Marx und Kant. Die normativen Grundlagen des Kapitals [1. ed.] 9783958323063

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Marx und Kant. Die normativen Grundlagen des Kapitals [1. ed.]
 9783958323063

Table of contents :
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EINLEITUNG
1. Das Thema in der Diskussion
2. Zu dieser Arbeit
I. KANT
1. Die Wirklichkeit der Freiheit als Vermögen der Autonomie .
2. Der Sinn der Moral
3. Die Reduktion der Freiheit auf Autonomie
3.1. Kritik der reinen Vernunft
3.2. Kritik der praktischen Vernunft
3.3. Kritik der Urteilskraft
II. EXKURS ZU HEGEL
1. Der Begriff des Willens als Wille des Begriffs
2. Fragen an Hegel
2.1. Vernunft und Geschichte
2.2. Normatives und Deskriptives
2.3. ›Sache der Logik und Logik der Sache‹
III. MARX
1. Über einige Selbstmissverständnisse der ›materialistischen‹ Wissenschaft
1.1. Die evolutionistische Deutung der Arbeit
1.2. Produktivkraftentwicklung als Befreiung von Naturzwängen
1.3. Die Kritik der Philosophie
1.3.1. Mit und gegen Feuerbach, mit und gegen Hegel
1.3.1.1. ›Gattungswesen‹ als normativer Begriff
1.3.1.2. Entfremdungskritik und wahrhaft menschliches Leben
1.3.1.3. Sozialismus als Ziel der Geschichte
1.3.2. Die positive materialistische Wissenschaft
1.3.2.1. Philosophie ist Ideologie
1.3.2.2. Kommunismus als Ziel des Proletariats
1.4. Die Nötigung zur Philosophie
1.4.1. Manuskripte und Deutsche Ideologie: Kontinuität oder Bruch?
1.4.2. Zwei Varianten eines Zurück zur Philosophie
2. Zur Kapitaltheorie
2.1. Normative Implikationen der Kapitaltheorie
2.2. Der Vorrang des gesellschaftlichen Kapitals vor den Einzelkapitalen
2.2.1. Reproduktionsschemata
2.2.2. Durchschnittsprofitrate
2.3. Grundrente
2.4. Fortschritte und Rückschritte im Begriff der Ökonomie
3. Marx’ Ideologiebegriff und der Ideologiebegriff des Kapitals
3.1. Ideologiekritik der Ökonomie
3.2. Ideologiekritik des Rechts
3.3. Ideologiekritik der Menschenrechte
3.4. Grenzen der Ideologiekritik
4. Kapitaltheorie und praktische Philosophie
4.1. Freiheit als Bestimmung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses
4.2. Zum Übergang von Moralphilosophie in kritische Gesellschaftstheorie
4.3. Das Kapitalverhältnis als Gegenstand moralischer Empörung und Kritik
4.3.1. ›Weltwissen‹ als Voraussetzung moralischen Urteilens
4.3.2. Eine historisch bedingte Unzulänglichkeit der kantischen Moralphilosophie?
4.3.3. Der Gegenstand moralischer Empörung
5. Die Darstellung im Kapital
5.1. Marx und der ›rationelle Kern‹ der hegelschen Dialektik
5.2. Die dargestellte Struktur des Kapitals ist idealistisch
5.3. Die Struktur der Darstellung des Kapitals ist nicht-idealistisch
5.3.1. Die Rekursivität der Darstellung
5.3.2. Die ästhetische Dimension der Darstellung
6. Kapitaltheorie und Geschichtsphilosophie
6.1. Kapitaltheorie und materialistische Geschichtsauffassung
6.2. Geschichte und ›Vorgeschichte‹
6.3. Eine gefährliche Utopie?
6.3.1. Die politische Übergangsperiode der Diktatur des Proletariats
6.3.2. Der politikfreie Verein freier Menschen
7. Die Kapitalkritik und ihr Grund
7.1. Der von Marx affirmierte und negierte vermeintliche Grund der Kapitalkritik
7.2. Der Grund der Kapitalkritik
Nachbemerkung und Dank
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis

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Frank Kuhne

Marx und Kant Die normativen Grundlagen des Kapitals

VELBRÜCK WISSENSCHAFT

Frank Kuhne Marx und Kant

Frank Kuhne

Marx und Kant Die normativen Grundlagen des Kapitals

VELBRÜCK WISSENSCHAFT

Für Andrea

Erste Auflage 2022 © Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2022 www.velbrueck-wissenschaft.de Printed in Germany ISBN 978-3-95832-306-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Das Thema in der Diskussion . . . . . . . . . . . . 13 2. Zu dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 I. KANT 1. Die Wirklichkeit der Freiheit als Vermögen der Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Der Sinn der Moral . . . . . . . . . . . . . . . 79 3. Die Reduktion der Freiheit auf Autonomie . . . . . . . 91 3.1. Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . 91 3.2. Kritik der praktischen Vernunft . . . . . . . . . 96 3.3. Kritik der Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . 102

II. EXKURS ZU HEGEL . . . . . . . . . . . . . . . 122 1. Der Begriff des Willens als Wille des Begriffs . . . . . . 124 2. Fragen an Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2.1. Vernunft und Geschichte . . . . . . . . . . . . 131 2.2. Normatives und Deskriptives . . . . . . . . . . 133 2.3. ›Sache der Logik und Logik der Sache‹ . . . . . . 139 III. MARX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 1. Über einige Selbstmissverständnisse der ›materialistischen‹ Wissenschaft . . . . . . . . . . . 149 1.1. Die evolutionistische Deutung der Arbeit . . . . . 157 1.2. Produktivkraftentwicklung als Befreiung von Naturzwängen . . . . . . . . . . . . . . 172 1.3. Die Kritik der Philosophie . . . . . . . . . . . 181 1.3.1. Mit und gegen Feuerbach, mit und gegen Hegel . . . . . . . . . . . . 181 1.3.1.1. ›Gattungswesen‹ als normativer Begriff . . . . . . . . 186 1.3.1.2. Entfremdungskritik und wahrhaft menschliches Leben . . . . 190 1.3.1.3. Sozialismus als Ziel der Geschichte . . 199 1.3.2. Die positive materialistische Wissenschaft . . 206 1.3.2.1. Philosophie ist Ideologie . . . . . . 207 1.3.2.2. Kommunismus als Ziel des Proletariats . 213

1.4. Die Nötigung zur Philosophie . . . . . . . . . . 222 1.4.1. Manuskripte und Deutsche Ideologie: Kontinuität oder Bruch? . . . . . . . . . 222 1.4.2. Zwei Varianten eines Zurück zur Philosophie . 230 2. Zur Kapitaltheorie . . . . . . . . . . . . . . . 246 2.1. Normative Implikationen der Kapitaltheorie . . . . 246 2.2. Der Vorrang des gesellschaftlichen Kapitals vor den Einzelkapitalen . . . . . . . . . . . . 253 2.2.1. Reproduktionsschemata . . . . . . . . . 257 2.2.2. Durchschnittsprofitrate . . . . . . . . . . 260 2.3. Grundrente . . . . . . . . . . . . . . . 273 2.4. Fortschritte und Rückschritte im Begriff der Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . 281 3. Marx’ Ideologiebegriff und der Ideologiebegriff des Kapitals . . . . . . . . . . . . . . . 288 3.1. Ideologiekritik der Ökonomie . . . . . . . . . . 291 3.2. Ideologiekritik des Rechts . . . . . . . . . . . 300 3.3. Ideologiekritik der Menschenrechte . . . . . . . 308 3.4. Grenzen der Ideologiekritik . . . . . . . . . . . 318 4. Kapitaltheorie und praktische Philosophie . . . . . . . 340 4.1. Freiheit als Bestimmung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses . . . . . . . . . . . . 342 4.2. Zum Übergang von Moralphilosophie in kritische Gesellschaftstheorie . . . . . . . . . 352 4.3. Das Kapitalverhältnis als Gegenstand moralischer Empörung und Kritik . . . . . . . . 360 4.3.1. ›Weltwissen‹ als Voraussetzung moralischen Urteilens . . . . . . . . . . 361 4.3.2. Eine historisch bedingte Unzulänglichkeit der kantischen Moralphilosophie? . . . . . 364 4.3.3. Der Gegenstand moralischer Empörung . . . 373 5. Die Darstellung im Kapital . . . . . . . . . . . . . 379 5.1. Marx und der ›rationelle Kern‹ der hegelschen Dialektik . . . . . . . . . . . . 383 5.2. Die dargestellte Struktur des Kapitals ist idealistisch . . . . . . . . . . . . . . . 394 5.3. Die Struktur der Darstellung des Kapitals ist nicht-idealistisch . . . . . . . . . . . . . . 400 5.3.1. Die Rekursivität der Darstellung . . . . . . 402 5.3.2. Die ästhetische Dimension der Darstellung . . 414 6. Kapitaltheorie und Geschichtsphilosophie . . . . . . . 438 6.1. Kapitaltheorie und materialistische Geschichtsauffassung . . . . . . . . . . . . . 440 6.2. Geschichte und ›Vorgeschichte‹ . . . . . . . . . 453

6.3. Eine gefährliche Utopie? . . . . . . . . . . . . 463 6.3.1. Die politische Übergangsperiode der Diktatur des Proletariats . . . . . . . . . . . . . 474 6.3.2. Der politikfreie Verein freier Menschen . . . 492 7. Die Kapitalkritik und ihr Grund . . . . . . . . . . . 513 7.1. Der von Marx affirmierte und negierte vermeintliche Grund der Kapitalkritik . . . . . . 513 7.2. Der Grund der Kapitalkritik . . . . . . . . . . 532 Nachbemerkung und Dank . . . . . . . . . . . . . . 549 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 591

Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Mensch­ heit in seiner Person muß ihm heilig sein. In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit. Eben um dieser willen ist jeder Wille, selbst jeder Person ihr eigener, auf sie selbst gerichteter Wille, auf die Bedingung der Einstimmung mit der Autono­ mie des vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjekts selbst entspringen könnte, möglich ist. (I. Kant, 1788) So wesentlich es ist, die reine unbedingte Selbstbestimmung des Willens als die Wurzel der Pflicht he­ rauszuheben, wie denn die Erkenntnis des Willens erst durch die Kantische Philosophie ihren festen Grund und Ausgangspunkt durch den Gedanken seiner unendlichen Autonomie gewonnen hat, so sehr setzt die Festhaltung des bloß moralischen Standpunkts, der nicht in den Begriff der Sittlichkeit übergeht, diesen Gewinn zu einem leeren Formalismus und die moralische Wissenschaft zu einer Rednerei von der Pflicht um der Pflicht willen herunter. (G.W.F. Hegel, 1821) Der arrogante kategorische Imperativ, imponirt vom Standpunkte der abstracten Philosophie aus, ist aber vom Standpunkte der Natur aus nur ein sehr bescheidener frommer Wunsch. Den Imperativ verwandelt die Anthropologie in einen Optativ. (L. Feuerbach, o.J.) Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral. (K. Marx, F. Engels, 1845/6) Der Leser erfährt hier [im Kapital], wie die Dinge nicht sein sollen. (F. Engels, 1867)

EINLEITUNG Wer Karl Marx als Kritiker des Kapitalismus bezeichnet, scheint nur das Offensichtliche auszusprechen, dagegen wird, wer Das Kapital als Kritik des Kapitalismus1 auffasst, mit der Frage rechnen müssen, wie er denn darauf komme.2 Die Frage ist berechtigt. Zwar käme niemand auf die Idee, dem marxschen Hauptwerk eine Beschönigung kapitalistischer Verhältnisse vorzuwerfen. Ob Marx diese Verhältnisse aber im Kapital ›nur‹ auf den Begriff bringt oder ob er sie darüber hinaus auch kritisiert, ist seit Erscheinen des ersten Bandes 1867 umstritten. Der Verweis auf den Untertitel hilft nicht weiter. ›Kritik‹ in Kritik der politischen Öko­ nomie zielt nicht unmittelbar auf die ökonomische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auf die Einzelwissenschaft, die diese zu ihrem Gegenstand hat. Das Kapital ist zu einem wesentlichen Teil eine Kritik der zu Marx’ Zeiten gerade etablierten jungen Wissenschaft der Politischen Ökonomie. Dabei gilt die Kritik nicht dieser oder jener Lehrmeinung, sondern der Wissenschaft als ganzer. Ihrem Anspruch nach verfährt sie immanent, misst die Politische Ökonomie nicht an einem ihr fremden, äußeren Maßstab, sondern überprüft ihre theoretischen Voraussetzungen, Urteile und Schlussfolgerungen auf ihre Stichhaltigkeit. Die Auffassung, dass die Kapitaltheorie ihren Gegenstand nicht nur erkläre, sondern auch kritisiere, nicht nur Kapitaltheorie, sondern zugleich Kapitalkritik sei, ist keineswegs unmittelbar plausibel. Inwiefern ist es überhaupt sinnvoll, einer Theorie das Attribut ›kritisch‹ beizulegen? Steht und fällt eine Theorie nicht damit, dass sie entweder wahr oder falsch ist, ihren Gegenstand erklärt oder nicht? Kritisch, so scheint es, kann nicht die Theorie selbst sein, sondern nur der Theoretiker, dieser aber nicht in Bezug auf den Gegenstand seiner Theorie, sondern im Hinblick auf seine eigenen theoretischen Anstrengungen. ›Kritisch‹ mag außerdem sinnvoll sein als Charakterisierung der vom Theoretiker in Anschlag gebrachten Methode. Eine kritische Methode wäre demnach eine, welche die die kapitalistische Produktionsweise strukturierenden Gegensätze von Lohn und Profit, Profit und Grundrente nicht in der Manier der bürgerlichen Ökonomen ›naiv‹ als quasi-natürliche gesellschaftliche Gegebenheiten begriffe.3 Diese Bedeutung des Ausdrucks klingt an, wenn Marx im Nachwort zur zweiten Auflage schreibt, die »dialektische Methode« im Kapital sei »ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär«, »weil sie 1 Marx spricht von ›kapitalistischer Produktionsweise‹, nicht von ›Kapitalismus‹. In dieser Arbeit wird seine Terminologie beibehalten. 2 Jaeggi (2013) fragt: »Was (wenn überhaupt etwas) ist falsch am Kapitalismus?« 3 Vgl. K I² 702/20.

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EINLEITUNG

in dem positiven Verständniß des Bestehenden zugleich auch das Verständniß seiner Negation, seines nothwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponiren läßt«. (K I² 709/28) Soll dem Gesagten entgegen die Kapitaltheorie dennoch zugleich Erkenntnis und Kritik ihres Gegenstandes sein, sich auf diesen sowohl affirmativ als auch negativ beziehen, so müsste sie in sich vereinen, was traditionell getrennt ist: theoretische und praktische Erkenntnis. Als theoretische Anstrengung müsste sie die Bestimmungen ihres Gegenstandes entfalten und als praktische einen normativen Maßstab der Kritik des Gegenstandes enthalten. Eine begründete Kritik der kapitalistischen Produktionsweise durch das Kapital scheint also nur unter der Voraussetzung plausibel, dass es sich bei der Kapitaltheorie nicht um eine Variante der Politischen Ökonomie handelt, um eine ›positive‹ Erfahrungswissenschaft, sondern um eine der philosophischen Reflexion der Reflexion verpflichtete Begriffswissenschaft, die allerdings in sich vereint, was in der Philosophie oft getrennt ist: Sein und Sollen, Theoretisches und Praktisches, Deskriptives und Normatives. Dass die Kapitaltheorie auch eine normative Dimension besitzt, scheint sich bereits flüchtiger Lektüre zu erschließen. Denn offensichtlich charakterisiert Marx das Kapitalverhältnis in einer Weise, die moralische Empörung und Kritik ausdrückt. Es ist ein »Zwangsverhältniß«, das »als Auspumper von Mehrarbeit und Exploiteur von Arbeitskraft […] an Energie, Maßlosigkeit und Wirksamkeit alle früheren auf direkter Zwangsarbeit beruhenden Produktionssysteme« (K I² 309/328) übergipfelt. Konstitutiv für es ist »die Aussaugung der Arbeitskraft«, der »Werwolfsheißhunger für Mehrarbeit«, der »Vampyrdurst nach lebendigem Arbeitsblut« (K I² 249/258; 261/271). Es entwickelt die Technik und den gesellschaftlichen Produktionsprozess nur, indem es »zugleich die Springquellen allen Reichthums untergräbt: Die Erde und den Arbeiter« (K I² 477/529 f.). Solche Formulierungen scheinen fraglos den moralischen Impetus der Kapitaltheorie zu dokumentieren. Ihnen stehen aber andere gegenüber, in denen Marx explizit moralphilosophische Begriffe in einer Weise gebraucht, die als Denunziation dieser Begriffe und als Denunziation von Moral und Ethik überhaupt verstanden werden können. So sind »vor dem Kapital alle Menschen gleich«, und »gleiche Exploitation der Arbeitskraft ist das erste Menschenrecht des Kapitals« (K I² 258/268 f.; 294/309). Unter Absehung von der Produktionssphäre, in der die Ausbeutung der Arbeiter stattfindet, also bei isolierter Betrachtung der Zirkulationssphäre, erscheint das Kapitalverhältnis als »ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigenthum, und Bentham.« (K I² 191/189) Die Interpretation dieser Passagen als denunziatorische Kritik von Moral und Ethik ist naheliegend, denn mit Marx’ Materialismus ist der 12

DAS THEMA DER DISKUSSION

Gedanke einer moralischen Kritik des Kapitals ohnehin unvereinbar. Eine solche Kritik bedürfte eines normativen Maßstabs. Dieser wäre eine moralische, nicht auf Klasseninteressen beruhende Idee, mithin ein Paradebeispiel für ideologisches, das heißt falsches Bewusstsein. Die »Gesetze, die Moral, die Religion sind […] ebenso viele bürgerliche Vorurteile, hinter denen sich ebenso viele bürgerliche Interessen verstecken« (MKP 472), heißt es im Kommunistischen Manifest von 1848, und es spricht nichts dafür, dass Marx diese Auffassung 1867 revidiert hat.4 Auch auf der Grundlage des Kapitals scheinen bestimmte moralische Vorstellungen und die Moral insgesamt einschließlich ihrer Begründung durch die philosophische, normative Ethik nur noch als Gegenstand von Ideologiekritik zu taugen. Ist Marx’ Kapitaltheorie einerseits ganz offensichtlich moralisch motiviert, gelten ihr andererseits die Moral und ihre philosophische Begründung als Ideologie, dann scheint sie sich in einem ganz zentralen Punkt, nämlich in ihrer Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise, in einem Selbstwiderspruch zu bewegen.5 Sie scheint moralische bzw. ethische Voraussetzungen zu enthalten und zugleich Moral und Ethik als falsches Bewusstsein zu kritisieren.

1. Das Thema in der Diskussion Damit dieser vermeintliche Selbstwiderspruch der Kapitaltheorie überhaupt thematisiert werden kann, muss allerdings deren Charakter als kritische Theorie, als Theorie, die zugleich die Erkenntnis und die Kritik ihres Gegenstandes beansprucht, erkannt bzw. als legitim anerkannt sein. Die objektivistische Interpretation des Kapitals durch den Marxismus der Zweiten Internationale und den Marxismus-Leninismus der 4 Das hält Marx und Engels nicht davon ab, moralisch zu argumentieren, wenn es zweckmäßig erscheint, etwa wenn sie 1874 gegenüber den Anhängern Bakunins darauf pochen: »Die Internationale verlangt von Allen, die sich ihr anschließen, daß sie Wahrheit, Gerechtigkeit und Sittlichkeit als die Regel ihres Verhaltens anerkennen.« (KIAA 505/372). Zehn Jahre zuvor (4. November 1864) schreibt Marx an Engels, man habe ihn verpflichtet, »in das Préamble der Statuten [= Provisorische Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation] zwei ›duty‹ und ›right‹ Phrasen, ditto ›truth, morality and justice‹ aufzunehmen, was aber so placiert ist, daß es einen Schaden nicht tun kann« (MEW 31: 15). 5 Löwith (1949: 47) fasst den Widerspruch der Theorie als den des Autors: »Wenn Marx darauf besteht, durch keinerlei moralische Vorurteile und Wertungen beeinflußt zu sein […], so ist dies eine seltsame Fehlinterpretation seiner selbst.«

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EINLEITUNG

Staatsparteien des ›real existierenden Sozialismus‹ erfüllt diese Voraussetzung bekanntlich nicht. Kautsky begreift das Kapital als »ein wesentlich historisches Werk«, das die »naturnothwendige« Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise objektiv beschreibt (Kautsky 1886: VIII).6 Seine Interpretation der ›materialistischen Geschichtsauffassung‹, die auch den theoretischen Teil des Erfurter Programms der Sozialdemokratie von 1891 bestimmt, streicht die Arbeiterklasse als handelndes Subjekt zwar nicht durch, führt aber das praktische Ziel ihres Kampfes ganz auf das theoretisch erkannte Ziel der naturnotwendigen ökonomischen Entwicklung zurück. »Das Ziel der Sozialdemokratie […] ist das von ihren Denkern erkannte Endziel der vor unseren Augen vor sich gehenden ökonomischen Entwicklung.« (Kautsky 1892: 26)7 Ein unbedingtes praktisches Sollen gebe es nicht. Zwar könne die Wissenschaft wohl »ein Sollen« vorschreiben, dieses sei dann aber nur als Konsequenz einer theoretischen Einsicht »in das Notwendige« aufzufassen. Kautsky fasst die Kapitaltheorie als positive Wissenschaft auf. Normative Bestimmungen seien dieser fremd und gingen ganz auf das Konto ihres Verfassers. Auch »in einem Marx« breche »mitunter bei seiner wissenschaftlichen Forschung das Wirken eines sittlichen Ideals durch. Aber er ist stets bemüht, und mit Recht, es aus ihr zu verbannen, soweit er vermag. Denn das sittliche Ideal wird in der Wissenschaft zu einer Fehlerquelle, wenn es sich anmaßt, ihr ihre Ziele weisen zu wollen.« Ein »Sollen ausfindig zu machen, das nicht als eine in der ›Welt der Erscheinungen‹ begründete Notwendigkeit erkannt werden kann«, müsse Wissenschaft ablehnen. »Die Ethik darf stets nur ein Objekt der Wissenschaft sein; […]. Die Wissenschaft steht über der Ethik.« (Kautsky 1906: 141) Kautsky begreift sittliche Ideale nicht als Index der intelligiblen Seite des Menschen, des Vermögens seiner Autonomie, sondern als Überbauphänomene, die er im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung in ihrer Abhängigkeit von der Produktionsweise beschreibt und evolutionstheoretisch auf soziale Triebe zurückführt, die sich schon in der Tierwelt fänden. Kautsky verortet Moral und Ethik im Objektbereich der Wissenschaft. Die Wissenschaft habe sie zu erforschen und begreiflich zu 6 Vgl. Walther (1981: 87 f.): »Die Historisierung der Kategorien der klassischen Ökonomie bei Marx wurde von Kautsky als Ausgangs- und Angelpunkt einer Geschichte des Kapitalismus mißverstanden, die Strukturgeschichte des Kapitalismus mit einer deskriptiv-narrativ verfahrenden Geschichte verwechselt.« Dadurch wurde die Kritik der politischen Ökonomie »zu einem Universalschlüssel, mit dem er Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart gleichermaßen aufschließen wollte«. 7 Walther (1981: 93 f.) spricht in Bezug auf Kautsky richtig von einem »Ökonomismus«, der keine wirkliche Zusammenbruchsprognose einschließe und daher kein Fatalismus sei. Kautskys Versicherung, es bedürfe durchaus des Zutuns der Ausgebeuteten, sei aber bloß appellativer Art.

