sein. Auch geht es nicht um Werturteile, inwieweit Bauer mannigfachen Illusionen über sich als politischer Entscheidungsträ‐ ger, die Partei und den internationalen Sozialismus erlegen ist oder nicht und es geht auch nicht um seine Einschätzung der Sowjetunion und die Frage, inwieweit er den Terror Stalins und seines Gewaltapparates willentlich verharmlost hat. Hier geht es vielmehr um die Frage, wie die Faschismustheorie Otto Bauers in den Jahren 1934 bis 1936 in Hinblick auf die aktuelle Debatte historisch-kritisch einzuordnen ist. Folgt man den eingangs zitierten Ausführungen von Arnd Bauernkämper zur geneti‐ schen Interpretation faschistischer Bewegungen und Richard Saages Analyse der Bauerschen Faschismuskonzeption als einer neuen Form der bonapartistischen Herr‐ schaft über alle Klassen, so kann man Otto Bauers Faschismusbegriff, der sich aller‐ dings immer wieder der veränderten politischen Lage anpasste30, durchaus eine ge‐ wisse Relevanz für die aktuelle Debatte zusprechen. 28 Bauer 1976b, S. 159. 29 Bauer 1976b, S. 315. 30 Vgl. dazu: Botz 1985, passim.

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Man kann dies auf Grund mehrerer analytischen Instrumente tun, die Bauer nütz‐ te, um die seit 1922 im raschen Aufstieg befindliche italienische Variante wie auch die spätere Machtergreifung Hitlers theoretisch und empirisch zu erfassen. Als einer der wenigen Zeitgenossen hat sich Bauer schon früh um eine vergleichende, länder‐ übergreifende Perspektive bemüht, um die verschiedenen Formen autoritärer, proto‐ faschistischer und faschistischer Bewegungen, die nach Ende des Ersten Weltkriegs entstanden sind, in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu erfassen. Er trägt auch der Entwicklungsdynamik der faschistischen Herrschaftsformen in Italien, Österreich und Deutschland Rechnung und zeichnet den Weg nach, der von den frü‐ hen rechtsgerichteten und rechtsradikalen paramilitärischen Bewegungen schließlich zu deren totalitären Staatsherrschaft geführt hat. Bauers früher Tod am 5. Juli 1938 hinderte ihn allerdings daran, jenes radikal rassistische und radikal antisemitische Moment des Nationalsozialismus zu erkennen, das in einen Vernichtungskrieg gegen als rassisch minderwertig eingestufte Völker und Ethnien in Osteuropa mündete, um schließlich im Massenmord an den Juden vollständig zu eskalieren. Jedoch früher als andere Theoretiker erkannte Bauer sehr wohl, dass die dirigierte Wirtschaft des NS-Regimes, d. h. die spezifische Form einer teils kapitalistischen, teils staatsge‐ lenkten Binnenökonomie mit strengen Außenhandels- und Devisenkontrollen un‐ weigerlich in eine Kriegswirtschaft und letztlich in einen maßlosen Wirtschaftsimpe‐ rialismus umschlagen musste, um die Fortführung eines Mehrfrontenkrieges über‐ haupt möglich zu machen. Ebenfalls erkannte er, dass sowohl eine monarchistische wie eine nationalfaschistische Option zur Stabilisierung des austro-faschistischen Ständestaates diesen auflösen bzw. zu Fall bringen und Kriege evozieren würde: ent‐ weder einen mitteleuropäischen Krieg im Zuge einer Restauration der Habsburger oder eben einen zweiten Weltkrieg. Gegen seine methodische Zugangsweise kann man natürlich zu recht einwenden, dass sie nicht primär wissenschaftlich, sondern politisch motiviert gewesen wäre, je‐ doch sollte nicht übersehen werden, dass Bauer sich historisch durchaus legitim auf den Standpunkt eines wissenschaftlichen Sozialismus stellen konnte. Und dies hieß eben mit dem historisch-kritischem Begriffsapparat von Marx und Engels eine um‐ fassende Untersuchung der Klassenherrschaft in industriell und technisch unter‐ schiedlich entwickelten Gesellschaften vorzunehmen, um deren emanzipatorischen Potenziale für die Arbeiterschaft und eine Demokratie ohne Klassenherrschaft auf‐ zuspüren. Ohne Zweifel beherbergen sein brillanter Sprachduktus, seine hoch diffe‐ renzierte Ausdrucksweise sowie seine dialektischen Exkurse, mit denen er scheinbar Unvereinbares auf einen gemeinsamen Nenner herunter brechen konnte, eine magi‐ sche Komponente, der man leicht erliegen und so seine Auslassungen, Einseitigkei‐ ten und Fehler übersehen kann. Wie auch immer kritisch man seinen Analysen des Faschismus gegenübersteht, übersehen sollte man nicht, dass er kein distanzierter Akademiker oder Angehöriger der „frei schwebenden Intelligenz“ war, sonder in

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einer Doppelrolle agierte, nämlich als politischer Führer und als Wissenschaftler. Zwei Denkfiguren lassen sich in den erwähnten Schriften Bauers ausmachen, die auch für die aktuelle Faschismusforschung noch heuristische Kraft und Relevanz ha‐ ben. Es ist dies erstens die Nähe seines Faschismusbegriffs zur genetischen Interpreta‐ tion, da er erkannte, dass der Erfolg des Mussolini-Faschismus eine Modell- und Vorbildfunktion für die Entstehung faschistischer oder faschistoider Bewegungen in anderen Ländern, nicht zuletzt in Österreich, hatte. Es ist dies die aus der zeitgenös‐ sischen Erfahrung heraus entstandene Einsicht, dass ohne Kenntnis der Ursachen der Duce-Diktatur eine Analyse ähnlicher Phänomene in anderen Ländern unmöglich ist. 31 Und es ist dies die Feststellung, dass der Faschismus nicht monokausal erklär‐ bar ist, sondern auf drei, ineinander verschlungene soziale Prozesse zurück zu führen ist: zum einen dessen Keimbildung durch deklassierte Weltkriegsteilnehmer, zum anderen die universelle Verelendung breiter Massen im Gefolge der Weltwirtschafts‐ krise, die gleichermaßen Arbeiter, Kleinbürger und Bauern erfasste und vor allem letztere in die Arme der Paramilitärs trieb, da sie sich von den ihren Parteien und der Demokratie völlig im Stich gelassen fühlten. Schließlich betont Bauer die Rolle der Bourgeoisie, die um ihre Profite besorgt, die faschistischen Milizen zur Zerschla‐ gung der Arbeiterbewegung anheuerten, diese so erstarken ließen, sodass ihr letzt‐ lich nichts anderes übrig blieb als ihnen die Macht im Staat zu überlassen. Es ist dies zweitens seine bonapartische Interpretation des Faschismus in der Tra‐ dition von Karl Marx, die Bauer erkennen ließ, dass im Österreich der 1920er Jahre ein „Gleichgewicht der Klassenkräfte“ herrschte, welches weder eine Hegemonie des bäuerlichen bzw. bürgerlichen Lagers, noch eine der Sozialdemokratie möglich machte. Er konnte damit sowohl auf die empirische Einsicht Bezug nehmen, das es unmöglich sei mit der Arbeiterschaft der großen Industriegebieten in Wien, Linz, Wiener Neustadt und der Obersteiermark gegen das agrarische Österreich, seine Bauern und seinen tief verwurzelten Katholizismus zu regieren. Zugleich aber bean‐ spruchte Bauers Gleichgewichtstheorie eine normativ-legitimatorische Funktion. Gemeint war damit „die Akzeptierung des parlamentarischen Systems und eines ge‐ waltlosen, durch Wahlen vermittelten Wechselspiels von Regierung und Opposition, verbunden mit der Möglichkeit einer Koalition auch mit bürgerlichen Parteien, ohne freilich das Ziel des demokratischen Sozialismus aus den Augen zu verlieren.“32 Diese frühe Version seiner Gleichgewichtstheorie half ihm schließlich 1936 zu er‐ kennen, dass bei einer synchronen Schwächung der Klassen, also einer Bourgeoisie, die ihre Profitinteresse im Wege des Parlaments nicht mehr durch setzen kann, und einer reformistischen Sozialdemokratie, die zu schwach ist, sich der faschistischen Marodeure und ihrer Angriffe auf die Arbeiterschaft zu erwehren, der Faschismus 31 Bauernkämper 2006, S. 39. 32 Saage 2007, S. 51.

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zum Zünglein an der Waage wird. Er nützt dann die ihm von der Bourgeoisie bereit‐ gestellten militärischen und finanziellen Mittel dazu, sich zur totalitären Macht über das ganze Volk aufzuschwingen, die Gewalt an sich zu reißen und einen Einheits‐ staat zu errichten, vor dem alle Klassen und sozialen Schichten sich zu beugen ha‐ ben. Diese parallele Niederwerfung von Großbürgern und Arbeitern, Kleinbürgern und Bauern ist freilich asymmetrisch, denn die Bourgeoisie profitiert sehr wohl von der Prosperität der neuen Staats- und Rüstungswirtschaft, währenddessen die Arbei‐ ter ihre Rechte verlieren und sich der politischen Gleichschaltung völlig unterwerfen müssen, da sie ansonsten mit Lagerhaft und Tod zu rechnen haben. Beide Denkfiguren Otto Bauers haben naturgemäß ihre historische Patina, da sie aus den politischen Kämpfen ihrer Epoche entstanden sind, nichtsdestoweniger kön‐ nen sie forschungsanleitend für historische Projekte sein, die faschistische Bewegun‐ gen komparatistisch und ihren einzelnen sozialen, ökonomischen, ideologischen, kulturellen und politischen Dimensionen präzise erschließen wollen. Insbesondere sein bonapartismustheoretischer Ansatz eignet sich für länderspezifische Fallstudien, die die jeweiligen ökonomischen, sozialen und kulturellen Besonderheiten und die Weise, wie das Modell des italienischen Faschismus übernommen bzw. variiert wur‐ de, analysieren. Damit kann man von monokausalen Erklärungen der Entstehung fa‐ schistischer Bewegungen Abstand nehmen, die dazu tendieren einzelne Faktoren, seien dies ideologische, kulturelle, soziale oder ökonomische über zu bewerten.

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Maderthaner, Wolfgang, 2004: Legitimationsmuster des Austrofaschismus. In: Maier, Mi‐ chaela/ Maderthaner, Wolfgang (Hrsg.), 2004: „Der Führer bin ich selbst“. Engelbert Dol‐ lfuß – Benito Mussolini Briefwechsel, Wien, S. 129-157. Mommsen, Hans, 1981: Hitlers Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. In: Hirschfeld, Gerhard/ Kettenacker, Lothar (Hrsg.), 1981: Der „Führerstaat“: Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, Stuttgart, S. 43 – 69. Mosse, George, 1990: Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the World Wars, Oxford. Saage, Richard, 2007: Faschismus. Konzeptionen und historische Kontexte. Eine Einführung, Wiesbaden. Trotzki, Leo, 1929: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Berlin.

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Günther Sandner Der Austromarxismus und die Wiener Moderne

1. Wie modern war der Austromarxismus? Als „Wiener Moderne“ bezeichnen wir üblicherweise die Kultur im Wien der Jahr‐ hundertwende. Doch wie modern war die Hauptstadt der Doppelmonarchie tatsäch‐ lich? Carl Schorske beschrieb in seinem berühmten Buch über das Wien des Fin de Siècle die Welt von Klimt und Kokoschka, von Schönberg, Freud, Schnitzler und Hofmannsthal, eine von Ästhetizismus geprägte Moderne,1 die vor allem die so ge‐ nannte Hochkultur zwischen 1890 und 1910 umfasste.2 In diesen Bereichen war die kulturelle und vor allem auch künstlerische Szene Wiens zweifellos stilbildend, in‐ novativ, ja europaweit führend. Aber hinkte die Stadt in anderen Bereichen der Mo‐ dernisierung nicht auch hinterher? Es sei, so heißt es in einer groß angelegten Be‐ standsaufnahme zum Thema, „der Vergleich der schöpferischen Kraft wissenschaft‐ licher und künstlerischer Auseinandersetzungen mit der destruktiven Energie politi‐ scher Kämpfe“, der die Ambivalenz der Wiener Moderne auszeichne.3 Im Wien der Jahrhundertwende triumphierten nicht nur Wissenschaft und Kunst, Zukunftsopti‐ mismus und Fortschritt, sondern auch Antisemitismus, Irrationalismus und Kultur‐ pessimismus. Handelte es sich im Falle Wiens also um eine gespaltene Moderne, in der einerseits eng mit der Moderne verbundene, sozial und politisch emanzipatori‐ sche Projekte im Gefolge von Liberalismus und Aufklärung nur schwach verankert waren, während andererseits das Geistesleben und die Ästhetik modern waren? Wie so oft, hängt auch hier vieles am Begriffsverständnis. Wenn wir Moderne umfassend begreifen, dann gehören neben der ästhetischen Moderne die rasante Entwicklung industrieller Technologien, die Wissenschaft und der auf dieser basierende Fort‐ schritt genauso dazu wie etwa fortschrittliche Sozialgesetze, die Etablierung des all‐ gemeinen Wahlrechts und die sich herausbildenden Massenparteien. „Versteht man die ästhetische, die technologische und die soziokulturelle Sphäre als gleichberech‐ tigte Bestandteile von ‚Moderne’, dann findet der Austromarxismus seinen Platz in der ‚Wiener Moderne’“, schreibt, ganz in diesem Sinne, Alfred Pfabigan.4 Worin aber bestand nun eine mögliche austromarxistische Modernität? Der Austromarxis‐ 1 2 3 4

Vgl. Schorske 1982. So auch Wunberg 1981. Nautz/Vahrenkamp 1993, S. 23. Pfabigan 2000, S. 102-103.

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mus stand dem Gedanken des Fortschritts, der politischen Veränderung und gesell‐ schaftlichen Erneuerung, jedenfalls positiv gegenüber. In den austromarxistischen Diskursen spielten moderne Kunst und Ästhetik allerdings nur eine untergeordnete Rolle, während der kulturelle Bereich in einem weiteren Sinne und hier insbesonde‐ re Bildung, Erziehung und Wissenschaft von zentraler Bedeutung waren. Denn der Austromarxismus war eng verwoben mit dem Phänomen einer spezifisch österrei‐ chischen „Spätaufklärung“,5 und insofern bedeutete für ihn Modernisierung auch eine Art nachholende Entwicklung, die das als rückschrittlich empfundene Öster‐ reich vollziehen musste. Wie die Wiener Moderne entstand auch der Austromarxismus im Wien der Jahr‐ hundertwende. Folgt man einem Artikel Otto Bauers,6 dann sind zwei unterschiedli‐ che Bedeutungsebenen des Begriffs zu unterscheiden: „Austromarxismus“ habe man, so schrieb Bauer 1927 anonym in der Arbeiter-Zeitung, erstmals vom amerika‐ nischen Sozialisten Louis Boudin gehört. Er bezeichnete ein Phänomen, das junge Studenten wie Karl Renner, Max Adler, Rudolf Hilferding, Gustav Eckstein, Otto Bauer und Friedrich Adler vor dem Ersten Weltkrieg geprägt hätten. „Waren Marx und Engels von Hegel, waren die späteren Marxisten vom Materialismus ausgegan‐ gen, so sind die jüngeren ‚Austromarxisten’ teils von Kant, teils von Mach her ge‐ kommen“, so Bauer. Zudem, so schreibt er weiter, hätten sich die Austromarxisten auch mit der österreichischen Schule der Nationalökonomie befasst. Tatsächlich sa‐ ßen in den Seminaren der Grenznutzentheoretiker Friedrich von Wieser oder Eugen von Böhm-Bawerk viele junge Studierende, die später für die Entwicklung des Aus‐ tromarxismus bedeutend wurden – mitunter übrigens gemeinsam mit Vordenkern des Neoliberalismus wie insbesondere Ludwig von Mises.7 Worin bestand nun das spezifisch Österreichische? Austromarxismus hätte vor allem, so wiederum Bauer, die Anwendung der marxistischen Theorie auf österreichische Besonderheiten be‐ deutet, z.B. auf die überaus virulente Nationalitätenfrage.8 Tatsächlich sind die dies‐ bezüglichen Arbeiten Karl Renners und Otto Bauers in diesem Zusammenhang als herausragende und einflussreiche Beispiele austromarxistischer historisch-politi‐ scher Analysen zu nennen.9 Nach dem Krieg aber, so Bauer weiter, wäre diese Be‐ deutung des Austromarxismus als quasi wissenschaftliche Schule verloren gegan‐ gen. Austromarxismus bedeutete nun vor allem den Erhalt der Einheit der Arbeiter‐ klasse, der in Österreich im Gegensatz zu vielen anderen Ländern auch gelang. Ge‐ rade der Einheitsgedanke, der schon unter Victor Adler enorm wichtig war, festigte nun die Theorie des Austromarxismus und dieser Einheitsgedanke fand auch Aus‐ 5 Vgl. Stadler 1981, S. 441-473. 6 Bauer 1927, S. 1-2. 7 Zur Auseinandersetzung zwischen Otto Bauer und Böhm-Bawerk in dessen Seminar siehe von Mises 1978, S. 23-24. 8 Vgl. insbesondere Bauer 1907 und Renner 1899, 1902 und 1918. 9 Vgl. Sandner 2002, 2005a und 2005b.

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druck in Bauers späterer Theorie des integralen Sozialismus. In Österreich hätten so‐ wohl „nüchterne Realpolitik“ als auch „revolutionärer Enthusiasmus“ ihren Platz in nur einer Partei gefunden. Daher sei der Austromarxismus „heute“ (also 1927, G.S.) die ideale „Synthese“ dieser beiden Elemente, also letztlich „nichts anderes als die Ideologie der Einheit der Arbeiterbewegung“.10 Fasst man diese beiden Bedeutun‐ gen des Austromarxismus zusammen, dann lässt er sich auch zeitlich eingrenzen. Entwicklung und Wirkung des Austromarxismus erstrecken sich demzufolge von der Jahrhundertwende bis zum Februar 1934. Im Gegensatz zu frühen Ansätzen wie insbesondere jenem Norbert Lesers11 muss der Austromarxismus heute allerdings als ein breit gefächertes politisch-kulturelles Phänomen begriffen werden, das eben nicht nur das theoretische und programmatische Denken führender Funktionäre oder Parteiintellektueller umfasste.12 Diskutiert man über den Austromarxismus, dann ist es wichtig, jene zahlreichen intellektuellen Strömungen mit einzubeziehen, die sein „Umfeld“ gebildet haben.13 In diesem Zusammenhang ist auch auf die analytische Unterscheidung zwischen einem politischen und einem wissenschaftlichen Aus‐ tromarxismus zu unterscheiden, der insbesondere im Hinblick auf das Rote Wien noch von einem Austromarxismus als Lebensweise ergänzt wurde.14 Wie stand nun ein so definierter Austromarxismus zur Wiener Moderne? Waren die Austromarxisten selbst Modernisten, die nicht nur mittels Aufklärung und De‐ mokratisierung traditionelle Herrschaftsformen überwinden wollten, sondern auch Sachlichkeit und Funktionalität gegen Ornament und Tradition ins Treffen führten, die für ein neues Bauen, eine neue Musik, eine neue Literatur eintraten, kurz: die das vertraten, was wir heute als die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts ansehen? Ha‐ ben austromarxistische Intellektuelle zwischen der ästhetischen Moderne und dem wissenschaftlichen Marxismus vermittelt, haben sie als austromarxistische Erzieher im Rahmen eines pädagogischen Projektes der Arbeiterschaft Brücken zur kulturel‐ len Moderne gebaut? Und wie hing der austromarxistische Zugang zur Moderne mit seiner politischen Theorie, mit seiner Staats- und Machttheorie zusammen? Drei Themenfelder aus dem „Überbau“ werden im Folgenden herausgegriffen, um das Verhältnis des Austromarxismus zur Wiener Moderne exemplarisch zu dis‐ kutieren: Erstens der Bereich von Wissenschaft und Bildung, zweitens die Architek‐ tur und drittens, aus dem künstlerischen Bereich im engeren Sinne, Musik und Lite‐ ratur. Dabei konzentriere ich mich auf das innerhalb Österreichs mit einer Sonderrol‐ le ausgestattete Rote Wien, wo eine Art „Sozialismus in einer Stadt“ verwirklicht werden sollte. Denn besonders Wien, das mit dem Inkrafttreten der Bundesverfas‐ 10 11 12 13

Bauer 1927, S. 2. Leser 1968. Sandner 2006, insbesondere S. 25-29. Glaser 1981. Zu Definition und Reichweite des Begriffs Austromarxismus siehe auch Sandner 2008, S. 212-213. 14 Mozetič 1987, S. 2-3.

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sung von 1920 zu einem eigenen österreichischen Bundesland wurde und damit über größere budgetpolitische Spielräume verfügte (insbesondere über eigene Steuerein‐ nahmen), war der Ort, an dem die austromarxistische Theorie in praktische Politik umgesetzt werden sollte.

2. Bildung und Wissenschaft Der Austromarxismus war eine ausgesprochen wissenschaftsaffine Bewegung. Viele Austromarxisten waren selbst wissenschaftlich ausgebildet und aktiv, das reichte vom Rechtstheoretiker Karl Renner über den Historiker Otto Bauer bis hin zum Phy‐ siker Friedrich Adler. Ein dogmatisch festgelegter, allgemein verbindlicher erkennt‐ nistheoretischer Ansatz folgte daraus aber nur bedingt. Neben einer am Physiker und Wissenschaftshistoriker Ernst Mach geschulten Richtung (Neopositivismus oder Empiriokritizismus),15 für die in der Parteispitze vor allem der erwähnte Friedrich Adler stand, gab es auch eine neukantianische Fraktion, die insbesondere der Sozial‐ philosoph und führende Parteitheoretiker Max Adler repräsentierte. Die „Machisten“ forderten vor allem den Anschluss der Politik an die moderne (Natur-) Wissenschaft, eine „wissenschaftliche Weltauffassung“,16 die über den akademischen Bereich hi‐ naus alle sozialen und politischen Bereiche erfassen sollte. Der Metaphysik und re‐ aktionären Politik wurde so ein modernes, explizit aufklärerisch orientiertes Modell entgegengesetzt. Der Neukantianer Max Adler plädierte für eine Erziehung der Ar‐ beiter zu „Neuen Menschen“, mit denen die künftige sozialistische Gesellschaft vor‐ bereitet und auch schon ein stückweit im Hier und Jetzt antizipiert werden sollte.17 Diesem Erziehungspostulat mit idealistischen Zügen vermochten sich die Machianer nicht anzuschließen. Darin aber, dass Bildung und moderne Wissenschaft von zen‐ traler politischer Bedeutung waren, trafen sich die verschiedenen austromarxisti‐ schen Ansätze. Angesichts der erkenntnis- und auch politiktheoretischen Heteroge‐ nität war dies – neben der Verpflichtung auf den integralen Sozialismus – auch ein wichtiger theoretischer Kitt. Diese betont wissenschaftliche Orientierung des Austromarxismus war jedoch mit dem weitgehenden Ausschluss der austromarxistischen Intellektuellen aus der uni‐ versitären Wissenschaft verbunden. Antisemitismus und Antimarxismus, nicht selten im Verbund, waren dafür der entscheidende Grund. So gibt es nur sehr wenige Bei‐ spiele für die Präsenz austromarxistischen Denkens an den Universitäten. Zu erwäh‐ nen wäre Carl Grünberg, eine Art Vaterfigur des Austromarxismus,18 zu dessen 15 Vgl. dazu die Kritik von Lenin 1927. 16 So der Titel des Manifests des Wiener Kreises, in dem ein „linker Flügel“ mit engen Verbin‐ dungen zur Sozialdemokratie existierte. Siehe dazu Stadler/Uebel 2012. 17 Vgl. Adler 1924. 18 Vgl. Nenning 1983.

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Schülern viele bekannte Sozialdemokraten zählten. Grünberg erhielt 1912 seinen Lehrstuhl nur gegen beträchtliche Widerstände und bekam eine seiner nationalöko‐ nomischen Venia entsprechende Professur erst in der Republik, kurz bevor er zum ersten Direktor des legendären Frankfurter Instituts für Sozialforschung bestellt wur‐ de.19 Als Begründer und Herausgeber des „Archivs für die Geschichte des Sozialis‐ mus und der Arbeiterbewegung“ war er zwar eine wichtige Figur im deutschsprachi‐ gen Sozialismus, er kann aber nur mit Einschränkungen als Repräsentant des Aus‐ tromarxismus bezeichnet werden. Der vielleicht einzige „wirkliche“ Austromarxist, der an der Wiener Universität lehrte, war der Sozialphilosoph Max Adler.20 Der Schüler Grünbergs erhielt zwar die erste venia für Gesellschaftslehre, seine ordentli‐ chen Professur verhinderte 1926 aber die „Deutsche Gemeinschaft“, eine antisemiti‐ sche, reaktionäre pressure group.21 Zahlreich sind hingegen die austromarxistischen Gelehrten, die an den Volkshochschulen, sowie in der Arbeiter- und der Gewerk‐ schaftsbildung unterrichteten. Zum Lehrkörper der ab 1925 existierenden austromar‐ xistischen Gegenuniversität, der Arbeiterhochschule, zählten etwa Otto und Helene Bauer, Max Adler und Friedrich Adler, Karl Renner oder auch Otto Neurath.22 Die austromarxistische Lehre und Forschung war also ein überwiegend außeruniversitä‐ res Phänomen23. Dass die Sozialdemokratie in Wien ihre pädagogischen Vorstell‐ ungen (Abbau von autoritären Erziehungsmustern und religiösem Bekenntniszwang, Arbeitsunterricht, Eintreten für die Einheitsschule etc.) vor allem auch im Schulbe‐ reich realisierte, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Für den Austromarxismus versprach die neue Zeit eine Welt, in der sich Wissen‐ schaft und Arbeiterschaft vereinten. Dieser Zukunftsoptimismus war untrennbar mit dem Selbstverständnis der Sozialdemokratie als Kulturbewegung verbunden. Wis‐ senschaft und Bildung erschienen als wirkungsmächtige Instrumente der gesell‐ schaftlichen Transformation. Auch wenn der Kulturbegriff sehr häufig am klassi‐ schen, bürgerlichen Erbe orientiert war, um dessen Aneignung für und durch die Ar‐ beiterschaft es vielfach ging, lag in der Idee, dass nicht nur eine Elite, sondern auch die Masse, also einfache und gewöhnliche Menschen, unumschränkten Zugang zu Kultur und Bildung erhalten sollten, ein ausgesprochen modernes Moment.

3. Wohnbau – Architektur Neben Bildung und Gesundheit war der Wohnbau jenes Politikfeld, das der sozialde‐ mokratischen Stadt- und Landesregierung weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten 19 20 21 22 23

Stamm 2009, S. 92-98. Vgl. Pfabigan 1982. Stadler 1979, S. 52. Vgl. Weidenholzer 1981, S. 146-156. Sandner 2006, S. 285-294.

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bot. Die genauen Konturen des kommunalen Wohnbauprogramms kristallisierten sich im Laufe der Jahre nach dem Krieg erst heraus. Gegen Ende des Ersten Welt‐ kriegs erstarkte in der Peripherie Wiens eine Siedlerbewegung, die einem Kleingar‐ tenmodell folgte und nicht zuletzt auf die Nahrungs- und Wohnungsmisere im Nach‐ kriegsösterreich reagierte. Sie war keinesfalls eine genuin sozialdemokratische Be‐ wegung, sondern hatte Selbsthilfecharakter und beherbergte recht unterschiedliche politische Orientierungen.24 Schließlich wurde der Siedlerverband aber in die Sozi‐ aldemokratie integriert, wozu nicht zuletzt der umtriebige Otto Neurath beitrug.25 Doch auch aufgrund praktischer Notwendigkeiten – die Stadt Wien hatte aus ver‐ schiedenen Gründen nur wenige legale Möglichkeiten, die ihr zur Verfügung stehen‐ den Bauflächen zu erweitern – wandte sich das Wiener Wohnbauprogramm bald vom Siedlungsgedanken ab. Mit Hilfe der so genannten Breitner-Steuern – genauge‐ nommen eine Initiative, die vom Parteisekretär und langjährigen Landtagspräsiden‐ ten Robert Danneberg gemeinsam mit dem später legendären Wiener Finanzstadtrat Hugo Breitner konzipiert wurde26 – wurden keine Kleingartensiedlungen mehr er‐ richtet, sondern zigtausende Arbeiterwohnungen in beeindruckend dimensionierten Gemeindebauten. Das dafür maßgebliche Finanzierungsmodell basierte im Wesentli‐ chen auf einer zweckgebundenen und sozial gestaffelten Besteuerung der Mieten (es mussten also Mieter von Arbeiterwohnungen am wenigsten bezahlen), flankiert durch andere Steuern, wie zum Beispiel einer Luxussteuer. Ab 1923 setzte auf dieser Basis ein gewaltiges Bauprogramm ein, das in weniger als 15 Jahren äußerst effizi‐ ent umgesetzt wurde. Insgesamt errichtete die Gemeinde Wien in rund 15 Jahren fast 400 Wohnanlagen, die oft mehrere hundert Einzelwohnungen beinhalteten. Zwi‐ schen 1923 und 1933 entstanden so etwa 64.000 neuen Wohnungen, größtenteils für Arbeiterfamilien.27 Inwiefern war nun dieses Wohnbauprogramm modern? Das Rote Wien, schreibt dazu Eve Blau, nahm in der „Geschichte der modernen europäischen Architektur“ der Zwischenkriegszeit „eine Schlüsselstellung ein“.28 Zweifellos handelte es sich um eine bemerkenswerte städtebauliche Entwicklung, die eng mit politischen und sozialen Zielsetzungen verwoben war. Aber entsprach dem emanzipatorischen An‐ spruch des Wohnbaus auch eine emanzipatorische, moderne Architektur? Das war wohl nur zum Teil der Fall. Insgesamt wurde ein dritter Weg zwischen Modernismus und Tradition eingeschlagen, bei dem es den Rückgriff auf überlieferte architektoni‐ sche Formen genauso gab wie vieles, das in die Zukunft wies. Hervorzuheben ist et‐ wa, dass Ende der 1920er Jahre nur mehr 30% der Grünfläche verbaut werden durf‐ ten (im dicht besiedelten Gebiet 40%) und die großen Gemeindebauten über Innen‐ 24 25 26 27 28

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Zur Siedlerbewegung vgl. Hoffmann 1987; Frei 1991; Novy/Förster 1991. Sandner 2014, S. 165-176. Fritz 2000. Blau 1999, S. 206. Blau 1999, S. 205. Vgl. auch Blau 1999.

höfe verfügten, die de facto parkähnliche Grünanlagen waren. Darüber hinaus gab es in den Gemeindebauten zahlreiche Gemeinschaftseinrichtungen wie Kindergärten oder Bibliotheken. Die Wohnungen waren zwar klein – im Vergleich zu den bis da‐ hin üblichen Arbeiterwohnungen waren sie aber ein riesengroßer Fortschritt: Es gab direkt belichtete Räume mit Vorzimmer, Klo und Wasser innen, einen Abstellraum, ein Keller- und Bodenabteil, eine für alle benutzbare Waschküche mit Trockenbo‐ den, gemeinschaftliche Badegelegenheiten und vieles mehr. Wenn die Abkehr von traditionellen Lebensformen ein Kriterium für die Moderne ist, dann war dies ohne Zweifel höchst modern. Stilistisch sind die Bauten freilich nicht eindeutig einzuord‐ nen. Das lag auch daran, dass die insgesamt beteiligten rund 190 Architekten – dar‐ unter auch international renommierte – nicht unbeträchtlichen Gestaltungsspielraum bei ihren Projekten hatten und kein gestalterischer Gesamtplan existierte. Über das Verhältnis der Arbeiterbewegung zur Architektur wurde immer wieder debattiert. Für den erwähnten Otto Neurath, führendes Mitglied im legendären „Wie‐ ner Kreis“ und damals Direktor des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums, das Ar‐ beiterbildung mit Hilfe einer eigens entwickelten Bildstatistik betrieb, sollten die Architekten vor allem als „Exekutivorgane des Massenwillens“ agieren. An deren Stelle würden aber immer häufiger „jene ewigen Erzieher ‚neuer Menschen‘“ treten, die sich vor allem darüber beklagten, dass die Menschen nicht den von den Erzie‐ hern vorgegebenen Idealen folgten. Moderne Architektur könne aber nicht einfach verordnet werden, sondern es müssten die Bedürfnisse der Menschen ernst genom‐ men werden. Neurath polemisierte, dass die Architektur eben keine „neuen Men‐ schen“ schaffen und einfach die verachtete Kleinbürgerlichkeit im Geschmack be‐ seitigen könne.29 Diesen hier von Neurath kritisierten Anspruch der Formung der Menschen durch Architektur gab es tatsächlich. Die neu gebauten Wohnanlagen sollten ein Gemeinschaftsleben ermöglichen, von dem der konservative politische Gegner annahm, dass es vor allem der Zerstörung der traditionellen Familie diente. Nach außen sollten die teils gewaltigen Bauten die Macht der Arbeiterbewegung symbolisieren. Der berühmte Karl-Marx-Hof im bürgerlichen Heiligenstadt (Dö‐ bling) war sicherlich ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Generell verwies die Na‐ mensgebung zumeist auf die Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung: Bau‐ ten, Höfe und Plätze trugen die Namen von Ferdinand Lassalle, Friedrich Engels, Victor Adler und vieler anderer historischer Arbeiterführer. Gänzlich neuartige Bauformen, die tatsächlich massiven Einfluss auf das Alltags‐ leben hatten – etwa auch auf das Verhältnis Mann und Frau – blieben freilich die Ausnahme. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang das Einküchenhaus „Heim‐ hof“,30 in dem es eine Zentralküche gab, in der für alle Bewohner gekocht wurde, sowie auch einen gemeinsamen Speisesaal. Nicht die Hausfrauen, sondern Hausbe‐ 29 Neurath 1932, S. 229. 30 Blau 1999, S. 213; Gruber 1991, S. 51-52.

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dienstete hielten die Wohnungen in dem von einer Genossenschaft getragenen Haus in Ordnung. Das Projekt hatte zwar eher experimentellen Charakter, wies aber in vielerlei Hinsicht bereits weit in die Zukunft. Eine eindeutige Verbindung zwischen der Sozialdemokratie und modernem Bauen gab es im Umfeld des Austromarxis‐ mus, im Zusammenhang mit Parteiintellektuellen wie Otto Neurath und dem be‐ rühmten Architekten Josef Frank. Neurath und Frank arbeiteten mit dem Bauhaus in Dessau zusammen, sie waren beide auch im österreichischen Werkbund und der ös‐ terreichischen Werkbundsiedlung 1932 aktiv und wirkten als österreichische Vertre‐ ter bei der CIAM (Congrès International d’Architecture Moderne) mit.31

4. Musik und Literatur Verfolgt man die Debatten im sozialdemokratischen Theorieorgan „Der Kampf“, dann wird rasch deutlich, dass es keine einheitliche austromarxistische Kunsttheorie gab. Neben der Betonung des kulturellen Erbes und dem Gedanken an eine „Verede‐ lung“ des Arbeiters durch Kunst existierte auch der Ansatz einer nicht (nur?) formal, sondern auch inhaltlich revolutionären Kunst wie sie etwa in den Chören bei Maifei‐ ern oder bei der legendären zweiten Arbeiter-Olympiade 1931 in Wien zum Aus‐ druck kam. Bei ihrer Eröffnungsfeier fand eine von mehreren tausend Menschen ge‐ spielte Geschichtsrevue vom Feudalismus bis zum Fall des Kapitals statt, die mit einem gemeinsamen, feierlichen Absingen der Internationale zu einem erbaulichen Abschluss geführt wurde. Das Spektakel wurde viermal im überfüllten, zuvor neu errichteten Wiener Praterstadion vor insgesamt 260.000 Zuschauern gezeigt.32 Unter dem Aspekt Arbeiterbewegung und künstlerische Moderne sind besonders die Arbeiter-Symphoniekonzerte interessant. Sie wurden erstmals im Dezember 1905 veranstaltet, unter der Leitung von David Josef Bach (1874-1947), einem An‐ hänger und Schüler von Ernst Mach. Bach war der Gründer dieser bis 1934 stattfin‐ denden Veranstaltungsreihe und wirkte auch als Bindeglied der Arbeiterbewegung zur Musik von Mahler, Webern und Schönberg, mit dem er auch befreundet war. Er war kulturell und kulturpolitisch in zahllosen Bereichen geradezu als Multifunktio‐ när aktiv. 33 Das von ihm geprägte Programm der Arbeiter-Symphoniekonzerte war zwar zunächst stark am klassischen Erbe orientiert, doch insbesondere in der Ersten Republik kam auch die Moderne zur Aufführung. Das Bindeglied für Bach war ein positiv konnotiertes Konzept der „Volkstümlichkeit“, das Kunst und Volk miteinan‐ der verbinden sollte.34 Die Konzerte spielten eine wichtige Rolle für die „Auseinan‐ 31 32 33 34

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Blau 2006; Galison 1990. Gruber 1991, S. 109-113. Glanz 2006, S. 186-187. Glanz 2006, S. 188-190.

dersetzung mit der Neuen Musik in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren“ im Wiener Musikleben. Sie verfolgten aber auch das Ziel „einer aktiven Partizipation der Arbeiter (…) durch die Einbeziehung von Arbeiterchören“.35 Als Dirigent wirkte häufig Anton von Webern, der die Freie Typographia, den Gesangsverein der Buch‐ drucker und Schriftsetzer Wiens, leitete. Bei reduziertem Eintritt für Arbeiter wur‐ den zuerst im Musikvereinssaal und später im neu erbauten Konzerthaus zahlreiche Symphonien Gustav Mahlers gespielt, es kam aber auch zur Aufführung von Werken Schönbergs, Eislers und Kreneks,36 und in diesem Zusammenhang auch zu einer ganzen Reihe von Uraufführungen.37 Auch in der Literatur gab es im Roten Wien Manifestationen einer ästhetischen Moderne wie etwa an der am Berliner Vorbild orientierte Wiener Volksbühne, ja selbst Ansätze einer Agitprop-Bewegung, wie sie zur selben Zeit in Deutschland im Umfeld der KPD verbreiteter war, existierten hier vereinzelt.38 Ein breiter Kunstund vor allem Kulturbegriff schloss die Förderung der Moderne mit ein, war aber nicht per se modernistisch. Wichtiger als die Kunstproduktion war für den Aus‐ tromarxismus die Steuerung des Kunst- und Kulturkonsums der Arbeiterschaft. Ein wirksames Instrument dafür sollten die in der ganzen Stadt vorhandenen Bibliothe‐ ken sein, immerhin galt Wien als „Welthauptstadt der Arbeiterbüchereien“.39 Die Arbeiterschaft zum Lesen „guter Bücher“ und schließlich zum Studium wissen‐ schaftlicher und sozialistischer Werke hinzuführen, war ein ganz entscheidender Im‐ puls gerade auch der Politik der Bildungszentrale unter Josef Luitpold Stern. Die Kehrseite von diesen wohlmeinenden Bemühungen war die vehemente Ablehnung aller „bürgerlichen“, „dekadenten“, „trivialen“ und „minderwertigen“ Vergnügungs‐ literatur. Erinnert sei nur an den Kampf, den Parteiintellektuelle wie Stern und Glö‐ ckel gegen die als minderwertig erachtete Literatur von Karl May führten, die aus den Arbeiterbüchereien verschwinden musste.40 Welche Autoren wurden hingegen empfohlen? Gerne gesehen waren neben den von den Arbeitererziehern favorisierten aber nur sehr wenig entliehenen und noch seltener gelesenen sozialwissenschaftli‐ chen Werken vor allem die Bücher sozialrealistischer Schriftsteller aus dem anglo‐ amerikanischen Raum. B. Traven, Upton Sinclair oder Jack London wurden – neben deutschsprachigen Autoren wie Stefan Zweig oder Jakob Wassermann – auch tat‐ sächlich gerne gelesen.41 Kontroversen um eine spezifisch marxistische Ästhetik, wie sie in Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren etwa rund um Bert Brecht oder Georg Lukács (als dessen Gegenpol) stattfanden, gab es innerhalb der grund‐ 35 36 37 38 39 40 41

Seidl 1989, S. 144. Siehe dazu die Dokumentation in Seidl 1989, S. 177-223. Seidl 1989, S. 174-175 (FN 103). Pfoser 1980, S. 60-64. Pfoser 1980, S. 103. Pfoser 1980, S. 137-141; Gruber 1991, S. 93-96. Gruber 1991, S. 95.

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sätzlich diskutierfreudigen und theorieaffinen österreichischen Sozialdemokratie hingegen nicht. Auch wenn zwischen Intellektuellen wie David Josef Bach, der trotz seiner Brückenbauerfunktion zur Moderne über weite Strecken an einem klassischen Kunstideal festhielt, und jungen Linken wie insbesondere Ernst Fischer recht gegen‐ sätzliche Auffassungen existierten – in eine breite politikästhetische Debatte münde‐ ten sie nicht.42

5. Modernisierung zwischen Avantgarde und Massenbewegung Der Austromarxismus trat schon im Wien der Jahrhundertwende als Modernisie‐ rungskraft mit dem Anspruch auf politische, soziale und kulturelle Veränderung auf. Zumindest Teile dieses Anspruchs konnten im Roten Wien der Zwischenkriegszeit auch eingelöst werden. Die Schnittpunkte des Austromarxismus mit der so genann‐ ten Wiener Moderne blieben jedoch gering. Eine grundlegend erneuerte, demokrati‐ sierte und egalisierte Bildung und Kultur, die gleichzeitig den aktuellen Stand mo‐ derner Wissenschaftlichkeit reflektierte und somit auf der Höhe ihrer Zeit agierte, war ein Kernpunkt des austromarxistischen Programms. Bei der Frage nach den Be‐ dingungen der Erringung der Macht im Staat kam immer wieder auch die dafür not‐ wendige kulturellen Hegemonie ins Bild, freilich ohne so bezeichnet zu werden.43 Zwischen der Elite der Parteiintellektuellen und der Masse der Arbeiter existierte ein nur schwer aufzulösender Widerspruch. Gab es in der Organisation der Sozialde‐ mokratie und in der Theorie des Austromarxismus tatsächlich ein Bündnis zwischen Arbeiterschaft und Intelligenz? Oder nicht vielmehr einen Gegensatz zwischen Füh‐ rungselite und Masse, der durch den Paternalismus der Erzieher nur noch verstärkt wurde? Wiederholt ist dem Austromarxismus der Vorwurf gemacht worden, Fragen der Kultur, Bildung und Wissenschaft überhöht und letztlich zu einem Ersatz für re‐ volutionäres, politisches Handeln gemacht zu haben. Mit ihren strikten erzieheri‐ schen Vorgaben und elitären Positionen, so die Kritik, hätten die austromarxistischen Erzieher die Lebensrealität der Arbeiterschaft gar nicht erreicht.44 Wurde also die Macht von Bildung und Erziehung, die Bedeutung einer proletarischen Sub- oder Gegenkultur überschätzt? War der kulturelle Aktivismus lediglich Ersatz für die po‐ litische Macht, die außerhalb der Hauptstadt der Republik, außerhalb des Roten Wien, für die Sozialdemokratie nicht zu erreichen war? Verfolgte der Austromarxis‐ mus das illusorische Projekt einer kulturellen Modernisierung innerhalb politischer Strukturen, die letztlich vom „Klassenfeind“ dominiert wurden? 42 Pfoser 1980, S. 264. 43 Vgl. dazu die Bücher von Albers 1979, 1983 und 1985, in denen Parallelen der Hegemonie‐ theorien Otto Bauers und Antonio Gramscis diskutiert werden. Vgl. auch Sandner 2001, S. 160-162. 44 In diesem Sinne argumentieren vor allem Rabinbach 1989 und Gruber 1991.

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Die vom Austromarxismus anvisierte kulturelle Macht basierte auf ideologischer Schulung und politischer Erziehung, auf Gegenkultur und Parteiorganisation. Die Entwicklung neuer künstlerischer Formen und Stile spielte dabei nur eine sehr gerin‐ ge Rolle. Sie war auch nicht nötig, um als „modern“ zu erscheinen. Denn in einer politischen Landschaft, die von reaktionär-klerikalen und rassistisch-deutschnationa‐ len Kräften entscheidend geprägt war, suchte das moderne Denken beinahe alterna‐ tivlos das politische Bündnis mit der Sozialdemokratie. Dies zeigt etwa die betont „unpolitisch“ formulierte öffentliche Wahlempfehlung der Kulturschaffenden für die Wiener Wahlen im April 1927 („Kundgebung des geistigen Wien“), deren Unter‐ zeichnerliste – von Robert Musil über Sigmund Freud und Anton Webern bis hin zu Hans Kelsen und Oskar Strnad – einen repräsentativen Querschnitt durch die Wiener Moderne der Zwischenkriegszeit bildete.45 Mit diesem Bündnis aus Austromarxis‐ mus und Moderne räumte schon bald der reaktionäre Antimodernismus des Austro‐ faschismus entschlossen auf. Bereits 1933/34, nicht erst 1938, endeten beide Projek‐ te: der Austromarxismus und die Wiener Moderne. Zumindest in Österreich. Die moderne europäische Kultur der Zwischenkriegszeit fand, in gewisser Weise, in den Ländern der Emigration der Künstler und Intellektuellen eine Fortsetzung. Anders verhielt es sich mit dem Austromarxismus, der noch für einige Jahre in den sozialis‐ tischen Exilorganisationen weiterlebte. Nach 1945 hatte er aber keinen nennenswer‐ ten Einfluss mehr auf die Nachkriegspolitik in Österreich. Die linke, häufig jüdische Intelligenz, die den Austromarxismus prägte, kam nur in wenigen Ausnahmefällen in ihre alte Heimat zurück.

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45 Bauer 1927, S. 1.

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Ridvan Ciftci „Von den Österreichern lernen!“ – Der Einfluss des Austromarxismus auf die Parteilinke der Weimarer Sozialdemokratie

1. Einleitung Der Einfluss des Austromarxismus auf die sozialdemokratische Linke der Weimarer Zeit war in den 1970er- und 1980er-Jahren ein beliebter Untersuchungsgegenstand vieler wissenschaftlicher Arbeiten im Spektrum linker Sozialdemokraten und der bundesrepublikanischen Linken. Als Zwischenkriegstheorie erfreute die Wiederent‐ deckung des Austromarxismus viele Theorieinteressierte, die auf der Suche nach einem „dritten Weg“ zwischen dogmatischem Sowjetmarxismus und pragmatischem Sozialreformismus waren. Fern des alten marxistischen Traditionalismus schien die‐ ser eine taugliche demokratisch-sozialistische Transformationsstrategie für Westeu‐ ropa zu sein. Zugleich rückte die Weimarer Parteilinke um Paul Levi, Max Adler und Max Seydewitz in den Vordergrund innerverbandlicher Diskussionen marxisti‐ scher Jungsozialisten in Deutschland. In deren zahlreichen Arbeiten hofften diese, wertvolle Anstöße für eine neue Sozialismus-Diskussion zu gewinnen. Der vorliegende Aufsatz setzt sich mit der historischen Entwicklung und der theoretischen Ausrichtung der Parteilinken der Weimarer SPD auseinander und eru‐ iert anhand zentraler politischer Debatten die Einflussnahme austromarxistischen Denkens sowie die Wirkung austromarxistischer Persönlichkeiten. Dabei wird zu‐ nächst die Entwicklung der Parteilinken bis 1925 dargestellt, um daran anschließend auf die Rezeption des Linzer Programms der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAPÖ) überzugehen. Hieran anknüpfend wird die Rolle Max Adlers als Spiritus Rector des marxistischen Flügels der Jungsozialisten erläutert. Abschlie‐ ßend wird die Rezeption Otto Bauers in der Debatte zur Großen Koalition 1928 und seine Intervention in der Wehrfrage untersucht.

