Marxismus und Theorie der Persönlichkeit

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Marxismus und Theorie der Persönlichkeit

Table of contents :
Vorbemerkung 5
Kapitel I
Eine Wissenschaft im Werden. Die Psychologie der Persönlichkeit 9
Eine Wissenschaft von grundlegender Bedeutung 11
Psychologie und Politik 13
Psychologie und Anthropologie 17
Ausblick auf die Zukunft der Persönlichkeit 21
Eine unvollständig ausgebildete Wissenschaft 23
Definitionsprobleme 24
Das Problem der Grundbegriffe 32
Als Wissenschaft in Frage gestellt 39
Der Beitrag des Marxismus 41
Psychologie und Philosophie 42
Der dialektische Materialismus als epistemologische Richtschnur 45
Der historische Materialismus als Grundlage der Wissenschaften vom Menschen 51
Kapitel II
Persönlichkeit und historischer Materialismus 61
Die marxistische Auffassung vom Menschen 62
Philosophischer Humanismus, theoretischer Antihumanismus 64
Die Auffassung vom Menschen, von der „Deutschen Ideologie" bis zum „Kapital" 83
Der Marxismus als wissenschaftliche Anthropologie und wissenschaftlicher Humanismus 134
Die Verbindung der Psychologie der Persönlichkeit mit dem
Marxismus 146
Die Verbindung von seiten des Marxismus 147
Die Verbindung von seiten der Psychologie 154
Der Zentralpunkt: Die marxistische Analyse der Arbeit 166
i451
Kapitel III
Der Gegenstand der Psychologie der Persönlichkeit 177
Psychologie der Persönlichkeit und psychobiologische Wissenschaft 177
Naturwüchsige und gesellschaftliche Verhältnisse zwischen
den Verhaltensweisen 178
Die Persönlichkeit als lebendiges System von gesellschaftlichen Verhältnissen zwischen den Verhaltensweisen 194
Der Fehler des Physiologismus 216
Wissenschaft von der Persönlichkeit und psycho-soziale Wissenschaften 236
Die Paradoxa der Sozialpsychologie 237
Individualitätsformen und Theorie des Individuums 261
Die psychologischen Wissenschaften und ihr allgemeiner Zusammenhang 287
Kapitel IV
Hypothesen für eine wissenschaftliche Theorie der Persönlichkeit 301
Vorbemerkungen 301
Hypothesen 308
Grundbegriffe, Handlungen, Fähigkeiten. Das Bedürfnisproblem 308
Infrastrukturen und Suprastrukturen. Der Zeitplan 338
Entwicklungsgesetze und Probleme der erweiterten Reproduktion der Persönlichkeit. Die Biographie 364
Schlußbemerkungen 397
Tod und Verwandlung der Anthropologie 397
Nachwort zur 2. Auflage 427
Personenregister 444
Sachregister 447

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Lucien Sève

Marxismus und Theorie der Persönlichkeit

VERLAG MARXISTISCHE BLÄTTER

Marxistische Paperbacks

„Marxistische Paperbacks" enthalten wissenschaftliche Untersuchungen über spezielle Fragen aus Politik, Ökonomie und Ideologie. Die auf neuesten Forschungen beruhenden Arbeiten sollen Grundlagen liefern zur genauen Einschätzung künftiger Entwicklungen in einzelnen Bereichen und des revolutionären Weltprozesses insgesamt. Verfaßt von international bekannten marxistischen Wissenschaftlern, enthalten die Arbeiten in der Regel einen umfangreichen wissenschaftlichen Apparat und eine Fülle statistischer und anderer Materialien, die sie für ein intensives Studium der jeweiligen Fragen als Standardwerke empfehlen. Außerdem erscheinen im Rahmen der „Marxistischen Paperbacks" Dokumente, Materialien und Untersuchungen zur Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, die wissenschaftlichen Editionsprinzipien entsprechen und gegen die Verfälschungen und Verwirrungen einen Beitrag zur klaren klassenmäßigen Orientierung hinsichtlich der jüngeren Entwicklungen leisten sollen.

Lucien Sève Marxismus und Theorie der Persönlichkeit

Lucien Sève

Marxismus und Theorie der Persönlichkeit

(D

Verlag Marxistische Blätter Frankfurt/Main 1973

Originaltitel: Luden Sève, Marxisme et théorie de la personnalité Editions sociales, Paris 1972 Übersetzt von Joachim Wilke

1. Auflage Oktober 1972 2. Auflage Juni 1973 Verlag Marxistische Blätter Frankfurt/Main, Heddernheimer Landstr. 78a 1972 Copyright by Dietz Verlag Berlin (DDR) 1972 Copyright für die BRD by Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt/M. (BRD) Druck: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda

Vorbemerkung Das vorliegende Buch ist alles andere als eine improvisierte Gelegenheitsschrift. Seit ich selbständig geistig tätig bin, habe ich leidenschaftliches Interesse für die Probleme der Psychologie. So geriet ich unter anderem durch den Wunsch, Psychologie zu betreiben, 1945 als Student an die Philosophie. Im französischen Bildungswesen ist die Psychologie bekanntlich dort integriert. Und als später ein einzelwissenschaftliches Diplom für die Lehrberechtigung in Philosophie erforderlich war, entschied ich mich aus demselben Grund für den Abschluß in Psychophysiologie. Die herkömmliche Psychologie war jedoch, obwohl oft fesselnd im Detail, insgesamt für mich enttäuschend. Wissenschaftliche Strenge fand ich nur bei der Untersuchung von sehr unpersönlichen Gegenständen. Bezüge zum wirklichen menschlichen Leben, zum eigenen Leben zunächst, waren für mich kaum ersichtlich. Von der akademischen Psychologielehre abgehend, oft im Gegensatz zu ihr, entwickelte ich in vielen literarischen bzw. philosophischen Einzelnotizen Fragestellungen zur Persönlichkeit. 1947 war bei den Éditions Sociales La Crise de la psychologie contemporaine herausgekommen. Diese tiefschürfende Kritik Politzers orientierte meine Überlegungen auf den Marxismus. Gerade durch die strikte Ablehnung der klassischen Psychologie verhieß er, wie es schien, die zugleich konkrete und wissenschaftliche Psychologie, die ich ersehnte. Was Politzer niederriß und was er ankündigte, in beidem war ich mit ihm einverstanden. In diesem Zusammenhang erschien mir die Psychoanalyse, trotz des Körnchens Wahrheit, das sie meines Erachtens enthielt, weniger interessant als das geringgeschätzte Œuvre Janets, das mich trotz seiner Begrenztheit durch seinen Sinn für die psychologische Aktivität und für den historischsozialen Charakter der Persönlichkeit begeistert hatte. Eine entscheidende Wende trat ein, als ich von 1950 an ernsthaft begann, Lenin zu studieren. Durch Lenin kam ich zu der Überzeugung, daß der Schaden der üblichen Auffassung vom Individuum in der bürgerlichen Ideologie liegt, die die psychologische Aktivität und die Persönlichkeit naturalistisch faßt - gleich, ob dieser Naturalismus materialistisch oder idealistisch ausgeprägt ist. Bei Lenin war dagegen meines Erachtens die Grundlegung einer historisch konkreten, revolutionären Psychologie als Lehre von der menschlichen Persönlichkeit zu erkennen ; das wirkliche Leben des Individuums wird hier als Interiorisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse gefaßt. Als die Zeitschrift La Raison in ihrem Heft 4 (1952) die Pawlowsche Physiologie in mehreren Artikeln als Grundlage der echt materialistischen Psychologie darstellte, schickte ich ihr deshalb einen ausführlichen ablehnenden Brief, in dem ich zugleich versuchte, die Grenzlinie - die Grenze der Gültigkeitsbereiche

6 - zwischen der Pawlowschen Wissenschaft von der höheren Nerventätigkeit und einer Wissenschaft von der Persönlichkeit zu ziehen, die sich auf den historischen Materialismus stützen sollte; faktisch habe ich sie damals jedoch mit einer Art „Sozialpsychologie" verwechselt. Diese Position kommt in meinem Artikel „Pavlov, Lénine et la psychologie" in der Raison (geschrieben 1953, veröffentlicht im Heft 9-10, Dezember 1954) und in meinem Diskussionsbeitrag auf dem Lenin-Kolloquium der Zeitschrift La Pensée (»Lénine et la psychologie", La Pensée, Nr. 57, September 1954) zum Ausdruck. Doch in dieser Zeit gab es eine weitere entscheidende Wende in meinen Überlegungen, die sich in diesen Veröffentlichungen noch nicht niedergeschlagen hatte: die aufmerksame Lektüre, das Studium des Kapitals im Jahr 1953, eine Lektüre, bei der ich es mir nicht nehmen ließ, mit meinen psychologischen Fragestellungen an den Marx-Text heranzugehen. In zahlreichen Notizen kam ich allmählich zu ersten Mutmaßungen über die spezifische Grundlage einer historisch-materialistisch fundierten Psychologie der Persönlichkeit. Vom Kapital ausgehend, erarbeitete ich mir einige wesentliche Begriffe, die im letzten Kapitel der vorliegenden Arbeit angewandt werden, insbesondere den m. E. entscheidenden Begriff Zeitplan.1 Mir fehlte jedoch noch einiges an unumgänglich notwendiger Kenntnis der Psychologie und mehr noch des Marxismus. Meine Arbeit zur Psychologie setzte ich bis 1956 fort, blieb dann aber stecken; meine Tätigkeit brachte es mit sich, daß ich mich jahrelang hauptsächlich mit anderen Problemen zu beschäftigen hatte: mit der Kritik revisionistischer Entstellungen des Marxismus, mit der Dialektik, mit der Geschichte der französischen Philosophie im 19. Jahrhundert und später. Tatsächlich führte mich aber jedes dieser Themen infolge der Logik theoretischer Forschung, die ein grundlegendes Problem berührt und schon einige Jahrzehnte betrieben wurde, in bestimmter Hinsicht wieder zur Theorie der Persönlichkeit. Der Kampf gegen die Revision des Marxismus von rechts und die Kritik des Existentialismus stellten das Problem des Psychologismus, die Geschichte der französischen Philosophie im 19. Jahrhundert, das Problem des Biologismus. Das Studium der Dialektik, mit dem ich mich immer stärker befaßte, ist wiederum entscheidende epistemologische Voraussetzung für jede theoretische Arbeit, die Anspruch auf wissenschaftliche Strenge erhebt. Auch die Philosophielehre im Oberschulwesen drängte mich - durch das dort zu behandelnde Psychologie-Programm wie durch die dort zu entwickelnde psychagogische Praxis - unaufhörlich in dieselbe Richtung. Als mich die Zeitschrift L'École et la nation 1962 um einen Artikel über das Verhältnis zwischen Lehrer und Elternhaus bat, sah ich deshalb darin vor allem eine Gelegenheit zur öffentlichen Äußerung einiger Gedanken, die 1 Emploi du temps. Steht in scharfem polemisdiem Gegensatz zu budget - temps, Zeitbudget (Siehe Kapitel IV. II. 2.) - d. Übers.

7 mich seit Jahren beschäftigten, und besonders zur Wiederaufnahme der stets notwendigen Kritik am Physiologismus, und zwar auf der simplen und populären, aber wahrhaft zentralen Ebene des Glaubens an „besondere Gaben". Ein erster, summarischer Artikel, der im November 1962 in L'École et la nation herauskam, löste eine lebhafte Diskussion aus. Im Verlauf der Diskussion ging ich nochmals ausführlicher auf das Problem ein (Juni 1963) ; dabei war ich gezwungen, umfangreiche Fachliteiratur durchzusehen. Nach sehr lebhaften Debatten im engeren Kreis und in der Öffentlichkeit behandelte ich die Frage erneut ausführlich in dem Artikel „Les ,dons' n'existent pas" (L'École et la nation, Oktober 1964). Die Kritik, die danach an mir geübt wurde, beruhte meines Erachtens einesteils darauf, daß die der Studie zugrunde liegende Auffassung von der Persönlichkeit noch ungenügend herausgearbeitet war, andererseits aber darauf, daß selbst bei Marxisten noch zählebige pseudo-materialistische Illusionen über den Menschen vorhanden waren. Was die allgemeine Richtung des Artikels anging, das heißt die Entkräftung der bürgerlichen Ideologie von den „besonderen Gaben", überwog letzten Endes jedoch eindeutig die Zustimmung zur Hauptsache. Hervorgehoben > werden muß meines Erachtens die mehrmals öffentlich geäußerte Zustimmung J. Rostands; sie ist um so bedeutsamer, als man ihn auf Grund einiger älterer Schriften oft als Verfechter der Auffassung von angeborenen intellektuellen Anlagen ansieht. Die zweijährige Arbeit zur Frage der „besonderen Gaben" hat mir deutlicher bewußt gemacht, wieviel im Grunde noch in Sachen der Theorie der Persönlichkeit aufzuklären war, sowohl in meinen eigenen Auffassungen als auch in der vorhandenen wissenschaftlichen Literatur. So war diese Arbeit der unmittelbare Ursprung der vorliegenden Schrift. Und dafc um so mehr, als die zentrale Bedeutung des Problems der menschlichen Individualität an allen Hauptpunkten der marxistischen Forschung und der ideologischen Debatten zutage trat. Die Kritik und Überwindung der dogmatischen Entstellungen des Marxismus wie seiner „humanistischen" Verfälschung, die detaillierte Ausarbeitung des historischen Materialismus und die Überlegungen zu den menschlichen Modalitäten und Finalitäten des Sozialismus, die Diskussion neuer Ergebnisse der Wissenschaften vom Menschen und des strukturalistischen Antihumanismus - dies alles setzt immer nachdrücklicher die brennende Frage auf die Tagesordnung: Was ist der Mensch? Ich faßte also Anfang 1964 den Plan zu einem kurzen Aufsatz, in dem Hypothesen zur tiefgreifenden Lösung dieser umfassenden Frage auf marxistischer Grundlage vorgetragen werden sollten, und im Sômmer 1964 begann ich eine Erstfassung, die aber auf halbem Weg steckenblieb, weil Zeit fehlte und weil bei jedem Schritt neue theoretische Schwierigkeiten auftauchten. Das Erscheinen der drei Bücher von L. Althusser und Genossen im Jahr 1965 kennzeichnete eine neue Etappe meiner Arbeit. Die dort gegebene antihumanistische Deutung des Kapitals und damit des gan-