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DAS THEMA DER DISKUSSION

machen, müsse sich selbst aber davon frei halten. Zwar könne auch die organisierte Arbeiterklasse nicht auf das sittliche Ideal verzichten, es diene ihr aber nicht als Ziel, sondern als eine motivierende »Kraft oder eine Waffe« (1906: 141) im Kampf gegen Ausbeutung und Klassenherrschaft. Auch Lenin befindet, dass es »im ganzen Marxismus« »nicht ein Gran Ethik« (Lenin 1895: 436) gebe.8 In theoretischer Hinsicht ordne dieser den ethischen Standpunkt dem »Prinzip der Kausalität« [d. i. ökonomischen Gesetzmäßigkeiten] unter; in praktischer Hinsicht laufe er auf den Klassenkampf hinaus. »Unsere Sittlichkeit ist von den Interessen des Klassenkampfes abgeleitet.« (1920: 281) Beide, Kautsky und Lenin, können sich mit ihrer Sicht der Dinge auf die Autorität von Friedrich Engels berufen, der im Anti-Dühring schon zu Marx’ Lebzeiten dessen Theorie als in sich geschlossene Weltanschauung präsentierte und die Vorstellung eines »unwandelbaren Sittengesetzes« als »Zumutung« zurückwies. Engels zufolge handelt die Kapitaltheorie von der »Genesis und Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise« und weist nach, dass diese »durch ihre eigne Entwicklung dem Punkt zutreibt, wo sie sich selbst unmöglich macht« (AD 139). In Bezug auf Ethik und Moral gelte: »[A]lle bisherige Moraltheorie sei das Erzeugnis, in letzter Instanz, der jedesmaligen ökonomischen Gesellschaftslage«. (AD 87 f.)9 Die skizzierte objektivistische Lesart ist nicht nur auf marxistischer Seite lange Zeit die dominierende, sie wird auch vom Gros der Nichtmarxisten übernommen, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass diese kritisieren, was jene affirmieren. Während sich jene im Besitz der Lehre vom naturnotwendigen Gang der Geschichte wähnen, können diese darin nur eine krude Geschichtsmetaphysik erblicken. Sie müssen dabei nicht auf Engels, Kautsky und Lenin rekurrieren, sondern können sich auch auf den Autor des Kapitals selbst beziehen. Marx hat in der Deutschen Ideologie gemeinsam mit Engels eine ›materialistische Geschichtsauffassung‹ skizziert, nach der die Geschichte durch die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bestimmt ist, und auch im Kapital finden sich Passagen, die eine objektivistische Deutung nahelegen.10 So etwa im berühmt-berüchtigten Abschnitt über die 8 Lenin bezieht sich hier zustimmend auf Sombart (1892: 490). Vgl. auch das (später geänderte) Vorwort der Herausgeber des ersten Bandes der MEW von 1956, XI. Plechanow (1893: 227) erklärt, die modernen Materialisten hätten für einen »›moralischen Idealismus‹ nur Verachtung«. Zwischen »Geist, Ideal, menschliche[r] Würde, Brüderlichkeit usw.« hier und »Materie, ökonomische[r] Notwendigkeit, Ausbeutung, Konkurrenz, Krisen« dort – zwischen »diesen beiden Reichen ist keine Versöhnung möglich«. 9 Von Differenzen, die zwischen Kautsky, Lenin und Engels im Detail bestehen, wird hier abgesehen. 10 Ob solche Formulierungen die Darstellung im Kapital objektivistisch präformieren, sei hier noch dahingestellt. Vgl. aber Mohl (1981: 120): »Wenn

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EINLEITUNG

»Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation«, in dem Marx die weitere historische Entwicklung der Produktionsweise auf der Grundlage der Erkenntnis ihrer »immanenten Gesetze« prognostiziert. Die kapitalistische Produktion treibt demnach die Zentralisierung der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit nicht nur bis zu einem Punkt, »wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle«; sie führt nicht nur zu einer ständig abnehmen Zahl von »Kapitalmagnaten«, die alle Vorteile der gesellschaftlichen Produktion monopolisieren, und zu einer »stets anschwellenden« Arbeiterklasse, für die »die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Degradation, der Ausbeutung« wächst; vielmehr provoziert sie auch noch »die Empörung« der »durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisirten Arbeiterklasse«. Indem sie derart aus sich selbst die objektiven und subjektiven Bedingungen ihrer Negation hervorbringt, wird die »Negation der kapitalistischen Produktion […] durch sie selbst, mit der Nothwendigkeit eines Naturprocesses, producirt«. (K I² 683/790 f.)11 Marx erweckt den Anschein, als füge sich der historische Prozess der Entstehung, der Fortbildung und des Untergangs der kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse dem hegelschen Schema der Negation der Negation, in dem die Negation als ›bestimmte Negation‹ und diese als Tätigkeit zu verstehen ist, Negieren als ›Aufheben‹ in der dreifachen Bedeutung des Beendens, Aufbewahrens und Emporhebens in eine höhere Einheit (Hegel WdL I 113 ff.). Die Tätigkeit des Negierens besteht hier in der »Expropriation«. Die »erste Negation« sei die Expropriation »der Volksmasse durch wenige Usurpatoren«, die zweite »die Expropriation weniger Usurpatoren durch die Volksmasse«. Die erste Negation verwandele das »individuelle[], auf eigne Arbeit gegründete[] Privateigenthum« in kapitalistisches. Die zweite Negation sei »Negation der Negation«. Sie stelle »das individuelle Eigenthum wieder her, aber auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Aera, der das ›Kapital‹ bisher in der Geschichte der Arbeiterbewegung immer innerhalb eines objektivistischen Revolutionskonzepts interpretiert wurde und zu einem Kanon wissenschaftlicher Gesetze von der proletarischen Revolution und dem Aufbau des Sozialismus ausgebildet werden konnte, die Kritik der politischen Ökonomie also schwer zu verstehen ist als Moment eines praktischen Emanzipationskonzepts, so ist der Grund dafür nicht zuletzt auch bei Marx selber zu suchen, namentlich in der Darstellungsform, in welcher sein Hauptwerk vorliegt.« Meyer (1973: 239) sieht die marxsche Theorie von dem nicht auflösbaren »vertikalen Zwiespalt« von subjektiver (durch das Proletariat) und objektiver (durch die Geschichte) »Verwirklichung der Philosophie« durchzogen. 11 K I³ 713/791: »Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Noth­ wendigkeit eines Naturprocesses ihre eigne Negation.«

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DAS THEMA DER DISKUSSION

Kooperation freier Arbeiter und ihrem Gemeineigenthum an der Erde und den durch die Arbeit selbst producirten Produktionsmitteln«. (K I² 683/791) Offenbar handelt es sich nach Marx hier um ein Beispiel par excellence für die »rationelle[] Gestalt«, die die von Hegel entdeckte, aber mystifizierte Dialektik in der materialistischen Wissenschaft erhält, und von der es im Nachwort zur zweiten Auflage heißt, sie sei »dem Bürgerthum und seinen doktrinären Wortführern ein Aergerniß und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständniß des Bestehenden zugleich auch das Verständniß seiner Negation, seines nothwendigen Untergangs einschließt« (K I² 709/28). Tatsächlich ist die Negation aber nicht reflexiv, bezieht sich nicht auf sich selbst, sondern nur auf das historisch kontingente Resultat der ersten Negation.12 Auch im Vorwort zur ersten Auflage des Kapitals schlägt Marx einen objektivistischen Ton an, wenn er formuliert, es sei »der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen« (K I² 67/15), und seine Theorie dabei bewusst in Parallele setzt zur Physik. Die Kapitaltheorie scheint demnach die Erkenntnis der »Naturgesetze[] der kapitalistischen Produktion« (K I² 66/12) zu beanspruchen, so wie die Naturwissenschaft die Erkenntnis der Gesetze der Natur.13 Nimmt man die Parallelisierung von Kapitaltheorie und Naturwissenschaft ernst, muss das Ansinnen einer theoretischen Kritik der kapitalistischen Produktionsweise so abstrus erscheinen wie das einer physikalischen Kritik der Natur. Verläuft die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise inklusive ihres Zusammenbruchs nach einer immanenten Gesetzmäßigkeit, so können Ideen und Normen für sie nicht konstitutiv werden. Die Erkenntnis der Produktionsweise reduziert sich dann auf die Einsicht in deren ›naturnotwendigen‹ Gang. Konsequenzen für die bewusste und freie (autonome) Umgestaltung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses können aus ihr nicht gezogen werden. Marx’ Bemerkung, eine Gesellschaft, die »dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist«, könne die »naturgemäße[n] Entwicklungsphasen weder überspringen, noch wegdekretieren«, wohl aber »die Geburtswehen abkürzen und mildern« (K I² 67/15 f.)14, gibt 12 »Der Begriff des Übergangs (von einer Produktionsweise zu einer anderen) kann niemals der Übergang des Begriffs (zu einem anderen Begriff als er selbst durch innere Differenzierung) sein.« (Balibar 1968: 368). 13 Für Schmidt am Busch (2011: 74) steht aufgrund des Vorworts fest: »Seinem Anspruch nach ist Das Kapital […] eine nicht-normative, naturwissenschaftliche Theorie.« Rottleuthner (1994: 212) zufolge ist »der normative Reduktionismus von Marx und Engels Konsequenz ihres Wissenschaftsanspruchs«. 14 Auf diese Passage spielt Dietzgen (1876: 8 f.) an: »Die eingangs gerühmte theoretische Einhelligkeit der Sozialdemokratie beruht darauf, daß wir unser Heil nicht mehr in subjektiven Plänen suchen, sondern es aus dem

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EINLEITUNG

keine Auskunft darüber, warum sie dies tun sollte. Eine revolutionäre Arbeiterklasse oder Partei, die sich der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse verschrieben hat, kann sich zur Rechtfertigung ihres Handelns nicht auf das ›naturnotwendige‹ Eintreten dieser Umwälzung berufen. »Man kann nicht«, mit dem Neukantianer Rudolf Stammler zu sprechen, »eine Partei gründen, welche das Kommen und den Eintritt einer exakt berechneten Mondfinsternis ›zielbewußt begünstigen‹ will«. (Stammler 1896: 424) Auch durch einen Verzicht auf die Zusammenbruchstheorie ist die objektivistische Kapital-Interpretation nicht zu retten. Denn auch ohne das Lehrstück vom naturnotwendig kommenden Kollaps der kapitalistischen Produktionsweise kann sie keinen Grund für deren Abschaffung anführen, der im Prinzip von jedermann geteilt werden muss. Sie kann nicht auf die Ausbeutung der Arbeiterklasse als einen moralisch zu kritisierenden Sachverhalt verweisen, denn sie muss ohne moralische Argumente auskommen. Infolgedessen kann sie auch kein vernünftiges, von jedermann teilbares Interesse an der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise einsichtig machen. Weil sie die moralische Bedeutung des Begriffs der Ausbeutung leugnet, muss sie das Interesse an der Abschaffung der Produktionsweise als ein Klasseninteresse auffassen, das mit dem Interesse aller nicht nur faktisch nicht zusammenfällt, sondern prinzipiell nicht zusammenfallen kann. Sie muss das Klasseninteresse daher notwendig als borniertes Interesse konzipieren. Die objektivistische Kapital-Interpretation kann das Interesse an der Abschaffung der Produktionsweise zwar rational begründen unter Verweis auf das Elend, die Not und die Unzufriedenheit der Proletarier, denen bewusst ist, dass die materiellen Bedingungen für eine Verbesserung ihrer Lebensumstände vorhanden sind, ihnen in der gegebenen Gesellschaft aber nicht zugutekommen. Dieses Interesse stellt sich aber bei den Angehörigen anderer Klassen oder Schichten, die sich in ihren Lebensumständen wohl befinden, nicht ein, und das Klasseninteresse der Arbeiter muss sie auch nicht interessieren. Ist das Klasseninteresse nur ein borniertes Interesse, so kann es keinen Vorrang beanspruchen vor anderen bornierten Interessen. Hinzu kommt, dass die rationale Begründung des Klasseninteresses an der Abschaffung der Produktionsweise auch den einzelnen Arbeiter nicht notwendig motiviert. Denn selbst wenn jeder Arbeiter einsähe, dass die Situation aller Arbeiter nur durch die Abschaffung der Produktionsweise zu verbessern wäre, so wäre doch jeder einzelne Arbeiter, dem eine Verbesserung seiner Lebensumstände in der bestehenden Produktionsweise möglich erschiene, vor die Wahl gestellt, ob er seinem unmittelbaren unvermeidlichen Laufe der Welt als ein mechanisches Produkt hervorwachsen sehen. Wir haben unsere Tatkraft auf die Geburtshülfe zu beschränken.«

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Interesse oder dem der Klasse den Vorrang einräumen sollte. Da moralische Erwägungen dabei keine Rolle spielen dürfen, müssten für den Arbeiter allein rationale Erwägungen den Ausschlag geben. Er müsste also seinem privaten Interesse den Vorrang einräumen vor dem der Klasse. Auf der Grundlage der objektivistischen Lesart gibt es gegen diese Entscheidung kein zwingendes Argument. Auch der Wechsel von der mit wissenschaftlichem Anspruch vorgetragenen Kritik der Produktionsweise in die nicht wissenschaftliche, sondern politische Kritik der bestehenden Verhältnisse, hilft hier nicht weiter, denn auch für diese müsste ja gelten, dass moralische Kriterien keine Rolle spielen dürfen. Wäre die objektivistische Kapital-Interpretation die angemessene, so wäre zwischen marxscher Theorie und Weltanschauungs-Marxismus nicht zu unterscheiden. Die Frage nach der normativen Grundlage des Kapitals wäre gegenstandslos15 und die Auffassung desselben als Modell kritischer Gesellschaftstheorie beruhte auf einem Irrtum. Die Kapitaltheorie inklusive Zusammenbruchstheorie wäre eine abstruse Geschichtsmetaphysik im Gewande einer positiven Wissenschaft, die Kapitaltheorie exklusive Zusammenbruchstheorie wäre das Konzept der Weltanschauung eines Proletariats, das im universellen Verteilungskampf nicht länger auf der Verliererseite stehen möchte, also eine Ideologie, keine Wissenschaft. Die Anhänglichkeit an diese Ideologie resultierte nicht aus Aufklärung, sondern Propaganda. Die objektivistische Kapital-Interpretation beraubt im einen wie im anderen Fall, ob mit oder ohne Zusammenbruchstheorie, das marxsche Hauptwerk seiner wissenschaftlichen Qualität. Paradoxerweise tut sie dies im Namen von Wissenschaft und Objektivität. Im Unterschied zum dominierenden orthodoxen Marxismus nehmen die Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts die Szene betretenden neukantianischen Sozialisten der Marburger Schule und ihres Umkreises die Frage nach den normativen Grundlagen der marxschen Lehre ernst. Vorländer möchte die von Marx häufig verwendeten normativen und evaluativen Ausdrücke nicht wie Kautsky aus der materialistischen Wissenschaft ausschließen und allein dem Verfasser des Kapitals zurechnen. »Das Kapital braucht zwar, als gewollt nationalökonomisches Werk, ethische Wendungen seltener [als andere marxsche Schriften], redet indes doch bereits in der Vorrede von ›schlechten‹ Zuständen, von ›Exploitation‹, von den ›Furien des Privatinteresses‹, von ›brutaleren‹ und ›humaneren‹ Formen des Klassenkampfes«. Zwar müsse der Marxismus »als solcher«, als »sozialgeschichtliche Theorie«, ethische Gesichtspunkte »zunächst von sich abweisen«. Zur »Begründung des Sozialismus« 15 Für gegenstandslos hält sie Gerhardt (2001), der aber zwischen Marx, marxscher Theorie und Marxismus nicht unterscheiden möchte (bes. 357–359).

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EINLEITUNG

sei aber »die Heranziehung der in der sozialistischen Praxis von jeher heimischen Ethik auch in der Theorie« zu fordern. Dabei sei die »ethische Methode« Kants in Anschlag zu bringen. (Vorländer 1926: 285 ff.) Die Position der Neukantianer gegenüber der materialistischen Geschichtsauffassung ist nicht einheitlich. Vorländer, Stammler und Staudinger sehen in ihr eine fruchtbare »Forschungshypothese«, die allerdings philosophisch »nicht zu Ende gedacht« sei. Philosophie könne nicht in der »genetisch-kausalen Ableitung« der Dinge aufgehen, sie müsse, das habe »uns KANT gelehrt« (Vorländer 1926: 282), auch den teleologischen Gesichtspunkt zur Geltung bringen. Ohne diesen sei die materialistische »Lehre nach jeder Richtung hin unfertig und nicht ausgeführt« (Stammler 1906: 19). »Wir vermögen an ihr keinen prinzipiellen Fehler, sondern nur einen Mangel zu entdecken, der zu ergänzen ist.« (Staudinger 1899: 110) Zu ergänzen sei die materialistische Lehre durch die auf Kant zurückgehende und von anderen weiterentwickelte »analytische Begründung der Ethik« (Staudinger 1899: IV). Anders Hermann Cohen, das Haupt des Marburger Neukantianismus. Ihm zufolge ist die »materialistische Geschichtsansicht« nicht ergänzungsbedürftig, sondern »ein logischer und daher, da es sich um sittliche Probleme handelt, auch ein ethischer Fehler«. Sie negiere den »sittliche[n] Geist«, der in ihr »pulsiert«. (Cohen 1907: 313) Der Sozialismus sei keine »Magenfrage«, sondern »die Frage der geistigen, also der sittlichen Freiheit« (Cohen 1907: 311). Sein wahres Fundament sei ein geistiges, nämlich ethisches: »Der Socialismus ist im Recht, sofern er im Idealismus der Ethik gegründet ist.« (Cohen 1896: LXV) Sozialistische Kritik der bestehenden Verhältnisse gründe in der Zweckformel des kategorischen Imperativs. Der Arbeiter könne »niemals bloss als Waare zu verrechnen sein, auch für die höheren Zwecke des angeblichen Nationalreichthums nicht; er muss ›jederzeit zugleich als Zweck‹ betrachtet und behandelt werden«. Kant sei »der wahre und wirkliche Urheber des deutschen Socialismus«. (Cohen 1896: LXV f.) Während die Neukantianer der materialistischen Geschichtsauffassung unter der Parole »Zurück auf Kant!«16 ein ethisches Fundament verschaffen bzw. den ›Sozialismus‹ ethisch begründen wollen, startet unter derselben Parole und etwa zur selben Zeit Eduard Bernstein seine ›revisionistische‹ Kritik am Objektivismus und Determinismus der parteioffiziellen Auffassung. Nach Bernstein fällt das praktische Ziel der 16 Die Parole war allgemein verbreitet: »[D]aß hinter die Verirrungen des absoluten Idealismus zurückgegangen und an Kant angeknüpft werden müsse, ist ein Gemeinplatz, der sich bei Fries, Herbart und ihren Schülern, bei Schopenhauer und vielen Nicht-Kantianern findet. An der Kant-Bewegung des 19. Jahrhunderts beteiligen sich auch Hegel-Schüler.« (Schnädelbach 1983: 134).

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Sozialdemokratie nicht, wie Kautsky meint, mit dem von Marx theoretisch erkannten Ziel der naturnotwendigen Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie zusammen. Sozialistische Zielsetzungen seien unabhängig von der Ökonomie zu begründen. Dass die Arbeiterklasse »keine Ideale zu verwirklichen« habe, wie Marx im Bürgerkrieg in Frankreich (BF 343) schreibt, sei »Selbsttäuschung« und »Cant«. Sozialistische Ziele müssten durchdrungen sein »von einer sozialen Auffassung, die in der Entwicklung der Kultur einen Fortschritt, eine höhere Moral und Rechtsauffassung bezeichnet« (Bernstein 1899: 217).17 Anders als Cohen, Vorländer und andere Neukantianer schließt Bernstein eine wissenschaftliche Begründung des Sozialismus aus. Wissenschaft und ›Sollen‹ gehen für den Szientisten nicht zusammen. »Die Wissenschaft ist tendenzlos, als Erkenntnis des Thatsächlichen gehört sie keiner Partei oder Classe an, der Socialismus dagegen ist Tendenz, und als Doktrin einer für Neues kämpfenden Partei kann er sich nicht lediglich an schon Festgestelltes binden.« (Bernstein 1901: 37) Veranlasst ist Bernsteins revisionistische Sicht der Dinge weniger durch neukantianische Argumente als vielmehr durch ökonomische Phänomene. Gestiegene Reallöhne, kürzere Arbeitszeiten und ein vergrößerter Mittelstand – das sind einige der ›Thatsachen‹, die sich nach Bernstein nicht mit der von der offiziellen Lehre prognostizierten ökonomischen Entwicklung in Einklang bringen lassen. Im Werk von Marx (soll heißen: im Marxismus) gelte es, sauber die analytisch gewonnenen wissenschaftlichen Resultate von den unhaltbaren, auf dem Einfluss hegelscher Dialektik beruhenden Spekulationen zu scheiden. Diese Revision des Marxismus müsse im kritischen Geiste Kants erfolgen: »Kant wider Cant« (Bernstein 1899: 199). Die von Neukantianern und Revisionisten gebrauchte Parole »Zurück auf Kant!« darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keiner der beiden Seiten um ein Zurück zu den authentischen Schriften Kants ging. Das Zurückgehen auf Kant war vielmehr eines auf neukantianische Theorie bzw. Theoretiker. Bernstein meint mit ›Kant‹ eigentlich den Vater des Neukantianismus, Friedrich Albert Lange,18 der das kantische Apriori sinnesphysiologisch deutet und den kategorischen Imperativ allenfalls für psychologisch begründbar hält;19 Cohen meint mit ›Kant‹ seine eigene methodologisch angelegte Transzendentalphilosophie, die die apriorischen Prinzipien Kants als methodologische Annahmen fasst und vom ›Faktum‹ Wissenschaft ausgehend wissenschaftliche Erfahrung begreifbar machen will. Im Hinblick auf die Ethik ist dieses Faktum die 17 Rosa Luxemburg (1899: 376): »Nimmt man […] mit Bernstein an, die kapitalistische Entwicklung gehe nicht in der Richtung zum eigenen Untergang, dann hört der Sozialismus auf, objektiv notwendig zu sein.« 18 Vgl. Bernstein (1899: 218). 19 Vgl. Lange (1896 II: 513).

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EINLEITUNG

Rechtswissenschaft. Die kantische Differenz von Ethik und Recht zieht Cohen zugunsten des Rechts weitgehend ein. »Die Ethik muss selbst als Rechtsphilosophie sich durchführen.« (Cohen 1907: 225) Dort, wo die Neukantianer tatsächlich auf zentrale kantische Gedanken wie die Zweckformel des kategorischen Imperativs zurückgreifen, ist der theoretische Kontext nicht mehr der kantische (Cohen) oder wird der kantische Gedanke zur Ergänzung der materialistischen Theorie ganz äußerlich an sie herangetragen (Vorländer, Staudinger, Stammler). In der neukantianischen und revisionistischen Diskussion, die Vorländer unter dem Titel Kant und Marx resümiert, fungiert ›Kant‹ nur als Anzeige der Tradition des ›Kritizismus‹, in der man sich methodologisch sieht, und als Stichwortgeber für eine ethisch fundierte Kritik der Verhältnisse. Eine immanente Kritik der kantischen Philosophie, die allererst Klarheit darüber hätte bringen können, inwiefern sich diese überhaupt als normatives Fundament von Gesellschaftskritik eignet, findet nicht statt. Ähnliches gilt für ›Marx‹. ›Marx‹ meint nicht die avancierte marxsche Theorie der kapitalistischen Produktionsweise, die mit dem ersten Band des Kapi­ tals zumindest in ihren Fundamenten seit 1867 vorliegt und in den 1890er Jahren durch die von Engels geleistete Edition des zweiten und dritten Bandes Systemgestalt gewinnt. ›Marx‹ meint vielmehr den parteioffiziellen Marxismus und/oder das, was Orthodoxe, Neukantianer oder Revisionisten unter der ›Methode‹ von Marx jeweils verstehen. In den Worten Vorländers: »›Kant‹ bedeutet […] für uns im wesentlichen nichts anderes als erkenntniskritisch-ethische, ›Marx‹ nichts anderes als entwicklungsge­ schichtlich-ökonomische Methode.« (Vorländer 1926: 278) Eine immanente Kritik der Kapitaltheorie, die Klarheit hätte herstellen können über den ihr von Marx zugeschriebenen Charakter einer ›materialistischen Wissenschaft‹ und über deren Verhältnis zur hegelschen Dialektik, findet nicht statt. Kurzum: Wenn neukantianische Sozialisten und sozialdemokratische Revisionisten ›Kant und Marx‹ aufeinander beziehen, handeln sie entweder gar nicht von Kants kritischer Philosophie und von Marx’ Kapital, oder sie handeln davon in oberflächlicher und unkritischer Weise. Ähnliches gilt für Max Adler, dem zufolge es darum gehen muss, »mit Kantschem Geiste an Marx und mit Marxscher Schulung an Kant he­ ranzutreten« (Adler 1925: XLIX). Der Austromarxist thematisiert nicht die authentische Argumentation von kritischer Philosophie und Kapitaltheorie, unterwirft sie keiner immanenten Kritik, sondern interpretiert Kants Philosophie (unter gelegentlicher Einbeziehung der von Fichte und Hegel20) als erkenntniskritische Grundlegung einer Soziologie namens 20 Adler (1922: 162): Der »Begriff des vergesellschafteten Bewußtseins als ein Transzendental-Soziales ist nun der eigentliche Sinn der Erkenntniskritik bei Kant, Fichte und Hegel«. Kants Philosophie »ist der erste großartige Entwurf einer Theorie des sozialen Bewußtseins«. (Adler 1924a: 212).

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Marxismus. Wie Cohen geht Adler vom ›Faktum der Wissenschaft‹ aus, um wissenschaftliche Erfahrung begreifbar zu machen. Die Wissenschaft, um die es sich hier handelt, ist der Marxismus. Marx’ Denken, so die früh verkündete Generalthese, komme »für die Begründung der Geisteswissenschaften eine ähnliche methodologische Bedeutung« zu »wie dem Newtons für die Naturwissenschaft« (Adler 1904: 315). Marx’ methodologisches Vorgehen sei allererst im Rekurs auf Kants Erkenntniskritik zu begründen. Das neukantianische Projekt einer ethischen Begründung des Marxismus ist nach Adler unhaltbar. Auf diese Weise einen Zusammenhang zwischen Marx und Kant, Sozialismus und kritischem Idealismus herstellen zu wollen, müsse »vom Standpunkt des Marxismus mit aller Entschiedenheit abgelehnt werden«. Als Soziologie handle der Marxismus »von den Gesetzen des gesellschaftlichen Lebens« und leite »die Entwicklung des Sozialismus aus dem Kapitalismus in kausaler Notwendigkeit ab«. Der Sozialismus sei für ihn ein »kausale[s] Produkt des sozialen Lebens«. Dass er auch ethisch gerechtfertigt sei, sei allerdings »kein Zufall«. Das »Zusammenfallen der kausalen Entwicklungsnotwendigkeit mit der ethischen Berechtigung ist ein soziologisches Problem, das innerhalb des Marxismus nur kausal zu lösen ist«. (Adler 1922: 140 f.) Adler will es durch den Rekurs auf den »Begriff des vergesellschafteten Menschen« (Adler 1922: 141) lösen, in welchem auch der sachliche Zusammenhang von Kant und Marx zutage trete. Beide Theoretiker handelten vom vergesellschafteten Menschen in unterschiedlicher, aber sich ergänzender Weise. Kant habe den »transzendental-sozialen, […] a priori vergesellschafteten Charakter« eines jeden individuellen Bewusstseins aufgewiesen, der in Marx’ Geschichtsauffassung »eine empirisch-historische Bewährung« erfahre. (Adler 1922: 172) Die »Ideen der Wahrheit, der Sittlichkeit, des Rechtes, der Kunst« seien »Formalprinzipien« der psychischen Natur des Menschen (Adler 1922a: 11). Als soziale Formbestimmtheiten des menschlichen Bewusstseins überhaupt seien sie auch formale »Richtungsbestimmtheiten« in der spezifisch menschlichen, nämlich sozialen Kausalität. Bezogen auf den Menschen sei »alle Kausalität erst in einem geistigen Milieu wirksam, durch welches sie von vornherein auf ein Ziel gerichtet ist«. (Adler 1922a: 13 f.) Soziale Kausalität vollziehe sich durch das Wollen und die Wertungen der Menschen, wobei letztere als »immanent wirkende Kausalfaktoren« (Adler 1922a: 143 ff.) aufzufassen seien. Seine »formal-teleologische Kausalität« treibe den vergesellschafteten Menschen dazu, »das zu verwirklichen, was er für sittlich geboten hält«. Der Klassenkampf sei »die historische Erscheinungsform« dieses Prozesses (Adler 1922: 141). Nach Adler ist der »ethische Gedanke« dem Marxismus keineswegs fremd. Er stecke in ihm »drin, und zwar in der Form, in welcher ihn der Marxismus allein haben kann, in seiner soziologischen Funktion« (Adler 23

EINLEITUNG

1928: 41). Moral und Ethik (Adler unterscheidet hier nicht) würden im Marxismus auf ihre gesellschaftliche Funktion hin betrachtet, gingen aber, anders als etwa Kautsky meine, nicht darin auf. Das sittliche Ideal sei »eine bloße Form«, die »ihren Inhalt stets nur den materiellen Lebensverhältnissen der Menschen entnimmt«. Als »Prinzip jeder Ursacherklärung für das Aufkommen eines bestimmten gesellschaftlichen Ideals« könne das sittliche Ideal selbst nicht kausal erklärt werden. (Adler 1922a: 133) Adlers Überlegungen gipfeln in der Behauptung: »[W]enn man die philosophische Grundlegung des Sozialismus im Antiindividualismus […] erblicken darf, dann muß man die deutsche klassische Philosophie geradezu die Philosophie des Sozialismus nennen.« (Adler 1922: 188) Wie die Naturwissenschaft gewinne der Marxismus aus der Erkenntniskritik eine »immer größere Klarheit« seiner Methoden und Sicherheit seiner Erkenntnisse. Sein »Sinn und seine Beweiskraft« liege im Begriff des vergesellschafteten Menschen, der erkenntniskritisch als »Begriff des vergesellschafteten Bewußtseins« [!] zu fassen sei. (Adler 1922: 189) Der Umdeutung der kantischen Philosophie in eine Grundlegung des Marxismus als Soziologie korrespondiert die Umdeutung der marxistischen Lehre von den materiellen und ideellen Faktoren des geschichtlichen Prozesses in eine monistische Lehre von der »Gesetzlichkeit des sozialen Lebens, die nur eine einzige sein kann: die psychische«. Nach Adler ist das »Ökonomische das in der Geschichte wirkende Geistige selbst, nur auf der untersten Stufe des jeweiligen sozialen Zusammenhanges« (1922a: 16). Indem er die soziale Kausalität als psychische begreift, welche apriorischen Formbestimmtheiten des Bewusstseins überhaupt unterliegt, meint Adler an der Trennung von Sein und Sollen festhalten und zugleich die kausale Notwendigkeit des Sozialismus vertreten zu können.21 Im Unterschied zur marxistischen Orthodoxie der Zweiten Internationale und des staatstragenden Marxismus-Leninismus, im Unterschied aber auch zum Neukantianismus, Revisionismus und zu Max Adler erkennen die Begründer der Kritischen Theorie die normative Dimension der marxschen Kapitaltheorie. Sie gilt ihnen als das Modell einer ›kritischen‹, nicht mehr ›traditionellen‹ Theorie.22 »Die bisherige Geschichte«, so Horkheimer, »kann nicht eigentlich verstanden werden, verständlich sind in ihr nur Individuen und einzelne Gruppen, und auch diese nicht ohne Rest, da sie kraft ihrer inneren Abhängigkeit von einer 21 Vgl. auch Adler (1924). 22 Nach Horkheimer (1937: 180 Fn. 14) wird ›kritisch‹ in der Bezeichnung ›kritische Theorie‹ in dem Sinn »der dialektischen Kritik der politischen Ökonomie verstanden. Es bezeichnet eine wesentliche Eigenschaft der dialektischen Theorie der Gesellschaft.« Adorno behauptet noch 1968, die »Marxische Politische Ökonomie« sei »prototypisch« für eine kritische Theorie der Gesellschaft (1968: 243).