2. Historische Entwicklung und theoretische Orientierung der Parteilinken bis 1925 Weite Teile linker Sozialdemokraten konstituierten ihr Selbstverständnis auf der marxschen Klassentheorie und einem materialistischen Geschichtsverständnis. Die gesellschaftliche Entwicklung unterliege ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und ver‐ laufe in vorgezeichneten Bahnen. Zugleich produziere sie gesellschaftliche Antago‐

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nismen in Form von sozialen Klassen, denen das Hervorbringen gegensätzlicher In‐ teressen immanent sei. Klassenauseinandersetzungen und die objektiven Bewe‐ gungsgesetze des Kapitals (Konzentration, Zentralisation und Krisenhaftigkeit) wer‐ den als Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung verstanden, an deren Ende eine neue Gesellschaftsformation stehe. Der Sozialismus war somit eine geschichtli‐ che Notwendigkeit, auf die sich alle gesellschaftlichen Kräfte hinentwickelten. Die marxsche Klassentheorie diente der Parteilinken oftmals als rhetorisches Ge‐ staltungsmittel zur vereinfachten Darstellung gesellschaftlicher Probleme in Form von zugespitzten Gegensatzpaaren: So wurde die Klassengesellschaft der Volksge‐ meinschaft, Klassenpolitik der Koalitionspolitik und der internationale Klassen‐ kampf dem Nationalismus entgegengesetzt.1 Es verwundert nicht, dass die ab 1927 erscheinende und ab 1928 als zentrales Theorieorgan der Parteilinken geltende Zeit‐ schrift mit „Der Klassenkampf“ betitel wurde.2 Ein solch dichotomisches Gesell‐ schaftsverständnis, in der nur die Eigentums- und Kapitalverhältnisse Berücksichti‐ gung fanden, zog sich wie ein roter Faden bis 1931 durch das Theorieverständnis der Parteilinken.3 Mit der Wiedervereinigung von USPD und MSPD Ende 1922 nahm die Bildung eines neuen linken Flügels – der linke MSPDler und USPDler vereinte – erste Kon‐ turen an. Beschleunigt wurde dies durch die ausnahmslose Eingliederung linkssozi‐ aldemokratischer USPD-Bezirke in die bestehenden Strukturen der MSPD. So domi‐ nierte in Sachsen und Thüringen bis in die 1930er-Jahre hinein der linke Flügel, der sich in allen Parteigliederungen auf eine starke ex-USPD-Basis stützen konnte. Auch in den Städten Frankfurt a. M., Hagen und Berlin war eine linkssozialdemo‐ kratische Orientierung zu erkennen.4 Durch diesen Zusammenschluss kam sogleich die theoretische Diskussion über das bisherige Staatsverständnis der MSPD in Be‐ wegung, welches aufgrund mangelnder klassenpolitischer Orientierung als unkri‐ tisch und formalistisch bewertet wurde. Der Kampf für eine klassenpolitische Orien‐ tierung war bis 1931 Dreh- und Angelpunkt der neuen Parteilinken. Die Ruhrbesetzung im Januar 1923 durch Frankreich und Belgien, die eine Welle an nationaler Begeisterung innerhalb der Bevölkerung erzeugte und vor der auch Gliederungen der SPD nicht gefeit waren5, führte zur Koordination der Parteilinken auf Reichsebene, insbesondere zu einem Treffen linker Reichstagsabgeordneter. Zu‐ vor war aus den linken Landesverbänden Sachsen und Thüringen die Forderung 1 2 3 4

Vgl. Klenke 1989, S. 16 f. Näheres zur Geschichte der Zeitschrift „Der Klassenkampf“ siehe Scholle, 2008, S. 48 ff. Vgl. Klenke 1989, S. 23. Näheres zur Entwicklung des linken Flügels aus zeitgenössischer Quelle ist in der Leipziger Volkszeitung (LVZ) nachzulesen: Die Opposition, 1. Geschichtliches (LVZ v. 24.01.1924); Die Opposition, 2. Der 14. November und seine Folgen (LVZ v. 28.1.1924); Die Opposition, 3. Aus‐ breitung und Entwicklung (LVZ v. 5.02.1924). 5 Siehe hierzu die Ausführungen zu den Jungsozialisten in der Weimarer Republik, in: Scholle/ Schwarz/Ciftci 2014, S. 24 ff.

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nach einem klassenpolitisch motivierten Kampf gegen die Ruhrbesetzung und die klare Ablehnung des von der bürgerlichen Reichsregierung Cuno – bestehend aus Zentrum, Deutsche Demokratische Partei (DDP), Deutsche Volkspartei (DVP) und Bayerischer Volkspartei (BVP) – propagierten passiven Widerstands zu vernehmen.6 Ein Treffen, an der 30 linksorientierte Reichstagsabgeordnete teilnahmen, fand am 29. Juli 1923 im Rahmen einer Konferenz zur Ruhrfrage und zu den Folgen sozial‐ demokratischer Tolerierungspolitik bürgerlicher Reichsregierungen statt. Organisiert und Einberufen wurde sie vom Juristen und ehemaligen KPD-Vorsitzenden Paul Le‐ vi. Auf diesen undogmatischen und scharfsinnigen Denker der Parteilinken ist eben‐ falls die erste Bestrebung zu einer reichsweiten Koordinierung der Parteilinken zu‐ rückzuführen. Seine ab 1923 herausgegebene Zeitschrift „Sozialistische Politik und Wirtschaft“ war bis zur Fusion mit dem „Klassenkampf“ 1928 das wichtigste über‐ regionale Theorieorgan der Parteilinken.7 Die Konferenz endete mit einem Be‐ schluss, der ein Ende der Tolerierungspolitik der Reichsregierung Cuno durch die SPD vorsah.8 Innerhalb der wiedervereinigten SPD wurden ab 1924 Stimmen lauter, die ein neues Parteiprogramm einforderten. Es sollte dem äußerst unbeliebten und als refor‐ mistisch gekanzelten Görlitzer Programm folgen und die theoretische Orientierung des linken und des rechten Flügels widerspiegeln. Die Parteilinke beteiligte sich ak‐ tiv an der Programmdiskussion und kritisierte entscheidende Punkte des ersten Ent‐ wurfs. Max Seydewitz, linker Reichstagsabgeordneter und Chefredakteur des Säch‐ sischen Volksblatts, beanstandete die Offenheit des Entwurfs in Fragen der Koaliti‐ onspolitik mit bürgerlichen Parteien, die nach seiner Auffassung zu einer Schwä‐ chung der eigenen Werbekraft unter der proletarischen Anhängerschaft führen wer‐ de. Besonders die zwingende Kompromissbereitschaft werde die Unterscheidbarkeit zwischen der SPD und den bürgerlichen Parteien verwischen.9 Paul Levi kritisierte den evolutionären Tenor des Entwicklungsprozesses hin zur sozialistischen Zu‐ kunftsgesellschaft und forderte eine stärkere Rückbesinnung zum Klassenkampf und zum revolutionären Kampf.10 Als Referent der Programmkommission ging Rudolf Hilferding, Parteivorstandsmitglied und führender Theoretiker der Weimarer SPD, in seiner Rede zum endgültigen Programmentwurf auf dem Heidelberger Parteitag nicht auf die innerparteiliche Kritik von links ein. Vielmehr zeichnete er ein ökono‐ mistisch verengtes Modell einer sozialistischen Zukunftsgesellschaft.11 Getreu seiner

6

Siehe hierzu: Die nationalistische Welle (LVZ v. 23.1.1923); Man muß verhandeln (LVZ v. 9.2.1923); Dolchstoßlegende gefällig (LVZ v. 12.2.1923). 7 Näheres hierzu in Scholle 2008a, S. 46 ff. 8 Levi 1923. 9 Vgl. Seydewitz 1925. 10 Levi 1925. 11 Protokoll über die Verhandlung des SPD-Parteitages in Heidelberg 1925 (13. – 18. September 1925), S. 272 ff.

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Theorie des „organisierten Kapitalismus“ dränge die Konzentrations- und Zentrali‐ sierungstendenzen des Kapitals verstärkt in Richtung Sozialismus, weil sie schritt‐ weise das Konkurrenzverhältnis aufhebe und eine Tendenz zur Monopolisierung und Planung des Wirtschaftens hervortreten lasse. Der Sozialdemokratie verbleibe folg‐ lich die Aufgabe, die immer stärker schrumpfende Kapitalistenklasse bei Erlangung der parlamentarischen Mehrheit zu entmachten und ihr die Verfügungsgewalt zu ent‐ ziehen. Folglich reduziert sich der Sozialismus in dieser „hilferdingschen Lesart“ zu einer „ökonomischen Gesetzmäßigkeit“. Der politischen Strategie lag mit der Forde‐ rung der Inbesitznahmen und Auswechslung der Figuren auf den Kommandohöhen der Wirtschaft ein mechanistisches Verständnis von Basis und Überbau zugrunde. Der Programmentwurf der Kommission wurde mit großer Mehrheit auf dem Heidel‐ berger Parteitag verabschiedet.

3. Die Rezeption des Linzer Programms der SDAPÖ Das Linzer Programm der SDAPÖ wurde nach langer und intensiver Diskussion 1926 beschlossen und verabschiedet. Es gilt als das „Manifest des Austromarxis‐ mus“ und ist zugleich eines der umstrittensten Programme der Arbeiterbewegung in der Zwischenkriegszeit.12 Unter der Führung des Parteivorsitzenden Otto Bauer be‐ mühte sich die SDAPÖ mit dem Programm einen Ausgleich zwischen den beiden wichtigen Strömungen der Arbeiterbewegung – dem Bolschewismus und dem Re‐ formismus – zu schaffen, um so eine Art „dritten Weg“ aufzuzeigen. Dieser sollte lebendig, revolutionär und zugleich realistisch sein.13 Linz sollte der österreichi‐ schen Arbeiterbewegung den Weg zur Eroberung der Staatsmacht ebnen. Der Kampf um diese ist besonders vor dem Hintergrund der russischen Oktoberrevolution von 1917 das Herzstück des Programms. Die Rezeption des Linzer Programms fiel innerhalb der deutschen Parteilinken recht ambivalent aus. Zu konstatieren ist eine von Teilen der Linken euphorisch be‐ grüßte und bis in die 1930er-Jahre hinein gefeierte Programmschrift. Nicht zu über‐ hören war aber eine mit bissiger Rhetorik bestückte und als „reformistisch“ gebrand‐ markte Kritik. Otto Jenssen, langjähriger Leiter der sozialistischen Heimvolkshochschule Tinz (nähe Gera) und bekannter Parteilinker, veröffentlichte 1927 ein in der sozialdemo‐ kratischen Bildungsarbeit viel beachteten Kommentar zum Programm. Mit „Was lehrt uns Linz?“ stellte Jenssen den Versuch auf, die kontrovers geführten Debatten zum Programmentwurf der Österreicher für die theoretische Ausrichtung der Wei‐ marer SPD dienlich zu machen. So plädierte er im Sinne des Programms, den 12 Vgl. Feichter 1974, S. 235 ff. 13 Ebd.

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Kampf um die Staatsmacht im Rahmen der politischen Demokratie zu führen, die zugleich als Herrschaftsform die optimale sozialpädagogische Möglichkeit zur Er‐ ziehung der Massen biete.14 Ebenfalls zeige das Programm in der kommunalen, na‐ tionalen und internationalen Politik sowie in der Kulturpolitik eine Synthese von Theorie und Praxis auf, die in Deutschland seit Jahren verkannt werde.15 Für die Weimarer Jungsozialisten war das Linzer Programm eine klare Alternati‐ ve zur koalitionsfreundlichen Programmatik des Heidelberger Programms der SPD. So stellte der linke Leipziger Reichstagsabgeordnete Georg Engelbert Graf anhand zweier Zitate auf dem Titelblatt der Aprilausgabe 1930 der Zeitschrift „Jungsozialis‐ tische Blätter“ beide Programme gegenüber. Wo das Heidelberger Programm von „immer milder werdenden Formen des proletarischen Klassenkampfs“ sprach, attes‐ tierte das Linzer Programm der Bourgeoisie eine Neigung zum Faschismus und sprach ihr die freiwillige Räumung von Machtstellungen ab.16 Die klassenkämpferi‐ sche Auseinandersetzung mit dem Bürgertum war nach der Analyse des Linzer Pro‐ gramms unumgänglich. Für die Parteilinke war dieser Standpunkt eine exzellente Schützenhilfe für die oftmals von ihr bekundete Ablehnung bürgerlich-sozialdemo‐ kratischer Koalitionen. Siegfried Marck, außerordentlicher Professor für Philosophie und Soziologie an der Breslauer Universität und bekennender Gegner sozialdemo‐ kratischer Koalitionspolitik, lobte in seiner Schrift „Reformismus und Radikalis‐ mus“ – veröffentlicht in der Jungsozialistischen Schriftenreihe – das Linzer Pro‐ gramm für die Überwindung der „Krise des Marxismus“, welches er in der Kluft zwischen Theorie und Praxis, Revolution und Reform sowie Demokratie und Sozia‐ lismus ortete.17 Aber auch die Kritiker des Programms meldeten sich zu Wort: Arkadij Gurland, marxistischer Querkopf und seinerzeit Redaktionsvolontär bei der Leipziger Volks‐ zeitung, bemängelte die Darstellung der Übergangsphase zur sozialistischen Gesell‐ schaft im fünften Abschnitt des Linzer Programms. Demnach kranke gerade dieser Abschnitt an einer Überschätzung der bloßen Staatsform und der blinden Orientie‐ rung an der bürgerlichen Demokratie, die zu folgenschweren Fehlanalysen in strate‐ gischen Fragen für die Arbeiterbewegung führen werde.18 In seiner später veröffent‐ lichten Dissertation „Marxismus und Diktatur“ nimmt er wieder Bezug auf diese Übergangsphase und bemängelt, dass ohne eines Ausschlusses des Bürgertums von der Verfügungsgewalt über die gesellschaftliche Produktion, es zu keinem Übergang zur sozialistischen Gesellschaft kommen könne.19 Er plädiert vielmehr für die kon‐ sequente Umsetzung der proletarischen Herrschaft in Form der Diktatur des Proleta‐ 14 15 16 17 18 19

Jenssen 1927, S. 24. Ebd. Jungsozialistische Blätter, 4/1930. Vgl. Marck 1927, S. 46. Gurland, LVZ vom 18.09.1926. Vgl. Gurland, 1930, S. 96.

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riats, die er nicht als eine Einschränkung oder Abschaffung der politischen Demo‐ kratie verstand, sondern als „Ausbreitung der demokratischen Organisationsformen in größtem Umfang, die Förderung ihres Eindringens in alle gesellschaftlichen Funktionskomplexe, die unter der Diktatur der Bourgeoisie autokratisch oder büro‐ kratisch organisiert gewesen“ sind.20 Paul Levi hielt sich ebenfalls mit seiner Kritik nicht zurück. Levi stieß sich be‐ reits im Rahmen des Programmentwurfs an einem – seines Erachtens nach – peinli‐ chen Widerspruch: Im Entwurf wurde die Kooperation mit dem Bürgertum zur Ab‐ wehr einer faschistischen Bedrohung als adäquates Mittel dargestellt. Zuvor wurde dem Bürgertum jedoch im Abschnitt „Der Kampf um die Staatsmacht“ eine klare Neigung zum Faschismus unterstellt. Wie sich in diesem Rahmen eine Zusammenar‐ beit ausgestalten solle, blieb für Levi berechtigterweise offen.21 Ähnlich wie Gur‐ land kritisierte Levi ebenso die „leichtfertige Orientierung“ an der parlamentarischdemokratischen Verfassungsordnung, die als ideale Form des Übergangs zum Sozia‐ lismus verstanden wurde. In einer weitsichtigen Anmerkung zum Programm konsta‐ tierte Levi, dass die Gewährung bürgerlicher Freiheiten nach der Eroberung der Staatsgewalt durch die Arbeiterklasse, die zivilgesellschaftliche Verankerung des Bürgertums in Presse, Kultur und den Bildungseinrichtungen nicht durchbrechen werde. Es drohe bei einer solchen Gewährung eine Unterlaufung der politischen Staatsmacht des Proletariats.22 Zusammenfassend ist trotz der intellektuell sehr anspruchsvollen Kritik Gurlands und Levis eine positive Rezeption des Programms innerhalb der Linken festzustel‐ len. Linz bot für die Parteilinke mit seinem Koalitionsskeptizismus und seiner klas‐ senkämpferischen Orientierung das notwendige theoretische Rüstzeug, um gegen die als reformistisch und klassenversöhnerisch gebrandmarkte Politik der SPD argu‐ mentativ vorzugehen.

4. Max Adler und die Weimarer Jungsozialisten Max Adler, Rechtsanwalt und außerordentlicher Professor für Soziologie und Sozi‐ alphilosophie an der Universität Wien, war einer der bedeutendsten Repräsentanten des linken Flügels der SDAPÖ. In Kreisen der deutschen Parteilinken war er ab 1925 wegen seiner rhetorischen Fähigkeiten und seiner scharfzüngigen Argumenta‐ tionsweise ein sehr beliebter Redner auf Partei- und Bildungsveranstaltungen. Be‐ sonders marxistische Jungsozialisten bezogen sich seit 1924 wesentlich auf Adlers Staats- und Gesellschaftsauffassung. Im marxistisch orientierten „Hannoveraner 20 Ebd., S. 105. 21 Vgl. Levi 1926. 22 Levi 1926a.

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Kreis“ der Weimarer Jungsozialisten stieg er schnell zum Spiritus Rector auf. Seine Schriften boten das nötige theoretische Rüstzeug, um gegen die bis 1925 vorherr‐ schenden und von der bürgerlichen Jugendbewegung beeinflussten Strömung der „Hofgeismarer“ Jungsozialisten zu agieren. Zentrale These der adlerschen Philosophie23 war die Negierung des „historischen Materialismus“ als Bestandteil einer materialistischen Philosophie. Hierbei stützte sich Adler auf Immanuel Kant, der – in Adlers Interpretation – das Erfassen des wahren Wesens des „Dings an sich“ mittels menschlicher Erkenntnis bezweifelte, in‐ dem er auf die Grenzen hinwies, die den Kategorien unseres Denkens durch Struktu‐ ren unseres Bewusstseins gezogen sind. Demgemäß definierte Adler seine Philoso‐ phie als „kritische Bewusstseinslehre“ und verneinte eine organische Bindung zwi‐ schen philosophischem und „historischem“ Materialismus. Der „historische“ Mate‐ rialismus sei in Wirklichkeit kein richtiger Materialismus, sondern eine „erfahrungs‐ gemäß ökonomische Gesellschaftswissenschaft“.24 Das so falsch verstandene „mate‐ rialistische Element“ in der damaligen Marx-Rezeption beeinträchtige und verdunk‐ le die aktivistische Seite des Marxismus und führe zu einem Immobilismus, der sich mit einem Abwarten auf den „sozialistischen Endsieg“ begnüge und sich auf die „objektiv-kausale Gesetzmäßigkeit“ der Geschichte verlasse. Um kein Opfer einer fatalistischen Vulgarisierung zu werden, müsse innerhalb der sozialistischen Bewe‐ gung das subjektive Element stärker betont werden.25 Seine wohl wichtigste und bedeutendste Rede hielt Adler 1925 auf der Jenaer Reichskonferenz der Weimarer Jungsozialisten zum Thema „Staat, Nation und Sozi‐ aldemokratie“. Die Jungsozialisten vom Hannoveraner Kreis nominierten Max Ad‐ ler als ihren programmatischen Redner und die Hofgeismarer den Staats- und Ver‐ fassungsrechtler Hermann Heller. Interessanterweise beriefen sich beide Redner in ihrem Verständnis von Staat und Nation auf Otto Bauer, dem Cheftheoretiker des austromarxistischen Zentrums. Heller begann mit seinen Ausführungen und trug mit einer starken Bezugnahme auf die Schriften Bauers und Marx’ seine Positionen zum Weimarer Staat vor. Für Heller war der Staat ein souveräner Gebietsherrschaftsverband, der die gesellschaft‐ lichen Handlungen auf einem bestimmten Gebiet garantiere und ordne. Er verwarf das marxsche Theorem vom Absterben des Staates und betonte, dass jede komplexe Gesellschaft auf eine ordnende und leitende Autorität angewiesen sei. Den Klassen‐ charakter des Weimarer Staates stellte auch Heller nicht in Frage, jedoch griff er auf Vorstellungen Otto Bauers zurück und betonte, dass die demokratische Republik ein bedeutender Schritt hin zur sozialistischen Republik sein werde.26 23 24 25 26

Siehe hierzu Adler 1924; Adler 1925. Vgl. Merchav S. 35 f. Ebd. Scholle/Schwarz/Ciftci 2014, S. 34.

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Max Adler konterte in seinem Korreferat scharf und kritisierte, dass Hellers Staatstheorie beim formalen Verständnis des Staates als Zwangsordnung des gesell‐ schaftlichen Lebens ende. Entscheidend für eine marxistische Perspektive sei jedoch vielmehr die Frage, welchen Charakter dieser „Staat“ innerhalb des jeweiligen öko‐ nomischen Systems besitze und wem er diene. Denn die alleinige Feststellung, dass dieser eine Zwangsorganisation sei, sage noch nichts über die innere Ausgestaltung der Herrschaftsverhältnisse aus. Der Staat im soziologischen Sinne berücksichtige die historisch-konkrete Gestalt der Zwangsorganisation, hinterfrage die Herrschafts‐ verhältnisse sowie den jeweiligen Charakter der Staatsform. Die sozialistische Be‐ wegung habe daher die Aufgabe, mittels der marxschen Theorie die materielle Sub‐ stanz dieser Zwangsorganisation zu analysieren, um festzustellen, ob es sich um einen Klassenstaat handle.27 Adler stellte dabei zwei Arten von Zwangsordnungen fest: eine solidarische und eine unsolidarische. In unsolidarischen Gesellschaften, in denen ein Teil der Gesellschaft die Herrschaft über die anderen ausübe, existiere im‐ mer ein Klassenstaat. Das Ziel der sozialistischen Bewegung sei folglich die Beseiti‐ gung des Klassenstaates – also die Transformation der unsolidarischen hin zur soli‐ darischen Gesellschaft. Dies bedeute nicht die Auflösung des Staates als Zwangsor‐ ganisation, sondern vielmehr die Abschaffung des Klassenstaates. Der Staat werde als Zwangsorganisation beibehalten, nur sein Klassencharakter entfalle.28 Für Adler war Hellers Staatsverständnis zu unkritisch. Heller negiere die prinzipielle Differenz zwischen Proletariat und bürgerlichem Staat und gehe von einer Interessensgemein‐ schaft der Staats- und Volksgemeinschaft aus. Dieser Gedanke werde nach Adler in‐ nerhalb des rechten Flügels der Sozialdemokratie stark vertreten und biete bürgerli‐ chen Kräften ein Einfallstor für Volksgemeinschaftsrhetorik und Deutschtümelei.29 Die rednerische Begabung Adlers und der bissige Spott, den er Heller in einem oberlehrerhaften Duktus entgegenbrachte, faszinierte die Delegierten und beeinfluss‐ te das Abstimmungsverhalten vieler Jungsozialisten. In der anschließenden Resoluti‐ on, die die Ablehnung der platten und romantisierenden Staatsapotheose der Hof‐ geismarer beinhaltete, fand sich auch das spezifische Verständnis von Demokratie der Parteilinken wieder: „Die heutige Demokratie [gemeint ist die politische Demo‐ kratie, Anm. d. Verf.], die sich nur auf die Gleichwertigkeit des Stimmzettels stützt, [lässt] die […] ökonomische Ungleichheit der Menschen unberücksichtigt [und wird] als raffiniertes Kampfmittel des Bürgertums mißbraucht, [um] die Klassenge‐ gensätze zu verschleiern.“30

27 28 29 30

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Ebd., S. 34 f. Ebd. Vgl. Dritte Reichskonferenz der Jungsozialisten, 1925, S. 15 f. Ebd., S. 31 f. Siehe ebenfalls: Adler, 1925a.

5. Mit Otto Bauer gegen die Große Koalition 1928 Otto Bauer als zentrale Figur der SDAPÖ war mit seiner zentristischen Orientierung im Austromarxismus für viele Parteilinke der wichtigste Kronzeuge gegen eine als unkritisch empfundene Koalitionspolitik des Parteivorstands der SPD. Weite Teile der Parteilinken sahen in der Oppositionspolitik die einzig gängige Form der politi‐ schen Mitarbeit innerhalb der bürgerlichen Demokratie. Einerseits sollte eine ent‐ schlossene Interessenvertretung der Arbeiterklasse in den Parlamenten gewährleistet werden. Andererseits erhoffte man sich, viele sozialdemokratische Wähler nach ge‐ scheiterten Koalitionsexperimenten wiederzugewinnen.31 Die SPD beteiligte sich ab dem Scheitern des Kabinetts Stresemann Ende 1923 an keiner Regierungskoalition und befand sich bis 1928 in der Opposition. Bereits auf dem Kieler Parteitag im Mai 1927 war von Seiten des Parteivorstands und des rech‐ ten Flügels zu hören, dass sich die SPD bei den kommenden Reichstagswahlen 1928 gegenüber einer Koalition mit bürgerlichen Parteien nicht verschließen solle. Rudolf Hilferding stimmte in seiner Parteitagsrede von 1927 zum „organisierten Kapitalis‐ mus“ und einer von ihm verfassten Beschlussvorlage die Parteitagsmehrheit auf eine künftige Koalitionspolitik ein. Demnach bringe die Monopolisierung und Kartelli‐ sierung des Wirtschaftens eine planmäßig gelenkte Wirtschaftsordnung hervor, deren Kommandohöhen die Sozialdemokratie in den Grenzen des demokratischen Staates zu erobern habe, um sie anschließend einer Vergesellschaftung zu unterziehen.32 Dies gelinge nur, wenn die SPD einer Koalition mit bürgerlichen Kräften aufge‐ schlossen sei. Die Parteilinke reagierte prompt und forderte in ihren Publikationsorganen staats‐ politische Verpflichtungen beiseitezulegen und vielmehr die Klasseninteressen der Arbeiter zu verteidigen.33 So verwies der „Klassenkampf“ Anfang 1928 auf einen Artikel Bauers im Parteiorgan der SDAPÖ aus dem Jahre 1927, wonach die bisheri‐ ge Koalitionspolitik der SPD nicht dazu geführt habe, den bürgerlichen Gewaltappa‐ rat zu schwächen – im Gegenteil sei er viel mächtiger und effektiver geworden. Für die breite Arbeitermasse ergebe sich daher eine Mitverantwortlichkeit der SPD am Wiederaufbau der bürgerlichen Ordnung nach 1919. Das Ergebnis einer solchen Po‐ litik sei die Spaltung der Arbeiterklasse in eine kommunistische und in eine sozialis‐ tische Bewegung. Im Vergleich dazu habe die siebenjährige Oppositionspolitik der SDAPÖ zu einer deutlichen Stärkung der Partei geführt und eine Spaltung verhin‐ dert.34

31 32 33 34

Vgl. Storm/Walter S. 42. Hilferding 1927, S. 165-184. Vgl. Storm/ Walter 1984, S. 44. Bauer 1927, S. 445.

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Aber schon die Reichstagswahlen im Mai 1928 bescherten der SPD einen Wahl‐ sieg mit 29,8% der Stimmen. Als sich die Zeichen auf eine Koalition mit den bür‐ gerlichen Parteien verdichteten, veröffentlichte der Klassenkampf in der Juni-Ausga‐ be einen Auszug aus der Schrift „Die österreichische Revolution“, worin Bauer schreibt: „Aber wenn Sozialdemokraten in eine Koalitions- oder Konzentrationsre‐ gierung eintreten, ohne in dieser Regierung wirkliche Macht üben, wirksam der Ar‐ beiterklasse dienen zu können, dann erschüttern sie nur das Vertrauen der Arbeiter‐ massen zur Sozialdemokratie, zerstören sie damit nur die Klassenorganisation des Proletariats, auf der seine Macht beruht. Wir dürfen keine Koalitionspolitik treiben, wie sie […] zeitweilig auch die reichsdeutsche Sozialdemokratie getrieben hat: eine Politik, in der die Koalition nur die Unterordnung der Sozialdemokratie unter ein tatsächlich bourgeoises Herrschaftssystem bedeutet.“35 Für Bauer käme eine Koaliti‐ on mit bürgerlichen Kräften dann infrage, wenn ein sogenanntes „Klassengleichge‐ wicht“ zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie bestünde und die Sozialdemokratie somit wirkliche Macht in Form von Zugeständnissen abringen könne. Ein solches Verständnis von Koalitionspolitik sei kein Verzicht auf den Klassenkampf, sondern vielmehr sein Resultat als Ausdruck eines zeitweiligen realen Machtverhältnisses zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie.36 Die Kritik der Parteilinken beeindruckte die Parteimehrheit kaum und so kam es Anfang Juli 1928 zum sogenannten „Kabinett der Persönlichkeiten“, an der die be‐ teiligten Fraktionen – SPD, DDP, BVP, Zentrum und DVP – ihr Recht auf Oppositi‐ on trotz Aufstellung von Ministern beibehielten. Unter diesen erschwerten Umstän‐ den brach die SPD mit einem entscheidenden Wahlversprechen: Noch während des Wahlkampfs warben KPD und SPD energisch unter der Parole „Kinderspeisung statt Panzerkreuzer“ gegen die Bewilligung der ersten Rate zum Bau des Panzerkreuzers A. Als das neue Kabinett im Amt war, stimmten die vier sozialdemokratischen Re‐ gierungsmitglieder unter dem Druck der DVP und einem angeblich bevorstehenden Rücktritt des Reichspräsidenten Hindenburg37 im August 1928 dem Beginn der Pro‐ duktion zu. Dieser Beschluss, der ohne vorhergehende Rücksprache mit Partei und Fraktion zustande kam, bestätigte die Parteilinke in ihrer koalitionsskeptischen Hal‐ tung. Die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien und die Kompromissbereit‐ schaft sozialdemokratischer Minister beschädige die Glaubwürdigkeit der Partei und schmälere den Rückhalt in der Arbeiterklasse.38 Im Nachhinein kann man gerade am Beschluss zum Panzerkreuzerbau A sehen, dass die SPD tatsächlich mit erheblichen Glaubwürdigkeitsproblemen zu kämpfen hatte, die zu einem stetigen Stimmenver‐ lust bis 1933 führte. Besonders der SPD-Wahlkampf 1930 mit der zentralen Parole 35 36 37 38

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Bauer 1923, S. 287. Ebd., S. 286. Winkler 1998, S. 331 f, 338 f. Adler 1928, S. 520 ff.

„Gegen Bürgerblock und Hakenkreuz“ zeugte davon. NSDAP und KPD griffen die Zustimmung am Panzerkreuzerbau in Flyern und Plakaten auf und sprachen vom Verrat an der Arbeiterklasse.39 Auch viele Anhänger der SPD zweifelten die Gegner‐ schaft zum Bürgerblock an. Die Befürchtungen der Parteilinken bewahrheiteten und verschärften sich gerade mit dem Erstarken der NSDAP. Als Partei „deutscher Ar‐ beiter“ warb sie aggressiv um Stimmen aus der Arbeiterschaft.

6. Wehrpolitik oder sozialistische Militärpolitik Ausgehend von der Panzerkreuzer-Debatte entwickelte sich in der SPD eine breite Programmdiskussion zur Wehrpolitik. Dabei versuchte die Parteiführung die Zu‐ stimmung der sozialdemokratischen Regierungsmitglieder zum Panzerkreuzerbau damit zu entschuldigen, dass eine vorherige Positionierung der Partei in der Wehr‐ frage fehlte und diese auf dem Magdeburger Parteitag im Mai 1929 nachzuholen sei. Eine Wehrkommission sollte bis zum Parteitag eine Richtlinie zur Wehrpolitik er‐ stellen und diese dem Parteitag vorlegen. Der Entwurf der Wehrkommission sah ein Bekenntnis zur Reichswehr vor, forderte aber zugleich eine Republikanisierung der Armee und eine weltweite militärische Abrüstung. Die Parteilinke blieb nicht untätig und entwickelte ebenfalls unter der Mitarbeit von Paul Levi, Max Seydewitz und Max Adler ein alternatives Wehrprogramm.40 Dieses attestierte jedem Krieg in der kapitalistischen Epoche, obgleich Verteidi‐ gungskrieg oder als Krieg zum Schutze der Neutralität, den Charakter des herrschen‐ den Imperialismus. Folglich habe die Sozialdemokratie die Aufgabe, im kapitalisti‐ schen Staat finanzielle Mittel für die Wehrmacht abzulehnen und sich für die Besei‐ tigung dieser einzusetzen.41 Otto Bauer griff diesen Punkt des Alternativprogramms in seiner Kritik auf und empfand die Analyse, jeglichen Krieg als „imperialistisch“ zu qualifizieren, als eine starke Vereinfachung. Ein solches Verständnis vergesse, dass eine Beseitigung der Reichswehr zu einer erheblichen Verschiebung der Machtverhältnisse im europä‐ ischen Staatengefüge führe.42 Deutschland stünde bei einer völligen Entwaffnung vor der Gefahr, als Aufmarschgebiet für einen Angriff gegen die Sowjetunion miss‐ braucht zu werden. Eine solche Gefahr der Erleichterung einer „Konterrevolution“ gegen die Sowjetunion könne das „internationale Proletariat“ nicht gutheißen.43 Die herrschende Mächtekonstellation und die Anfeindung der Sowjetunion mache 39 Siehe Wahlflyer der NSDAP von 1930 „,Genossen´ in Marx“ oder der KPD „Verraten durch die SPD“. 40 Sozialdemokratie und Wehrproblem, Sonderheft des Klassenkampfs, Berlin 1929. 41 Ebd., S. 3. 42 Bauer 1929, S. 110. 43 Ebd. S. 111.

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schlussendlich den Bestand der Reichswehr notwendig. Weiterhin sah Bauer es für unwahrscheinlich an, dass Deutschland und Österreich in absehbarer Zeit imstande sein könnten, einen imperialistischen Krieg zu führen.44 Max Adler entgegnete Bauer und hielt seine Prognosen für zu optimistisch. Nach der Reichsexekution 192345 und den offenen Verbindungen zwischen junkerischkonservativem Bürgertum und Reichsoffizieren sei es nicht nachvollziehbar, wie die existierende Reichswehr einen bevorstehenden Angriff gegen die Sowjetunion ver‐ hindern wolle.46 Paul Levi entgegnete Bauers Einlassung in der Wehrdebatte mit beißendem Spott und schrieb, dass „die Gründe, die er für das Programm geltend macht, […] etwas dürftiger [sind], als das was uns durchschnittlich in Deutschland geboten wird.“47 Die Parteitagsdelegierten auf dem Magdeburger Parteitag 1929 stimmten mit 242 zu 147 Stimmen für den Entwurf der Wehrkommission. Eine Abstimmung des Al‐ ternativentwurfs war damit erledigt. Die Parteilinke konnte nach dem Magdeburger Parteitag keine weiteren nennenswerten Zusprüche erfahren. Die erlangten 147 Stimmen können zum Großteil dem linken Flügel zugeordnet werden. Aber einen ähnlich hohen Zuspruch konnte sie bis zum letzten SPD-Parteitag in Leipzig 1931 nicht mehr erzielen. Besonders die Hitler-Diktatur und die Rolle der Reichswehr als williger Vollstre‐ cker der rassistischen Lebensraumpolitik im Osten Europas bestätigte die Parteilinke in ihrer skeptischen Haltung, dass die Reichswehr niemals zum Garanten der Repu‐ blik bzw. zum willigen Verteidiger der Sowjetunion werde. Otto Bauers sehr opti‐ mistische Sicht konnte nicht bestätigt werden und auch die Sicht vieler Sozialdemo‐ kraten, die von einer möglichen Republikanisierung der Reichswehr ausgingen, war damit ad acta gelegt.

7. Austromarxismus und Parteilinke Der Austromarxismus galt in der Weimarer Zeit vielen Parteilinken als sicherer „Ha‐ fen in stürmischen Zeiten“. Dieser „Hafen“ verdeckte die eigenen theoretischen De‐ fizite im Kampf gegen den vorherrschenden Parteireformismus. Zugleich bedeutete er für unzählige Linke die endgültige Aufhebung des als unüberwindbar geglaubten 44 Bauer 1929a, S. 218. 45 Unter Reichsexekution werden Maßnahmen gegen Reichsländer zur Herstellung der staatli‐ chen Einheit und Ordnung verstanden. In der Weimarer Verfassung war die Reichsexekution in Art. 48 Abs. 1 geregelt. Friedrich Ebert, Reichspräsident von 1919 bis 1925, ordnete 1923 durch eine Notverordnung die Reichsexekution in Sachsen (29. Oktober 1923) und Thüringen (6. November 1923) zur Absetzung der Koalitionsregierung zwischen KPD und SPD an. Die Reichswehr marschierte daraufhin in die Länder ein. 46 Adler 1929, S. 215. 47 Levi 1929, S. 161.

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Widerspruchs zwischen marxistischer Theorie und sozialdemokratischer Praxis. Denn nicht nur die geglückte Integration positiver Impulse linkssozialistischer und revisionistischer Kritik faszinierte sie, sondern auch die fortschrittliche Kommunal‐ politik im „roten Wien“ mit seinem Netz an sozialen und kulturellen Angeboten. Dennoch existierten mit Levi und Gurland zwei bedeutende Intellektuelle der Wei‐ marer Parteilinken, die erhebliche Schwierigkeiten mit dem Demokratie- und Staats‐ verständnis des Linzer Programms hatten. Gleichwohl ist die starke Einflussnahme in bedeutenden Debatten der Weimarer Zeit kaum abzustreiten. Die Parteilinke verlor nach der Wehrdebatte rasant an Zustimmung und wurde Opfer gezielter Parteidisziplinar- und Ausschlussverfahren. Dem Verständnis Otto Bauers, eine Spaltung der Arbeiterbewegung stets zu unterbinden und sich trotz di‐ vergierender Meinungen eines Ausgleichs zu bemühen, konnten bedeutende Teile der Parteilinken aufgrund harter Sanktionen seitens des Parteivorstandes nicht nach‐ kommen. So schied eine Gruppe von Parteilinken um Max Seydewitz und Kurt Ro‐ senfeld Ende September 1931 aus der SPD und gründete die Sozialistische Arbeiter‐ partei Deutschlands. Mit dem Aufkommen des Faschismus und der Schwächung der Parteilinken durch Ausschlüsse nahm auch die Debatte um den Austromarxismus sein jähes Ende in der SPD.

Literatur Adler, Max, 1924: Das Soziologische in Kants Erkenntniskritik, Wien. Adler, Max, 1925: Kant und der Marxismus, Berlin. Adler, Max, 1925a: Politische und soziale Demokratie, Berlin. Adler, Max, 1928: Panzerangriff auf die Internationale. Die Konsequenzen der SPD-Zustim‐ mung zur Wiederaufrüstungspolitik auf die Sozialistische Internationale. In: Der Klassen‐ kampf, Heft 17, S. 520-526. Adler, Max, 1929: Zur Diskussion über das sozialdemokratische Wehrproblem. In: Der Kampf, Nummer 5, S. 210-216. Bauer, Otto, 1923: Die österreichische Revolution, Wien. Bauer, Otto, 1927: Kritiker links und rechts. In: Der Kampf. Sozialdemokratische Monats‐ schrift, Nr. 10, S. 441-449. Bauer, Otto, 1929: Wehrfrage und Sozialdemokratie. In: Der Kampf, Nummer 3, S. 109-113. Bauer, Otto, 1929a: Antwort an Max Adler. In: Der Kampf, Nummer 5, S. 217-218. Feichter, Helmut, 1974: Das Linzer Programm (1926) der österreichischen Sozialdemokratie. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 1973/1974, Linz, S. 233-339. Gurland, Arkadij, 1930: Marxismus und Diktatur, Leipzig . Hilferding, Rudolf, 1927: Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik. In: Sozialde‐ mokratische Parteitag 1927 in Kiel, Berlin, S. 165-184. Jenssen, Otto, 1927: Der Kampf um die Staatsmacht. Was lehrt uns Linz?, Berlin.

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Eveline List Austromarxismus und Psychoanalyse

Neben der theoretisch exakten Bedeutung findet der Begriff Austromarxismus weite Verbreitung zur Charakterisierung der Politik der österreichischen Sozialdemokratie, nicht zuletzt der SdAP im „Roten Wien“ und ist dann keineswegs mehr beschränkt auf Debatten innerhalb jenes Intellektuellenkreises, den er ursprünglich bezeichnete. Zeitlich fallen die politische Bewegung und die theoretische Auseinandersetzung tatsächlich weitgehend zusammen, wenngleich der Höhepunkt der neuen politöko‐ nomischen Theorieschule gewiss vor dem Ersten Weltkrieg lag und das Ende der „Marx-Studien“ 1923 wohl einen gewissen Einschnitt markiert. Die Epoche des Austromarxismus im weiteren Sinn lässt sich einerseits mit dem Erscheinen der Marx-Studien 19041 und andererseits politisch mit dem gescheiterten Februar-Auf‐ stand der Wiener Arbeiter 1934 und theoretisch mit Otto Bauers „Zwischen zwei Weltkriegen“2 und Rudolf Hilferdings handschriftlichen Aufzeichnungen von 19403 umfassen. Diese Periode deckt sich mit der Blütezeit der Wiener Psychoanalyse, de‐ ren Beginn 1900 mit dem Erscheinen von Sigmund Freuds „Traumdeutung“4 end‐ gültig anzusetzen ist und die mit seiner Studie „Der Mann Moses und die monothe‐ istische Religion“,5 die schon nur mehr im Exil erscheinen konnte, endete. Nach 1945 konnte sich weder die Psychoanalyse noch das austromarxistische Projekt, die beide eng in einem spezifischen politischen und soziokulturellen Milieu verankert waren, jemals wieder in vergleichbarer Weise in Wien etablieren. Ursprünglich zwei private Intellektuellenzirkel, entwickelten sich die beiden Gruppen zu (vorübergehend) mächtigen Bewegungen mit hohem wissenschaftlichen Ansprüchen und großer gesellschaftlichen Wirkung. Sie entstanden im gleichen spe‐ zifischen Umfeld Wiens des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das gekennzeichnet war von den zwiespältigen Auswirkungen der Gründerzeit und militantem politischen Antisemitismus, aber auch von ungewöhnlicher kultureller Kreativität. Nach 1900 gab es in Wien ein Geflecht kritischer und oppositioneller Zirkel, die in je spezifischer Weise „die Moderne“ vorantrieben: Arbeiterbildungsvereine, Ge‐ werkschaftsinitiativen, die Fabier, die Secession, die Settlementsbewegung, Frei‐

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Adler, Max/Hilferding, Rudolf (Hrsg.) 1904. Bauer 1936. Hilferding 1954, S. 297-328. Freud 1900. Freud 1939, S. 101-246.

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maurerlogen, diverse Frauenvereine, Sexualreformbewegung, verschiedene Kreise, die sich etwa um Eugenie Schwarzwald, Rosa Mayreder, Josef Popper-Lynkeus, Adolf Loos, Arthur Schnitzler, Karl Kraus, Hans Kelsen oder wie die Friedensbewe‐ gung um Berta von Suttner formierten. Aus diesem heterogenen kritisch-widerstän‐ digen Reservoir speisten und differenzierten sich letztlich auch Austromarxismus und Psychoanalyse als radikale wissenschaftliche Bewegungen. Die Beziehungen zwischen den beiden waren vielfältig, in einzelnen Bereichen durchaus unterschied‐ lich intensiv. „Der österreichische Sozialismus und der Austromarxismus“, so Ernst Glaser, „zeichneten sich in diesen Jahren nicht zuletzt dadurch aus, daß ihre Vertre‐ ter in vielfältiger Weise mit Repräsentanten des allgemeinen geistigen Lebens ver‐ knüpft waren.“6 Eine Feststellung, die auch für die Psychoanalyse Gültigkeit hat. Vielfältig und teilweise intensiv waren die persönlichen Verbindungen, was sich schon bei jenen beiden Männern zeigt, ohne die es weder Austromarxismus noch Psychoanalyse gegeben hätte: Viktor Adler und Sigmund Freud, durchaus beispiel‐ haft für die intellektuelle, hauptsächlich jüdische Opposition, die damals im Begriff war sich inhaltlich und organisatorisch zu formieren. Beides Kaufmannssöhne, wenngleich Freuds Familie wesentlich ärmer war als jene Adlers, die Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Mährischen nach Wien-Leopoldstadt gekommen waren und das klassische jüdische Emanzipationsstudium der Medizin wählten. Jeder von ihnen nahm dann den Arztberuf als Ausgangspunkt seiner effektiven Karriere, die sich der Untersuchung von Entstehung und Folgen sozialen respektive psychischen Elends widmete. Der eine konzentrierte sich auf die gesellschaftspolitischen, der andere auf die psychosozialen Konsequenzen der herrschenden Verhältnisse. Bezeichnender Weise hatten Freud und Adler schon früh persönlichen Kontakt gehabt7 und 1891 übernahm Sigmund Freud Viktor Adlers Ordinationsräume in der später legendären Berggasse 19, die damals bereits sozialistischen Oppositionellen als Treffpunkt („Adlerhorst“) gedient hatten. Ein früher Niederschlag der gesellschaftlichen Verflechtung war auch die aus‐ tromarxistisch-psychoanalytische Intellektuellenehe zwischen Rudolf Hilferding, Mitbegründer der Marx-Studien, Autor der grundlegenden Imperialismusanalyse „Das Finanzkapital“ und zweimaliger deutscher Finanzminister und Margarethe Hil‐ ferding-Hönigsberg8, dem ersten weiblichen Mitglied der Wiener Psychoanalyti‐ schen Vereinigung, Mitbegründerin der Vereinigung Sozialdemokratischer Ärzte und Pionierin der Frauengesundheitspolitik. Etliche Psychoanalytiker waren Parteimitglieder, einige waren politisch aktiv, manche hatten auch politische Funktionen inne. Prominente Austromarxisten und 6 Glaser 1981, S. 11. 7 Der spätere Politiker Heinrich Braun, ein Bruder von Viktor Adlers Frau Emma, war ein Schul‐ kollege Freuds. 8 Die beiden wurden unabhängig voneinander durch das NS-Regime ermordet und in ihren beson‐ deren Leistungen später weitgehend vergessen.

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sozialdemokratische Politiker9 hatten enge freundschaftliche, auch familiäre Bande zu Psychoanalytikern und die gesellschaftliche Nähe zeigte sich fast zwangsläufig sogar bei etlichen Patienten, die zur Analyse kamen, was für die Kur gewiss nicht hilfreich war, aber den gesellschaftlichen Verhältnissen entsprach.10 Insgesamt stand der überwiegende Anteil der Mitglieder der Wiener Psychoanaly‐ tischen Vereinigung der Sozialdemokratie nahe.11 Für Sigmund Freud galt dies frei‐ lich nur mit gewisser Einschränkung. Er war einer jener altösterreichischen Libera‐ len, für die sich neben der Sozialdemokratie keine politische Zugehörigkeit bot, die aber auch nie echte Sozialdemokraten wurden. Als durchaus politischer Mensch war er mit vielen Sozialisten gut bekannt und befreundet, etwa auch mit den Familien Otto Bauers und Gustav Ecksteins,12 bezeugte mehrmals seine Sympathien für sozi‐ aldemokratische Initiativen, und unterschrieb auch 1927 „Eine Kundgebung für ein geistiges Wien“, was de facto einem Wahlaufruf für die Sozialdemokratische Partei gleichkam.13 Er gestand bei sich selbst „eine Menge von revolutionären Regun‐ gen“14 und bekundete trotz kritischer Beurteilung mehrfach besonderes Verständnis für radikale Bestrebungen. „Wer in seinen eigenen jungen Jahren das Elend der Ar‐ mut verkostet, die Gleichgültigkeit und den Hochmut der Besitzenden erfahren hat, sollte vor dem Verdacht geschützt sein, daß er kein Verständnis und kein Wohlwol‐ len für die Bestrebungen hat, die Besitzungleichheit der Menschen und was sich aus ihr ableitet, zu bekämpfen.“15 Anfangs dem sowjetischen Experiment mit wohlwol‐ lendem Zweifel begegnend hat Freud später an seiner Skepsis hinsichtlich der Reali‐ sierbarkeit der kommunistischen Utopie nie Zweifel gelassen. Sie widersprach sei‐ nem Kulturverständnis und Menschenbild, denen Konflikthaftigkeit inhärent und Harmonie unmöglich waren. Obwohl zunächst durch eine damals aktuelle theoretische Diskussion begründet, wurde der Austromarxismus auch als umfassende intellektuelle und gesellschaftspo‐ litische „Bewegung“ bekannt. Ebenso hatte der international wachsende intellektuel‐ le Stellenwert der Psychoanalyse, nicht zuletzt mit dem ihr innewohnenden kulturund gesellschaftskritischen Potenzial zu tun. Beide Theorien waren in einem mate‐ rialistischen auf Konflikthaftigkeit und Dialektik der Entwicklung fokussierten Weltbild verpflichtet. 9 Etwa Gustav Eckstein, Otto Bauer und Rudolf Hilferding. 10 Nicht wenige Sozialdemokraten schickten Angehörige, besonders Kinder zu Freud in Thera‐ pie, der aber auch etliche wegen zu großer Nähe ablehnte. 11 Die aktiven Linken der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung waren zumindest Paul Federn, Karl Friedjung und Margarethe Hilferding, Ludwig Jekels, Sabine Spielrein, Hugo Heller, wei‐ ters Siegfried Bernfeld, Heinz Hoffer, Otto Fenichel, Wilhelm Reich, Helene Deutsch, Her‐ mann Nunberg. 12 Siehe: List 2008, S. 98-115. 13 Siehe: Arbeiter-Zeitung vom 20. 4. 1937. 14 Freud, 1960, S. 393. 15 Freud 1930, S. 472.