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zen Marxismus war für manche Thesen meines Manuskripts eine glänzende Bestätigung; zu anderen Thesen stand sie in radikalem Widerspruch; dadurch erforderte sie die erneute Vertiefung meiner Thesen. Diese außerordentlich gehaltvollen Bücher und die interessante, tiefgründige Diskussion, die sie auslösten, zwangen mich dazu, meine eigenen Positionen prägnanter herauszuarbeiten und grundsätzlich vom theoretischen Antihumanismus abzugrenzen. 1966 ging ich an eine Zweitfassung meines Buches. Sie schien einem baldigen Abschluß zuzusteuern; ein Abschnitt über das Kapital und seine Lehren für die Auffassung vom Menschen erschien im November 1966 in La Nouvelle Critique. Wegen sehr vieler Schwierigkeiten und auch deswegen, weil das Problem subjektiv wie objektiv weiter ausreifte, konnte ich diese Arbeit erst im Sommer 1967 wieder aufgreifen, und zwar in einer - diesmal fast vollständigen - Drittfassung. Ihr entspricht der Text eines Vortrags an der Pariser „Université nouvelle" über die marxistische Theorie der menschlichen Individualität} (gehalten im März 1968). Der nachstehende Text ist eine vierte, nochmals gründlich überarbeitete Fassung, die im April begonnen und von August bis Dezember 1968 zum Abschluß geführt wurde. Allerdings hat diese Arbeit, so wie sie vorliegt, noch viele Unvollkommenheiten ; ich mache kein Hehl daraus. Ich sehe jetzt schon vieles, was eine fünfte Fassung rechtfertigen würde. Marx schrieb in einem Brief an Lassalle am 22. Februar 1858, als er die - vermeintlich endgültige - Niederschrift von Zur Kritik der Politischen Ökonomie begonnen hatte, die nur zu wahren Worte: „Die Sache geht aber sehr langsam voran, weil Gegenstände, die man seit vielen Jahren zum Hauptobjekt seiner Studien gemacht, sobald schließlich mit ihnen abgerechnet werden soll, immer wieder neue Seiten zeigen und neue Bedenken sollizitieren. Zudem bin ich nicht Herr meiner Zeit, sondern rather Knecht."2 Doch man kommt einmal an den Punkt, wo selbst für die Fortsetzung der Forschung nichts dringlicher ist als die kollektive Kritik, die wiederum das Veröffentlichen voraussetzt. Somit bringt das vorliegende Buch einen Standpunkt zum Ausdruck, der, wie man auch immer dazu stehen mag, im wesentlichen ausgereift ist. Ich spreche die Hoffnung aus, daß es so gelesen und beurteilt wird. 2 Marx an Ferdinand Lassalle, 22. Februar 1858. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 29, S. 550.

Kapitel I

9

Eine Wissenschaft im Werden. Die Psychologie der Persönlichkeit „Geistige Enge und Fachbeschränktheit sind nie gut, und wenn man Psychologie betreibt, wirken sie sich besonders verhängnisvoll aus ... Wenn man psychologische Studien treiben will, müßte man im Gegenteil fähig sein, zu verallgemeinern, müßte man universell sein ..." P. Janet: L'évolution psychologique de la personnalité, 1929, S. 4. „Die Psychologie hat keineswegs das ,Geheimnis* der menschlichen Sachverhalte in Besitz, weil dieses ,Geheimnis* einfach nicht psychologischer Art ist " G. Politzer: La crise de la psychologie contemporaine, Paris 1941, S. 120. Wer als Marxist die Entwicklung der Psychologie verfolgt, der kommt mit den Jahren unweigerlich zu einer sehr kritischen Ansicht über ihre Lage. Die Situation wird meines Erachtens, trotz rascher Fortschritte der Psychologie auf dem Wege zur Wissenschaft, beherrscht von einem krassen Widerspruch zwischen der weitreichenden Bedeutung und der immer noch vorhandenen Unreife jenes Bereichs, der doch wohl als ihre Krönung gelten müßte, der Theorie der Persönlichkeit. Bis in die letzte Zeit schien dieser Widerspruch kaum jemand zu beunruhigen: Trotz etlicher Anzeichen dafür, daß Hauptfragen auf diesem Gebiet nicht gelöst sind, und trotz einiger interessanter Denkanstöße entwickelte sich zumindest in marxistischen Publikationen Frankreichs keine systematische, allgemeine Diskussion über die Grundlagen einer derartigen Theorie. Vielleicht war man auch nicht immer der Meinung, daß Marxisten das Schicksal der Psychologie allzu wichtig nehmen müßten, zumal es wissenschaftlich scheinbar gar nicht so schlecht um sie stand? Wenn man so urteilt, sieht man natürlich keinen Widerspruch, dann hat man nicht das Empfinden, daß die Theorie zurückbleibt, und dann gibt es keine Grundsatzdebatte. Aber auch die Theorie kennt den Horror vacui. Und seit einiger Zeit gelangen etliche marxistische Forschungsarbeiten von ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten her und mit ganz unterschiedlichen Zielsetzungen bis zum impliziten, immer häufiger auch bis zum expliziten Hinweis auf diesen unbefriedigenden Stand der Dinge in Grundsatzfragen der Theorie der Persönlichkeit. Bestimmte erschienene und weitere erst angekündigte Arbeiten suchen dieser Theorie ersten Umriß zu geben oder wenigstens die Zugangswege zu ermitteln - Zugänge über Freud oder über Meyerson, über Pawlow oder über Politzer, je nach

10 der vertretenen Ansicht, angebahnt von Philosophen, die das Verhältnis von Marxismus und Humanismus klarstellen wollen, wie von Ökonomen, Soziologen und Historikern, die sich um das Verhältnis zwischen dem individuell Psychischen und gesellschaftlichen Strukturen und Gruppen bemühen, von Künstlern oder Kritikern, für die die Eingliederung des Schöpferischen in die Biographie immer wieder zum Problem wird, oder unmittelbar von Psychologen und Psychiatern, die sich zweifellos öfter über diese Einmischung von Amateuren in ihr professionelles Anliegen ärgern und sich den Fortschritt ihrer Wissenschaft nicht als eines schönen Abends erzielte revolutionäre Entdeckung vorstellen, dafür aber an erster Stelle zum langsamen Aufreifen der Probleme beitragen.1 Eine ähnliche Entwicklung ist offenbar auch außerhalb des Marxismus und außerhalb Frankreichs vor sich gegangen, offensichtlich auch auf Grund wechselseitiger Beeinflussung. An dem Punkt, an dem wir uns heute befinden, bedarf es zweifellos nur eines geringen Anstoßes, um einen theoretisch fruchtbaren Meinungsstreit über die Theorie der Persönlichkeit in Gang zu bringen. Es ist das Ziel dieses Buches, neben anderen Veröffentlichungen ebenfalls zur Eröffnung dieser sehr aktuellen Diskussion beizutragen. Und damit sich die Anteilnahme verstärkt, sei zunächst näher auf die beiden im Widerspruch stehenden Ausgangsgrößen eingegangen, auf die außerordentliche Bedeutung der Theorie der Persönlichkeit und auf ihr bisheriges wissenschaftliches Niveau. 1 Ich werde im folgenden, von Ausnahmen abgesehen, jeden expliziten Verweis insbesondere auf die marxistischen Arbeiten, denen ich wesentliche Impulse bei meinen Forschungen verdanke, unterlassen, und zwar nicht aus Undank, sondern aus einem genau entgegengesetzten Grund: aus dem deutlichen Bewußtsein heraus, daß bei solchen über lange Jahre hinweg betriebenen Arbeiten die Schuld stets die Grenzen eines jeden möglichen Berichts überschreitet. Auch wenn man die Verweise in umfangreichen Fußnoten anhäufte, wären sie stets nur eine recht willkürliche Auswahl aus allem, was hier anzuerkennen wäre. Oft kann nicht einmal das Wichtigste genannt werden. So erhielt ein Hauptabschnitt meiner Arbeit durch ein langes Gespräch mit J.-J. Goblot im Januar 1964 seinen Stempel: wer könnte herauspräparieren, was bei einer solchen Unterhaltung beigesteuert wurde, und an welcher Textstelle müßte es angegeben werden? In Wirklichkeit ist auch die individuellste Forschung im Grunde noch immer kollektiv. Und im Grunde wird hier eine ganze individualistische Ideologie des Besitzerrechts an geistiger Arbeit, die sich in der Philosophie noch hartnäckig hält, in Frage gestellt - doch dies überschreitet den Rahmen dieser Anmerkung bei weitem. Ich möchte deshalb nur angeben, wieviel dieses Buch einer Reihe von Studien verdankt, die in den letzten Jahren namentlich in La Notwelle Critique, La Pensée, Economie et politique und Recherches internationales à la lumière du marxisme erschienen sind - auch dadurch, daß es diesen Studien- in bestimmten Punkten widerspricht.

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Eine

Wissenschaft

von grundlegender

Bedeutung

Die Theorie der Persönlichkeit ist nicht allein auf dem Gebiet und in den Grenzen der Psychologie, vom Fachstandpunkt aus betrachtet, von größter Bedeutung; ihre Bedeutung ist umfassender, sie betrifft Gegenwart und Zukunft der Menschen. Das ist evident, es braucht hier nicht ausführlich demonstriert zu werden. Daß das aber auch und um so mehr für alle Marxisten und für den ganzen Marxismus gilt, das ist nicht so selbstverständlich. Widerspricht dieser Gedanke nicht der tief verwurzelten Idee, daß in marxistischer Sicht alles Psychologische notwendig untergeordnete Bedeutung hat? Tatsächlich fehlt es nicht an solchen Argumentationen. Vereinfacht sehen sie folgendermaßen aus: Der Marxismus ist dialektischer Materialismus, das heißt eine Philosophie, die das Bewußtsein als Funktion der höchstorganisierten Materie betrachtet; ist dann nicht die neurophysiologische Untersuchung dieser höchsten Organisationsform der Materie vorrangig, die „psychologische" Untersuchung der ihr entsprechenden Bewußtseinsfakten aber zweitrangig? Der Marxismus ist die materialistische Wissenschaft von der Geschichte, mit dem Prinzip, daß nicht das Bewußtsein das gesellschaftliche Sein bestimmt, sondern daß das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt; ist dann nicht die Untersuchung des objektiven gesellschaftlichen Seins - das heißt vor allem die Wissenschaft von den ökonomischen Verhältnissen - vorrangig, die „psychologische" Untersuchung der Subjektivitätsiormen aber zweitrangig? Der Marxismus ist weiterhin wissenschaftlicher Sozialismus, das heißt eine politische Lehre, und nach einem Leninwort beginnt die Politik erst da, wo die Menschen nach Millionen gerechnet werden ; ist dann nicht das Studium der Massen, die Gesamtheit der Gesellschaftswissenschaften, die Hauptsache, das „psychologische" Studium des Individuums aber Nebensache? Dafür kann folgende Bestätigung durch die Praxis angeführt werden: Die Psychologie hat das zentrale Problem der Persönlichkeit noch nicht klargestellt, ist also offenbar keine völlig reife Wissenschaft; der Marxismus aber existiert seit mehr als hundert Jahren als geschlossene wissenschaftliche Lehre, und vor einem Halbjahrhundert haben die Bolschewiki siegreich die Revolution vollziehen können. Die Psychologie ist somit für Theorie und Praxis des Marxismus kein lebenswichtiges Element, und ein Marxist braucht nicht erst die Psychologie, um klar zu sehen und richtig zu handeln. Hinzu kommen Vorbehalte aus Mißtrauen gegenüber der Psychologie. Die Psychologie ist, und für dieses Wissen haben die Marxisten Lehrgeld zahlen müssen, von M. de Biran und V. Cousin angefangen bis zu bestimmten Aspekten des Behaviorismus und des Freudismus oft der Schleichweg, auf dem bürgerliche Auffassungen eingeschmuggelt