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unmenschlichen Gesellschaft auch im bewußten Handeln noch weitgehend mechanische Funktionen sind. Jene Identifikation [des kritischen Theoretikers mit der Welt, in der er lebt] ist daher widerspruchsvoll, ein Widerspruch, der alle Begriffe der kritischen Denkart kennzeichnet. So gelten ihr die ökonomischen Kategorien Arbeit, Wert und Produktivität genau als das, was sie in dieser Ordnung gelten, und sie betrachtet jede andere Ausdeutung als schlechten Idealismus. Zugleich erscheint es als die gröbste Unwahrheit, die Geltung einfach hinzunehmen: die kritische Anerkennung der das gesellschaftliche Leben beherrschenden Kategorien enthält zugleich seine Verurteilung.« (Horkheimer 1937: 182) Die Begriffe der »materialistischen Theorie«, so Marcuse, »enthalten alle eine Anklage und eine Forderung«. So werde in dem Begriff des Mehrwerts ein gesellschaftliches Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis gedacht und zugleich stecke in ihm dessen Aufhebung: »das Bild einer mehrwertlosen gesellschaftlichen Organisation«. (Marcuse 1936a: 37) Die kritische Gesellschaftstheorie begreift Marx’ Rede von den ›Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion‹ als ›Verurteilung‹, ›Anklage‹ und ›Forderung‹. Verurteilt und angeklagt wird damit eine gesellschaftliche Ordnung, in der die Lohnarbeiter ausgebeutet werden und Kapitalisten wie Lohnarbeiter nur Funktionsorgane des Kapitals sind. Gefordert wird, aus dieser Einsicht in die menschenunwürdigen Verhältnisse die ›Naturgesetze der kapitalistischen Produktion‹ durch eine andere Organisation der Gesellschaft außer Kraft zu setzen. Kritische Theorie begreift Marx’ Rede von den kapitalistischen Naturgesetzen als Denunziation der ano­ nymen Herrschaft des Kapitals und die Kapitalkritik, die diese Herrschaft denunziert, als Ideologiekritik. Ideologie ist dabei nicht einfach ein fehlerhaftes Bewusstsein von den gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern ein »objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewußtsein, […] Verschränkung des Wahren und Unwahren« und derart Ausdruck des objektiven Geistes, so Adorno (1954: 465). Träfe diese Interpretation des Kapitals als einer kritischen, genauer: ideologiekritischen Theorie zu, so wäre damit die Frage nach der normativen Grundlage des Kapitals noch nicht beantwortet. Denn »allgemeine Kriterien für die kritische Theorie als Ganzes gibt es nicht«, so Horkheimer. Die kritische Theorie hat »keine spezifische Instanz für sich als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts23«. (Horkheimer 1937: 216) Positiv gewendet 23 1937: »der Klassenherrschaft« statt »des gesellschaftlichen Unrechts«. – Nach Horkheimer geht es dem Materialismus »nicht um Weltanschauung, auch nicht um die Seele der Menschen, sondern um die Änderung der bestimmten Verhältnisse, unter denen die Menschen leiden und ihre Seele freilich verkümmern muß. Dieses Interesse läßt sich zwar historisch und psychologisch begreifen, aber nicht allgemein begründen.« (1933a: 92). Der

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EINLEITUNG

orientiert sie sich an der »Idee einer künftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft freier Menschen, wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist« (Horkheimer 1937: 191). Nun scheinen aber weder der Begriff des gesellschaftlichen Unrechts noch die Idee einer Gesellschaft freier Menschen unter den Voraussetzungen des marxschen Materialismus haltbar. Der Begriff des gesellschaftlichen Unrechts setzt den des Rechts bzw. der Gerechtigkeit voraus. Wenn die Kapitalkritik begründet sein soll, dann muss sie über einen normativen Maßstab verfügen. Aber für einen solchen Maßstab ist auf der Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung und ihres Basis-Überbau-Schemas kein Platz. Innerhalb dieses Schemas verfällt jeder normative Maßstab der Ideologiekritik.24 Auch »die Idee einer künftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft freier Menschen«, mit der Horkheimer auf Marxens »Verein freier Menschen« (K I² 109/92) anspielt, scheint aufgrund ihres normativen Gehalts in der marxschen Theorie selbst nicht begründbar und nur als Gegenstand von Ideologiekritik zu taugen. Der einschränkende Hinweis, die Idee bezeichne eine Gemeinschaft freier Menschen, »wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist«, nimmt ihr nicht den normativen Charakter, sondern bezieht sie auf die vorhandenen Bedingungen ihrer technischpraktischen Realisierbarkeit. Offen bleibt, warum es ein Interesse an einer freien Gesellschaft geben sollte, das mehr wäre als das partikulare Interesse derer, die sich in der gegebenen Gesellschaft benachteiligt sehen und sich von einer ›freien‹ Gesellschaft Vorteile versprechen. Offen bleibt daher, warum die Arbeiterklasse »nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provociren kann«, wie Marx in der Einleitung von Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (KHRE 182/390) schreibt. Wenn also für die marxsche Theorie das Theorem von Basis und Überbau unverzichtbar sein sollte, dann ist nicht zu sehen, wie diese Theorie überhaupt eine begründete Kritik der kapitalistischen Produktionsweise leisten können soll. Wenn notwendig gilt, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bedingt und dieses ideologisch, also falsches Bewusstsein ist, dann gibt es keinen logischen Ort, von dem aus dieses Bewusstsein als ideologisch, als falsch erkannt werden kann. Anders gesagt: Wären Recht und Moral, Rechtsphilosophie und normative Ethik per se Überbauphänomene, die wesentlich durch ihre ideologische, Rekurs auf das »Interesse« folgt konsequent aus seiner »Psychologisierung der Moralphilosophie« (Weyand 2005: 19). Vgl. Bubner (1969: 162 ff.) 24 So sieht es Tugendhat (1993: 17): Marx »hielt alle Meinungen, daß etwas gerecht oder ungerecht ist, für ›Überbau‹; solche Meinungen sollten also bei ihm nur noch im Gegenstand seiner Untersuchungen vorkommen, sie sollten in seiner eigenen Beurteilung keine Rolle mehr spielen.«

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herrschaftssichernde Funktion bestimmt sind, wäre die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und Ökonomie grundlos – wenn unter Grund ein vernünftiger Grund verstanden wird, dem jeder prinzipiell zustimmen können muss. Sie könnte dann nicht mehr die Vernunft für sich reklamieren, sondern nur faktische Interessen. Die faktischen Interessen von Kapitalisten und Proletariern stimmen aber nicht überein, und auch die der Kapitalisten und Proletarier für sich betrachtet sind in der Konkurrenz einander entgegensetzt. Es könnte demnach scheinen, dass Marx’ Kapitalkritik (und die sich von ihr herleitende kritische Gesellschaftstheorie überhaupt) ohne eine normative Grundlage nicht möglich ist und mit ihr auch nicht. Zu Recht betont Habermas die notorische Unklarheit, die hier besteht. »Unklarheit herrschte von Anbeginn über die normative Grundlage der marxschen Gesellschaftstheorie. Diese sollte weder die ontologischen Ansprüche des klassischen Naturrechts erneuern, noch die deskriptiven Ansprüche nomologischer Wissenschaften einlösen, sondern ›kritische‹ Gesellschaftstheorie sein, aber dies nur, soweit sie den naturalistischen Fehlschlüssen implizit wertender Theorien entgehen konnte. Marx war wohl der Meinung, daß er dieses Problem mit einem Handstreich, nämlich mit einer materialistisch deklarierten Aneignung der Hegelschen Logik gelöst habe. Er hat sich freilich mit dieser Aufgabe nicht speziell befassen müssen, weil er sich für seine forschungspraktischen Zwecke damit begnügen konnte, den normativen Gehalt der herrschenden bürgerlichen Theorien, des modernen Naturrechts und der Politischen Ökonomie […] beim Wort zu nehmen und immanent zu kritisieren.« (Habermas 1976: 10).

Ob Marx tatsächlich der Meinung war, die ihm Habermas unterstellt, sei hier dahingestellt; ebenso, ob die Unklarheit über die normative Grundlage des Kapitals unter Rekurs auf die Meinungen seines Autors überhaupt befriedigend beseitigt werden könnte. Nicht zu bestreiten ist, dass die Marx zugeschriebene Meinung und die ihm unterstellten Zwecke nicht wenigen Marx-Interpreten die Richtung vorgegeben haben. Diese Interpreten möchten durch die Aufdeckung der dem Kapital zugrunde liegenden Methode der marxschen Hegel-Aneignung das ›Handstreichartige‹ nehmen. Marx’ Methode sei nur mit Rückgriff auf Hegels Begriff der ›Darstellung des Gegenstandes‹ zu verstehen, die als Darstellung des Gegenstandes zugleich dessen Kritik sei.25 Sie können sich dabei auch auf Marx selbst berufen, der etwa im Nachwort zur zweiten Auflage von der »im ›Kapital‹ angewandte[n] Methode« (K I² 704/25) spricht, sie als »dialektische Methode« bezeichnet, die ohne Hegel, nämlich ohne die Kritik der »mystificirende[n] Seite der Hegel’schen Dialektik« (K I² 709/27) nicht möglich wäre. Gemeinsam ist den Versuchen 25 Vgl. Theunissen (1980: 13 ff.; 75 ff.).

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EINLEITUNG

einer ›Rekonstruktion‹ der marxschen Methode unter Rückgriff auf einen wie auch immer kritisch gewendeten hegelschen Darstellungsbegriff die Überzeugung, die Kritik des Gegenstandes werde nicht ›äußerlich‹ an diesen herangetragen, sondern sei in ihm selbst begründet. »Zu negieren ist das Kapital für Marx, weil es an sich schon das Negative ist.« (Theunissen 1980: 87) Eine Reihe von Autoren sieht dabei die Negativität des Gegenstandes des Kapitals darin begründet, dass dieser seinem eigenen normativen Selbstverständnis widerspreche. Nach Lohmann unterstellt eine »imma­ nente Kritik«, »daß der Gegenstand der Kritik sich insofern selbst einer Kritik aussetzt, als er beansprucht, selbstgesetzten Normen zu genügen«. Gemeint sind die für die kapitalistische Gesellschaft funktional notwendigen rechtlichen und moralischen Prinzipien, die mit dem vertraglich geregelten Austausch von Waren als realisiert unterstellt werden. »Es ist jener naturrechtliche Zusammenhang von Freiheit, Gleichheit und Privateigentum, der prototypisch in Lockes Konstruktion des Naturzustandes vorformuliert war und dann, allerdings mit einigen Veränderungen, in die politische Ökonomie eingegangen ist. Vermittelt über Hegels Theorie des ›abstrakten Rechts‹, übernimmt ihn Marx für seine Kapitalkritik.« (Lohmann 1991: 56 f.) Freilich sei es für Marx’ immanente Kritik des normativen Selbstverständnisses der kapitalistischen Gesellschaft unabdingbar, dass sie »zugesteh[t], dass Recht sein soll«. Daran scheitere sie. Denn im Kapital würden zwar die Rechtsvorstellungen als ideo­ logisch kritisiert, aber es werde keine eigene moralische Auffassung von Recht vertreten.26 Marx gestehe den Rechtsverhältnissen keinen »unabhängigen Status oder Geltungscharakter gegenüber den rein ökonomischen Reproduktionsprozessen« zu. Damit »kollabiere« (Lohmann 1991: 286) aber seine kritische Darstellung. Wellmer zufolge ist in die Konstruktion der marxschen Theorie von Anfang an »die normative Idee einer zwanglosen wechselseitigen Anerkennung aller und, in solcher Anerkennung, einer Versöhnung des Besonderen und des Allgemeinen« (1986: 200) eingegangen. Marx habe in den Frühschriften Hegels Begriff praktischer Vernunft kritisch gewendet. Die von ihm propagierte klassenlose Gesellschaft lasse sich nur verstehen und legitimieren »im Sinne der Positivierung eines gleichsam vom Boden des bürgerlichen Privateigentums losgelösten Naturrechts«. Freilich widerspreche eine solche Interpretation der Kapitalkritik dem expliziten Selbstverständnis ihres Verfassers: Normative Voraussetzungen im Sinne eines radikalisierten bürgerlichen Naturrechts seien »beim späten Marx in eine spekulativ-geschichtsphilosophische Rahmenkonstruktion gleichsam abgewandert« (Wellmer 1986: 233). Das Kapital sei der problematische Versuch, empirisch-wissenschaftliche Analyse und 26 Vgl. Lohmann (1991: 254).

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Residuen einer spekulativen Geschichtslogik zu verbinden. Es sei in doppelter Weise objektivistisch: sowohl im Sinne einer so genannten wertfreien Wissenschaft als auch im Sinne einer revolutionstheoretisch gewendeten Geschichtslogik. Wildt zufolge ist mit Marx ein »absolutes« Naturrecht aus gutem Grund auszuschließen, seine Kapitalismuskritik sei aber »ohne Inanspruchnahme von Gerechtigkeitsgesichtspunkten gar nicht verständlich«. Marx sei zwar seinem »deklarierten Selbstverständnis« nach Immoralist, seine Kapitalkritik komme aber gar nicht umhin, auf normative Begriffe zu rekurrieren. So argumentiere er in den Abschnitten über die Antinomie des Arbeitstages und den Umschlag der Eigentumsgesetze »explizit und relativ ausführlich mit Gesichtspunkten von Recht und Unrecht« (Wildt 1986: 161). In einer späteren Arbeit meint Wildt, »Marx’ paradoxe Haltung zur Moral im allgemeinen und zu moralischen Rechten im besonderen« lasse sich nur dann aufklären, »wenn man ihm eine spezielle, eher schwache Form von normativem moralischen Relativismus zuschreibt, die sich wesentlich auf die Motivation zum moralischen Handeln bezieht« (Wildt 1997: 225 f.). In seiner Darstellung der Antinomie des Arbeitstages etwa sympathisiere Marx »offensichtlich« mit der Position des Arbeiters. Das liege nicht nur daran, dass er »offenbar« mit Locke ein moralisches Recht auf Selbsterhaltung voraussetze, sondern auch daran, dass »die Position des Arbeiters deshalb massenhaft überzeugen und motivational wirksam werden kann, weil sie den Erfordernissen der gegebenen Entwicklungsstufe des Kapitalismus besser entspricht als die des Kapitalisten« (Wildt 1997: 234). Der moralisch legitime Anspruch des Arbeiters setze sich hier gegen den ›schwächer‹ legitimierten Anspruch des Kapitalisten durch und gewinne soziale Dominanz. Marx unterscheide implizit zwischen moralischen Rechten, deren motivationale Kraft durch die funktionalen Erfordernisse der gegebenen Produktionsweise gestützt werde, und solchen, die darin nicht aufgehen. Jene seien im Vergleich zu diesen die moralisch schlechteren. Wo Marx das moralische Recht auf das der gegebenen Produktionsweise entsprechende Recht beschränke, fasse er die »normative Relativität der Moral« (Wildt 1997: 237) zu restriktiv. Stimmen die erwähnten Autoren bei allen Unterschieden darin überein, dass Marx’ Kapitalkritik einer normativen Grundlage bedarf, so widerspricht dem Heinrich ausdrücklich. Marx’ Kritik sei nicht an normativen Vorstellungen orientiert, vielmehr zeige sie, »daß normative Vorstellungen ihre Evidenz nur vor dem Hintergrund bestimmter Produktionsverhältnisse erhalten«. Sie sei zumindest implizit »eine Metakritik des neuzeitlichen Moraldiskurses, der zu seiner Begründung nicht mehr auf ein göttliches Gesetz verweist, sondern auf die ›Vernunft‹, die allen Menschen gleichermaßen mögliche ›Einsicht‹ etc. rekurriert«. (Heinrich 29

EINLEITUNG

2006: 378) Indem Marx durch die Kritik der Politischen Ökonomie nachweise, dass deren tragende Begriffe die wirklichen Verhältnisse verkehrt beschrieben, sei seine Darstellung »zugleich Kritik eines in dieser Verkehrung befangenen Bewußtseins und einer auf diesem Bewußtsein beruhenden Wissenschaft. Eine solche Kritik benötigt keine normative Grundlage.« Von dieser »wissenschaftlichen Kritik […] der Nationalökonomie« sei »die politische Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen zu unterscheiden«. Die politische Kritik könne sich insofern auf die Resultate der wissenschaftlichen Kritik stützen, als diese zeigten, dass der kapitalistische Verwertungsprozess »zwangsläufig auf Kosten der Arbeiter vonstatten geht«. (Heinrich 2006: 381 ff.) Marx gehe es »nicht um die Verletzung bestimmter Normen, sondern um die Konstatierung eines Sachverhalts: daß die kapitalistische Produktion elementare Lebensin­ teressen der Arbeiter und Arbeiterinnen verletzt. […] Und insofern bei der Arbeiterklasse die Einsicht in diesen Charakter des kapitalistischen Systems wächst, wird sie auch, nicht im Namen einer universellen Gerechtigkeit, sondern des eigenen Interesses zur politischen Aktion führen – so jedenfalls die optimistische Hoffnung von Marx.« (Heinrich 2006: 384)27 Zu Recht betont Heinrich gegen Lohmann, dass die Kapitaltheorie dort, wo sie explizit von Recht und Gerechtigkeit handelt, vor allem die soziale Genese von Moral- und Rechtsvorstellungen anvisiert, keineswegs aber eine immanente Kritik des normativen Selbstverständnisses der bürgerlichen Gesellschaft beabsichtigt. Die Belege für die zuletzt genannte These beruhen bei Lohmann auf Fehlinterpretationen der entsprechenden Passagen. Solche Fehlinterpretationen unterlaufen auch Wildt, wenn er seine These, wonach die Kapitalkritik notwendig auf normative Begriffe rekurrieren müsse, stützen will. Wildt und Lohmann begreifen beispielsweise Marx’ Beschreibung der Position des Arbeiters im Kampf um die Länge des Arbeitstages als die Position von Marx, die nur mit der Unterstellung von Gerechtigkeitspostulaten verständlich zu machen sei.28 Richtig dagegen ist, dass der ›Arbeiter‹ hier nur als »ökonomische Charaktermaske« fungiert, seine Forderungen nur seine Interessen und Rechte als Verkäufer der Ware Arbeitskraft ausdrücken. Der Kampf der Besitzer der Arbeitskraft für eine Regulierung des Arbeitstags affirmiert das Kapitalverhältnis und führt nicht über es hinaus. 27 Auch nach Iber (2005) intendiert Marx keine moralische Kritik des Kapitalismus, sondern »die Freilegung des Sachverhalts, daß die kapitalistische Produktion mit Systemnotwendigkeit elementare Lebensinteressen der Arbeiter verletzt« (17). Gleichwohl müsse »die Expropriation der Expropriateure eine als sozialethisch richtig eingesehene willentliche Tat der Lohnarbeiter sein« (290). 28 Vgl. Wildt (1986: 165); (1997: 234); Lohmann (1991: 79 Fn. 67; 283 Fn. 65).

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Ist der Kritik Heinrichs an Lohmann und Wildt insoweit zuzustimmen, so ist seine eigene These, wonach die Kapitalkritik keiner normativen Grundlage bedürfe, aber ebenso wenig haltbar. Heinrich irrt in zwei wesentlichen Punkten. Er geht fehl, wenn er meint, Marx’ wissenschaftliche (und also nicht politische) Kritik gelte allein der Nationalökonomie, nicht aber der kapitalistischen Produktionsweise selbst. Heinrich zufolge behauptet Marx in dem Lehrstück vom »Fetischcharakter der Ware« nicht, »daß die bürgerliche Vergesellschaftung gemessen an irgendeinem Ideal verkehrt sei, sondern daß sie verkehrt erscheint, anders als sie tatsächlich ist« (2006: 373). Tatsächlich behauptet Marx aber, dass den Produzenten »die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten [erscheinen] als das was sie sind [!], d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen« (K I² 104/87).29 Marx zufolge kann der religiöse »Widerschein der wirklichen Welt« nur verschwinden, »sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige [kursiv d. Verf.] Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen«, sobald also die materielle Reproduktion der Gesellschaft »als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht« (K I² 110/94). Marx plädiert hier indirekt für eine Form der gesellschaftlichen Reproduktion, in der die Menschen die Produktion und die Distribution der Güter bewusst kontrollieren und ihnen daher ihr eigener gesellschaftlicher Zusammenhang transparent ist. Diese Form der gesellschaftlichen Reproduktion nennt er hier ›vernünftig‹. Man darf unterstellen, dass er die sich selbst mystifizierenden, daher dieser vernünftigen Form der Vergesellschaftung entgegengesetzten kapitalistischen Produktionsverhältnisse ›unvernünftig‹ genannt haben würde. Aus alledem folgt, dass Marx der Sache nach erstens nicht nur das Bewusstsein, sondern die Verhältnisse selbst wissenschaftlich kritisiert und zweitens, dass dieser Kritik ein normativer Maßstab zugrunde liegt: Die gesellschaftlichen Verhältnisse sollen im genannten Sinn vernünftig sein. Zu betonen ist zweierlei: Das Gesagte gilt der Sache nach, es wird nicht etwa behauptet, Marx argumentiere bewusst normativ. Zudem bleibt völlig unklar, was für ein über das diffuse Alltagsverständnis von ›Vernunft‹ hinausgehender Vernunftbegriff (wenn überhaupt einer) hier in Anschlag gebracht wird. Heinrich geht zum zweiten fehl, wenn er meint, der Begriff des ›elementaren Lebensinteresses der Arbeiter und Arbeiterinnen‹ sei kein normativer Begriff und die kapitalistische Produktionsweise sei zwar in Konsequenz der marxschen Bestimmung, wonach die Arbeitskräfte in 29 So auch Heinrich (2008: 175).

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EINLEITUNG

ihr nur als Mittel für den Zweck der Kapitalverwertung fungieren, als »unmenschlich« zu charakterisieren, der Ausdruck sei aber »im wörtlichen, nicht moralischen Sinne« (Heinrich 2006: 326)30 zu verstehen. Die Behauptung, die kapitalistische Produktionsweise sei unmenschlich, ist eine Kritik dieser Produktionsweise. Entgegen seiner These, wonach die Kapitaltheorie die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst nicht kritisiere, behauptet Heinrich hier das Gegenteil. Freilich will er diese Kritik nicht als moralische Kritik verstanden wissen. Aber setzt die Kritik daran, dass Menschen nur als Mittel der Kapitalverwertung dienen, nicht die Überzeugung voraus, dass sie dies nicht sollen? Und ist diese Überzeugung nicht eine moralische, drückt sich in ihr nicht eine moralische Norm aus, etwa gar die kategorische Forderung, Menschen seien niemals nur als Mittel, sondern zugleich immer auch als Zwecke an sich zu betrachten, wie es bei Kant heißt? Im englischen Sprachraum ist durch das von Rawls’ Theorie der Ge­ rechtigkeit wieder geweckte Interesse an der praktischen Philosophie auch Marx’ Werk zum Gegenstand zahlreicher Untersuchungen geworden, deren Autoren sich der analytischen Philosophie, wenn nicht einem ›analytischen Marxismus‹31 zurechnen. Ihre Antworten auf die Frage nach der normativen Grundlage der marxschen Kapitalkritik decken das Spektrum dessen, was die gängigen Ethiklehrbücher32 an Positionen aufzählen, weitgehend ab. Marx soll demnach – zumindest implizit – eine utilitaristische, perfektionistische, tugendethische, gemischt deontologische oder immoralistische Position vertreten. Für Wood ist Marx »unbestreitbar« und »ganz offensichtlich« (Wood 1986: 23) ein Immoralist. Wood stellt nicht in Abrede, dass Marx wertende Urteile über die kapitalistischen Verhältnisse fällt, wohl aber, dass er dabei auf moralische Werte rekurriert. »Was Marx als Wert ansieht, präsentiert sich als nichtmoralisches Gut.« (Wood 1986: 22)33 Nicht Recht und Gerechtigkeit, sondern Werte wie Wohlfahrt, Solidarität, 30 Heinrich (2006) setzt den von ihm gewählten Ausdruck immer in Anführung. Auch die moralische Konnotation des Ausdrucks ›Ausbeutung‹ gibt Heinrich nicht zu und spricht stattdessen von einem »pejorativen« (384 Fn. 12) Klang. 31 Auch »non-bullshit Marxism«: (Cohen 1978 [2000]: XXV f.); zur Einordnung der Autoren Peffer (1990: 9 f.) 32 Tugendhat (1993: 338) weist zu Recht darauf hin, dass die Sortierung der Tradition nach Stichworten nur bedingt sinnvoll ist. »Die in der angelsächsischen Ethik übliche Kontrastierung von teleologischer und deontologischer Ethik ist nicht so sinnvoll, wie sie scheint, weil jede Moral eine irreduzibel deontologische Komponente hat. Auch der Utilitarismus kann die Überzeugung, daß das genannte Ziel verfolgt werden soll, nicht aus diesem Ziel herleiten.« 33 Vgl. ders. (1979: 121 ff.); ähnlich Horn/Scarano (2002: 243).