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Freud schöpfte für die Konzeption seiner Theorie des Unbewussten aus unter‐ schiedlichen Traditionen: einer rationalistischen (Leibnitz, Hobbes, Herbart, Fech‐ ner, Helmholz, Brücke), einer romantischen (Herder, Goethe, Schelling, Schleierma‐ cher) und einer skeptisch-kulturkritischen (Schopenhauer, Darwin, Nietzsche). Seine Lehre kann mit Berechtigung materialistisch genannt werden, auch wenn sie insge‐ samt mehr heuristisch als systematisch modelliert und nicht immer ganz frei von „spekulativen“ Aspekten war, die mitunter als ‚bürgerlich‘ apostrophiert wurden. Auch lief die Vorstellung des Unbewussten selbst und dass die Menschen quasi kon‐ stitutionell niemals ganz „Herr im eigenen Haus“ sein können, dem marxistischen Vernunftglauben grob zuwider. Andererseits entsprachen das daraus resultierende „falsche Bewusstsein“, die prinzipielle Konflikthaftigkeit der Psychoanalyse (zwi‐ schen Luststreben und Kulturforderungen) und das dialektische Entwicklungsver‐ ständnis auch einem historisch-materialistischen Geschichtsverständnis.16 Trotz der vielen Gemeinsamkeiten zwischen den Beteiligten kam eine direkte Auseinandersetzung oder gar substanzielle Theoriediskussion zwischen den beiden Denkschulen eigentlich nie zustande. Grundlegende Konzepte, vor allem schon jene des Unbewussten17 und der Verdrängung18 wurden von den Austromarxisten nicht wirklich erfasst, möglicherweise auch nicht verstanden, aber jedenfalls nicht ernst genommen, schon gar nicht als politisch relevant. Umgekehrt blieb die Kenntnis der Gesellschaftstheorien, nicht nur des Marxismus, bei den meisten Psychoanalytikern ziemlich dürftig. In Freuds „Mittwochgesellschaft“ zeugt die erste dokumentierte Auseinander‐ setzung „Zur Psychologie des Marxismus“19 1909 von Ratlosigkeit und fehlenden Kenntnissen des Marxismus bei allen Anwesenden. Freud meint, er könne sich nur „rezeptiv verhalten“.20 Die Diskussion blieb bei Spekulationen über neurotische Hemmung des Aggressionstriebs und seine Befreiung durch das Klassenbewusst‐ sein, ohne gesellschaftliche Verhältnisse näher in Betracht zu ziehen. Freud betont allerdings in der Dialektik von Erweiterung des Bewusstseins und fortschreitender

16 Solchem nicht-mechanistischen Materialismus verpflichtet konnte die Psychoanalyse trotz ei‐ niger Missverständnisse weitestgehend der zeitgenössischen Naturwissenschaftsfalle entgehen, was schließlich bedeutete, dass sie eine umfassende Menschenwissenschaft mit einer spezifi‐ schen Sozialpsychologie wurde und eben auch eine Kulturtheorie entwickelte. 17 Als Unbewusstes wird jener Teil der Psyche bezeichnet, der nicht (direkt) zugänglich ist. Er umfasst verdrängte und nicht symbolisierte Inhalte und Regungen, die (weil verdrängt) nicht gedacht werden können, sich der Kontrolle entziehen, aber dennoch (oft besonders) wirksam das Streben und Handeln der Menschen bestimmen. 18 Verdrängung bezeichnet den unbewusst gesteuerten und daher unkontrollierten Ausschluss einer Vorstellung oder eines Affekts aus dem Bewusstsein. Sie geschieht um innere oder äuße‐ re Konflikte und damit verbundene Unlust zu vermeiden. 19 Nunberg/Federn 1977, S. 155-160. 20 Ebenda S. 156.

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Verdrängung die „Einführung der Psychologie in die Geschichtsbetrachtung“,21 ein Gedanke, der ihn bis zuletzt beschäftigen sollte. Im marxistischen Diskurs fehlte die Rezeption der Psychoanalyse und die Ausein‐ andersetzung der Psychoanalyse mit dem Marxismus ging über Grundsatzfragen kaum hinaus und gelangte daher – mit ganz wenigen Ausnahmen – nie zu den effek‐ tiv brennend aktuellen Fragen, die die Psychoanalyse als prinzipiell Sozialpsycholo‐ gie mit dem historischen Materialismus ja teilte.

Elemente einer psychoanalytischen Staatstheorie Die Psychoanalyse ist sozial angelegt: Wahrnehmen, Fühlen und Denken organisie‐ ren sich nur in Beziehungen. Der Mensch lernt erst über den Anderen erkennen und sich orientieren, Fühlen und Denken bilden sich in konkreten historischen Verhält‐ nissen. Zur Erklärung der Träume hatte Freud ein dynamisches Modell der Psyche konstruieren müssen, vor allem, dass erst die Verdrängung Bewusstheit schafft, dass das Verdrängte im Unbewussten aktiv bleibt und dass die infantile Sozialisation ein gewaltsamer Prozess der Triebeinschränkung und des Lustverzichts ist, dessen Er‐ gebnis stets prekär bleibt. Bezüglich komplexer Kollektive entwarf er ein dynami‐ sches Modell der Institutionen. Dabei erklärte er die Bindungsmechanismen zwi‐ schen den Menschen und fasste das Zusammenspiel von Lust- und Realitätsprinzip in neuer Weise, sodass eine genuin psychoanalytische Perspektive auf den Menschen als psychosoziales Wesen und Grundlagen einer Theorie des Politischen entstanden. Freud kennzeichnet den Staat als psychisches Erbe der Ordnungsreferenz elterli‐ cher Autorität. Er nennt ihn auch imaginäres Wunschgebilde, das gemäß einem ele‐ mentaren Bedürfnis nach Orientierung Unlustgefühle erspare und Befriedigung er‐ mögliche.22 (Nur) in diesem Sinn sieht er den durch eine jeweilige Regierung gelei‐ teten Staat formal als Repräsentationsform des Volkes, versäumt freilich nicht hinzu‐ zufügen, „daß der Staat dem Einzelnen den Gebrauch des Unrechts untersagt hat, nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es monopolisieren will wie Salz und Ta‐ bak.“23 Freud, so könnte man sagen, ergänzt ein marxistisches Staatsverständnis um eine Dimension, die bei Marx unerforscht blieb: die psychosoziale Grundlage der Ideologie als Basis von Institutionen. Unmittelbar auf diese implizite Staatstheorie Freuds bezog sich nur Hans Kelsen,24 der kein Austromarxist, eher ein vehementer Marxismuskritiker25 aber ein loyaler Freund der Sozialdemokratie war. In seinen Versuchen Staatsrechtstheorie und Psychoanalyse zu vermitteln ahnte er die Bedeu‐ 21 22 23 24 25

Ebenda S. 157. Freud 1915, S. 323–355, S. 331. Freud 1915, S. 323–355, S. 329. Kelsen 1922 und Kelsen 1927. Siehe: Kelsen 1920.

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tung der Freud’schen Ableitung, die, wie er betonte, „aufs wirksamste die mit der ganzen Magie jahrhundertealter Worte ausgerüstete Hypostasierung Gottes, der Ge‐ sellschaft und des Staates in ihre individual-psychologischen Elemente auflöst.“26 Kelsens Beziehung zu Freud, seine Beschäftigung mit der Psychoanalyse, seine Teil‐ nahme an Sitzungen der WPV und sein Versuch Elemente der Psychoanalyse rechts‐ philosophisch einzubeziehen zeigen die auch damals erkennbare Relevanz der Freud’schen Konstruktion. Sein Rechtspositivismus ließ letztlich keinen Raum für das Unbewusste, das ihm in vollem Sinn wohl auch nicht zugänglich war. Aus dem Aspekt der unbewussten ambivalenten Beziehung zu den frühkindlichen Autoritäten und deren Übertragung auf die jeweilige Herrschaftsmacht ergibt sich für Freud die zwangsläufig ambivalente Grundeinstellung gegenüber staatlicher Au‐ torität, die zwar als hilfreich genossen, doch zugleich als einschränkend und repres‐ siv gefasst wird, und das noch jenseits ihrer konkreten politischen Beschaffenheit. Man sieht ein anderes Erkenntnisinteresse als jenes der Austromarxisten: Freud untersucht Herrschaft und Gesetz als institutionalisierte Kulturkonflikte, die sich zwar unter konkreten historischen Bedingungen jeweils als spezifische Herrschafts‐ verhältnisse manifestieren, die sich aber niemals in Harmonie auflösen lassen. Daher musste die teleologische Perspektive eines postkapitalistischen Absterbens des Staa‐ tes oder seines Äquivalents als Ende der Geschichte gänzlich außerhalb dieser Per‐ spektive liegen27. Die sozialen und politischen Verhältnisse motivierten auch Freuds Arbeit „Mas‐ senpsychologie und Ich-Analyse.“28 Sie galt einerseits der Frage, was die Menschen in Institutionen oder Staaten zusammenhält, andererseits dem Problem der Verände‐ rung der Menschen unter Massenbedingungen, etwa irrationale und destruktive Mas‐ senerscheinungen. Das Eintauchen in den Affektsturm einer Masse verschaffe auch große Lust und werde von Gefühlen und Phantasien der Grandiosität begleitet, die die elementare Angst, die auch entsteht, leicht überdecke. Die dann hohe Beeinfluss‐ barkeit vergleicht Freud der Situation beim Hypnotiseur, der, wie eben ein Massen‐ führer, alle Gefühle und Gedanken nach einer von ihm gewählten Richtung lenke. Unübersichtliche Massenverhältnisse überfordern und berauben die Menschen eines Teiles ihrer persönlichen kulturellen Errungenschaften und um sie wieder auf dem gewohnten Niveau funktionstüchtig zu machen, bedarf es zusätzlicher äußerer Hil‐ fen der Ordnungsstiftung. In ungeordneten Massen bleibe Triebhaftigkeit auch unge‐ zügelt und es regieren Affektivität, Denkhemmung und Beeinflussbarkeit. Organi‐ sierung schaffe Gefühlsbindungen als Voraussetzung für die innere und äußere Ord‐ nung. 26 Kelsen 1927, S. 175. 27 Auch die Psychoanalysegeschichte ist von teleologischem Unsinn nicht frei, etwa als Vorstel‐ lung des „durchanalysierten“ nicht neurotischen „genitalen Charakters“. 28 Freud 1921, S. 71-161.

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Freud sah sowohl die bedrohliche Destruktivität unorganisierter Massen, als auch das zivilisatorische Potenzial ihrer Organisation. Bindungen und Strukturen wirken jener archaischen Gewalt entgegen, die Massen stets inhärent ist. Zusammenhalt und relative Stabilität, Freud spricht wohlgemerkt auch von „Vergesellschaftung“, beru‐ hen auf einem gewissen Zwang auf die stets inhomogenen Einzelnen, denen die Zu‐ gehörigkeit nie ganz frei stehe. Vor allem aber hänge die Ordnung an der wirksamen „Vorspiegelung (Illusion), daß ein Oberhaupt da ist – in der katholischen Kirche Christus, in der Armee der Feldherr, – das alle Einzelnen der Masse mit der gleichen Liebe liebt.“29 Erst diese Liebesillusion speise die Bindungen unter den Massenteil‐ nehmern und verändere zugleich ihre Persönlichkeit, indem sie eben mit dieser äu‐ ßeren Bezogenheit zugleich innere Ordnung stifte. Nur unter der Erfüllung der Lie‐ besansprüche seien die einzelnen Mitglieder bereit und fähig, die Anforderung der Institutionen zu erfüllen. Daher sei die Bedeutung der Führungsfiguren kaum zu überschätzen. Schon das Kind hatte ja nur um der Liebe der Eltern willen auf viele Triebansprüche verzichtet, aber in der Masse bindet die Liebe zur Führungsfigur nicht nur an diese selbst, sondern die Vorstellung von dieser Führungsfigur in glei‐ cher Weise geliebt zu sein, vereint auch alle Massenmitglieder in der Illusion ihrer Gleichheit miteinander. Diese Liebe beseitige damit, solang die Illusion anhält, Neid und Rivalität als Quelle von Angst, die ins Unermessliche einer Panik ansteigen könnte, sobald etwa durch einen Verlust der Führungsfigur sich mit den libidinösen Bindungen die Illusion von Gleichheit und Sicherheit auflöste und die durch diese Illusion fern gehaltene Destruktivität zum Vorschein käme. Gegenüber früheren massenpsychologischen Konstruktionen, wie „Herdentrieb“ und „Massenseele“ fasst Freud das Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiv materia‐ listisch: Motivation, Denken und Handeln gibt es nur bei einzelnen Menschen, aber die Beziehungen zwischen den Menschen sind Bedingung jener sichernden inneren Ordnung, die ihnen vorausgehen muss, damit Denken und Handeln überhaupt mög‐ lich ist. Die zur Liebe sublimierte Triebhaftigkeit ist der Klebstoff zwischen den Menschen und die projektiven Übertragungen der unbewussten Phantasien liefern die inhaltlichen Motive. Der Organisationsgrad der Massen entscheidet ob sie unpro‐ duktiv und destruktiv, oder ob sie konstruktiv, ja sogar kreativ sind. Die Kultur selbst und eben auch die staatliche Ordnung hängen an den Beziehungen zwischen den Menschen, die seit je durch – historisch spezifische, marxistisch: den Produkti‐ onsverhältnissen gemäße – gesellschaftliche Institutionen organisiert werden. Das verlangt auf jeder historischen Stufe Selbstbeschränkung und befreit niemals von Unbehagen, wenngleich die Befriedigungsmöglichkeiten der Menschen in unter‐ schiedlichen Herrschaftssystemen natürlich erheblich differieren.

29 Freud 1921, S. 103.

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Die Führungsfigur, die letztlich auch eine affektiv besetzte Idee sein kann, führt zurück zum kannibalischen Urhordenmord: Die übermächtige, also idealisierte Mut‐ tervaterfigur sich einzuverleiben, bedeutet, sie in der äußeren Realität zum Ver‐ schwinden bringen und sie zugleich im eigenen Inneren fest zu etablieren30. Die Ver‐ innerlichung ist aber immer prekär und die Leerstelle in der Realität bleibt unerträg‐ lich. Das abstrakte Institut, die Führungsidee, setzt sich an die Leerstelle und erfüllt damit die Funktion als Organisator der Identifizierungen. Inhaltlich aber bleiben bei den einzelnen Massenmitgliedern das je verinnerlichte Muttervatersubstrat und die verdrängte Subjektgeschichte virulent. Sie fließen in die Narrative des Kollektivs ein, die quasi mythopoetisch die Institution als Glaubensgemeinschaft begründen. Die affektive Gemeinsamkeit wird durch existenzielle Orientierungsnot und Glau‐ bensbedürftigkeit zwingend. Auf letzteren beruhe jede institutionelle Macht, lange bevor sie sich dann in Waffenarsenalen oder Kathedralen, Staatsverfassungen und Parteiprogrammen materialisieren. Mythos, oder, politisch formuliert, die Ideologie, erlaubt dem Einzelnen aus der Masse herauszutreten und unter Aufrechterhaltung der idiosynkratischen unbewuss‐ ten Phantasiewelt doch in sie eingebunden zu bleiben. Dabei ist es wichtig, dass die subjektiven Phantasiewelten nicht völlig abweichen bzw. ist es unmöglich sie total zu kolonisieren, wenn institutionelle Ordnung ohne große physische Gewaltanwen‐ dung aufrecht erhalten werden soll, weshalb eben rigide Dogmatik ohne solche Ge‐ walt nicht auskommt. Je komplexer und differenzierter die Kollektive sind, umso mehr Entsinnlichung und Abstraktion erfordert ihre Organisation und umso aufwen‐ diger sind auch die Sozialisationsprozesse, durch welche die triebeinschränkende Angleichung der individuellen Psychostrukturen an die gesellschaftlichen Institutio‐ nen erfolgt. Die existenzielle Gefahr jedes chaotisierenden Ordnungsverlustes ist maßlose pa‐ nische Entbindung physischer Gewalt, wenn also den Menschen neben motorischer Abfuhr keine verarbeitende Triebabwehr mehr verfügbar ist. Dies zu verhindern ist die strukturelle Aufgabe des Staates und aller seiner Teilinstitutionen, damit eben di‐ rekte sexuelle und aggressive Strebungen durch identifikatorische Bindung gehemmt und dann eventuell sublimatorisch im Dienst des Kollektivs nutzbar gemacht werden können. Hier liegt zugleich auch ein potenzieller Ursprung diktatorischer Herrschaft: In der Gefahr chaotischer Desintegration wird Führung dringlichst ersehnt und mit‐ unter auch quasi blind bei jedweder Führungsfigur, die rasche Ordnung verheißt, ge‐ funden. „Arbeitszwang und Triebverzicht“31 und die Organisierung menschlicher Kollek‐ tive waren für Freud notwendige Bedingung menschlicher Existenz, was ihn keines‐ wegs hinderte, deren historische und zeitgenössische Erscheinungsformen und die 30 Siehe: Freud 1912/13. 31 Freud 1927, S. 331.

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(klassenspezifische) Ungleichheit des gesellschaftlich erzwungenen Verzichts zu kri‐ tisieren. „Es steht zu erwarten, daß diese zurückgesetzten Klassen den Bevorzugten ihre Vorrechte beneiden und alles tun werden, um ihr eigenes Mehr von Entbehrung los zu werden. Wo dies nicht möglich ist, wird sich ein dauerndes Maß von Unzu‐ friedenheit innerhalb dieser Kultur behaupten, das zu gefährlichen Auflehnungen führen mag. Wenn aber eine Kultur es nicht darüber hinaus gebracht hat, daß die Be‐ friedigung einer Anzahl von Teilnehmern die Unterdrückung einer anderen, viel‐ leicht der Mehrzahl, zur Voraussetzung hat, und dies ist bei allen gegenwärtigen Kulturen der Fall, so ist es begreiflich, daß diese Unterdrückten eine intensive Feindseligkeit gegen die Kultur entwickeln, die sie durch ihre Arbeit ermöglichen, an deren Güter sie aber einen zu geringen Anteil haben. Eine Verinnerlichung der Kulturverbote darf man dann bei den Unterdrückten nicht erwarten, dieselben sind vielmehr nicht bereit, diese Verbote anzuerkennen, bestrebt, die Kultur selbst zu zer‐ stören, eventuell selbst ihre Voraussetzungen aufzuheben. Die Kulturfeindschaft die‐ ser Klassen ist so offenkundig, daß man über sie die eher latente Feindseligkeit der besser beteilten Gesellschaftsschichten übersehen hat. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient.“32 Die neue Analyse der psychosozialen Dimensionen gesellschaftlicher Verhältnis‐ se empörte die Katholische Kirche, blieb aber in der Arbeiterbewegung ohne rele‐ vante Resonanz und auch seitens der austromarxistischen Intellektuellen fehlen Hin‐ weise auf eine differenzierte Rezeption. Nicht nur diese Arbeiten Freuds, auch jene anderer Psychoanalytiker wurden kaum ernsthaft zur Kenntnis genommen. Eine Ausnahme stellt eine späte sehr anerkennende Besprechung zweier Arbeiten Freuds durch Ernst Fischer dar. 1930 gab er im „Kampf“ eine verständnisreiche Dar‐ stellung von „Die Zukunft einer Illusion“ und „Das Unbehagen in der Kultur“ und zeigt dabei gewisse Kenntnis psychoanalytischen Denkens. Geschickt ist er bemüht Freuds metapsychologische Überlegungen verständlich zu vermitteln und zeigt sich beeindruckt, wie konsequent die gesellschaftliche Perspektive in Freuds Text enthal‐ ten ist: „Mit bewunderungswürdiger Präzision wird da die Zwiespältigkeit des Ge‐ sellschaftsprozesses formuliert.“33 Seine emphatische Forderung auf Freuds Weg weiterzugehen „bis zu einer marxistischen Sozialpsychologie, die heute noch nicht existiert,“34 hatte zwar in den eigenen Reihen kaum Echo, kreuzte sich aber mit den Intentionen einiger marxistisch orientierter Psychoanalytiker der zweiten Generati‐ on. Die waren längst in eine Diskussion über Vereinbarkeit von Psychoanalyse und Marxismus involviert, die sich bis in die Illegalität fortsetzen sollte. 32 Ebenda, S. 337. 33 Fischer 1930, S. 437. 34 Fischer 1930, S. 438.

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Theorie-Diskussionen um das Verhältnis Psychoanalyse und Marxismus In der erkenntnistheoretisch orientierten Marxismus-Psychoanalyse-Debatte domi‐ nierten drei Wiener Psychoanalytiker. Siegfried Bernfeld und Otto Fenichel, zwei führende Intellektuelle der zweiten Psychoanalytikergeneration waren schon vor dem Ersten Weltkrieg in der linken Jugend- und Sexualrechtsbewegung aktiv gewe‐ sen und nach 1918 stieß Wilhelm Reich zu ihnen und zur Psychoanalytischen Verei‐ nigung, wo alle drei rasch avancierten. Fenichel ging 1922 nach Berlin, wohin dann Reich und Bernfeld folgten und wo sie 1929 eine marxistische Psychoanalytiker‐ gruppe mitbegründeten.35 Die drei brachen keineswegs mit Wien, blieben auch per‐ sönlich mit sozialdemokratischen Politikern in Kontakt, weshalb es erstaunen kann, dass sie den Austromarxismus in seiner Besonderheit, auch in seiner Empfänglich‐ keit für die Sozialwissenschaften kaum rezipierten. Stattdessen gerieten sie in die zugespitzten Auseinandersetzungen im Deutschen Reich und teilweise auch in Kon‐ frontationen mit KP-Doktrinen, was sich inhaltlich niederschlug. Das Beharren auf einem naturwissenschaftlichen Status der Psychoanalyse etwa ist dafür typisch. Siegfried Bernfeld war eher eigenständig und stellte nicht zuletzt durch seine konsequent sozialdemokratisch-antikommunistischen Position eine gewisse Ausnah‐ me dar. Demgegenüber trat Wilhelm Reich 1930 der KPD bei und Otto Fenichel kam noch 1932 fast euphorisch von seiner zweiten Reise in die Sowjetunion zurück. 1926 reagierte Bernfeld auf eine Abhandlung „Psychoanalyse und Marxismus“36 die 1925 in der sowjetischen Publikation „Unter dem Banner des Marxismus“ er‐ schienen war. Der Autor, W. Jurinetz, kritisierte Arbeiten von „Freud und den Freu‐ disten“ polemisch und wortgewandt, aber aus dem Zusammenhang gerissen, sicht‐ lich ohne genauere Kenntnis. Er monierte die fehlende „Klassenpsychologie“ und qualifiziert die Psychoanalyse generell als unlogisch, metaphysisch, unphysiologisch und unwissenschaftlich. Bernfelds Artikel „Sozialismus und Psychoanalyse“37 be‐ schrieb die Psychoanalyse als praktische Psychologie und Wissenschaft der seeli‐ schen Dynamik. Als solche sei sie konsequent materialistisch und ganz einem gene‐ tischen Standpunkt verpflichtet und überhaupt der erste Ansatz einer dialektischen Psychologie. Sie sei weder mechanistisch noch idealistisch; ein Phänomen psycho‐ analytisch verstehen heiße, die für es wesentlichen Determinanten in seine Vorge‐ schichte auffinden. In diesem Sinn sei die Sexualität38 elementarer Vorläufer aller landläufig als ‚höher‘ bewerteter psychischer Erscheinungen. Bernfelds Ziel war es, Misstrauen gegen die Psychoanalyse bei den Sozialisten zu zerstreuen, was er wis‐ 35 Der Gruppe gehörten u. a. noch Erich Fromm, Barbara Lantos, Annie Reich und Edith Jacob‐ son an. 36 Jurinetz 1925, S. 736-771. 37 Bernfeld 1926, S. 385-389. 38 Im psychoanalytischen Verständnis bedeutet Sexualität das Streben nach Befriedigung am ei‐ genen Körper, worauf sich genetisch jede Lust zurückführen lässt.

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senschaftstheoretisch argumentierte, um schließlich zu resümieren: „Bei konsequen‐ ter Festhaltung ihrer historisch-materialistisch-dialektischen Forschungsweise sind Konsequenzen unwahrscheinlich, die der Marxschen Sozialwissenschaft widersprä‐ chen.“39 Es war möglicherweise persönlichen Beziehungen geschuldet, dass er im austromarxistischen Organ „Der Kampf“ publizierte und wahrscheinlich wäre ihm in Deutschland die Publikation in einem Parteiorgan nicht möglich gewesen. Tatsäch‐ lich gab es kaum Resonanz. Noch 1932 sollte Bernfeld betonen, wie schwierig es sei, die Bedeutung der Psychoanalyse „vor Genossen zu bringen, von denen man an‐ nehmen muß, daß sie die Psychoanalyse nur wenig oder gar nicht kennen, oder gar durch Vorurteile gegen sie eingenommen sind.“40 In einer späteren direkten Replik auf Wilhelm Reich, charakterisierte Bernfeld 1932 Psychoanalyse und Marxismus als zwei gleichermaßen „entlarvende“ Wissen‐ schaften und Produktionsverhältnisse und Klassengegensätze als ebenso verborgene Ursachen manifester Phänomene wie das Unbewusste.41 Er betonte, „die seelische Grundstruktur des Menschen ist genauso wie seine anatomische und physiologische Eigenart als ‚Naturkonstante‘ zu betrachten, die den Produktionsverhältnissen zu‐ grunde liegt, aber auch durch die praktische Produktion verändert wird (…) die prin‐ zipielle Abhängigkeit der Umweltfaktoren vom ‚sozialen Ort‘, den konkreten gesell‐ schaftlichen Verhältnissen, in denen das Individuum steht, ist doch selbstverständ‐ lich.“ Die Forderung der Psychoanalytiker „Wir müssen hinter den bewußten seeli‐ schen Erscheinungen das Unbewußte suchen“, entspreche psychologisch nur dem, was Marxisten sagen lässt: „Wir müssen hinter den Vorwänden, die für geschichtli‐ che Ereignisse verantwortlich gemacht werden, die verborgenen wirklichen materi‐ ellen Produktionsverhältnisse als Ursache auffinden.“42 Diese tatsächlich brennen‐ den Fragen wurden aber weder unter Psychoanalytikern noch unter Marxisten in re‐ levanter Weise thematisiert, die wenigen einschlägigen Diskussionen blieben akade‐ misch und isoliert und verharrten nicht selten in abstrakten Grundsatzdisputen. Auch Otto Fenichel43 vertrat lange Zeit hindurch die Auffassung, Psychoanalyse und Marxismus seien naturwissenschaftliche antiideologische Methoden wissen‐ schaftlicher Weltauffassung, doch versuchte er nicht wie Wilhelm Reich die Dialek‐ tik des historischen Materialismus quasi naturgesetzlich auf das Psychische zu über‐ tragen. Psychoanalyse sei materialistisch, insofern Psychisches in seiner Gesetzmä‐ ßigkeit und Entwicklung zu verstehen sei,44 sie sollte aber auch die Entstehung der Ideologie aus den Produktionsverhältnissen und ihre Wirkung im Sinn der herr‐ schenden Klasse erforschen. Gerade bezüglich akuter Probleme der Arbeiterbewe‐ 39 40 41 42 43 44

Bernfeld 1926, S. 389. Bernfeld 1932. S. 285. Bernfeld 1932, S. 286. Bernfeld 1932, S. 287. Fenichel 1934, S. 276-296. Fenichel 1934, S. 277f.

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gung und sich verschärfender Klassenkämpfe – der Faschismus war im Vormarsch – wollte Fenichel die Aufmerksamkeit der Genossen für psychosoziale Verhältnisse schärfen. „Nicht nur direkt wirken die ökonomischen Verhältnisse auf das Individu‐ um ein, sondern auch indirekt auf dem Umwege über die Änderung seiner psychi‐ schen Struktur“;45 unbedingt sollte etwa das „Zurückbleiben der Revolutionierung des Proletariats gegenüber der ‚ökonomischen Basis‘“ untersucht werden und gelte es die Bedeutung der Familieninstitution (den ‚Ödipuskomplexes‘ und das ‚ÜberIch‘) zu verstehen. Beide dringlichen Problemkomplexe seien nur psychologisch ef‐ fektiv anzugehen46 und überhaupt sei die gesellschaftliche Bedeutung von Institutio‐ nen erst aus psychoanalytischer Erfahrung richtig zu erkennen. Letztlich blieben die wenigen Ansätze historischen Materialismus und Psychoanalyse zusammen zu den‐ ken und als Instrumentarium für die Analyse reale Machtverhältnisse zu nützen alle‐ samt in den Grenzen aufklärerischer Appelle, die auf minimales Echo trafen und po‐ litisch irrelevant blieben. Unter gänzlich veränderten Verhältnissen und nicht mehr um marxistische Legiti‐ mierung bemüht, sprach Otto Fenichel 1934 in Basel über „Psychoanalyse und Ge‐ sellschaftswissenschaften.“47 Psychologie sei Wissenschaft des Seelenlebens und der Motive menschlichen Handelns, Gesellschaftswissenschaften untersuchten die Ein‐ richtungen und Gesetzmäßigkeiten menschlichen Zusammenlebens. Gegen die übli‐ che Polarisierung nur Psychologisches oder nur gesellschaftliche Verhältnisse gelten zu lassen, setzt er die Notwendigkeit, die immanenten Beziehungen zu verstehen, was bedeute, dass es nichts anderes zwischen den Menschen gebe, als die materiel‐ len und emotionalen Verhältnisse, in denen sie zueinander stehen. „Aber auf diese Beziehungen, die sie miteinander eingehen, kommt es an! Sie beginnen ‚psycholo‐ gisch‘. Aber wenn sie einmal bestehen, führen sie für sich eine Sonderexistenz mit einer eigenen Geschichte weiter, zwingen durch ihr Dasein den Menschen bestimm‐ te Formen auf, die sehr weit weg sind vom Willen und der Psychologie dieser Men‐ schen, erzeugen Verstärkungen mancher anderer Beziehungen, geraten in Wider‐ spruch zu wieder anderen, solche Widersprüche haben wieder weitere Folgen und gebären wieder neue Formen, die nur durch diese Beziehungsgeschichte erfaßt wer‐ den können.“48 Eine solche Psychologie sei eigentlich als Gesellschaftswissenschaft zu bezeichnen, weil sie letztlich das untersucht, was Gesellschaft ausmacht. Der Drang nach Bedürfnisbefriedigung motiviere alles menschliche Handeln, Denken, Urteilen, Arbeiten und in welcher Form die Menschen sich zueinander verhalten und welche Entwicklung ihre Verhältnisse nehmen, mache die „Produktionsgeschichte“ aus. In dieser sei dann das elementare Befriedigungsstreben nicht mehr einfach er‐ 45 46 47 48

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Fenichel 1934, S. 283. Fenichel 1934, S. 284. Fenichel 1938. Fenichel 1938, S. 1058.

sichtlich, weil das komplexe Ineinandergreifen von natürlichen und menschlichen Verhältnissen über lange Zeit hinweg es vielfältig überlagert. Daraus ergeben sich die gesellschaftlichen Einrichtungen, die die Menschen freilich als Ursache und nicht als Folge ihres Verhaltes empfinden. Die kapitalistische Wirtschaft, deren Pro‐ duktionsweise und die aus dieser zwingend resultierenden Beziehungsverhältnisse samt der ihnen immanenten Verschleierung seien ein gutes Beispiel. Solches werde aber erst durch die Analyse gesellschaftlicher Strukturen offenbar, denn die Bezie‐ hungen zwischen den Menschen entziehen sich der einfachen psychologischen Er‐ fassung, sobald sie sich als eigene gesellschaftliche Wirklichkeit verfestigt haben. Produktionsverhältnisse bestimmten Erziehung und werden durch Gewalt, Angst und die bei vielen Menschen aus früher Kindheit bestehenden Unterwerfungsnei‐ gung erhalten. Führerfiguren, religiöse und politische Autorität haben hier einen Ur‐ sprung. Auch Wilhelm Reich modifizierte seine Perspektive. 1936, nun in konfliktreicher Opposition zur Psychoanalytischen Vereinigung und zur Kommunistischen Partei, verfasste er eine Auseinandersetzung mit der Marxschen Werttheorie49 und kam teil‐ weise zu ähnlichen Formulierungen wie Fenichel. Doch strebte er theoretisch und praktisch nach einer radikalen Synthese von Marxismus und Psychoanalyse. Später gab er an, die Wiener Ereignisse von 1927 wären seine dafür ausschlaggebenden Er‐ fahrungen gewesen.50 Auf der Suche nach einem gemeinsamen Angelpunkt, den er in einer „Sexualökonomie“ auf „biophysikalischen“ Grundlage konstruieren sollte, distanzierte er sich zuletzt von Marxismus und Psychoanalyse und vertrat die Uto‐ pie, durch radikale sexuelle Befreiung die destruktiven Aspekte der Massendynamik und gesellschaftliche Ungleichheit eliminieren zu können. Eine Idee die – aus ver‐ ständlichem Wunschdenken – immer wieder Anhänger findet und einer illusionären Teleologie verhaftet bleibt. Während er verdienstvoller Weise Aspekte der politi‐ schen Ökonomie in seine Analyse zu integrieren versuchte, blieb er mit einem völlig reduktionistischen Sexualitätsbegriff weit hinter Freud zurück. Dies eliminierte auch eine Fülle wichtiger Überlegungen, die vor allem in der ersten Auflage seines Buchs „Massenpsychologie des Faschismus“ enthalten waren, aus dem Diskurs. Im Gegensatz zu den marxistischen Psychoanalytikern, die zwar politisch hochin‐ teressiert waren und natürlich verstehen wollten, waren die meisten Austromarxisten selbst Politiker und daher bedeutete die Reflexion der Verhältnisse zugleich eine kri‐ tische Evaluierung ihrer eigenen Praxis und der davon bestimmtem Politik. Das und ihre besondere Gefährdung auf der Flucht und in Illegalität machten eine wissen‐ schaftliche Aufarbeitung der historischen Katastrophe besonders schwierig.

49 Reich 1936, S. 61-86. 50 Reich 1973, S. 35-57.

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Für Rudolf Hilferding51 gab es 1940 kaum noch Illusionen. Er war dem Scheitern der marxistischen Linken auf der Spur und seine Gedanken sind im Fragment jener letzten Arbeit enthalten, die er in einem Brief als „Kritik des Marxismus“ bezeichne‐ te. Benedikt Kautsky hat sie unter dem Titel „Das historische Problem“ 1954 veröf‐ fentlicht. Es sind selbstkritische Reflektionen über das Verhältnis von Ökonomie und Poli‐ tik als Kernproblem des historischen Materialismus, einige politik- und staatstheore‐ tische Grundbegriffe und eine nun neue „Autonomie“ des politischen und staatlichen Handelns: alle ökonomischen Verhältnisse müssten nun in politische übersetzt wer‐ den. Er bestimmt den Unterschied zwischen „bürgerlichen“ Interessen, Vorstellungen der „herrschenden Klasse“ und „Staatsinteressen“ als Problem des „Interesses des Staates an sich selbst“.52 Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus seien neu zu durchdenken. Die ungelöste Kernfrage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft lässt sich nicht mehr umgehen. In Hilferdings Überlegungen gibt es freilich kein Unbewusstes, wirksam werden Interessen für ihn „erst dann, wenn sie bewußt geworden, denn nur Bewußtseinsvor‐ gänge können Determinanten des Willens, Motive menschlichen Handelns sein.“53 Dieser Rückfall nicht nur vor Freud, sondern vor Nietzsche und Schopenhauer ist verhängnisvoll. Hilferding handelt potenzielle Kritik in zwiespältiger Weise ab, die deutlich macht, dass ihm für sein Projekt die (psychoanalytische) Methode fehlt: „Selbstver‐ ständlich wird der wissenschaftliche Historiker die Ergebnisse der psychologischen Forschung zu berücksichtigen haben. Seine Stellung zur Psychologie wird dabei die‐ selbe sein wie die zur Erkenntniskritik, (…). Er kann also zur Psychologie und deren Ergebnissen nicht als Historiker oder Marxist Stellung nehmen, sondern, wenn er anders dazu imstande ist, als Psychologe. Eine Verbindung zwischen Marx und Freud herstellen zu wollen, ist ebenso prinzipiell verfehlt wie eine solche zwischen Marx und Kant oder Bergson. Der Historiker mag gewisse Ergebnisse der Psycholo‐ gie anwenden. Aber diese sind nur Hilfsmittel seiner Darstellung. Denn die Ergeb‐ nisse sind analytische Urteile, die klarstellen, was in der eigenen psychischen Erfah‐ rung bereits enthalten ist. Die Psychologie, die der Historiker anwenden muß, die psychologische Aufgabe, die er zu leisten hat, hat große Verwandtschaft mit der

51 Hilferding gilt heute als wenig bekannter Theoretiker; außer dem „Finanzkapital“ ist nur wenig von seinem weiten, nie gesammelt veröffentlichten Werk bekannt. 1982 erschien eine längst vergriffene kleine Sammlung seiner Aufsätze, seine ausgedehnte Korrespondenz ist verstreut und unveröffentlicht. Einzig in Japan ist er sowohl als Ökonom, wie auch als Politiker Gegen‐ stand nennenswerter Forschung. In allerjüngster Zeit interessieren sich einige postkeynesiani‐ sche Ökonomen wieder für ihn. 52 Hilferding, 1954, S. 302. 53 Ebenda.

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Aufgabe des großen Künstlers, mit den sozialpsychologischen Analysen, die z. B. die Romane Zolas enthalten oder der psychologischen Darstellung des Verhaltens der Kriegsteilnehmer bei Jules Roman („Verdun“).54 Literarische Kreativität statt psychoanalytischer Forschung ist nicht unbedingt der schlechteste Gedanke, aber doch eher keine befriedigende Einlösung des ursprüngli‐ chen Programms der Marx-Studien. Die Verknüpfung von Marxismus und sozial‐ wissenschaftlichen Arbeiten der Zeit war nicht erfolgt, bezüglich der Psychologie ei‐ gentlich kaum in Angriff genommen. Sigmund Freud konnte dem Glauben, sobald die gesellschaftlichen Bedingungen nur hinreichend verändert wären, würden die Menschen sich endgültig „gut“ verhal‐ ten, nicht viel abgewinnen. Selbst gerechte Bedingungen, die er vehement forderte, könnten die destruktiven Potenziale der Menschen nicht abschaffen. Diese gelte es vielmehr durch ordnende und Sicherheit gebende Organisation zu domestizieren. Auch er versuchte angesichts des faschistischen Aufstiegs ein „historisches Prob‐ lem“ zu verstehen, das mit dem realen aktuellen Scheitern immanent verbunden war. In seiner eigenwilligen Studie „Der Mann Moses und die monotheistische Religi‐ on“55, verfasste er eine psychosoziale Archäologie des Unbewussten – des jüdischen und des antisemitischen. Freud begnügte sich mit einem „historischen Roman“ und stellte nicht den Anspruch erklären zu können, wohl aber ging es auch ihm darum, etwas zu verstehen. Seine Geschichte der Juden, die Aufschluss über ihre Verfol‐ gung und den Hass gegen sie sucht, ist ein Ringen um eine Wahrheit, die er konstru‐ iert. Dass sie nicht beweisbar ist, soll ihre Publikation nicht hindern. Geschichte ist nie beweisbar. In gewissem Sinn entsprach der Psychoanalytiker Freud dem Gedan‐ ken des Politikers Hilferding und produzierte literarische Verstehenszusammenhän‐ ge. Die Marxisten hatten lange um eine richtige Interpretation der politischen Lage gekämpft – sie haben sie nicht, oder sehr unvollständig erfasst. Post festum, ange‐ sichts der Niederlage und ihrer existenziellen Bedrohtheit suchten sie nach einer Wahrheit der Geschichte. Freud war sich des Dilemmas zwischen psychischer und historisch-faktischer Wahrheit bewusst. Für Otto Bauer und Rudolf Hilferding – die beide der Psychoanalyse nicht ahnungslos gegenüberstanden – war das offensichtli‐ che psychologische Problem, nämlich dass die Arbeiterklasse so hochgradig gegen ihre effektiven Interessen handelte, die große ungelöste Herausforderung, für die sie von der Psychoanalyse – aber auch von anderen Psychologien – keine Hilfe in Er‐ wägung zogen. Die besondere Schwierigkeit lag natürlich beim Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. An der Grenzwerttheorie hatte Rudolf Hilferding schon 1902 kritisiert, dass sie beim Individuum ansetze, wie eben jede Sozialtheorie, die auf den Ge‐ 54 Ebenda, S. 317f. 55 Freud 1939.

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brauchswert, also die Qualität der Dinge, ihre Funktion etc. fokussiere, von indivi‐ duellen Beziehungen ausgeht, nicht von sozialen Verhältnissen.56 Der Marxismus hingegen untersuche eben Warenverhältnisse als Ausdruck sozialer Beziehungen und Gegenstand der politischen Ökonomie sei der soziale Aspekt der Ware. Agenten dieser Verhältnisse sind die vielen besonderen Menschen. Aber sie wissen (oft) nicht, was sie tun. Dies ist das Komplementärproblem der Psychoanalyse. Sie unter‐ sucht Manifestationen unbewusster Prozesse, und nur die einzelnen Menschen haben ein Unbewusstes, aber diese vielen Unbewussten sind jeweils (subjektiv überform‐ ter) Niederschlag historisch-sozialer Verhältnisse und bestimmen im kollektiven Austausch die Produktionsverhältnisse mit. Dies zusammenzudenken ist Psychoana‐ lytikern, wie Marxisten außerordentlich schwer gefallen. Daraus praxisrelevante po‐ litische wirksame Folgerungen zu ziehen, ist nie gelungen. Die Unverzichtbarkeit solcher komplexer Reflexionen wurde vor dem Scheitern von einigen wenigen Psy‐ choanalytikern und kaum von Austromarxisten erkannt. Letztlich haben Austromar‐ xisten und Psychoanalytiker in ihren Analysen die vielschichtige gesellschaftliche Realität nicht erfassen können und damit die historische Situation verkannt. Der Fa‐ schismus und das Scheitern des sowjetischen Projekts haben dann auch die Diskus‐ sion darüber weitgehend eliminiert.

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56 Siehe: Bottomore 1981, S. 4.

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Gerhard Botz Austromarxistische Faschismustheorien: Otto Bauer und Karl Renner über faschistische Massenbewegungen und Herrschaftsformen

Obwohl sich der Austromarxismus als einheitliche theoretische „Schule“ am Ende des Ersten Weltkrieges schon aufzulösen begonnen hatte,1 bestimmten seine Grund‐ sätze die theoretischen Orientierungen der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs“ in der sogenannten Periode von Revolution und Gegenrevoluti‐ on. Wie zunächst Otto Bauer, der unbestrittene intellektuelle Führer des Austromar‐ xismus der Zwischenkriegszeit,2 und sein großer theoretischer und politischer Kon‐ trahent, Karl Renner,3 (und einige andere Theoretiker und Politiker der österreichi‐ schen Sozialdemokratie wie Max Adler, Wilhelm Ellenbogen, Otto Leichter und Ju‐ lius Deutsch4) in ihrem Denken auf die Herausforderung der Faschismen und Rechtsdiktaturen reagierten, ist das Thema dieses Beitrags.5 Vor allem zwei Fragen sind es, die heute noch besonders interessieren: Auf wel‐ che „soziale Basis“ stützte sich der Faschismus als Massenbewegung vor der Macht‐ übernahme? Und welche sozialen Kräfte ermöglichten den faschistischen Bewegun‐ gen in Italien, Deutschland und Österreich, die Machtübernahme und Sicherung ihrer Herrschaft? Dass bei diesen Fragen das Problem des Verhältnisses von Faschis‐ mus und kapitalistischer Gesellschaft im Vordergrund stehen würde, ergab sich aus dem marxistischen Ansatz von selbst. Dass die üblicherweise einander ausschließen‐ den Ansätze, die „mikrosoziologischen“ und die gesamtgesellschaftlichen Fragestel‐ lungen, ohne deren gleichzeitige Berücksichtigung eine hinreichende Erklärung des 1 Bisher umfassendstes Werk, immer noch „klassisch“: Leser 1968; vor allem auch: Bottomore 1978; Löw/Mattl/Pfabigan (Hrsg.), 1986. 2 Nunmehr umfassend und kritisch: Hanisch 2001; dagegen mit gegensätzlichem Bias: Leichter 1979. 3 Saage 2011. 4 Glaser 1981; La Rocca 2001. 5 Eine ausführliche Version dieses Beitrags ist ursprünglich an einem fachlich wenig im „Westen“ sichtbaren Ort erschienen, siehe: Botz 1980, S. 169 – 197. In diesem Band ist eine Kurzfassung präsentiert, in der ich mich meist auf die Druckversionen der damals bereits publizierten Quel‐ lenwerke beziehe und sonst im Wesentlichen nur Fehlerkorrekturen und stilistische Änderungen zu den erörterten Themenbereichen vorgenommen habe; nur vereinzelt habe ich hier nachträgli‐ che Ergänzungen aufgenommen. Insgesamt spiegelt dieser Beitrag den damaligen Diskussions‐ stand der historischen und sozialwissenschaftlichen Faschismus- und Diktaturenforschung wi‐ der. Als Vergleichshintergrund können heute dienen etwa: Bauerkämper 2006; Dipperf/Hude‐ mann/Petersen (Hrsg.) 1998; Griffin (Hrsg.) 2004; Griffin 2018; Linz 2009; Paxton 2006; Reichardt 2007. Für Kürzungsvorschläge danke ich Michael R. Krätke, Ridvan Ciftci und An‐ dreas Fisahn. Ergänzend siehe auch: Botz 1974: S. 28 - 53 und Botz 1976: S. 129 – 156.