12 werden, auf dem der Idealist versucht, den historischen Materialismus und den wissenschaftlichen Sozialismus im subjektivistischen Sinne zu revidieren. Und wenn sich bestimmte Bereiche der Psychologie nicht sehr wissenschaftlich entwickelten, könnte man sogar versucht sein, dies für ganz natürlich und gesetzmäßig zu halten. Ist die Psychologie im Grunde nicht doch, ihrem Wesen nach, eine Scheinwissenschaft? Neigt sie nicht notwendigerweise immer zum idealistischen, entpolitisierten Herangehen an Menschheitsprobleme? Die Physiologie, und erst recht die vom Wesen her materialistische, fortschrittliche Pawlowsche Physiologie, das ist eine solide Wissenschaft vom Menschen, eine beispielhafte Bestätigung des Marxismus, die, so wurde lange angenommen, nicht plötzlich zum reaktionären Idealismus, zum bürgerlichen Individualismus abschwenken kann. Und führt die Physiologie der höheren Nerventätigkeit mit Pawlow nicht außerdem zur revolutionären Ablösung der ehemaligen Psychologie? Bestimmte philosophische Debatten der letzten Zeit legen folgende Gedanken nahe: Impliziert der Marxismus in seiner Geburtsurkunde nicht das Ende aller Psychologie? Wenn das menschliche Wesen, wie Marx in der 6. Feuerbachthese schreibt, „kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum" ist, wenn vielmehr gilt: „In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse", ist dann nicht jede noch so konkrete Psychologie im landläufigen Wortsinn, eben weil sie das Geheimnis des psychischen Menschen dort sucht, wo es sich nicht befinden kann, nämlich in den Individuen, per definitionem vom spekulativen Humanismus durchdrungen, und bleibt sie damit nicht unvermeidlich hinter der marxistischen Wissenschaft, hinter der Wahrheit zurück? Ich halte diese Vorbehalte, die hier nur allzu flüchtig geschildert wurden, letzten Endes sämtlich für ungerechtfertigt, und ich möchte das begründen. Gewiß beruhen die Vorbehalte auf historischen Erfahrungen und kritischen Überlegungen, die im Prinzip unbestreitbar sind. Ganz im Gegenteil : Wenn es zutrifft, und ich bin dieser Ansicht, daß die psychologische Wissenschaft noch nicht zu ihrer Reife gelangt ist das heißt, sich in ihrer Vorstellung vom menschlichen Individuum noch nicht überall gleichermaßen und völlig von der bürgerlichen Ideologie gelöst hat - , was Wunder dann, daß sie zur Stunde einen Marxisten nicht befriedigen kann, besonders dann nicht, wenn er von ihr nicht nur die Untersuchung der isoliert betrachteten psychischen Funktionen erwartet, sondern vielmehr das Verständnis der Struktur und der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeiten in ihrer Gesamtheit und ohne Einschränkung. Um Mißverständnisse zu vermeiden, betone ich hier, daß die vorliegende Arbeit von Anfang bis Ende gerade diesen Standpunkt bezieht. Doch wenn die Konstituierung und Wachstum menschlicher Persönlichkeiten betreffenden theoretischen Probleme noch nicht völlig ausgereift sind, dann besagt diese faktische Unreife doch noch nichts gegen ihre von Rechts wegen gegebene Bedeutung. Sie unterstreicht eher die Verantwortung der marxistischen Wissenschaftler selbst

13 für ihren notwendigen Reifeprozeß. Sonst gerät man in folgenden Teufelskreis: Weil eine noch partiell in der bürgerlichen Ideologie befangene Psychologie nicht voll befriedigt, macht man sich nicht die Mühe, auf ihre Emanzipation hinzuwirken, und weil sie sich nicht von selbst emanzipiert, sieht man darin die Bestätigung dafür, daß sie diese Mühe nicht lohnt. Diesem Teufelskreis schuldhafter Unachtsamkeit sind drei Gruppen von unbestreitbaren Tatsachen entgegenzuhalten.

Psychologie und Politik Für die simple - und zum Teil richtige - Vorstellung, daß das politische und das psychologische Herangehen an ein Problem im Gegensatz zueinander stehen, ist der folgende Sachverhalt zwar verwirrend. Dennoch ist es nicht selten, daß gerade politische Kampfaktionen unerbittlich psychologische Probleme aufwerfen. Mit anderen Worten, und diese Bemerkung führt eigentlich viel weiter, als man üblicherweise zu gehen bereit ist: Mehr als ein politisches Problem ist mindestens zum Teil ein psychologisches Problem, das Millionen Menschen berührt. Für solche Fälle muß bei aller marxistischen Strenge anerkannt werden, daß der politische Kampf nur dann zum Ziel geführt und bisweilen ganz einfach nur dann geführt werden kann, wenn er sich auf eine wirklich wissenschaftliche Psychologie stützen kann. Nehmen wir das in jeder Hinsicht hochbedeutsame Beispiel des Kampfes der französischen demokratischen Kräfte gegen die Schulpolitik der gaullistischen Staatsmacht und ihren „Fouchet-Plan" der sechziger Jahre. Zunächst konnte es scheinen, als ob das Problem nichts mit Psychologie zu tun habe: In finanzieller Hinsicht wird die Schule der atomaren „Stoßkraft" und allgemein einer Aufteilung der verfügbaren Haushaltsmittel im Interesse der Monopole zum Opfer gebracht; in politisch-ideologischer Hinsicht wird die Jugenderziehung immer mehr dem Unternehmertum, den Kräften der Reaktion ausgeliefert. Aber damit ist die Hauptsache noch nicht erschöpfend erfaßt. Man hatte es außerdem, und im Grunde mehr mit einem weit umfassenderen Vorhaben zu tun: Das ganze Bildungswesen sollte so reformiert werden, daß es zwar nicht den demokratisch gesehenen Erfordernissen der nationalen Entwicklung, wohl aber strikt dem Arbeitskräftebedarf des im erbitterten intermonopolistischen Konkurrenzkampf stehenden Großkapitals entspricht, dem das Recht der Masse der Kinder des Volkes auf Bildung einen Dreck wert ist. Die Reform mußte folglich die sozialen Ungleichheiten verschärfen. Und das sollte wohlgemerkt nicht offen im Namen einer Klassenpolitik geschehen, sondern unter dem „objektiven" Vorwand, daß die Kinder aus dem Volk meist nicht „begabt*4 genug sind, um jenes Recht nutzen zu können. Der Verfechter einer solchen Politik sagt: Sehen Sie doch, ich bin Demokrat; nur die Anlagen kommen in Betracht, wenn die Kinder orientiert werden sollen, das eine

14 auf den kurzen Bildungsweg und auf untergeordnete Beschäftigungen, das andere auf den langen Bildungsweg und auf leitende Funktionen. Nur „vergißt" der Mann - unter anderem - zu erwähnen, wie sehr die unbestreitbar konstatierte Ungleichheit der geistigen Fähigkeiten durch die Ungleichheit der sozialen Bedingungen und das Netz ihrer sich lawinenartig verstärkenden Auswirkungen massiv vorherbestimmt ist So läuft die Auswahl auf Grund der Anlagen, in tiefstem Gegensatz zur vielgestaltigen Mühe einer demokratischen Schule um die Förderung aller trotz des Wirkens der Klassenungleichheiten, schließlich darauf hinaus, daß die Verantwortung für eine Politik des kulturellen Malthusianismus und der sozialen Diskriminierung auf die „Natur" abgewälzt wird. „Es gibt zwei Pyramiden", behauptet ein Theoretiker dieser Politik kühn, „nämlich zum einen die der Gesellschaft; sie entspricht mit ihrer Hierarchie der Natur. Zum anderen gibt es die Pyramide der Anlagen. Die beiden Pyramiden haben per definitionem denselben Umriß. Das Problem besteht einfach darin, sie zur Deckung zu bringen."2 Hier nimmt die Politik des Monopolkapitals die Gestalt eines -pädagogischen Manövers großen Stils an. Pädagogik ist aber, ob man will oder nicht, eine unlösbare Einheit von Politik und Psychologie. Um in der Kritik einer solchen Politik den Dingen auf den Grund zu gehen, muß man somit auch Psychologie betreiben - wissenschaftliche Psychologie. Denn wenn die psychologische Theorie von der angeborenen geistigen Ungleichheit, das Musterbild einer „volkstümlichen" Theorie, einer Theorie, die selbst Gebildete für „evident" halten, wenn also diese gründlich irreführende Theorie zuträfe, dann könnte man einer solchen Schulpolitik zwar immer noch viel vorwerfen, besonders die krasse Unzulänglichkeit der Bemühungen um einen demokratisch gesinnten Ausgleich des „natürlichen" Intelligenzgefälles. Doch das Prinzip selbst, das als zwangsläufige Folge jener „natürlichen" und per definitionem „ewigen" Ungleichheit hingestellte Prinzip einer Diskriminierung zwischen den Privilegierten mit dem langen Bildungsweg und den Zurückgesetzten mit dem kurzen Bildungsweg bliebe eine Sache, gegen die sich nichts einwenden ließe, der gegenüber alle Vorschläge im Sinne des Langevin-Wallon-Plans und darüber hinaus im Sinne einer sozialistischen Schule utopisch oder demagogisch wären. Das heißt, man müßte gerade die schlimmste Seite einer Schulpolitik nach Wunsch des Großkapitals von der Grundlage her gelten lassen. Also ist die Widerlegung der bürgerlichen Ideologie von den besonderen „Geistesgaben", die wissenschaftliche Theorie der Herausbildung geistiger Fähigkeiten, die in letzter Instanz die gesamte Theorie der Persönlichkeit verlangt, bei weitem nicht geistiger Luxus oder fragwürdige Bekräftigung der 2 J. Capelle: Le Nouveau Candide, Nr. 229, 13.-19. September 1965, „Tout doit changer dans renseignement", mit J. Rueff, L. Armand, M. Demonque und P. Uri, S. 35.

V.

15 politischen Argumentation, sondern wesentlicher Bestandteil der Sache selbst. Die Verteidigung, die Veranschaulichung und künftige Durchführung eines wahrhaft demokratischen Plans für eine Bildungsreform gemäß den Grundsätzen, die vor nun zwanzig Jahren von der LangevinWallon-Kommission aufgestellt wurden3, wären ganz einfach unmöglich, wenn man die psychologischen Gesichtspunkte außer acht ließe, denn ohne sie könnte man diesen Plan nicht als das sehen, was er wirklich ist: nicht bloß ein „hochherziger" Plan, sondern ein realistischer Plan, nicht ein demokratischer Plan schlechthin, sondern ein wissenschaftlicher Plan. Wir wollen sogar folgende Frage aufwerfen : Hat man immer deutlich genug vor Augen, daß die französische Bewegung für eine demokratische Schule, wenn sie den festen Halt des Langevin-Wallon-Plans besaß, diese unschätzbar wertvolle politische Waffe großenteils den Fortschritten der französischen wissenschaftlichen Psychologie der Vorkriegszeit zu verdanken hat, Ergebnissen der Vorstöße großer materialistischer Wissenschaftler wie Walion und Piéron, die dann später bei der Ausarbeitung dieses Plans persönlich eine erhebliche Rolle spielten? Das ist ein eindringliches Beispiel für die konkrete politische Bedeutung der Psychologie, eine Bedeutung, die besonders einem Marxisten zu denken geben muß. Vielleicht scheint das Beispiel als Sonderfall, als Ausnahme. Weit gefehlt! In Wirklichkeit ist das Beispiel allgemeingültig", wie man sicher dann besser erkennen wird, wenn man etwas häufiger und intensiver in dieser Richtung nachdenkt. Aber nehmen wir ein anderes, noch zentraler gelegenes Gebiet, die politische Ökonomie und die äußerst, bedeutsamen Kampfaktionen um soziale Forderungen, über die sie näheren Aufschluß gibt. Es kann zunächst scheinen, als ob die Psychologie hier ebensowenig zu suchen habe, mehr noch, daß es von Grund auf falsch sei, psychologisch an diese Fragen heranzugehen. Und das ist in gewisser Hinsicht wahr: das Verwandeln der ökonomischen Widersprüche in psychologische Probleme gehört zu den klassischen Taschenspielertricks der bürgerlichen Ideologie. Dennoch erfordert zum Beispiel ein so entscheidendes ökonomisches Problem wie die absolute Verelendung die völlige Klärung der mit dem Bedürfnis - einem Grundbegriff der Theorie der Persönlichkeit - zusammenhängenden psychologischen Probleme. In der Tat: Wenn die abstrakte, ahistorische Bedürfniskonzeption, deren Fehlerhaftigkeit niemand gründlicher gezeigt hat als Marx, richtig wäre, dann ließe sich die absolute Verelendung der Werktätigen, diese kraß augenfällige Realität auch des heutigen Kapitalismus, einfach nicht vollständig erfassen. Bedeutet sie doch, daß die Grundtendenz der ökonomischen Entwicklung darin besteht, die Befriedigung nicht irgendwelcher „ewiger" Bedürfnisse - die angeblich 3 Siehe: Propositions pour une réforme démocratique de l'enseignement, ausgearbeitet von der Französischen Kommunistischen Partei, in L'École et la nation, Nr. 156, Februar 1967.