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Sicherheit und menschliche Entfaltung lägen seinen Werturteilen zugrunde. Moral und Ethik seien nicht konstitutiv für Marx’ Theorie.34 Dagegen sieht Allen in Marx und Engels Utilitaristen. »Their arguments are the kind used by utilitarians although not expressed in utilitarian vocabulary.« (Allen 1973: 189) Mit der Ausnahme einer Formulierung aus den Grundrissen stützt Allen diese These durch die Interpretation einzelner Passagen aus theoretischen und politischen Schriften der 1840er Jahre, ergänzt durch Schriften Engels’. Für Marx sei das ›summum bonum‹ die freie Entwicklung der Individuen überhaupt, nicht nur der Proletarier, in ›höheren Tätigkeiten‹, die wissenschaftliche und künstlerische Ausbildung voraussetzten und nicht der Notwendigkeit gesellschaftlicher Reproduktion geschuldet seien. Dies sei mit dem Utilitarismus vereinbar, vorausgesetzt, die Bewertung der Tätigkeiten als ›höherer‹ beruhe nicht auf einer apriorischen Theorie der menschlichen Natur und intrinsischer moralischer Werte, sondern auf den Präferenzen der Individuen selbst.35 Brenkert sieht in Marx den Kritiker des Utilitarismus. Marx erkenne, dass der Utilitarismus mit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft konkurrierender Individuen aufs Beste harmoniere. Sein Begriff des gesellschaftlichen Individuums, das seine menschlichen Potenzen in einem Reich der Freiheit jenseits der eigentlichen materiellen Produktion der Gesellschaft als Zweck in sich selbst entwickelt, sei deontologischer, nicht utilitaristischer Art.36 Marx’ Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise liege implizit eine ›normative Ethik‹ zugrunde, die mit der aristotelischen Tugendethik verwandt sei.37 In ihrem Zentrum stehe der Begriff der Freiheit als der historischen Entfaltung menschlicher Kräfte und Fähigkeiten. Lukes zufolge bedienen sich Marx und die Marxisten zwar bisweilen einer utilitaristischen Sprache, ihr Konsequentialismus sei aber weniger utilitaristisch als vielmehr perfektionistisch. »[T] he essential message is perfectionist: the best over-all outcome is the maximal realization of human powers, of manysided individuality, in community, the attainment of a society in which the full and free deve­ lopment of ­every individual forms the ruling principle.« (Lukes 1985: 144) Peffer zufolge vertritt Marx keine konsequentialistische, sondern eine »gemischt deontologische« 38 Position. Sie fordere nicht einfach die 34 Wood (1972; 1981; 1986); vgl. Tucker (1969: 37): »The fundamental passion of the founders of Marxism was not a passion for justice. Their condemnation of capitalism was not predicated upon a protest against injustice.« 35 Vgl. Allen (1973: 198). 36 Vgl. Brenkert (1981: 216 u. pass). 37 Vgl. Brenkert (1983: 90; 17 ff.). Dazu kritisch Leist (1985: 220 ff.). 38 Dazu Frankena (1972: 61): Die »gemischt deontologische Theorie« erkenne »das Nützlichkeitsprinzip als gültig an, hält aber daneben ein weiteres Prinzip für erforderlich«, das der Gerechtigkeit.

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EINLEITUNG

Maximierung grundlegender nichtmoralischer Güter wie Freiheit und Selbstverwirklichung, sondern deren radikal egalitäre Verteilung; nicht Glück, Vergnügen oder menschliche Perfektion, sondern der nichtkonsequentialistische Begriff der menschlichen Würde sei der letzte Bezugspunkt moralischen Urteilens. Marx sei zwar kein Kantianer, doch sei der kantische Einfluss nicht zu leugnen.39 Angesichts des großen Einflusses von Rawls’ Theorie der Gerech­ tigkeit überrascht es nicht, dass viele der analytisch inspirierten Untersuchungen zur normativen Grundlage der marxschen Theorie um das Thema der Verteilungsgerechtigkeit (distributive justice) kreisen und ihr Hauptaugenmerk der Frage widmen, inwiefern der ›Lohntausch‹ (wage transaction) zwischen Kapitalist und Arbeiter nach Marx gerecht oder ungerecht sei.40 Wood zufolge erklärt Marx die rechtlichen und moralischen Vorstellungen aus den funktionalen Erfordernissen der Produktionsweise. Diese beruhe auf der Produktion von Mehrwert, also auf der Ausbeutung des Arbeiters durch den Kapitalisten. Sie sei dennoch kein Unrecht, da der Kapitalist den vollen Wert der Ware Arbeitskraft bezahle. Der Mehrwert, den er einstreiche, sei nicht das Ergebnis eines ›ungerechten‹ Lohns, sondern resultiere aus dem Vermögen der Arbeitskraft, mehr Wert produzieren zu können, als sie selbst hat. »The appropriation of surplus value by capital, therefore, involves no unequal or unjust exchange.« (Wood 1972: 22) In der Tat formuliert Marx selbst, der Umstand, dass der Arbeiter für den Kapitalisten mehr Wert produziere als seine Arbeitskraft besitze, sei »ein besondres Glück für den Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer« (K I² 207/208) der Arbeitskraft. Woods paradox anmutende These, die Ausbeutung des Arbeiters im Kapitalismus sei kein Unrecht, hat eine Diskussion ausgelöst, in der alle logisch möglichen Positionen vertreten werden, nämlich: Marx zufolge sei der Lohntausch zwischen Kapitalist und Arbeiter gerecht (1), ungerecht (2), sowohl gerecht als auch ungerecht, aber jeweils in verschiedener Hinsicht (3); weder gerecht noch ungerecht (4).41 Im Zentrum der Diskussion steht die Frage, ob der Lohntausch mit Marx nur an den dem Kapitalismus immanenten Standards von Gerechtigkeit oder auch an postkapitalistischen Standards zu messen sei. Nach Tucker und Wood kann der Lohntausch auf der Grundlage der in der Deutschen Ideolo­ gie entwickelten ›materialistischen‹ Auffassung von Moral und Recht als 39 Vgl. Peffer (1990: 83 ff.; 118 ff.). 40 Rawls (2007) selbst teilte zuletzt die Auffassung Geras’, »daß Marx den Kapitalismus tatsächlich wegen seiner Ungerechtigkeit verurteilt hat. Andererseits hat er selbst das nicht so gesehen« (484 f.). Nach Geras (1985: 614 f.) zeigt sich darin »a confusion […] about the potential scope of the concept of justice« bei Marx. 41 Vgl. Lukes (1985: 48 ff.).

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bloßen Überbauphänomenen nur an den Standards der kapitalistischen Verhältnisse gemessen werden. Er ist demnach gerecht, weil er das Prinzip des Äquivalententauschs nicht verletzt. Dagegen meint Husami, moralische und rechtliche Vorstellungen würden nicht allein durch die Produktionsweise, sondern auch durch die Klassenstruktur der Gesellschaft und die ihr entsprechenden gegensätzlichen Interessen bestimmt. Wenn der Lohntausch gemessen an kapitalistischen Standards als gerecht gilt, so muss er gemessen an den Gerechtigkeitsvorstellungen des Proletariats als ungerecht gelten. Wie die Kritik des Gothaer Programms zeige, verfüge Marx durchaus über Gerechtigkeitskriterien einer postkapitalistischen, nämlich sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft, an denen gemessen der Lohntausch ungerecht sei.42 Nach Young ist der Lohntausch sowohl gerecht als auch ungerecht, allerdings in verschiedener Hinsicht. Im Hinblick auf die Zirkulationssphäre und den einzelnen Tauschvorgang ›erscheint‹ er als gerecht, während unter Einbeziehung der Produktionssphäre und im Hinblick auf das Verhältnis von Kapitalisten- und Arbeiterklasse deutlich wird, dass er ein Ausbeutungsverhältnis verschleiert.43 Nach Miller ist er weder gerecht noch ungerecht. Wenn Marx formuliere, die Aneignung des Mehrwerts durch den Kapitalisten sei gegenüber dem Arbeiter kein Unrecht, so bedeute ›kein Unrecht‹ hier nicht ›Recht‹: »›Not unjust‹ does not mean ›just‹ here, anymore than an theist’s argument against divine goodness means that divine evil really exists for him.« (Miller 1984: 91)44 Miller interpretiert Marx als einen ›politischen‹ Denker, der die Kriterien der Gerechtigkeit und der Gleichheit und den universalen Standpunkt der Moral als Grundlage für politische Entscheidungen (etwa die zwischen Kapitalismus und Sozialismus) und für die Durchsetzung politischer 42 Vgl. Husami (1978: 73). 43 Vgl. Young (1981: 252 ff.). Ähnlich Kain (1988: 138 ff.), der aber nicht zu den analytischen Marxologen oder Marxisten zählt: »The capitalist is acting both justly and unjustly in the same act.« Der Widerspruch sei nur aufzuklären, wenn man sich klar mache, dass Marx in den Grundrissen und im Kapital mit der Methode der Deutschen Ideologie gebrochen und sie durch seine »dialektische Methode« ersetzt habe. Marx unterscheide jetzt zwischen dem Wesen der kapitalistischen Produktion und ihren Erscheinungsformen. Der Lohntausch erscheine zwar als gerecht, sei seinem Wesen nach aber ungerecht. Nach Allen (1981: 235) ist es unzulässig, den Lohntausch im Hinblick auf das Klassenverhältnis zu betrachten, da damit ein dem Warenaustausch fremder Maßstab angelegt werde. 44 Dazu Wildt (1997: 220): »Das scheint kaum überzeugend. Die Negation läßt hier nicht die Möglichkeit der Unentschiedenheit oder Unentscheidbarkeit zu; denn wenn der Begriff ›Unrecht‹ überhaupt einen normativen Sinn hat, so ist er sicher nicht zu unbestimmt, um den massiven Fall der Ausbeutung zu entscheiden.«

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EINLEITUNG

Strategien ablehnt. An die Stelle allgemeiner moralischer Normen trete bei Marx eine ungeordnete, bunte Reihe von erstrebenswerten Gütern wie Freiheit, Gegenseitigkeit und Selbstverwirklichung, an denen sich politische Entscheidungen im gegebenen Fall orientieren, durch die diese Entscheidungen aber nicht bestimmt werden.45 Die Marx-Diskussion des ›Analytical Marxism‹ erfolgt durchweg in dem Bewusstsein, über die avancierten theoretischen Mittel zu verfügen, »to interpret, clarify, reconstruct, and/or critique both the empirical and normative components of Marxism« (Peffer 1990: 10). Im Unterschied zur deutschen Diskussion, die seit den 1960er Jahren durch die Debatten um die ›Rekonstruktion‹ der von Marx vorgeblich angewandten ›dialektischen Methode‹ geprägt war, steht hier von vornherein fest, was ›wissenschaftlich‹ geht und was nicht. Kausale, funktionale und intentionale Erklärungen sind diskutabel, indiskutabel ist dagegen eine wie auch immer geartete ›Dialektik‹. Sie steht im Verdacht der Obskurität und des Obskurantismus, weil Hegel, von dem sie sich herleite, die Geltung der Prinzipien der Logik bestritten habe.46 Innerhalb des analytischen Marxismus betreffen Methoden-Diskussionen die Auffassung und Reichweite bestimmter Verfahren, stellen aber deren Eignung als Maßstab zur Überprüfung der wissenschaftlichen Qualität marxscher Theoreme nicht grundsätzlich in Frage.47 Die Geltung der Methoden sei durch ihre Akzeptanz im Wissenschaftsbetrieb hinreichend belegt. Was in den Sozialwissenschaften und der Ökonomie bewährt und anerkannt sei, bedürfe keiner Rechtfertigung. Entscheidungs- und spieltheoretische Ansätze und die auf Adam Smith und David Ricardo zurückgehenden, in der Neoklassik mathematisch gefassten Techniken ökonomischer Analyse stehen nicht in Frage. »Now, the commitment of analytical Marxists to the constitutive techniques of analytical Marxism is absolute.« (Cohen 1978: XXIV)48 Der Kern der Kapitaltheorie, die Werttheorie, ist für die analytische Orthodoxie in ökonomischer Hinsicht inakzeptabel.49 Die für die Werttheorie konstitutive Differenz von Wesen und Erscheinung und ihr ›Holismus‹ gelten als schlechtes hegelsches Erbe, das sich vor dem in Anschlag gebrachten Maßstab des methodologischen Individualismus blamiert. Beifall finden dagegen jene Passagen aus der Deutschen Ideo­ logie, in denen Marx darauf besteht, die materialistische Theorie habe von den ›wirklichen‹ Individuen auszugehen. Marx sei hier methodologisch auf dem richtigen Weg, falle aber später, vor allem in den Grundris­ sen und im Kapital, allzu oft wieder in eine holistische, hegelianisierende 45 Vgl. Miller (1984: 42; 52 u. pass.). 46 Vgl. Peffer (1990: 17 ff.); anders freilich Wood (1981: 199 ff.). 47 Vgl. Cohen (1978); Elster (1985). 48 (Vorwort 2000); dazu kritisch Lebowitz (1994: 249 ff.). 49 Vgl. Elster (1985: 119 ff.).

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Argumentation zurück, die dem gesellschaftlichen Kapital oder den Klassen eine von den Individuen unabhängige Gesetzmäßigkeit zuschreibe.50 Dass Marx durch sachliche Gründe, nämlich durch Einsichten in die Struktur der kapitalistischen Produktionsweise selbst genötigt worden sein könnte, die in der Deutschen Ideologie skizzierte ›materialistische Geschichtsauffassung‹ zu revidieren, ist innerhalb des analytischen Marxismus nicht denkbar. Vielmehr soll er diese Weltanschauung unzulänglich auf die kapitalistische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als einen Spezialfall angewendet haben.51 Der Gedanke, das Kapital könnte Einsichten enthalten, die zu einer Kritik ihrer eigenen methodischen Standards Anlass geben, ist der analytischen Marx-Rezeption ein Ungedanke. Die Analytiker sprechen deshalb im Wesentlichen von sich selbst, wenn sie von der marxschen Theorie sprechen.52 Ihr Verfahren »is well-designed to achieve the desired result. First, one begins by asserting a metho­dological principle precisely contrary to that of the author of whom one presumably wants to make sense. Then, from this very standpoint, one investigates the propositions of said author and finds, mirable dictu, – nonsense. In defence of this singular approach to the rational reconstruction of a given theory, it may be said that it rarely fails to satisfy its practioner.« (Lebowitz 1994: 250)53 Gleichwohl hat die analytische oder analytisch inspirierte Marx-Interpretation auch manchen Autoren, die ihr nicht anhängen, entscheidende Stichworte geliefert. Ist Marx’ zentrale Botschaft nämlich ›perfektionistisch‹ (Lukes) und stützen sich seine wertenden Urteile über die kapitalistischen Verhältnisse auf ›nicht-moralische Werte‹ (Woods), dann hat seine Theorie offenbar eine normative, wenngleich keine moralische Dimension. Die Rede von der normativen Grundlage des Kapitals steht dann nicht in Widerspruch zu den moralkritischen Aussagen seines Autors. 50 Vgl. Elster (1985: 5 ff.). 51 Vgl. Roemer (1982: 24). 52 Das gilt im Übrigen für jede Marx-Rezeption, die sich ihrem Gegenstand vorab methodologisch überlegen wähnt. Bayertz’ Versuch, »Marx zu ver­ stehen« (2018: 9), erweckt den Eindruck, Marx’ Ausführungen zum Produktions-, Zirkulations- und Gesamtreproduktionsprozess des Kapitals seien zu vernachlässigen. Wichtiger sei es, seine programmatischen Aussagen über Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse mit Hilfe »des heutigen wissenschaftstheoretischen Vokabulars (das Marx natürlich noch nicht zur Verfügung stand)« zu reformulieren. Die Begriffe ›Emergenz‹ und ›Supervenienz‹ erlaubten es, »die von Marx eher intuitiv postulierten Zusammenhänge terminologisch präziser zu reformulieren« (111). 53 Vgl. Bensaïd (1995: 40 ff.; 122 ff.); Boffo (2012); Roberts (1996); Müller (1988); Bohman (1986).

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EINLEITUNG

Die Diskussion über ›Marx’ Perfektionismus‹54 muss vor dem Hintergrund der umfassenderen Kontroverse zwischen Vertretern eines philosophischen Perfektionismus und Liberalismus gesehen werden. Maßgeblicher Auslöser der Kontroverse ist die rawlssche These, wonach eine »wohlgeordnete Gesellschaft« (Rawls 1971: 21)55 auf formalen Gerechtigkeitsprinzipien gründen müsse, die sich gegenüber Konzepten eines guten Lebens neutral verhielten.56 Rawls teilt die seit Beginn der Neuzeit von so unterschiedlichen Autoren wie Hobbes und Kant vertretene Auffassung, wonach es keinen objektiven, allgemein verbindlichen Begriff eines guten Lebens gebe und jeder nach seiner Fasson glücklich werden dürfe.57 Für diese Auffassung spricht zum einen die Empirie. In modernen Gesellschaften existiert eine Pluralität unterschiedlichster weltanschaulich und religiös fundierter Vorstellungen eines gelingenden Lebens. Zum anderen aber scheint es unter der theoretischen Bedingung des normativen Individualismus auch gar nicht mehr möglich, einen objektiven Begriff des guten Lebens zu begründen. Wenn Gott und Natur als Begründungsinstanzen für Einschränkungen individueller Freiheit ausfallen, bleibt nur noch, diese vor den Individuen selbst zu rechtfertigen. Demnach sind nur solche Einschränkungen legitim, denen die autonomen Individuen aus guten Gründen zustimmen müssten (wobei alles davon abhängt, was jeweils unter ›guten Gründen‹ verstanden wird). Verfechter des Perfektionismus stoßen sich an der Formalität und Abstraktheit liberaler Theorien, die »nur noch wenig mit den konkreten menschlichen Erfahrungen zu tun haben« (Nussbaum 1993: 227). Gegen deren Praxisferne möchten sie wieder eine Konzeption des guten 54 Laut Perfektionisten wie Hurka vertreten Marx, Aristoteles, Thomas, Leibniz, Nietzsche und viele andere »moralists« nur mehr oder weniger unterschiedliche Varianten einer »single theory, one centred on an ideal of the good life in terms of human nature« (1993: 3), und besteht die philosophische Tradition zu einem Großteil aus »perfectionists«. Das entbehrt nicht der Komik, ist doch die Perfektionismus-Debatte wesentlich durch die Auseinandersetzung mit Rawls und anderen zeitgenössischen Theoretikern geprägt. Aristoteles beispielsweise ist kein ›Perfektionist‹, er ist noch nicht einmal ein ›Tugendethiker‹. Ihn so zu bezeichnen ignoriert, dass er unter ganz anderen realgeschichtlichen und theoretischen Voraussetzungen philosophierte als diejenigen, die ihn heute für sich reklamieren. Aristoteles will keine ›Tugendethik‹ gegen ›deontologische‹ und ›utilitaristische‹ Ansätze geltend machen. 55 Ebd. 493 f; ders. (1993: 105 ff.). 56 Vgl. Rawls (1971: 50; 488): Das Wohl besteht »für verschiedene Menschen in Verschiedenem […]. Und es ist gar kein öffentlich anerkanntes Urteil darüber nötig, worin das Wohl der einzelnen besteht.« Ders. (1993: 266 ff.). 57 Vgl. Hobbes (1651: 75 ff.); Kant GTP A 235.

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Lebens zur Geltung bringen.58 Denn anders als die an formalen Prinzipien orientierten Ansätze, müsse eine solche Konzeption nicht von den Bedürfnissen und Wünschen abstrahieren, die die Menschen prägen, und könne dem Umstand, dass diese immer in einem bestimmten historischen und gesellschaftlichen Kontext leben, angemessen Rechnung tragen. Als philosophischer Gewährsmann gilt in der Regel Aristoteles. »Denn was am Werk des Aristoteles so besticht«, so Nussbaum, »das ist die Verbindung von Exaktheit und Konkretheit, von theoretischer Stärke und Sensibilität für die realen Bedingungen menschlichen Lebens und Entscheidens in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit und Veränderbarkeit.« (Nussbaum 1993: 228) Nun setzen die Entwürfe eines ethischen oder politischen Perfektionismus eine Werttheorie voraus, auf deren Grundlage sich Folgerungen für das Leben der Individuen und die Verfasstheit der Gesellschaft ziehen lassen.59 Diese werttheoretische Grundlage ist die Crux der perfektionistischen Theorien, die sich nicht nur gegen vermeintlich weltfremde Versuche einer ›Letztbegründung‹ der Moral wenden, sondern ebenso gegen jedwede Metaphysik. Sie möchten zwar nach dem Vorbild des Aristoteles wieder in nicht-relativistischer Weise60 vom guten Leben handeln, dabei aber keineswegs das metaphysische Fundament seiner Ethik (oder irgendein metaphysisches Argument) in Anspruch nehmen.61 Damit stellt sich die Frage, wie ein objektiver Begriff des menschlich Guten begründet werden kann.62 Nussbaum rekurriert zu diesem Zweck 58 »This moral theory starts from an account of the good human life, or the intrinsically desirable life.« Hurka (1993: 3). 59 Mit Wall (2012: 2) ist hier zu unterscheiden zwischen einem »human nature perfectionism« und einem »objective goods perfectionism«. Jenem zufolge erfordert das gelingende Leben eine gute Entwicklung menschlicher Naturanlagen, diesem zufolge bedarf es bestimmter Güter, die als intrinsisch wertvoll gelten. Hurka (1993: 3 f.) unterscheidet beide Varianten als Perfektionismus im engeren und weiteren Sinne. 60 Nussbaum (1993) wendet sich damit gegen Alasdair MacIntyre, Bernard Williams und Philippa Foot. Diese negierten die »Annahme, eine richtig verstandene Ethik stelle irgendwelche transkulturellen Normen bereit, die sich durch allgemeinmenschliche und allgemeingültige Gründe rechtfertigen ließen und es uns erlauben würden, andersartige und lokal gebundene Auffassungen des Guten angemessen zu kritisieren« (228). Hurka setzt die »ob­ jective theory of the good« (1993: 5) des Perfektionismus ab von Ansätzen, die das Gutsein von etwas auf die faktischen Wünsche und Präferenzen des Subjekts zurückführen. 61 Wenn sie es überhaupt erkennen. Die Abhängigkeit der aristotelischen Ethik von der ontologisch-metaphysischen Teleologie der Metaphysik wird häufig bestritten. Dagegen Esser (2004); Neschke-Hentschke (2005). 62 Zur Kritik der zeitgenössischen Tugendethik ausführlich: Esser (2004: 21– 131).

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EINLEITUNG

auf kulturübergreifende »Grunderfahrungen der Menschen« (diese wissen um ihre Sterblichkeit, kennen Durst, Hunger und sexuelles Verlangen, verfügen über kognitive Fähigkeiten, vermögen ihr Leben selbst zu führen usw.),63 auf deren Basis sie die ›schwache‹ Definition einer jeden Tugend gewinnt: Sie ist »die Bereitschaft, in diesem Bereich [der Erfahrung] richtig zu entscheiden und zu handeln, worin dies auch bestehen mag« (Nussbaum 1993: 234). Die ›starke‹ Definition resultiere aus der Spezifikation der derart eingegrenzten Tugend. Die genauere Erkenntnis der Probleme, mit denen Menschen in ihrem Zusammenleben konfrontiert sind, und der Lebenssituationen, die bestimmte Entscheidungen von ihnen verlangen, ermögliche es, konkurrierende Lösungsvorschläge »zu bewerten, und zunehmend [zu] begreifen, was es bedeuten könnte, angesichts dieser Probleme gut zu handeln« (Nussbaum 1993: 236). Nussbaum sieht allerdings, dass es beim Abwägen konkurrierender Lösungsvorschläge nicht bleiben kann, wenn der Anspruch auf »ethische Objektivität« (Nussbaum 1993: 230) eingelöst werden soll. Sie wirft deshalb die »tiefgreifende begriffliche Frage auf«, was es bedeute, »nach dem menschlich Guten zu fragen? Welche Lebensumstände definieren, was es bedeutet, das Leben eines Menschen und nicht irgendein anderes Leben zu führen?« (Nussbaum 1993: 262) Die Antwort des Aristoteles bleibt dem nussbaumschen ›Aristotelismus‹ versperrt, denn sie impliziert eine objektive, metaphysisch fundierte Teleologie. Aristoteles zufolge muss es ein Ziel des Handelns geben, »das wir seiner selbst wegen wollen, und das andere nur um seinetwillen«. Ohne ein solches Ziel, das nicht wiederum als Mittel für andere Ziele taugt, verlöre sich der Mensch in einen unendlichen Prozess des Strebens nach immer neuen Gütern, wäre sein Begehren »leer und eitel« (Nik. Ethik: 1094a). Das Ziel, das um seiner selbst willen erstrebt wird, ist kein partikulares Gut, sondern ein erfülltes Leben, die Glückseligkeit [eudaimonia]. Glückseligkeit besteht in der hervorragenden Ausübung des dem Menschen eigentümlichen »Werks« [ergon], welches »in vernünftiger oder der Vernunft nicht entbehrender Tätigkeit der Seele besteht« (Nik. Ethik: 1098a). Aristoteles’ ›ergon-Argument‹ greift auf die Wesensbestimmung des Menschen zurück, die ihn von anderen Lebewesen unterscheidet: seine Vernünftigkeit. Durch seine Wesensbestimmung (ousia als eidos: Metaphysik 1032b) ist dem Menschen ein Ziel immanent, das um seiner selbst willen erstrebt wird. Diese Zielbestimmung ist formal, denn sie legt das Individuum nicht auf bestimmte Handlungen und Handlungsziele fest, sondern grenzt nur seinen Handlungsrahmen ein, sie ist nicht-intentional, denn sie ist seinem faktischen Wollen entzogen, und sie ist objektiv, denn sie ist dem Menschen, also allen Menschen, eigentümlich. Insofern das Ziel der Verwirklichung des ›dem Menschen 63 Vgl. Nussbaum (1993: 231 ff.; 257 f.).

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eigentümlichen Werks‹ von seinem eidos abhängt, welches als Formursache sein Handeln und Streben auf die Realisierung seines Wesens ausrichtet, ist die Teleologie der aristotelischen Ethik abhängig von der Me­ taphysik und deren Lehre von der entelechischen Struktur des Seins.64 Nach Nussbaum nötigt die Frage nach dem menschlich Guten keineswegs zu metaphysischen Überlegungen. Vielmehr gebe es »keine andere Möglichkeit, darauf zu antworten, als uns selbst zu fragen, welche Erfahrungen uns so wichtig erscheinen, daß sie für uns einen Teil dessen ausmachen, was wir sind« (Nussbaum 1993: 262). Das, was die Menschen sind (die menschliche Natur65), wird demnach nicht wertfrei (etwa durch die Naturwissenschaften) eruiert, sondern immer schon bewertend identifiziert. Menschen teilen ungeachtet ihrer unterschiedlichen kulturellen Prägung nicht nur gemeinsame Grunderfahrungen, sondern auch gemeinsame Strategien in der Bewältigung der mit der ›menschlichen Lebensform‹ verbundenen Einschränkungen. Tugenden sind demnach Strategien, mit denen Menschen auf Herausforderungen antworten, die mit bestimmten Problemen, Grenzen und Fähigkeiten66 ihres Menschseins gegeben sind. Durch ihren Bezug auf menschliche Grunderfahrungen kann Nussbaum plausibel machen, dass die alltägliche Rede vom Menschen oder der menschlichen Natur immer auch eine evaluative Dimension besitzt, einen objektiven Begriff des menschlich Guten vermag sie so aber nicht zu begründen. Der Rekurs auf Grunderfahrungen und gemeinsam geteilte Bewältigungsstrategien menschlicher Einschränkungen kann faktisch geltende Normen aufweisen, nicht aber einen diese Normen selbst normierenden kontrafaktischen Bezugspunkt.67 Ein ethischer Wert, der mehr sein soll als eine faktisch geltende Wertschätzung, ließe 64 »Denn das Werk ist Zweck, die Wirklichkeit aber ist das Werk. Daher ist auch der Name Wirklichkeit [energeia] von Werk [ergon] abgeleitet und zielt hin auf Vollendung [entelecheia].« (Metaphysik 1050a). In der dem natürlich Seienden immanenten Form fallen causa formalis, causa finalis und causa efficiens ineins. 65 »Human nature cannot, and need not, be validated from the outside, ­because human nature just is an inside perspective, not a thing at all, but r­ ather the most fundamental and broadly shared experiences of human beings living and reasoning together.« (Nussbaum 1995: 121). 66 Der Fähigkeiten-Ansatz Nussbaums wird hier nicht skizziert, er ändert nichts an der grundsätzlichen Kritik ihrer Tugendethik. 67 Vgl. Esser (2004: 75); ebd. 84: »Will man von allgemeinen Erfahrungen zu ethischen Spezifizierungen gelangen, die womöglich noch differieren, so muß der Begriff des ›guten und gedeihlichen Lebens‹ eine qualitative Normierung aufweisen, die gegenüber inhaltlichen Füllungen in gewissem Maße indifferent ist.« Fehlt dieser Begriff, »hängt es gänzlich von der jeweiligen Auffassung eines […] guten Lebens ab, wie sich der Versuch, die menschlichen Begrenzungen zu überwinden, gestaltet«.