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politisch-gesellschaftlichen Phänomens auch im marxistischen Denken nicht mög‐ lich ist, ist evident.6 Dieser methodische Doppelweg spielte in den theoretischen Versuchen der Austromarxisten eine, wenngleich unterschiedlich gewichtete Rolle, entsprach aber ihrer Selbstverortung zwischen revolutionärem Enthusiasmus und nüchterner Realpolitik, zwischen orthodoxem Marxismus und sogenannter „bürger‐ licher“ Sozialwissenschaft.7

Otto Bauers Erklärung des Faschismus aus einem Klassengleichgewicht (1924) Otto Bauer selbst führte schon Anfang 1924 in der theoretischen Zeitschrift des Aus‐ tromarxismus, „Der Kampf“, seine Vorstellungen über den Faschismus näher aus.8 In einer Kontroverse mit dem führenden linksliberalen Staatsrechtler Hans Kelsen9 bemühte er sich nachzuweisen, dass Marx und Engels noch eine andere Form des Staats gekannt hätten als die eines bloßen Mittels zur Aufrechterhaltung des ökono‐ mischen Ausbeutungsverhältnisses, wie Kelsen im Hinblick auf „orthodox-marxisti‐ sche“ Positionen erinnerte. Auch Otto Bauer setzt nicht weit von dieser These mit seiner Erklärung des Bonapartismus an: Wenn eine junge, aufsteigende Klasse sozial und ökonomisch so erstarkt sei, dass sie den alten geschwächten Klassenkräften das Gleichgewicht halten könne, komme es zu einer zeitweisen Verselbständigung der Staatsgewalt gegenüber beiden Klassen. Wenn die beiden Klassen gleich stark sind, könne die Staatsgewalt nicht mehr das Herrschaftsinstrument einer einzigen Klasse bleiben. Es werde zu einem Faktor, der alle Klassen niederhalte. Marx und Engels hatten so das Aufkommen des Absolutismus aus dem scheinbaren Gleichgewicht zwischen Bürgertum und Feudalständen und die Entstehungen des Bonapartismus durch einen Zustand erklärt, „wo die Bourgeoisie die Fähigkeit, die Nation zu be‐ herrschten, schon verloren, und wo die Arbeiterklasse diese Fähigkeit noch nicht er‐ worben hatte“.10 Auch für die Teilung der Staatsmacht zwischen zwei Klassen in einer sozialen Gleichgewichtssituation fand Bauer in den Werken Marx' über Eng‐ land seit der „Glorious Revolution“ von 1688 eine Begründung. Österreich sei daher auch in der Periode der sozialdemokratischen Koalitionsregierungen (mit fast allen „bürgerlichen Parteien“ und dann nur noch mit den Christlichsozialen)

6 7

Vgl. auch Mommsen 1976: S. 179; De Felice 1977: S. 32 - 51; Saage 1976. Siehe allgemein zu dieser noch wenig präzisierten Zwischenstellung des Austromarxismus: Bauer 1970; Bauer 1924: S. 62 f.; ähnliche Anhaltspunkte im Werk von Max und Friedrich Adler und K. Renner, siehe auch: Lazarsfeld 1975: S. 155; Glaser 1976: S. 16 – 22; Mozetič, 1987. Pfabigan,1990: S. 49 – 66. 8 Bauer 1924: S. 57 - 67. 9 Kelsen 1924: S. 50 - 56. 10 Bauer zitiert hier Marx 1973: S. 313 - 375; Marx 1960: S. 204 ff.

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(1918-1920)11 und in der weiteren stillen Zusammenarbeit der Klassengegner eine echte „Volksrepublik“ (bis 1922) gewesen. Auch in vielen anderen Ländern sei durch die Revolution am Ende des Ersten Weltkrieges ein Zustand des „Gleichgewichts der Klassenkräfte“ herbeigeführt wor‐ den. Ein solches komme in dreierlei Regierungsformen zum Ausdruck: In vielen west- und mitteleuropäischen Ländern konnten weder die bürgerlichen, noch die Ar‐ beiterparteien parlamentarisch allein regieren. Dort sei es entweder zu förmlichen Koalitionsregierungen oder zu verdeckten Formen der Kooperation der Klassengeg‐ ner gekommen, zum Teil auch unter Umgehung des Parlaments. In anderen Ländern haben bewaffnete Parteien die Staatsgewalt erobert und ihrer Diktatur alle Klassen unterworfen. Die eine Form dieser Diktatur sei in der Sowjet‐ union gegeben. „In Rußland ist der Bolschewismus, in seinen Anfängen eine Diktatur des Proletariats, unter dem Druck der ökonomischen Notwendigkeiten zu etwas ganz anderem geworden: Er ist heute, ganz ähnlich wieder Faschismus, die Diktatur einer über den Klassen stehen‐ den regierenden Kaste, die in ihrer Praxis die Klasseninteressen der Arbeiter, der Bauern und der Nep-Männer, der neuen Bourgeoisie, gegeneinander ausbalancieren muß“.

Die andere Erscheinungsform der Diktatur über zwei sich paralysierende Klassen‐ kräfte sei der Faschismus: „Der italienische Faschismus von 1922 ist das Gegenstück des französischen Bonapartis‐ mus von 1851. In beiden Fällen hat ein Abenteurer, auf Banden bewaffneter Abenteurer gestützt, das bürgerliche Parlament auseinanderjagen, damit die politische Herrschaft der Bourgeoisie stürzen und seine Diktatur über alle Klassen aufrichten können, weil die Bourgeoisie selbst ihre politische Vertretung im Stiche ließ, ihre eigene Klassenherrschaft preisgab, sich der gegen ihre eigene Staatsmacht rebellierenden Gewalt in die Arme warf, um, gegen Preisgabe ihrer politischen Herrschaft, ihr vom Proletariat bedrohtes Eigentum zu retten“.

In einer Fußnote fügte Bauer dazu erläuternd an: „Der Faschismus ist nicht eine Diktatur der Bourgeoisie, so wenig wie es der Bonapartismus war.“ Die mit diktato‐ rischen Vollmachten ausgestatteten Regierungen Wilhelm Marx in Deutschland und Istvan Bethlen in Ungarn dagegen nannte er eine „Diktatur der Bourgeoisie“. Uns interessiert hier nicht die Frage, wie haltbar vom marxistischen Standpunkt aus die Annahme eines Klassengleichgewichts ist. Obwohl Bauer selbst sie schon gegen Ende der zwanziger Jahre stillschweigend abschwächte, ist diese Theorie des Gleichgewichts der Klassenkräfte eine genuine theoretische Weiterentwicklung im weiter werdenden Feld des Marxismus. Es soll hervorgehoben werden, dass Otto Bauer damit früher als andere marxistische Theoretiker, abgesehen vielleicht von

11 Allg. kritisch: Rabinbach 1987 und Kulemann 1979 gegenüber Leser 1968.

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dem deutschen Rechtskommunisten August Thalheimer,12 den Faschismus mit dem direkt von Marx abgeleiteten Begriff „Bonapartismus“ erklärte. Die Differenzierung zwischen sozialer und politischer Herrschaft der Kapitalistenklasse ermöglichte es Bauer, das widerspruchsvolle Verhältnis zwischen Faschismus und bürgerlichen Kräften anzusprechen, ein Problem, dessen Lösung zu dieser Zeit auch nur einigen italienischen Linkssozialisten und Kommunisten gelungen war.13 Auch als Mitte der zwanziger Jahre die faschistischen Bedrohungen in Österreich wie in ganz Mitteleuropa nachgelassen hatten, hielt Otto Bauer weiterhin am Bona‐ partismus-Modell fest. So fand dieses auch in die wohl wichtigste Stelle des 1926 auf dem Linzer Parteitag angenommenen neuen Parteiprogramms der österreichi‐ schen Sozialdemokratie Eingang, und zwar dort, wo es um die Erringung der Staats‐ macht und die Abwehr gegenrevolutionärer Gewaltanwendung durch einen rigiden parlamentarischen Mehrheitseinsatz (katastrophal missverständlich von den Verfas‐ sern des Programms „Diktatur des Proletariats“ genannt), aber auch durch Andro‐ hung von (defensiver) Gewalt ging.14 Auch wenn in diesem Parteiprogramm immer noch weniger vom Faschismus als von monarchistischer Gefahr gesprochen wurde, das Bonapartismus-Modell war damit für lange Zeit von autoritativer Stelle quasi verbindlich festgelegt. Dennoch verliefen die von den oben genannten anderen sozi‐ aldemokratischen Politikern, Journalisten und Funktionären bis in die frühen dreißi‐ ger Jahre vorgetragenen Faschismusinterpretationen zum Teil auch in anderen Bah‐ nen.

Otto Bauers bonapartistische Faschismustheorie von 1936 Erst als die Weltwirtschaftskrise das politische System der Weimarer Republik ins Wanken brachte und der kampflose Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland (in einer Art austromarxistischer Geschichtsautomatik) prognostizierbar wurde, begann Otto Bauer – wahrscheinlich in den frühen dreißiger Jahren - eine große, seit länge‐ rem geplante - wirtschafts- und gesellschaftsgeschichtliche und politische Situati‐ onsanalyse niederzulegen. Hiervon ist nur ein über 700 Seiten umfassendes hand‐ schriftliches Manuskript, von dem die Anfangsseiten und das Titelblatt fehlen, erhal‐ ten. Es war lange verschollen, bis es im „Internationalen Institut für Sozialgeschich‐ te“ von dem Grazer Soziologen Cristian Fleck – im Zusammenhang mit einer Studie

12 Tjaden 1964: S. 29 und 272 - 275; Dülffer 1976: S. 112 f.; Wippermann 1975: S. 42 - 48. 13 Kliem/Kammler/Griepenburg 1967: S. 10; vgl. auch Nolte 1967: S. 37. 14 Protokoll des sozialdemokratischen Parteitages 1926, S. 173 – 177; siehe auch: Katsoulis,1975.

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über Otto Leichter, einem engen Wiener Mitarbeiter Bauers15 - gefunden wurde.16 Es wurde jedoch bis heute nicht publiziert. Das Manuskript endet abrupt bei der Stelle, an der sich Bauer mit den politisch immer katastrophaler werdenden Auswirkungen der weltwirtschaftlichen Krisen und dem Heraufziehen immer diktatorischer werdender Regierungen in Deutschland be‐ fasst und sich anschickt, aus seinen weit ausholenden politökonomischen Überle‐ gungen der vorausgehenden Jahre (festgelegt in früheren Büchern und Einzelaufsät‐ zen) eine große Summe zu ziehen, die im Möglichkeitsfeld zwischen der Macht‐ übernahme Hitlers und einem diesen stürzenden Generalstreik, vielleicht aber auch schon bei einem kommenden neuem Weltkrieg gelegen sein könnte. Ich vermute, textimmanent interpretierend, dass die Ereignisse des 30. Jänner 1933 für Otto Bau‐ er eine Fortführung der ursprünglichen Argumentationslinie dieses Buches (vorerst) hinfällig machten. Ich sehe in diesem gigantischen Texttorso (der parallel mit der sich verschlech‐ ternden politischen Lage offensichtlich immer schneller hingeschrieben worden war) die gedanklichen Grundlagen für jene Bonapartismus-bezügliche Faschismustheorie, um die es in diesem Abschnitt hauptsächlich geht, gelegt wurden. Bauer erwähnt eingangs in „Zwischen zwei Weltkriegen“,17 dass dieses Buch eine Art Neufassung (und wohl auch Modifikation) des ihm verlorenen gegangenen, titellosen Manu‐ skripts darstellt. Dieses dürfte in Otto Bauers Wohnung am 12. Februar 1934 liegen geblieben und über Freunde oder Genossen letztlich in Amsterdam gelandet sein. Jedenfalls dürften das Scheitern des Schutzbund-Aufstandes und die vorausge‐ hende staatsstreichartige Errichtung der autoritären Diktatur Dollfuß‘ unter Einbe‐ ziehung auch der faschistischen Heimwehr neuerlich Anstöße zu einer Revision älte‐ rer Ansichten gegeben haben. Jedenfalls fand Otto Bauer (im Brünner Exil) Zeit, seine Theorie des Faschismus neu zu durchdenken und ausführlich darzustellen. In seinem 1936 in Preßburg erschienenen Buch, das die Entwicklung des Kapitalismus und Sozialismus in der Zwischenkriegszeit behandelt, widmet er der Faschismus‐ theorie ein ganzes Kapitel,18 das, losgelöst aus dem Gesamtzusammenhang,19 zum bekanntesten Text Otto Bauers über den Faschismus geworden ist. Aus einer Refle‐ 15 Fleck / Berger 2000. 16 Christian Fleck hat Anfang der neunziger Jahre dieses Manuskript im IISG Amsterdam ent‐ deckt, eine Herausgabe des Textes vorbereitet und mir eine Kopie zur Einsicht übergeben; ich danke ihm dafür und für weitere mündliche und schriftliche Hinweise. Siehe nun auch: Karl Heinz Roth (2006): Suche nach den fehlenden Seiten eines handschriftlichen Manuskripts von Otto Bauer über die Weltwirtschaftskrise, in: H-Soz-Kult, 20.06.2006, (www.hsozkult.de/articl e/id/artikel-751 [31.5.2018]). Karl Heinz Roth von der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bremen bereitet nun mit Michael Krätke, Amsterdam eine solche Neuausgabe vor. Auch das „Marie Jahoda-Otto Bauer Institut“ in Linz soll sich auf die Suche nach den feh‐ lenden Textteilen aufgemacht haben. 17 Bauer 1936. 18 Bauer 1936: S. 113 -143. 19 Abendroth 1967, S. 143-167.

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xion eigener Fehler und einer überraschend weitgehenden Kritik der eigenen sozial‐ demokratischen vor-1934-Politik entstanden, ist „Zwischen zwei Weltkriegen“ auch eine theoretische Untermauerung der Politik der sozialistischen Arbeiterbewegung im (zum Teil vom Ausland her geführten) Kampf gegen die Dollfuß-SchuschniggDiktatur geworden. Otto Bauer unterscheidet durchgehend zwischen faschistischer Bewegung und fa‐ schistischem Herrschaftssystem, eine begriffliche Trennung, die unter marxistischen Theoretikern der dreißiger Jahre durchaus noch nicht üblich war. Der Faschismus ist für ihn daher nicht monokausal erklärbar, sondern nur aus der engen Verschlingung von drei sozialen Prozessen: „Erstens hat der Krieg Massen von Kriegsteilnehmern aus dem bürgerlichen Leben hin‐ ausgeschleudert und deklassiert [...] und den im Krieg erworbenen Lebensformen und Ideologien hangend, bildeten sie nach dem Krieg die faschistischen M i l i z e n, die völ‐ kischen W e h r v e r b ä n d e mit einer eigenartigen militaristischen, antidemokrati‐ schen, nationalistischen Ideologie. Zweitens haben die Wirtschaftskrisen der Nachkriegszeit breite Massen von Kleinbür‐ gern und Bauern verelendet. Diese wandten sich enttäuscht und haßerfüllt gegen die De‐ mokratie, mittels derer sie bisher ihre Interessen vertreten hatten, sie scharten sich um die militaristischen Milizen und Wehrverbände. Drittens haben die Wirtschaftskrisen der Nachkriegszeit die Profite der Kapitalistenklasse gesenkt. Die Kapitalistenklasse [...] will ihre Profite durch Steigerung des Grades der Ausbeutung wiederherstellen [...]. Sie bedient sich der um die faschistischen und völki‐ schen Milizen gescharten rebellischen Massenbewegungen der Kleinbürger und Bauern zuerst, um die Arbeiterklasse einzuschüchtern und in die Defensive zu drängen, später, um die Demokratie zu zerschlagen. [...] Sie verhält ihren Staatsapparat [...] schließlich dazu, die Staatsmacht den Faschisten zu übergeben.“20

Bauer schreibt also den faschistischen Bewegungen einen doppelten Charakter zu, der deren soziale Heterogenität und doppelte Entstehungsursachen, Kriegsauswir‐ kungen und Wirtschaftskrisen widerspiegelt. Die Entstehung der faschistischen Mas‐ senbewegungen allein hätte jedoch zu deren Machtübernahme in einigen Ländern nicht ausgereicht, wären nicht die skizzierten gesamtgesellschaftlichen Krisenfolgen dazugekommen. Dadurch sei sowohl die Arbeiterschaft, die in der bürgerlichen De‐ mokratie beachtliche politische und gewerkschaftliche Machtstellungen eingenom‐ men hatte, in ihrer Widerstandskraft geschwächt worden. Ähnliches geschah auch mit der von ihren kleinbürgerlichen und bäuerlichen Wählermassen verlassenen Bourgeoisie. Sie konnte sich zur Unterdrückung der Arbeiter nicht mehr der Mittel des parlamentarischen Rechtsstaates bedienen. Sie unterstützte und besoldete daher eine gesetzwidrige „Privatarmee“, die faschistische Bewegung. Diese wuchs ihr aber, zur Massenbewegung geworden, über den Kopf und schickte sich zur Machter‐

20 Bauer 1936: S. 113 -143; siehe auch: Bauer 1976c: S. 137.

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greifung an. Vor der Wahl, die rebellischen Massenbewegungen der Kleinbürger und Bauern niederzuwerfen und so „das niedergeworfene Proletariat zu entfesseln“ oder die Regierungsmacht an die faschistische Partei zu übergeben, entschlossen sich die industriellen und agrarischen Großeigentümer, selbst keineswegs faschistisch gewor‐ den, für die zweite Alternative, für die Machtübernahme des Faschismus. Diese re‐ sultiert also letzten Endes wieder aus einem Gleichgewicht der beiden großen Klas‐ senkräfte oder vielmehr aus der Schwäche beider Klassen.21 Der Faschismus an der Macht errichtete nun wie der Bonapartismus seine Dikta‐ tur über alle gesellschaftlichen Klassen, auch über die Bourgeoisie: Wirtschaftlich blieb diese jedoch herrschend, ja sie konnte ihre Stellung wieder befestigen. Aber: „Die aus der Wirtschaftskrise hervorgegangene, vom Faschismus weiter entwi‐ ckelte 'dirigierte Ökonomie' zwingt die faschistische Diktatur tagtäglich zu wirt‐ schaftlichen Entscheidungen, die den Interessen bald dieser, bald jener Fraktion der herrschenden Kapitalistenklasse verletzen und dadurch die regierende faschistische Herrenkaste in Gegensatz zu Fraktionen der herrschenden Kapitalistenklasse set‐ zen.“22 Es treten daher schwere Spannungen innerhalb der faschistischen Diktatur auf, deren soziale Basis sich zunehmend verengt. Diese „soziale Basis“ umfasst wegen der wirtschafts- und außenpolitischen Erfol‐ ge des Faschismus anfangs neben der ganzen Kapitalistenklasse auch breite Volks‐ massen, die in antikapitalistischer Sehnsucht eine „zweite Revolution“ erwarten. Um nicht die Unterstützung von Kapital und Großgrundbesitz zu verlieren, wirft der Fa‐ schismus solche Kleinbürgerrebellionen in den eigenen Reihen blutig nieder (Mat‐ teotti-Krise, „Röhm-Putsch“). In der weiteren Folge desillusionieren Otto Bauers „Prognose“ (!) zufolge die inflationistische Wirtschaftspolitik und die Opfer der wirtschaftlichen und militärischen Kriegsrüstung breite Massen. Auch viele Schich‐ ten der Bourgeoisie, deren politischen Traditionen und Ideologien der faschistische Totalitätsanspruch widerspricht, die unter dem faschistischen Terror leiden und die kriegerische Auseinandersetzungen vermeiden wollen, geraten in Widerspruch zu Politik der faschistischen Regierungsmacht. Doch erlangen „die kriegerischen Ele‐ mente der Kapitalistenklasse, vor allem die Rüstungsindustrie und die mit dem Offi‐ zierskorps versippte grundbesitzende Aristokratie“, die Oberhand. Wenn die Arbei‐ terklasse den Faschismus nicht revolutionär stürze, so prognostizierte Otto Bauer schon 1936, werde es daher zu einem neuen Weltkrieg kommen. Es handelt sich hier um eine freie Variation des Bonapartismus-Modells, das (we‐ gen der eben skizzierten Isolierung dieses Buches aus seinem größerem Zusammen‐ hang) scheinbar vom weltgeschichtlichen Zusammenhang in der Epoche des moder‐

21 Bauer 1936, S. 139 ff. 22 Ebenda.

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nen Kapitalismus absieht und dessen Unterschied vom Konkurrenz-Kapitalismus zur Zeit Louis Napoleons für unwesentlich erachtet.

Otto Bauers Theorie des Faschismus als Imperialismus (1938) Die Okkupation Österreichs (wie Bauer den „Anschluss“ immer nennt23) durch die Truppen des deutschen Faschismus und das Ende der bisherigen sozialistischen Un‐ tergrundarbeit schufen den äußeren Rahmen für eine einschneidende Veränderung von Otto Bauers Faschismustheorie. Im Frühsommer 1938 arbeitete Otto Bauer im Pariser Exil an einem Buch, das 1939 unter dem Titel „Die illegale Partei“24 aus sei‐ nem Nachlass herausgegeben wurde. Dessen letztes, nicht vollendetes Kapitel „Der faschistische Etatismus“ hat Bauer noch in seinen letzten Lebenswochen erweitert und zur Veröffentlichung der Broschüre vorbereitet. Dieses Manuskript-Fragment, das jedoch eine zusammenhängende Faschismusanalyse enthält, wurde posthum in seiner Zeitschrift „Der sozialistische Kampf“ veröffentlicht.25 Dieser Pariser Artikel ist eine wichtige Arbeit Otto Bauers über den Faschismus, aber praktisch unbekannt geblieben. Sie enthält folgende Bestimmung des Faschismus:26 Die allgemeinen Bedingungen des Faschismus liegen in der Entwicklung des Ka‐ pitalismus und den daraus resultierenden imperialistischen Tendenzen begründet. Die liberale Phase des Kapitalismus wurde seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhun‐ derts von der monopolistischen Konzentration des Kapitals, von der zunehmenden Organisierung der gesellschaftlichen Kräfte und vom Protektionismus überwunden. Auf internationaler Ebene kam es dagegen zu verschärfter Konkurrenz: „Der Imperialismus suchte der Kapitalistenklasse jedes Landes, die monopolistische Be‐ herrschung erweiterter Absatzmärkte, Anlagesphären und Rohstoffquellen zu erobern.“

Die Tendenz zur zunehmenden etatistischen Organisation der Wirtschaft bei Auf‐ rechterhaltung der kapitalistischen Eigentumsordnung und Einkommensverteilung habe schon einen vorläufigen Höhepunkt im „Kriegssozialismus“ des Ersten Welt‐ krieges erreicht. Nach 1918 wurde der Trend zur staatlichen Steuerung der Wirt‐ schaft vorläufig wieder rückgängig gemacht, um jedoch bald neuerlich aufzuleben. „Einerseits zwangen die schwere Wirtschaftskrise von 1929, die internationale Kreditkri‐ se von 1931 die Staaten zu immer tieferen Eingriffen in das Wirtschaftsleben. Anderer‐ seits zwingt die Entwicklung der modernen Kriegstechnik jeden Staat, durch staatliche Reglementierung der Wirtschaft seine wirtschaftliche Kriegsrüstung zu stärken [...]. 23 24 25 26

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Das bedeutet hier nicht, dass ich diese Einschätzung übernehme, siehe: Botz 2018, S. 55-172. In: Bauer 1976a: S. 347 - 585. Bauer 1938: S. 75 - 83. Abgedruckt lange Zeit nur in: Die Zukunft. Sozialistische Monatsschrift für Politik und Kultur, Jg. 1948, Heft 2 (Februar 1948), S. 33 - 41 und nun Bauer 1976: S. 12 – 24.

Während aber in den demokratischen Ländern die Widerstände der einander widerstrei‐ tenden Sonderinteressen der demokratischen Steuerung der Wirtschaft enge Schranken setzen“,27

erlangt diese in den faschistisch gewordenen Ländern in einem als „nationaler Sozia‐ lismus“ bezeichneten faschistischen Etatismus ihre vollkommenste Ausprägung. Wenn „die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte [...] zu der auf das Privateigentum an Produktionsmitteln gegründeten [...] Gesellschaftsordnung“ in einen solchen Widerspruch geraten ist, dass ohne schweren Nachteil und Funktions‐ störungen die kapitalistische Wirtschaft nicht mehr länger „dem Walten des indivi‐ duellen Profitstrebens überantwortet bleiben kann“, dann „kehrt die kapitalistische Bourgeoisie in ihrem Greisenalter [...] zum totalitären Absolutismus zurück“, wie sie schon in ihren Anfängen dem monarchischen Absolutismus als ökonomische Stütze gedient hat. Aus dieser „Monopolkapitalismus-Theorie“, eigentlich einer Adaptierung von Hilferdings „organisiertem Kapitalismus“28 an linkssozialistische Positionen, leitet Bauer alle anderen Elemente des Faschismus und dessen Genese ab. Zu den allge‐ meinen, epochalen Voraussetzungen des Faschismus treten besondere Bedingungen der Machtübernahme in den 1938 „vollfaschistischen Ländern“, Deutschland und Italien. Sie sind dreifach: a) der aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangene aggressive Imperialismus der be‐ siegten und unbefriedigten Mächte, der im Gegensatz zum „konservativen Impe‐ rialismus“ der Sieger auf eine Revision der Machtverteilung in der Welt abzielt; b) die Krise der jungen bürgerlichen Demokratien in denselben Ländern als Folge der Aufeinanderfolge von halber, die kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht aufhebender Revolution und Konterrevolution und eine daraus resultierende Ver‐ schärfung der Klassengegensätze im Gegensatz zu den westeuropäischen Staa‐ ten, wo die Nachkriegs-Massenbewegungen die Autorität der vom Sieg gestärk‐ ten Bourgeoisie die bürgerliche Demokratie nicht zu erschüttern vermochten; c) die wirtschaftlichen Krisen, die Italien und Deutschland am schwersten getroffen haben, mit all ihren sozialen und politischen Folgen. Der siegreiche Faschismus stellt „nicht nur eine wesentlich neue Staatsordnung, son‐ dern auch eine wesentlich neue Wirtschafts- und Arbeitsverfassung her“, die im Rahmen der dargestellten Gesamtentwicklung des Kapitalismus zu begreifen ist. Die faschistische Wirtschaftsverfassung ist die höchste Steigerung des von Bauer aus‐ führlich beschriebenen „Etatismus“. Dieser, die faschistische „Wehrwirtschaft“, dient unmittelbar staatlichen Machtzwecken (mittelbar dient er der Aufrechterhal‐ 27 Ebenda. 28 Hilferding, 1910.

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tung der kapitalistischen Wirtschaft), der militärischen Aufrüstung und der wirt‐ schaftlichen Autarkie. Seine imperialistischen Ziele gibt der Faschismus als Kampf gegen „Marxismus“ und „Bolschewismus“ aus und trägt sich als Vorkämpfer der ka‐ pitalistischen Konterrevolution den konservativ-imperialistischen Ländern an.29 Die Voraussetzung der faschistischen Volkswirtschaft ist die faschistische Ar‐ beitsverfassung, die die Errungenschaften der Arbeiterklasse aufhebt, und die Vor‐ aussetzung beider ist „das 'totalitäre' politische Unterdrückungs- und Herrschaftssys‐ tem“. Mit Hilfe eines Propaganda- und Organisationsmonopols beherrscht und kon‐ trolliert eine „neue Bürokratie“ als „Sachwalterin der Klasseninteressen der Kapita‐ listenklasse“ terroristisch alle Lebensäußerungen der Gesellschaft. Diese regierende Kaste ist aus der faschistischen Partei hervorgegangen, sie hat sich der staatlichen Bürokratie unterworfen und ist mit ihr verschmolzen. Trotz Terror und propagandis‐ tischer Beeinflussung gibt es aber nach Bauer – aus seiner Erfahrung des Jahres 1938 generalisierend - drei potentielle Gegner des Faschismus: die unterdrückte Ar‐ beiterschaft, dann auch breite, enttäuschte Schichten der faschistischen Partei und unzufriedene Kreise der ökonomisch herrschenden Klasse. Wenn alle drei Arten der Unzufriedenheit und Opposition zusammenwirken, dann, so wollte Bauer wahr‐ scheinlich ausführen, ist die Stunde der aus Massenstreiks hervorgehenden „antifa‐ schistischen Revolution“ gekommen, die sich nicht mit bloß politischen Erfolgen zufrieden geben werde. An dieser Stelle bricht das Manuskript ab.30 (Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass auch an dieser Stelle der „großen“ Erzählung in faschis‐ mustheoretischen Texten Otto Bauers wie schon 1933 auch im Jahr 1938 wieder die Darstellung abrupt abbricht: im ersteren Fall war es die NS-Machtübernahme in Deutschland, im letzten Fall der „Anschluss“ Österreichs.) Dieser Faschismusdefinition bei Otto Bauer entsprechen nur die Herrschaftssyste‐ me in Deutschland und Italien seit Mitte der dreißiger Jahre. Bauer nimmt aber an, dass der Faschismus auch dort wirksam werden kann, wo offensichtlich nicht diesel‐ ben gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben sind wie in den „vollfaschistischen Staaten“. In anderen Ländern, etwa in Österreich 1934 bis 1938, in Rumänien, Polen, Ungarn und in den baltischen Staaten, sind etwa zur gleichen Zeit gegenrevo‐ lutionäre Diktaturen entstanden, denen die Massenbasis fehlt und die nur, oberfläch‐ lich betrachtet, mit dem Faschismus gleichgesetzt werden können. Dort haben die reaktionären regierenden Parteien, wenn sie von faschistischen Kleinbürgerbewe‐ gungen bedroht wurden, die faschistischen Herrschaftsmethoden nachgeahmt und „halbfaschistische Diktaturen“ aufgerichtet.31

29 Bauer 1976: S. 75 ff.; S. 80 f. 30 Bauer 1976: S. 79 - 83. 31 Ebenda, S. 80; vgl. auch Bauer 1971: S. 157; ausführlicher dazu siehe Hanisch 1974: S. 251 253; Botz 1974: S. 47 ff.

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Verglichen mit Bauers Faschismustheorie von 1936, sind 1938 die universellen und ökonomischen Bedingungen (Imperialismus) stärker hervorgehoben, vermutlich eine direkte Folge der verstärkten Expansion des deutschen Faschismus („Okkupati‐ on“ Österreichs) und neuer Niederlagen der internationalen Arbeiterbewegung. Zu‐ gleich tritt das Bonapartismus-Modell zurück, vom Klassengleichgewicht ist kaum noch die Rede. In der zugrunde gelegten Imperialismuskonzeption, immer noch, wie zur Zeit um den Ersten Weltkrieg, eng verbunden mit den Theorien Rudolf Hilfer‐ dings und Rosa Luxemburgs, ist eine eher äußerliche Annäherung an stalinistische Thesen zu registrieren. So ist auch der faschistische „Etatismus“ Bauers in einem gerade umgekehrten Bedingungsverhältnis zu monopolkapitalistischen Machtgrup‐ pen gesehen. Dies entsprach – so meine These – einerseits der damaligen Notwendigkeit des Abbaus von Schranken zu den Kommunisten und einer sozialistisch-kommunisti‐ schen Einheitsfront im Zeichen des antifaschistischen Widerstandes. Bauer geht so weit, in dieser Periode, selbst während des anlaufenden Stalinistischen Terrors, einen einheitlichen „integralen Sozialismus“ zu propagieren, der wohl spätestens nach den kommunistischen Machtübernahmen in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Welt‐ krieg geplatzt wäre und, was die österreichische Sozialdemokratie auf keinen Fall wollte, zur Spaltung der Arbeiterbewegung und zu einem ganz anderen Weg der Zweiten Republik nach 1945 geführt hätte. Andererseits ist es der Versuch, die prak‐ tischen Positionen der nach links gewanderten Österreichischen „Revolutionäre So‐ zialisten“ in der Theorie einzuholen und ein Fußfassen der KPÖ in der österreichi‐ schen politischen Landschaft zu verhindern. Das führte auch zu einer Annäherung an die kommunistische Faschismustheorie, für die die enge Verknüpfung mit dem Imperialismus und der Kriegsgefahr schon seit den zwanziger Jahren ein konstantes Thema war. Hierher gehört auch die eigent‐ lich ganz „unsozialdemokratische“ These – verstanden als Rechtfertigung reformis‐ tischer Praxis –, eine wichtige Voraussetzung für das Aufkommen des Faschismus sei das Steckenbleiben der Nachkriegsrevolution im Politischen gewesen. Ebenso hat Bauer in seinen Stellungnahmen zum Faschismus eine für die meisten sozialde‐ mokratischen Interpretationen charakteristische Bewertung aufgegeben, nämlich die, wonach die Spaltung der Arbeiterklasse durch die kommunistischen Parteien und deren lange Zeit nicht in erster Linie gegen den Faschismus gerichtete Strategie es gewesen seien, dass die Kommunisten mehr oder weniger mitverantwortlich für den faschistischen Sieg zu machen sind. Otto Bauer hatte noch 1936 in dieser Richtung argumentiert. Trotzdem weicht Bauers letzte Faschismustheorie in ganz wesentlichen Punkten von der, die im Sowjetkommunismus seit 1933 verbindlich war,32 ab. Solche Punkte 32 Siehe Blanke/Reiche/Werth 1965: S. 33 ff.; Fetscher 1967: S. 218 f.; Schieder 1972: S. 282 302.

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sind die besondere Bewertung der Rolle des Kleinbürgertums und der faschistischen Massenbasis, die sogar als in die Arbeiterklasse (Arbeitslose!) hineinreichend gese‐ hen wird, die Beachtung historischer Faktoren wie der Schwäche der demokrati‐ schen Tradition in den faschistisch gewordenen Ländern oder der spezifischen Fol‐ gen des verlorenen Weltkrieges, die klassenmäßige Verselbständigung der Staats‐ macht im Faschismus, und der „Primat der Politik“. Im Kontrast zur Trockenheit der stalinistischen Definition des Faschismus als „die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“33 steht das differenzierte, eine große Zahl von empirischen Be‐ funden in logischen Zusammenhang bringende Erklärungsmuster Bauers, in dieser Eigenschaft wie teilweise auch inhaltlich verwandt dem Hilferdings, Trotzkis und Togliattis.34 In diesem Sinne hat Otto Bauer als einziger austromarxistischer Theore‐ tiker eine auch international führende Stellung in der Entwicklung der frühen Fa‐ schismustheorien in den Jahren 1922 bis 1939 eingenommen, in einer Periode, die Ernst Nolte als die große Zeit der sozialistischen Theoretiker bezeichnet hat.35

Karl Renners Nachkriegs-Faschismusinterpretation (nach 1945) Nach der siebenjährigen NS‑Herrschaft in Österreich von 1938 bis 1945 und dem Erstarken des Sowjetkommunismus bis vor die Tore Wiens beschäftigte sich Karl Renner nochmals ausführlich mit dem Faschismus. Nach dem definitiven Ende des Austromarxismus, als das gemeinhin der Tod Otto Bauers angesehen wird, führten die letzten Lebensjahre des wiederum politisch aktiven sozialdemokratischen Politi‐ kers (als neuerlicher Staatsgründungskanzler und dann als Bundespräsident) auch zu einer fruchtbaren theoretischen Nachlese. Wie für alle Austromarxisten ist für Renner in seinen nach seinem Tod veröffent‐ lichten historisch-politischen und soziologischen Studien der Faschismus eine Form der Konterrevolution, die dialektisch zu Sozialismus und Revolution den Gang der Weltgeschichte bestimme, sich aber in jedem Land und in jedem Zeitabschnitt in an‐ deren Erscheinungsformen konkretisiert habe. Für den Sieg des Faschismus seien zwei Faktoren ausschlaggebend gewesen: einerseits habe die faschistische Bewe‐ gung finanzieller und gesellschaftlicher Unterstützung seitens der Großbauern und Industriemagnaten gehabt, andererseits auch die Gefolgschaft durch den staatlichen Apparat, „das große Heer öffentlich Bediensteter, vom Amtsdiener bis zum Amts‐ chef, vom Unteroffizier bis zum General“. Die Führung der faschistischen Bewe‐ 33 Dimitroff 1958: S. 525. 34 Siehe Hilferding 1910; Mandel 1971: S. 36 f.; Togliatti 1973; vgl. ausführlicher zu Trotzki: Saage 1976: S. 124 ff.; Wistrich 1976: S. 157 - 184; Wippermann 1975: S. 48. 35 Nolte 1967: S. 52.

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gung habe sich daher der vorhandenen staatlich-politischen Strukturen bedient und sich ihnen angepasst. Daher habe die faschistische Herrschaft von Fall zu Fall „mili‐ tärischen und mehr bonapartistischen Charakter (Franco), religiösen (Schuschnigg), halbfeudalen (Türkei), bürokratischen (Hitler)“.36 Damit gelangt Renner zu einem auch heute in der wissenschaftlichen Faschismusdiskussion zentralen Thema, zum Problem des Verhältnisses von faschistischen Bewegungskräften und traditionalen Eliten.37 Renner verliert darüber jedoch nicht den „autonomistischen“ Charakter der fa‐ schistischen Bewegung aus dem Auge: „Es mag hundertmal wahr sein, daß Hitlers Agitation von deutschen Schwerindustriellen bezahlt war, daß er seinen Kampf be‐ wußt oder unbewußt im Dienst der Kapitalistenklasse gegen das Proletariat führte.“ Tatsache sei aber auch, daß es Hitler in der Weltwirtschaftskrise gelungen sei, neben den traditionellen Arbeiterparteien, eine dritte zu den Besitzlosen zu zählende Mas‐ senpartei um sich zu sammeln. Die soziale Zusammensetzung dieser Partei bestimmte Renner an seinem Lebens‐ ende, wie er es schon 1932 getan hatte,38 als Partei der untersten, deklassierten und der oberen, aufstiegsorientierten Schichten des Proletariats, die das „Neuproletariat“ eroberte. Sie ist also sozial sehr heterogen, wie heute von der empirischen Faschis‐ musforschung gesehen wird. So habe in Österreich der Zusammenbruch des Habsburgerreiches und die Errich‐ tung der Republik viele Offiziere des alten Heeres, öffentliche Bedienstete und Pri‐ vatangestellte aus ihrem Beruf geworfen und „aus ihren sieben Himmeln der habs‐ burgischen Großmacht gestürzt“. Doch auch die ländliche und kleinstädtische Be‐ völkerung sei durch den Ersten Weltkrieg sozial mobilisiert worden. Die Söhne von Handwerkern und Kaufleuten seien zuerst in die Kriegsindustrie geströmt und mit sozialen Errungenschaften vertraut worden, 1918 jedoch wieder in die väterlichen Betriebe zurückgeschickt worden: „Die [Land-]Wirtschaft trug viel zuwenig Bares, im Gegenteil, in wenigen Jahren mußte der Bauer sich wieder verschulden, und so mußten und wollten auch die Söhne und Töchter des Landvolks sich um Stellen umsehen, genauso wie der abgedankte Offizier und abgestiftete Beamte, deren Abfindungen fehlerhaft angelegt und rasch verpufft wa‐ ren. Ein Neuproletariat setzte sich in Marsch.“

Da aus der Sicht dieser „Neuproletarier“ die „herrschende Partei der Christlichsozia‐ len die Staatsstellen monopolisierte, die mitregierende Partei der Sozialdemokraten die Arbeitsplätze“ kontrollierte, wandten sie sich dem „heimattreuen Sozialismus“, das heißt dem Faschismus, zu. „Überall wird [...] ein Teil der besitzlosen Klassen, 36 Renner 1953: S. 78 f.; vgl. allgemein auch: Renner 1946: S. 20 - 31. 37 Siehe vor allem: Mommsen 1976a; Schieder 1976: S. 157 - 181; Hüttenberger 1976: S. 417 442. 38 Renner, 1932, S. 90 ff.

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vorwiegend der neuproletarische Teil, in den Anfängen dieser Bewegung einer ihrer militanten Träger.''39 Die faschistische Bewegung, in die auch die von den sozialen Erschütterungen der Zeit hervorgerufene „Lumpenbourgeoisie“ (bankrotte Kleinbürger, verfehlte In‐ tellektuelle, verbummelte Studenten) eingeströmt war, habe zwar die Macht über‐ nommen. Das sei ihr aber nirgends durch eigene Kraft, sondern nur mit Unterstüt‐ zung „hochkapitalistischer Kreise“ und des staatlichen Apparats gelungen. So habe der Faschismus eine absolutistische Diktatur errichtet, die Volksgesamtheit in lose Gruppen zerschlagen und diese sich unter Anwendung barbarischer Unterdrü‐ ckungsmittel einzeln hörig gemacht. (Eine Ergänzung des faschistischen Herr‐ schaftsinstrumentariums durch eine hoch entwickelte Propaganda und plebiszitäre Akklamation erwähnte Renner jedoch nicht ausdrücklich, obwohl das für zeitgenös‐ sische Sozialwissenschaftler schon erkennbar war.) Die alle Interessengruppen von oben her, unverbunden „ständisch“, organisieren‐ de faschistische Diktatur, komme bewussten oder unbewussten Wunschvorstellun‐ gen in breiten Bevölkerungsteilen von einer festen, ordnenden Kraft entgegen, die sich - nach Renner - bei allen Störungssituationen der überaus komplizierten moder‐ nen gesellschaftlichen Wirklichkeit der Menschen bemächtigten. „Diese Empfindlichkeit des sozialen Körpers ist durch die ungeheure Verflechtung der Wirtschaft und durch die Ausweitung der staatlichen Ordnungsfunktion in den letzten Jahrzehnten ungeheuer gesteigert worden, so ungeheuer, daß soziale und politische Er‐ schütterungen von heute gar nicht mehr mit den Maßstäben früherer Jahrhunderte gemes‐ sen werden können.“

Daher hätten auch nach den beiden Weltkriege die revolutionären Bewegungen grö‐ ßere Dimensionen angenommen, ebenso die Gegenrevolution, die sich zu einer gan‐ zen Epoche des 20. Jahrhunderts ausgeweitet habe. Damit kommt Renner wiederum zu einem Erklärungsmoment, das ihn mit Otto Bauers Faschismustheorien der dreißiger Jahre verbindet und dennoch, in vielem stärker, davon unterscheidet. Es ist das alte austromarxistische Imperialismusmodell, das Renner in seinen letzten Lebensjahren in der Form des „organisierten Kapitalis‐ mus“ Hilferdings aufnimmt. Schon in der Zwischenüberschrift „Finanzkapital und Faschismus“ drückte Renner aus, wie er sich den „ökonomisch, sozialen Untergrund des Faschismus“, also dessen eigentliche Ursachen, vorstellte. Unter besonderer Be‐ zugnahme auf Deutschland, von dem er wie die meisten nicht-italienischen sozialis‐ tischen Faschismustheorien überwiegend sein Erklärungsmodell ableitet, schreibt Renner: „Der Kapitalismus hatte sich national unter dem Kommando des Finanzkapitals organi‐ siert; der deutschen Wirtschaft geboten die Herren der Kartelle und Trusts, der Riesenun‐ 39 Renner 1953: S. 73 ff.; S. 77.

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ternehmungen, die den Weltmarkt für sich zu monopolisieren suchten, wenn nötig auch durch militärische Eroberung. Sie meinten ihre Gewaltherrschaft, aber sie sprachen von der Nation, von dem Versailler Unrecht. [...] Die Arbeiterschaft insbesondere, die ihre im Umsturz von 1918 errungene soziale und politische Stellung nicht nur zu verteidigen, sondern mit dem Mitteln [...] der Demokratie zu erweitern und zu befestigen suchte, stand den Plänen der Herrschenden im Wege.“

Die „Banken und Industriemagnaten“, die an keinen Wahlsieg der konservativen Parteien mehr glaubten, hätten die Demokratie verraten und begonnen, die national‐ sozialistische „Bewegung mit Geld und Einfluss zu fördern, um nach getaner Schul‐ digkeit den Mohren wieder fortzuschicken“. Die letztgenannte Absicht der Großka‐ pitalisten sei jedoch nicht in Erfüllung gegangen, meinte Renner. Einerseits hat, sagt Renner weiter, „auf das im Osten 1917 [...] siegreich gebliebe‐ ne Programm der Diktatur des Proletariats [...] die kapitalistische Welt des Westens mit der Diktatur der Bünde [der fasci (? G.B.)] geantwortet, der Banden, in deren Schutz sich der Hochkapitalismus geflüchtet hat“. Andererseits habe der Revolution der Bolschewiki in Russland mit der „Neuen Ökonomischen Politik“ ein Prozess der Konterrevolution eingesetzt, der seinen Höhepunkt unter Stalin erreicht habe. Stali‐ nismus und Faschismus wendeten dieselben innen- und außenpolitischen Herr‐ schaftsmethoden an. Nicht unlogisch ist, dass Renner mit diesem totalitarismustheoretischen Ansatz das Marx'sche Bonapartismus-Konzept zur Erfassung der gesellschaftlichen Grund‐ lagen faschistischer Diktatur verbindet. Im Fall des Stalinismus und des Faschismus sei es aus einem ungefähren Klassengleichgewicht heraus zur Errichtung einer Herr‐ schaft über alle Klassen im Namen des „integralen Staates“ gekommen. Allerdings erkennt Renner auch, anders als Otto Bauer im Jahre 1924, aber ebenso wie dieser in den dreißiger Jahren, die Unterschiede zwischen Faschismus und der Diktatur Louis Bonapartes. Die Massenbewegung scheint ihm zufolge ein entscheidendes Unter‐ scheidungskriterium zu sein; weiters bestimmte nicht ein Abenteurer die Gescheh‐ nisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, „sondern eine geänderte Ökonomie, geänderte Klassen, geänderte politische Einrichtungen, eine veränderte Welt“.40 Nach dieser vielseitig-eklektischen Faschismustheorie, die ähnlich auch von Juli‐ us Deutsch, dem früheren militärischen Führer des Republikanischen Schutzbundes, 1960 noch einmal aufgegriffen wurde,41 während sich vor allem der Linkssozialist Josef Hindels um eine Aufrechterhaltung von Otto Bauers Tradition bemühte,42 führte das schwindende Interesse am Thema Faschismus auch bei den politischen Erben des Austromarxismus, den Österreichischen Sozialisten der Zweiten Repu‐ blik, in der sozialdemokratischen Partei- und Bildungsarbeit zu einer einschneiden‐ 40 Ebenda, S. 65 ff.; S. 66 ff. 41 Deutsch 1953: S. 220 - 251. 42 Hindels 1976: S. 130 - 142; vgl. auch den Aufsatz Hindels 1974: S. 56 - 62.

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den Vereinfachung des Interpretationsmodells vom Faschismus, sofern ein solches in der Periode der „Großen Koalition“ mit der ÖVP überhaupt zur Diskussion stand. Gewiss gab die Jahrzehnte lange stabile innen- wie außenpolitische Lage der Zweiten Republik und großer Teile Europas kaum einen Anlass zur theoretischen Aufarbeitung umwälzender Ereignisse von Gewaltherrschaften in der Vergangen‐ heit,43 die uns heute noch als Signatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschei‐ nen. Die theoretische Stringenz und Realitätsbezogenheit der Faschismustheorie, die einerseits bei Otto Bauer, andererseits auch bei Renner erreicht worden war, fanden keine nachhaltige Fortsetzung in der wiederauflebenden Wertschätzung austromar‐ xistischer Theoriebildungen während der 1970er und 1980er Jahre.44 Von einem wissenschaftsgeschichtlichen Standpunkt aus kann man das zum Ansatz weiterer Forschungsanstrengungen zum Thema der austromarxistischen Theorien machen.45 Bedauerlich erschiene es mir jedoch, wenn dieses intellektuelle Potential heuris‐ tisch nicht genutzt würde, während gerade im 21. Jahrhundert autoritätsstaatliche, populistisch-nationalistische und rechtsextremistische Tendenzen (als strukturelle Parallelphänomene zur Vergangenheit) zu beobachten sind, und transnational wir‐ kende Erosionsprozesse sich anschicken, die politischen, sozialen und wirtschaftli‐ chen „Gleichgewichtszustände“ und viele europäische noch nationalstaatliche De‐ mokratien und damit die bröckelnde Europäische Union zu gefährden.

Literatur Abendroth, Wolfgang (Hrsg.), 1967: Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus, Frankfurt/Main. Albers, Detlev (Hrsg.), 1979: Otto Bauer und der "dritte" Weg. Die Wiederentdeckung des Austromarxismus durch Linkssozialisten und Eurokommunisten, Frankfurt/Main. Bauer, Otto, 1924: Das Gleichgewicht der Klassenkräfte. In: Der Kampf, 17. Jg. (1924), S. 62 f. Bauer, Otto, 1936: Zwischen zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus, Bratislava. Bauer, Otto, 1938: Der Faschismus. In: Der sozialistische Kampf - La lutte socialiste, Band 1938, Nr. 4 (Juli 1938), S. 75 - 83. Bauer, Otto, 1970: Austromarxismus. In: Sandkühler, Hans Jörg/Vega, Rafael de la (Hrsg.): Austromarxismus, Frankfurt/M., Wien, S. 49 - 52. Bauer, Otto, 1971: Die illegale Partei, Frankfurt/Main, S. 157. Bauer, Otto, 1976: Der Faschismus, Rote Hefte, Nr. 7, Graz, S. 12 - 24.