16 „ewigen" Bedürfnisse sind in Wirklichkeit nur die zu unveränderlichen Abstraktionen gemachten Bedürfnisse von gestern - , sondern der sich objektiv mit den Arbeitsbedingungen und mit der Gesellschaft selbst entwickelnden und mannigfaltiger werdenden Bedürfnisse der Werktätigen immer mehr zu erschwerend So wie die schäbigen psychologischen Tricks in der Frage der „besonderen Gaben" die wahren Ursachen und die wahren Schuldigen für das unaufhörliche Anschwellen der Masse der Sitzenbleiber und . der schulischen Fehlleistungen tarnen und dadurch dem Aufschwung der Massenaktionen für eine demokratische Schule entgegenwirken, so haben auch die schäbigen psychologischen Tricks in der Frage der Bedürfnisse - das Herstellen von Bezügen zu einer angeblich unveränderlichen menschlichen Natur, aber nicht zu den tatsächlich determinierenden gesellschaftlichen Bedingungen - durch das Verdunkeln der Wege und Wirkungen der kapitalistischen Ausbeutung und durch das Erwecken der Illusion, die Lebensverhältnisse der Werktätigen kämen mit den Fortschritten der Produktivkräfte im Selbstlauf voran, eine greifbar schädliche Wirkung auf die Entfaltung der Kampfaktionen gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Monopole. Auch hier gibt es Stoff zum Nachdenken für einen Marxisten, zum Nachdenken über die enge Verbindung von Psychologie und Politik, über die Bedeutung der Theorie der Persönlichkeit für konkrete politische Kampfaktionen. Man bedenke, falls noch weitere Beispiele nötig sind, die Rolle der Psychologie - die eigentlich erforderliche Rolle einer wissenschaftlichen Psychologie - im Bemühen um ideologische Klärung und um die Verstärkung der politischen Kampfaktionen bezüglich der Beziehungen zwischen den sozialen Gruppen - der „menschlichen Beziehungen" im Betrieb, der Beziehungen zwischen „Rassen", „Geschlechtern", „Generationen" usw., im letztgenannten Fall zum Beispiel durch restloses, im Zusammenwirken mit'der. politischen Analysetätigkeit vorgenommenes Durchleuchten soundso vieler irreführender, aber nicht einfach zu ignorierender psychologischer Variationen über das Thema Jugend. Müßte ferner nicht auch auf dem Weg einer wissenschaftlichen Theorie der Entwicklung (und damit auch der ungleichmäßigen Entwicklung) der Persönlichkeit, die nicht am politischen Hintergrund der Dinge vorbeiginge, sondern im Gegenteil zu dessen Aufklärung beitrüge, stärker als bisher der zählebige Führerkult, die abergläubische Verehrung des bewundernswerten großen Menschen, ja eine bestimmte Mythologie des „Genies" angegriffen werden? Müßte man nicht dafür sorgen, daß das Prestige solcher Gestalten schwindet, damit die Notwendigkeit der Demokratie stärker hervortritt? Oder noch allgemeiner: Wie soll die politische Massenbewegung ihre volle Kraft erhalten, wenn nicht auf die umfassende Entwicklung der Bewußtheit hingearbeitet, also jeder 4 Siehe 2um Beispiel: Karl Marx: Lohnarbeit und Kapital. In: Marx/Engels; Werke, Bd. 6, S. 414 ff.

17 Herd ideologischer Irreführung bekämpft wird? Wie aber soll ohne wissenschaftliche Auffassung von der Persönlichkeit ein energischer Kampf - nicht in Scharmützeln um Details, sondern in einer mächtigen Gesamtkampagne - gegen jenen Riesenkomplex abergläubischer Vorstellungen geführt werden, jenen ungeheuerlichen und zweifellos für unsere Zeit besonders bezeichnenden Komplex, der sich da erstreckt von der alten, grobeji, resignierten Psychologie des Gewohnheitsglaubens an „Atavismen", an Geistes- und Herzens„gaben" und -„fehler", bis zur „modernen", von Illustrierten und von einer Flut primitivster „populärwissenschaftlicher" Schriften verbreiteten Psychologie testologischer oder charakterologischer Machart; von der verzuckernden Alltagspsychologie des Romans in Bildern, der „wahren Begebenheiten" und der Fernsehfeuilletons made in USA bis zur gelehrt irreführenden Psychologie à la Science fiction; von den Wolkenhöhen „strenger" Psychologie in spiritualistischen Lehrbüchern und im ethischen Humanismus bis zu den Abgründen der Psychologie der Horoskope, der astrologischen Blätter und der „Tierkreisführer", von zahllosen anderen zu schweigen. Das ist ein unerhörter, unentwirrbarer Komplex von abergläubischen Vorstellungen verschiedenster Stufen, die den Weg zum Begreifen des wirklichen Lebens völlig verbauen, jede Manipulierung begünstigen und, was noch wesentlicher ist, ganz einfach breite Massen in Unkenntnis über die wahren psychologischen Probleme und Ausgangsgrößen belassen. Doch wenn man das psychologische Geschehen nicht begreift, kann man den Menschen nicht wahrhaft begreifen; das soll aaif den folgenden Seiten bewiesen werden. Und wenn man den Menschen nicht begreift, dann begreift man überhaupt nichts.

Psychologie und

Anthropologie

Die letzte Bemerkung gibt Anlaß, das Problem mehr auf theoretischer Ebene zu untersuchen. Bis hierher schien die Psychologie für den Marxismus nur in der Praxis und nur im Detail von Belang: diese und jene Seite der Theorie der Persönlichkeit sind wichtig für diese oder jene politische Kampfaktion, ja allgemein für den politischen Kampf. Aber das ist längst nicht; alles : Der Marxismus als geschlossenes wissenschaftliches Ganzes verlangt notwendig die Theorie der Persönlichkeit. Der Sektor, den sie dort einnimmt, ist heute ausschlaggebend für die Weiterentwicklung der Forschung. Daß der dialektische und der historische Materialismus zugleich diese Theorie fordert und nahelegt, wird im nächsten Kapitel ausführlich untersucht; doch schon jetzt ist zumindest ersichtlich, daß für Marx die sozialistische Revolution gerade deswegen gewiß ist, weil die Zuspitzung der charakteristischen Widersprüche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse für die Ausgebeuteten in ihrer Existenz als Individuen unerträglich wird und weil die Proletarier, nach einem sehr bemerkenswerten Satz aus der Deutschen Ideologie, 2 Sève, Persönlichkeit

18 „den Staat stürzen müssen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen"5. Damit ist gesagt, in welcher Tiefe - und dieser Punkt muß genau erfaßt werden - Psychologie der Persönlichkeit, historischer Materialismus und wissenschaftlicher Sozialismus miteinander verknüpft werden müssen. Es muß aber auch festgestellt werden, daß die marxistische Theorie dieser Verknüpfung noch nicht klar und überzeugend ausgearbeitet ist. Diese Frage, genauer gesagt dieser Fragenkomplex, nimmt heute in der Forschung des Marxismus und der Wissenschaften vom Menschen eine geradezu strategische Position ein. Seit Jahren und zweifellos noch für lange Zeit gibt es eine zentrale Frage, das ist die Frage der, wie wir vorbehaltlich näherer Prüfung nach einer verbreiteten Terminologie sagen wollen, Vermittlungen zwischen dem allgemein-gesellschaftlichen Prozeß, als dessen Theorie der historische Materialismus bei immer breiteren Kreisen anerkannt, wenn auch nicht immer richtig begriffen wird, und dem Leben der Individuen. Und diese Frage betrifft in erster Linie selbstverständlich alle Probleme der Grundlegung der Psychologie. Das brachte zum Beispiel J.-P. Sartre in der Einleitung zu seiner Critique de la raison dialectique zum Ausdruck. Er machte dort dem Marxismus mit Nachdruck den Vorwurf, er begnüge sich mit allgemeinsten gesellschaftspolitischen Schemata und kümmere sich nicht um den Einzelfall, nicht um das „gründliche Begreifen der wirklichen Menschen", die er, laut Sartre, „in einem Schwefelsäurebad auflöst"6. Das Ergebnis sei, wieder laut Sartre, „daß er völlig den Sinn dafür verloren hat, was ein Mensch ist: er hat nur die absurde Pawlowsche Psychologie als Füllgut für seine Lücken"7. Und deshalb hielt Sartre, trotz bekundeter Neigung zum historischen Materialismus, sein Festhalten am Existentialismus für gerechtfertigt. Der Existentialismus wolle nämlich, so schrieb er, „ohne den marxistischen Thesen untreu zu sein, die Vermittlungen auffinden, die es ermöglichen, das Einmalig-Konkrete, den realen, datierten Kampf, die Person aus den allgemeinen Widersprüchen von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen hervorzubringen"8. „Und andere", so ergänzte er in einer Art, die zu denken geben muß, „andere werden das, solange sich der Marxismus davor verschließt, an seiner Stelle versuchen."9 Natürlich läßt sich vieles gegen Sartre vorbringen, ist auch schon vieles vorgebracht worden; ich gehe darauf noch ein. Dennoch ist nicht zu bezweifeln, daß viele Intellektuelle ihrerseits zwar nicht immer die 5 Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. In: Werke, Bd. 3, S. 77. Siehe auch ebenda, S. 270 f., 362 f. 6 J.-P. Sartre: Critique de la raison dialectique, 1960, S. 37. 7 Ebenda, S. 58. 8 Ebenda, S. 45. 9 Ebenda, S. 58.

19 Thesen, wohl aber das Anliegen aufgreifen oder aufgreifen möchten, das Sartre hier in seiner Sprache formuliert hat. Selbst wenn gezeigt wird, daß seine Sprache unangemessen ist, ist die darin aufgeworfene Frage noch nicht beantwortet. So kritisierte auch G.-G. Granger in Pensée formelle et sciences de l'homme die Pawlowsche Typologie als Pseudolösung der Begriffsbestimmung des Individuellen. Er schrieb ferner : „Die Pawlowsche Lehre, die bei weitem nicht den endgültigen Stand einer marxistischen Theorie der Persönlichkeit darstellen kann die Wörter endgültig und marxistisch stehen ohnehin im Widerspruch - , darf nur als eine erste Etappe betrachtet werden ; sie ist völlig annehmbar als Entgegnung auf die Starrheit der »idealistischen4 Charakterologien, aber im jetzigen Kontext absolut unzulänglich und »mechanistisch4."10 Unschwer ließen sich noch mehr Zitate anführen. Im Augenblick fehlt also offenbar eine dem historischen Materialismus gemäße Theorie der Persönlichkeit. Das ist die grundlegende Tatsache. Ein solcher Zustand gibt Anlaß zu unaufhörlichen Versuchen einer mehr oder minder idealistischen „Vervollständigung" des Marxismus durch einen spekulativen Humanismus und ist zugleich auch, wenn er im Gegenteil als strukturbedingt und endgültig angesehen wird, eine der Quellen einer antihumanistischen Deutung, einer strukturalistischen Deutung, die die theoretische Legitimität des Menschenbegriffs und damit auch die Berechtigung jeglicher „Psychologie" - zugunsten einer neuen FreudLesart - bestreitet. Diese zweite Empfehlung für die Forschung führt uns jedoch auf einem Umweg genau wie die erste wieder zu dem entscheidenden Erfordernis, auf dem Boden des Marxismus die Aufbauprobleme einer wissenschaftlichen Anthropologie zu klären, und die Theorie der konkreten menschlichen Individualität gehört auf jeden Fall zu deren Hauptstücken. Muß noch hervorgehoben werden, wie wichtig eine solche Klärung gerade als „Vermittlung" zwischen vielen Intellektuellen, Humanwissenschaftlern und dem Marxismus sein könnte, als stichhaltiger Beweis dafür, daß das vorbehaltlose Bekenntnis zum Marxismus weder theoretisch noch praktisch irgendein Hinweggehen über den Menschen, kein Hinweggehen über die Erfordernisse wissenschaftlicher Strenge verlangt. Sehr vielen - namentlich theoretisch linksengagierten - Intellektuellen erscheint die Haltung zu den Problemen des menschlichen Individuums heute als Prüfstein für eine wahrhaft lebendige, wissenschaftlich adäquate, politisch verpflichtende Weltanschauung. Das Kriterium ist legitim. So kann bei vielen linken Intellektuellen, die sich mit der Arbeiterklasse verbünden oder zu ihr bekennen, die den komplizierten Weg zum historischen Materialismus und zum wissenschaftlichen Sozialismus gehen, gerade die Tatsache, daß der Marxismus heute noch keine 10 G.-G. Granger: Pensée formelle et sciences de l'homme, 1960, S. 199. 2*

20 klare, kohärente Theorie des konkreten Individuums und der vielen davon abhängenden Probleme bietet, eine objektiv negative Rolle spielen. Sie liefert Nährstoff für die fruchtlosen, aber immer wieder unternommenen Versuche, den Marxismus mit anderen Theorien der Individualität und entsprechenden anthropologischen, ethischen und ästhetischen Ansichten zu verbinden, die sich auf einer dem Marxismus völlig fremden Grundlage oder gar gegen ihn herausgebildet haben, nun nach den Erfordernissen der Sache mit mehr oder weniger linker Prägung versehen werden und doch ihr nichtmarxistisches Wesen behalten, was bei diesen Intellektuellen einen tiefgreifenden Zwiespalt in der Denkweise verewigt, einen Riß im theoretischen Bewußtsein, durch den in letzter Instanz die bürgerliche Ideologie eindringt. Die letzten Ursachen für diesen Stand der Dinge sind natürlich außerhalb der Sphäre der Ideologie zu suchen. Aber es ist durchaus nicht belanglos, daß das Zurückbleiben in der Ausarbeitung der Theorie der Persönlichkeit durch den Marxismus das Weiterbestehen einer ideologischen Konjunktur fördern kann, in der die Bewegung zu den Positionen der Arbeiterklasse bei sehr vielen Intellektuellen durch unbewältigte Bindungen an irreführende theoretische Positionen auf diesem Gebiet verzögert wird. Das Wesentlichste ist jedoch, daß die wissenschaftliche Klärung der oben definierten Fragen vor allem für den Marxismus selbst eine wichtige Errungenschaft wäre. Wichtig zunächst für die aktuelle Aufarbeitung einiger Fragen der Psychoanalyse, des Pawlowismus als Psychologie, des Dramabegriffs bei Politzer usw. bis hin zu den Spielarten des „anthropologischen Strukturalismus". Wertvoll ferner auch für die weitere wissenschaftliche, über subjektive Standpunkte hinausführende Ausarbeitung wichtiger Fragen, für die Unsicherheiten in der Theorie der Persönlichkeit einen Engpaß darstellen: das Verhältnis zwischen historischer Notwendigkeit und individueller Freiheit, ferner zwischen Psychologie einerseits und Epistemologie, Ethik, Ästhetik andererseits. Unschätzbar wertvoll schließlich und vor allem für die Sicherung eines richtigen Marxismusbegriffs; denn davon, welchen Platz jemand dem Menschen in der Gesamtkonzeption des Marxismus einräumt oder verwehrt und welche Vorstellung er von der entsprechenden Theorie der Subjektivität bzw. der Individualität hat, ist abhängig, wie weit die Prinzipien des Marxismus verstanden werden - und das kann einerseits bei Stimmungmache für ein Zurückgehen zum spekulativen Humanismus, aus dem er herausgewachsen ist, und andererseits beim Zusammenstutzen auf einzelne, von ihm hervorgebrachte wissenschaftliche Thesen enden. Die Klärung jener Fragen wäre, kurz gesagt, eine bedeutende Errungenschaft für die Vollendung - auf den Sinn muß noch sorgfältig eingegangen werden - der marxistischen Auffassung vom Menschen. Das ist der Gradmesser für die Bedeutung, die die Wissenschaft von der menschlichen Persönlichkeit heute unter allen Wissenschaften und für einen Marxisten besitzt.