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EINLEITUNG

sich solchen Strategien nur beimessen, wenn sie als konstitutiv für ein gutes Leben gelten könnten. Der Begriff des guten Lebens lässt sich aber nicht aus ihnen extrahieren. Die Crux der werttheoretischen Grundlegung des Perfektionismus zeigt sich in eklatanter Weise auch bei Autoren, die in Marx einen Perfektionisten68 sehen oder dessen Werk einer perfektionistischen Lesart69 unterziehen. So bei Henning, der »auf dem Weg einer ideengeschichtlich informierten Vergegenwärtigung« die »freiheitliche und egalitäre Tradition« des politischen Perfektionismus freilegen möchte und sich dabei auch auf Marx bezieht. (Henning 2015: 16; 459 ff.) Schon der »junge Marx« begründe »Forderungen nach Freiheit und Gleichheit« »durch ihren Beitrag zur menschlichen Entwicklung«. Seit der Deutschen Ideo­ logie denke er diese Entwicklung als individuellen Prozess. »Diese Vision ist perfektionistisch fundiert: Liberale und egalitäre Werte müssen der persönlichen Entwicklung dienen.« (Henning 2015: 491) Hennings kritische Sichtung des »aktuelle[n] Perfektionismus« ergibt, dass dieser auf entscheidende Fragen zu Freiheit, Gleichheit und Entfaltung die Antwort schuldig bleibe (Henning 2015: 30). Seine Befragung der philosophischen Tradition ergibt, dass diese »seit Aristoteles fast immer auf irgendeine Weise» (Henning 2015: 493) perfektionistisch gedacht habe. Allerdings gelingt es Henning nicht, mit ihrer Hilfe einen konsistenten Begriff des menschlich Guten zu entwickeln. Ähnlich wie Nussbaum möchte er den vermeintlichen Vorteil einer ›aristotelischen‹ Argumentation, die keinen unüberwindlichen Gegensatz von Sein und Sollen kennt, in Anspruch nehmen, ohne sich dabei auf einen metaphysischen Begriff der menschlichen Natur zu stützen. Man könne »sich ja auch anders als metaphysisch auf Natur beziehen« (Henning 2015: 349). Zum einen machten Menschen mit der Natur ihre durch die jeweilige Kultur ›überformten‹ Erfahrungen, zum anderen gebe es das Wissen der Einzelwissenschaften. Normative Vorstellungen von einem guten Leben kämen zwar »nicht aus der Wissenschaft, sondern aus den Erfahrungen der Menschen« (Henning 2015: 355 f.), der empirischen Wissenschaft komme aber die Funktion eines Filters zu. Mit ihrer Hilfe könnten »unsinnige, die Natur des Menschen missachtende ethische Ansichten über Ziele« aussortiert werden. Umgekehrt könnten die Wissenschaften, wenn sie selbst normative Ansprüche erhöben, mit Hilfe des »common 68 Nussbaum verweist wiederholt auf die Ökonomisch-Philosophischen Ma­ nuskripte, vgl. (1988: 86; 129 f.); (1990: 60; 85); (1993a: 206 f.); (1995: 119 f.). 69 Lindners (2013: 15) »ethischer Zugang zum marxschen Werk orientiert sich an einem zuerst von Aristoteles entwickelten Ansatz, der in der Philosophie seit Rawls als ›perfektionistisch‹ bezeichnet wird«. Aus diesem seinem ethischen Zugang zum marxschen Werk wird der »ethische Perfektionismus« von Marx (352) bzw. der »ethische[] Perfektionismus des Kapitals« (351).

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sensism der lebensweltlichen Erfahrungsurteile« (Henning 2015: 357 f.) in ihre Schranken verwiesen werden. Normative Vorstellungen sind demnach dann zu korrigieren, wenn die empirischen Wissenschaften zeigen können, dass es sich um ›falsche‹, weil die menschliche Natur missachtende, ›ethische Ideale‹ handelt. Medizinisch gesehen spreche beispielsweise nichts für, sondern alles gegen die Beschneidung von Frauen – egal in welcher Kultur. »So ist es möglich, dass die eine Natur der Menschen als Natur die Erfüllung gewisser Mindestbedingungen verlangt.« Aber nicht nur im Hinblick auf die Mindestanforderungen, die erfüllt sein müssen, damit ein menschliches Leben nicht in Widerstreit zur menschlichen Natur gerät, auch in Bezug auf das Ideal eines guten Lebens sei der Naturbezug entscheidend. Ein gutes Leben erheische »eine praktisch-rationale (›tugendhafte‹) Lebensführung«, diese wiederum medizinisches, biologisches und kulturelles Wissen. (Henning 2015: 355 ff.) Der ethische Fortschritt besteht demnach in einem Schaukelsystem, in dem die erfahrungsbasierten Normen immer wieder aufs Neue am Stand des wissenschaftlichen Wissens von der ›universellen‹ menschlichen Natur70 überprüft werden. Dass hier keine prinzipielle Kluft zwischen Sein und Sollen existiert, versteht sich und gilt Henning als aristotelischer Zug des Perfektionismus. Da dieser aber ohne die tragenden Bestimmungen der aristotelischen Ethik auskommen muss, erscheint dies als eine Anmaßung. Ohne objektive Teleologie gibt es keinen objektiven Begriff des Glücks, ohne diesen keine für dieses Glück konstitutiven Tugenden. Eine »praktisch-rationale Lebensführung« (Henning) ist folglich keine im aristotelischen Sinne tugendhafte Lebensführung. Da der jeweilige Wissensstand der Einzelwissenschaften selbst nicht die Funktion eines objektiven, die verschiedenen Normvorstellungen normierenden ethischen Zwecks annehmen kann, ist es eine Frage der Klugheit der Individuen, ob sie ihre normativen Vorstellungen korrigieren oder nicht, und eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse, inwieweit normative Vorstellungen gesellschaftlich korrigierbar sind. »Damit haben wir nochmals benannt, was für den Perfektionismus das Gute ist. Gut meint nicht moralisch, sondern prudentiell gut.« (Henning 2015: 519) Die Rede vom prudentiell Guten erinnert nur noch dem Namen nach an die dianoetische Tugend der phronesis. Die Auflösung des Begründungszusammenhangs der aristotelischen Ethik berührt mit dem Begriff der Tugend auch den der Klugheit. Dass »man nicht im eigentlichen Sinne tugendhaft sein kann ohne Klugheit, noch klug ohne die sittliche Tugend« (Aristoteles, Nik. Ethik: 1144b), lässt sich auf einer pragmatischen und empiristischen Grundlage nicht mehr sagen. 70 Vgl. Nussbaum (1990: 50): »Alle Menschen brauchen [bspw.] zum Leben Essen und Trinken […]. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur ändert nichts am menschlichen Stoffwechsel.«

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EINLEITUNG

Zu behaupten, »dass die eine Natur der Menschen als Natur die Erfüllung gewisser Mindestbedingungen verlangt« (Henning 2015: 355) oder dass »unerfüllte Grundbedürfnisse« wie Hunger oder Durst »normative Kraft« entfalten können, indem sie Menschen dazu bringen, sich aufzulehnen, führt nicht weiter. Die durch Erfahrungs- und wissenschaftliches Wissen bekannte Natur verlangt nichts, und Bedürfnisse als solche motivieren zwar zu ihrer Befriedigung, entfalten aber keine normative Kraft. »Die Norm gibt es nur durch das Selbst, ja, Normativität nur als Subjektivität.« (Menke 2005: 324) In der Aneignung normativer Ansprüche bildet sich das Individuum zum Subjekt, und als Subjekt hat es einen normativen Anspruch darauf, dass es seine Grundbedürfnisse befriedigen kann. Die Frage nach den Gründen normativer Ansprüche wäre von einer Theorie der Subjektivität zu beantworten, die Geltungsfragen nicht von vornherein mit ›metaphysischen Überwelten‹ assoziiert. Eine solche Theorie führte freilich geradewegs zurück zu den vermeintlich weltfremden Überlegungen und abstrakten Prinzipien, die Henning mit dem Perfektionismus ignorieren zu können glaubt. Dann wäre auch »der Vorteil dieses Ansatzes« dahin, »dass hier kein Spalt zwischen Sein und Sollen mehr klafft und daher keine schwerwiegenden Begründungsprobleme drohen«. Denn »was gut für die Menschen ist, zeigt sich da­ ran, ob sie im Aristotelischen Sinne glücklich sind […], es liegt am Tage und kann empirisch eingeholt werden«. (Hennig 2015: 516) Wie in der Marx-Rezeption allgemein, so wird auch in der Diskussion über die normativen Grundlagen der Kapitalkritik die Frage erörtert, inwiefern die Frühschriften, insbesondere die 1932 erstmals vollständig publizierten Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte von 1844, für die Interpretation des Kapitals heranzuziehen sind. Lange hat die These vertreten, dass Marx in den Manuskripten die hegelsche »Entäußerungsbzw. Vergegenständlichungstheorie der Arbeit« (Lange 1980: 12) übernehme. Das Entäußerungs- bzw. Vergegenständlichungsmodell bilde »die entscheidende grundbegriffliche Ressource« seiner Kritik, die Grundris­ se von 1857/58 und das Kapital eingeschlossen.71 Die Manuskripte seien daher »›die wahre Geburtsstätte und das Geheimnis‹ […] der Marxschen Ökonomiekritik«. (Lange 1980: 55) Konstitutiv für das genannte Modell der Arbeit sei die These vom Menschen als ›Gattungswesen‹, die Marx in Anlehnung an Feuerbach und Moses Heß entfalte. In ihr verbärgen sich »die normativen Voraussetzungen seiner Kritik der Nationalökonomie und des nationalökonomischen Zustands« (Lange 1980: 86). In jüngster Zeit hat Quante Langes Interpretation aufgegriffen und 71 Lange (1980: 10) zieht dem Kapital die Grundrisse vor, weil in ihnen »die für Marx’ Kritikkonzeption entscheidenden begrifflichen Strukturen klarer greifbar erscheinen«.

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ergänzt. Auch er meint, dass »das Vergegenständlichungsmodell« der Arbeit »im Zentrum jeder philosophischen Marx-Deutung« (Quante 2009: 234) und Kapital-Interpretation stehen muss. Die genannten normativen Voraussetzungen ließen sich aber, so die Ergänzung zu Lange, »vor allem in der Marxschen Konzeption der Anerkennung verorten« (Quante 2009: 262 Fn. 23), welche in seinen ebenfalls 1844 entstandenen Notizen zu James Mills Élémens d’ économie politique enthalten sei.72 Quante wendet sich damit gegen die Deutung von Marx’ »essentialistischer Konzeption des Gattungswesens« und der Entfremdung als »ethisch imprägnierte Theorie aristotelischen Typs«. Aus dieser Konzeption folge nicht zwingend, dass »die Realisierung des Wesens des Menschen zugleich ein ethisch bedeutsames Gut ist«. (Quante 2009: 270) Gegen die These vom »Entäußerungs- bzw. Vergegenständlichungsmodell« der Arbeit als der ›entscheidenden grundbegrifflichen Ressource‹ jeder Marx-Interpretation spricht, dass dieses Modell mit Marx’ Ausführungen im Kapital nicht vereinbar ist.73 Gemäß der These ist Arbeit allein Vergegenständlichung eines subjektiven Zwecks, sodass gilt: »Nichts ist in den Handlungsprodukten, was nicht zuvor im Handlungsprozeß gewesen wäre.« (Quante 2009: 246) Ersetze man Marx’ ungenaue Rede vom »Gegenstand« durch die von »Sachverhalten bzw. Tatsachen«, dann treffe auf seine Auffassung der Arbeit zu, was Hegel für die Handlung allgemein behaupte: die »Identität von subjektivem Zweck (= Absicht) und objektivem Zweck (= entäußerter, realisierter, verwirklichter Zweck)«. (Quante 2009: 242 ff.)74 Tatsächlich kann von dieser Identität im Hinblick auf das Kapital nicht die Rede sein. Hegels Bestimmung der Identität von subjektivem und objektivem Zweck erfolgt im Rahmen einer Philosophie, für die »raum-zeitliche Gegenstände wesentlich begrifflicher oder – wie man heute sagen würde – propositionaler Natur« (Quante 2009: 237) sind. Die Natur, die von dem Geistwesen Mensch durch die tätige Realisierung seiner subjektiven Zwecke angeeignet wird, ist diesen Zwecken nicht heterogen, denn sie ist wie der Geist eine, im Vergleich zu ihm allerdings defizitäre, Daseinsweise der Idee. Unter dieser Voraussetzung werden die äußeren Bedingungen der Arbeit: der Arbeitsgegenstand und das Arbeitsmittel, herabgesetzt zu bloßen Momenten der Realisierung des Zwecks, welcher in dieser Realisierung nur mit sich selbst zusammengeht. Marx teilt diese Voraussetzung nicht. Vergegenständlichung ist nicht ein teleologischer Prozess, in dem alle gegenständlichen Bedingungen zu bloßen 72 Quante (2012: 3): »Zwischen dem Marxschen Denken, wie es sich ab 1843 herausbildet, und dem Marxschen Denken, wie wir es bis zu den letzten Arbeiten am Kapital vorfinden, gibt es aus philosophischer Sicht eine fundamentale Kontinuität.« 73 Vgl. Elbe (2014: 376). 74 Vgl. Lange (1980: 28 ff.); vgl. Hegel, Rph 207 f., PhG 295 f.

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Momenten der Zweckrealisierung bestimmt sind, sondern einer, in dem die zweckmäßige Verausgabung von Arbeitskraft dem gegebenen, an sich bestimmten Material eine Form aufprägt.75 Auch die These, wonach die normativen Voraussetzungen von Marx’ Ökonomiekritik in dessen »Konzeption der Anerkennung« aus den MillExzerpten enthalten seien, ist mit Blick auf das Kapital nicht haltbar. Die Rede von der Anerkennung ist Teil einer hilflosen, bisweilen moralisierenden Kritik, die sogar Gefahr läuft, als antisemitisch missverstanden zu werden, wenn sie formuliert, die bürgerliche Gesellschaft erzeuge »aus ihren eignen Eingeweiden […] fortwährend den Juden« (ZJF 166/374), wobei allerdings ›Jude‹ hier schlicht ein Synonym für ›Bourgeois‹ ist.76 Schon für die Frühschriften ist aber zu zeigen, dass Marx nicht ethisch, sondern geschichtsphilosophisch argumentiert, wenn er die bürgerlichen Verhältnisse als zu überwindende darstellt. Lange und Quante vertreten ihre Thesen im Rahmen einer Marx-Deutung, die dessen »Denken« »in sprachkritischer, geistesgeschichtlicher und handlungstheoretischer Perspektive« (Lange 1980: 11) betrachtet respektive »das philosophische Grundgerüst des Marxschen Denkens« in den Manuskripten herausarbeiten will, in denen »die Verbindung der genuin philosophischen mit den ökonomischen Denkmotiven« im Unterschied zum ökonomischen Spätwerk noch sichtbar sei (Quante 2009: 232 f.). Die Gegenüberstellung von »Denkmotiven« zeigt, dass auch Quante geistesgeschichtlich orientiert ist. Die Kontrastierung »genuin philosophischer« und »ökonomischer« Motive mag aus geistesgeschichtlicher Sicht sinnvoll erscheinen, denn ihr geht es um »Marx’ Denken«. Sie verfehlt aber die Theorie als solche. Ungeklärt bleibt nämlich, inwiefern die Entwicklung des marxschen Denkens einher geht mit einer wachsenden Einsicht in die Sache.77 Überhaupt zeigt sich die Mehrzahl der Interpreten, unabhängig von ihrem spezifischen Ansatz, allein am ›marxschen Denken‹ interessiert. 75 ›Vergegenständlichung‹ meint »nicht das Sich-Objektivieren eines subjektiven Zwecks im Sinne einer starken Identität von subjektivem und objektivem Zweck, sondern ein Sich-Einbilden des arbeitenden Subjekts in den Arbeitsgegenstand als Umformung gemäß dessen gegebenen Eigenschaften« (Arndt 2010: 204 f.). 76 Schefold (1970: 223) bescheinigt dem jungen Marx, er sei »kein Rassist, sondern nur ein ›Sozial-Antisemit‹«. Ganz anders Brunkhorst (2014). 77 Vgl. Fulda (1975), dessen »These zur Dialektik als Darstellungsmethode (im ›Kapital‹ von Marx)« von der Argumentation im Kapital vollständig absieht. Vgl. Lange (1980: 196), der meint, unabhängig von seiner »philosophischen Präokkupation für das Vergegenständlichungsmodell« durch Marx ergebe sich, dass der Wert kein Produkt sei, »sondern korrelativ zu Bewertungen komparativer Art«.

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Ob im Anschluss an Habermas behauptet wird, »normative Voraussetzungen im Sinne eines radikalisierten bürgerlichen Naturrechts, wie sie vom jungen Marx noch explizit formuliert werden«, seien »beim späten Marx in eine spekulativ-geschichtsphilosophische Rahmenkonstruktion gleichsam abgewandert« (Wellmer 1986: 233); ob im Anschluss an Theunissen die These verfochten wird, konstitutiv für die Darstellung des Kapitals sei die immanente Kritik des normativen Selbstverständnisses der bürgerlichen Gesellschaft, welche aber letztlich »kollabiert« (Lohmann 1991: 286), weil Marx hier anders als noch in den Frühschriften mit der naturrechtlich-moralischen Auffassung des Rechts und dem aristotelisch geprägten Begriff des guten Lebens bricht; ob die These aufgestellt wird, »that recognition is constitutive for Marx’ concept of capital«, weswegen von einer grundlegenden Kontinuität in Marx’ »basic philosophical conception« (Quante 2013: 2) seit 1844 zu sprechen sei; oder ob Marx attestiert wird, er sei »ganz offensichtlich« ein Immoralist, dessen wertende Urteile über die kapitalistischen Verhältnisse nicht auf moralische Werte rekurrierten, sondern auf nichtmoralische Güter wie Wohlfahrt, Solidarität, Sicherheit und menschliche Entfaltung (Wood 1986: 23) – stets wird die Frage nach der normativen Grundlage der marxschen Theorie als Frage nach den normativen Prämissen seines Denkens erörtert. Nun mag es ja sein, dass Marx – um Woods These aufzugreifen – »ein Immoralist war« und dass es »keine textmäßig ausweisbaren Antworten auf Fragen wie die folgenden gibt: ›Welches war Marx’ Auffassung von Moral?‹; ›Wieso war Marx ein Immoralist?‹«. Es mag auch sein, dass »Marx’ Immoralismus mit seinen anderen ausdrücklichen Lehren verträglich ist und durch sie in schlüssiger Weise gestützt werden kann«. (Wood 1986: 23) Doch zielen solche Fragen und Vermutungen an der Theorie qua Theorie vorbei. Marx hat als Theoretiker verschiedene Lehren vertreten (zu schweigen von den Auffassungen des Polemikers, Pamphletisten, Journalisten, Agitators und Briefschreibers), deren Kompatibilität nicht schon dadurch gesichert ist, dass sie von ihm vertreten wurden.78 Und die subjektiven Beweggründe, die ihn zur Abfassung des Spät- und Hauptwerks trieben, sollten nicht mit dessen Gehalt verwechselt werden. Die Einheit der Theorie ist selbst theoretischer Natur, sie steht und fällt mit der Stichhaltigkeit der Argumentation. Die Einheit der Denkentwicklung des Autors Marx ist biographischer Natur und umfasst die Zeitspanne seines intellektuellen Bildungsprozesses und seiner 78 Dies ist auch McCarthy (1990: 253) bewusst, der aber gleichwohl im Ka­ pital eine »beautiful (though jumbled) montage of critiques« erblickt und eine »theory of social ethics and justice« mit Bezügen zur philosophischen Tradition, besonders zu Aristoteles. Die alten Debatten über den philosophischen und szientistischen Marx seien »simply unfounded« (257).

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theoretischen Tätigkeit. Die Kapitaltheorie zählt offensichtlich weder zu den Einzelwissenschaften noch zur Philosophie im hergebrachten Verständnis, konkurriert aber mit der Ökonomie, den Sozialwissenschaften und der Geschichtswissenschaft um die Erkenntnis von Ökonomie und Gesellschaft und ist ohne die philosophische Tradition gar nicht denkbar.79 Werden die Gründe für ihre Konzeption und Architektonik ganz in Marx’ Denkentwicklung gesucht, dann spricht prinzipiell nichts mehr dagegen, diese Entwicklung auch tiefenpsychologisch auszuleuchten und in einer Untersuchung über Ethik und Marx dessen Persönlichkeit zum Gegenstand zu machen.80

2. Zu dieser Arbeit Untersuchungen des marxschen Denkens sind selbstverständlich legitim. Sie sind sogar unerlässlich, weil nur durch sie der Problemhorizont sichtbar wird, dem sich Marx gegenübersah und die theoretischen Mittel deutlich werden, die ihm zur Verfügung standen. Sie informieren darüber, mit welchen Theorien sich Marx wann beschäftigte und inwiefern ihre Rezeption ihm einen Zugang zum eigentlichen Gegenstand: der kapitalistischen Produktionsweise, eröffnete; sie informieren über die Motive und die Argumente, mit denen sich Marx ab Mitte der 1840er Jahre 79 Ein Umstand, der die Vertreter der Einzelwissenschaften vor Probleme stellt. Der Ökonom etwa, der Marx die Ehre antut, ihn in die Reihe der Klassiker seines Fachs aufzunehmen, verfehlt dessen Theorie von vornherein. Er liest sie als Politische Ökonomie und nicht als deren Kritik. Die hegelschen Gedankenfiguren im Kapital nimmt er als Jargon wahr: »[I]t is no more than window dressing.« (Blaug 1962: 273). Die Auskunft des Biographen: Marx habe die absurde kapitalistische Realität eben nicht mit den Mitteln der Einzelwissenschaften, sondern nur mittels »elaborate metaphors or metaphysics […], confusing digressions or philosophical orotundities, […] literary flourishes« (Wheen 1999: 303 ff.) darstellen können, bleibt bloße Behauptung. 80 Vgl. etwa Kamenka (1962: XI): »[I]t is in the earlier writings and private drafts that we shall find the key to his ethical views and their puzzling ­place in his mature beliefs.« Vgl. Wildt (2002: 693 ff.): »Marx’ Persönlichkeit, seine frühesten Texte und die Moral der Militanz«. Nach Iorio (2003: 286) muss eine Untersuchung des Verhältnisses von Marx zur Moral den großen Einfluss der aristotelischen Anthropologie auf das Selbstverständnis des europäischen Bürgertums berücksichtigen, »dem ja auch Marx entstammt«. Henning (2015: 460) imputiert Marx eine »perfektionistische Philosophie«, die seiner »ökonomischen Theorie und Sozialphilosophie voraus[läuft] – nicht im Sinne einer Deduktion aus ersten Prinzipien, sondern im Sinne einer intellektuellen Biographie«.