43 Reichardt, 2004. 44 Siehe etwa Albers, 1979 45 Für last-minute Ratschläge und Hilfe danke ich Heinrich Berger (Wien) und Christian Fleck (Graz) sowie dem Reha-Zentrum Bad Schallerbach.

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Uli Schöler Bolschewismus oder Sozialdemokratie. Die österreichischen Sozialdemokraten und Sowjetrussland

1. Erste Reaktionen auf die russische Revolution1 Innerhalb der österreichischen Sozialdemokratie (SDAP) fand die russische Okto‐ berrevolution eine ausgesprochen positive Aufnahme. In der einstimmig angenom‐ menen Resolution der Versammlung des sozialdemokratischen Wahlvereins für den III. Bezirk vom 11. November 1917 heißt es: "Wir begrüßen den Sieg der Petersbur‐ ger Arbeiter als den Beginn einer neuen Epoche im Befreiungskampfe des interna‐ tionalen Proletariats."2 In seiner Rede begrüßte der Parteivorsitzende Victor Adler die russische Revolution, und Karl Renner, Vertreter des rechten Flügels, forderte die Anerkennung der neuen Regierung, die von der Mehrheit des russischen Volkes eingesetzt sei.3 Viktor Adler drückte in einer weiteren Versammlungsrede die Über‐ zeugung aus, dass die Leitung der russischen Revolution nunmehr in die Hände von Sozialdemokraten gekommen sei.4 Das Parteiorgan, die "Arbeiter-Zeitung" (AZ) schrieb unmittelbar im Anschluss an die Revolution: "Unsere leidenschaftlichen Wünsche sind heute bei unseren russischen Brüdern: Siegen sie in dem Kampf, den sie so kühn begonnen haben, so beginnt eine neue Epoche im Befreiungskampf des internationalen Proletariats!"5 Die Diktatur des Proletariats sei in Petersburg Wirklichkeit geworden.6 Nicht so sehr die enthusiastische Zustimmung zu den russischen Ereignissen als letztere Klas‐ sifizierung als "Diktatur des Proletariats" ist auf den ersten Blick für die österrei‐ chische Sozialdemokratie verwunderlich. Verwunderlich deshalb, weil noch kurz vor den Oktoberereignissen der theoretische Kopf der Partei, Otto Bauer, der die bei weitem überwiegende Mehrzahl der Leitartikel über Russland in der "Arbeiter-Zei‐ tung" schrieb7, festgestellt hatte, das Ergebnis der russischen Revolution könne 1 2 3 4 5 6 7

Vgl. zum ersten Kapitel näher Schöler 1991, S. 107ff. Zit. nach: Neck 1968, S. 120. Zit. nach ebda., S. 118. Adler 1917, S. 233. Der Bürgerkrieg in Rußland, AZ v. 15. November 1917. Eine Revolution für den Frieden, AZ v. 9. November 1917. Vgl. Leichter 1970, S. 311; Löw 1980, S. 5; vgl. zu seiner Person neben der älteren Literatur (Albers 1983; Albers/Heimann/Saage 1985; Albers/Hindels/Lombardo Radice 1979; Fröschl/ Zoitl 1985) auch die neueren Arbeiten von Baier/Trallori/Weber 2008; Czerwinska-Schupp 2005; Hanisch 2011 sowie die jeweiligen Rezensionen bei Schöler 2010, 2006, 2013.

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nichts anderes sein, als eine bürgerlich-demokratische Republik. Bauer schrieb: "Rußland ist ein Agrarland, in dem die Arbeiter eine Minderheit der Bevölkerung sind. Die russische Revolution kann nicht mit der Diktatur des Proletariats enden, sie kann nicht eine sozialistische Gesellschaftsordnung aufrichten."8 Bauer sieht stattdessen zwei wesentliche Aufgaben, die die Revolution zu be‐ werkstelligen habe. Dies ist zunächst die Schaffung einer konstituierenden National‐ versammlung und als zweite Aufgabe, von dieser zu beschließen, die "große Agrarumwälzung", d.h. die Enteignung des Großgrundbesitzes, die Befriedigung des Landhungers der Bauern. Zu beiden Zwecken hält er ein Bündnis von Arbeitern und Bauern für möglich. Im Gegensatz zu Deutschland und Österreich sei der Bauer in Russland revolutionär und Sozialist. Revolutionär, insoweit er das Ziel habe, den Grundherren den geraubten Boden wieder zu entreißen. Sozialist, da der Bauer in weiten Teilen Russlands an das Gemeineigentum der Dorfgemeinde gewöhnt sei und sich als Folge der Enteignung des Großgrundbesitzes auch die Eigentumsübertra‐ gung an die Bauerngemeinden und bloße Nutzungszuteilung an die einzelnen Bau‐ ernfamilien vorstelle. Auf der politischen Ebene hält Bauer es zur Verwirklichung dieser Ziele für erforderlich, dass es die Demokratie (darunter versteht er hier die Sowjetparteien im engeren Sinne, d.h. die Bolschewiki, die Menschewiki-Internatio‐ nalisten und die Linken Sozialrevolutionäre) von der ängstlichen Führung der Men‐ schewiki und des rechten Flügels der Sozialrevolutionäre befreie, die Koalitionsre‐ gierung stürze und eine eigene, rein demokratische Regierung bilde (d.h. ohne Ver‐ treter der bürgerlichen Kadetten), die Russland möglichst schnell zur konstituieren‐ den Nationalversammlung führen werde.9 In einem - Otto Bauer zugeschriebenen Artikel der AZ hieß es in gleicher Richtung am 30. September 1917, es müsse nun die Entscheidung fallen, wie man Russland regieren solle, ob die Sowjets die Regie‐ rung selbst in die Hand nehmen sollten, ohne die Bourgeoisie, oder ob man am Ge‐ danken der Koalitionsregierung festhalten wolle.10 Wie Karl Kautsky in Deutschland - zu dessen Auffassungen aus dem August 1917 zu diesem Zeitpunkt eine weitgehende Deckungsgleichheit festgestellt werden kann11 - glaubt er, dass die Bauern nach der Landverteilung notwendigerweise kon‐ servativ werden und damit das Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern keine wei‐ terführende Perspektive habe.12 Daraus ergibt sich auch seine Prognose des notwen‐ digen Ergebnisses einer bürgerlich-demokratischen Republik. Bald sollten sich Kau‐ 8

Bauer, 1976, S. 71. Aufgrund der herausragenden Stellung seiner Arbeiten zu diesem Thema bleibt vorliegender Text auf Otto Bauer konzentriert, bleiben wichtige Arbeiten z. B. Max Ad‐ lers (etwa Adler 1919, 1922) bzw. Hans Kelsens (Kelsen 1923) sowie anderer sozialdemokrati‐ scher Theoretiker hier ausgeblendet. 9 Ebda., S. 71. 10 AZ v. 30. September 1917; zit. nach Hautmann 1987, S. 148., der diesen Artikel Bauer zu‐ schreibt. 11 Vgl. im Einzelnen Schöler 1991, 91ff. 12 Bauer, 1976, S. 71.

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tskys und Bauers Auffassungen allerdings kontinuierlich auseinander entwickeln. Warum dies der Fall sein wird, deutet sich bereits in einer methodischen Bemerkung in Bauers Broschüre an, die seine grundsätzliche Offenheit für die Verarbeitung aller neuen Erfahrungen belegt und die man in den Schriften Kautskys vergeblich suchen dürfte: "Wie immer wir bisher die Streitfragen beurteilt haben, die seit dem Kriegsbeginn die Arbeiterparteien aller Länder bewegen, müssen wir heute nachprüfen, ob die Po‐ litik des west- und mitteleuropäischen Sozialismus vor den neuen Erfahrungen der russischen Revolution zu bestehen vermag."13 In der Oktoberrevolution selbst vollzieht sich für Bauer der notwendige Sturz der Koalitionsregierung. Für ihn ist klar, dass Lenin und Trotzki gar nicht anders konn‐ ten, als sie gehandelt haben. Auch er sieht nun in der neuen Revolutionsregierung die - wenn auch wahrscheinlich nur vorübergehende - Diktatur des Proletariats ver‐ wirklicht, hinter der die Mehrheit des Proletariats stehe und die der Solidarität des europäischen Proletariats bedürfe.14 Unter diesen Voraussetzungen hält er es Anfang 1918 für unvermeidlich, dass das Proletariat unter Führung der Bolschewiki den Versuch unternehme, die Kapitalsherrschaft zu brechen. Ebenso unvermeidlich aber müsse dieser Versuch misslingen. Er ist der Auffassung, dass die soziale Revolution erst auf einer bestimmen Stufe kapitalistischer Entwicklung möglich sei. In einem Land wie Russland, in dem die kapitalistische Industrie noch ein partielles Faktum sei, könne die Aufhebung der Kapitalsherrschaft nicht zum Inhalt der nationalen Re‐ volution werden.15 In seiner 1920 verfassten ersten ausführlichen Auseinandersetzung mit den russi‐ schen Problemen nach der Oktoberrevolution bleibt er zwar dabei, dass es sich hier zum einen um eine Agrarrevolution handele, zugleich erblickt er in ihr aber nun auch ausdrücklich eine "proletarische Revolution". Zum ersten Mal habe das Prole‐ tariat die Herrschaft über einen großen Staat an sich gerissen.16 Die Begrifflichkeit der "proletarischen Revolution" ist an dieser Stelle mehr als ein terminologisches Zugeständnis an die Tatsache der proletarischen Machtergreifung. Er sieht nun die Möglichkeit, dass die bestehende Diktatur des Proletariats, die er weiterhin als eine Übergangsphase begreift17, auch in ihren ökonomischen Maßnahmen weiter voraus‐ schreitet und so Tatsachen schafft, die von einer ihr folgenden Bauernregierung nicht einfach revidiert werden könnten. Es erscheint ihm möglich, dass Russland zu einer gesellschaftlichen Mischform gelangt, mit einem Staatssozialismus in der Industrie, im Verkehrs- und Bankwesen, genossenschaftlicher Organisation des Warenbetrie‐ 13 14 15 16 17

Ebd., S. 85. Bauer, 1980, S. 1041ff; Bauer, 1980b, S. 930f. Ebda., S. 928f. Bauer, 1976a, S. 225, 254. Wie Löw 1980, S. 15f, richtig bemerkt, liegt darin die Kontinuität der Bauerschen Auffassung und keine 180-Grad-Wendung, wie Karl Radek in einer Polemik gegen Bauer meinte.

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bes und bäuerlicher Privatunternehmung. Wie weit diese Gesellschaftsverfassung sozialistische bzw. kapitalistische Züge tragen werde, werde davon abhängen, inwie‐ weit in der übrigen Welt der Kapitalismus überwunden sei.18 Bauer ist also unter konkreter Würdigung der ersten kurzen Entwicklungsphase der russischen Revolution (und - wie zu vermuten steht - unter dem Einfluss der Neueinschätzungen Julius Martows19) zu einer teilweisen Revision und Fortentwick‐ lung seiner Position gelangt. Bauers Positionswandel, die Neubewertung der russi‐ schen Oktoberrevolution als proletarische Revolution, wird innerhalb seiner Partei nachvollzogen. Die gleiche Auffassung findet sich in einer anderen, im Parteiverlag der SDAP herausgegebenen Schrift.20 Für Julius Braunthal ist die russische Revolu‐ tion der gigantische Versuch, "den Sozialismus aus der Sphäre des Wollens in die Sphäre der Wirklichkeit zu erheben."21 Erst 1927, am Ende der Phase der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) kehrten einige SDAP-Autoren in ihren Rückblicken nach zehn Jahren zu der Charakterisierung als im wesentlichen Agrarrevolution zu‐ rück, die nur vom Proletariat eingeleitet worden sei.22 Kehren wir noch einmal zu Otto Bauers Überlegungen zurück. In ungewöhnlich ausführlicher Weise widmet er sich in seiner Schrift "Bolschewismus oder Sozialde‐ mokratie" der Frage, inwieweit die Bedingungen in Russland und West- und Mittel‐ europa vergleichbar sind und ob entsprechend die von den Bolschewiki verwendeten Methoden und Maßnahmen übertragbar sind. Er schreibt: "Fließen die Methoden der russischen Revolution aus dem Wesen der proletari‐ schen Revolution überhaupt oder sind sie bedingt durch die besonderen Umstände der russischen Gesellschaft? Ist der Bolschewismus die allein mögliche, allein ziel‐ führende Methode jeder proletarischen Revolution, oder ist er nur die den besonde‐ ren russischen Verhältnissen angepaßte, eine in anderen Ländern daher nicht an‐ wendbare Methode des proletarischen Befreiungskampfes? Kann und muß das Pro‐ letariat aller Länder die russische Methode nachahmen oder sind die Verschiedenhei‐ ten der Kampfbedingungen so groß, daß die Methode, die in Rußland die Geschichte selbst dem Proletariat diktiert hat, in anderen Ländern nicht angewendet werden kann und durch ganz andere Methoden ersetzt werden muß?"23 In dieser Broschüre deutet sich also bereits ein grundlegendes theoretisches und strategisches Interesse Bauers an der Fragestellung der Möglichkeit und Notwendig‐ keit verschiedener Wege zum Sozialismus an. Der erste Versuch, in Richtung Sozia‐

18 Bauer, 1976a, S. 300. 19 vgl. u. a. Martow 1920 sowie Schöler 1991, S. 77ff. 20 Hillebrand 1920, S. 19. Hillebrand war in der Zeit der Donaumonarchie sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter, gehörte nach 1918 zur sudetendeutschen Sozialdemokratie in der Tschechoslowakei, vgl. Weg 1972, S. 122. 21 Braunthal 1920, S. 5. 22 Kunfi 1927, S. 75; Pollack 1927, S. 490f.; vgl. zu Kunfi jetzt Schöler 2017. 23 Bauer, 1976a, S. 226.

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lismus vorzudringen, musste unweigerlich sein Interesse unter diesem Gesichtspunkt auf sich ziehen, zumal in der menschewistischen Partei von dem mit ihm befreunde‐ ten Julius Martow ähnliche Überlegungen angestellt wurden. Es ging also nicht nur darum, den keimenden Bolschewismus in den eigenen Reihen kleinzuhalten (also um ein eher instrumentelles Interesse), sondern um ein elementares, theoretisches Interesse des politischen Strategen Otto Bauer hinsichtlich des Problems unter‐ schiedlicher Wege zum Sozialismus.24 Entgegen mancher Interpretationen25, die auch bei Bauer eine Beschränkung der russischen Perspektive auf die Grenzen einer bürgerlichen Revolution festzustellen glauben, was auch das Zugestehen verschiedener Wege zum Sozialismus verneint, bemerkte Bauer ausdrücklich: "Es ist eine sozialistische Gesellschaft, die da entsteht. Denn die Sowjetmacht hat die Arbeitsmittel den Kapitalisten entwunden, den Arbeitsprozeß von der Herrschaft des Kapitals befreit, die Verfügung über den Kapitalsertrag den Kapitalisten entris‐ sen, und sie selbst organisiert jetzt, indem sie über die Arbeitskräfte und die Arbeits‐ mittel des Landes nach ihrem Plan verfügt, eine planmäßige, unmittelbar gesell‐ schaftliche Arbeit und eine planmäßige, unmittelbar gesellschaftliche Verteilung des Arbeitsertrages. Aber wenn das Sozialismus ist, so ist es doch ein Sozialismus be‐ sonderer Art, ein despotischer Sozialismus."26 Aber die neue Gesellschaft entstehe nicht aufgrund vorgefasster Pläne oder alter‐ nativer Transformationsmodelle in den Köpfen, dieser despotische Sozialismus "ist nicht nach vorgefaßtem Plane entstanden."27 Es ist - aufgrund der völlig verschiede‐ nen Ausgangsbedingungen - ein Produkt der russischen Verhältnisse und damit auch ein notwendig anderer Weg zum Sozialismus als in Mittel- und Westeuropa: "Der despotische Sozialismus ist das notwendige Produkt einer Entwicklung, die die so‐ ziale Revolution heraufbeschworen hat, auf einer Entwicklungsstufe, auf der der rus‐ sische Bauer noch nicht einmal zur politischen, der russische Arbeiter noch nicht zur industriellen Demokratie reif war. Der despotische Sozialismus ist das Produkt der russischen Kulturlosigkeit."28 Die Zitate belegen eindeutig, dass Bauer unter diesem

24 Diesem Aspekt widmet Löw in seiner Arbeit leider zu wenig Aufmerksamkeit. Er versteht die Haltung Bauers nur als Nachgeben gegenüber den Massenströmungen, um möglichen Konflik‐ ten auszuweichen; vgl. Löw 1980, S. 50; ebenso Pfabigan 1982, S. 153. 25 Vgl. etwa Saage 1986, S. 375. 26 Bauer, 1976a, S. 291. 27 Ebda. 28 Ebda., S. 292. Auf die Problematik von Bauers eurozentrischer Sicht, die in dem Begriff der "Kulturlosigkeit" zum Ausdruck kommt, kann hier nur hingewiesen werden. Zur ideenge‐ schichtlichen Einordnung des Begriffes "Despotismus" im europäischen Denken vgl. Bobbio 1988.

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"despotischen Sozialismus" nicht etwa eine idealistische Utopie der Bolschewiki verstand29, sondern eine ökonomisch geprägte Gesellschaftsformation.30 Dabei darf nicht verschwiegen werden, dass Bauer dieser Gesellschaftsformation des despotischen Sozialismus aus sich selbst heraus nur eine vorübergehende Le‐ bensfähigkeit zuweist. Das Proletariat müsse seine Herrschaft wieder verlieren, so‐ bald die bäuerliche Masse der Nation kulturell reif genug werde, selbst die Herr‐ schaft zu übernehmen.31 Ebenso wie für die Bolschewiki selbst hängt bei Bauer die Frage "wie weit diese Gesellschaftsverfassung sozialistische, wie weit sie kapitalisti‐ sche Züge tragen wird ... vor allem davon (ab) ... ob und inwieweit indessen in der übrigen Welt der Kapitalismus überwunden, die sozialistische Güterproduktion und Güterverteilung aufgebaut wird."32 Die Auseinandersetzung mit Otto Bauers Haltung zur sowjetischen Entwicklung der ersten Jahre wäre unvollständig, würde man nicht die Vorstellungen mit einbe‐ ziehen, die er selbst als positive Vorschläge in die Sozialisierungsdebatte mit ein‐ brachte.33 Sein kontinuierliches Interesse galt den russischen Sozialisierungsversu‐ chen auch gerade deshalb, weil er sie in konkrete Vorschläge für Sozialisierungen im eigenen Lande umarbeiten wollte. Dies geht nicht zuletzt daraus hervor, dass er selbst im Vorwort zur zwölften Auflage seiner Sozialisierungsschrift darauf hin‐ weist, dass sich sein Sozialisierungskonzept auf Gedankengänge des englischen Gil‐ densozialismus sowie auf die ursprünglichen wirtschaftlichen Organisationsversuche des russischen Bolschewismus stützt, wie sie vom Kongress der russischen Volks‐ wirtschaftsräte im Mai 1918 beschlossen worden waren.34 Grundlage des Bauerschen Sozialisierungsmodells ist natürlich die Betrachtung der eigenen Ökonomie, aus der er sein Programm einer stufenweisen Teilsozialisie‐ rung entwickelt. An dieser Stelle soll insbesondere die Frage interessieren, welche konkreten Lehren er aus den Disfunktionalitäten der russischen Entwicklung zieht. 29 So wohl die Interpretation bei Saage 1986, S. 375; anders dagegen Volpi 1977, S. 61. 30 Dies gilt auf jeden Fall für 1920. 1925 gilt dies nicht mehr. Nun spricht er vom despotischen Sozialismus der Bolschewiki im programmatischen Sinne, einem Sozialismus professioneller Revolutionäre, dem er die eigenen Vorstellungen gegenüberstellt; vgl. Bauer 1980a, S. 102. 31 Bauer, 1976a, S. 301. Feichter nimmt das zum Anlass, die vorhergehenden Passagen nur als zu unpräzise Ausdrucksweise Bauers zu interpretieren; vgl. Feichter 1975, S. 129. Ähnlich wohl der Hintergrund bei Kulemann, wenn er fälschlicherweise meint, Bauer habe zu diesem Zeit‐ punkt sich widersprechende Definitionen für Sowjetrussland verwendet; vgl. Kulemann 1979, S. 288. 32 Ebda., S. 300. Erstaunlicherweise findet sich dieses Zitat in der Arbeit von Löw nicht wieder, der ansonsten Bauer ausführlich selbst zu Worte kommen lässt. Nur so kann er zu der falschen Schlussfolgerung kommen, dass Bauer eine sozialistische Entwicklung in Russland langfristig für absolut ausgeschlossen hielt; vgl. Löw 1980, S. 64. Gleiches gilt für Saage, der selbst den Begriff des "despotischen Sozialismus" nur dahingehend verstanden wissen will, dass die Des‐ potie das historisch Notwendige, der Sozialismus nur das utopische Moment charakterisiere; vgl. Saage 1986, S. 384; ebenso schon Olle 1974, S. 133. 33 Vgl. ausführlicher zu diesem Komplex März/Weber 1979. 34 Zit. nach März//Weber 1979, S. 78f.

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Die wesentliche Antwort darauf findet sich wohl - neben dem Plan der sukzessiven Ausdehnung der zu sozialisierenden Bereiche - in seinen Vorstellungen über die Ver‐ waltung der vergesellschafteten Industrie. Sicherlich dürfte es sich schon um eine erste Verarbeitung der russischen Erfahrungen handeln, wenn er schreibt, niemand verwalte die Industriebetriebe schlechter als der Staat.35 Bauer grenzt sein Modell in zwei Richtungen ab. Zum einen betont er, dass die Sozialisierung den formalen Akt der Enteignung zur Voraussetzung habe. Zum ande‐ ren macht er deutlich, dass Sozialisierung mehr bedeuten muss als bloße Verstaatli‐ chung, dass der Begriff der Vergesellschaftung auch inhaltlich gefüllt werden muss. Die Konsequenz daraus ist für Bauer, dass alle diejenigen, die an der Leitung eines sozialisierten Industriezweiges ein Interesse haben, auch im Verwaltungsrat beteiligt sein müssen. Folgerichtig schlägt er ein drittelparitätisch besetztes Gremium vor. Das erste Drittel wird gestellt von der Gewerkschaft der Arbeiter, Angestellten und Beamten, die in dem Industriezweig arbeiten, das zweite von Vertretern der Konsu‐ menten (etwa von Konsumvereinen oder Industriellenvertretern aus Abnehmer‐ industrien), das dritte durch Vertreter des Staates, teils ernannt, teils gewählt.36

2. Demokratie und Diktatur in der Sicht der österreichischen Sozialdemokratie Otto Bauer und das Parteizentrum: Diktatur des Proletariats nur als Diktatur der Demokratie Für Otto Bauer handelt es sich bei der Sowjetregierung in der ersten Phase ihrer Existenz durchaus um eine Diktatur des Proletariats.37 Einen Monat später macht er aber schon deutlich, was er darunter versteht: nämlich eine Minderheitsherrschaft. In für sein Herangehen typischer Weise erklärt er dem Leser des "Kampf" die Lage der Bolschewiki, ohne sie zu rechtfertigen und ohne sie zu verdammen. Sie vertreten nur eine Minderheit des russischen Volkes, können sich aber - gestützt auf die Waffenge‐ walt der Roten Garde und einen großen Teil der Armee - an der Macht halten. Um sich zu behaupten, müssen sie die ihnen feindliche Mehrheit niederhalten. Daraus er‐ klärt sich für Bauer, warum sie Zeitungen unterdrücken, die Führer der gegnerischen Parteien einkerkern und die Konstituante auseinanderjagen mussten.38 In ähnlicher Weise hatte schon einen Monat zuvor die "Arbeiter-Zeitung" versucht, ihren Lesern die Auflösung der Konstituante zu erklären. Sie versuchte den Arbeitern begreiflich zu machen, dass die Bolschewiki bzw. das russische Proletariat ein schweres Opfer 35 36 37 38

Bauer, 1976b, S. 97. Ebda. Bauer, 1980, S. 1042. Bauer, 1980b, S. 926.

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zu bringen gehabt hätten und große Hoffnungen hätten begraben werden müssen, falls man die Macht an die Konstituante abgegeben hätte. Gleichwohl wurde ange‐ sichts dieser Preisgabe des Majoritätsprinzips und der Auflösung des demokrati‐ schen Parlaments durch Waffengewalt Kritik geäußert, gab es keine ungeteilte Zu‐ stimmung zum bolschewistischen Weg zum Sozialismus mehr.39 Selbst der alte Par‐ teivorsitzende Victor Adler, in den Kriegsjahren sicherlich nicht zur Linken zählend, bewegte sich auf dieser von Bauer vorgegebenen Linie. Ohne die Auflösung direkt anzusprechen, sie aber - neben anderen Problemen der Revolution sicher meinend hielt er den politischen Gegnern im Parlament entgegen: "Wenn in Rußland Ordnung zu machen ist, so muß man es schon der russischen Revolution überlassen ..., daß sie die Ordnung herstellt, unter Kämpfen, unter Schwierigkeiten, ja sogar unter Blutver‐ gießen, jene Ordnung, die dem Willen der Völker, die dort wohnen, entspricht."40 Eine solche erklärende, weder rechtfertigende noch verdammende Haltung41 ist also zunächst typisch für das Verhältnis der gesamten Führungsgruppe der SDAP gegenüber Sowjetrussland. Offene Kritik an der Vertreibung der Konstituante äußer‐ te Otto Bauer erst, als mit der Veröffentlichung von Rosa Luxemburgs Broschüre „Zur russischen Revolution“42 eine Autorität von links auf die Bühne trat, deren Auffassungen man sich nun gefahrlos anschließen konnte, ohne gleich innerparteili‐ che Zerreißproben befürchten zu müssen. Erst jetzt sprach auch Bauer vom Sünden‐ fall der Bolschewiki, vom Wendepunkt ihrer Taktik, mit dem sie nicht nur von der Nationalversammlung, sondern von der Demokratie überhaupt Abschied genommen hätten. Ohne auf Luxemburgs Abgrenzungen gerade gegenüber Karl Kautsky einzu‐ gehen, sah er nun beide gleichermaßen an seiner Seite in der Kritik am Abschied der Bolschewiki von der Demokratie.43 Für ihn steht bereits in seiner ersten ausführlicheren Arbeit zur Situation Sowjet‐ russlands nicht die Frage im Mittelpunkt, ob die Bolschewiki für Russland Recht oder Unrecht haben, sondern die, ob man sie im eigenen Land hinsichtlich der Alter‐ native Demokratie oder Rätediktatur nachahmen soll oder nicht. Es geht also für ihn nicht um eine prinzipielle Alternative Demokratie oder Diktatur, sondern darum, welche von beiden im eigenen Land zum gegebenen Zeitpunkt die richtige Waffe ist. Bauer ist deshalb schon zu dieser Zeit der Überzeugung, dass der Weg zum Sozialis‐ 39 Zur Auflösung der Konstituante, AZ v. 24. Januar 1918; wiedergegeben nach Broer 1960, S. 106ff. 40 Adler 1929, S. 245. 41 Diese Herangehensweise wird von Kulemann nicht ganz verstanden, wenn er meint, Bauer ha‐ be "Verständnis" für die Auflösung gezeigt; vgl. Kulemann 1979, S. 286, sowie die eingehen‐ dere Kritik bei Schöler 1987, S. 59. 42 Luxemburg 1922. 43 Bauer, 1979, S. 313f. Deshalb ist es eindeutig falsch, wenn Löw meint, mit der Anerkennung der vorübergehenden Notwendigkeit der Sowjetdiktatur in "Bolschewismus oder Sozialdemo‐ kratie" 1920 habe Bauer implizit seine Kritik von Anfang 1918 am "Sündenfall" der Auflösung der Konstituante zurückgenommen; vgl. Löw 1980, S. 64. 1918 hatte er noch gar nicht vom Sündenfall gesprochen.

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mus auf verschiedene Weise möglich ist. Er ist abhängig davon, inwieweit die arbei‐ tenden Volksmassen ihre eigenen Interessen erkennen und wahrnehmen und welchen Widerstand die besitzenden Klassen dem entgegensetzen.44 Grundsätzlich gilt aber für ihn, dass die Eroberung der politischen Macht nur mit revolutionären Mitteln er‐ folgen könne, die politische Revolution also ein kurzer, gewaltsamer Akt, die soziale Revolution hingegen das Werk aufbauender, organisierender Arbeit sei.45 Hierbei ist Voraussetzung, dass die breiten arbeitenden Volksmassen in Stadt und Land die so‐ ziale Neugestaltung wollen. Es sei ein Irrtum, wenn man glaube, dass ein paar Tau‐ send beherzte und tatkräftige Männer46 der breiten Masse des Volkes den Sozialis‐ mus dekretieren könnten. Daraus ergebe sich höchstens ein bürokratischer, aber kein demokratischer Sozialismus.47 Ausgehend von seinen grundsätzlichen Überlegungen erscheint es zunächst nur konsequent wenn Otto Bauer sein Verhältnis zur Rätediktatur und zur Demokratie aufgrund der besonderen Bedingungen des Reststaates Deutschösterreich bestimmt. Die Reduzierung des Wirtschaftsgebiets, die Abhängigkeit von den Entente-Staaten bei der Rohstoff- und Lebensmittelversorgung, das Stadt-Land-Problem mit einer konservativen Bauernschaft ließen ihn zu dem Schluss kommen, dass die Errichtung einer Rätediktatur in Österreich zurzeit nichts als ein leichtfertiges Abenteuer wäre. Er lehnte sie aber nicht für alle Länder und für alle Zeiten ab, sondern betonte, dass unter bestimmten Bedingungen auch für Österreich der Weg der Rätediktatur gang‐ bar werde.48 Hinsichtlich der grundsätzlichen Fragestellung von Demokratie und Diktatur lässt sich feststellen, dass Bauers Überlegungen des Jahres 1919 nicht frei von Widersprüchen sind, hinter denen durchaus taktische Erwägungen vermutet werden können, nämlich einerseits angesichts des revolutionären Drängens großer Teile der Arbeiterklasse diese vor "bolschewistischen Abenteuern" zu warnen, ihnen aber andererseits durch eine nicht endgültige Verwerfung der Rätediktatur entgegen‐ zukommen. Der Widerspruch wird angesichts eines Vergleichs zweier Broschüren deutlich, deren eine mehr auf die innenpolitische, die andere auf die internationale Situation bezogen ist. In ersterer wird der Eindruck erweckt, als sei der Weg der De‐ mokratie nur ein vorläufiger, der auch in Österreich nach einer Veränderung der in‐ ternationalen Kräfteverhältnisse durch den Weg der Rätediktatur abgelöst werde.49

44 Bauer, 1976b, S. 131. 45 Ebda., S. 95. Zumindest bezogen auf Bauer ist es deshalb unzutreffend, wenn Pfabigan schreibt, eine grundlegende Position des Austromarxismus, die ihn vom Bolschewismus unter‐ scheide, liege darin, dass er die unmittelbare Machtergreifung und das Zerschlagen des bürger‐ lichen Staates als einen lang dauernden Prozess verstanden habe; vgl. Pfabigan 1982, S. 169; offengehalten hingegen ebda., S. 188. 46 Die Frauen spielten auch in Bauers Denken keine gleichwertige Rolle. 47 Ebda., S. 129. 48 Bauer, 1976c, S. 146f, 151. 49 Ebda., S. 151.

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In der zweiten, im gleichen Jahr geschriebenen Broschüre identifiziert Bauer die Begriffe Rätediktatur und Diktatur des Proletariats. Nun geht er davon aus, dass sie entgegen der Auffassung der Kommunisten - nur eine vorübergehende Phase der Weltrevolution sein könne, auch wenn sie unter bestimmten Bedingungen unver‐ meidlich sei. Doch könne dadurch keinesfalls die sozialistische Gesellschaft aufge‐ baut werden.50 Die Gangbarkeit eines solchen Weges der Rätediktatur erscheint nun auch in keiner Weise mehr wünschenswert, was durch den Anschauungsunterricht der russischen Entwicklung illustriert wird. Dort könne man verfolgen, wie der Be‐ geisterung der Arbeitermassen für die Diktatur des Proletariats sehr bald die bittere Enttäuschung folge, die sich dann gegen die Rätediktatur und deren unvermeidliche Begleiterscheinungen richte. Dies sind für Bauer: der Terror, die Aufhebung des Streikrechts, der Presse- und Versammlungsfreiheit und die Rekrutierung der Roten Armee. So führe die Diktatur des Proletariats schließlich zur Auflehnung des Prole‐ tariats gegen die Diktatoren, die wiederum ihren Terror auch gegen opponierende Schichten des Proletariats ausdehnten. Den Schlusspunkt dieser Entwicklung bildet für Bauer die Verwandlung der Diktatur des Proletariats in eine reine Militärdikta‐ tur.51 Neben diesen taktisch motivierten inneren Widersprüchen in Bauers Äußerungen des Jahres 1919 fallen noch mehrere Aspekte auf. Er unternimmt keinerlei Versuch, sein Verständnis von Demokratie und Diktatur anhand der Vorstellungen von Marx und Engels zu begründen.52 Kommentarlos übernimmt er die zeitgenössische kom‐ munistische Gleichsetzung von Diktatur des Proletariats und Rätediktatur und setzt ihr den Weg der Demokratie entgegen. Damit trifft er sich in wesentlichen Punkten mit Karl Kautsky, auch wenn dieser die Charakterisierung Sowjetrusslands als Dik‐ tatur des Proletariats selbst für die erste Phase ablehnt.53 Der wesentliche Unter‐ schied Bauers zu Kautsky bereits zu diesem Zeitpunkt besteht darin, dass Bauer den demokratischen Weg nicht verabsolutiert, d.h. die unterschiedlichen Ausgangsbedin‐ gungen Russlands und Europas berücksichtigt, daher die Bolschewiki auch nicht wegen ihres Vorgehens verurteilt. Ja, er hält selbst den Weg der Diktatur unter be‐ stimmten Bedingungen für unumgänglich und notwendig. Darin liegt zugleich die Originalität seiner damaligen Position, trotz aller sonstigen theoretischen Schwäche, trotz der mangelnden Rekonstruktion des Marxschen und Engelsschen Verständnis‐ ses. Erst ein Jahr später deutet er an, dass er sich dieser Problematik ansatzweise be‐ wusst geworden ist. Erst wenn man seine Schrift "Bolschewismus oder Sozialdemo‐

50 51 52 53

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Bauer, 1976d, S. 174, 178ff. Ebda., S. 177f. Vgl. dazu nochmals den Überblick bei Schöler 2016, S. 77ff. Vgl. Schöler 1991, S. 290ff.

kratie" quasi von hinten liest, werden die Intentionen der von ihm verwendeten Be‐ grifflichkeiten klarer. Er schreibt dort: "Auch ein demokratisches Parlament wird diktatorische Machtmittel für sich in Anspruch nehmen müssen, es wird die Sabotage, vielleicht den aktiven Widerstand der Bourgeoisie mit diktatorischen, vielleicht auch mit terroristischen Machtmitteln zu brechen haben, sobald dieses Parlament zum Herrschaftsinstrument der Arbeiter‐ klasse geworden sein wird. Auch das kann man Diktatur des Proletariats nennen; aber es ist eine ganz andere Diktatur als die des Bolschewismus. Es ist keine Dikta‐ tur gegen die Demokratie, sondern die Diktatur der Demokratie."54 Bauer unterscheidet nunmehr zwischen verschiedenen Formen der Diktatur des Proletariats. Es könne, insbesondere in Phasen des Gleichgewichts der Klassenkräf‐ te, geschehen, dass die Entwicklung der Klassenkämpfe das Proletariat zu einer vo‐ rübergehenden Diktatur schon in einer Phase zwinge, in der es nicht mit den Mitteln der Demokratie herrschen könne. Die Diktatur des Proletariats werde in diesem Fall, da jede Klasse danach trachte, mit Gewalt ihre Herrschaft aufzurichten, zum einzi‐ gen Mittel, die konterrevolutionäre Diktatur der Bourgeoisie zu verhindern. In die‐ sem Falle könne sie nicht die Form einer Diktatur der Demokratie, sondern nur die einer Diktatur proletarischer Klassenorganisationen annehmen, sei es durch Selbst‐ verwaltungskörper, die Gewerkschaften oder - wie in Russland - durch die Arbeiter‐ räte. Dabei machte Bauer für die industrialisierten Länder eine wesentliche Ein‐ schränkung. Verstehe sich diese Diktatur als dauernde Form einer Klassenherrschaft, als politisches Instrument zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsord‐ nung, so zerreiße sie die Kontinuität des wirtschaftlichen Prozesses. Ihre Aufgabe könne daher nur die Eroberung, Sicherung oder Befestigung der Demokratie sein. Die ökonomische Aufgabe des Sozialismus hingegen sei nur in jahrzehntelanger de‐ mokratischer Arbeit zu bewältigen.55 So lesen wir zunächst, die Demokratie sei diejenige Staatsform, innerhalb derer die Machtverteilung im Staate ausschließlich durch die sozialen Machtfaktoren be‐ stimmt, also nicht durch die Anwendung materieller Gewaltmittel zugunsten einer Klasse verschoben werde.56 Bauer macht erst einige Seiten später deutlich, dass er dabei nicht im Kautskyschen Sinne einer reinen Demokratie verstanden werden kann: "Die Demokratie ist bloße Form; ob diese Form mit kapitalistischem, bäuerli‐ chem oder proletarischem Inhalt gefüllt wird, hängt von den sozialen Machtfaktoren ab. Die Demokratie ist ein Instrument der Klassenherrschaft; aber dieses Instrument

54 Bauer, 1976a, S. 350. 55 Ebda., S. 350ff. 56 Ebd., S. 345. Als soziale Machtfaktoren einer Klasse bezeichnete er: Zahl der Klassenangehö‐ rigen; Art, Stärke und Leistungsfähigkeit ihrer Organisation; ihre Stellung im Produktions- und Verteilungsprozess; Stärke ihres politischen Interesses, ihrer Beweglichkeit, Aktivität und Op‐ ferbereitschaft; Höhe ihrer Bildung; Anziehungskraft ihrer Ideologie.

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kann, je nach dem Entwicklungsgrad der sozialen Machtfaktoren, in die Hände ver‐ schiedener Klassen fallen ..."57 Entsprechend beruhe auch der demokratische Staat auf Gewalt. Sein Vorteil be‐ steht für Bauer allerdings darin, dass in ihm eine Arbeiterklasse in Stadt und Land, die bereits die überwiegende Mehrheit der Wähler stellt, bei entsprechend erstarktem Klassenbewusstsein ohne Gewalt die Macht erobern könne. Er werde so zum Instru‐ ment ihrer Herrschaft, die Demokratie zur proletarischen Demokratie. Da das Prole‐ tariat im Westen bereits die Mehrheit stelle, benötige es zur Machteroberung nicht die Rätediktatur.58 Die Differenzierung in der Terminologie (Demokratie - proletari‐ sche Demokratie) lässt nochmals erkennen, dass Bauer keinen starren Demokratie‐ begriff im Auge hat. Sehr viel genauer noch sollte er drei Jahre später deutlich ma‐ chen, auf welch unterschiedliche Weise Demokratie selbst in der bürgerlichen Ge‐ sellschaft möglich ist, was natürlich Einfluss auf die Möglichkeiten eines demokrati‐ schen Weges zum Sozialismus haben musste. Bauer unterscheidet nun in Demokra‐ tie als "bloße Form der Klassenherrschaft der Bourgeoisie" und Demokratie als "wirklicher Selbstregierung der Volksgesamtheit", d.h. zwischen der bloß parlamen‐ tarischen Demokratie als Regierungsmethode und sogenannter funktioneller Demo‐ kratie.59 Nur in letzterer, in der den verschiedenen politischen Organisationen (insbe‐ sondere der Arbeiterklasse) reale Macht zugefallen sei (er nennt diese Staatsverfas‐ sung im Rahmen eines Klassengleichgewichts auch Volksrepublik), könne der Staat das Proletariat nicht mehr nur mit Gewalt niederhalten, bedürfe er der Vermittlung der Organisationen, könne er die Masse nur mit geistigen Mitteln führen. Diese Übergangsperiode der Volksrepublik eröffnet die Möglichkeiten eines demokrati‐ schen Weges zum Sozialismus.60 Bauer hält es bei einem solchen Weg - entgegen der Auffassung von Marx und Engels -, also dort, wo das Proletariat mit den Mitteln der Demokratie die Macht er‐ lange, nicht für nötig und auch nicht für zweckmäßig, die Maschinerie des kapitalis‐ tischen Staates zu zerstören. Seine Vertreter übernähmen nur die Leitung, wodurch die Kontinuität der staatlichen und der wirtschaftlichen Verwaltung nicht unterbro‐ chen werde. Dadurch werde zwar der soziale Umgestaltungsprozess verlangsamt, anders könne aber gegenwärtig in Mittel- und Westeuropa der Übergang vom Kapi‐ talismus zum Sozialismus nicht erfolgen.61

57 Ebd., S. 346f. Tsoridis geht über derartige Differenzierungen Bauers großzügig hinweg und er‐ klärt ihn zum Vertreter einer "reinen Demokratie", deren Klasseninhalt er "ignorierte, oder ge‐ willt war, ihn absichtlich [!] zu ignorieren." (Tsoridis 1978, S. 38). Das Denken in Verratskate‐ gorien ist offensichtlich. 58 Ebda., S. 346ff. 59 Bauer, 1976e, S. 862. 60 Ebda., S. 861ff. 61 Bauer, 1976a, S. 319.

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3. Schlussbemerkung Die hier in ihrer Vielfältigkeit und Differenziertheit wiedergegebenen Vorstellungen der zeitgenössischen österreichischen Sozialdemokraten zu den Themen Demokra‐ tie, Diktatur, Staatsstruktur und Rätesystem muten aus der Perspektive des beginnen‐ den 21. Jahrhunderts gelegentlich überholt und „überständig“ an. Zu sehr haben sich Perspektiven und Begriffsinhalte insbesondere auch durch die lange Periode staats‐ sozialistischer Praxis in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten im „kurzen 20. Jahrhundert“ (Eric Hobsbawm) verändert und verschoben, sind bzgl. ihres transpor‐ tierten Begriffsinhalts weiter erklärungsbedürftig geworden. Deutlich dürfte gleich‐ wohl geworden sein, dass sich diese austromarxistische Theorietradition in ihrer Zeit großen Anstrengungen unterzog, um neue Entwicklungen theoretisch und program‐ matisch zu erfassen und dadurch auf der „Höhe der Zeit“ zu sein. Sie unterscheidet sich auf diese Weise in der Differenziertheit ihres Spektrums wohltuend sowohl von allzu einfachen „antibolschewistisch“ reduzierten Entgegensetzungen von Demokra‐ tie und Diktatur. Sie grenzt sich aber zugleich auch wohltuend von den kommunisti‐ schen Vorgaben des erforderlichen Nachahmens des „heroischen“ sowjetrussischen Beispiels ab. Nicht nur, aber auch diesen Anstrengungen und ihrem Festhalten an einer vielfach verfemten „zentristischen“ Tradition ist es geschuldet, dass es die österreichische Sozialdemokratie in dieser Periode vermochte - anders als etwa ihre deutsche Schwesterpartei -, das große Schisma zu vermeiden und eine weitgehende Einheit in der Arbeiterbewegung aufrechtzuerhalten.

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Zur Aktualität des Austromarxismus

Andreas Fisahn Zur Aktualität der Nationalitätenfrage

Insbesondere Otto Bauer und Karl Renner haben sich mit der „Nationalitätenfrage“ beschäftigt. Sie musste politisch denkenden Menschen in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn unter den Nägeln brennen und warf aus der Perspektive der öster‐ reichischen Sozialdemokratie besondere Fragen auf. Österreich-Ungarn umfasste vor dem Weltkrieg I nicht nur das Gebiet des heutigen Österreich und Ungarn, son‐ dern zum Staatsgebiet gehörten auch Böhmen und Mähren sowie Galizien im Nor‐ den. Im Süden erstreckte es sich weit in den Balkan und umfasste so die heutigen Staaten Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina, so‐ wie Teile der gegenwärtigen Staaten Italien, Serbien, Montenegro, Rumänien, Polen und der Ukraine. Kurz: Österreich-Ungarn war ein Vielvölkerstaat, in dem sich un‐ terschiedliche Kulturen und Sprachgemeinschaften wiederfanden. Otto Bauer hätte von unterschiedlichen Nationalitäten gesprochen. Für die marxistisch orientierten Sozialdemokraten stellte der Vielvölkerstaat Österreich eine besondere Herausforde‐ rung dar, weil das Verhältnis von „proletarischem Internationalismus“ und „nationa‐ lem Selbstbestimmungsrecht“ und Demokratie zu diskutieren und zu klären war. Dachte man nach dem Weltkrieg II, dass das Problem der Staatsgrenzen und des Zu‐ sammenlebens der Nationen in Europa weitgehend gelöst oder doch zumindest be‐ friedet worden sei, stellt sich die „Nationalitätenfrage“ gegenwärtig erneut. Denn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben neue Prozesse der Staatenbildung und der Separation eingesetzt. Sie reichen vom Baltikum über die neuen Staaten des ehemaligen Jugoslawiens bis zur Ukraine. Leider verläuft die Abspaltung nicht im‐ mer friedlich. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Überlegungen der Austromar‐ xisten zur Nationalitätenfrage im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn eine ungeahnte Aktualität.

1. Zum Begriff der Nation Bauer fasst seine Analyse zur Nationalitätenfrage im Vorwort zur zweiten Auflage des Buches selbst mit folgenden Worten zusammen: „Den eigentlichen Kern des Bu‐ ches bildet mein Versuch, die modernen Nationen mit den Mitteln marxistischer Ge‐ schichtsschreibung als aus Schicksalsgemeinschaften erwachsene Charaktergemein‐

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schaften zu beschreiben.“1 Die Geschichtsschreibung Bauers konzentriert sich auf die Geschichte der Deutschen, wobei er diese eben nicht über die Staatsangehörig‐ keit definiert, sondern über die Schicksalsgemeinschaft, und so locker die deutschen Österreicher und Schweizer mal eben mit zu „den Deutschen“ zählen kann. Damit hätte er wohl bei den Schweizern starken Widerspruch provoziert, während in Öster‐ reich seit 1848 eine „Großdeutsche Lösung“ der Nationalitätenfrage zur Diskussion stand, also der Anschluss der deutschsprachigen Teile Österreichs an das Deutsche Reich – eine Diskussion, die mit der Hitlerei, die diesen Anschluss erzwungen hatte, aufhörte.

1.1 Nation und Dialektik Die marxistische Geschichtsschreibung beginnt Bauer bei den alten Germanen und lässt sie zu seinen Lebzeiten enden. Marxistisch ist diese Geschichtsschreibung viel‐ leicht deshalb, weil Bauer gleichsam versucht, einen dialektischen Verlauf zu kon‐ struieren: die geeinte, aber sich ihrer nicht selbst bewusste germanisch-deutsche Na‐ tion entäußert sich im Feudalismus und zerfällt in unterschiedliche Teile, die mit dem Nationalstaat zu einer erneuten, nun sich selbst bewussten Einigung kommen. Tatsächlich behauptet er: „Die gemeinsame Abstammung ist es vor allem, die die Germanen jener Zeit zu einer Nation macht. Noch beruht jeder soziale Verband auf gemeinsamer Abkunft: die Sippschaft ist die feste Grundlage jedes gesellschaftli‐ ches Verbandes. Eine Reihe von stammesverwandten Sippschaften bilden die Völ‐ kerschaft und alle Völkerschaften bilden die Nation.“2 Den Begriff der Nation auf tribalistische Gesellschaften anzuwenden, klingt heute verwegen und ist wohl nicht haltbar. Die Nation ist ein Begriff und eine Erfindung der Neuzeit, genauer gesagt kapitalistischer Gesellschaften, die „ihren“ Markt zunächst über den einheitlichen Wirtschaftsraum der Nation organisieren. Staatstheoretisch ausgedrückt: die Verbin‐ dung von Nation und modernem Staat, die Konstituierung des bürgerlichen Staates als Nationalstaat, entgeht Bauer, weil er analog zum Marxschen „Urkommunis‐ mus“3, der zu sich selbst auf höherer Stufenleiter zurückfindet, eine „Ur-Nation“ konstruiert, deren geschichtliche Aufgabe die nämliche ist: „So trägt der Sozialis‐ mus in sich auch die Gewähr der Einheit der Nation.“4 Aber Bauer geht noch weiter, stellt das Verhältnis von Nation und Staat gewisser‐ maßen auf den Kopf, wenn er schreibt: „So erscheint die Nation als ein natürliches Gebilde, der Staat als ein Kunstprodukt. Wenn die überlieferten Staaten den Bedürf‐ 1 2 3 4

Bauer 1924, S. XI. Bauer 1924, S. 27. Marx 1962, S. 911. Bauer 1924, S. 109.