21 Ausblick ouf die Zukunft der Psychologie der Persönlichkeit Schon jetzt in vielen politischen Kämpfen als Wissenschaft konkret notwendig, zu einem entscheidenden Bereich der theoretischen Forschung geworden, ist die Psychologie im obengenannten allgemeinen Sinne noch mehr eine Zukunftswissenschaft, eine Wissenschaft, deren Rolle mit der Durchsetzung einer echten Demokratie, mit dem Übergang zum Sozialismus und der Entfaltung des Kommunismus noch weitaus größer werden muß. Man versuche sich zum Beispiel den Umfang und die Vielfalt der psychologischen Probleme vorzustellen, die die Durchführung einer wahrhaft demokratischen Bildungsreform aufwerfen wird, mit alledem, was dazugehört: vielgestaltige Bemühungen um die Entwicklung der Fähigkeiten eines jeden Kindes, Aufstellung eines gut durchdachten umfassenden Förderungssystems, Umwälzung des alten LehrerSchüler-Eltern-Verhältnisses, Entfaltung der Formen individueller Freiheit in einem demokratischen Schulkollektiv usw. - und folglich auch gründlicheres Erfassen der theoretischen Probleme der Pädagogik. Dieser eüorme Bedarf im Bereich der theoretisch-psychologischen Grundlagen, den die Bildungsreform erzeugt, wird ergänzt durch die nicht weniger enormen Ansprüche, die sich aus der Aufstellung und Verwirklichung eines umfassenden Plans zur Entwicklung der Produktion und folglich aus der rationalen Suche nach ökonomischen Stimuli ergeben. Dazu kommt weiter der Bedarf, der sich aus Problemen des Städtebaus ergibt, die mit der Neuorientierung der Wohnungspolitik auf die werktätigen Massen zugespitzt auftreten werden, oder aus Fragen der Freizeitgestaltung, schließlich aus der erforderlichen Änderung der Haltung von Millionen Menschen zum Staat, zum öffentlichen Eigentum, zum Gesetz, zur Rechtspflege usw., wenn sich deren objektiver Sinn radikal wandelt. Die demokratischen Umgestaltungen im Frankreich von morgen werden der Wissenschaft von der Persönlichkeit viel abverlangen. Um ihre künftige Bedeutung zu ermessen, sollte man vorausblicken, bis zum Kommunismus. Wird in dieser Hinsicht schon genügend beachtet, daß dann, wenn die Klassiker des Marxismus die kommunistische Gesellschaft definieren und sie analysieren, unter ihren Schlüsselbegriffen einige psychologische Begriffe auftreten, die plötzlich und für Verächter der Psychologie - eigenartigerweise als höhere Form der ökonomischen und politischen Kategorien figurieren? So bei der Definition der Verteilung in der kommunistischen Gesellschaft, wo das Prinzip nicht mehr heißt: „Jedem nach seiner Leistung", wie im Sozialismus, sondern: „Jedem nach seinen Bedürfnissen" - eine Definition, in der der Begriff Bedürfnis (und zwar Bedürfnis eines jeden, persönliches Bedürfnis) mit einem Mal den Rang einer ökonomischen Hauptkategorie erhält. So auch beim Absterben des Staates im Kommunismus, wo

22 Lenin zeigt, daß der Staat in seiner Funktion als Regierung über Menschen immer mehr durch die Gewohnheit als höhere Form der vollständig gewordenen Demokratie abgelöst wird. Hier wird ein psychologischer Begriff auf die Stufe einer zentralen politischen Kategorie erhoben. Allgemein kann gesagt werden, daß sich nach dem vieltausendjährigen Zeitalter, in dem das Wachstum der Persönlichkeiten, zumindest für die Masse der Menschen, und folglich auch der psychologische Gesichtspunkt wesentlich den ökonomischen und politischen Geboten der herrschenden Klasse untergeordnet war, das Verhältnis im Kommunismus schließlich umkehrt, so daß - weil diese Gesellschaft erstmals effektiv die Maxime „Alles für den Menschen" haben kann - letzten Endes das optimale Wachstum der Persönlichkeiten auf der jeweiligen Entwicklungsstufe der Produktivkräfte und der Kultur zum vorherrschenden Gebot (und Instrument) der Gesellschaft wird. Damit ist zugleich gesagt, daß der Kommunismus eine unerhörte theoretische und praktische Förderung der Wissenschaft von der Entwicklung menschlicher Persönlichkeiten garantiert und auch erfordert. Hier kommen wir auf die tiefere Ursache aller Einzelgründe, warum die Psychologie vom Marxismus als sehr entscheidende Disziplin angesehen werden muß. Wenn es zutrifft, daß eine wissenschaftliche Psychologie im Prinzip das theoretische Mittel ist, mit dessen Hilfe die einzelnen Menschen ihr psychisches Wachstum selbst in die Hand nehmen können, dann ist die psychologische Wissenschaft nicht nur ein wesentliches instrument für den Kommunismus als allgemeinem Prozeß der menschlichen Emanzipation: dann ist sie organischer Bestandteil dieses Prozesses. Gleichzeitig werden außerordentliche Zukunftsmöglichkeiten konkreter faßlich. Es trifft zwar zu, daß die Menschheit als größte Befreiungstaten der Vergangenheit - und vielfach auch der Gegenwart - die Befreiungstaten elementaren Charakters ansieht, Befreiung von Hunger, von Unsicherheit, von Unterdrückung und bestialischer Gewalt. Doch schon deutet sich an, daß in einer höheren Entwicklungsetappe eine Befreiungstat weit höherer Stufe an der Tagesordnung ist: die Befreiung von Anarchie und Verkrüpplung im psychischen Wachstum, und zwar nicht mehr nur für eine kleine Minderheit, sondern für alle Menschen. Mit anderen Worten: Wenn es zutrifft, daß der Kommunismus die Regierung über Menschen durch die Verwaltung von Sachen ablöst, dann kann man offenbar auch sagen, daß er im selben Zuge die Priorität der Produktion von Sachen durch die Priorität der Herausbildung der Menschen selbst ablösen wird. Das ist die volle Bedeutung des Satzes von Marx und Engels über den Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit, den die Menschen im Kommunismus tun könneji: „Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sogenannten Natur sowohl, wie seiner eignen Natur."11 11 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 387.

23 Selbstverständlich kann nicht die Psychologie, für sich genommen, je diese Herrschaft des Menschen über seine eigene „Natur" zuwege bringen. Das leistet der Kommunismus. Aber auch nicht der Kommunismus an und für sich, sondern der Kommunismus, dem die reif gewordene Wissenschaft von der Persönlichkeit in Fleisch und Blut übergegangen ist. Nichts unterstreicht besser, daß ein Marxist sie nicht geringschätzen darf.

Eine

unvollständig

ausgebildete

Wissenschaft

Alles in allem läßt sich, wenn die Idee auch zunächst überraschen mag, doch unschwer zeigen, daß die Theorie der Persönlichkeit auch für den Marxismus selbst erstrangige Bedeutung besitzt - selbst wenn das eine Reihe von Fragen aufwirft, die noch sorgfältig zu prüfen sind. Wenn ich dagegen sage, daß die Psychologie der Persönlichkeit, das heißt das Kernstück der allgemeinen Psychologie, trotz aller Bedeutung für Gegenwart und Zukunft noch keine reife Wissenschaft ist, dann hat diese Behauptung einige Aussicht, als sehr verschwommen, subjektiv, unbeweisbar und, mehr noch, als anmaßend zu gelten; schließlich entstammt sie der Feder eines Menschen, der in der Psychologie Laie ist - eines Philosophen. Das Urteil, daß die Psychologie der Persönlichkeit noch keine reife Wissenschaft ist, ist alles andere als stimmungsbedingt. Die Reife einer Wissenschaft ist ein präziser, objektiver, beweisbarer Sachverhalt. Die entsprechenden Kriterien können aus der Wissenschaftsgeschichte und aus der Erkenntnistheorie gewonnen werden. So war die politische Ökonomie vor Marx nicht voll ausgereift; mit seinem Werk kam sie zur Reife, hatte sie ihre wesentlichen Organe voll herausgebildet, konnte sie folglich alles das hervorbringen, was von einer derartigen Wissenschaft erwartet wird. Was sind nun diese wesentlichen Organe einer Wissenschaft? Das sind eine Definition, mittels derer das spezifische Wesen ihres Gegenstandes exakt erfaßt wird, und, im Zusammenhang mit dieser Definition, die angemessene Untersuchungsmethode für diesen Gegenstand. Das sind weiter die Grundbegriffe, mittels derer die Hauptelemente und vor allem die bestimmenden Widersprüche dieses Wesens zum Ausdruck gebracht werden - insgesamt also jene Organe, die es ermöglichen, mit Aussicht auf Erfolg nach den grundlegenden Entwicklungsgesetzen des untersuchten Gegenstands zu forschen und dadurch den Weg zur theoretischen und praktischen Beherrschung dieses Gegenstandes zu bahnen, soweit dies von der betreffenden Wissenschaft abhängt - darauf zielt die Wissenschaft. Definition und Methode, Grundbegriffe, grundlegende Entwicklungsgesetze, diese wieder bis zu

24 einem Wahrheitsgrad, der anzeigt, daß die Periode des Vortastens beendet ist - das sind präzise, objektive, nachweisbare Kriterien für die Ausgereiftheit einer Wissenschaft. In keiner Hinsicht erscheint die Psychologie der Persönlichkeit folglich auch, streng genommen, der Gesamtbereich der Psychologie bzw. der psychologischen Wissenschaften - voll ausgereift. Das ist nicht die Meinung eines Amateurs; es ist die allgemeine Ansicht professioneller Psychologen. „Wissenschaft in vollem Aufschwung, aber noch sehr jugendlich" - so etwa lautet die Einschätzung, die sich in Bilanzen und Diagnosen der Fachleute am häufigsten findet. Und diese Jugendlichkeit, das heißt faktisch diese fortdauernde Unreife, offenbart sich schon in der Unsicherheit, die in der Psychologie noch hinsichtlich der wichtigsten Lebensfrage einer jeden Wissenschaft herrscht: der genauen Gegenstandsbestimmung, der genauen Umrisse ihres Gebiets, des Wesens desjenigen, dessen Wissenschaft sie sein will.

Definitionsprobleme In ihrer bedeutsamen gemeinsamen Erklärung vom Mai 1957 haben fünf sowjetische Psychologen, hervorragende Wissenschaftler, ihre Übereinstimmung in wichtigen Punkten betont und zugleich anerkannt, daß unter ihnen „ernste Meinungsverschiedenheiten in einer ganzen Reihe von theoretischen Fragen bestehen, insbesondere in Fragen, die den Gegenstand der Psychologie betreffen"12. Man braucht kaum damit zu rechnen, daß jemand einem entgegentritt, wenn man sagt, daß die Situation unter den französischen Psychologen auch heute noch ähnlich ist - selbst dann, wenn man nur diejenigen betrachtet, die sich zum Marxismus bekennen. Herrscht nicht in aller Welt die gleiche Situation? Gerade das ist seit mehreren Jahrzehnten eine äußerst merkwürdige Besonderheit der Psychologie: daß sie bei der Untersuchung ihres Gegenstands rasch vorankommt und doch noch nicht genau weiß, worin dieser Gegenstand besteht. 1929 sagte Pierre Janet in einer seiner letzten Vorlesungen zum Thema: Die psychologische Entwicklung der Persönlichkeit: „Die Konzeption einer Wissenschaft ist stets eine sehr schwierige und sehr unbestimmte Angelegenheit. Fast immer betreibt man wissenschaftliche Untersuchungen so, daß man nicht recht weiß, was man macht und wohin man geht. Diese Schwierigkeit scheint mir vor allem dann offenkundig zu sein, wenn es sich um die psychologische Wissenschaft handelt, die neueste und bewegendste Wissenschaft."13 Dreißig Jahre danach nannte Henri Wallon die Psychologie eine 12 La Raison, 1957, Nr. 19, S. 98. 13 P. Janet: L'évolution psychologique de la personnalité, S. 535.