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ZU DIESER ARBEIT

gegen Moral, normative Ethik und die Philosophie insgesamt wandte. Das marxsche Denken wird deshalb auch in dieser Arbeit ausführlich gewürdigt, es wird freilich auch von dem theoretischen Gehalt des Spätund Hauptwerks unterschieden. Der Einwand, diese Unterscheidung sei unsinnig, schließlich sei das Kapital (zumindest der von Marx selbst noch publizierte erste Band) zu Recht als die eigentliche Leistung seines Denkens anzusehen, verfängt nicht. Zwischen dem Denken eines Theoretikers und der Theorie, in die dieses Denken mündete, ist in dem Moment zwingend zu unterscheiden, in dem die Theorie nicht mehr nur Gegenstand eines methodologischen, geistes-, motiv- oder ideengeschichtlichen Interesses ist, sondern die Wahrheitsfrage an sie gestellt wird. Eine Untersuchung, die sie stellt, wird die richtigen Argumente des Theoretikers von den falschen, von den Irrtümern und Selbstmissverständnissen unterscheiden müssen. Auf diese Weise treten Denken und Theorie auseinander. ›Marxsches Denken‹ bezeichnet jetzt die Motive, Themen und Theoreme, deren Einheit nicht selbst theoretischer Natur sein kann. Die Differenz von marxschem Denken und Kapital zeigt sich, grob gesagt, in zweierlei Hinsicht. Die erste betrifft das Kapital als Theorie der Produktionsweise. Ein auf das marxsche Denken abhebendes Vorgehen muss zu dem Ergebnis kommen, Marx habe sich sowohl in den Manuskripten als auch im Ka­ pital hegelsche Denkfiguren zu Eigen gemacht. Dies ist richtig, besagt allerdings noch nichts darüber, inwiefern der Rückgriff auf Hegel sachlich gerechtfertigt ist. Tatsächlich bedient sich Marx in den Manuskripten ohne weitere Rechtfertigung hegelscher Denkfiguren, um die politische Ökonomie von einem vermeintlich höheren theoretischen Standpunkt kritisieren zu können. Dagegen ist im Kapital der Rekurs auf Hegel sachlich gerechtfertigt. Marx weist hier nach, dass der gesellschaftliche Reproduktionsprozess des Kapitals eine der hegelschen Geistphilosophie ähnliche Struktur hat. Der Nachweis erfolgt auf dem Weg der Untersuchung der notwendigen Bedingungen der Kapitalverwertung. Auch der Gesichtspunkt der Totalität, der vermeintlich von Hegel geerbte Holismus der Kapitaltheorie, erweist sich als sachliches Erfordernis: der Gegenstand der Untersuchung selbst, zuerst in Gestalt der verschiedenen, ineinander verschlungenen Kapitalkreisläufe, nötigt zur Reflexion auf die Totalität des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, eine Reflexion, die später in die Lehre von Produktionspreis und gesellschaftlicher Durchschnittsprofitrate resultiert. Der ›Vorrang des Objekts‹ (Adorno) nötigt zur Spekulation. Die zweite Hinsicht betrifft das Kapital als Kritik der Produktionsweise. Der Entwicklung des marxschen Denkens zufolge schließt der Charakter des Kapitals als einer positiven, zudem ›materialistischen‹ Wissenschaft eine normative Dimension aus. Es lässt sich aber zeigen, dass Marx aus sachlichen Gründen wiederholt genötigt ist, normative 49

EINLEITUNG

Argumente ins Feld zu führen. Ein Vorgang, den Marx nirgends thematisiert. Eine Arbeit, die die normativen Grundlagen der marxschen Kapitaltheorie unter Rekurs auf Kants praktische Philosophie freilegen will, wird vorweg Bedenken provozieren. Vor dem Hintergrund des eben Gesagten wird sie mit dem Vorwurf rechnen müssen, ihr Vorhaben verfehle zwangsläufig »den authentischen Kern der Marx’schen Lehre« und verzerre den »philosophiehistorische[n] Sachverhalt« (Schröder 2005: 136), dass Marx (und Engels) zu den prominenten Kritikern von Moral und Ethik gehörten.81 Es sei deshalb noch einmal betont: Dieser Arbeit geht es gar nicht um den Platz, den Marx und Engels – das ›Denken von Marx und Engels‹ – in der Philosophiehistorie einnehmen. Vielmehr geht es ihr um das sachliche Problem, inwiefern die marxsche Kapitaltheorie als Kapitalkritik gelten kann und darüber hinaus auch als Modell einer kritischen Theorie der Gesellschaft. Dabei setzt sie voraus, dass die Charakterisierung einer Theorie durch ihren Autor nicht notwendig für das letzte Wort in der Sache selbst zu nehmen ist. Selbstverständlich kann sich ein Theoretiker über den Charakter oder Details seiner eigenen Theorie irren. Es ist »gar nichts Ungewöhnliches«, so etwa Kant, »sowohl im gemeinen Gespräche, als in Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete, oder auch dachte« (KrV B 370). Als ›eigene Absicht‹ darf man dem Autor des Ka­ pitals die kritische Analyse der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse unterstellen. Dass er hier und da auch im Kapital entgegen dieser Absicht gedacht hat, indem er sich beispielsweise über bestimmte Voraussetzungen der Kapitaltheorie nicht im Klaren war, ist nicht auszuschließen. Ein weiterer möglicher Einwand gegen die Intention, die Theorien von Marx und Kant aus einem systematischen, nicht historischen Interesse aufeinander zu beziehen, betrifft allein die kantische praktische Philosophie. Wer sich heute noch in systematischer Hinsicht auf sie beziehe, so der Einwand, laufe Gefahr, Prinzipien zu affirmieren, die sich möglicherweise »als vollkommenen haltlos angesichts einer widerspenstigen Realität aus Institutionen und kulturellen Gewohnheiten erweisen« (Honneth 2011: 119). Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass der Begriff der normativen Geltung von Normen durch den der sozialen 81 Schröder (2005) stellt sich einmal die Frage, ob abgesehen von der »Entwicklungsgeschichte des Marx’schen Denkens« sachliche Gründe für »ethische Prämissen« bestünden, verneint dies aber, indem er im Einklang mit Wood (1981) behauptet, Marx und Engels operierten mit dem Maßstab »nicht-moralischer Güter« (130; 122).

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Geltung zu ersetzen sei.82 Die kantische Moralphilosophie tauge nicht als Grundlage einer kritischen Theorie von Gesellschaft und Ökonomie, da für sie, anders als etwa für Hegels Theorie der Sittlichkeit, das Absehen von Gesellschaft und Ökonomie konstitutiv sei. Der Einwand erfolgt von Seiten derer, die sich unter Berufung auf Hegel prinzipiell gegen die Trennung von Gesellschaftsanalyse und moralischer Prinzipientheorie wenden. Ihre Kritik gilt neben Kant vor allem den zeitgenössischen Theoretikern, die sich unter Berufung auf Kant genau dafür aussprechen, insbesondere die Vertreter der Diskurstheorie Habermas und Apel. Diese entwickelten zunächst getrennt von der Sittlichkeit gegebener Praktiken und Institutionen rein normative Prinzipien, um sie erst in einem zweiten Schritt auf die gesellschaftliche Realität anzuwenden.83 Ein solches Vorgehen führe zu der bekannten Entgegensetzung von Sein und Sollen und zu Anwendungsproblemen – also zu Problemen, die Hegel schon bei Kant kritisiert habe. Diese Kritik darf allerdings nicht darüber hinwegsehen lassen, dass beide, Kritiker und Kritisierte, mit der Tradition, von der sie sich herschreiben und der sie zugeschrieben werden, tatsächlich gebrochen haben. Weder ›Hegelianer‹ noch ›Kantianer‹ möchten sich mit dem ›starken‹ Vernunftbegriff Kants oder Hegels ›belasten‹. Sie sehen sich jeweils in einer Tradition, deren Kern sie für nicht (mehr) diskussionswürdig halten. Honneth zufolge hat Hegel »seinen dialektischen Begriff des Geistes« in einem »idealistischen Monismus« verankert, der »für uns, die Kinder eines materialistisch aufgeklärten Zeitalters, nicht mehr recht vorstellbar [ist], so daß auch für seine Idee eines objektiven, in den sozialen Institutionen verwirklichten Geistes eine andere Grundlage gesucht werden muß« (Honneth 2011: 17). Nach Habermas ist »radikale Erkenntniskritik nur als Gesellschaftstheorie möglich« (Habermas 1968: 9). Eine Gesellschaftstheorie aber, »die für ihre Grundbegriffe Universalität beansprucht, ohne sie einfach konventionell an ihren Gegenstand herantragen zu können, bleibt in der Selbstbezüglichkeit gefangen« (Habermas 1981 II: 592). Aus 82 Vgl. Honneths (2011) Verfahren einer »normativen Rekonstruktion«, das verspricht, Normen und Maßstäbe mit »sozialer Geltungskraft« aufzuweisen. Honneth stellt zwar eine Differenz zwischen Sein und Sollen fest, etwa beim Markt, der nicht so ist, wie er sein soll. Die Differenz soll aber keine prinzipielle sein. Die »kapitalistische[] Marktwirtschaft« enthalte ein »normatives Versprechen« (357), das es noch einzulösen gelte. 83 Honneth (2011: 14 f.; 21 ff.) sieht in Habermas und Rawls Vertreter einer »kantianischen Gerechtigkeitstheorie«. In der Diskurstheorie Apels und Habermas’ nimmt er zwar eine »Hinwendung zum Sozialen« wahr – als institutionelle Gegebenheit sei der Diskurs nämlich selbst »ein Element des Freiheitsvollzugs« –, allerdings bleibe diese »in der Schwebe zwischen Transzendentalismus und Institutionalismus, zwischen Geltungstheorie und Sozialtheorie« (81 f.).

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EINLEITUNG

der Immanenz dieser selbstbezüglichen Gesellschaftstheorie führe keine »transzendentale Reflexion« oder Überlegung »reiner praktischer Vernunft« heraus. Indem sie die Idee der einen, reinen Vernunft durch die »Idee der Einlösbarkeit kritisierbarer Geltungsansprüche« ersetzt, »detranszendentalisiert« die »Theorie des kommunikativen Handelns« das Intelligible. Diese Idee erfordere zwar Idealisierungen wie die Herrschaftsfreiheit des Diskurses, diese würden aber »von den kommunikativ Handelnden selber vorgenommen und damit vom transzendentalen Himmel auf den Boden der Lebenswelt herabgeholt« (Habermas 1992: 34 f.). Weil diese Idealisierungen nicht apriorischer, sondern kontrafaktischer Art seien, nicht reiner, sondern kommunikativer Vernunft entsprängen, implizierten sie keine »metaphysischen Hintergrundannahmen« (Habermas 1992: 24) über den Gegensatz des Intelligiblen und Phänomenalen. Habermas zufolge erweist sich der kantische Vernunftbegriff aufgrund seiner metaphysischen und monologischen bzw. solipsistischen Implikationen als einem überkommenen philosophischen Paradigma zugehörig. Fragwürdig an dieser Behauptung, die stets mit dem Gestus vorgetragen wird, sie verstehe sich heute von selbst, ist zunächst der Begriff von Metaphysik, der ihr zugrunde liegt. Er ist wesentlich negativ bestimmt und bezeichnet die Philosopheme, die dem heute einzig vertretbaren ›nachmetaphysischen Denken‹ zeitlich vorausgingen. Dadurch werden selbst »metaphysikferne und -feindliche Philosophen wie die antiken Skeptiker« (Brandt 2002: 66) unter ›Metaphysik‹ rubriziert und der Metaphysikbegriff wird diffus. Unterscheidungen wie die für die kantische Philosophie zentrale zwischen ›transzendent‹ und ›transzendental‹ spielen keine Rolle mehr. Fragwürdig ist ferner der gegen die kritische Philosophie Kants erhobene Vorwurf, sie vertrete die Konzeption einer ›monologischen‹ bzw. ›solipsistischen‹ Vernunft, die vom Standpunkt des einsamen, von Geschichte und gesellschaftlicher Praxis unberührten Einzelnen aus zu Erkenntnis fähig sei. Für die Kritik der reinen Vernunft ist daran zu erinnern, dass das transzendentale ›Ich denke‹, das in jedem erkennenden Bewusstsein dasselbe ist, der Unterscheidung von ›subjektiv-intersubjektiv‹ und ›monologisch-dialogisch/kommunikativ‹ vorausliegt. Die Unterscheidung ist nur dort sinnvoll, wo die Alternative offensteht, nämlich im Bereich empirischer Subjekte, die sich auf sich oder auf andere beziehen können.84 Für die Kritik der praktischen Vernunft ist daran zu erinnern, dass der kategorische Imperativ nicht »ein monologisch zu handhabender Verallgemeinerungstest« (Habermas 1996: 49) ist. Vielmehr gebietet er, die Maxime des Willens auf ihre Gesetzestauglichkeit zu überprüfen.85 84 Vgl. Höffe (1996: 404 f.); Kuhne (2007: 17–81). 85 »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« (KpV A 54).

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Konstitutiv für Gesetze sind nach Kant aber strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit.86 Dabei ist die bloße Verallgemeinerbarkeit einer Maxime nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung ihrer Gesetzestauglichkeit. Die Maxime muss sich auch als notwendig erweisen im Hinblick auf ein mögliches ›Reich der Zwecke‹.87 Für die Kritik der Ur­ teilskraft, speziell der ästhetischen, ist schließlich daran zu erinnern, dass die Verbindlichkeit von reinen Geschmacksurteilen vom Urteilenden fordert, »an der Stelle jedes andern [zu] denken« und »aus einem allgemei­ nen Standpunkte« (KdU B 158 f.) über das eigene Urteil zu reflektieren. Der Geltungsanspruch der ästhetischen Reflexion des Einzelnen muss nicht durch die Zustimmung anderer abgesichert werden.88 Kurzum: Der Vorwurf, Kants Vernunftbegriff sei der einer ›monologischen‹, ›solipsistischen‹ Vernunft, wird von der Warte des vermeintlich überlegenen, sprachphilosophischen Paradigmas erhoben.89 Kants Kritiken enthalten transzendentale Reflexionen auf die Bedingungen der Möglichkeit von Urteilen: Erkenntnisurteilen, praktischen Urteilen, ästhetischen Urteilen. Der »natürliche Ort der Urteile und der Begriffe ist bei Kant« aber das Bewusstsein des Urteilenden und »gerade nicht die Sprache« (Wieland 2001: 81). Urteile sind daher von den Aussagen und Aussageformen, in denen sie artikuliert werden, zu unterscheiden. Nur wer darin einen obsoleten ›Mentalismus‹ sieht und die kantische Argumentation daher von vornherein einer immanenten Kritik nicht für Wert hält, kann dem Vorwurf zustimmen. Ein drittes Bedenken mag die schon im Titel angesprochene Kombination ›Marx und Kant‹ hervorrufen, die philosophiehistorisch Informierte 86 Vgl. Brandt (2007: 352 ff.). 87 Vgl. GMS B 78 ff. In der zweiten Kritik ist der Begriff des höchsten Guts, der das a priori notwendige Objekt eines vernünftig bestimmbaren Willens bezeichnet, ein ethischer Totalitäts- oder Weltbegriff (Düsing 1971: 32). Das höchste Gut ist nicht ein ethischer Zweck unter anderen, und die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts ist keine besondere Pflicht unter anderen, sondern es ist der Inbegriff der ethischen Zwecke, und die Pflicht zu seiner Beförderung ist der Inbegriff der Pflichten, die zugleich Zwecke sind. 88 Dazu Scheer (1993: 43): Als Inbegriff der apriorischen Erkenntnisvermögen hat Vernunft einen »Totalisierungs- und Integrationsanspruch«, der angesichts der heute gängigen Rede von verschiedenen »Typen der Rationalität« die Frage nach einer »übergreifende[n] Rationalität oder Vernünftigkeit« aufwirft, »die die Zusammengehörigkeit der Formen der Vernunft erkennen« ließe. 89 Tugendhat (1993: 45) nennt Kants Vernunftbegriff, »der sich nicht mehr am gewöhnlichen Sinn von Rationalität orientiert«, eine »philosophische Erfindung. Man könnte jetzt von Vernunft-fettgedruckt sprechen«. Er bestätigt damit die Beobachtung Gamms (2000: 116 Fn. 9), wonach gerade die Theoretiker, »die am nachdrücklichsten ihre Rationalitäts- und Diskursivitätsansprüche herausstreichen«, sich häufig metaphorischer Redeweisen bedienen.

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EINLEITUNG

an die Epoche des neukantianischen Sozialismus und des Revisionismusstreits in der deutschen Sozialdemokratie denken lässt. Dieses Thema, so der mögliche Einwand, sei vor 120 Jahren erschöpfend behandelt und danach zu Recht wieder vergessen worden. »[D]ie Melodien des ethischen Sozialismus [sind] ohne Ergebnis durchgespielt worden.« (Habermas 1976: 11) Die Vermutung, es solle hier noch einmal neukantianisch argumentiert werden, wäre aber ein Missverständnis. Die Namen ›Kant‹ und ›Marx‹ stehen hier nicht einfach für zwei verschiedene ›Methoden‹, von denen gezeigt werden soll, dass sie einander gar nicht ausschließen, sondern im Gegenteil ergänzen. Statt der oberflächlichen Frage nachzugehen, ob die als ›entwicklungsgeschichtlich-ökonomisch‹ aufgefasste vermeintlich marxsche Methode mit der ›erkenntniskritisch-ethisch‹ verstandenen vermeintlich kantischen Methode harmoniert, kritisiert die vorliegende Arbeit die avancierten Theorien von Marx und Kant immanent und fragt, in welchem Verhältnis die so kritisierten zueinanderstehen. Ihre Untersuchung zu Marx und Kant beginnt nicht mit Marx, sondern mit Kant. Ausschlaggebend dafür ist nicht die zeitliche Abfolge der Theorien, sondern ein systematisches Interesse: Um die marxsche Kapitaltheorie auf ihre etwaigen normativen Implikationen hin untersuchen zu können, muss zuvor deutlich gemacht werden, was unter ›normativen Implikationen‹ der Sache nach (nicht Marx’ möglicher Intention nach) zu verstehen ist. Dazu sind die in diesem Zusammenhang zen­ tralen Begriffe der praktischen Vernunft und der Freiheit zu klären. In einem ersten Schritt geschieht dies in Teil I (KANT) auf dem Wege der immanenten Kritik der kantischen Philosophie. Teil II (HEGEL) enthält einen kritischen Exkurs über Hegels Versuch, spekulativ über die Transzendentalphilosophie Kants (und des Kantianers Fichte) hinauszugehen. Teil III (MARX) handelt in der eben skizzierten Weise von der Kapitaltheorie: thematisiert sie vor dem Hintergrund der Entwicklung des marxschen Denkens und kritisiert sie immanent, um zuletzt den Konsequenzen nachzugehen, die sich aus der Kritik der Kapitaltheorie und der praktischen Philosophie Kants für die Kritisierten und für deren Verhältnis zueinander ergeben. Näher ergibt sich folgende inhaltliche Gliederung. Teil I (KANT) erörtert zunächst (Kapitel 1), wie Kant Moralität und Freiheit als Vermögen der Autonomie aufweist. Moralität kann nicht diskursiv begründet, sie kann nur expliziert werden durch eine Reflexion, die sich auf sie als einen bestehenden und, wenn auch undeutlich, immer schon verstandenen praktischen Sachverhalt bezieht. Diese Reflexion ist transzendental und praktisch. Ihr Ausgangspunkt ist die Erfahrung eines unbedingten Sollens, ihr Resultat der begriffliche Aufweis der Wirklichkeit der Freiheit des Willens oder der Intelligibilität des Menschen. Dass der freie Wille kein Gegenstand möglicher einzelwissenschaftlicher Erkenntnis ist, muss 54

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ihn aus der Perspektive eines naturwissenschaftlichen Naturalismus oder Materialismus als einen ›absonderlichen‹ Gegenstand erscheinen lassen. Kapitel 2 zeigt, dass erst mit der Tugendlehre Kants Rede von der ›Gesetzestauglichkeit der Maxime‹ argumentativ eingeholt ist. Erst auf ihrer Grundlage können auch zwei notorische Einwände gegen Kants Moralphilosophie pariert werden: die Kritik an ihrem vorgeblichen ›Formalismus‹ und ›leeren Sollen‹ und der Vorwurf, sie ›überfordere‹ das Individuum. Gemäß der Tugendlehre fordert die Moral vom Individuum nichts, was über dessen reale Möglichkeiten hinausginge oder die Drangabe seines weltlichen Glücks bedeutete. Die Sinnhaftigkeit der Moral scheint daher für den Einzelnen, der vernünftig sein will, offensichtlich. Irritierender Weise geht Kant aber unter dem Titel ›Was darf ich hoffen?‹ dennoch der Frage nach dem Sinn der Moral nach (in der Dialektik der zweiten Kritik und in der Religionsschrift). Moralisches Handeln hat demnach nur dann einen Sinn, wenn Glückswürdigkeit und tatsächliches Glück des Individuums in einem notwendigen Verhältnis stehen. Da dies in dieser Welt nicht der Fall ist, lässt sich die Sinn-Frage nicht innerweltlich beantworten, sondern nur durch den Nachweis, die Hoffnung, für moralisches Handeln dereinst in einer anderen Welt belohnt zu werden, sei vernünftig. Dieser Nachweis misslingt notwendig und begründet Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Sinn-Frage. Kapitel 3 skizziert entlang der drei Kritiken das Problematische der kantischen Philosophie der Freiheit. Sie bedarf einerseits zwingend eines nicht-moralischen Begriffs der Freiheit, kann diesen aber andererseits nicht gelten lassen, weil er unverträglich ist mit dem in der ersten Kritik als denkmöglich eingeführten und in der zweiten Kritik als wirklich erwiesenen Dualismus von bedingter Naturkausalität und unbedingter transzendentaler Freiheit. Weil moralische Freiheit nur im Medium reiner praktischer Vernunft angemessen zu thematisieren ist, aus deren Perspektive das technisch-praktische Vermögen der Aneignung der Natur auf der Grundlage hypothetischer Imperative nur ein funktionales Äquivalent des tierischen Instinkts darstellt, ist Kant ein adäquater Zugang zu den Konstituentien der vom Menschen geschaffenen sogenannten zweiten Natur verstellt. Seine radikale Trennung zwischen dem Technisch- und Moral-Praktischen wird in der dritten Kritik nicht revidiert. Sie hat zur Folge, dass die Erkenntnis der Natur und der praktische Eingriff des Menschen in den Naturzusammenhang für die Philosophie der Freiheit kaum relevant sind. Die zweckmäßige Aneignung der Natur ist aus der Perspektive reiner praktischer Vernunft (bzw. moralisch-reflektierender Urteilskraft) nur insoweit von Belang, als sie auf den moralischen Endzweck, auf Freiheit im emphatischen Sinne ›vorbereitet‹. Kant kann Kultur nicht als Sphäre objektivierter Freiheit fassen, denn die Aneignung der Natur unter menschlichen Zwecken und die damit verbundenen wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Phänomene 55

EINLEITUNG

fallen allesamt in den Bereich der Heteronomie. Fortschritte in diesem Bereich geben keine Anzeige auf das spezifisch menschliche Vermögen der moralischen Freiheit. Anders verhält es sich mit dem Recht, dessen Vernunftbegriff die Moralphilosophie entwickelt. Teil II (EXKURS ZU HEGEL) thematisiert Hegels spekulative Alternative zur kritischen, insbesondere praktischen Philosophie Kants. Kapitel 1 skizziert den Begriff des Willens, Kapitel 2 erörtert einige Fragen, die die Philosophie des objektiven Geistes aufwirft. Dass sie nicht von Geschichte, Gesellschaft und Ökonomie abstrahiert und das Recht als daseiende und nicht nur sein sollende Freiheit begreift, gilt seit jeher als ihr großer Vorzug im Vergleich zur praktischen Philosophie Kants, die nur ein formales Apriori kennt. Sie scheint wieder zur Geltung zu bringen, wovon Kant abstrahiert hat. Hegels Formalismus-Kritik an Kant greift aber zu kurz, wenn sie sich darauf verlegt, die Welt der historischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Tatsachen gegen die ›reine‹ Vernunft der Transzendentalphilosophie auszuspielen. Denn dass Menschen immer schon in bestimmte Traditionen, Normensysteme und institutionelle Zusammenhänge hineingeboren werden, bestreitet diese gar nicht. Und sie geht zu weit, wenn sie die Philosophie darauf verpflichtet, die der Empirie immanente Vernunft darzustellen. Dass Hegels ›Aufhebung‹ kantischer Dualismen problematisch ist, zeigt sich an seiner Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Geschichte, Normativem und Deskriptivem, ›Sache der Logik und Logik der Sache‹ (2.1.–2.3.). Teil III (MARX) thematisiert zunächst einige Selbstmissverständnisse, denen Marx in Sachen Materialismus unterliegt. Gemeint ist seine evolutionistische Deutung der Arbeit, seine Auffassung der Produktivkraftentwicklung als Befreiung von Naturzwängen, seine Kritik der Philosophie (1.1.–1.3.). Er zeigt dann, dass Marx aus sachlichen Gründen genötigt ist, seinen Mitte der 1840er Jahre verkündeten Abschied von der Philosophie zu revidieren, dies aber nicht thematisiert (1.4.) Zwei Varianten eines Zurück zur Philosophie lassen sich unterscheiden, die beide in unterschiedlicher Weise auf den normativen Gedanken der Selbstverwirklichung als Verallgemeinerung rekurrieren. Zum einen Selbstverwirklichung als ›wirklich freie Arbeit‹ im gesellschaftlichen Produktionsprozess, zum anderen als selbstzweckhafte Kraftentwicklung im ›wahren Reich der Freiheit‹ jenseits des Produktionsprozesses. Keine dieser Varianten ist haltbar. Die Kapitaltheorie muss daher gegen den falschen Materialismus ihres Autors verteidigt werden. Kapitel 2 zeigt zunächst die normativen, der ›materialistischen‹ These von der Unselbständigkeit des Geistigen widersprechenden Implikationen der Kapitaltheorie, um anschließend (2.1.–2.5.) die Theorie selbst zu skizzieren. Zwar bestätigt Marx auch im Kapital verschiedentlich die so genannte materialistische Methode, nach der aus den ›wirklichen Lebensverhältnissen‹ der Menschen ihre ideologischen Vorstellungen zu 56

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erklären sind, die tatsächliche Vorgehensweise im Kapital entspricht aber keineswegs diesem Verfahren. Konstitutiv für den Zugang zum Gegenstand der Kapitaltheorie ist hier die Kritik der Politischen Ökonomie. Die Begriffe, Urteile und Schlüsse dieser Wissenschaft sind daher nicht einfach als ideologischer Reflex der materiellen Basis aufzufassen. Vielmehr ist ihr der rationale Anspruch auf Wahrheit ihrer Resultate zu unterstellen. Erst diese Unterstellung macht sie zu einem Gegenstand, der immanent zu kritisieren ist. Marx erkennt nicht, dass sein tatsächliches Vorgehen im Kapital dem von ihm propagierten widerspricht. Mit der Anerkennung des Geltungsanspruchs der Wissenschaft hat er der Sache nach mit der ›materialistischen Geschichtsauffassung‹ gebrochen. Dieser Befund hat unmittelbare Konsequenzen für den Begriff der Ideologie. Kapitel 3 führt aus, dass und inwiefern zwischen Marx’ Ideologiebegriff und dem Ideologiebegriff des Kapitals zu unterscheiden ist. Offenbar ohne, dass Marx sich dessen bewusst ist, tritt im Kapital neben die seit den 1840er Jahren entwickelte Auffassung von Ideologie ein neuer Ideologiebegriff (3.1.). Dieser resultiert aus der Erkenntnis der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise und ist nicht das Ergebnis einer allgemeinen materialistischen Geschichtsauffassung. In seinem Zentrum steht nicht die Unterscheidung zwischen Basis und Überbau, sondern die zwischen dem kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozess einerseits und dessen Oberfläche, der Sphäre der Konkurrenz, andererseits. Er schließt eine normative Grundlage der Kapitaltheorie als Kapitalkritik nicht aus, enthält sie freilich nicht schon. Er zeigt, dass die Menschen eine ›verkehrte‹ Vorstellung von ihren eigenen gesellschaftlichen Verhältnissen haben, er zeigt aber nicht, dass diese Verhältnisse mit Grund zu kritisieren sind. Die theoretische Bestimmung der Produktionsweise enthält nicht den Maßstab ihrer Kritik. Unter den neuen Ideologiebegriff fallen allerdings nicht diejenigen Formen des Bewusstseins, die zufolge der alten Auffassung den Überbau konstituieren, sondern allein solche ökonomischen Inhalts. Die Ideologiekritik des Kapitals betrifft aber auch Recht und Moral (3.2.–3.3.). Hier zeigt sich, dass Marx nicht nur verbal, sondern in seinem tatsächlichen Vorgehen noch der alten Ideologieauffassung anhängt, auch wenn er sie nicht mehr im Rahmen des Basis-Überbau-Schemas entfaltet, sondern in die Unterscheidung von Gesamtprozess und Konkurrenz einpasst. Die Einsicht in die Gesamtstruktur des Kapitals soll es ermöglichen, den ideologischen Gehalt der bürgerlichen Rechtsvorstellungen von Privateigentum, Vertrag und ihrer naturrechtlichen Grundlagen offenzulegen. Freilich zeigen sich hier die Grenzen solcher Ideologiekritik (3.4.) Sie verfehlt den maßgeblich von Kant begründeten bürgerlichen Begriff rechtlicher Freiheit in doppelter Hinsicht. Sie verfehlt seinen Inhalt, denn als Prinzip der Freiheit betrifft das Recht nur das äußere Verhältnis von Personen zueinander, nicht aber die strukturell begründete 57