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nissen der Zeit – der Sicherung der Fremdherrschaft, dem Verlangen nach größeren Wirtschaftsgebieten – nicht mehr entsprechen, was ist selbstverständlicher als das Kunstprodukt, den Staat, dem natürlichen Erzeugnis menschlicher Geschichte, der Nation anzupassen, die Nation selbst zum Substrat des Staates zu machen?“5 Nun muss man nicht darüber streiten, ob der Staat ein Kunstprodukt ist, aber: Nation und Nationalbewusstsein oder Patriotismus folgen dem Staat und gehen ihm nicht voran. Die Geschichtsschreibung scheint sich in diesem Punkte weitgehend einig6: Natio‐ nen werden durch staatliche Macht konstruiert und über Schule, Militär, Amtsspra‐ che u.ä. gebildet7. Erst durch diese Konstruktion werden sie zu wirkmächtigen ge‐ schichtlichen Faktoren. In den Worten Pilsudskis, des Führers des seit 1918 unab‐ hängigen Polens: "Der Staat macht die Nation, nicht die Nation den Staat."8 Aber die Nationenbildung gelingt offenkundig nicht immer. Das hatte Bauer vor Augen, nämlich den Vielvölkerstaat Österreich vor dem Weltkrieg I, in dem es Konflikte et‐ wa zwischen Deutschen und Tschechen gab. Er beobachtet „das Erwachen der ge‐ schichtslosen Nationen“9, welche mit der kapitalistischen Entwicklung erwachten, ein eigenes Nationalbewusstsein entwickelten und so den „nationalen Streit“ ent‐ fachten, den Bauer als eine jener schmerzvollen Krankheitserscheinungen bezeich‐ net, die der einziehende Kapitalismus hervorrufe.10

1.2 Von den Germanen bis zur frühen Neuzeit Die Ur-Nation der Germanen zerfällt für Bauer mit der Sesshaftigkeit, da nun die Familien, Gruppen und Dörfer voneinander getrennt würden und keine gemeinsame Geschichte und Kultur mehr erleben und produzieren könnten. Bauer schreibt: „In den Zeiten, da die Sesshaftigkeit die Germanen voneinander immer mehr und mehr getrennt und noch nicht auf der Grundlage der Grundherrschaft die gemeinsame Kultur einer herrschenden Klasse erwachsen war, gibt es keine germanische Nation mehr und noch keine deutsche.“11 Es sei die territoriale Isolierung, welche die ur‐ sprüngliche Gemeinschaft der Gleichen auflöst. Diese Isolierung überwindet zu‐ nächst eine Kultur der herrschenden Klasse, nämlich der mittelalterlichen Grundher‐ ren, so dass die Deutschen sich als Nation einer herrschenden Klasse neu konstituie‐ ren: „Eine Kulturgemeinschaft aller ritterlich Lebenden war es, die zunächst die 5 6

Bauer 1924, S. 183. Vgl. Hobsbawm 1995, Kapitel 6; eine ausführliche Beschreibung der Mechanismen der Natio‐ nenbildung in Italien, in: Hobsbawm 1980, Kap. 5 II. 7 Vgl. Anderson 1996, S. 44 ff. 8 Zitiert in: Roos 1996, S. 48. 9 Diesen Begriff bildet er in Anlehnung an Engels Kommentar zur Geschichtslosigkeit der russi‐ schen Bauern (Engels 1962, S. 586 f). 10 Bauer 1924, S. 239. 11 Bauer 1924, S. 34.

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herrschenden Klassen aller Deutschen verband; sie ist es, die zuerst die Deutschen zur Nation zusammengeschweißt hat.“12 Bauer benutzt den Begriff der Nation wohl für einen zu frühen Zeitpunkt, denn selbst das „heilige römische Reich“ mit deut‐ schen Kaisern erhielt den Zusatz „deutscher Nation“ erst im 15. Jahrhundert, also in der Neuzeit, mit dem Beginn eine frühkapitalistischen Warenwirtschaft. Aber für Bauer ist diese frühe deutsche Nation nur rudimentär entwickelt, etwa in den mittelhochdeutschen Dichtungen, übereinstimmenden Rechtsvorschriften13 und einer gemeinsamen ritterlichen Kultur, die aber keine festen „nationalen“ Grenzen gekannt habe. Den Sprung über diese frühen Formen nationaler Identität sieht Bauer in der Entwicklung der Warenwirtschaft. Diese hebe die Isolierung der einzelnen Dörfer und Höfe auf. Aus den Selbstversorgern werden Warenproduzenten, die auf dem Markt in Kontakt mit anderen treten müssen. „Nicht in irgend einem allgemei‐ nen Entwicklungsgesetze alles psychischen Seins, sondern in der Entwicklung der Warenproduktion liegt die Erklärung für die spätere Entwicklung des Nationalbe‐ wusstseins des deutschen Volkes über die von Walter von der Vogelweide erreichte Stufe hinaus.“14 Bauer entwickelt gleichsam nebenbei Rudimente einer Theorie der Staatenbil‐ dung, die bekanntlich bis heute kontrovers ist. Die Warenproduktion entwickelt sich zwangsläufig zur Geldwirtschaft, die es ihrerseits dem Landesherrn erlaubt, Steuern einzutreiben, womit ein Machtmittel in seine Hand gerät, dass erheblich effektiver ist als die alte Gefolgschaft und Treue, heute würde man sagen: die adligen Netzwer‐ ke. Mit Geld lässt sich das Militär revolutionieren, nämlich zu einem stehenden Heer, und ein Beamtenapparat ausbilden, der Herrschaft von der zufälligen Folgebe‐ reitschaft und Gewaltmittelverteilung unabhängig macht.15 Die kulturellen Folgen sind: Die Bedeutung der Ritter und Grundbesitzer schwin‐ det, der Adel wird höfisch. Die Bedeutung des Bürgertums steigt, so geht auch die Herausbildung einer neuen Kultur der herrschenden Klasse in die Hände des Bürger‐ tums über. Verschiedene Entwicklungen, die Beschleunigung der Kommunikation und Verkehrswege, die Buchdruckerei oder die Einrichtung von Schulen haben nach Bauer dazu geführt, dass „die Deutschen“ zusammenwuchsen, eine gemeinsame Kultur und Sprache entwickelten, die sich mit der Reformation vollends durchsetz‐ te.16 Nicht zuletzt sei zu erwähnen, „dass unsere klassische Dichtung mitgeschnei‐ dert hat am einheitlichen Charakter der deutschen Nation, indem sie jedem Deut‐ schen zum Erlebnis, zum bestimmenden Schicksal wurde.“17 Aber in dieser frühen Phase des Kapitalismus sei die bürgerliche Kultur im wesentlichen Hochkultur der 12 13 14 15 16 17

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Bauer 1924, S. 43. Diese entwickeln sich allerdings erst im Ausgang des Mittelalters. Bauer 1924, S. 49. Bauer 1924, S. 55 ff; 70 ff. Bauer 1924, S. 68. Bauer 1924, S. 81.

gebildeten Schichten gewesen, d.h. die nationale Einheit bildete sich im Bürgertum, nicht aber bei Bauern und Handwerkern. Erst die Entfaltung der Produktivkräfte im Kapitalismus, die industrielle Revolution habe dazu geführt, dass die nationale Kul‐ tur zu einem Massenphänomen wurde, dass sich eine nationale Identität auch bei den unteren Klassen herausgebildet habe. Bauer resümiert den Gang der Geschichte der Deutschen so: „Die Germanen im Zeitalter des Cäsar sind eine Kulturgemeinschaft gewesen: aber diese alte Kulturge‐ meinschaft ist zerfallen mit dem Sesshaftwerden der Nation beim Übergang zum Ackerbau. An die Stelle der nationalen sind örtlich gebundene Gemeinschaften ge‐ treten: voneinander scharf geschieden von Ort zu Ort, von Tal zu Tal. Zur Nation einte höhere Kultur immer die herrschenden und besitzenden Klassen. Erst der mo‐ derne Kapitalismus hat wieder eine wahrhaft nationale, die engen Grenzen der Dorf‐ gemarkung überspringende Kultur des ganzen Volkes erzeugt. Er hat dies vollbracht, indem er die Bevölkerung entwurzelt, aus der örtlichen Bindung herausgerissen, in dem Prozess der modernen Klassen- und Berufsbildung örtlich und beruflich umge‐ schichtet hat. Er hat sein Werk vollbracht durch das Mittel der Demokratie, die sein Erzeugnis ist, durch die Volksschule, die allgemeine Wehrpflicht und das gleiche Wahlrecht.“18

1.3 Nation und Kapitalismus Nun lobt Bauer die zivilisatorische Leistung des Kapitalismus nicht nur, sondern kri‐ tisiert auch ihre Beschränktheit und insbesondere, dass weiterhin nur die oberen Klassen genug Zeit und Mittel haben, sich die – nationalen – Kulturgüter anzueig‐ nen. Erst im Sozialismus könne eine „wahrhaft nationale Erziehung“, wie sie Fichte sich vorstellte, verwirklicht werden, eine Erziehung, die „in jedem Kinde der Nation durch Vermittlung der nationalen Kultur wahrhaft den Nationalcharakter hervor‐ bringt.“19 Denn Muße und soziale Sicherheit seien „erste Voraussetzung aller geisti‐ gen Kultur.“ So folgert Bauer: „Erst durch den demokratischen Sozialismus kann darum die ganze Bevölkerung in die nationale Kulturgemeinschaft einbezogen wer‐ den.“20 Allerdings kommen ihm selbst Zweifel, ob diese „nationale Kultur“ nicht et‐ was engstirnig ist, und er räumt ein, dass schon der Kapitalismus Lernprozesse und die Apperzeption fremder Kulturen ermögliche, was im Sozialismus weiter gestei‐ gert würde. Aber er beharrt auf der nationalen Kultur: „Darum bedeutet die Autono‐ mie der nationalen Kulturgemeinschaft im Sozialismus notwendig, trotz der Aus‐ gleichung der materiellen Kulturinhalte, doch steigende Differenzierung der geisti‐ 18 Bauer 1924, S. 90 f. 19 Bauer 1924, S. 102. 20 Bauer 1924, S. 101.

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gen Kultur der Nationen. Heranziehung des gesamten Volkes zur nationalen Kultur‐ gemeinschaft, Eroberung voller Selbstbestimmung durch die Nation, steigende geis‐ tige Differenzierung der Nationen – das bedeutet Sozialismus.“21 Nun hat die Geschichte Bauer überholt. Die Ausgleichung der nationalen Kultur‐ inhalte wurde zum Kulturimperialismus auf Seiten der unteren Klassen, der aber eben nicht differenziert, sondern nivelliert. Die herrschenden Klassen dagegen emanzipieren sich weitgehend von der nationalen Kultur. Die kulturellen Inhalte werden international und zu einer übernationalen Kultur der herrschenden Klassen. Keineswegs haben sich die nationalen Kulturen über das Niveau ihrer Blüte zur Zeit der Begründung der Nationalstaaten, zu Zeiten des nationalen, emanzipatorischen Sendungsbewusstseins des Bürgertums hinaus differenziert. Das gilt jedenfalls für den westlichen, kapitalistischen Norden des Planeten. Das führt allerdings nicht da‐ zu, dass die Gruppenidentitäten verloren gehen, die sich mit der politischen Nation decken können, oder wie bei Schotten, Basken oder frankophilen Kanadiern eine Identität unterhalb der Grenzen der staatlich definierten Nation markieren, was sich wieder mit Bauers Begriff der Nation deckt. Für ihn wären Basken, Schotten und Frankokanadier eigenständige Nationen. Bauer interessiert sich für diese Gruppenidentitäten, weil sie politische Konfliktli‐ nien im Vielvölkerstaat Österreich markieren, und er muss die Nation folglich jen‐ seits der staatlichen Einheit oder der Nationalstaaten ansiedeln. Gegen einen ober‐ flächlichen Internationalismus beharrt er darauf, dass die verschiedenen Nationen sich voneinander unterscheiden, in ihrer Kultur, ihren Sitten, ihrer Sprache, den Le‐ benseinstellungen und auch der Physiognomie. Die Unterschiede versucht er durch „einen Nationalcharakter“ zu fassen, was allerdings Anlass zu Missverständnissen bietet. Er schreibt: „Die Verschiedenheit der Nationalcharaktere ist eine empirische Tatsache, die nur jener Doktrinismus zu leugnen vermag,“ der den Unterschied der Nationen allein über die Sprache definiert.22 In der Tat erscheint die Sprache kein zureichendes Abgrenzungsmerkmal. Dann allerdings muss man den Begriff des Na‐ tionalcharakters genauer fassen.

1.4 Nochmal zum Begriff der Nation Bauer will den Nationalcharakter als „ein Stück geronnener Geschichte“ begreifen. „In der individuellen Eigenart, die jedes Individuum mit den anderen Individuen sei‐ nes Volkes gemein hat, durch die es also mit diesen anderen Individuen zu einer Ge‐ meinschaft zusammengeschweißt wird, ist die Geschichte seiner (leiblichen und kul‐

21 Bauer 1924, S. 108. 22 Bauer 1924, S. 127.

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turellen) Ahnen niedergeschlagen, sein Charakter ist erstarrte Geschichte.“23 Den Begriff der Nation will Bauer darum ebenso substantiell über die gemeinsame Ge‐ schichte bestimmen: „Die Nation kann also definiert werden als die nicht aus Gleichartigkeit des Schicksals, sondern aus der Schicksalsgemeinschaft erwachsen‐ de Charaktergemeinschaft. Das ist auch die Bedeutung der Sprache für die Nation. Mit den Menschen, mit denen ich im engsten Verkehr stehe, mit denen schaffe ich mir eine gemeinsame Sprache.“24 Dieser Begriff der Schicksalsgemeinschaft wird bis heute in dem Versuch, die Substanz der Nation zu erfassen, verwendet. Böckenförde etwa postuliert als vorpolitische Voraussetzung der demokratischen Gleichheit eine "relative Homogenität", die sich aus der nationalen Identität ent‐ wickle25, wobei er Nation als "ethnisch und kulturell homogene Gemeinschaft"26 versteht und sie als "Schicksalsgemeinschaft"27 konstruiert. Bauer sieht, dass die In‐ dividuen einer Nation unterschiedlichen Klassen angehören können und sie deshalb völlig unterschiedliche Schicksale erlitten und Geschichte für sie unterschiedlich be‐ stimmend wurde. Er unterstellt kein gleichartiges Schicksal und auch keine gleiche Kultur, sondern sieht die Differenz zwischen der Kultur der herrschenden und der beherrschten Klasse. Die Klassen verschiedener Länder hätten gleiche Klassencha‐ raktere, bildeten aber wegen ihrer sprachlichen, geografischen usw. Trennung keine Schicksalsgemeinschaft, die aber innerhalb einer Nation bestehe, trotz der Differenz der Klassen. Nun fragt man sich schon, wie das Verhältnis von Nationalcharakter und Klassencharakter denn wohl ist. Die Unterscheidung wird so wenig griffig und präzise, weil Bauer im Versuch, materialistisch zu argumentieren, die Dialektik von Geschichte und denen, die Geschichte machen, von Sein und Bewusstsein nicht er‐ fasst. Die subjektive Komponente fehlt ebenso wie bei Böckenfördes Versuch, eine Homogenität zu unterstellen, die Demokratie erst möglich mache. Hier ist zunächst festzuhalten, dass Bauer korrekt das Phänomen nationale Identi‐ tät als wichtigen Faktor der Politik erfasst und nicht einfach mittels der Klassen wegdefiniert. Zweitens ist es auch nicht von der Hand zu weisen, dass es objektiv zu erfassende Unterschiede zwischen Sprache, Kultur, Geschichte, Vorstellungsweisen und auch der Physiognomie der Menschen einer Nation gibt. Aber unklar bleibt, wieso manche Gemeinsamkeiten in manchen Fällen zur Nationenbildung führen, in anderen Fällen nicht – oder eben andere Faktoren die Nationenbildung befördern. Ob der Unterschied die Nation, oder die Nation die Differenz erzeugt, kann Bauer mit seinem Versuch einer Geschichtsschreibung nicht erklären. Es fehlt bei Bauer der subjektive Faktor, das Gefühl nationaler Identität jenseits der objektiven Diffe‐ renz oder gemeinsamen Geschichte. 23 24 25 26 27

Bauer 1924, S. 123 (Hervorhebung im Original). Bauer 1924, S. 113. Böckenförde 1992, S. 332 f. Böckenförde 1999, S. 55. Böckenförde 1992, S. 314.

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1.5 Konstruktion von Nationen – der subjektive Faktor Für jede Behauptung, es gebe ein unhintergehbares konstitutives, objektives Merk‐ mal für die Nationenbildung, gibt es Gegenbeispiele28: die amerikanische Nation ist das Gegenbeispiel für die Forderung nach ethnischer Homogenität; kulturelle Ho‐ mogenität ist angesichts vielfältiger Subkulturen und regionaler Kulturen von vorn‐ herein genauso schwierig zu bestimmen wie die „Schicksalsgemeinschaft“: „Ge‐ schichtsklitterung als ein Werk von Intellektuellen ist die Grundlage der gemeinsa‐ men identitätsstiftenden Kultur.“29 Und für die Notwendigkeit sprachlicher Homoge‐ nität sind Kanada30 und die Schweiz das Gegenbeispiel. Die Schweiz ist „alles ande‐ re als ein Sonderfall.“31 Diese Konstruktion wird wirkmächtig, ein bedeutender ge‐ schichtlicher Faktor, da es gelingt, sie fest in der symbolischen Ordnung der sich seit dem 18. Jahrhundert bildenden Nationalstaaten zu verankern. Dies ist im Wesentli‐ chen das Werk von Intellektuellen32, denen es gelingt, eine hegemoniefähige Kon‐ struktion der nationalen Identität zu etablieren und in der hegemonialen symboli‐ schen Ordnung33 zu verankern. Mit Bauer könnte man sagen, indem sie aus der Hochkultur der Herrschenden die Grundlage einer gemeinsamen Identität bilden können. Aber das Merkmal der Konstruktion, der Fabrikation einer gemeinsamen Identität ist zu berücksichtigen - wohlgemerkt unter Anknüpfen an reale Phänomene. Hege‐ moniefähig wird die Konstruktion der nationalen Identität oder des einheitlichen Volkes nämlich nur, weil sie an reale Erscheinungen wie Sprache, Religion usw. an‐ knüpfen kann, die jedoch allein noch nicht die Nation konstituieren und abgrenzen. Mit Bauer kann man gegen Bauer darauf hinweisen, dass diese Konstruktion erfolg‐ reich wurde, als es darum ging, einen einheitlichen Wirtschaftsraum, einen Markt mit einheitlichen Regeln zu schaffen. Für den individualistischen Marktbürger stellt sich das Problem der Identität und Zugehörigkeit auf der einen Seite und der staatli‐ chen Einheit auf der anderen Seite anders als für den mittelalterlichen Menschen, der

28 Peter Glotz fasst das ironisch zuspitzend so zusammen: „Eine Nation ist eine Gruppe Men‐ schen, die durch einen gemeinsamen Irrtum hinsichtlich ihrer Abstammung und eine gemein‐ same Abneigung gegen ihre Nachbarn geeint ist“ (Glotz 1990, S. 41). 29 Eder 1999, S. 154. Eder entwickelt u.a. den interessanten Gedanken, dass die abendländisch, christliche Kultur sich aus zwei sehr gegensätzlichen Traditionen synkretistisch zusammen‐ setzt: der griechischen Tradition blutiger Opferrituale und eines extensiven Machtgebrauchs und der jüdisch-christlichen Tradition der „extensiven rituellen Beschränkung des Blutvergie‐ ßens“ und Machtverzichts (Eder 1999, S. 155 ff). 30 Trotz der separatistischen Bewegungen eines Teils der französisch-sprachigen Minderheit, die sich eben nicht durchsetzen konnten und in Volksabstimmungen keine Mehrheit für die Ab‐ spaltung erhielten. Umgekehrt zeigt das Beispiel Italien und der Lega Nord, dass separatisti‐ sche Tendenzen sich auch bei einheitlicher Sprache entwickeln können. 31 Schefold 1998, S. 59. 32 Giesen 1993; Eisenstadt/Giesen 1995, S. 72 ff. 33 Dazu: Fisahn 1999, S. 291 ff.

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sich fest in eine göttliche Ordnung eingebettet wähnt und dieser faktisch auch nicht entfliehen kann. Der Marktbürger muss seine Identität neu definieren; der entwurzel‐ te Proletarier hat keine „natürliche“ Zugehörigkeit und die Gemeinsamkeit der Klas‐ se ist ebenso abstrakt wie diejenige der Nation. Erst bei Hegel wird die soziale Spal‐ tung der bürgerlichen Gesellschaft zu einem Problem. Er löst dieses Problem theore‐ tisch durch den Staat, der die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft aufheben könne und über den die gespaltene bürgerliche Gesellschaft zu einer allgemeinen, vernünftigen Sittlichkeit vereinigt werde.34 Patriotische Gesinnung ist für Hegel nicht Voraussetzung des Staates, sondern dessen Resultat.35 Die Nation wird damit nicht zum ideologischen Konstrukt oder zur Phantasmagorie, denn die Verankerung der nationalen Identität in der vorbewussten Ordnung gelingt nur, wenn an tatsächli‐ che Gemeinsamkeiten, an Bauers Schicksalsgemeinschaft angeknüpft werden kann und – muss man wohl hinzufügen – wenn eine Abgrenzung zu dem Anderen gelingt. Das macht die Berufung auf die Nation in der Geschichte so ambivalent. Nur die Abgrenzung macht Autonomie im Sinne einer Selbstbestimmung der eigenen Ge‐ schichte möglich – das Selbstregieren muss ja irgendwo dieses „Selbst“ bestimmen und definieren. Die Nation ist wie in der französischen Revolution die Grundlage der Forderung nach Demokratie. Umgekehrt lässt sich die Abgrenzung instrumenta‐ lisieren zur Ausgrenzung. So meint Carl Schmitt, Demokratie beruhe „darauf, dass nicht nur Gleiches gleich, sondern mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtglei‐ ches nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Ho‐ mogenität und zweitens - nötigenfalls - die Ausscheidung oder Vernichtung des He‐ terogenen.“36 Die nationale Symbolik konnte sich, gerade weil die Anknüpfungs‐ punkte diffus sind, in unterschiedlichen geschichtlichen Phasen mit anderen Symbo‐ liken oder Politikmustern vereinen.37 So war sie gelegentlich revolutionär und de‐ mokratisch, etwa in ihrer Entstehungsphase. Auch während der kolonialen Unabhän‐ gigkeitsbewegungen oder der russischen Revolution wurde auf die nationale Symbo‐ lik zurückgegriffen und diese mit revolutionären Zielen verbunden. Umgekehrt konnte die nationale Symbolik Bestandteil imperialer und kolonialistischer Strategi‐ en werden und sie konnte in Kombination mit der arischen Rassenideologie im deut‐ schen Faschismus eine geschichtlich bisher unbekannte Vernichtung von Teilen der Bevölkerung und den "totalen Krieg" ideologisch stützen. Das ist sicher in der Schicksalsgemeinschaft nicht angelehnt, es lässt sich sogar behaupten: Die Beschwörung einer Schicksalsgemeinschaft lässt sich reaktionär, na‐ tionalistisch missbrauchen. Die Geschichte konnte Bauer allerdings 1907 nicht vor‐ 34 Hegel 2004, §§ 189 ff; § 257: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee“. 35 Hegel 2004, § 268: „Die politische Gesinnung, der Patriotismus überhaupt, als die in Wahrheit stehende Gewissheit ... und das zur Gewohnheit gewordene Wollen ist nur Resultat der im Staate bestehenden Institutionen, als in welchem die Vernünftigkeit wirklich vorhanden ist...“. 36 Schmitt 1926, S. 13 f. 37 Balibar 1993, S. 124 ff.

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wegnehmen. Karl Renner, der sein Buch über „Das Selbstbestimmungsrecht der Na‐ tionen“ im Jahre 1917 abschließt, formuliert – nicht nur, weil er auf einer juristische beschreibenden Ebene argumentiert – deutlich vorsichtiger und unter Einschluss von Konstituierungsprozessen: „Die Nation, die also naturwissenschaftlich als Summe von Individuen von verschwommenen Rassenmerkmalen, soziologisch ein Aggregat von Menschen mit einer gewissen, in der Regel durch eine gleiche Sprache vermit‐ telten Gleichheit des Denkens und Fühlens ist, wird auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung eine Personengesamtheit mit dem einheitlichen Willen, auch staatlich eine von anderen nationalen Gruppen unabhängige Einheit zur Wahrung ihrer natio‐ nalen Eigenart und Kultur zu bilden.“38

2. Nation und Personalitätsprinzip 2.1 Selbstbestimmungsrecht der Nationen Die Nation wird bis heute ganz herrschend mit dem Nationalstaat verbunden. Die Nation hat es entweder geschafft, sich mittels eines Staates national abzugrenzen oder ist als separatistische Bewegung darum bemüht, den eigenen Nationalstaat zu bilden. Die Nation wird mit dem Territorium verbunden. Das gilt beinahe unabhän‐ gig von der Frage, über welches Merkmal die Identität der Nation konstruiert wird, und es gilt links wie rechts. Der US-amerikanische Präsident Wilson forderte die na‐ tionale Selbstbestimmung ebenso wie Lenin, der schrieb: „Das Selbstbestimmungs‐ recht der Nationen bedeutet ausschließlich das Recht auf Unabhängigkeit im politi‐ schen Sinne, auf die Freiheit der politischen Abtrennung von der unterdrückenden Nation. Konkret bedeutet diese Forderung der politischen Demokratie die volle Frei‐ heit der Agitation für die Abtrennung und die Lösung der Frage über die Abtren‐ nung durch das Referendum der betreffenden, d.h. der unterdrückten Nation, so dass diese Forderung nicht der Forderung der Abtrennung, der Zerstückelung, der Bil‐ dung kleiner Staaten gleich ist. Sie ist nur ein folgerichtiger Ausdruck für den Kampf gegen jegliche nationale Unterjochung. … Das Ziel des Sozialismus ist nicht nur Aufhebung der Kleinstaaterei und jeder Absonderung von Nationen, nicht nur Annäherung der Nationen, sondern auch ihre Verschmelzung. Und eben, um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir einerseits die Massen über den reaktionären Charakter der Idee von Renner und Bauer (sogenannte ‚national-kulturelle Autonomie’) auf‐ klären, anderseits aber die Befreiung der unterdrückten Nationen nicht in allgemei‐ 38 Renner 1918, S. 69: Die Herleitung dieser Definition ist allerdings deutlicher weniger konsis‐ tent und interessant als Bauers Überlegungen, weil Renner – damaliger rechtswissenschaftli‐ cher Theoriebildung folgend – fachwissenschaftliche Begriffe der Nation unterscheidet und ganz relativistisch jeder Fakultät ihre spezifische Sicht auf die Nation lassen will, also den So‐ ziologen ebenso wie den Ethnologen. Die vorgestellte Definition gelingt gleichsam nebenbei.

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nen weitschweifigen Phrasen, nicht in nichtssagenden Deklamationen, nicht in der Form der Vertröstung auf den Sozialismus, sondern in einem klar und präzis formu‐ lierten politischen Programm fordern, und zwar in spezieller Bezugnahme auf die Feigheit und Heuchelei der ‚Sozialisten’ der unterdrückenden Nationen. Wie die Menschheit zur Abschaffung der Klassen nur durch die Übergangsperiode der Dikta‐ tur der unterdrückten Klasse kommen kann, so kann sie zur unvermeidlichen Ver‐ schmelzung der Nationen nur durch die Übergangsperiode der völligen Befreiung, das heißt Abtrennungsfreiheit aller unterdrückten Nationen kommen.“39

2.2 Das Personalitätsprinzip Lenin polemisiert hier gegen Bauer und Renner, weil diese eben dem Territorialprin‐ zip, also der Lösung „jede Nation in einem Staat“ widersprechen und stattdessen das Personalitätsprinzip einfordern. Dieses besagt, dass verschiedene Nationen sich in‐ nerhalb eines Staates konstituieren und gleiche demokratische Rechte erhalten sol‐ len. Bauer und Renner sehen mit Blick auf Österreich, dass nationale Grenzziehun‐ gen und Staatenbildung zu Konflikten führen müssen, weil die verschiedenen Natio‐ nen eben nicht fein säuberlich getrennt in „ihren“ Gebieten wohnen, sondern durch‐ einander siedeln. Sie nehmen damit weitsichtig das Problem vorweg, das die Zwi‐ schenkriegsperiode Europa prägte. Sie erwähnen explizit die Sudetendeutschen, die Hitler später den Vorwand zum Einmarsch in Tschechien lieferten. Aber das Prob‐ lem trat nicht nur durch die Aufteilung Österreichs auf. Man denke etwa an die Um‐ siedlung – besser wohl gegenseitigen Vertreibungen – von Griechen und Türken um 1922, die vom Lausanner Vertrag 1923, der Bestimmungen über den „Bevölkerungs‐ austausch“ zwischen Griechenland und der Türkei vorsah, nachträglich legitimierte wurde. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion trat das Problem erneut auf und führte wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen in Westeuropa, als Folge der von Deutschland protegierten Aufteilung Jugoslawiens. Bauer und Renner lehnen die territoriale Selbstbestimmung der Nation ab und fordern die Konstituierung der Nation als Personenverband. „Innerhalb des Staates aber soll nicht den Deutschen in diesem, den Tschechen in jenem Gebiet die Macht zugeteilt werden. Sondern es sollen die Nationen, wo immer sie leben, zu einer Kör‐ perschaft zusammengeschlossen werden, die selbständig ihre nationalen Angelegen‐ heiten verwaltet.“40 Zunächst setzt dies voraus, dass zwischen Staatsangehörigkeit und Nationalität unterschieden wird, so dass verschiedene Nationen eine gemeinsa‐ me (österreichische) Staatsangehörigkeit besitzen sollen. Dann gehen Bauer und Renner davon aus, dass die Nationalität nicht vom Staat nach im Zweifel umstritte‐ 39 Lenin 1972, S. 144-159. 40 Bauer 1924, S. 354.

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nen Kriterien festgelegt wird, sondern jeder Staatsangehörige sich einer Nationalität zuordnet. „Auf Grund der freien Nationalitätserklärung der mündigen Staatsbürger sollen Nationalitätskataster angelegt werden.“41 Die Nationen sollen dann auf den verschiedenen Ebenen des Staates gleichberechtigte Vertretungskörperschaften wäh‐ len und Verwaltungsstrukturen ausbilden. Demokratische Wahl setzen Bauer und Renner – selbstverständlich – voraus. Es soll also nach Nationen getrennte parla‐ mentarische und administrative Körperschaften auf der Ebene der Kommune und des „Bundeslandes“ und gemeinsame auf gesamtstaatlicher Ebene geben.

2.3 Verfassung und personale Nation Auf der Ebene des Kreises dürfte es, so die Einschätzung, eine große Anzahl von Kreisen mit national homogener Bevölkerung geben. Hier wäre die parlamentarische Vertretung und Verwaltung unproblematisch. Anders in den „gemischten Kreisen“. „In diesen Fällen“, meint Bauer, „bildet die Bevölkerung im Kreise einen Selbstver‐ waltungskörper für die öffentliche Verwaltung, dessen Organ der Kreisrat ist. Gleichzeitig aber wird die Bevölkerung aufgrund des nationalen Katasters, also nach dem Personalitätsprinzip, in zwei nationale Selbstverwaltungskörper geteilt, die für die nationalen Kulturaufgaben im Kreise selbständig sorgen und zu diesem Zwecke ihre Nationsgenossen besteuern. Das Organ dieser nationalen Selbstverwaltungskör‐ per sind die Kreisvertretungen. … im Doppelkreis Budweis dagegen würde der Kreisrat nur die national indifferenten Verwaltungsaufgaben besorgen, während die nationalen Kulturaufgaben von einer deutschen und einer tschechischen Kreisvertre‐ tung besorgt würden.“42 Jede Nation soll die „eigenen Angelegenheiten“ in Selbst‐ verwaltung, autonom auf den verschiedenen Ebenen des Staates bestimmen. Die all‐ gemeinen Angelegenheiten sollen dagegen gemeinsam entschieden und verwaltet werden. Bei Renner heißt es: „Der Kreis vermag demnach eine doppelte Funktion zu erfüllen: Er ist zugleich das Organ der staatlichen Lokalverwaltung und der nationa‐ len Selbstregierung. Beide Verwaltungsfunktionen sind konzentriert im Kreishaupt‐ mann, der in seiner Person das elementare Bindeglied zwischen Staat und Nation darstellt.“43 Auf gesamtstaatlicher Ebene sollte eine ähnliche Doppelstruktur mit nationaler Autonomie in nationalen Angelegenheiten eingeführt werden. Renner beschreibt diese Doppelstruktur so: „So wären zunächst die Nationen als Gesamtheiten mit staatlicher Hoheit zu bekleiden, mit Gesetzgebungs- wie mit Vollzugsgewalt. Dazu aber müssen sie entsprechende Organe erhalten… Sie brauchen jede eine einheitli‐ 41 Bauer 1924, S. 354. 42 Bauer 1924, S. 359. 43 Renner 1918, S. 230.

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che nationale Vertretung … die wir den Nationalrat nennen wollen. Er ist der Träger der Repräsentativhoheit der Nation. Die siebzehn Landtage hätten also zunächst ab‐ zutreten und acht Nationalräten mit dem Sitze in Wien Platz zu machen… Dem Na‐ tionalrat gegenüber steht eine nationale Regierung. … Aus der Allgemeinheit der staatlichen Aufgaben, die heute das Parlament und die Landtage erledigen, wird ein bestimmter Kreis von Angelegenheiten ausgesondert, die als spezifisch nationale be‐ handelt werden. Ihr Kern … ist die Unterrichtsverwaltung. … Was nach Ausschei‐ den des nationalen und des territorialen Gewaltbereichs bei der Zentralgewalt zu‐ rückbleibt, das wäre dann der Kompetenzbereich der Bundesgewalt, auf die das Zen‐ tralparlament und die Zentralregierung beschränkt bliebe.“44 Im Grunde vertreten Renner und Bauer eine Bundesverfassung, die sich aller‐ dings von bekannten Bundesverfassungen dadurch unterscheidet, dass sie die Natio‐ nen nicht territorial abgrenzt, sondern personal, so dass etwa der tschechische Natio‐ nalrat in ihrer Verfassung auch für bekennende Tschechen „zuständig“ gewesen wä‐ re, die in Wien, einem vorwiegend „deutschen“ Gebiet, wohnten. Lenins Polemik trifft den Kern ihrer Argumentation nicht, der auf der nachvollziehbaren Prämisse beruht, dass territoriale Autonomie, die auf nationaler Homogenität beruht, nur mit Zwang und Gewalt hergestellt werden kann. Insofern wäre Renners und Bauers Lö‐ sung etwa im Fall der Staaten des Balkans wahrscheinlich mit weniger Leid verbun‐ den gewesen als die gewaltsam durchgesetzte Abspaltung in Kleinstaaten, die keine „national“ homogene Bevölkerung aufweisen.

2.4 Verschiebungen nach dem Weltkrieg I Nachzutragen bleibt, dass Bauer und die österreichische Sozialdemokratie nach dem Weltkrieg I auf Lenins Position umschwenkte und nun das Selbstbestimmungsrecht als territoriale Autonomie verstand. Im Januar 1918 verabschiedete eine Konferenz linker Sozialdemokraten polnischer, tschechischer und deutscher Herkunft ein Na‐ tionalitätenprogramm der Linken,45 das Selbstbestimmung territorial definierte, gleichzeitig aber ein Dach der Nationalstaaten, einen Staatenverbund der ehemals zu Österreich gehörenden Staaten errichten wollte. Renner blieb dagegen skeptisch.46 Begründet wurde die neue Position mit den Erschütterungen des Weltkriegs I, die neue Machtkonstellationen hervorbrachte und der Tatsache, dass die Internationale vor dem Krieg kläglich versagt hatte. Unter dem Pseudonym „Karl Mann“ schrieb Otto Bauer47: „Vom Osten her hat Trotzky, vom Westen her Wilson das Selbstbe‐ 44 Renner 1918, S. 257 f. 45 Ein Nationalitätenprogramm der „Linken“, 1918, S. 269 ff. 46 Bauer schrieb: Zunächst rief das Programm innerhalb der Partei heftigen Widerstand hervor; besonders von Renner wurde es leidenschaftlich bekämpft. (Bauer 1923, S. 69). 47 März 1981, S. 259.

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stimmungsrecht der Völker als Prinzip der neuen Weltordnung proklamiert. Der österreichische Nationalitätenkampf ist keine bloß innerpolitische Frage mehr.“48 Die Lösung der Nationalitätenfrage durch das Personalitätsprinzip sei vor dem Krieg als innerstaatliche Politik möglich gewesen. Mit dem Krieg habe sich die Situation grundlegend geändert, weil erstens nur Minoritäten innerhalb der Sozialdemokratie am Prinzip des Internationalismus festhielten und zweitens insbesondere Polen, Tschechen und „Südslawen“ nach territorialer Autonomie strebten, was von der Lin‐ ken anzuerkennen sei. So wird in dem Programm selbstkritisch bemerkt: Die Sozial‐ demokratie „hat sich allzu ängstlich gescheut, das Selbstbestimmungsrecht der sla‐ wischen Nationen gegen die deutsche Bourgeoisie zu verfechten.“ Das habe dazu geführt, dass die „slawischen Nationen“ nun ein neues Selbstbewusstsein entwickelt hätten und sich gegen die deutsche Fremdherrschaft auflehnten, was seitens der So‐ zialdemokratie akzeptiert werden müsse. Sie müsse deshalb das „Selbstbestim‐ mungsrecht der tschechischen Nation, sie muss das Recht der Slowenen, Kroaten und Serben auf ihre Vereinigung in einem südslawischen Gemeinwesen anerken‐ nen.“49 Jede Gemeinde solle wählen, so das Konzept des Programms, zu welcher Natio‐ nalität sie gehören will. Das so entstandene Gebiet soll dann eine verfassungsgeben‐ de Nationalversammlung wählen und so einen territorial begrenzten Staat bilden, aber: „Durch Verträge zwischen den Nationen wird festgesetzt, welche Angelegen‐ heiten den Nationen gemeinsam bleiben sollen und welche gemeinsamen Organe zur Verwaltung dieser Angelegenheiten berufen sein sollen. Die Sozialdemokratie wird innerhalb der konstituierenden Nationalversammlungen dafür eintreten, dass die wirtschaftlichen Angelegenheiten den Nationen gemeinsam bleiben.“50 Es sollte also gleichsam ein österreichischer Verbund der neuen Nationalstaaten entstehen, der ins‐ besondere als Wirtschaftsunion fungieren sollte. Kurz: Das Nationalitätenprogramm dachte die Europäische Union, soweit sie noch als Staatenverbund anzusehen ist, vor.

Literatur Anderson, Benedict, 1996: Die Erfindung der Nation, Frankfurt/New York. Balibar, Etienne, 1993: Nation Gemeinwesen, Imperium. In: Balibar, Etienne (Hrsg.), 1993: Die Grenzen der Demokratie, Hamburg, S. 124-136. Bauer, Otto, 1924: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien. Bauer, Otto, 1923: Die österreichische Revolution, Wien.

48 Mann 1918, S. 205. 49 Ein Nationalitätenprogramm der „Linken“, 1918, S. 270 f. 50 Ein Nationalitätenprogramm der „Linken“, 1918, S. 273.

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Thilo Scholle Austromarxismus und soziale Demokratie – zur Suche nach aktuellen Anschlüssen an die Staats- und Verfassungstheorie des Austromarxismus

„Die Weimarer Verfassung (…) unterlag dem Irrtum, dass die Prinzipien der Demokratie allein bereits die Prinzipien einer bestimmten sozialen oder weltanschaulichen Ordnung seien. Sie vergaß, dass die Demokratie nicht mehr ausdrücken kann als das, was vorher schon vorhanden ist. Einer vorhandenen Sozialordnung nach außen Ausdruck verleihen, sie sinnfällig repräsentieren, kann eine Demokratie. Indem man die Formen der Demo‐ kratie mit ihrem Inhalt verwechselte, unterließ man, dieser Verfassung ein politisches Programm zu geben.“1

Mit seiner Betrachtung zur Weimarer Demokratie hat Otto Kirchheimer eine der zentralen Fragestellungen der Staats- und Demokratietheorie herausgearbeitet: Wie verhalten sich Wirtschafts- und Sozialordnung zur (demokratischen) Verfassung des Staates? Welche Sachverhalte sind vom Begriff „Demokratie“ umfasst? Wenn die moderne Demokratie aus zwei ideellen Elementen besteht – dem Prinzip des Rechtsund Verfassungsstaats und dem Prinzip der Selbstbestimmung des Volkes2, was be‐ deutet dies dann konkret für die Rahmenbedingungen und Möglichkeiten von De‐ mokratie in kapitalistisch verfassten Wirtschaftsordnungen? Und könnte das „Sozia‐ le“ vielleicht das politische Programm einer Demokratie bilden? Bei den verfassungspolitischen Überlegungen der Austromarxisten handelt es sich um die Entwicklung einer Verfassungstheorie, die die Fragen von – auch sozia‐ ler - Freiheit und Gleichheit aller Mitglieder der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt. Und damit die Frage, wie verhindert werden kann, dass die demokratische Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder durch ökonomische Ungleichheiten konter‐ kariert wird. Staatlichkeit ist nichts Überzeitliches, kein ein für alle Mal in seiner Form und Funktion festgelegter Rahmen, sondern „eine Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens3“, deren Entstehen und Verändern als Teil eines sozialen Kausalprozesses4, als historische Erscheinungsform einer Gesellschaft begriffen werden kann.5

1 2 3 4 5

Kirchheimer 1930, S. 46. von Oertzen 1976, S. 15. Adler 1922, S. 29. Adler 1922, S. 29. Adler 1922, S. 33.

211

Für Max Adler war Sinn der Demokratie die „solidarische Vergesellschaftung des Menschen“. Demokratie könne nicht die Herrschaft des einen über den anderen sein. Gemeininteresse sei nur in einer solidarischen Gesellschaft denkbar,6 nicht unter Be‐ dingungen des Klassenkampfes.7 Auch Otto Bauer strich die Relevanz der Klassen‐ gesellschaft für die Beschränkung der demokratischen Mitbestimmungsmöglichkei‐ ten jedes Einzelnen heraus: Die vollendete sozialistische Demokratie solle „die Gleichberechtigung im Gemeinwesen auf die wirtschaftliche Gleichheit stützen“8, sie kenne keine Klassenscheidung und damit keinen Klassenstaat.9 Die demokrati‐ schen Ideen der Freiheit, der Gleichheit und der Selbstregierung würden erst völlig verwirklicht, wenn die Staatsbürger nicht nur als Bürger gleich und frei seien, son‐ dern auch als Mitglieder der Gesellschaft.10 Zugleich prognostiziert Bauer eine dem Demokratisierungsprozess möglicherwei‐ se folgende gesellschaftliche Dynamik: „… die politische Revolution ist nur die hal‐ be Revolution. Sie hebt die politische Unterdrückung auf, aber sie lässt die wirt‐ schaftliche Ausbeutung bestehen. (…) Die politische Revolution hebt nicht die wirt‐ schaftliche Ausbeutung auf. Sie macht sie vielmehr erst recht fühlbar. (…) Die halbe Revolution weckt den Willen zur ganzen. Die politische Umwälzung weckt den Wil‐ len zur sozialen Neugestaltung. Der Sieg der Demokratie leitet den Kampf um den Sozialismus ein.“11 Der Weg hin zur klassenlosen Gesellschaft konnte für Bauer nach den Erfahrungen der österreichischen Revolution von 1918 nur ein schrittwei‐ ser sein, letztlich müsse die Arbeiterklasse durch eine Kette von Revolutionen ge‐ hen12: „Es kommt nie ein Tag, an dem mit einem Schlag an die Stelle der kapitalisti‐ schen die sozialistische Gesellschaftsordnung tritt, sondern es kommt eine lange Übergangsperiode, in der kapitalistische und sozialistische Betriebe nebeneinander stehen werden.“13 Demokratischen Rechten und Verfahrensweisen kommen für Bauer in dieser Ent‐ wicklung ein Eigenwert nicht nur als Mittel zur politischen Machteroberung, son‐ dern auch in Bezug auf eine spätere eigene Machtausübung zu: „Wir werden die De‐ mokratie nicht erobern, um sie aufzuheben, sondern um sie nach den Bedürfnissen der Arbeiterklasse umzugestalten, um schrittweise den Produktionsapparat den Ka‐ pitalisten und den Großgrundbesitzern zu entreißen. Solange das geht, werden wir das tun müssen, ohne im Wesen die Demokratie anzutasten. Und Demokratie ist nicht allein Mehrheitsherrschaft, sondern die Freiheit des geistigen Kampfes um die

6 7 8 9 10 11 12 13

212

Adler 1981, S. 179. Adler 1922, S. 125. Bauer 1980e, S. 391. Bauer 1980e, S. 390. Bauer 1976a, S. 199. Bauer 1976c, S. 91. Bauer 1976d, S. 865. Bauer 1976e, S. 420.

Mehrheit des Volkes. Wir werden es tun müssen unter voller Aufrechterhaltung aller jener bürgerlichen Freiheiten, der Freiheit des Wortes und der Schrift, der Versamm‐ lung, der Presse, die die Basis der Demokratie sind. Denn, Genossen, nur solange wir auf diese Weise handeln, besteht die Gewähr, daß die Regierung, die das Prole‐ tariat einsetzt, auch wirklich der von der Arbeiterklasse geführten Volksmehrheit verantwortlich bleibt und entsprechend handeln muss.“14 Max Adler verdichtete diese Problematik in der Unterscheidung zwischen dem bürgerlich-parlamentarischen System als „politische Demokratie“ und der Verfas‐ sungsordnung nach Aufhebung der Klassenwidersprüche als „soziale Demokratie“. Die Hauptunterscheidung zwischen politischer und sozialer Demokratie setzt an dem Punkt der Ungleichheiten in den wirtschaftlichen Lebensbedingungen der Men‐ schen an. Der Begriff der Demokratie umfasse einen politischen und einen ideellen Tatbestand: Politisch im Sinne politischer Gleichberechtigung, und ideell im Sinne sozialer Gleichheit aller Bürger.15 So sei die politische Demokratie eine gewaltige Waffe für das Proletariat, die demokratische Republik teuer erkämpfter Rechtsbo‐ den.16 Nach der politischen Demokratie gelte es, die soziale Demokratie zu erkämp‐ fen, die allerdings erst nach dem Ende des Klassenstaats möglich sein werde.17 Otto Bauer maß dem Kampf um den demokratischen Verfassungsstaat eine we‐ sentlich größere Rolle als Adler zu. Für die junge österreichische Republik unmittel‐ bar nach dem Auseinanderbrechen des Habsburger Reiches stellt er ein „Gleichge‐ wicht der Klassenkräfte“ fest, das auch der Arbeiterbewegung Handlungs- und Akti‐ onsmöglichkeiten innerhalb und mit den Methoden des Verfassungsstaates eröffnet habe.18 Die Ergänzung der Diskussion über „politische Demokratie“ um die Dimension und Perspektive der „sozialen Demokratie“ stellt einen wichtigen Eckpunkt der ver‐ fassungstheoretischen Diskussionen im Austromarxismus dar. Sie bietet einen Hin‐ weis darauf, wie das von Otto Kirchheimer für die Weimarer Demokratie vermisste politische Programm der Republik aussehen könnte. Angelpunkt des Nachdenkens über die Möglichkeiten demokratischer und sozialer Veränderungen unter den Be‐ dingungen einer privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung ist Otto Bauers Theorem eines „Gleichgewichts der Klassenkräfte“. Dieses stand in den zeitgenössischen aus‐ tromarxistischen Debatten häufig im Mittelpunkt und rief auch Widerspruch hervor. Der Blick auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und den Spielraum für die Gestaltung der Verfassung sowie auf die ihnen jeweils tatsächlich offenstehenden politischen Gestaltungsmöglichkeiten stellt eine entscheidende Weiterentwicklung marxistisch orientierter Staatstheorie dar. In Bauers Blick ist der Staat ein umkämpf‐ 14 15 16 17 18

Bauer 1976e, S. 417. Adler 1981, S. 126. Adler 1981, S. 164. Adler 1981, S. 178. Bauer 1976d, S. 743.