25 „Wissenschaft mit noch unklarem Bereich und mit mehr oder minder unsicheren Methoden"14, und René Zazzo schrieb in demselben Sinne: „Die Psychologie war in ihrer Entwicklung weit schneller als in ihrem Vermögen, sich selbst zu bestimmen, und die aufstrebende Kurve ihrer Errungenschaften und die Errungenschaften der Nachbarwissenschaften haben nicht vermocht, Stufe für Stufe fortschreitend eine echte Definition herauszubilden."15 In noch jüngerer Zeit hat Jean Piaget in Sagesse et illusions de la philosophie, wo er durchgängig und gegen die unverbesserliche Gängelei durch die Philosophen die Mündigkeit der Psychologie verteidigt, zugleich unumwunden „den noch lückenhaften Charakter dieser noch jungen Wissenschaft"16 zugegeben und folgende Behauptung von Paul Fraisse zustimmend zitiert: „Der Bereich, den sie erobert hat, wird immer größer, doch er ist noch kaum erschlossen."17 Andere gehen noch weiter. Auf die direkte Frage „Was ist die Psychologie?" entgegnete Michel Foucault: „Es ist öffentlich bekannt, daß der wissenschaftliche Status der Psychologie erstens nicht wohlbegründet und zum andern überhaupt nicht klar ist."1® Und an anderer Stelle ganz unbefangen: „Ich denke, man sollte nicht versuchen, die Psychologie als Wissenschaft zu definieren."19 Offenbar hat Prof. A. N. Leontjew im Namen aller Psychologen gesprochen, als er in seiner Eröffnungsansprache auf ihrem XVIII. Kongreß (Moskau, August 1966) zunächst feststellte, „die Psychologie durchläuft eine Periode stürmischer Entwicklung", und dann hinzufügte : „Diese unbestreitbaren Fortschritte sollten jedoch nicht verdecken, daß die Psychologie bis auf den heutigen Tag noch vor ernstlichen Schwierigkeiten steht. Diese Schwierigkeiten betreffen die theoretische Interpretation der gesammelten Fakten, den Aufbau eines Systems der psychologischen Wissenschaft. Allerdings kann man einen Psychologen der Neuzeit nicht, wie es Nicolas Lange zu Beginn unseres Jahrhunderts getan hat, mit Priamos auf den Trümmern von Troja vergleichen. Heute wäre der Psychologe eher ein Baumeister, der hochwertiges Material im Überfluß und sogar fertige Ensembles vor sich hat, aber keinen Generalplan für das äußerst komplizierte architektonische Ganze, das er zu errichten hat. Ist dieser Kontext nicht die Ursache für den Eindruck, daß in der psychologischen Theorie eine gewisse Anarchie herrscht?"20 14 H. Wallon: Fondements métaphysiques ou fondements dialectiques de la psychologie? In: La Nouvelle Critique, November 1958, Nr. 100, S. 141. 15 R. Zazzo: Les jumeaux, le couple et la personne, 1960, Bd. I, S. 22. 16 J. Piaget: Sagesse et illusions de la philosophie, 1965, S. 254. 17 Zit. in: Ebenda, S. 254. 18 Philosophie et psychologie. Sendung des Schulfernsehens vom 6. 3. 1965. 19 Unterrichtsbogen der obenerwähnten Sendung, S. 1. 20 A. N. Leontjew: Discours d'inauguration au XVIII e Congrès international de psychologie. In: Bulletin de psychologie, Dezember 1966, S. 236.

26 Diese Texte, die sich mühelos durch viele andere ergänzen ließen, rücken den Hauptpunkt vor Augen: Wenn die Psychologie zwar unerhörte Fortschritte erzielt, insgesamt aber bisher noch keine ausgereifte Wissenschaft ist, dann deswegen, weil es in der Frage, von der alles abhängt, noch keine entscheidenden Fortschritte gibt: in der Frage nach dem Gesamtplan ihres Bereichs, nach dem Zusammenhang ihrer Gegenstände. Und deswegen ist die theoretische Unreife auch sehr unterschiedlich ausgeprägt. Bei der Untersuchung dieser oder jener Form des Verhaltens ist sie kaum merklich, doch sie erreicht den Gipfel genau da, wo es um das Ganze geht, wo alle Grundprobleme zusammenlaufen in der Theorie der Persönlichkeit. Auch das ist keine subjektive Ansicht: es ist das allgemeine Urteil der Leute vom Fach. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur die Verhandlungen des Symposiums der Vereinigung für französischsprachige wissenschaftliche Psychologie in Lüttich (1964) zur Frage der Persönlichkeitsmodelle in der Psychologie zur Kenntnis zu nehmen. In ihrem Bericht unterbreitet Frau de Montmollin gleich eingangs „den Gedanken, daß kein gegenwärtig vorhandenes Persönlichkeitsmodell simultan und kohärent alle Aspekte des Problems erfaßt"21. Überdies gilt, wie F. Bresson hervorhebt: „Frappierend wirkt zunächst eine gewisse Heterogenität : Faktorenanalyse und Psychoanalyse, die psychopathologischen Theorien und die Analysen K. Lewins zeigen kaum gemeinsame Züge. Wenn wir Berichte über die Pawlowsche oder über Sheldons Typologie, über die von Hull oder Tolman ausgehenden Theorien gehabt hätten, dann wäre diese Heterogenität noch größer geworden. Der einzige verbindende Zug ist offenbar das Wort »Persönlichkeit4, aber wir können bezweifeln, daß es in diesen verschiedenen Bezugssystemen dieselbe Bedeutung hat."22 Gehen wir noch weiter: Ist die „Persönlichkeit" überhaupt ein echter Wissènschaftsgegenstand? Das erscheint mehr als einem zweifelhaft. „Ich habe Persönlichkeitsmodell gesagt", erklärt D. Lagache, „um mich zu dem vorgeschlagenen Thema den Berichterstattern dieses Kongresses anzuschließen. Ich frage mich aber, ob in psychologischen Kreisen nicht ein Persönlichkeitskult herrscht. Für mein Teil möchte ich sagen, daß es die Persönlichkeit als solche nicht gibt: es gibt Relationsgefüge. Aber die Persönlichkeit selbst ist nichts als ein Modell."23 L. Canestrelli sagt, daß die Persönlichkeit „eine Konstruktion unseres Geistes"24 sei. Sind Persönlichkeitstheorien dann nicht bloße ideologische Konstruktionen? R. Pagès ist dieser Ansicht: „Die charakterologischen und personologischen Ideologien sind adaptative Merkmale bestimmter Gesellschaften. In ebendem Sinn untersuchen Ash und 21 22 23 24

Les modèles de la personnalité en psychologie, 1965. S. 11. Ebenda, S. 34 f. Ebenda, S. 133. Ebenda, S. 137.

27 Bruner mit Recht die semantischen Bezugssysteme der Vorstellung vom anderen und die impliziten Persönlichkeitstheorien, die sich daraus ergeben. Unsere wissenschaftliche Persönlichkeitspsychologie ist mehr oder minder unterschiedener Bestandteil der sowohl normativen wie kognitiven Ideologien, die diese Darstellungen bestimmen."25 P. Pichot meint seinerseits, daß Persönlichkeitsmodelle „als Widerschein der gesellschaftlichen Modelle betrachtet werden könnten. Es ist wahrscheinlich nicht nur Geistreichelei, wenn bemerkt wird, daß Spearmans hierarchisches Faktorenmodell nur in Großbritannien entstehen konnte, wo nach einer Formel, die so traditionell ist wie der Faktor g, the Queen is the fountain of honours, während Thurstones »demokratisches* Modell die amerikanische Gesellschaftsauffassung" widerspiegele.26 J. Nuttin zieht offenbar die treffendste Schlußfolgerung aus der ganzen Debatte, wenn er erklärt: „Der Wissenschaft wird kein Dienst geleistet, wenn man meint, man sei schon ,am Ziel', obwohl die wahren Probleme noch gar nicht in ihrer ganzen Komplexität wissenschaftlich angegangen werden konnten. Manchmal hat man den Eindruck, daß sich die Persönlichkeitspsychologie jetzt gerade in dieser Phase der Vorerkundung befindet."27 Folglich hat sich die Persönlichkeitspsychologie nach dem Urteil der Psychologen noch heute mit ungelösten Problemen der Gegenstandsbestimmung, der Abgrenzung ihres Gebiets auseinanderzusetzen. Worüber will man eigentlich theoretisieren, wenn ?nan darangeht, die Theorie der Persönlichkeit aufzubauen? Es ist klar, daß die Psychologie der Persönlichkeit solange, wie eine so entscheidende Frage nicht genügend beantwortet ist, noch in der „Vorerkundung" steckt, und daß es dann mit dem System der psychologischen Wissenschaft im allgemeinen, um mit Leontjew zu sprechen, noch gute Weile hat. Die Definitionsprobleme der Persönlichkeitspsychologie sind aber anscheinend nicht nur ungelöst, sondern auch unlösbar. Werfen wir zunächst, um beim elementarsten zu bleiben, das Problem der Spezifik der psychologischen Untersuchung der Persönlichkeit im Vergleich zum biologischen Herangehen (im weitesten Sinne) auf. Mit anderen Worten, stellen wir die allgemeine Frage nach der Definition des Psychischen als gesonderter Wissenschaftsgegenstand und vermutetes Substrat der Persönlichkeit hinsichtlich seiner Abgrenzung vom Gegenstand der neuro- und physiopsychologischen Forschungen. Man kann diese Grenze auf dreierlei Weise zu ziehen suchen; sie erschöpfen alle theoretischen Möglichkeiten und führen doch, wie es scheint, sämtlich in eine Sackgasse. 25 Ebenda, S. 161. 26 Ebenda, S. 171. 27 Ebenda, S. 145. - Aus diesem Urteil gewinnt J. Nuttin auch den Schluß seines Buches „La structure de la personnalité", 1965, S. 255.

28 a) Entweder definiert man das Psychische als Aktivität (oder als beliebiges Analogon), das sich dem Wesen nach von der entsprechenden Nerventätigkeit unterscheidet. In diesem Fall gelangt man unweigerlich zum idealistischen Dualismus von „Seele" und „Körper". Eine derartige Definition ist - auch in jeder ihrer möglichen „modernen" Varianten nur eine Abwandlung der alten metaphysischen Auffassung von der Psychologie als „Wissenschaft von der Seele", einer Auffassung, die beim jetzigen Erkenntnisstand definitiv unhaltbar ist, und erst recht für einen Marxisten. b) Oder man definiert das Psychische entgegengesetzt als Aktivität, die in Wirklichkeit nichts, anderes ist als die Nerventätigkeit. In diesem Fall kommt man nicht umhin, die Psychologie völlig zugunsten der biologischen Wissenschaften abzuschaffen. Dieser Vorgang ist bestenfalls noch befristet, so daß; fürs erste eine Psychologie ohne klar bestimmbaren Status das Brachland der künftigen entwickelten biologischen Wissenschaft beackern darf. Die Physiologie, so wird man etwa sagen, ist augenblicklich noch nicht imstande, gewisse sehr komplexe Aspekte des Psychischen grundsätzlich zu bestimmen, so daß die psychologische Bastelei noch eine Galgenfrist hat. Doch unerbittlich naht die Stunde, da eine wahrhaft 7naterialistische Psychologie, das heißt die Neurophysiologie der psychischen Aktivität, den Ring um die menschliche Psyche völlig schließt. Manche Interpreten des Pawlowismus haben in der Vergangenheit diesen Standpunkt verfochten, der auf die Liquidierung» einer jeden Psychologie als Wissenschaft hinausläuft, die der Neurophysiologie von Grund auf autonom gegenübersteht. Die Fehlrechnungen, die dieser Physiologismus verursacht hat, seine Sterilität in psychologischer Hinsicht, der Schaden, den er letztendlich dem Materialismus selbst zugefügt hat (weshalb, werden wir noch sehen) - dies alles ist derart nachteilig, daß er wohl heute kaum noch Anbänger findet. c) Es bleibt dann nur noch ein Ausweg: die Einheit von Psychologischem und Physiologischem, von Subjektivem und Objektivem zu behaupten und zugleich zu sagen, daß Psychologie und Neurophysiologie dennoch definitiv gesonderte Wissenschaften sind, weil sie den einheitlichen Gegenstand des Psychischen unter zwei verschiedenen Gesichtswinkeln untersuchen. Dann ist man der Lösung anscheinend um einen großen Schritt nähergekommen. Leider tritt das vorgenannte Dilemma wieder auf; die Bedingungen sind nur verschoben, nicht radikal behoben: Ist jener Unterschied ein subjektiver Unterschied der Standpunkte zu einem einheitlichen Gegenstand, oder beruht er vielmehr auf einer wirklichen Unterschiedlichkeit, die im Gegenstand liegt? Im ersten Fall kann man, wie man sich auch dreht und wendet, die definitive Existenz der Psychologie als von der Neurophysiologie gesonderte Wissenschaft nicht rechtfertigen. Die einzig vorstellbare Wissenschaft von einem und nur einem Gegenstand ist selbst eine und nur eine Wissenschaft. Einer per definitionem in den Grenzen einer Teilbetrachtung des Psychischen gehaltenen psychologischen Untersuchung, die subjektiv vom gegebenen neurophy-