EINLEITUNG

Herrschaft eines ökonomischen Prinzips. Sie verfehlt zweitens seinen Anspruch auf normative Geltung, denn dieser lässt sich nicht durch den Verweis auf soziale oder ökonomische Tatsachen bestreiten. Die marxsche Rechtskritik verfehlt von vornherein die Dimension der normativen Geltung des Rechts, seine vernunftrechtliche Grundlage. Denn mit ihr sind Rechtsprinzipien, die Anspruch auf unbedingte und universelle Geltung erheben, schon vor jeder spezifischen Kritik dogmatisch als ideologisch behauptet, eben weil sie diesen Anspruch erheben. Eine tragfähige Rechtskritik kann nicht ideologiekritisch, sie muss immanent verfahren und die aufschlussreichen Aporien aufzeigen, in die die vernunftrechtliche Legitimierung des Privateigentums an Produktionsmitteln gerät. Kapitel 4 thematisiert das Verhältnis von Kapitaltheorie und praktischer Philosophie. Weil Kant Freiheit auf moralische Freiheit reduziert, vermag er sie als Bestimmung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses nicht zu erkennen (4.1.). Dass der Mensch, der auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Erkenntnis Naturkräfte für seine Zwecke in Dienst nimmt, Subjekt der Kausalität aus Freiheit ist, ohne dadurch Subjekt der Moralität zu sein, bleibt Kant verborgen. Indem er in der ersten Kritik die Wirklichkeit von Erkenntnis unter Hinweis auf die mathematische Naturwissenschaft voraussetzt, erkennt er aber der Sache nach an, dass die Antinomie von Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit als innerweltliches Problem zugunsten der Freiheit entschieden ist. Es ist deshalb zwischen moralischer und nicht-moralischer Freiheit zu unterscheiden. Die Differenzierung im Begriff der Freiheit zieht die im Begriff der Heteronomie nach sich. Die heteronomen Bedingungen, die der Realisierung moralischer Zwecke entgegenstehen, sind nicht notwendig Bestimmungen von Natur überhaupt. Artikuliert sich in der zweckmäßigen Aneignung von Natur moralneutrale Freiheit und erfolgt diese Aneignung im Rahmen gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Kooperation, dann erscheint die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Realisierung moralischer Zwecke in einem neuen Licht. Zu unterscheiden ist jetzt zwischen Bedingungen, die Bestimmungen der ersten, und solchen, die Bestimmungen der zweiten Natur sind. Erfolgt die Aneignung der ersten Natur im Rahmen der zweiten, dann droht Moralphilosophie, die davon abstrahiert, ideologisch zu werden und den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu behindern. Um dem zu entgehen, muss die Moralphilosophie den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess selbst zum Gegenstand machen, das heißt gesellschaftstheoretisch werden (Kapitel 4.2.). Der Übergang von Moralphilosophie in kritische Gesellschaftstheorie gelingt durch den Nachweis, dass das moralische Interesse des Individuums auf die Veränderung des gesellschaftlichen Ganzen zielt, weil der objektive Zweck, der dieses Ganze bestimmt, mit den objektiven Zwecken, die für das Individuum Pflicht sind, unvereinbar ist. Mit den »objektiven Zwecken, die zugleich 58

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Pflicht sind«, ist der logische Ort bezeichnet, an dem der Übergang zur kritischen Theorie der Gesellschaft ansetzen muss. Es ist die Metaphysik der Sitten (also die Rechts- und Tugendlehre), in der die in den Grundlegungsschriften aufgewiesenen apriorischen Prinzipien auf die besonderen Bedingungen menschlicher Existenz bezogen werden. Es zeigt sich hier, dass das Recht, Kant entgegen, nicht als einschränkende Bedingung tugendhaften Handelns fungieren kann, weil seine Begründung nicht konsistent ist. Das Recht soll das Personsein eines jeden Menschen im Verhältnis der äußeren Handlungsfreiheit zu anderen garantieren. Dabei gebietet seine Formalität, von der Bestimmtheit des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses zu abstrahieren. Dennoch muss Kant aus Gründen, die in seinem eigenen Rechtsbegriff liegen, diejenigen, die über kein subsistenzsicherndes Eigentum verfügen, in das Rechtssystem einbeziehen und damit der Sache nach das sozioökonomische Faktum der freien Lohnarbeit als rechtlich möglich erweisen – was misslingt. Kant entgegen stellt der in den Produktionsmittel-Eigentumsverhältnissen gründende Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft deren Träger objektiv vor ein moralisches Dilemma, das seine freie Rechtssubjektivität paralysiert. Als Nichteigentümer von Produktionsmitteln ist er mit zwei unvereinbaren Pflichten konfrontiert: der Pflicht zur Selbsterhaltung seiner als homo phaenomenon und der, sich anderen nicht zum bloßen Mittel zu machen. Stellt der ökonomische Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft deren Träger objektiv vor ein moralisches Dilemma, so ist zu fragen, inwiefern dieser Zwang auf der Grundlage der kantischen Moralphilosophie Gegenstand moralischer Empörung und Kritik sein kann. Denn dafür reicht es nicht hin, festzustellen, es bestehe ›objektiv‹ ein Dilemma. Eine moralisch begründete Empörung und Kritik müsste aus der Perspektive der ersten Person Singular erfolgen können. Kapitel 4.3. zeigt, dass naheliegende Einwände gegen ihre Möglichkeit nicht verfangen. Weder das zum Verständnis der Dilemmasituation nötige theoretische ›Weltwissen‹ (Kant) spricht dagegen (4.3.1.), noch der Umstand, dass diese Situation in einer ökonomischen Struktur gründet und nicht den Handlungen bestimmter Menschen oder Menschengruppen zugerechnet werden kann. Auch die Vermutung, Kants Moralphilosophie reiche aus historischen Gründen nicht an den Kapitalismus heran, ist unzutreffend (4.3.2). Vielmehr kann gezeigt werden, inwiefern eine moralisch berechtigte Empörung über das Kapital und eine moralisch begründete Kritik an ihm auf ihrer Grundlage möglich ist (4.3.3). Der moralische Grund der Kapitalkritik ist der Kapitaltheorie indirekt zu entnehmen. Ihr zufolge ist in der kapitalistischen Produktionsweise die Freiheit der Menschen von unmittelbarem Naturzwang realisiert und zugleich verkehrt in die Abhängigkeit von der zweiten, gesellschaftlichen Natur. Die gesellschaftliche Reproduktion unterliegt einer eigenen Gesetzmäßigkeit, sie ist autonom. Ihre Autonomie bedeutet für die 59

EINLEITUNG

empirischen Subjekte Heteronomie. Ohne die beiden zentralen Begriffe der praktischen Philosophie Kants: ›Autonomie‹ und ›Heteronomie‹, wäre die Kapitalkritik nicht begründet. Sind die lebendigen Subjekte Funktionsorgane eines allgemeinen Subjekts namens Kapital, dann ist das nur zu kritisieren unter der Voraussetzung, dass es eine Norm gibt, welche vorschreibt, dass Menschen niemals nur als Mittel, sondern immer zugleich auch als Zwecke an sich selbst zu betrachten sind. Es zeigt sich, dass die Kapitaltheorie nur aus der externen Perspektive reiner praktischer Vernunft als Kapitalkritik verstanden werden kann. Als Theorie der kapitalistischen Produktionsweise, die untersucht, was ist, kann sie nicht zugleich Prinzipientheorie der Moral sein, der zu entnehmen ist, was mit Grund (nicht) sein soll. Als Kritik ist das Kapital von einer normativen Grundlage abhängig, die es nicht selbst begründen kann. Dem trägt die ›Darstellung‹ im Kapital, das heißt die Art und Weise, in der die Argumentation entwickelt und die Argumente präsentiert werden, Rechnung. Sie charakterisiert die kapitalistische Produktionsweise als das, was sie ist, und zugleich präsentiert sie diese als etwas, das nicht sein soll. Kapitel 5 geht dem Thema ›Darstellung‹ weiter nach. Es zeigt zunächst (5.1.), dass sich Marx über seine ›dialektische Methode der Darstellung‹ und ihr Verhältnis zur Dialektik Hegels keine hinreichende Klarheit verschafft hat. Die Hoffnung, ›das Rationelle‹ der Dialektik Hegels, von dem Marx 1858 in einem Brief an Engels spricht und auf das er 15 Jahre später im Nachwort der zweiten Auflage des Kapitals zurückkommt, müsse seiner ›dialektischen‹ Darstellung der Wertform zu entnehmen sein, wird enttäuscht. Was nach Marx an Hegels Dialektik rational ist, ist weder dem Wertform-Abschnitt noch dem Kapital insgesamt zu entnehmen. Der begriffliche Status der Anleihen bei Hegel und ihre Funktion für die Darstellung im Kapital werden durch die Darstellung selbst nicht hinreichend transparent. Sie müssen mit und gegen Marx allererst heraus präpariert werden. Die Auskunft des ›Hegel-Marxismus‹, Marx ›adaptiere‹ Hegels Dialektik als die einzig dem Gegenstand Kapital angemessene Methode, kann nicht überzeugen, denn sie verbleibt ganz innerhalb der Grenzen der Überlegungen, die Marx selbst zum Thema angestellt hat. Wenn Marx’ Rede von der ›dialektischen Methode‹ einen Sinn ergeben soll, muss der Rekurs auf sie einhergehen mit einer Veränderung der Bedeutung, die ihr in der hegelschen Philosophie zukommt. Das Kapitel zeigt sodann (5.2. und 5.3.), dass das theoretische und notwendig affirmative Moment der Darstellung im Kapital durch die Darstellung selbst unterlaufen wird, indem diese eine doppelte Struktur hat. Die dargestellte Struktur des Kapitals (die des Gegenstandes der Theorie) und die Struktur der Darstellung (die der Theorie) sind in ihr unterschieden. Die dargestellte Struktur des Kapitals ist ›idealistisch‹, weil und insofern sie Strukturen der hegelschen ›idealistischen‹ Philosophie ähnlich ist, die Struktur der Darstellung ist dagegen ›nicht-idealistisch‹, 60

ZU DIESER ARBEIT

weil und insofern sie eine solche Ähnlichkeit nicht besitzt. Die begriffliche Struktur der Darstellung ist rekursiv, entspricht also nicht dem von Hegel vorgegebenen Ideal eines ›Kreisgangs‹ (5.3.1.). Sie ist zudem auf ein nicht deduzierbares, sondern nur zitierbares Material angewiesen. Das Zitieren von Material in der begrifflichen Darstellung ist ein ästhetisches Mittel, das für die Darstellung konstitutiv ist (5.3.2.). Kapitel 6 untersucht die geschichtsphilosophischen Konsequenzen der Kapitaltheorie. Gegenstand des Kapitals ist zwar nicht die Geschichte. Aber die Theorie der kapitalistischen Produktionsweise darf deren historisches Werden nicht ausblenden, wenn sie nicht ideologisch werden soll. Da dieses Werden zusammenfällt mit dem Entstehen der materiellen Grundlagen der Universalgeschichte, sind der Kapitaltheorie mit und gegen Marx entscheidende geschichtstheoretische Einsichten zu entnehmen. Etwa diese: Um die Genese der Produktionsweise zu konstruieren, bedarf es eines Konstruktionsprinzips. Dieses Prinzip ist der Begriff des Kapitals. Indem Marx dies faktisch einräumt (›Die Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen‹), rehabilitiert er der Sache nach eine Einsicht der von ihm kritisierten Geschichtsphilosophie. Die Bezugnahme auf die ›wirklichen Voraussetzungen‹, von denen der Deut­ schen Ideologie zufolge die Theorie ausgehen muss, geschieht immer schon im Lichte begrifflicher Unterscheidungen, die selbst nicht zu diesen Voraussetzungen zählen (6.1.). Der Begriff des Kapitals fungiert aber nicht nur als ›Schlüssel‹ zur Erklärung des Werdens der Produktionsweise, er deutet auch in die Zukunft. Marx beansprucht mit ihm einen theoretischen Standpunkt, von dem aus die bisherige Geschichte als bloße ›Vorgeschichte‹ von der eigentlichen Geschichte unterschieden und der Vorgeschichte ein Sinn zugeschrieben werden kann. Die eigentliche Geschichte unterscheide sich von der Vorgeschichte dadurch, dass die Menschen sie nicht nur machen, sondern auch über sie verfügen. Die Vorgeschichte begreift Marx nicht nur als gerichteten Prozess, als Fortschritt, sondern den Fortschritt als gesollte Hervorbringung menschlicher Autonomie. Die Opfer dieses Fortschritts rechtfertigt er durch das telos der Geschichte, die von Feuerbach geborgte Idee des ›Reichtums der menschlichen Natur als Selbstzweck‹. Mit dem Sinn und dem Ziel der Geschichte eignen den marxschen Überlegungen die zwei konstitutiven Elemente der von ihm kritisierten Geschichtsphilosophie (6.2). Während diese aber durch den Rekurs auf überempirische Handlungssubjekte (Naturabsicht, Weltgeist) der Geschichte eine teleologische Struktur und einen Sinn einschreibt, ist es nach Marx prinzipiell möglich, dass die Menschen in der nachkapitalistischen Zeit selbst wie ein Subjekt handeln und einen humanen Sinn im historischen Prozess realisieren. Seine Charakterisierung des anvisierten ›Vereins freier Menschen‹ als ein Kollektivsubjekt ist alles andere als harmlos. Marx vertritt hier eine irreführende und obendrein gefährliche Utopie, deren politische Realisierung vermittels der Diktatur 61

EINLEITUNG

des Proletariats scheitern muss. Mit den Marx (und Engels) zur Verfügung stehenden theoretischen Mitteln lässt sich nicht die prinzipielle Erreichbarkeit, sondern nur die prinzipielle Nicht-Erreichbarkeit der freien Gesellschaft (Kommunismus) dartun. Der instrumentelle Politik- und der defiziente Freiheitsbegriff der materialistischen Wissenschaft verstellen einen angemessenen Zugang zum Problem (6.3.). Kapitel 7 thematisiert den Grund der Kapitalkritik, und zwar zunächst in der Variante, die sich im marxschen Denken finden lässt (7.1.). Es ist der von Feuerbach übernommene und modifizierte Begriff des Menschen als eines universellen und darum freien Gattungswesens, dem es prinzipiell unangemessen ist, wenn es zum Mittel gemacht wird und ihm die Resultate seiner gesellschaftlichen Tätigkeit als fremde Mächte gegenübertreten, als institutionell verselbständigte Bereiche, die einer je eigenen ökonomischen, rechtlichen, politischen und moralischen Gesetzmäßigkeit folgen. Als spezifische Ausprägungen dieses Begriffs fungieren seit den Frühschriften die normativen Bestimmungen der Arbeit (als Gattungsakt: Mill-Exzerpte; Ökonomisch-Philosophische Manuskripte; als wirklich freie Arbeit: Grundrisse, Kapital), der zugleich individuellen und kollektiven Freiheit, des zugleich individuellen und kollektiven Eigentums und des wahren gesellschaftlichen Reichtums. Marx greift auf diesen spekulativen und normativen Begriff des Menschen, dessen normative Dimension er als solche niemals thematisiert hat, paradoxerweise auch in den späteren Schriften zurück, die nur noch historische Voraussetzungen gelten lassen wollen. Der Begriff ist für sich betrachtet unhaltbar und zudem unvereinbar mit der propagierten materialistischen Wissenschaft. Abschließend ist der tatsächliche Grund der Kapitalkritik thematisch (7.2.). Es ist der emphatische Begriff moralischer Freiheit, Freiheit als Autonomie im kantischen Sinne. Die Kritik der kapitalistischen Produktionsweise erfolgt aus der Perspektive reiner praktischer Vernunft, einer Perspektive, die mit den Mitteln der Kapitaltheorie selbst nicht begründet werden kann, von ihr aber auch nicht ausgeschlossen wird. Die Einsicht, dass der objektive ökonomische Zweck, der das gesellschaftliche Ganze bestimmt, mit den objektiven Zwecken, die für das Individuum Pflicht sind, unvereinbar ist, ist die in die moralische Notwendigkeit der praktischen Abschaffung des ökonomischen Zwecks. Die moralisch begründete Forderung lautet dann, dass an die Stelle des jedem Einzelnen objektiv vorgegebenen Zwecks der gesellschaftlichen Produktion ein von den Einzelnen gemeinsam bestimmter Zweck treten solle. Die Forderung zielt auf eine Veränderung der Produktionsverhältnisse, lässt aber offen, wie genau diese auszusehen hat. Gefordert wird nicht der Übergang in eine ›Planwirtschaft‹.

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I. KANT 1. Die Wirklichkeit der Freiheit als Vermögen der Autonomie Wenn Kant in der Kritik der praktischen Vernunft den kategorischen Imperativ »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« etwas missverständlich das »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« (KpV A 54)1 nennt, dann gibt er damit explizit an, dass dieser Imperativ in reiner praktischer Vernunft gründet und insofern unbedingt ist. Kant führt den Nachweis, dass ›wir‹ als Adressaten einer unbedingten Forderung unserer eigenen reinen praktischen Vernunft im emphatischen Sinne frei sind, in einer Prinzipientheorie der Moral. Er fragt nach den Prinzipien der Geltung und Verbindlichkeit von Moral. Dabei setzt er voraus, dass es Moral gibt und dass moralische Forderungen als unbedingte Forderungen erfahren werden. Kant kann hier auf die wohl beinahe jedermann vertraute Erfahrung verweisen, dass er etwas tun wollte oder getan hat, von dem ihm klar war, dass er es moralisch gesehen unter keinen Umständen hätte tun dürfen. Während Kant in den Vorarbeiten zu seiner praktischen Philosophie und teilweise auch noch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten meint, von der Nicht-Determiniertheit der Vernunft in theoretischer Hinsicht auf ihre Freiheit in praktischer Hinsicht schließen zu können,2 verbietet sich für die zweite Kritik ein solcher Schluss. Der Schluss von der Freiheit (im Sinne von Spontaneität) des denkenden Ich auf die Freiheit (im Sinne von Autonomie) des wollenden Ich taugt nicht für eine Moralphilosophie, die nachweisen will, dass sich jeder des moralischen Gesetzes explizit vergewissern kann, weil es ihm implizit immer schon in Gestalt einer moralischen Nötigung bewusst ist. Von dem logischen Zwang des triftigen Arguments führt kein Weg zum Bewusstsein moralischer Verbindlichkeit. »Wäre dieses Gesetz uns nicht gegeben«, so Kant in seiner Religionsschrift, »wir würden es, als ein solches, durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen.« (RGV B 16 Anm.) »Es ist das moralische Gesetz, dessen wir uns unmittelbar bewußt werden (so bald wir Maximen des Willens entwerfen), welches sich uns zu­ erst darbietet, und, indem die Vernunft jenes als einen durch keine sinnliche Bedingungen zu überwiegenden, da davon gänzlich unabhängigen Bestimmungsgrund darstellt, gerade auf den Begriff der Freiheit führt.« (KpV A 53) Das moralische Gesetz ist demnach Erkenntnisgrund der 1 Missverständlich, weil ein Gesetz kein Imperativ ist. 2 Vgl. GMS B 101.

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Freiheit des Willens, die Freiheit des Willens Seinsgrund des moralischen Gesetzes. »Denn, wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (ob diese gleich sich nicht widerspricht), anzuneh­ men. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein.« (KpV A 5 Anm.) Das unmittelbare Bewusstsein des moralischen Gesetzes führt auf den positiven Begriff der Freiheit, der Autonomie des Willens. Moralität »entdeckt« uns den Begriff der Freiheit, sie »dringt« uns diesen auf und nötigt uns derart zu dem »Wagstücke«, »Freiheit in die Wissenschaft einzuführen«. (KpV A 53 f.) Moralität kann Kant zufolge nicht diskursiv begründet, sie kann nur expliziert werden. Die philosophische Reflexion vermag über sie nur als einen bestehenden und, wenn auch undeutlich, immer schon verstandenen praktischen Sachverhalt aufzuklären. Dazu muss sie den Standpunkt des moralischen Bewusstseins einnehmen. Sie muss das Phänomen eines unbedingten Sollens, welches alles empirisch bedingte, faktische Wollen trumpft, als solches ernst nehmen. Nur so kann sie einen expliziten Begriff von Moral und (moralischer) Freiheit entwickeln. Der Adressat ihrer Explikation ist mithin der über moralische Selbsterfahrung verfügende Mensch und nicht der Psychopath, dem diese fehlt. Wer kein Gefühl der moralischen Nötigung kennt, dem kann es auch nicht demonstriert werden.3 Er vermag allenfalls die Funktion des kategorischen Imperativs als principium diiudicationis zu begreifen, seine verpflichtende Kraft als principium executionis bleibt ihm fremd. Sein Verhältnis zur Moral ist instrumentell, weil sein Standpunkt moralneutral ist. Stellt sich die philosophische Reflexion auf einen moralneutralen Standpunkt, bleibt ihr Moralverständnis gleichfalls instrumentell und ihre Erklärung verfehlt das Phänomen zwangsläufig. Das gilt etwa für die vielfältigen Anstrengungen, die Moral auf der Grundlage des praktischen Individualismus und der rational-choice-Methodologie »rational zu rekonstruieren«, um sie auf diesem Wege zu einem »intellektuell respektablen Unternehmen« (Gauthier 1991: 203;197) zu machen. Von der rationalen, abwägenden Rechtfertigung (›deliberative justification‹) von Entscheidungen und Handlungen durch Verweis auf ihren individuellen und kollektiven Nutzen führt kein Weg zum moralischen Sollen. Es gibt kein zwingendes Argument dafür, dass es immer rational ist, moralisch 3 Nach dem Kantianer Fichte kann die Philosophie ohnehin nur »Fakta erklären«, nicht hervorbringen. »So wenig es dem Philosophen einfallen wird, die Menschen zu bereden, dass sie doch hinführo die Objecte ordentlich als Materie im Raume, und die Veränderungen derselben ordentlich als in der Zeit aufeinanderfolgend denken möchten; so wenig lasse er sich einfallen, sie dazu bereden zu wollen, dass sie doch an eine göttliche Weltregierung glauben. Beides geschieht wohl ohne sein Zuthun; er setzt es als Thatsache voraus.« Fichte (1798: 178). Dazu Kuhne (2007: 221 ff.; 295).

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DIE WIRKLICHKEIT DER FREIHEIT ALS VERMÖGEN DER AUTONOMIE

zu handeln. Im Gegenteil: Wer nur aus rationalen Gründen moralisch handelt, wird immer dann unmoralisch handeln, wenn er sicher ist, dass er damit gefahrlos einen Vorteil für sich erlangen kann. Er wird also rationalerweise die Handlung vollziehen wollen, von der er genau weiß, dass er sie moralisch betrachtet unterlassen soll. Kants Unterstellung, dem Menschen stehe im Alltag das moralische Gesetz »jederzeit vor Augen« (GMS B 17), jedermann müsse zugeben, dass er in einer gegebenen Situation moralisch handeln könne, wenngleich niemand mit Sicherheit vorhersagen könne, dass er auch tatsächlich so handeln werde,4 hat eine große Plausibilität. Denn in der Tat sind sich Menschen als Subjekte von Handlungen, die andere und sie selbst betreffen können, ›schon immer‹ der moralischen Dimension ihres Daseins und der Welt als ihres gemeinsamen Handlungsraums bewusst. Wenig plausibel ist dagegen die Prämisse, die den Versuchen einer rationalen Rekonstruktion der Moral zugrunde liegt, die moralische Sprache der »objektiven Werte« sei ähnlich wie die religiöse nur im Rahmen eines antiquierten Weltbildes zu verstehen, in dem die Welt als zweckmäßig geordnet erscheine. Wie zu Hobbes’ Zeiten und seither immer wieder wird hier gefordert, die vermeintlichen Erdichtungen der Moralphilosophie zu verabschieden und von dem Menschen auszugehen, ›wie er wirklich ist‹ – von seinen psychischen Zuständen, nämlich seinen Wünschen und Überzeugungen (›psychological states – desires, beliefs‹). Darüber, wie der Mensch wirklich ist, informiert eine ›realistische‹ Psychologie. Der Rekonstrukteur der Moral möchte das legitime Welt- und Selbstverständnis der Menschen auf Vorstellungen reduziert wissen, die mit »unserem gegenwärtigen Weltbild« (›our present world view‹) vereinbar sind. (Gauthier 1991: 190) Der Ausdruck ›gegenwärtiges Weltbild‹ ist kein wissenschaftlicher Terminus und hat vor allem eine polemische und, wie leicht zu sehen, ideologische Funktion. Eine polemische Funktion, denn mit ihm wird dem intuitiven moralischen Welt- und Selbstverständnis, das in ihrem Alltag alle, Reduktionisten und Naturalisten jedweder Couleur eingeschlossen, teilen, im Namen einer absolut gesetzten Methodologie die Legitimität abgesprochen und die instrumentelle Auffassung der Moral zur einzig haltbaren erklärt. Der Mensch als Subjekt der Moralität (Kant) soll ein alter Hut sein, weil seine Bestimmung als Vernunftwesen den methodologischen Voraussetzungen widerstreitet. Eine ideologische Funktion, denn mit ihm wird, auch wenn das nicht intendiert ist, einer ökonomistischen Betrachtung des Menschen Vorschub geleistet. Ist aber der Mensch aus wissenschaftlicher Sicht ein homo oeconomicus, dann muss das Ansinnen einer im kantischen Sinne moralischen, und das heißt vernünftigen Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen von vornherein als unwissenschaftlich erscheinen. 4 Vgl. KpV A 54.

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KANT

Kant expliziert die Verbindlichkeit der unbedingten moralischen Forderung für den Menschen (und alle anderen endlichen Vernunftwesen) in seiner Lehre vom Bewusstsein des moralischen Gesetzes als einem »Faktum der Vernunft« (KpV A 56) und vom »Gefühl« der »Achtung fürs Gesetz« (KpV A 130).5 ›Faktum der Vernunft‹ scheint ein hölzernes Eisen zu sein. Ein Faktum ist etwas, das empirisch vorhanden ist und als Vorhandenes vorgefunden wird. Reine praktische Vernunft ist das Vermögen, »ohne Beimischung irgend eines empirischen Bestimmungsgrundes, für sich allein« (KpV A 163) die Willkür zu bestimmen. Tatsächlich ist der Ausdruck ›Faktum‹ in ›Faktum der Vernunft‹ äquivok. Er bedeutet sowohl Tat, nämlich die Tat der reinen praktischen Vernunft, als auch Tatsache, nämlich die Tatsache des Bewusstseins einer unbedingten Forderung. In dem Bewusstsein seiner moralischen Nötigung hat der Einzelne ein begrifflich noch unartikuliertes Bewusstsein der Tätigkeit sei­ ner reinen praktischen Vernunft, das heißt ein Bewusstsein der Tätigkeit seiner selbst als endliches Vernunftwesen. Mit diesem Bewusstsein ist »unzertrennlich« (KpV A 142) das Gefühl der Achtung vor der eigenen reinen Vernunft verbunden, welches dazu motiviert, das als moralisch richtig Erkannte auch um seiner selbst willen zu tun. Das moralische Gefühl ist die emotionale Komponente des moralischen Bewusstseins, ohne die von dem Vermögen der Autonomie des Menschen keine Rede sein könnte. Denn die bloße Einsicht in das moralisch Richtige allein vermag Menschen nicht zu moralischem Handeln zu bewegen. Menschen handeln nur, wenn sich mit der antizipierten Handlung bzw. deren antizipiertem Resultat das Gefühl der Lust verbindet und ein Interesse an der Handlung hervorruft.6 Die bloß intellektuelle Einsicht in das moralisch Richtige kann gegen die sinnlichen, auf Gefühl gegründeten Antriebe nichts bewirken.7 Nur ein Gefühl vermag ein Interesse an einer Handlung um des moralischen Gesetzes willen hervorzurufen. Das Gefühl der Achtung vor dem Gesetz ist das Bewusstsein »einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz, doch als mit einem unvermeidlichen Zwange, der allen Neigungen, aber nur durch eigene Vernunft angetan wird, verbunden« (KpV A 142 f.). Das Oxymoron der ›freien Unterwerfung des Willens‹ drückt aus, dass der Mensch nicht einer fremden Instanz, sondern als Sinnenwesen sich selbst als Vernunftwesen verpflichtet ist. Er ist Subjekt oder Autor moralischer Gesetzgebung und zugleich deren Objekt oder Adressat. Der Grund seiner Verbindlichkeit und der Grund der Zurechenbarkeit seiner Handlungen sind nicht wie traditionell üblich auf zwei verschiedene Instanzen verteilt, jene auf Gott, diese auf ihn selbst als zu freiem Handeln fähigen Wesen, sondern auf die intelligible 5 Vgl. GMS B 17 Anm.; TL A 142. 6 Vgl. TL A 35; RL B 2 ff. 7 Vgl. KpV A 129.