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ter Bereich, in dessen Handeln sich unterschiedliche gesellschaftliche Kräfteverhält‐ nisse abbilden können und der damit nicht zwangsläufig nur simples Instrument der jeweils herrschenden Klasse sein muss. Daher bietet diese Sichtweise einen wichti‐ gen Ausgangspunkt für die Verbindung der staatstheoretischen Debatten im Aus‐ tromarxismus mit aktuelleren marxistisch orientierten Ansätzen, etwa im Anschluss an Wolfgang Abendroth oder an Nicos Poulantzas. Eine wichtige Voraussetzung für die weitere Diskussion austromarxistischer Ver‐ fassungstheorie ist allerdings, die Frage der Wirtschaftsverfassung genauso als von den Mitgliedern einer Gesellschaft zu entscheidende Frage zu verstehen wie andere Fragen der Verfassungsordnung auch. Dieser Zugang ist nicht selbstverständlich: Während es in den letzten Jahrzehnten gelungen ist, neoliberale Konzeptionen von Ökonomie als quasi naturgesetzliche Vorgaben – beispielsweise in Form der „Schul‐ denbremse“ im Grundgesetz (Art. 109 Abs. 3 GG) - zu verankern, haften alternati‐ ven Vorstellungen der Verfassung der Ökonomie nach wie vor das Makel der Unwis‐ senschaftlichkeit und politischen Ideologie an. In aktuellen Diskussionen lassen sich nur vereinzelt Bezüge auf die Staatstheorie‐ debatten des Austromarxismus finden. Dies gilt auch deshalb, weil die politische Linke in Europa die Befassung mit dem Verfassungsstaat und seinen Möglichkeiten weitgehend eingestellt hat. Dagegen ist eine Rezeption und Auseinandersetzung mit den staats- und verfassungstheoretischen Debatten der Austromarxisten auch heute noch lohnend. Von unterschiedlichen Ausgangspunkten kommend, stand bei ihnen die Verbindung von Verfassungsstaatlichkeit, Demokratie und ökonomischer Ver‐ fasstheit der Gesellschaft im Mittelpunkt – und unter der Überschrift der „sozialen Demokratie“ (Max Adler) ihre konzeptionelle Verdichtung auf dem Programm.

(Verfassungs-) Staat und Klassenverhältnisse Da Otto Bauer von der Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung aus‐ ging, war eine dauerhafte Stabilität der Kräfteverhältnisse zwischen den gesell‐ schaftlichen Klassen für ihn nicht vorstellbar. Ein Gleichgewicht der Klassenkräfte sei nur in Übergangsperioden denkbar.19 Beispielhaft vor Augen hatte Bauer die Frühphase des Kapitalismus: „Dürfen wir uns die Entwicklung des Staates in der Epoche des Aufstieges des Proletariats nach der Analogie seiner Entwicklung in der Epoche des Aufstieges der Bourgeoisie vorstellen? Dürfen wir also annehmen, dass zwischen dem kapitalistischen Klassenstaat und dem Staat, der nur noch eine Herr‐ schaftsorganisation des Proletariats sein wird, eine Übergangsperiode des Gleich‐ gewichtes der Klassenkräfte liegen wird, in der beide Klassen, Bourgeoisie und Pro‐

19 Bauer 1980a, S. 59.

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letariat, entweder unter die Herrschaft einer gegen beide verselbstständigten Staats‐ gewalt fallen oder die Herrschaft untereinander teilen müssen?“20 In eine ähnliche Richtung argumentierte Otto Kirchheimer: Die Existenzvoraus‐ setzung der formalen Demokratie sei ein annäherndes Gleichgewicht der sich be‐ kämpfenden Klassen und die stillschweigende Abmachung, solange die Gleichge‐ wichtslage bestehe, durch Wahlen entscheiden zu lassen, wer die Regierung über‐ nimmt.21 Das Rechtsstaatssystem habe die Funktion, in den Beziehungen zwischen Bourgeoisie und Proletariat einen Gleichgewichtszustand zu schaffen, und zwar für eine Übergangszeit, in der die eine Klasse nicht mehr stark genug, die andere noch nicht stark genug sei, an der Ausschließlichkeit ihres politischen Systems festzuhal‐ ten.22 Otto Leichter hielt in einer etwas engeren Definition fest: „Man kann das Gleichgewicht der Klassenkräfte wohl am besten so definieren, dass in einer be‐ stimmten Situation keine der Klassen es wagt, für kurze Zeit gegen die andere etwas Entscheidendes zu unternehmen.“23 In der Konsequenz handele es sich nur um „eine momentane, zufällige Situation, aus der man aber keine Theorie des Klassen‐ kampfes und noch weniger eine Theorie des Staates in einem bestimmten Zeitpunkt machen kann.“24 Auch Max Adler wollte eher von einer „gleiche(n) Spannung der Klassenkräfte“ ausgehen, nicht von einem Ausgleich zwischen den Klassen.25 Wo immer die Arbeiterklasse vor der vollständigen Machteroberung durch ihre ziffern‐ mäßige Stärke infolge der Demokratie zur teilweisen Macht komme, stehe sie dem äußerlich noch ungebrochenen kapitalistischen Wirtschaftssystem gegenüber. Sie ha‐ be keine gestaltende Macht über den Produktionsprozess, auch dort nicht, wo man versuche, das obrigkeitliche Fabriksystem durch Betriebsräte zu modernisieren. Der Unternehmer bleibe der entscheidende Herr im Betrieb, solange sein Privateigentum an den Produktionsmitteln nicht aufgehoben werden könne.26 Mitentscheidend für die Beurteilung des „Klassengleichgewichts“ und die Frage der weiteren Entwicklung der Klassenverhältnisse ist, welche sozialen Gruppen als „Klassen“ definiert werden und anhand welcher Merkmale gesellschaftliche Interes‐ senlagen und damit Klassenzugehörigkeiten wie auch Klassenauseinandersetzungen einander gegenübergestellt werden. Die Klassentheorie von Bauer erfuhr insoweit eine Differenzierung, als er von der Notwendigkeit ausging, die sich entwickelnde Aufspaltung der „Zwischenschichten“ zu nutzen und diese nach und nach aus einer Orientierung auf das bürgerliche Lager zu lösen.27

20 21 22 23 24 25 26 27

Bauer 1980a, S. 59. Kirchheimer 1976a, S. 35. Kirchheimer 1976b, S. 63. Leichter 1983, S. 239. Leichter 1983, S. 240. Adler 1981, S. 199. Leichter 1983, 235f. Bauer 1976b, S. 959.

215

Der Ort, an dem sich die Auseinandersetzungen der Klassenkräfte abbilden kön‐ nen sollten, war für Bauer das Parlament. Das Parlament sei nicht eine selbstständig wirkende Macht, die über der Gesellschaft stehe und sie gestalte, sondern das Mittel, durch das die in der Gesellschaft wirkenden Kräfte ihren Willen zum Rechtssatz ma‐ chen könnten.28 Klassenverhältnisse und ihre Auseinandersetzungen schreiben sich somit auch in den Rechtssatz ein. In diesem Sinne lassen sich Verfassungsrecht so‐ wie das einfache Recht in der parlamentarischen Demokratie als geronnenes Ergeb‐ nis gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse verstehen. Bauer ging dabei nicht von einer simplen Transformation wirtschaftlicher Macht in politische Entscheidungsmacht aus: Die große Bourgeoisie könne in der Demo‐ kratie nur herrschen, wenn sie die Regierung Parteien überlasse, die imstande seien, die Mehrheit des ganzen Volkes hinter ihren Fahnen zu sammeln und diese Parteien ihren Bedürfnissen, Grundsätzen und Ideen dienstbar mache.29 Die große Bourgeoi‐ sie könne in der Demokratie ihre Herrschaft nur mittels der bürgerlich-bäuerlichen Massenparteien ausüben. Da Regierungen der periodischen Bestätigung durch die Mehrheit des Volkes bedürften, müsse die Bourgeoisie diesen Massenparteien erlau‐ ben, der Volksmehrheit die wirtschaftlichen, sozialen und ideellen Zugeständnisse zu machen, die jeweils notwendig seien, um Bestätigung bei Wahlen zu erlangen: „Die Herrschaft der Kapitalistenklasse in der Demokratie ist eben nicht eine unbe‐ schränkte Diktatur der Kapitalistenklasse“.30 Das Spezifische der Demokratie sei, dass die bürgerliche Demokratie nicht Mehrheitsherrschaft, sondern Minderheits‐ herrschaft der Großbourgeoisie mittels Mehrheitsregierung der bürgerlichen Mas‐ senpartei sei. Außerdem setze die Notwendigkeit der Mehrheitsregierung der Klas‐ seherrschaft der Großbourgeoisie Schranken.31 Gerade diese Aspekte in Bauers Denken waren es, die seine Überlegungen Ende der 1970er und in den frühen 1980er Jahren für Verbindungen mit den hegemonie‐ theoretischen Überlegungen Antonio Gramscis anschlussfähig machten.32 Im Grun‐ de hatte Bauer bereits einen Blick dafür entwickelt, dass die soziale Lage eines Men‐ schen allein ihn noch nicht auf bestimmte politische Haltungen festlegt. Unter ande‐ rem deshalb gehörte sowohl die Agitation der Landbevölkerung wie auch ein zu‐ rückhaltender Umgang mit religiös oder kirchlich orientierten Menschen zu den wichtigen Fragen in Otto Bauers parteiinternen Auseinandersetzungen: „Aber die Klassen führen den Klassenkampf unter den Kampfbedingungen einer demokrati‐ schen Republik. Was bedeutet das nun? Die Demokratie lässt den Klassenkampf durch den Stimmzettel entscheiden, durch das Votum der Mehrheit der Wähler, und 28 29 30 31 32

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Bauer 1980b, S. 122. Bauer 1980c, S. 203. Bauer 1980c, S. 208. Bauer 1980c, S. 208. Siehe Albers/Hindels/Radice u.a. (Hrsg.) 1979. Albers/Heimann/Saage (Hrsg.) 1985. Schöler, 1984. Storm/Walter 1984.

das heißt durch die Mehrheit des Volkes. Und darum wird unvermeidlich jeder Kampf um die politische Macht, solange er sich unter den Formen und den Bürg‐ schaften der Demokratie vollzieht, zu einem Kampf um die Seele der Mehrheit des Volkes. Da stehen nun das Proletariat und die Bourgeoisie, und sie ringen um die Mehrheit. Um wen ringen sie da eigentlich? Sie ringen um die Mittelschichten, die weder zu der Bourgeoisie noch zum Proletariat gehören. Der Kampf in der Demo‐ kratie ist notwendig ein Kampf um diese Zwischenschichten.“33 Zudem reife der Klassenkampf auf dem Boden der Demokratie zur Entscheidung heran: „Aber erst im Kampf um die bürgerliche Demokratie sind die proletarischen Parteien zu Massenparteien geworden. Erst auf dem Boden der bürgerlichen Demo‐ kratie haben sie der Bourgeoisie bedeutende Zugeständnisse abgerungen, die die Arbeiterklasse physisch und kulturell gehoben haben. Vor allem reift erst auf dem Boden der bürgerlichen Demokratie der Klassenkampf zur Entscheidungsreife her‐ an. Denn aller bürgerlichen Demokratie wohnt ein innerer Widerspruch inne. Als bürgerliche Demokratie ruht sie auf der Grundlage der kapitalistischen Eigentumsund Produktionsordnung, die die überwiegende Mehrheit des Volkes der Ausbeutung durch die kapitalistische Minderheit preisgibt. Als Demokratie aber legt sie die poli‐ tische Entscheidung in die Hände der von der kapitalistischen Minderheit ausgebeu‐ teten Mehrheit des Volkes. Es ist dieser Widerspruch, an dem die bürgerliche Demo‐ kratie schließlich scheitert.“34 In diesem Zusammenhang erkannte Bauer die Bedeutung der demokratischen Grundrechte als Schutzraum für die Konstituierung des Proletariats als Klasse bzw. für die Entfaltung der Arbeiterbewegung.35 Wolfgang Abendroth sprach davon, Ent‐ scheidungen des Staates könnten nur kontrolliert werden, wenn es einen Bereich ge‐ be, in dem sich Willensbildung entwickeln und zur Geltung bringen könne.36 Das Grundrechtsproblem bleibe bei jeder neuen Welle demokratischer Rebellion auf der Tagesordnung, auch bei der sozialen Revolution.37 Der Vormarsch grundrechtlichen Denkens habe jenes Gleichgewicht geschaffen, in dessen Schutz sich in industriali‐ sierten Staaten die Arbeiterbewegung entwickeln konnte.38 „Echte Demokratie ist die freie Entscheidung der Volksmehrheit zwischen allen in Freiheit um die Entscheidung des Volkes werbenden Interessen, Meinungen, Forde‐ rungen, Ideen; echte Demokratie setzt also zweierlei voraus: erstens die Freiheits‐ rechte, wie Vereins-, Versammlungs-, Pressefreiheit, die es allen Interessen, Meinun‐ gen, Forderungen ermöglichen, frei um die Entscheidung des Volkes zu werben; zweitens die politische Gleichberechtigung der Staatsbürger, das allgemeine und 33 34 35 36 37 38

Bauer 1976e, S. 405. Bauer 1980e, S. 381. Bauer 1980d, S. 271. Abendroth 1979, S. 249. Abendroth 1979, S. 250. . Abendroth 1979, S. 252.

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gleiche Wahlrecht, das die Entscheidung zwischen den um das Volk werbenden In‐ teressen, Meinungen, Forderungen, Ideen der Mehrheit des Volkes überantwortet.“39

Klassenkompromiss und „Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ Wolfgang Abendroth sah in seinen am Beispiel der frühen Bundesrepublik ent‐ wickelten verfassungstheoretischen Arbeiten vor allem zwei Voraussetzungen für eine progressive Nutzung des (Verfassungs-)Rechts: Das Vorhandensein einer juridi‐ schen Norm, die solche Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, sowie das Bestehen einer entsprechenden sozialen oder gesellschaftlichen Kraft, die die Auslegung und Anwendung der Norm in die entsprechende Richtung antreibt und absichert.40 Für die Verfassungsordnung der Bundesrepublik sah Abendroth dieses Potential vor al‐ lem im Postulat des „sozialen Rechtsstaats“ aus Art. 20 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 28 Abs. 1 GG41, das eine Weiterentwicklung der Verfassungsordnung bis hin zu einer sozialistischen Gesellschaftsverfassung möglich mache sollte.42 Abendroth selbst hat vor allem Hermann Heller als Gewährsperson für seine Theorie des sozialen Rechtsstaats benannt. Heller hatte sich in der Weimarer Republik mit ähnlichen Fra‐ gen wie denen der Austromarxisten beschäftigt. Tatsächlich scheint aber insbesonde‐ re Otto Bauers Ansatz den Abendrothschen Überlegungen weitaus näher zu stehen – setzt doch auch Abendroth letztlich an Vorstellungen von einem ständig neu auszu‐ handelnden Verfassungskompromiss zwischen Arbeiterbewegung und Bürgertum an, den es politisch weiter in Richtung auf eine „soziale Demokratie“ hin zu ver‐ schieben gilt. Im „sozialen Rechtsstaat“ Abendroths finden sich daher viele Vorstell‐ ungen der Austromarxisten von der Umgestaltung der Wirtschafts- und Sozialord‐ nung als zweiter „sozialer“ Säule der Demokratie wieder. Staatstheoretisch bietet sich darüber hinaus eine Verbindung mit den Vorstell‐ ungen von Nicos Poulantzas aus den 1970er Jahren an, der den Staat nicht als mono‐ lithischen Block, sondern als „ein strategisches Feld“43 ansah: „Es ist also theore‐ tisch zu erklären, wie der Klassenkampf, spezieller der politische Kampf und die po‐ litische Herrschaft, im institutionellen Gerüst des Staates eingeschrieben sind (…), und zwar so, dass die unterschiedlichen Formen und historischen Transformationen dieses Staates erklärt werden können. Auch hier, im politischen Kampf und in der politischen Herrschaft, hat der Staat eine organische Rolle: Der kapitalistische Staat konstituiert die Bourgeoisie als politisch herrschende Klasse. Sicherlich behält der Klassenkampf das Primat gegenüber den Apparaten, d. h. hier dem Staatsappa‐ 39 40 41 42 43

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Bauer 1976 f., S. 573. Abendroth 1985, S. 43ff. vgl. auch Scholle 2011, S. 65ff. Abendroth 2008, Band 2, S. 338ff. Abendroth 1975, S. 401. Poulantzas 2002, S. 170.

rat. Aber es handelt sich nicht um eine Bourgeoisie, die als politisch herrschende Klasse außerhalb des Staates oder früher als er existierte, so dass sie ihn nach eige‐ nem Belieben gestalten könnte und der Staat nur noch als bloße Anhängsel dieser Herrschaft fungierte. Diese Rolle des Staates ist in seine institutionelle Materialität eingeschrieben: es geht um den Klassencharakter des Staates. Um ihn ernsthaft zu untersuchen, muss die Rolle des Staates gleichzeitig in Bezug auf die herrschenden und auf die beherrschten Klassen beleuchtet werden.“44 Der Staat repräsentiere und organisiere die herrschende oder herrschenden Klassen, er organisiere also das lang‐ fristige politische Interesse des Blocks an der Macht, der sich aus den verschiedenen Fraktionen der bürgerlichen Klassen zusammensetze.45 Entscheidend erscheint Poulantzas‘ Feststellung, der kapitalistische Staat dürfe nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden, sondern als „die mate‐ rielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktio‐ nen, das sich im Staat immer in spezifischer Weise ausdrückt“.46 Dieses Kräftever‐ hältnis bleibt nicht frei von Widersprüchen, Spaltungen oder Auseinandersetzungen - sowohl zwischen den staatlichen Zweigen und Apparaten wie auch innerhalb die‐ ser Zweige und Apparate.47 Es kann sich in den einzelnen Apparaten jeweils unter‐ schiedlich und widersprüchlich widerfinden. Zudem konzentriere sich im Staat nicht nur das Kräfteverhältnis zwischen den Fraktionen des Blocks an der Macht, sondern auch das Kräfteverhältnis zwischen diesem Block und den beherrschten Klassen „die Volkskämpfe sind in den Staat eingeschrieben“.48 Letztlich lässt sich dieser Analyserahmen gut am Beispiel der Situation der österreichischen Sozialdemokratie in den ersten Jahren nach dem Ende der Habsburger Monarchie folgenden Umwäl‐ zungen exemplifizieren: In den staatlichen Apparaten auf Bundesebene nach einigen Jahren des Einflusses ab Anfang der 1920er Jahre wieder weitgehend marginalisiert, nahm die Partei beispielsweise in Wien eine dominierende Stellung ein – ohne alle Apparate staatlichen Handelns kontrollieren zu können - und war darauf angewie‐ sen, Kompromisse und Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu schlie‐ ßen. Was letztlich fehlte, war die politische Organisationsmacht, die politischen Kräfteverhältnisse weiter verschieben zu können. Allerdings lassen sich Poulantzas‘ Überlegungen nicht unmittelbar an die Vor‐ stellungen Bauers von einem „Gleichgewicht der Klassenkräfte“ anschließen: Für Poulantzas können die beherrschten Klassen im Staat nicht mit Apparaten, die ihnen eigene Macht geben, existieren, sondern im wesentlichen in Form von Oppositions‐ zentren gegen die herrschenden Klassen. Er sei daher falsch, aus der Präsenz der Volksklassen im Staat darauf zu schließen, dass sie ohne eine radikale Transformati‐ 44 45 46 47 48

Poulantzas 2002, S. 157. Poulantzas 2002, S. 157f. Poulantzas 2002, S. 159. Poulantzas 2002, S. 165. Poulantzas 2002, S. 172.

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on des Staates dort auf lange Sicht Macht besitzen oder behalten könnten49: „Die Aktion der Volksmassen im Innern des Staates ist die notwendige, aber nicht hinrei‐ chende Bedingung seiner Transformation.“50 Als Voraussetzung zur radikalen Transformation des Staates nennt Poulantzas eine Ausweitung und Vertiefung der Freiheiten und Institutionen der repräsentativen Demokratie in Verbindung mit For‐ men der direkten Demokratie und der Selbstverwaltung.51 An dieser Stelle lässt sich aber durchaus an zwei Kernfragen sowohl der Austromarxisten wie auch von Wolf‐ gang Abendroth Anschluss herstellen: Zum einen ist es der Kampf um die Verfas‐ sungsordnung und die Erweiterung der „politischen Demokratie“ als zentrale Aufga‐ be und zum zweiten ist es die Fundierung dieses Prozesses durch das Agieren derje‐ nigen gesellschaftlichen Kräfte, die den Prozess der „sozialen“ Demokratisierung der Verfassungsordnung weiter vorantreiben wollen. Das Verständnis von Verfassung und Verfassungsentwicklung als Ergebnis von Klassenauseinandersetzungen mit der Möglichkeit der Arbeiterbewegung, eigenen Einfluss auszuüben, lässt sich auch am Beispiel der Entwicklungen des Sozialstaats in den Industrieländern im 20. Jahrhundert festmachen: „Mit dem keynesianischen Wohlfahrtsstaat kam es zum Eintritt der breiten Massen in die ökonomisch-sozialen und die politischen Strukturen der bürgerlichen Gesellschaftsformation – was einer‐ seits durch die Verknüpfung von allgemeinen demokratischen Regeln und Massenor‐ ganisationen der Arbeiterbewegung und auf der anderen Seite durch die Produkti‐ ons- und Konsumtionsweise des Fordismus gewährleistet wurde. Er stellte zugleich einen Klassenkompromiß dar, der vielfach mit einer bedeutsamen Veränderung der sozio-politischen (Korporatismus) und der politisch-ideologischen Strukturen (Ver‐ allgemeinerung von Werten der Arbeiterbewegung) einherging.“52 Beim kapitalisti‐ schen Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit handelte es sich um einen „asymmetri‐ schen Klassenkompromiss“ mit einer Teilintegration der Arbeiterbewegung in die kapitalistische Gesellschaft53 - einschließlich der Konsequenz eines möglichen Ver‐ zichts auf über das Erreichte hinausgehende Vorstellungen. Dies hat Konsequenzen für die Vorstellung davon, wie genau Klassenkampf und Klassenherrschaft dann aus‐ sehen: „Klassenherrschaft im modernen Staat bedeutet nicht Unterwerfung und im Normallfall auch nicht aktive Unterdrückung der beherrschten Klassen“54 – sondern mitunter auch eine Teilung der Staatsmacht zwischen Bourgeoisie und Proletariat.55 Der Prozess der sozialen Revolution wird verlangsamt, viel mehr läuft per Gesetz

49 50 51 52 53 54 55

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Poulantzas 2002, S. 174. Poulantzas 2002, S. 175. Poulantzas 2002, S. 283. Kremer 1994, S. 60. von Oertzen 2004, S. 155. Gransow/Krätke 1979, S. 104. Gransow/Krätke 1979, S. 110.

und per Verhandlung im Rahmen einer sukzessiven Umgestaltung des Bestehen‐ den.56 Eine weitere analytische Herausforderung ist die innere Ausdifferenzierung der Sozialstruktur moderner kapitalistischer Gesellschaften. Bereits in den austromarxis‐ tischen Debatten deutete sich dies in der Diskussion um die Agitation und Gewin‐ nung der „Zwischenschichten“ oder auch der kirchlich gebundenen Arbeiter für die Politik der Arbeiterbewegung an. Gerade für die Zeit vor dem Auseinanderbrechen der österreichisch-ungarischen Monarchie stellte sich zudem die Frage nach dem Verhältnis von ethnischen und sozialen Identitäten. Die Ausdifferenzierung von Le‐ bensstilen und Identitäten hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Die soziale Lage überträgt sich nicht unmittelbar in das eigene politische Selbstverständnis – oder wird sogar überlagert von anderen Elementen von Identität – beispielsweise mit religiösem oder ethnischem Bezug. Die „feinen Unterschiede“57 bestehen nicht nur als Distinktionsmerkmale im vertikalen Bereich sozialer Hierarchien, sondern ver‐ mischen sich auch mit „horizontalen Abgrenzungen“ auf Grund von persönlichen Lebensstilen oder religiösen Bindungen. In der politischen Konsequenz führt dies oft zur Vereinzelung der Interessenlagen – es kommt nicht zu einem Konsens über gemeinsame Prioritäten einer sozialen Klasse, sondern zu einem unverbundenen Ne‐ beneinander von unterschiedlichen, teils auch eher identitätspolitisch formulierten Forderungen. Otto Bauer hatte u.a. mit seinen Überlegungen zur „Nationalitätenfrage und Sozi‐ aldemokratie“ eine Lösung gesucht, die kulturelle Eigenständigkeiten absichern soll‐ te. Max Adler ging zudem davon aus, dass nach dem Ende der Klassengesellschaft religiöse und metaphysische Fragen sogar noch zunehmen könnten, nun aber nicht mehr mit materiellen Verteilungskämpfen verbunden und daher reine Meinungs‐ kämpfe sein würden. Festhalten lässt sich, dass sich die Kräfteverhältnisse in den verfassungspoliti‐ schen Aushandlungsprozessen verschoben haben. Neben der organisatorischen Schwächung der hergebrachten Arbeiterbewegung seit den 1970er Jahren und dann verstärkt seit Ende der Ost-West-Konfrontation gehört dazu auch die gesellschaftli‐ che Pluralisierung und Ausdifferenzierung von Milieus, die den Schwerpunkt ihrer eigenen politischen Forderungen nicht mehr auf Fragen der Wirtschafts- und Sozial‐ verfassung richten. In Erweiterung des Theorems von Otto Bauer lässt sich davon sprechen, dass die Verfassungsordnung als gesellschaftlicher Kompromiss nicht mehr nur zwischen (organisierter) Arbeiterbewegung und Bourgeoisie geschlossen wird, sondern auch Ergebnis von Kompromissbildungen und Auseinandersetzungen innerhalb der sozialen Milieus von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist. Für Vorstellungen, die Wirtschafts- und Sozialordnung in Richtung einer „sozialen De‐ 56 Gransow/Krätke 1979, S. 117. 57 Bourdieu 1982.

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mokratie“ zu verschieben, hat dies weitreichende Konsequenzen, da so die der Kapi‐ talseite entgegentretenden „sozialen“ Kräfte diffuser und damit auch weniger wir‐ kungsmächtig werden.

Internationalisierung von Staatlichkeit Hinzu kommt, dass Verrechtlichung und „Verfassungsrechtlichung“ zunehmend auf europäischer und internationaler Ebene stattfindet. „Wer dennoch an der Perspektive der sozialen Demokratie als eines den Sozialstaat übersteigenden Programms der demokratischen Gestaltung aller gesellschaftlichen Bereiche festhalten will, sieht sich daher der Frage ausgesetzt, auf welcher Ebene die Bedingungen zu ihrem An‐ streben überhaupt noch vorhanden sind oder erwartet werden können.“58 Die Verfassungsordnung stellt nicht mehr nur einen Kompromiss mehrerer Klas‐ sen und Klassenfraktionen im nationalstaatlichen Kontext dar, sondern eine Vielzahl sich überlagernder Konflikte und Kompromisse. An die Stelle einer einheitlichen in‐ nerstaatlichen Rechtsordnung, die im Außenverhältnis zusätzlich völkerrechtlichen Bindungen unterliegt, ist mittlerweile ein „unübersichtliches Nebeneinander zahlrei‐ cher Ordnungsmuster verschiedenen Zuschnitts“59 getreten.60 Neben staatlichen Ak‐ teuren agieren internationale Organisationen, die u.a. durch eigene Rechte zur Aus‐ legung der Verträge zunehmend eine von den Nationalstaaten losgelöste Rechtsent‐ wicklung betreiben, sowie private Akteure, die in die Rechtsentwicklung, beispiels‐ weise im Rahmen von Schiedsgerichten, eingebunden sind. Die demokratische Legi‐ timation dieser Rechtsentwicklung ist allenfalls mittelbar gegeben, der jeweilige Kompromiss verschiedener Klassen bzw. das einer bestimmten Verfassungsordnung zugrunde liegende „Gleichgewicht der Klassenkräfte“ ist nur schwer zu erfassen. Die „soziale Responsivität des Rechts“ 61 steht damit in Frage, obwohl auch „das transnationale Recht in gesellschaftliche Gewalten verstrickt (ist).“62 Handelt es sich bei den Prozessen der „Entstaatlichung“63 sowohl in Bezug auf die Abgrenzung von öffentlichem zu privatem Handeln wie auch im Verhältnis von Innen zu Außen um eine „Verfassungsrelativierung“64 oder gibt es neue Anpas‐ sungsnotwendigkeiten für Konzepte von Staatlichkeit und Verfassung? Dieter Grimm hält fest, dass „das Bedürfnis nach Verrechtlichung entsteht, wo politische Herrschaft ausgeübt wird. (…) Zugespitzt lautet die Frage also, ob die Verfassung 58 59 60 61 62 63 64

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Eberl, 2009, S. 245. Fischer-Lescano/Viellechner 2006. Dobner 2015, S. 153 ff. Fischer-Lescano 2013, S. 184. Fischer-Lescano 2014, S. 171. Grimm 2012, S. 78ff. Grimm 2012, S. 85.

als eine ursprünglich auf den Staat bezogene Verrechtlichungsform von diesem ab‐ gelöst und auf nicht-staatliche politische Einheiten, die öffentliche Gewalt ausüben, übertragen werden kann.“65 In der Folge plädiert er für eine stärkere „Internationali‐ sierung der öffentlichen Gewalt“ im Rahmen der Europäischen Union.66 Bestandtei‐ le wären die Stärkung der europäischen Eigenlegitimation über das Europäische Par‐ lament durch eine Europäisierung der Parteien, durch die Definition klarer Grenzen der Vergemeinschaftung, sowie eine Re-Politisierung der politischen Entscheidun‐ gen durch Rückführung der konstitutionalisierenden Verträge auf ein „verfassungs‐ funktional notwendiges Maß“.67 Andreas Fischer-Lescano hält angesichts der „Polyzentrik politischer Herrschaft und politischer Rechtsetzung“ 68 die Bindung des Rechts an Einheit und politische Gemeinwesen für dysfunktional. Sie mache zudem blind für die Phänomene gesell‐ schaftlicher Rechtsetzung:69 „Eine Einheit gibt es im System polyzentrischer Global Governance nicht, und im Weltrecht geht es vor allem darum, das rechtspolitische Pluriversum durch gegenseitige Berücksichtigungspflichten der Ordnungsmuster zu ordnen.“70 Hier könnte wiederum ein Anschluss an Ansätze von Poulantzas ergiebig sein. Der kapitalistische Staat ist nicht auf den nationalstaatlichen Raum angewiesen. Im Gegenteil, „mit der zunehmenden Ausdehnung und Vergesellschaftung des Kapital‐ verhältnisses, mit neuen Kommunikations- und Informationstechnologien und Wert‐ schöpfungsketten entsteht am Ende des 20. Jahrhunderts ein neuer Modus der glo‐ balen gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der auch die Raummatrix selbst verändert. Der entscheidende Gesichtspunkt ist, dass ein relevanter Teil der bürgerlichen Klas‐ se aus dem nationalen wohlfahrtstaatlichen Klassenkompromiss aussteigen kann, weil er einen konkreten, globalen Markt schafft.“71 Der transnationale Staatsapparat selbst lässt sich als ein Netzwerk von politischen Einheiten und Organisationen ver‐ stehen, die auch weiterhin nationalstaatlich organisiert sein können.72 Die Europäische Union lässt sich so als ein „Apparateensemble“ beschreiben, dass weder als Staatenbund noch als neuer Staat gefasst werden könne:73 „Auf der europäischen Ebene ist vielmehr ein Institutionengefüge entstanden, auf das sich un‐ terschiedliche gesellschaftliche Kräfte beziehen und dem im Rahmen einer hegemo‐ nialen Konstellation eine prekäre Konsistenz verliehen wird“.74 Die einzelnen 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74

Grimm 2012, S. 88. Grimm 2015, S. 325, S. 334. Grimm 2015, S. 335. Fischer-Lescano 2013, S. 184. Fischer-Lescano 2013, S. 184. Fischer-Lescano 2013, S. 184. Demirovic 2010, S. 70. Demirovic 2010, S. 72. Wissel 2015, S. 11. Wissel, 2015, S. 12. Vgl. auch Buckel/Georgi/Kannankulam/Wissel 2012, S. 14.

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Staatsapparate seien in je spezifischer Weise mit gesellschaftlichen Kräfteverhältnis‐ sen verbunden, so dass der Staat als komplexes Ensemble aus konkurrierenden Macht- und Entscheidungszentren innerhalb von staatlichen Apparaten und zwi‐ schen diesen besteht. „In den Apparaten verdichten sich aber nicht nur nationale Kräfte, sondern auch inter- und transnationale Kräftekonstellationen“.75 Nur wenn es gelänge, die disparaten Staatsapparate zu bündeln, könne die Formierung eines einheitlichen Staates gelingen. Hierzu bedürfe es eines hegemonialen Projekts und eines hieraus entstehenden Staatsprojektes, in dessen Rahmen die Positionen und die Kompetenzen der einzelnen Apparate in gesellschaftlichen und apparativen Ausein‐ andersetzungen ausgehandelt und stabilisiert würden.76 „Das Ensemble von europäischen und nationalen Apparaten und Institutionen (…) ist dabei Teil des Terrains, auf dem um Hegemonie gerungen wird und durch das die Auseinandersetzungen strukturiert werden. Gleichzeitig verdichten sich in den Apparaten und Institutionen die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. In diesem Sinne sind die verschiedenen Apparate auch spezifische Stützpunkte für gesellschaft‐ liche Hegemonie-Projekte. In ihnen bündeln sich also in heterogener Weise nationa‐ le und europäische Projekte, die auf unterschiedliche Weise eine Reterritorialisie‐ rung in der EU oder im nationalen Raum anstreben, auf politische Deregulierung setzen, oder auf eine wohlfahrtsstaatliche Sozialpolitik setzen.“77 Ungelöst ist bereits die Frage, welches Institutionenensemble eigentlich die „poli‐ tische Demokratie“ der internationalen Ordnung liefert. Ansätze sind offensichtlich – von der Europäischen Union bis hin zu den Vereinten Nationen. Zugleich bleibt es aber dabei, dass die internationalen Institutionen in erster Linie Machtverhältnisse zwischen Nationalstaaten abbilden. Soziale Kräfte können sich dagegen bislang auf diesen Ebenen deutlich schlechter artikulieren. Trotzdem ist dies nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Im Bereich der EU haben vor allem Unternehmens- und Industrie‐ verbände gezeigt, dass es gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen durchaus gelingen kann, sich auch auf europäischer Ebene in die Entwicklung von Staatlichkeit einzu‐ schreiben.

Die Demokratiediskussion politisieren – für eine neue Debatte um soziale Demokratie Zwar würden fast alle dem Marxschen Diktum von der Demokratie als dem aufge‐ lösten Rätsel aller Verfassungen78 zustimmen. Aber was bedeutet dies nun konkret? 75 76 77 78

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Wissel 2015, S. 27. Wissel 2015, S. 28. Wissel 2015, S. 61. Marx 1974, S. 231.

Entscheidend ist die Verbindung mit der Erkenntnis, dass „Demokratie“ mehr sein muss als ein simples Ensemble von verfassungsrechtlichen Institutionen und Verfah‐ rensweisen. Der Erkenntnisfortschritt der austromarxistischen Debatten war u.a., de‐ mokratische Verfahrensweisen und Rechte gerade nicht mehr gegen soziale Rechte auszuspielen, sondern „soziale Demokratie“ als die notwendige Weiterentwicklung der „politischen Demokratie“ zu verstehen. Es ist ein bleibendes Verdienst der austromarxistischen Debatten, sich in den Aus‐ einandersetzungen zwischen „Reform“ und „Revolution“ gerade nicht auf einer der beiden Seiten positioniert zu haben, sondern den Eigenwert eines demokratischen Verfassungsstaats, der „politischen Demokratie“, anerkannt zu haben und sich zu‐ gleich sehr bewusst darüber gewesen zu sein, dass diese allein ohne eine „soziale Demokratie“ keine Gewähr für einen Bestand der demokratischen Freiheiten gegen ökonomische Kräfteverhältnisse bietet. Daher kommt der Entwicklung und Verteidi‐ gung der „poltischen“ Demokratie ein Eigenwert zu, der manchmal auch nur in har‐ ten Auseinandersetzungen mit anderen gesellschaftlichen Gruppen erfolgen kann. Geht man mit Otto Kirchheimer davon aus, dass die „soziale Demokratie“ letzt‐ lich das politische Programm der Demokratie schlechthin darstellen kann, so steht eine Verfassungstheorie der „sozialen Demokratie“ aktuell vor allem vor zwei He‐ rausforderungen: Das politische Institutionenensemble und der Korpus an Rechts‐ normen verteilt sich heutzutage von der unter-nationalstaatlichen über die national‐ staatliche bis hin auf die europäische oder noch weiter hinausgehende internationale Ebene. Hinzu treten private Akteure, die in verschiedenen Kontexten auf internatio‐ naler Ebene auch Teil der rechtssetzenden Gewalt werden. Es gilt daher zum einen, den Normbestand zu erfassen und zu ordnen, zum anderen aber auch festzustellen, welche Weiterentwicklungen denn zur Schaffung einer „politischen Demokratie“ auf den Ebenen nötig ist, auf denen Rechtsnormen mit Bindungswirkung entstehen. In enger Verbindung muss dies gedacht werden mit den gesellschaftlichen Akteuren, die die konkrete Interpretation einer Norm vorantreiben und mögliche fortschrittli‐ che Weiterentwicklungen erstreiten können. Aktuell bleibt der (auch) verfassungspolitische Anspruch Otto Bauers: „Der de‐ mokratische Sozialismus vereint das große Erbe der Vergangenheit mit der großen Aufgabe der Zukunft: eine sozialistische Welt, die entstehen soll aus freier Entschlie‐ ßung der im geistigen Ringen dem Sozialismus gewonnen Völker, aufgebaut in freier Selbsttätigkeit sich demokratisch selbstregierender Massen.“79

79 Bauer 1980d, S. 273.

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Kolja Möller Der rote Polybios: Form und Konflikt in Otto Bauers Theorie der demokratischen Republik1

Wir stellen uns eine demokratische Republik vor (Otto Bauer, Demokratie und Sozialis‐ mus (1934), S. 105).

1. Polybios und Machiavelli In der Geschichte des politischen Denkens nimmt der griechische Geschichtsschrei‐ ber Polybios eine prominente Rolle ein. In seinen „Historien“, die eine Universalge‐ schichte des Zeitraums von 264 v. Christus bis 146 v. Christus umfassen, wendet er sich im sechsten Buch einer Darstellung der politischen Verfassung Roms zu. Hier ist die klassische Fundstelle, an der er die schon bei Platon und Aristoteles angelegte Formenlehre unterschiedlicher Verfassungen – Monarchie, Aristokratie, Demokratie – zu einem dynamischen Kreislaufmodell ausbaut. In seinem „Kreislauf der Verfas‐ sungen“ geht Polybios davon aus, dass sie sich „verwandeln“, „ineinander überge‐ hen“ und „wieder zum Anfang zurückkehren“ können.2 So läuft die Monarchie stets Gefahr, in eine tyrannische Willkürherrschaft umzuschlagen. Die Idee einer Herr‐ schaft der Besten (Aristokratie) kann zu einer Oligarchie, zu einer Herrschaft der Wenigen degenerieren. Bleibt einzig der Ausweg in die Demokratie, die Volksherr‐ schaft. Aber auch dort lauern Probleme. Die Volksherrschaft kann in eine chaotische und gewaltschwangere Herrschaft des Pöbels – die Ochlokratie – übergehen. Mit diesem Kreislaufmodell will Polybios die Vorzüge der römischen Republik preisen, da sie als gemischte Verfassung „aus den genannten Formen zusammengesetzt ist“.3 Sie beugt der Korruption des jeweiligen Verfassungstyps, also dem Übergang in eine schlechte Spielart, vor. In der gemischten Verfassung der römischen Republik trifft jedes Verfassungselement auf Gegenkräfte, die es im Zaum halten. Indem sich die Institutionenordnung aus Konsuln, Senat und plebejischem Tribunat zusammensetzt, enthält sie monarchische, aristokratische und demokratische Bestandteile. Damit

1 Für hilfreiche Hinweise und Kommentare bedanke ich mich bei Hauke Brunkhorst, Leonhard Dobusch und Philipp Schink. 2 Polybios 2010, S. 364. 3 Polybios 2010, S. 360.

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entsteht das Modell einer auf das allgemeine Wohl ausgerichteten Verfassung, die eine Vereinseitigung auf einen Herrschaftstyp verhindert. Machiavelli kommt in Il Principe und in den Discorsi auf das Kreislaufmodell der Verfassung zurück. Er erweitert es in einer entscheidenden Hinsicht. Hatte Poly‐ bios noch das Ideal einer Art „Good Governance“ der Republik vor Augen, sieht Machiavelli im Kreislauf der Verfassungen einen Zentralkonflikt am Werk, der sich als ursächlich für Blüte, Verfall und Wandel der Republik erweist. In Il Principe identifiziert er zwei übergeordnete „Gesinnungen“ (umori), die in jedem Gemeinwe‐ sen miteinander ringen: „Denn in jeder Stadt finden sich diese zwei unterschiedlichen Gesinnungen, was daher rührt, dass sich das Volk von den Großen weder beherrschen noch unterdrücken lassen will, die Großen aber das Volk beherrschen und unterdrücken wollen; aus diesen ver‐ schiedenen Bedürfnissen entsteht in den Städten jeweils eine von drei möglichen Wirkun‐ gen: entweder die Fürstenherrschaft oder die Freiheit oder die Anarchie.“4

Die Einsicht des Polybios in die sich verselbständigende Tendenz der Herrschafts‐ ausübung verbindet Machiavelli mit dem Nachweis einer gleichursprünglichen Ge‐ genkraft. Er behandelt nicht nur die hochgefährliche herrschaftsaffine Gesinnung der politischen Klasse. Genauso macht er ein herrschaftskritisches Moment aus, das je‐ der Form der Herrschaftsausübung unterstellt, illegitim zu sein. Diesen Gemütszu‐ stand der Nicht-Beherrschung siedelt Machiavelli vor allem bei den Herrschaftsun‐ terworfenen an. Jene beiden Gesinnungen stellen nun die Extrempunkte eines schwelenden Herrschaftskonfliktes dar, der über den Kreislauf der Verfassungen er‐ haben ist. Als Triebfeder setzen sie das Wechselspiel von Aufstieg und Verfall in Gang.5 Heute knüpfen an das Motiv eines solchen schwelenden Herrschaftskonfliktes insbesondere Theorien radikaler Demokratie an.6 Demnach kann die Demokratie nicht auf eine liberale Institutionenordnung reduziert werden, in der wechselnde po‐ 4 Machiavelli 2003, Kap. IV; die Übersetzung als „Gesinnungen“ ist missverständlich, da es sich ja gerade nicht um explizite Überzeugungen handelt, sondern um eher diffuse Gemütszustände. 5 Daraus resultiert eine verschobene Lesart der römischen Republik. Wie Polybios lobt Machia‐ velli die römische Verfassung. Ihre Blütezeit ist aber, so bringt er es in den Discorsi zur Darstel‐ lung, nicht einzig der mäßigenden Institutionenordnung geschuldet. Die römische Republik ist ein Beispiel dafür, wie der in jedem Gemeinwesen schwelende Herrschaftskonflikt der beiden Gemütszustände auf Dauer gestellt werden konnte, ohne in einen Bürgerkrieg umzuschlagen: „Die Uneinigkeit zwischen römischem Volk und Senat führte zur Freiheit und Macht der Repu‐ blik“, Machiavelli 2000, S. 27 ff.; Erstes Buch, 4. Kapitel. Erst wenn die herrschaftskritischen Gesinnungen den Großen dauerhaft „im Nacken sitzen“ und mit dem Tribunat einen legitimen Platz in der Institutionenordnung erhalten, kann die Ordnung als stabil gelten. Für Rekonstruk‐ tionen der politischen Philosophie Machiavellis, die vom Herrschaftskonflikt her angelegt sind, vgl. Vatter 2000; Lefort 1986 und McCormick 2011; für den neo-römischen Strang im zeitgenös‐ sischen Republikanismus vgl. Niederberger/Schink 2013. 6 Vgl. für die Verbindung zu Machiavelli insbesondere Lefort 1986; mit Bezug auf Lefort wiede‐ rum: Laclau/Mouffe 1991; zur Übersicht über die neuere Diskussion: Marchart 2010; vgl. auch die noch stärker staatskritischen Überlegungen bei Abensour 2011 und Rancière 2002.

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litische Eliten das Gemeinwesen von oben her regieren; vielmehr verweist das De‐ mokratiekonzept auf eine viel grundlegendere, teils antagonistische Konfliktdimen‐ sion. So erhält der soziale Konflikt letztlich doch einen Vorrang vor den jeweiligen politischen und rechtlichen Institutionen. Das Problem dieser radikaldemokratischen Lesarten der Demokratie besteht darin, dass sie bisher eine Formenlehre, die darüber Auskunft erteilt, wie und auf welche Art sich der Konflikt überhaupt zum Ausdruck verhilft, kaum berücksichtigen. Auf diese Weise neigen sie dazu, den rückwirkenden Einfluss bestehender Formen auf die Spielräume der Konfliktaustragung zu vernach‐ lässigen. Eine eingehende Untersuchung, die wie bei Machiavelli und Polybios das Verhältnis von Institutionen und sozialen Kräften genauer betrachtet, findet hier nur in Ansätzen statt. Demgegenüber weisen die Reflexionen der marxistischen Zwi‐ schenströmungen aus den 1920er und 1930er Jahren eine ganze Reihe an Überle‐ gungen auf, die das Verhältnis von Form und Konflikt differenzierter ausarbeiten (2.). Die zentralen Stichworte gibt vor allem das Werk des österreichischen Aus‐ tromarxisten Otto Bauer (3.). Hier stehen Form und Konflikt in einem gegenseitigen Verweisungsverhältnis. Zwar geht der Herrschaftskonflikt der Form der demokrati‐ schen Republik voraus, gleichzeitig wirkt aber der jeweilige Aggregatzustand, in dem sich die demokratische Republik befindet, strukturierend auf die Spielräume der Konfliktaustragung. Dies führt Bauer dazu, einige der zentralen Begriffe des po‐ litischen Marxismus neu zu positionieren. Seiner Theorie der demokratischen Repu‐ blik können schließlich methodische Hinweise für aktuelle Fragestellungen entnom‐ men werden (4.).

2. Austromarxismus und Zwischenströmungen Auf der Suche nach einer Formenlehre der Republik, die vom Herrschaftskonflikt her angelegt ist, wird man insbesondere in der Marx’schen Traditionslinie fündig. Freilich erhält hier das Politische nicht die Zentralstellung, die es in der neueren Dis‐ kussion um radikale Demokratie einnimmt. Allerdings hat die Theorie radikaler De‐ mokratie fahrlässig übersehen, dass eine ganze Reihe an Einlassungen vorliegen, die dem Problem der politischen Herrschaftsausübung gewidmet sind.7 Die Marx-Re‐ zeption der dominanten Strömungen in der Arbeiter_innenbewegung des 20. Jahr‐ hunderts trägt für die Vernachlässigung dieser Quellen eine Mitschuld. In der Ge‐ genüberstellung zwischen Reformpolitik innerhalb der parlamentarisch-liberalen Re‐ publik oder einer Revolution gegen sie kamen die klugen und spannungsreichen Überlegungen zu einem kritischen Verständnis der demokratischen Verfassung – 7 Leforts Kritik etwa an den Marx’schen Frühschriften (vgl. Lefort 1994) verfährt sehr grob und ihm entgehen eine ganze Reihe an radikaldemokratischen Anschlüssen beim jungen Marx, wie sie etwa Abensour 2011 und Brunkhorst 2007 aufzeigen.