29 siologischen Aspekt abstrahiert - und das heißt im betrachteten Fall ganz einfach von der effektiven Realität der psychischen Aktivität - , ist dann notwendig eine völlig einheitliche Untersuchung vorzuziehen, die von keinem gegebenen Aspekt abstrahiert, das heißt eine „Neurophysiopsychologie", die es versteht, die Stufe einer einheitlichen materialistischen Wissenschaft von der menschlichen Psyche zu erklimmen. Und man wird dann bestrebt sein, die zweite für die erste zu substituieren. Das zeigt sich bei dem Psychologen, der zweifellos am gründlichsten über dieses Problem nachgedacht hat. In Band III seiner Êpistémologie génétique meint Piaget, Psychologie und Physiologie stünden zueinander im Verhältnis „zweier ineinander übersetzbarer Redeweisen": der „idealistischen, implizierenden Redeweise" im ersten und der „realistischen oder kausalen Redeweise" im zweiten Fall. Selbst wenn man nun die Voraussetzungen dieser Betrachtungsweise gelten läßt, bleibt es dabei, daß diese „parallele" und „isomorphe" Dualität der psychologischen und der physiologischen Redeweise die Einheit ein und desselben Textes voraussetzt. Aber dann ist die Dualität der Lesarten dieses einheitlichen Textes in letzter Instanz nur zufällig, kann sie folglich nur vorübergehend, bestehen. Piaget gibt das zu ; nicht auszuschließen sei, so schreibt er, daß „sich Neurologie und Psychologie eines Tages gegenseitig assimilieren oder eine gemeinsame Wissenschaft nach Art der physikalischen Chemie' bilden"28. Wir möchten sagen, daß das sogar unvermeidlich scheint. Unter diesen Bedingungen kann die Psychologie, diese vorübergehende Etappe der Schaffung einer einheitlichen allgemeinen Wissenschaft von der menschlichen Psyche, an sich nicht als unabhängige Wissenschaft gelten. Kurz gesagt, man gerät auf einem großen Umweg und gleichsam rücklings unweigerlich in die Sackgasse b), und die Definition der Psychologie erweist sich als unlösbare Aufgabe. Gewiß hat sich im konkreten Wissenschaftsleben auf partiell empirische Art eine Arbeitsteilung entwickelt und herauskristallisiert, und es scheint, daß sie in der Praxis diesen gordischen Knoten der Theorie löst. In der Alltagsarbeit der so gebildeten Disziplinen sind diese ungelösten Abgrenzungsprobleme, das heißt im Grunde die Probleme, die das exakte Erfassen des Wesens der untersuchten Gegenstände betreffen, nicht immer manifest. Aber wenn es wirklich ernst wird - wenn zum Beispiel der Begriff Persönlichkeit klarzustellen ist - , dann treten die nicht gelösten theoretischen Anfangsfragen, der technische, pragmatische, das heißt im Grunde ideologische Charakter der Abgrenzung wieder in den Vordergrund, und man stellt fest, daß man trotz umfangreicher Forschungstätigkeit faktisch noch nicht über die Phase der „Vorerkundung" hinaus ist. So hatte auf dem Lütticher Symposium über Persönlichkeitsmodelle in der Psychologie der Neurophysiologe J.-R. Paillard bedauert, daß „der biologische Standpunkt in diesem Symposium mangelnden Ausdruck findet", und die Eröffnung eines Dialogs sowie die Suche nach 28 J. Piaget: Introduction à l'ëpistémologie génétique, 1950, Band III, S. 177 ff.

30 einer gemeinsamen Redeweise von Psychologen - oder Psychoanalytikern - und Neurophysiologen als erwünscht bezeichnet.29 Was wird darauf entgegnet? Nichts. Höchstens, daß D. Lagache ihn darauf hinweist, daß „es zur Stunde darauf ankommt, die Spezifik der jeweiligen Bereiche und Methoden weiter zu beachten" - eine Spezifik, deren Theorie von Rechts wegen absolut problematisch ist - , und die Perspektive einer Annäherung, „was allgemeine Modelle anbetrifft", auf den Zeitpunkt vertagt, da die Physiologie „ihr Augenmerk auf die inneren Stimuli gerichtet" hat.30 Kurz gesagt, man verschanzt sich angesichts dieser grundlegenden Frage einfach hinter einem De-facto-Zustand, dessen Rechtmäßigkeit man nicht klar nachweisen kann, der aber gerade anzeigt, daß die Psychologie im allgemeinen und die Persönlichkeitspsychologie im besonderen von ihrem Boden aus noch nicht zu einer ausgereiften Selbstdefinition gelangt ist. Diese unüberwindliche theoretische Schwierigkeit ließe sich vermeiden, wenn man nach der offensichtlich letzten theoretischen Möglichkeit die Dualität von psychologischem und physiologischem Gesichtswinkel durch eine im Psychischen selbst objektiv gegebene Dualität rechtfertigt. Da man aber gleichzeitig im Bestreben, den Idealismus der Hypothese a) absolut auszuschließen, das Psychische als wesentlich einheitlich betrachtet, sagt man damit, daß es zugleich, und zwar dem Wesen nach, Einheit und Dualität ist. Diese Auffassung ist keineswegs logisch unzulässig. Sie besagt ganz einfach, daß der Gegenstand einer unabhängigen Psychologie und die Nerventätigkeit innerhalb einer Einheit im Verhältnis echter Unterschiedlichkeit zueinander stehen, wie bei jedem dialektischen Widerspruch. Leider hat eine formal annehmbare Aussage nicht unbedingt schon konkreten wissenschaftlichen Sinn. Wie wir sehen, hat das Bemühen, jener abstrakten Formulierung eine klare und überzeugende wissenschaftliche Bedeutung zu geben, kein entscheidendes Ergebnis erbracht: Es entzieht sich bisher der Kenntnis, wie eigentlich jene Eigenheit des Psychischen beschaffen sein soll, die bewirkt, daß es sich qualitativ von der Nerventätigkeit unterscheidet und doch nichts anderes ist als diese. Das heißt, daß noch offenbleibt, wie die Untersuchung des Psychischen durch die Physiologie erschöpfend gestaltet wird und wie zugleich ein objektiv spezifisches Untersuchungsgebiet für eine selbständige Psychologie übrigbleiben kann. Kurz gesagt, die Sackgasse ist da. Selbstverständlich kann das alles auch zu den Methoden gesagt werden: dieselben Widersprüche finden sich auch im Verhältnis zwischen neurologischem und klinischem Herangehen und bei den verschiedenen Methoden der experimentellen Verhaltensforschung. Nicht besser scheint die Situation, wenn man diese Definitionsprobleme von der Seite der Beziehungen zwischen Psychologie und Gesellschaftswissenschaften her prüft: auch dort bleibt die echte Unter29 Les modèles de la personnalité en psychologie, S. 168. 30 Ebenda, S. 172.

31 schiedlichkeit innerhalb der dialektischen Einheit ziemlich dunkel. Tatsächlich kann man zunächst die Persönlichkeit von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie sich herausbildet, sondern; doch damit nimmt man sich jedes Mittel, mit dem man ihre zutiefst vorhandene Gesellschaftlicbkeit erfassen könnte, macht man sich selbst zum Gefangenen einer unwiderruflich abstrakten, ahistorischen Auffassung von der Individualität, und unabhängig davon, ob dies nun ein Spiritualismus oder Idealismus der Person oder ein Biologismus des Temperaments ist, ist dann auf jeden Fall die wesensbestimmende Geschichtlichkeit der Persönlichkeit nicht zu fassen. Umgekehrt kann man letzten Endes die Persönlichkeit in den gesellschaftlichen Gegebenheiten aufgehen lassen, doch so kann man die konkrete Einmaligkeit eines jeden Individuums nicht erfassen, es sei denn, man schriebe sie aufs Konto des Zufalls (was beweist, daß man ihren wesentlichen Charakter nicht begreifen kann) oder der „biologischen Gegebenheiten" (was bedeutet, daß man wieder in den entgegengesetzten Fehler verfällt), und so gerät man in einen Soziologismus, von dem kein Weg zu einer psychologischen Theorie der Persönlichkeit führt. Alles in allem: So wie es im Psychischen nichts gibt, was nicht Nerventätigkeit ist, und wie es sich doch in gewisser Hinsicht von dieser unterscheiden müßte, wenn der Psychologie ein spezifischer Gegenstand zugebilligt werden soll, so gibt es auch in der Persönlichkeit nichts, was nicht gesellschaftlich ist, und doch müßte ihre Einmaligkeit als wesentlich gefaßt werden, wenn die Psychologie der Persönlichkeit keine Scheinwissenschaft sein soll. Mit anderen Worten: Da der Ausdruck gesellschaftliche Individualität schon in seinen beiden Bestandteilen ein Widerspruch ist, gibt es keinen anderen Ausweg als die Anerkennung des dialektischen Charakters der Persönlichkeit als Einheit, die echte Unterschiedlichkeit einschließt. Leider entzieht es sich bisher der Kenntnis, wie eigentlich jene Besonderheit der psychologischen Persönlichkeit beschaffen sein soll, die bewirkt, daß sie sich qualitativ von allen gesellschaftlichen Gegebenheiten unterscheidet und doch durchgängig gesellschaftlich ist. Mit anderen Worten, es ist nicht ersichtlich, wie die Untersuchung der Persönlichkeit von den Gesellschaftswissenschaften erschöpfend gestaltet werden könnte und wie doch gleichzeitig ein spezifisches Terrain für eine Psychologie der Persönlichkeit übrigbleiben könnte. Auch hier scheint eine Sackgasse zu sein. Selbst wenn wir den Fall setzen, daß die Existenz eines spezifisch psychologischen Bereichs trotz dieser anscheinend unüberwindlichen Schwierigkeiten als gesichert gelten soll - obwohl die genaue Definition des Gegenstands unter diesen Bedingungen offensichtlich unmöglich ist - , sind die Definitionsschwierigkeiten deswegen noch nicht erschöpft. Welchen Ort hätte denn die Theorie der Persönlichkeit eigentlich in diesem psychologischen Raum in bezug auf die Wissenschaft vom Verhalten oder von der Verhaltensweise? Die Theorie der Persönlichkeit könnte zunächst als Zweig der Verhaltenswissenschaft aufgefaßt werden, wobei die Persönlichkeit als organisierte Gesamtheit unterschiedlicher

32 Verhaltensweisen betrachtet wird. Das ist zum Beispiel der Standpunkt der herkömmlichen charakterologischen und typologischen Systeme; die Mannigfaltigkeit der Persönlichkeiten wird dabei durch Faktorenkombinationen beschrieben. Doch wenn man so argumentiert, vergibt man sich von vornherein die Möglichkeit, die Persönlichkeit als spezifische Struktur und als spezifischen Prozeß zu begreifen, das heißt die Persönlichkeit schlechthin zu begreifen. Man kann aber auch umgekehrt postulieren, daß die Persönlichkeit nicht nach Verhaltensfunktionen analysiert werden kann. Man behandelt sie dann als Gesamtheit von unterschiedlichen Systemen, die „nicht den traditionellen Eigenschaften entsprechen: nicht so, daß das eine ein Gedächtnissystem, das nächste ein Wahrnehmungssystem und der Wille ein drittes wäre; jedes System entspricht allen psychischen Aspekten des Individuums, Motivation, Affektivität, Vorstellung, Denken, Wollen, in der Anwendung auf dasselbe Objekt bzw. dieselbe Aktivität der Außenwelt in deren Beziehungen zum Individuum"31. Doch in diesem zweiten Fall erhält die Persönlichkeit ihre theoretische Definition auf Grund von Begriffen - System, Instanz, Rolle usw. - , die sich nicht aus der Verhaltenswissenschaft ergeben, so daß schwer ersichtlich ist, welcher Zusammenhang noch zwischen der Psychologie als Wissenschaft vom Verhalten bzw. von der Verhaltensweise und der Wissenschaft von der Persönlichkeit besteht. Gehen wir noch weiter: Wenn die Funktionen, die die Wissenschaft vom Verhalten untersucht, nicht die elementaren Systeme bilden, deren Ensemble die Persönlichkeit ist - was haben diese Funktionen dann eigentlich für einen Wirklichkeitsstatus? Handelt es sich dann nicht faktisch um ein Überbleibsel der alten Eigenschaftenpsychologie, das von der Persönlichkeitswissenschaft beseitigt werden müßte? Also hat man entweder eine Wissenschaft vom Verhalten, die die Persönlichkeit nicht fassen kann| oder eine Wissenschaft von der Persönlichkeit, die das Verhalten der Persönlichkeit nicht analysieren kann. Auch hier erweisen sich die Verhältnisse - nun nicht mehr äußerliche Verhältnisse wie zwischen Psychologie und biologischen bzw. Gesellschaftswissenschaften, sondern die Verhältnisse in der Psychologie selbst - als äußerst widersprüchlich und verworren. Es ist zunächst dieses ungelöste Problem der Definition des Psychischen, das die Psychologie der Persönlichkeit noch von ihrer Reife trennt. Das Problem der

Grundbegriffe

Unsicher in Définitions- und Methodenfragen, hat die Psychologie der Persönlichkeit auch kaum echte Grundbegriffe, unechte hat sie allerdings im Überfluß. Wie könnte eine Wissenschaft denn auch ihre Grundbe31 Frau de Montmollin: Les modèles de la personnalité, S. 33.

33 griffe richtig aufstellen, ohne die wesentliche Beschaffenheit ihres Gegenstands genau zu kennen? Sehen wir uns doch zunächst die Reihe von Begriffen an, die sich am häufigsten findet, wenn die Grundlagen der Aktivität der Persönlichkeit behandelt werden sollen: die Begriffe, die sich auf die „Triebkraft" - oder die vermeintliche „Triebkraft" - dieser Aktivität beziehen, wie Bedürfnis, Instinkt, Streben, Wunsch usw. Alle diese Begriffe leiden unter der weiter oben genannten allgemeinen Widersprüchlichkeit: sie haben sämtlich eine biologische und eine psychologische Bedeutung, doch worin eigentlich jede der beiden besteht und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, das ist offenbar noch kaum geklärt. Aber mehr noch: Selbst wenn man über diese Zwiespältigkeit hinwegginge, würden sie sich dennoch nicht als Graradbegriffe eignen. Das kann man sich selbst an Hand des Bedürfnisbegriffs klarmachen, der von allen zweifellos noch am klarsten begründet ist. Es ist ein sehr wichtiger Begriff, der unbestreitbar der objektiven Realität entspricht, wogegen der Wert von Begriffen wie Instinkt und Streben, die häufig mystifizieren, oder wie Wunsch (der nicht von einer komplexen psychoanalytischen Problematik getrennt werden kann) zumindest anfangs Probleme aufwirft. Der Bedürfnisbegriff ist ohne weiteres mit dem historischen Materialismus vereinbar, und zweifellos wird er gerade deswegen vom landläufigen psychologischen Idealismus allgemein abgewertet, ja ausgeschlossen. Und doch kann er, genaugenommen, nicht als primärer psychologischer Begriff gelten, vor allem deswegen, weil die ersten Entwicklungsstadien des Individuums von Bedürfnisbefriedigungs- und -reproduktionszyklen beherrscht und gegliedert werden. Nichts ist in der Psychologie von heute so verbreitet wie die Gewohnheit, das, was den Anfangsstufen der psychischen Ontogenese zugrunde liegt oder zugrunde zu liegen scheint, als allgemeine Grundlage des entwickelten Psychischen zu betrachten, das heißt insgesamt Grund- und Ausgangsbegriffe zu identifizieren. Die Besinnung auf das Marxsche Gesamtwerk veranlaßt uns jedoch, in einer so bedeutsamen theoretischen Frage mehr Umsicht walten zu lassen. Marx hat an Hand der historischen Entwicklung wiederholt gezeigt, daß im allgemeinen das, was auf einer früheren Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmend ist, gerade nicht das Wesen der späteren Stufe bestimmt, und daß die Spezifik des Übergangs zu einer späteren Stufe darin besteht, daß tiefgreifende Strukturwandlungen impliziert werden, in deren Verlauf das, was vorher bestimmend war, auf einen niederen Rang absteigt, während neue Elemente die bestimmende Rolle erlangen. Die historischen Formen, die eine Gesellschaftsordnung hervorgebracht haben, liefern im allgemeinen nicht auch die Grundbegriffe für deren Verständnis, sondern im Gegenteil, die „Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen"32. 32 Karl Marx: Einleitung [zur Kritik der Politischen Ökonomie]. In: Marx/Engels: Werke, Bd 13, S. 636. 3 Sève, Persönlichkeit

34 Das sind außerordentlich tiefe Einsichten in die Dialektik der Entwicklung. Ihr Wert geht weit über die Grenzen der Gesellschaftswissenschaften hinaus. Die Psychologie, die oft noch allzu simplen genetischen Auffassungen Tribut zollt, könnte sie sich mit Gewinn zu eigen machen. Angenommen, der Bedürfnisbegriff könnte als Grundbegriff für die Psychologie der ersten Altersstufen betrachtet werden (worüber sich diskutieren ließe), folgt daraus nicht automatisch, daß er als allgemeiner Grundbegriff für das entwickelte Ensemble der Persönlichkeit geeignet ist. Wenn es zutrifft, daß die Spezifik des Menschen gegenüber der gesamten Tierwelt darin liegt, daß er als Mensch im biologischen Wortsinn geboren wird und nur insofern Mensch im psychosozialen Sinne ist, wie er sich durch Aneignung des in der gesellschaftlichen Welt objektiv angesammelten menschlichen Erbes vermenschlicht hat, dann ergibt sich daraus, daß zwischen Natur und Kultur zwar eine Kontinuität, aber mehr noch eine Umkehrung der Verhältnisse wirksam ist und daß die Theorie nur dann das Kulturelle aus dem Natürlichen, also auch das Psychologische aus dem Biologischen, herleiten kann, wenn sie einer extremen optischen Täuschung folgt.33 Das gilt ganz besonders für die menschlichen Bedürfnisse. Tatsächlich sind die menschlichen Bedürfnisse in ihrer entwickelten Gestalt ganz und gar nicht Ausdruck einer vorhistorischen, vor-sozialen menschlichen Natur, sind sie ganz und gar nicht primär gegenüber der psychischen Aktivität und deren Grundlage. Sie sind selbst im wesentlichen Produkt der Menschheitsgeschichte, wurden von den Menschen im Verlauf ihrer Geschichte - und das heißt vor allem: ihrer Arbeit - hervorgebracht. Wenn nun das Bedürfnis selbst gesellschaftshistorisches Produkt ist, dann ist es nicht die Grundlage der psychischen Aktivität, sondern diese Aktivität selbst ist im Verhältnis zum Bedürfnis das Grundlegende. Marx schreibt in einem der vielen Texte, in denen er zugleich über die theoretischen Probleme der Gesellschaft und über jene der menschlichen Individualität reflektiert: „Das Wichtigste ist hier nur hervorgehoben, daß, betrachte man Produktion und Konsumtion als Tätigkeiten eines Subjekts oder einzelner Individuen, sie jedenfalls als Momente eines Prozesses erscheinen, worin die Produktion der wirkliche Ausgangspunkt und darum auch das übergreifende Moment ist. Die Konsumtion als Notdurft, als Bedürfnis ist selbst ein innres Moment der produktiven Tätigkeit. Aber die letztre ist der Ausgangspunkt der Realisierung und daher auch ihr übergreifendes Moment, der Akt, worin der ganze Prozeß sich wieder verläuft. Das Individuum produziert einen Gegenstand und kehrt durch dessen Konsumtion wieder in sich zurück, aber als produktives Individuum, und sich selbst reproduzierendes. Die Konsumtion erscheint so als Mo33 Zur Menschwerdung siehe insbesondere H. Piéron: De l'actinie à l'homme, 1959, Band II. - A. Leontjew: L'homme et la culture. In: L'homme, Recherches internationales, Nr. 46, 1965.

35 ment der Produktion."34 Wer also das Bedürfnis in der Psychologie zur Grundlage nimmt (oder in der Geschichte, wie zum Beispiel bei Sartre in der Critique de la raison dialectique, wo das Bedürfnis der Arbeit vorausgeht35), der offenbart, daß er, wie Marx in der Deutschen Ideologie sagt, die „Grundbedingungen aller Geschichte"36: die Arbeit, die Produktion der Subsistenzmittel - und folglich den Menschen - überhaupt nicht begriffen hat. Er fällt herein auf den äußeren Schein eines „Bedürfnis-Materialismus", der in Wirklichkeit, wie wir noch sehen werden, auf dem Umweg über den Biologismus hinterrücks zum Idealismus führt. Insgesamt ist dieser Fehlgriff das Analogon jenes Fehlers, den man in der politischen Ökonomie dann begeht, wenn man die Konsumtionssphäre als Grundlage und die Produktionssphäre als deren Ableitung betrachtet, alles in allem also ein Fehler vormarxistischer Art. Und dieser Fehler zieht dann, wie eine Kettenreaktion, eine Vielzahl weiterer Fehler nach sich. Aus der „augenscheinlichen" Illusion, das Elementarschema einer jeden Aktivität sei Bedürfnis-Aktivität-Bedürfnis, B-A-B (statt Aktivität-Bedürfnis-Aktivität, A-B-A), ergibt sich auch die hartnäckige Illusion, daß die Aktivität nur den Zweck habe, „die Bedürfnisse zu befriedigen", das heißt, um eine ökonomische Metapher zu verwenden, daß der Kreislauf der Aktivität keine andere Funktion habe als die einfache Reproduktion, während doch das mindeste historische Nachdenken über die menschlichen Bedürfnisse deren Entwicklung und Verästelung vor Augen führt und schon allein deswegen eine Konzeption der erweiterten Reproduktion der Aktivität verlangt. Gerade das wird heute allmählich von einigen Psychologen erkannt?7: ihre Wissenschaft zwingt sie, sich in dieser Hinsicht zu Grundgedanken zu bekennen, die Marx vor mehr als einem Jahrhundert außer Zweifel gestellt hatte. Aber diese Anerkennung genügt, um jede psychologische Theorie zu entkräften, die das Bedürfnis als primären Begriff ansieht, und die Suche nach Grundbegriffen zu fordern, die auf dem Boden der produktiven Aktivität selbst angesiedelt sind. Diese Bemerkungen gelten nicht nur für den Bedürfnisbegriff, sondern für alle gleichgearteten Begriffe, so meines Erachtens auch für den Wunschbegriff. Freilich ist der Wunsch in einer nach J. Lacan geläuterten Freudschen Bedeutung durchaus nicht mehr biologischer Begriff, und man kann sogar, wie Louis Althusser, die Ansicht vertreten, daß „die spezifische Realität des Wunsches nicht zugänglich wird, wenn man vom organischen Bedürfnis ausgeht, wie auch kein Weg zur spezi34 Karl Marx: Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 13, S. 625/626. 35 Siehe J.-P. Sartre: Critique de la raison dialectique, 1960, S. 165 ff. 36 Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. In: Werke, Bd. 3, S. 28. 37 Siehe: Les modèles de la personnalité, S. 26, 169. Besonders zu beachten sind die Bemerkungen von Frau de Montmollin und namentlich die Hinweise auf die Gedanken von Atkinson. 2*

36 fischen Realität der historischen Existenz führt, wenn man von der biologischen Existenz des Menschen ausgeht"38. Die Unterscheidung ist bedeutsam. Sie ändert aber nichts daran, daß auch der Wunschbegriff, ganz wie der Bedürfnisbegriff oder weitere Analoga, dadurch, daß er eine vom Prinzip der Verringerung der Spannungen beherrschte Vorstellung von der Aktivität voraussetzt, einem homöostatischen Schema des Individuums verhaftet ist, das heißt, daß er den grundlegenden psychologischen Sachverhalt der erweiterten Reproduktion der Aktivität nicht fassen kann. Jeder Begriff, der sich auf den Gedanken einer äußeren, prinzipiell der Aktivität selbst vorausgehenden „Triebkraft" gründet, kann nicht Primärbegriff sein, kann nicht die Grundlage einer wissenschaftlichen Theorie der menschlichen Persönlichkeit verbindlich bezeichnen. Wer das nicht sieht, der bleibt trotz aller Bemühungen um Selbstbefreiung Gefangener einer Auffassung, die die Antriebe gleichsam als Instinkte im animalischen Wortsinn faßt. Nun hat es aber auch nicht den Anschein, als ob das Erfordernis, in der Aktivitätssphäre selbst angesiedelte Begriffe als Fundament der Persönlichkeitstheorie aufzustellen, bisher schon Anlaß zu ertragreichen Forschungsarbeiten gewesen sei. Genügen nun, zum Unterschied von den vorigen Begriffen, solche Begriffe wie Verhalten, Verhaltensweise, Pattern, Struktur, Haltung, Rolle usw., die anscheinend durchaus auf dem Boden der psychischen Aktivität angesiedelt sind, den Erfordernissen einer echten Grundlegung? Meines Erachtens ebensowenig. Denn wenn Begriffe in einer Wissenschaft die Rolle von Grundbegriffen spielen sollen, dann genügt es nicht, daß sie die dort am häufigsten auftretenden Erscheinungen mehr oder minder glücklich beschreiben und abgrenzen; sie müssen vielmehr selbst oder im Verhältnis zueinander die bestimmenden Widersprüche, die das Wesen des betreffenden Wissenschaftsgegenstandes kennzeichnen, zum Ausdruck bringen. Dieser Punkt ist entscheidend und einem Marxisten überdies sehr vertraut. In einer Kurzdarstellung des Ausgangspunktes der Marxschen dialektischen Behandlungsweise in Zur Kritik der Politischen Ökonomie schreibt Engels : „Wir gehen bei dieser Methode aus von dem ersten und einfachsten Verhältnis, das uns historisch, faktisch vorliegt, hier also von dem ersten ökonomischen Verhältnis, das wir vorfinden. Dies Verhältnis zergliedern wir. Darin, daß es ein Verhältnis ist, liegt schon, daß es zwei Seiten hat, die sich zueinander verhalten. Jede dieser Seiten wird für sich betrachtet; daraus geht hervor die Art ihres gegenseitigen Verhaltens, ihre Wechselwirkung. Es werden sich Widersprüche ergeben, die eine Lösung verlangen."39 So treten gleich zu Beginn der Darstellung der marxistischen poli38 L. Althusser: Freud et Lacan. In: La Nouvelle Critique, Dezember 1964, Nr. 161-162, S. 103, Anm. 39 Friedrich Engels: Karl Marx, „Zur Kritik der Politischen Ökonomie" (Rezension) In: Marx/Engels: Werke, Bd. 13, S. 475.

37 tischen Ökonomie die Gra«