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ihrer Potentiale wie ihrer Grenzen – oft nicht zur Geltung. Eine interessante Ausnah‐ me stellen die sogenannten Zwischenströmungen dar, die in den 1920er und 1930er Jahren versuchten, eine politische Orientierung jenseits von Sozialdemokratie und Bolschewismus auszuarbeiten. Hier ist es in der Regel zu einer wesentlich reichhal‐ tigeren Einschätzung und intellektuell anspruchsvolleren Diskussion der Probleme politischer Herrschaft gekommen, als es in den Hauptströmungen der Fall war. Dies gilt etwa für die Arbeiten des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci zu Fra‐ gen der Hegemonie, für die Faschismus- und Bonapartismusanalysen August Thal‐ heimers sowie für die Staats- und Rechtstheorie, die Otto Kirchheimer und Franz L. Neumann im Umfeld der frühen Frankfurter Schule ausgearbeitet haben. Stets ver‐ suchen die Autoren, den engen Schematismus von Reform und Revolution, Verfas‐ sung und Aufstand, Liberalismus und Sozialismus, Demokratie und Diktatur durch Situationsanalysen zu ersetzen, in denen Zwischen- und Übergangsstadien, Um‐ schläge und Transformationen sichtbar werden. Mein Vorschlag besteht darin, diese Herangehensweisen nicht nur in historischer Perspektive aufzuarbeiten, sondern den Versuch zu unternehmen, sie ausdrücklich als Theorien der demokratischen Repu‐ blik zu lesen. In diesem freilich nicht vollkommen reibungslosen Unternehmen wird deutlich, dass sie das Zusammenspiel von irreduzibler Konfliktivität und eingehen‐ der Untersuchung politischer Formen teilen, wie es heute vor allem radikaldemokra‐ tische Zugriffe betonen. Sie führen jedoch einen Ansatzpunkt mit, der bei Machia‐ velli und Polybios mit der Untersuchung der Verfassungskreisläufe eine wichtige Rolle eingenommen hatte: Sie weisen nicht nur die Zentralität des Konflikts für die Form nach, sondern analysieren auch – in entgegengesetzter Richtung – den Einfluss der Form auf die Konfliktverhältnisse. Dies lässt sich exemplarisch an der Theorie der Republik zeigen, die Otto Bauer, ein führender Vertreter des Austromarxismus, entwickelt hat.8 Unter seiner Führung als Parteivorsitzender versuchte die österreichische Sozialdemokratie in den 1920er Jahren, einen linkssozialistischen „dritten Weg“ zwischen Sozialdemokratie und Bolschewismus zu gehen. Dementsprechend ist das Nachdenken Bauers über das Problem der demokratischen Republik von zwei Abgrenzungen geprägt. Die erste Abgrenzung besteht in der Kritik des sozialdemokratischen Reformismus. Friedrich Engels hatte in seinem Spätwerk darüber spekuliert, „daß unsre Partei und die Ar‐ beiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats, wie schon die große französische Revolution gezeigt hat.“9 Die sozialdemokratischen Parteien interpretierten Engels in der Regel so, dass es möglich ist, die Regierungs‐ macht auf legale Weise zu gewinnen und für die Umgestaltung der Gesellschaft zu nutzen. Dies geht mit einer Staatsauffassung einher, die den Staat als Instrument für 8 Zum Überblick über den Austromarxismus siehe Bottomore 1989; Leser 1968; Mozetic 1987. 9 Engels 1972, S. 235.

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sozialdemokratische Zwecke einsetzen will. Auch in der österreichischen Sozialde‐ mokratie verfolgte der reformerische Flügel dieses Programm. Karl Renner etwa be‐ trachtete Staat und Recht als „technische Mittel der Gesellschaft“, die für beliebige gesellschaftliche Zwecke eingesetzt werden können.10 Der Staat wird zum Motor der sozialen Umgestaltung. Nicht zuletzt gewann die Rechtstheorie Hans Kelsens in der österreichischen Sozialdemokratie an Einfluss. In einer scharfen Volte hatte er der Marx’schen Rechts- und Staatskritik nachgewiesen, dass sie letztlich auf einen nai‐ ven Anarchismus hinausläuft. Er plädierte für eine Rückkehr zum Staatssozialismus Ferdinand Lassalles, für eine demokratische Eroberung der Staatsmacht und ihren Gebrauch für sozialreformerische Ziele.11 Gegen eine solche einseitige Orientierung der Arbeiter_innenbewegung am in‐ strumentellen Gebrauch der Staatsmacht bietet Bauer den klassischen Befund auf, dass der soziale Konflikt nie vollständig in den Verfahren der demokratischen Repu‐ blik aufgelöst werden kann und soll. Erst der Antagonismus zwischen Arbeiter_in‐ nenbewegung und Bourgeoisie setzt die demokratische Republik ins Werk. Der so‐ ziale Konflikt ist nicht mit der Regierungsübernahme der Arbeiter_innenpartei ent‐ schieden.12 Bauer betont insbesondere die Rolle einer eigenständigen geistigen Füh‐ rung der Arbeiter_innenbewegung als „Regierungsmittel“.13 Im Zusammenhang mit der starken zivilgesellschaftlichen Selbstorganisierung der österreichischen Arbei‐ ter_innenbewegung scheint bei Bauer der Versuch auf, „eine möglichst konkrete Transformationsstrategie für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu entwickeln“, die ihren Ausgangspunkt in der „umfassenden sozialdemokratischen Durchorganisie‐ rung des Gesellschaftskörpers“ hat.14 In diesem Sinne liegen bestimmte Überschnei‐ dungen mit der Hegemonietheorie Antonio Gramscis vor, der in ähnlicher Weise auf die besondere Rolle kultureller und geistiger Führung aufmerksam gemacht hat.15 Gibt die Arbeiter_innenbewegung ihre Autonomie auf, verliert sie die Fähigkeit zur eigenen Initiative und kulturellen Führung. Wenn sie dann noch auf weitergehende Zielsetzungen einer sozialistischen Demokratie verzichtet, sinkt auch ihr parlamen‐ tarisches Durchsetzungspotential. Ob sich soziale Reformen umsetzen lassen, mithin Übergänge in eine sozialistische Demokratie möglich werden, ist keine Frage der Parlamentsmehrheit alleine, sondern eine Frage der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen, oder – so würde man heute wohl in Anlehnung an die Hegemonietheorie von Antonio Gramsci sagen – eine Frage der Hegemonie. Durch die enge Verbin‐ dung der staatlichen Institutionen mit der bürgerlichen Klasse, der Verwaltung und 10 Renner 1970, S. 296. 11 Kelsen 1965, insbes. S. 170 ff. 12 Siehe die Figur eines prekären „Gleichgewichts der Klassenkräfte“ in der demokratischen Re‐ publik bei Bauer 1970a. 13 Bauer 1923, S. 288. 14 Albers 1985, S. 139. 15 Zu den Überschneidungen vgl. Albers 1987 und Maderthaner 2006, insbes. S. 29.

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den Eigentumsverhältnissen braucht es eine umfassendere Transformationsstrategie, in der die Arbeiter_innenbewegung ihre eigenständige Handlungsmacht erhält. Sie darf nicht einfach zum Regierungsapparat herabsinken. Der (zugegebenermaßen links von Bauer stehende) Austromarxist Max Adler hat dies auf die Formel einer „Macht gegen den Staat im Staat“ gebracht: „Das Proletariat bleibt in einer Koaliti‐ on im Klassenstaate nur solange ein mächtiger Faktor, als es eine Macht gegen den Staat darstellt, mit der daher die Anhänger des Staates paktieren müssen.”16 Bauer führt die österreichische Sozialdemokratie als Zentrist. Der Partei gelingt es, ihren Einfluss in den parlamentarischen Institutionen auszuweiten. Sie bildet dort auch Regierungsmehrheiten, nutzt aber die gewonnenen Machtpositionen gleicher‐ maßen, um proletarische Gegenwelten auf zivilgesellschaftlichem Terrain zu kon‐ struieren. Beispielhaft steht dafür das „rote Wien“ der 1920er Jahre. Das mit einer dauerhaften Mehrheit links regierte Wien übte sich in der politischen Gestaltung einer „roten Stadt“, die vom Wohnungsbau, über die Bildungspolitik bis hin zu einem weiten Netz kultureller Selbstorganisierung wenigstens versuchte, eine andere Gesellschaft zu „antizipieren“.17 So konnte die Spaltung der Arbeiter_innenbewe‐ gung in einen radikalen und einen reformorientierten Teil verhindert werden. Otto Bauers Vision bestand in einem linkssozialistischen „dritten Weg“ zwischen refor‐ mistischer Sozialdemokratie und Bolschewismus. Sein erklärtes Ziel war ein inte‐ graler Sozialismus, der sich „über die Gegensätze der reformistischen Arbeiterbewe‐ gung und des revolutionären Sozialismus (erhebt) (...) und damit zur integrierenden Kraft innerhalb der gespaltenen Arbeiterbewegung“ wird.18 Dabei klingt eine zweite Abgrenzung an. Hatte Bauer die Hoffnung auf eine Ver‐ änderungsstrategie verworfen, die einseitig auf den Parlamentsmechanismus setzt, so weist er das Vorbild der Oktoberrevolution und der Sowjetunion scharf zurück. Dort sei die Diktatur des Proletariats in eine „Diktatur einer über den Klassen ste‐ henden regierenden Kaste“ umgeschlagen.19 Für Bauer, hier noch ganz dem Marxis‐ mus der II. Internationale verhaftet, muss die Arbeiter_innenbewegung erst einen gewissen Reife- und Organisierungsgrad erlangt haben, um gesellschaftliche Verän‐ derungen zu bewirken. Mit Hans Kelsen und dem gesamten Marxismus der II. Inter‐ nationale ist er der Auffassung, dass die Diktatur des Proletariats nicht in einem ein‐ fachen Gegensatz zur demokratischen Republik steht, sondern einen Aggregatzu‐ stand beschreibt, in der das zur Reife gelangte Proletariat die Regierungsmacht er‐

16 Adler 1970, S. 151. 17 Siehe die Charakterisierung der Strategie als „antizipatorischer Sozialismus“ bei Maderthaner 2006, zu den Übergangsstrategien: Bottomore 1989. 18 Bauer 1936, S. 234; zu Geschichte, Kontext und Aktualität dieses Programms: Albers 1979; Albers 1987; Baier 2008. 19 Bauer 1970a, S. 92.

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ringt und „in der Staatsform der Demokratie“ ausübt.20 Einen weiteren Unterschied zum bolschewistischen Revolutionsmodell markiert die Gewaltfrage. Die rohe Ge‐ walt als Schöpfer einer neuen gesellschaftlichen Ordnung weist Bauer scharf zurück. Wie wir später sehen werden, ist die gesamte Theorie Bauers darauf ausgerichtet, den Bürgerkrieg zu verhindern und die Anwendung von Gewalt einzuhegen.

3. Theorie der Republik Bauer geht vom Vorrang des sozialen Konflikts vor den jeweiligen politischen und rechtlichen Formen aus. Als Marxist ist dies natürlich für ihn in erster Linie der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, den er mit den konkreten Ak‐ teursgruppen der organisierten bürgerlichen Klasse und der Arbeiter_innenbewe‐ gung kurzschließt.21 Er geht aber über den Nachweis hinaus, dass dieses Ringen letztlich die Rolle eines ersten Bewegers übernimmt. In seinen Reflexionen liegen einige Eckpunkte zu einer politischen Formenlehre vor. Demnach durchläuft die de‐ mokratische Republik, die in Österreich mit der Revolution 1918 entstanden ist, un‐ terschiedliche Aggregatzustände. Unter Aggregatzuständen sind die unterschiedli‐ chen Weisen zu verstehen, in denen der soziale Konflikt, die kapitalistische Wirt‐ schaft und die politischen Institutionen zusammenspielen. Damit geht er über eine bloße Gegenüberstellung von liberaldemokratischen Formen und alternativen Orga‐ nisationsmodellen des Politischen, etwa rätedemokratischer Herkunft, genauso hi‐ naus wie über eine Verflüchtigung der wahren Demokratie im Aufstand. Bauer ent‐ wickelt am Beispiel der ersten österreichischen Republik eine Restriktionsanalyse, „die versucht, Handlungsspielräume im Kontext soziopolitischer Konflikte und Konfrontationen auszumachen“.22 Damit nimmt sie eine Fragerichtung ein, die dem Verhältnis von Einschränkung und Ermöglichung des sozialen Konflikts nachgeht, also einer Art Doppelbewegung, die den strukturierenden Einfluss des jeweiligen Aggregatzustands der demokratischen Republik auf die Konfliktaustragung berück‐ sichtigt und gleichsam versucht, die transformative Kraft des sozialen Konflikts im Hinblick auf die jeweiligen Formen aufzuklären. Dies wird von Bauer an drei Ag‐ gregatzuständen der demokratischen Republik verdeutlicht, die seine Geschichte der österreichischen Revolution prägen.

20 So liest Kelsen das Konzept einer Diktatur des Proletariats bei Marx, vgl. Kelsen 1965, S. 59; allgemeiner zur Verwendung des Diktaturbegriffs bei Marx und Engels im Kontext des politi‐ schen Denkens des 19. Jahrhunderts Draper 1986. 21 Dies gilt auch, wenn sich bei Bauer sicherlich ein komplexeres Bild unterschiedlicher sozialer Gruppen und Kräfteverhältnisse ergibt, siehe dazu Gransow/Krätke 1979, S. 103 ff. 22 Vgl. Saage 1985, S. 20.

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3.1 Aggregatzustand I: proletarische Demokratie Wie die deutsche Novemberrevolution bringt die österreichische Revolution eine parlamentarische Republik hervor. Entscheidend für den Revolutionsprozess ist Bauer zufolge, dass es den Organisationen der Arbeiter_innenbewegung Schritt für Schritt gelingt, eine hegemoniale Position einzunehmen. Im Rahmen der Wehrver‐ bände vereinen sie die unzufriedenen und meuternden Soldaten zu einer Volkswehr. So entsteht ein entscheidendes Machtpotential, das gleichzeitig zur Zivilisierung der Soldaten beiträgt. Weit von einer kitschigen Perspektive auf den Revolutionsprozess entfernt, ist Bauer sich darüber vollkommen im Klaren, dass dieser „Haufen, wenn man ihn sich selber überlassen hätte, zu einer Söldnerbande geworden wäre“.23 Die Arbeiter_innenbewegung gewinnt im revolutionären Prozess einen hohen Organisa‐ tionsgrad. Sie verfügt über die Gewaltmittel. Dies führt jedoch nicht zu einer Offen‐ sivstrategie, die in die Errichtung eines Arbeiterstaates mündet; vielmehr verfolgt die Bauer’sche Sozialdemokratie eine gewaltvermeidende Defensivstrategie: Der Übergang in eine sozialistische Gesellschaft soll gerade nicht dadurch erreicht wer‐ den, dass eine proletarische Armee in einem Bürgerkrieg siegreich ist. Dies würde, so schätzt Bauer es ein, letztlich in „eine Selbstaufhebung der Revolution“ führen.24 Es ist schwer vorstellbar, dass die vom Austromarxismus favorisierten allseitigen Emanzipationsprozesse aus kriegerischen Auseinandersetzungen hervorgehen. Und darüber hinaus hemmen die internationalen Kräfteverhältnisse die Durchsetzungs‐ chancen einer sozialistischen Gesellschaft in Österreich. Bauer resümiert, dass „die Diktatur des Proletariats (...) mit der Diktatur fremder Besatzungskommanden (ge‐ endet hätte)“.25 Die Defensivstrategie zielt nicht auf den Sturz der parlamentarischen Republik. Die Sozialdemokratie bildet eine Koalitionsregierung mit den Konservati‐ ven, um die Regierbarkeit des Landes sicherzustellen und autoritäre Putschversuche zu vereiteln.26 Gleichzeitig behält die Arbeiter_innenbewegung das Machtpotential in ihren Händen. Sie verfügt im Rahmen der Wehrverbände über die Gewaltmittel und gibt sie nicht vollständig an den Staat ab. Eigentlich schafft dies den Möglich‐ keitsspielraum für eine Revolution nach bolschewistischem Vorbild. Sie kann und darf aber nicht eintreten. Die Diktatur des Proletariats dient einzig als Drohkulisse. Sie soll im bürgerlichen Lager die Furcht vor der Revolution latent halten. Die erste Phase der österreichischen Republik ist von der „Vorherrschaft der Ar‐ beiterklasse“ geprägt.27 Die demokratische Republik nimmt den Aggregatzustand

23 24 25 26

Bauer 1923, S. 99. Bauer 1923, S. 126. Bauer 1923, S. 126. Regierung Renner I 30. Oktober 1918 – 15. März 1919, Bauer bleibt bis Juli 1919 Außenmi‐ nister. 27 Bauer 1923, S. 116 ff.

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einer „proletarischen Demokratie“ an.28 Die proletarische Demokratie, wie Bauer sie in der ersten Phase der österreichischen Republik erkennt, ist durch eine eigentümli‐ che Kombination aus politischer und gesellschaftlicher Demokratie gekennzeichnet. Die parlamentarische Demokratie wird um eine „funktionelle Demokratie“ ergänzt, die räte- und wirtschaftsdemokratische Elemente enthält.29 Der Demokratieanspruch soll auf die gesamte Gesellschaft, auch die Wirtschaft, ausgeweitet werden. Diese heute wohl am ehesten mit dem Begriff der sozialen Demokratie verbundene Idee erhält bei Bauer noch eine weitere Wendung. Nicht nur die Ausweitung der Demo‐ kratie auf die Gesellschaft ist ein kennzeichnendes Merkmal der demokratischen Re‐ publik als proletarische Demokratie. Das Verhältnis der regierenden zur regierten Klasse unterliegt einem tiefgreifenden Wandel. Verfügt die regierende Klasse im Staat nicht mehr über den Einsatz von Gewaltmitteln, kann sie die herrschaftskriti‐ schen „Gemütszustände“ (Machiavelli) der Herrschaftsunterworfenen nicht mehr militärisch niederhalten.30 Sie muss sich – und das wird von Bauer eindrucksvoll ge‐ schildert – in einen Diskussionsprozess begeben, um ihre Legitimität herzustellen: „Die Demokratie – sie war den Massen nicht bloß die Regierung durch Erwählte des allgemeinen Wahlrechts, sondern die Regierungsmethode, die sich für jeden einzel‐ nen Regierungsakt die Zustimmung der von ihm betroffenen Massen selbst erwer‐ ben, erarbeiten musste.“31 Die Regierung konnte im Zustand der proletarischen De‐ mokratie „nur mit geistigen Mitteln regieren, regieren mittels der Erweckung der Einsicht der Massen (...)“.32 Bauer hebt hier insbesondere die Rolle von Betriebsver‐ sammlungen hervor, in denen über die Regierungspolitik diskutiert wurde. Er schil‐ dert die „Selbsterziehung der Massen“ und die „Weckung der Initiative“, die dort stattfanden.33 Bauer verweist – klassisch republikanisch – auf die amerikanische Re‐ volution und die wenigstens ansatzweise Einlösung des Versprechens, das „System der Regierung im Einvernehmen mit den Regierten“ einzurichten.34 Es ist interessant zu sehen, wie in Bauers Perspektive auf die proletarische Demo‐ kratie solche Motive wieder aufscheinen. Verallgemeinernd besteht die These darin, dass die demokratische Republik den Aggregatzustand einer proletarischen Demo‐ kratie annehmen kann. In diesem Zustand ist organisierte Arbeiter_innenbewegung hegemonial: Einerseits weitet sie das Demokratieprinzip auf die gesamte Gesell‐ schaft aus. Andererseits befriedet sie die gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie entzieht sowohl dem Staat als auch der bürgerlichen Klasse diejenigen Gewaltmittel, die in der Regel Anwendung finden, um die Herrschaftsunterworfenen niederzuhalten. 28 29 30 31 32 33 34

Bauer 1970b, S. 105 ff. Bauer 1923, S. 188. Bauer 1923, S. 128. Bauer 1923, S. 188. Bauer 1923, S. 181. Bauer 1923, S. 181. Bauer 1923, S. 186.

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Gleichzeitig macht sie von den Gewaltmitteln nur defensiven Gebrauch. Sie wendet sie nicht an, sie verfügt nur über sie. Auf diese Weise entstehen wenigstens Keimfor‐ men einer Regierungsmethode, in der die Regierung ihre Legitimität in deliberativen Verfahren herstellen muss. Der Machtkampf der Klassen (und hier: sowohl zwischen Bourgeoisie und Proletariat als auch zwischen Regierenden und Regierten) kann nicht mehr mit „Mitteln der Gewalt“ ausgetragen werden, sondern muss in Prozesse der Verständigung überführt werden.35 Die proletarische Demokratie entfaltet, so die Hoffnung Bauers, eine Tendenz, die zu einer „sozialistischen Demokratie als Orga‐ nisationsform der klassenlosen sozialistischen Gesellschaft“ führen kann und die der „regulativen Idee einer Gesellschaft der frei wollenden Menschen, einer anarchi‐ schen Gesellschaft“ zum Durchbruch verhilft.36 Im Grunde wird die Diktatur des Proletariats als Übergangsphase zur klassenlosen Gesellschaft durch die proletari‐ sche Demokratie ersetzt. Sie steht ausdrücklich nicht im Gegensatz zur demokrati‐ schen Republik. Die demokratische Republik erhält nur einen anderen Aggregatzu‐ stand.

3.2 Aggregatzustand II: Volksrepublik Doch bald trat der Furor der proletarischen Demokratie zurück. Die Republik nahm, so beobachtet es Bauer, einen neuen Aggregatzustand an, den er mit dem Begriff der Volksrepublik belegt.37 Die demokratischen Institutionen und auch die Formen der funktionellen Demokratie bleiben intakt, die Arbeiterklasse verliert aber ihre Hege‐ monie. Die internationalen Kräfteverhältnisse und die wirtschaftliche Entwicklung unterlaufen ihre Vorherrschaft: „Der revolutionäre Spannungszustand wurde durch die industrielle Hochkonjunktur überwunden.“38 Politischer Ausdruck dieser Kon‐ stellation ist der Umstand, dass die Sozialdemokratie in der zweiten Koalitionsregie‐ rung nach der Revolution stets Kompromisse mit den Konservativen schließen muss.39 Um diese Konstellation auszuleuchten, bedient sich Bauer einer Denkfigur, die der späte Friedrich Engels eingeführt hatte. In Übergangsperioden seien Zustände zu beobachten, in denen die politische Macht von unterschiedlichen Klassenkräften ge‐ teilt wird. Dies sei der Fall, „wo die kämpfenden Klassen einander so nahe das Gleichgewicht halten, daß die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber beiden erhält“.40 Bauer greift diese Denkfi‐ 35 36 37 38 39 40

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Bauer 1923, S. 127. Bauer 1970b, S. 113. Bauer 1923, S. 196 ff. Bauer 1923, S. 204. Staatsregierung Renner II (15. März – 17. Oktober 1919). Engels 1975, S. 484 f.

gur auf und bezieht sie auf die demokratische Republik. Die Volksrepublik ist durch ein „Gleichgewicht der Klassenkräfte“ gekennzeichnet, in der weder die eine noch die andere Klasse in der Lage ist, ihr Gesellschaftsmodell zu verallgemeinern – „ein Zustand, in dem weder die Bourgeoisie noch das Proletariat den Staat beherrschen kann“.41 In der Volksrepublik, „in der alle Klassen des Volkes an der Staatsmacht ihren Anteil haben“42, kann sich der Klassenkampf friedlich entfalten, auch wenn das Proletariat sich im Vergleich zur proletarischen Demokratie in einer defensive‐ ren Situation befindet. Im zweiten Aggregatzustand der demokratischen Republik sind es nicht die Ver‐ fahren alleine (etwa die von Hans Kelsen konzipierte Verfassung), die den Zustand der Volksrepublik und die Funktionsfähigkeit ihrer Institutionen stabil halten. Die Machtgleichheit der kämpfenden Klassen schützt vor einem Umschlag in den Bür‐ gerkrieg oder in einen autoritären Staat. In diesem Sinne hängt die Stabilität der Volksrepublik nicht einzig mit der formalen Rechtsherrschaft zusammen, sondern auch mit der Frage, ob die Gleichgewichtssituation weiterhin Bindewirkungen ent‐ faltet. Das „Gleichgewicht der Klassenkräfte“ – dessen ist Bauer sich bewusst – kann, „immer wieder aufgehoben werden“.43 Es kann nicht nur in Richtung einer proletarischen Demokratie umschlagen. Sie bringt die Spielregeln der demokrati‐ schen Republik ja nur konsequent zur Anwendung. Wesentlich präsenter ist die Ge‐ fahr, die von autoritär gesinnten Gruppierungen ausgeht und darauf abzielt, die de‐ mokratische Republik aufzuheben. Darum lautet auch die Strategieempfehlung Bau‐ ers, dass die Sozialdemokratie alles dafür tun muss, damit sich der Staat nicht in ein Instrument der Bourgeoisie verwandelt. Die Verteidigung der Volksrepublik sei des‐ halb die Hauptaufgabe in Zeiten der „proletarischen Defensive“.44 Im Zustand des Gleichgewichts der Klassenkräfte bleiben wenigstens bestimmte Errungenschaften der proletarischen Demokratie erhalten. Wirtschaftsdemokratische Elemente und die Offenheit der politischen Verfassung für unterschiedliche sozioökonomische Entwicklungswege sind Beispiele für die Errungenschaften dieses Zu‐ stands. Die Frage nach der Gesellschaftsordnung wird in der Volksrepublik nicht hö‐ herrangig festgeschrieben, sondern dem politischen Prozess übereignet. Das Gleich‐ gewicht der Klassenkräfte erzeugt eine Offenheit der Verfassungsordnung, die in der Nachkriegszeit zu einem kennzeichnenden Merkmal des (west-) europäischen Kon‐ stitutionalismus werden wird.

41 Bauer 1970a, S. 79; ähnlich argumentieren Franz L. Neumann und Otto Kirchheimer im Hin‐ blick auf die Weimarer Verfassung (Neumann 1978; Kirchheimer 1976) und Wolfgang Abend‐ roth später im Hinblick auf das deutsche Grundgesetz (Abendroth 2008). 42 Bauer 1923, S. 245. 43 Bauer 1923, S. 290; siehe aber Hans Kelsens Kritik an Bauer: Es sei „von untergeordneter Be‐ deutung, ob das soziale Kräfteverhältnis zwischen den Klassen äußerlich in einer Koalitionsre‐ gierung zum Ausdruck kommt oder nicht“ (Kelsen 1983, S. 212). 44 Bauer 1923, S. 280.

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3.3 Aggregatzustand III: Diktatur des Proletariats Die Formel einer „Diktatur des Proletariats“ diente in der marxistischen Diskussion dazu, einen Übergangszustand nach der politischen Machtübernahme zu beschrei‐ ben. Der Begriff ist insbesondere in der bolschewistischen Revolutionstheorie in einen starken Gegensatz zur demokratischen Republik – im Sinne eines Ausnahme‐ regimes – gebracht worden. Bauer folgt einer vollkommen gegenteiligen Intuition: Mit der Diktatur des Proletariats beschreibt Bauer einen weiteren Aggregatzustand der demokratischen Republik. Er ist dadurch geprägt, dass die bürgerliche Klasse die Spielregeln der Demokratie nicht mehr anerkennt und gewaltsam gegen die Arbei‐ ter_innenbewegung vorgeht. Dieses Szenario erscheint vor allem wahrscheinlich, wenn die politische Macht in „die Hände einer zur Enteignung der Kapitalisten, zur Sozialisierung der Produktionsmittel entschlossenen Arbeiterregierung zu fallen droht“.45 Wenn in einer solchen Situation, in der die Arbeiterpartei die Mehrheit im Parlament erhält, gewaltsam gegen sie vorgegangen wird, dann könne die proletari‐ sche Demokratie in eine Diktatur des Proletariats umschlagen. Sofort fällt auf, dass Bauer die Diktatur des Proletariats von der ursprünglichen Idee distanziert. War sie bei Marx, aber noch stärker in der bolschewistischen Revo‐ lutionstheorie, das Stadium, das den Übergang in eine neue Gesellschaft ermöglicht, erhält sie hier eine defensive Funktion. Sie ist nicht das Gegenstück zur Republik. Als ein prekärer Aggregatzustand der demokratischen Republik dient sie der schlichten Verteidigung der demokratischen Institutionen, wenn die bürgerliche Klasse die „Demokratie zu sprengen versucht und sich dem Faschismus in die Arme wirft“.46 Die Diktatur des Proletariats steht hier nicht im Dienste einer Revolution, die als „Lokomotive der Geschichte“ darstellbar wird. Sie ist eine „Notbremse“, um die autoritäre Transformation zu verhindern. 47 Dieser Gedankengang erhält schließlich Eingang in das Linzer Programm der ös‐ terreichischen Sozialdemokratie von 1926. Sie wird zur Strategie der defensiven Ge‐ walt ausgebaut. Defensive Gewalt bedeutet, dass über die gewaltsame Verteidigung der demokratischen Republik nicht die sozialdemokratische Arbeiterpartei entschei‐ det, sondern der gesellschaftliche Gegner. Wendet er Gewaltmittel an, trifft er auf den eigens für diese Aufgabe gegründeten republikanischen Schutzbund, der die Re‐ publik auch militärisch verteidigen soll.48 Die Tragödie des Austromarxismus ist ge‐ nau an dieser Stelle angesiedelt. Im kurzen Bürgerkrieg ist der Austrofaschismus 45 Bauer 1970b, S. 107. 46 Bauer 1970b, S. 107. 47 Vgl. zu den Revolutionen als „Lokomotiven der Geschichte“: Marx 1960, S. 110; zur Revoluti‐ on als Notbremse: „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in die‐ sem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse“, Benjamin 1974, S. 402. 48 Vgl. Heidenreich 1985.

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siegreich.49 Die Arbeiterorganisationen werden zerschlagen. In der Folge ist das Konzept der defensiven Gewalt scharfer Kritik ausgesetzt gewesen.50 Hier ist natür‐ lich fragwürdig, inwieweit die programmatischen Weichenstellungen und erst recht die Politik der Parteiführung um Otto Bauer ursächlich in die Niederlage führten. Der veränderte Zugriff auf die Diktatur des Proletariats bringt jedenfalls nicht nur eine „erhebliche Abweichung vom Marx-Engelsschen Schema“ hervor.51 Hier deutet sich auch eine originelle Perspektive auf die Gewaltfrage in politischen Kämpfen an. Die Anwendung von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung wird weder fata‐ listisch akzeptiert noch verleugnet. Die Befriedung der gesellschaftlichen Verhältnis‐ se kann nicht mit den Mitteln militärischer Gewalt stattfinden. Sie wird – angesichts einer schon gewaltschwangeren Auseinandersetzungslage – auch nicht dadurch er‐ reicht, dass die Arbeiter_innenbewegung sich der Gewaltanwendung des Staates oder des gesellschaftlichen Gegners preisgibt. Die paradoxe Idee besteht darin, ein eigenes Gewaltpotential aufzubauen, das nicht zur Anwendung kommt. Es kann praktisch nicht zur Anwendung kommen, weil der Schutzbund nicht auf den wirkli‐ chen Eintritt in einen Bürgerkrieg ausgerichtet ist. Der „Schutzbund“ war, so die ein‐ flussreiche Kritik der Linkskommunistin Duczynska, „nur als Geste der Drohung gemeint“.52 Dies hat neben einer funktionalen auch eine normative Dimension. Die Führung der Sozialdemokratie um Otto Bauer war nicht bereit, die Gewaltmittel auch anzuwenden, und die „traditionell pazifistische Erziehung hielt viele ehrliche sozialdemokratische Arbeiter zurück, in die wehrhaften Ordnerorganisationen einzu‐ treten“.53 Auch der Berater des Schutzbundes, Theodor Körner, der erfolglos ver‐ sucht hatte, ihn auf eine Guerillastrategie zu verpflichten, stellte fest, dass „man mit einer Armee von Pazifisten keinen Krieg führen kann“.54 Die defensive Gewalt ist eine Gewalt, die keine Gewalt sein will. Um aus dem Zirkel von Gewalt und Gegen‐ gewalt auszubrechen, wird sie als defensive Gewalt in gewisser Weise „depoten‐ ziert“.55

49 Im Hinblick auf die Rolle der Sozialdemokratischen Partei vgl. die kritische Perspektive bei Leser 1968, S. 470. 50 Für die Kritik von „links“ vgl. Duczynska 1975 („Der Schutzbund war nicht zu einem solchen Einsatz bestimmt, sondern als eine Geste der Drohung gemeint. Durch das bloße Bestehen der großen para-militärischen Formation (…) sollten Reaktion und Faschismus vorderhand und so lange wie möglich in Schach gehalten werden“ (S. 222)); für die Kritik von „rechts“ Leser 1968 („Das Linzer Programm steht meritorisch einem so verstandenen Widerstandsrecht näher als der marxistischen Theorie, die es zur Legitimation einer Selbstverständlichkeit bemühte“ (S. 398)). 51 Kelsen 1983, S. 205. 52 Duczynska 1975, S. 222. 53 Duczynska 1975, S. 70. 54 Zit. nach Leser 1968, S. 155. 55 Vgl. etwa das Motiv einer „Depotenzierung“ der Rechtsgewalt bei Menke 2013.

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3.4 Formenlehre Bis auf vereinzelte Einlassungen zur amerikanischen Revolution stellt Bauer seine Beobachtungen nicht explizit in einen ideengeschichtlichen Kontext. Trotzdem fin‐ den wir hier die Idee eines Kreislaufs der demokratischen Republik, die einige Paral‐ lelen zur politischen Formenlehre aufweist. Sie ist nicht so zusammenhängend ent‐ worfen wie bei Polybios oder Machiavelli, aber jenes Umschlagen, Ineinanderüber‐ greifen, Aufsteigen und Verfallen sind charakteristische Merkmale der Bauer’schen Aggregatzustände. Auch sie gehen ineinander über, schlagen um und sind eigentüm‐ lich prekär. Lesen wir Bauer republikanisch, wird die Sicht auf das Zusammenspiel sozialer Konfliktivität und politischer Formen freigelegt. Wie auch die Überlegun‐ gen zur radikalen Demokratie gründet Bauer seine Theorie der Republik auf den so‐ zialen Konflikt. Als Marxist entfaltet er eine Konfliktsoziologie, in der die Arbei‐ ter_innenbewegung mit der bürgerlichen Klasse ringt. Dies sollte nicht als Anlass dienen, ihm einseitigen Soziologismus vorzuwerfen. Für ihn wie für die meisten an‐ deren Vertreter der kritischen Verfassungstheorie aus den Zwischenströmungen steht weiterhin fest (so fragwürdig uns diese Annahme aus heutiger Sicht erscheinen mag), dass diese beiden Akteursgruppen nur als Agenten von Herrschaftsausübung und Herrschaftskritik in Erscheinung treten.56 Mit der hier vorgeschlagenen Lesart ist es somit möglich, eine Theorie der demokratischen Republik zu identifizieren, die vom Herrschaftskonflikt her angelegt ist. Wie deutlich wurde, ist Bauers Theorie der Republik in einem Grenzbereich angesiedelt. Einerseits teilt er mit Kelsen, Ren‐ ner und dem Rechtspositivismus den Wert demokratischer Institutionalisierungsfor‐ men, führt ihn jedoch nicht einseitig auf Verfahren prozeduraler Allgemeinheit zu‐ rück. Er begreift die Institutionen der Republik als Ausdruck sozialer Kräfteverhält‐ nisse, die immer an ein soziales Substrat angebunden bleiben.57 Andererseits löst er die Theorie der Republik nicht in eine bloße Kampftheorie auf, denn die demokrati‐ sche Verfassung und die jeweiligen Aggregatzustände bestimmen die Modalitäten der Konfliktaustragung. Nicht zuletzt bietet die demokratische Republik die Grund‐ lage, auf der mögliche Übergänge in eine proletarische oder sozialistische Demokra‐ tie möglich werden. Darüber hinaus knüpft Bauers Theorie der Republik noch in einem anderen Sinne an die Linie von Polybios und Machiavelli an. Er beschränkt sich nicht auf den Nachweis einer uneinnehmbaren Herrschaftskritik, sondern sucht nach Möglichkei‐ ten, herrschaftskritische Momente in den jeweiligen Aggregatzuständen auszuma‐ chen. Sie durchlaufen durchaus eine Präferenzskala. Die proletarische Demokratie sichert den Übergang in eine bessere Gesellschaft; die Diktatur des Proletariats und 56 Vgl. dazu das Verhältnis von „Gegen-Macht“ und „Gegen-Gesellschaft“ bei Balibar 2011. 57 Damit ist Bauer wiederum sehr nahe an der kritischen Rechtsstaatslehre der frühen Frankfurter Schule, insbesondere an Otto Kirchheimer, vgl. Kirchheimer 1976.

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die defensive Gewalt sind Notbremsen, die im Falle eines Niedergangs der demokra‐ tischen Republik gezogen werden. Die Volksrepublik erhält wichtige Errungenschaf‐ ten aufrecht, ohne die ursächlichen Konflikte tatsächlich aufheben zu können. Von daher kann sie in beide Richtungen umschlagen, in die proletarische Demokratie oder die autoritäre Beseitigung der Republik. Nun ist das Korruptionsmoment dieser Formen, die für Polybios ja eine zentrale Rolle spielten, nicht ausdrücklich ent‐ wickelt. Aber Bauer gibt Hinweise, dass die jeweiligen Aggregatzustände auch in schlechte Spielarten umschlagen können: Etwa dann, wenn im Zustand der proletari‐ schen Demokratie doch Gewaltmittel zur Anwendung kommen und einen Bürger‐ krieg einleiten; oder wenn die kompromissartige Volksrepublik zu einem aristokrati‐ schen Korporatismus verkommt und die Eigenständigkeit der Arbeiter_innenbewe‐ gung versiegt; oder wenn die Diktatur des Proletariats, zur Verteidigung der demo‐ kratischen Republik eingesetzt, in einen verselbständigten Zirkel autoritärer Herr‐ schaft übergeht. Die Folgen dieser Formenlehre sind nicht gering zu schätzen. Aus der formalen Institutionalisierung der demokratischen Republik kann noch nicht auf einen immer‐ währenden Aggregatzustand geschlossen werden, der die politische Strategie der Ar‐ beiter_innenbewegung auf ewig festschreibt; vielmehr muss sich eine mögliche poli‐ tische Strategie- und eine damit zusammenhängende Begriffsbildung stets der Frage stellen, ob sie in der Lage ist, den jeweiligen Zustand politischer Herrschaft zu be‐ rücksichtigen.

4. Die Aktualität Otto Bauers Otto Bauers Theorie der Republik sensibilisiert dafür, dass ein radikaldemokrati‐ scher Zugriff nicht zwangsläufig eine voluntaristische Schlagseite haben muss. Die Unterscheidung von Aggregatzuständen kann als exemplarischer Versuch gelten, zur damaligen Zeit einer Theoretisierung politischer Formen nachzugehen. Dabei wird die Republik nicht einfach mit liberaldemokratischen Institutionen kurzgeschlossen. Bauer zeigt auf, wie auch in der demokratischen Republik folgenreiche Umschläge und Transformationen stattfinden können. Sie bleibt der Ausgangspunkt möglicher Emanzipation – und doch kann eine lediglich allgemeine Theorie der demokrati‐ schen Republik offensichtlich nicht die Grundlage bilden, auf der eine gewinnbrin‐ gende politische Strategiebildung stattfinden kann. Zwar teilt Bauer den Vorrang des Konflikts, er macht aber ebenso als „roter Polybios“ auf einen Verfassungskreislauf aufmerksam, dem man sich nicht durch rein grundbegriffliche Hinweise entziehen kann. Wenn die Aktualität Bauers auf dem Spiel steht, ist freilich festzuhalten, dass es nicht reibungslos möglich ist, seine Beobachtungen für heutige Fragestellungen

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nutzbar zu machen. In dreierlei Hinsicht liegt jedoch eine hohe Aktualität in eher methodischer Hinsicht auf der Hand. (1) Erstens kann das polybianische Moment als Hinweis verstanden werden, dass die Untersuchung von Aggregatzuständen politischer Herrschaft nicht zwangsläufig auf ein positivistisches Forschungsprogramm hinauslaufen muss. In Richtung politi‐ scher Theoriebildung zeigt Bauer, dass die Reflexion auf die Bedingungen der Mög‐ lichkeit von Demokratie und Gesellschaft generell, so interessant sie im Einzelnen sein mag, uns noch nicht mit den notwendigen Informationen ausstattet, um dem ge‐ genwärtigen Zustand politischer Herrschaft gerecht zu werden. Erst vor dem Hinter‐ grund einer solchen Diagnose können politische Handlungsstrategien zwingenden Charakter erhalten, etwa solche, die möglichen Anknüpfungspunkten für eine Radi‐ kalisierung der Demokratie nachgehen. Insofern kann bei Bauer ein Herangehen identifiziert werden, das von den prägenden Tendenzen im zeitgenössischen Nach‐ denken über Politik abweicht – nämlich einerseits von einer stark an grundbegriffli‐ chen Klärungsversuchen orientierten politischen Theorie, andererseits von einem po‐ sitivistischen Politikverständnis in den stärker empirisch ausgerichteten Zweigen der Politikwissenschaften, in den Verwaltungen und der parlamentarischen Politik. (2) Zweitens zeigt sich die Aktualität Bauers im Hinblick auf die Historisierung des Verfassungswandels. Schließlich muss es ja darum gehen, zu untersuchen, in welchem Verhältnis rechtlich-politische Formen und soziale Konflikte stehen, wie sie auch unter Bedingungen formaler Rechtsherrschaft arrangiert sind. Daran an‐ schließend lassen sich dann Periodisierungen vornehmen, die ein präziseres Licht auf den jeweiligen Zustand politischer Herrschaft werfen. Der neuere Verfassungs‐ wandel im Zuge der Globalisierung beispielsweise ist aus dieser Sicht nicht einzig ein Problem politischer Steuerung, sondern auch eines der sozialen Kräfteverhältnis‐ se und Konflikte, die es ermöglicht haben, das Gleichgewicht der Klassenkräfte erst in einen wohlfahrtsstaatlichen Korporatismus („goldenes“ Zeitalter des Kapitalis‐ mus) zu überführen und es schließlich zu Gunsten transnationaler Kapitalfraktionen und Eliten zu verschieben (neoliberale Wende seit den 1980er Jahren). (3) Drittens stellt sich die Frage, ob man nicht mit Bauer über Bauer hinaus eine Formenlehre für den gegenwärtigen Zustand politischer Herrschaft ausarbeiten müsste. Die aktuelle Diskussion um Postdemokratie könnte so weniger als rein kul‐ turpessimistische Verfallsbeobachtung, sondern als neu entstehende Verfassungs‐ form verstanden werden: Ausgehend von der Erosion der Volksrepublik entsteht ein neuer Aggregatzustand, der seine Bezugspunkte im demokratischen Republikanis‐ mus zunehmend verliert. Es wäre eventuell die postmoderne Spielart eines Zustands, den Bauer in seiner Formenlehre für vollkommen unrealistisch gehalten hätte. Die Rückkehr zu einer bürgerlichen Verfassung, in der die Oberen ihre Eigentums- und Sicherheitsinteressen verallgemeinern und zur Not mit autoritären Regierungsme‐

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thoden durchsetzen.58 Um das ganz ungestört vollziehen zu können, ist heutzutage nicht mehr ein Zensuswahlrecht notwendig. Die Subalternen gehen einfach nicht einmal mehr zur Wahl.59 Was den postdemokratischen Wandel ausmacht und wie sich doch Wege in eine transnationale Demokratie öffnen könnten, sind bisher weit‐ gehend offene Fragen. Mit den vielfältigen Widerstandsbewegungen jedenfalls, die etwa im Umfeld der globalisierungskritischen Bewegung oder aktuell in Südeuropa auf sich aufmerksam machen, beginnen die Problemstellungen erst wirklich. Und die Antworten müssen sich nicht nur im Moment des Aufstands, sondern auch in den Tagen danach bewähren.

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58 Im Hinblick auf die neueren autoritären Regierungsmethoden des europäischen Fiskalpakts: Oberndorfer 2012. 59 Vgl. nur die Analysen bei Schäfer 2010.

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Die Autorinnen und Autoren

Gerhard Botz, geb. 1941, ist emeritierter Professor für Zeitgeschichte an der Univer‐ sität Wien und gründete und leitete das Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft, Salzburg – Wien (1982-2017). Forschungs- und Publikations‐ schwerpunkte u.a.: Nationalsozialismus, politische Gewalt, Konzentrationslager, österreichische Republikgeschichte und Arbeiterbewegung, historisch-sozialwissen‐ schaftliche Methoden. Ridvan Ciftci, geb. 1988, Jurist, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht und Rechtstheorie der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte sind die Ideengeschichte der Arbei‐ terbewegung und der Arbeiterjugendbewegung sowie Freihandelsabkommen. Folke große Deters, geb. 1982, ist Jurist in einem Bundesministerium und Vorsitzen‐ der der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen in der NRW SPD. Er promoviert am Rechtsphilosophischen Seminar der Universität Bonn zur Demokratietheorie Immanuel Kants. Andreas Fisahn, Prof. Dr. jur., geb. 1960, ist Professor für Öffentliches Recht, Um‐ welt- und Technikrecht und Rechtstheorie an der Universität Bielefeld. Forschungs‐ schwerpunkte sind Staats- und Rechtstheorien und Europa. Eveline List, Historikerin, Psychologin und Volkswirtin. Professorin für Kulturge‐ schichte an der Universität Wien, Lehranalytikerin der Internationalen Psychoanaly‐ tischen Vereinigung. Letzte Buchpublikation: Psychoanalytische Kulturwissenschaf‐ ten. Wien, facultas, 2013. Dr. Kolja Möller, geb, 1983, vertritt aktuell die Professur für Verfassungstheorie mit interdisziplinären Bezügen an der TU Dresden und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt “Transnational Force of Law”, Universität Bremen. Dr. habil. Lutz Musner, geb. 1954, arbeitet als freischaffender Historiker in Wien. Arbeitsschwerpunkte u.a. Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie. Armin Puller, geb. 1982, ist Politikwissenschaftler und als Lektor am Institut für Po‐ litikwissenschaft der Universität Wien tätig.

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Richard Saage, geb. 1941, Dr., Prof. i.R. für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und OM der Sächsischen Akade‐ mie der Wissenschaften. Publikationsschwerpunkte: Geschichte der politischen Ide‐ en und der Sozialutopien, politische Anthropologie, Faschismus- und Konservatis‐ mustheorien, Theorie und Praxis der Sozialdemokratie in der Zwischenkriegszeit. Günther Sandner, geb. 1967, studierte Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Salzburg und in Berlin. Senior Research Fellow am Institut Wiener Kreis und Lektor an den Instituten für Politikwissenschaft und für Wirtschafts- und Sozial‐ geschichte der Universität Wien. Arbeits- und Publikationsschwerpunkte: Geschich‐ te und Politik des Logischen Empirismus, Geschichte und Theorie der Sozialdemo‐ kratie, politische Bildung und Demokratietheorie. Thilo Scholle, geb. 1980, Jurist, Tätigkeiten in einem Landesministerium in NRW und beim SPD-Parteivorstand, Redaktionsmitglied der Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, Veröffentlichungen zur Geschichte der Jusos, zur Ideenge‐ schichte der Arbeiterbewegung und zur Rechts- und Staatstheorie. Uli Schöler, geb. 1953, Jurist und Politikwissenschaftler, lehrt als außerplanmäßiger Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, arbeitet hauptberuflich als stellvertretender Direktor und Abteilungsleiter im Deutschen Bundestag und ist ehrenamtlich als Vorstandsvorsitzender der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung tä‐ tig.

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