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und sinnliche Seite ein und derselben Instanz Mensch. Kants Lehrstück vom ›moralischen Gefühl‹ trägt der Verfassung des Menschen als Vernunft- und bedürftiges Naturwesen Rechnung. Der Mensch ist jederzeit an dem »natürlichen Zweck« (TL A 22)8 seines Glücks in dieser Welt interessiert. Zugleich kann er den Anspruch eines unbedingten Sollens und sein Interesse, diesem zu genügen, nicht leugnen. Denn seine reine praktische Vernunft bewirkt in ihm ein Gefühl der Achtung vor sich selbst als autonomes Vernunftwesen. Als intellektuell bewirkt ist dieses Gefühl von jedem anderen Gefühl unterschieden, auch wenn es qua Gefühl wie jedes andere Gefühl sinnlich ist.9 Das Bewusstsein der moralischen Verpflichtung bedeutet im Hinblick auf die lustversprechenden natürlichen Zwecke ein Gefühl der Unlust, im Hinblick auf die sich in ihm manifestierende Autonomie des Vernunftwesens aber ein Gefühl der Erhabenheit. In seinem moralischen Bewusstsein erfährt der Mensch die objektive Geltung des Moralgesetzes als eine subjektiv unabweisbare Verbindlichkeit. Sein Erkennen des moralisch Geforderten ist zugleich ein Anerkennen, ohne vorausgehenden Akt der Wahl. Zwar hat er faktisch die Wahl, sich für oder gegen die Forderung reiner praktischer Vernunft zu entscheiden, er hat aber nicht die Wahl zwischen der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung dieser Forderung. Auch dann, wenn er sich gegen sie entscheidet, hat er sie anerkannt. Seine Entscheidung und sein Handeln sind dann unmoralisch, also unvernünftig, aber nicht notwendig irrational. Sie sind es dann nicht, wenn die Entscheidung gegen die Pflicht und für die Neigung auf ›guten‹ Gründen des Eigeninteresses beruht. Solche Gründe sind die eines ›aufgeklärten‹ Eigeninteresses. Dessen Subjekt hat zumindest ein intuitives Wissen davon, dass es im Großen und Ganzen die Interessen anderer Menschen berücksichtigen muss, weil ein Leben als radikaler Nutzenmaximierer, der in jeder Situation unmittelbar und ohne Rücksicht auf andere den maximalen Vorteil für sich herausschlagen will, seinem wohlverstandenen Eigeninteresse widerstreiten würde.10 Gute Gründe eigeninteressierten Handelns sind einer rationalen Rechtfertigung fähig, dürfen aber nach Kant nicht mit praktischen Gründen vernünftigen Handelns verwechselt werden. Der Aufweis der Wirklichkeit des Vermögens der Freiheit durch die Lehre vom Vernunftfaktum und moralischen Gefühl impliziert die radikale Trennung von theoretischer und praktischer Philosophie. Indem die 8 Vgl. KdU B 395 f. 9 Ein intellektuelles Gefühl »wäre ein Widerspruch« (KpV A 210). 10 Gute Gründe eigeninteressierten Handelns kann demnach nur haben, wer zumindest ein intuitives Bewusstsein von dem »Paradox des Eigeninteresses« (»paradox of self-interest«) hat, dem zufolge reines Eigeninteresse nicht immer der beste Weg zur Förderung der eigenen Interessen ist (vgl. Kavka 1984: 169).

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zweite Kritik dartut, dass ein jeder den Anspruch unbedingten Sollens aus Pflichtsituationen kennt, ist die Philosophie der Freiheit unabhängig von der ersten Kritik, insbesondere von der sogenannten dritten Antinomie und ihrer Auflösung.11 Und sie ist über die These der Grundlegung hinaus, wonach »ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln« könne, »eben darum, in praktischer Rücksicht, wirklich frei« sei (GMS B 100). Kants praktische Philosophie insgesamt steht und fällt jetzt mit der Stichhaltigkeit des Vernunftfaktum-Theorems, das seit Erscheinen der zweiten Kritik umstritten ist. Die Realität der Freiheit des Willens werde bezeugt durchs moralische Gesetz, dessen ›objektive Realität‹ sei nicht deduzierbar, sondern unmittelbar und apodiktisch gewiss. »Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z.B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen Anschauung gegründet ist, ob er gleich analytisch sein würde, wenn man die Freiheit des Willens voraussetzte, wozu aber, als positivem Begriffe, eine intellektuelle Anschauung erfordert werden würde, die man hier gar nicht annehmen darf. Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend […] ankündigt.« (KpV A 55 f.)

In der Formulierung vom Bewusstsein des moralischen Gesetzes als Faktum der Vernunft sind zwei methodisch zu unterscheidende Perspektiven identisch gesetzt: die des Subjekts der moralphilosophischen Untersuchung, das nach den Bedingungen der Möglichkeit moralischen Urteilens fragt, und die des handelnden Subjekts, das in seinem Alltag schon immer über eine hinreichende moralische Urteilskompetenz verfügt.12 In Bezug auf dieses gilt, dass es die Erfahrung einer moralischen Nötigung kennt, auch wenn es von synthetischen Sätzen a priori noch nie gehört hat. Dagegen ist es das Subjekt der Untersuchung, welches das 11 Vgl. Brandt (2002: 160). 12 Fichte (1794: 80) unterscheidet explizit zwischen dem untersuchenden und dem untersuchten Ich: »Das Ich als philosophirendes Subject ist unstreitig nur vorstellend; das Ich als Object des Philosophirens könnte wohl noch etwas mehr seyn.« Mit Fichte wäre weiter zu differenzieren zwischen Bestimmungen, die nur in und für das untersuchende Ich sind und solchen, die im untersuchten Ich selbst existieren; ferner zwischen solchen, die für das untersuchende Ich im untersuchten Ich sind und solchen, die für dieses Ich selbst in ihm sind.

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begrifflich noch unartikulierte Alltagsbewusstsein des moralischen Gesetzes auf die Synthesis von reiner praktischer Vernunft (reinem, für sich selbst guten Willen) und ›pathologisch affizierter‹ Willkür zurückführt und zu dem Resultat kommt, dass in Bezug auf reine Vernunftwesen die Freiheit des Willens vorausgesetzt und das moralische Gesetz als analytische Bestimmtheit ihres Wollens gedacht werden müsste. Das moralische Gesetz wäre für sie ein Gesetz ihres faktischen Wollens, ein Seinsgesetz. Kant setzt voraus, dass das moralische Gesetz unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne, und fragt danach, was es im Gemüt bewirkt.13 Nur, »wenn man annimmt, daß reine Vernunft einen praktisch, d.i. zur Willensbestimmung hinreichenden Grund in sich enthalten könne, so gibt es praktische Gesetze; wo aber nicht, so werden alle praktischen Grundsätze bloße Maximen sein« (KpV A 35 f.). Diese Annahme stützt sich auf das Pflichtbewusstsein und sie muss gemacht werden, »[d]enn wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne (welches doch das Wesentliche aller Moralität ist), das ist ein für die menschliche Vernunft unauflösliches Problem und mit dem einerlei: wie ein freier Wille möglich sei. Also werden wir nicht den Grund, woher das moralische Gesetz in sich eine Triebfeder abgebe, sondern was, sofern es eine solche ist, sie im Gemüte wirkt […] a priori anzuzeigen haben.« (KpV A 128) Die Frage, wie reine Vernunft für sich praktisch sein könne, ist identisch mit der, wie Autonomie möglich sei, und für die menschliche Vernunft nicht zu beantworten. Wird aber vorausgesetzt, dass reine Vernunft für sich praktisch sein könne, ist ihr Gesetz aufweisbar und ist a priori aufweisbar, was es im Gemüt des Menschen bewirkt. Wieder ist Kants Argumentation nur verständlich, wenn zwischen den zwei Perspektiven des untersuchenden Subjekts und des untersuchten Subjekts unterschieden wird. Das Alltagsbewusstsein hat keinen Begriff von der Funktion des kategorischen Imperativs als principium execu­ tionis und davon, was das Gesetz im Gemüt bewirkt. Die Einsicht in die Wirkweise des Gesetzes fällt in das Subjekt der Untersuchung und ist eine Einsicht a priori. Reine Vernunft vermag uns nur dann zu moralischen Handlungen zu bewegen, wenn sie unsere sinnlichen, auf Gefühl gegründeten Antriebe abweisen und unsere mit dem moralischen Gesetz unvereinbaren Neigungen abbrechen kann.14 Ein Gefühl kann 13 Vgl. KpV A 128. 14 Vgl. KpV A 128 f. Zu unterscheiden ist zwischen der ›Abweisung‹ und dem ›Abbruch‹ sinnlicher Antriebe und Neigungen. Rette ich einen geliebten Menschen vor dem Ertrinken, so darf meine Liebe zu ihm nicht Bestimmungsgrund meiner Handlung sein, wenn diese einen sittlichen Wert haben soll, sie muss als Bestimmungsgrund abgewiesen werden. Rette ich meine mir gleichgültige Erbtante vor dem Ertrinken, so muss meiner Habgier Abbruch getan werden.

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aber Kants Handlungstheorie15 zufolge in seiner motivierenden Kraft nur durch ein ihm entgegengesetztes Gefühl überwunden werden, da jede Bestimmung der Willkür »von der Vorstellung der möglichen Handlung durch das Gefühl der Lust oder Unlust, an ihr oder ihrer Wirkung ein Interesse zu nehmen, zur Tat« (TL A 36) geht. Reine Vernunft vermag also nur zu moralischem Handeln zu motivieren, wenn sie in der Sinnlichkeit selbst ein Gefühl hervorruft, das den sinnlichen Antrieben entgegengesetzt ist. Dieses Gefühl ist qua Gefühl sinnlich, aber als durch reine Vernunft gewirktes Gefühl nicht pathologisch, sondern moralisch. Die Einsicht in die Existenz dieses Gefühls resultiert aus dem unleugbaren Bewusstsein, in einer Pflichtsituation das moralische Geforderte tun zu können, und der handlungstheoretischen Voraussetzung, dass Gefühle nur durch entgegengesetzte Gefühle in ihrer handlungsmotivierenden Kraft gehemmt werden können. Die Achtung fürs moralische Gesetz muss »auch als positive aber indirekte Wirkung desselben aufs Gefühl, so fern jenes den hindernden Einfluß der Neigungen durch Demütigung des Eigendünkels schwächt, mithin als subjektiver Grund der Tätigkeit, d.i. als Triebfeder zu Befolgung desselben, und als Grund zu Maximen eines ihm gemäßen Lebenswandels angesehen werden« (KpV A 140 f.). Der vernunftgewirkte Charakter des Gefühls der Achtung ist nicht unmittelbar wahrnehmbar, sondern theoretisch erschlossen.16 Die Einsicht in die nicht-pathologische, moralische Qualität dieses Gefühls fällt in das untersuchende, nicht in das untersuchte Subjekt. Die Reflexion des Subjekts der Untersuchung ist transzendental und praktisch zu nennen, denn sie geht auf die Bedingungen der Möglichkeit unbedingten Sollens.17 Ihr Ausgangspunkt ist die moralische Erfahrung einer unbedingten Verpflichtung, ihr Resultat der begriffliche Aufweis der praktischen Realität der Freiheit und damit des Intelligiblen. Der freie Wille und der homo noumenon sind wirklich, wenn auch nicht in der Weise von ›Gegenständen möglicher Erfahrung‹ (Kant). Die Behauptung ihrer Wirklichkeit muss deshalb aus der Perspektive eines naturalistischen, naturwissenschaftlich ›entzauberten‹ Weltbildes als ›absonderlich‹ erscheinen.18 Näher betrachtet erweist sich allerdings die 15 ›Handlungstheorie‹ nicht i.S. eines von Kant eigens ausgearbeiteten Lehrstücks, sondern der kantischen Überlegungen zum Thema. 16 Vgl. Ludwig (2014: 137 f.). 17 Vgl. Wimmer (2004: 373). 18 Vgl. Mackies (1977: 43 f.) ›Argument aus der Absonderlichkeit‹: »Gäbe es objektive Werte, dann müßte es sich dabei um Wesenheiten, Qualitäten oder Beziehungen von sehr seltsamer Art handeln, die von allen anderen Dingen in der Welt verschieden wären. Und entsprechend müßte gelten: Wenn wir uns ihrer vergewissern könnten, müßten wir ein besonderes moralisches Erkenntnis- oder Einsichtsvermögen besitzen, das sich von allen anderen uns geläufigen Erkenntnisweisen unterschiede.«

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Unterstellung, der Verweis auf dieses Weltbild sei bereits ein Argument gegen die Behauptung der Wirklichkeit eines unbedingten Sollens, als absonderlich. Durch die Einzelwissenschaften gestützte Weltbilder sind allesamt »Subreptionen von Totalität«: Sie beanspruchen »Sinnvermittlungen schlechthin zu sein«, stützen sich der Sache nach aber nur »auf ein jeweiliges Verfügungswissen bestimmter Objektivationen und schon insofern auf methodische Abstraktionen« (Hoffmann 2003: 550). Bei dem vermeintlichen Argument handelt es sich um die dogmatische Setzung, wonach wirklich nur das ist, was in den Objektbereich der Einzelwissenschaften fällt und mithin Gegenstand unseres theoretischen Erkenntnisvermögens ist. Dass es ein von dem theoretischen Erkenntnisvermögen unabhängiges, genuin praktisches Erkenntnisvermögen gibt, wird ohne Argument bestritten.19 Kant zufolge kann aufgewiesen werden, dass reine Vernunft handlungswirksam wird, indem sie in unserer Sinnlichkeit intellektuell ein Gefühl bewirkt. Dieses Gefühl ist durch die Sinnlichkeit des Menschen bedingt und qua Gefühl selbst sinnlich; weil es aber durch eine Idee, nämlich das moralische Gesetz verursacht ist, ist es ein nicht-pathologisches, moralisches Gefühl und als solches ein apriorisches Element des moralischen Bewusstseins. Man kann das moralische Gefühl der Achtung einen ›paradoxen Begriff‹ nennen, allerdings drückt dieser nur die paradoxe Konstitution des Menschen aus, der als homo noumenon Subjekt einer Gesetzgebung ist, der er als homo phaenomenon unterliegt. Dass Kant mit der paradoxen Struktur des moralischen Gefühls in das »Dilemma« gerät, zeigen zu müssen, wie ein sinnliches Gefühl zugleich apriorisch sein kann, weil er sonst »die Kluft zwischen objektiv-gesetzgebendem Willen und subjektiv-handlungsbestimmender Willkür« (Pollok 2006: 206) nicht überbrücken könne, trifft dagegen nicht zu. Kant zufolge kann die paradoxe Verfassung des Menschen nur ›begreiflich‹ gemacht werden, sie kann nicht aus einem höheren Prinzip gerechtfertigt werden. Die Forderung nach Überbrückung der ›Kluft zwischen objektiv-gesetzgebendem Willen und subjektiv-handlungsbestimmender Willkür‹ wäre nur durch eine Philosophie erfüllbar, wie sie die idealistischen Nachfolger Kants: Fichte, Schelling und Hegel anvisierten, eine Philosophie, in der jede Voraussetzung sich als ›gesetzt‹, begründet erweist.20 19 Entsprechend einsilbig fällt bisweilen der Kant-Bezug aus: »Die Idee eines durch und durch rational Handelnden, der aus reiner Vernunft handelt, ist meiner Ansicht nach unverständlich. Man darf die Moral nicht so verstehen, als sei sie eine aus reiner Vernunft entspringende Beschränkung, der dann die Befriedigung nicht-rationaler Präferenzen unterworfen wird.« (Gauthier 1991: 201). 20 Vgl. Fichte (1793: 423 f.): »Die Hauptfrage ist die: ob jenes Gefühl des schlechthin Rechten […], dessen Daseyn im Bewusstseyn der Gegner [der kantischen Lehre] in seiner ganzen Ausdehnung zugestehen kann, von etwas

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Dass reine Vernunft für sich praktisch ist, wissen wir nach Kant aufgrund unseres Pflichtbewusstseins. Die transzendentale praktische Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit dieses Bewusstseins erweist es als Vernunftfaktum, dem die distributive Allgemeinheit des moralischen Gesetzes eignet. Sie schließt damit den Verdacht aus, es könne sich bei dem Bewusstsein einer moralischen Nötigung um eine private Wahn- oder Zwangsvorstellung handeln. Dieser Verdacht muss sich bei unmittelbarer Betrachtung des Phänomens der moralischen Nötigung unweigerlich einstellen. Denn das Bewusstsein einer moralischen Verpflichtung ist zwar für den, der es hat, ein unbestreitbares Faktum. Aber selbst unterstellt, viele wüssten von diesem Faktum zu berichten, wäre damit doch nicht ausgeschlossen, dass es sich bei dem Pflichtbegriff bloß um einen »leeren Wahn« (GMS B 17) handelte. Für sich betrachtet ist das Phänomen einer moralischen Nötigung nicht mehr als ein Datum des Bewusstseins. Aus ihrer gefühlten Unbedingtheit oder deren Intensität kann nicht schon auf ihre nichtsinnliche, intelligible Ursache geschlossen werden.21 Dass der Begriff der Pflicht ein Vernunft- und kein Erfahrungsbegriff sei, gleichwohl aber in jedermanns eigener Erfahrung enthalten, sollen die drastischen Beispiele Kants nur belegen, nicht beweisen.22 Sein Vernunftcharakter ist folglich auch durch keine gegenteiligen Beispiele und somit empirisch zu widerlegen.23 Auch wenn die historische und psychologische Forschung glaubhaft nachweisen könnte, dass Figuren wie Adolf Eichmann oder Pol Pot nicht die leisesten moralischen Skrupel hatten, wäre er dadurch nicht widerlegt. Dass es einzelne Menschen gibt, in deren Gemüt allem Anschein nach reine praktische Vernunft keinen ›Eingang‹ findet und auf deren Maximen sie keinen ›Einfluss‹ hat, bringt die kantische Argumentation nicht ins Wanken, auch wenn Kant auf den ersten Blick solche Fälle auszuschließen scheint. Das Bewusstsein der Pflicht gründet in der Selbstgesetzgebung reiner praktischer Vernunft, Höherem, und zwar von einer praktischen Vernunft abzuleiten sey, oder nicht? Gegen den, der dieses läugnet, kann man sich weder auf eine Thatsache berufen; – denn was wirklich Thatsache ist, das gesteht er zu, und dass die Vernunft praktisch sey, und durch dieses ihr Vermögen jenes Gefühl bewirke, ist nicht Thatsache: – noch auf das Gefühl einer moralischen Noth­ wendigkeit (jenes Sollen), das damit vereinigt ist; denn dies entsteht auch im Kantischen Systeme aus der Bestimmung des oberen Begehrungsvermögens, als oberen, zur Neigung.« 21 Vgl. Beck (1960: 162). 22 Vgl. KpV A 54; vgl. KrV B 582: »Um das regulative Prinzip der Vernunft durch ein Beispiel aus dem empirischen Gebrauche desselben zu erläutern, nicht um es zu bestätigen (denn dergleichen Beweise sind zu transzendentalen Behauptungen untauglich).« 23 Vgl. das Beispiel des bösen Kindes: KpV A 179 f.

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welche als zeitlose Kausalität24 der ›intelligiblen Welt‹ angehört. Sie ist per definitionem dem Zugriff der Erfahrungswissenschaften entzogen. Es ist deshalb kein sinnvoller Gedanke, Gehirnforschung oder Psychologie, Biologie oder Sozialwissenschaften würden dereinst die Autonomie reiner praktischer Vernunft als Fiktion erweisen oder hätten dies bereits getan.25 Um dies einzusehen, müssen »wir nicht heute das vorwegnehmen, was wir erst morgen wissen werden« (Popper 1957: XII).26 Die ›harten Fakten‹, die die Wissenschaften über den Menschen womöglich noch liefern, betreffen nur den ›homo phaenomenon‹, das vernünftige Naturwesen, dessen Vernunft nur insoweit praktisch ist, als sie als Mittel zur Realisierung subjektiver Zwecke fungiert, nicht aber den ›homo noumenon‹, den Menschen als »ein mit innerer Freiheit begabtes Wesen«. Und nur soweit der Mensch auch homo noumenon ist, kommt »der Begriff einer Verbindlichkeit […] in Betrachtung«. (TL A 65) Die Kritik, Kants Theorie der Freiheit sei nicht Wissenschaft, sondern Metaphysik, und der Hinweis, »die Annahme der Willensfreiheit nehme innerhalb der naturund sozialwissenschaftlichen Fachdiskussion immer weniger Raum ein« (Engel 1999: 168 Fn. 26), verfangen nicht. Schließlich ist es ein genuin kantischer Gedanke, dass die Einzelwissenschaften das Subjekt der Moralität notwendig verfehlen müssen. Um aber über den Zusammenhang von Wissenschaft und Metaphysik abschließend zu befinden, müssten Einzelwissenschaften oder Wissenschaftstheorie das erfahrungswissenschaftliche Denken selbst absolut setzen und würden damit – schlechte – Metaphysik treiben. Und dennoch scheinen Kants Ausführungen über das Vernunftfaktum und das moralische Gefühl kaum haltbar. Denn Kant scheint in ihnen gerade um der universellen Geltung des moralischen Gesetzes willen behaupten zu müssen, dass »die gemeine Menschenvernunft« das Prinzip der Moral, wenn auch undeutlich, »jederzeit wirklich vor Augen hat und zum Richtmaße ihrer Beurteilung braucht« (GMS B 20). Die These von der universellen Geltung des Gesetzes scheint die weitere These zu implizieren, wonach sich das Gesetz den Menschen (ausgenommen kleine Kinder und psychisch Kranke) zu allen Zeiten in seiner imperativischen Form fühlbar machte und macht. Kant scheint nichts anderes zu behaupten, wenn er in der zweiten Kritik betont, das moralische Gesetz bedürfe »keines Suchens und keiner Erfindung«, weil es »längst in aller Menschen Vernunft gewesen und ihrem Wesen einverleibt« (KpV A 188) sei, und wenn er in der Tugendlehre feststellt: »Ohne alles moralische 24 Vgl. KrV B 579 f. 25 Vgl. etwa Engel (1999: 168). 26 Die Unmöglichkeit dessen spricht nach Popper (1957: XII) gegen »die Möglichkeit der Vorhersage geschichtlicher Entwicklungen, insofern diese durch das Anwachsen unseres Wissens beeinflußt werden können«.

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Gefühl ist kein Mensch; denn bei völliger Unempfänglichkeit für diese Empfindung, wäre er sittlich tot.« (TL A 37) Nun ist es allerdings abwegig, den Menschen über die verschiedenen vorhistorischen und historischen Zeiten und Kulturen hinweg durchgängig ein wie undeutlich auch immer vorhandenes Bewusstsein des kategorischen Imperativs und damit des Vermögens der Autonomie zu unterstellen. Adorno führt als Exempel »die Blutrachegepflogenheiten primitiver gesellschaftlicher Organisationsformen« ins Feld: »Denn wenn man sagt, daß auch die Kopfjäger nach dem Sittengesetz gehandelt hätten, weil es ja nur ein formales und gar kein inhaltliches sei, so ist das ja wohl deshalb widersprechend, weil eine Allgemeinheit des Prinzips, daß ein Mensch dem anderen, soweit er’s nur vermag, den Kopf abhacken soll, schwerlich als vernünftig kann angesehen werden.« (Adorno 1964/5: 337 f.) Strenggenommen zeigt das Beispiel nur, dass die an der gesellschaftlichen Praxis des Kopfabhackens Beteiligten nicht moralisch handeln, nicht aber, dass ihnen jedes Pflichtbewusstsein fehlt. Davon abgesehen aber wäre es in der Tat absurd, Mitgliedern primitiver Stammesgesellschaften zu unterstellen, sie hätten ›das Moralprinzip jederzeit wirklich vor Augen‹. Selbst für Epochen, die ihre Zeit philosophisch reflektierten, ist der Mensch nicht durchweg als Subjekt der Moralität zu unterstellen. Wenn Aristoteles etwa vom Menschen als animal rationale und zoon politikon spricht und zugleich die Sklaverei theoretisch zu rechtfertigen sucht, ist das ein Indiz dafür, dass in der griechischen Antike die philosophischen und realhistorischen Voraussetzungen für den kantischen Begriff der Person nicht erfüllt waren. Die kantische Moralphilosophie ist, wie sollte es auch anders sein, historisch bedingt, und ihr Gegenstand, die Freiheit (Autonomie) des Willens, ebenso. Philosophieimmanent betrachtet ist Kants Philosophie ein spätes Resultat der nominalistischen Wendung auf das Subjekt. Der Prozess, der in der Philosophie zur Entdeckung der Subjektivität führt und die Moralphilosophie schließlich einen »Standpunkt« einnehmen lässt, »der fest sein soll, unerachtet er weder im Himmel, noch auf der Erde, an etwas gehängt, oder woran gestützt wird« (GMS B 60), verläuft nicht im Medium rein philosophischer Reflexion. Er ist bedingt durch die Realgeschichte. Die philosophische Auffassung vom Subjekt und der Subjektivität schreitet in dem Maße fort, wie ihr Gegenstand realhistorisch an Objektivität gewinnt.27 (Einen Aspekt der Realgeschichte der Freiheit trifft Marx, wenn er behauptet, das Geheimnis der Wertform könne »nur entziffert werden, sobald der Begriff der menschlichen Gleichheit bereits die Festigkeit eines Volksvorurtheils« [K I² 92/74] besitze.) Die kantische Moralphilosophie macht ihre historische Bedingtheit und die ihres Gegenstandes nicht zu ihrem Thema. Als apriorische 27 Dazu Kuhne (2007: 324 ff.).

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Geltungstheorie abstrahiert sie von ihren philosophie- und realgeschichtlichen Voraussetzungen. Paradoxerweise scheint sie aber gerade durch ihren geltungstheoretischen Anspruch zu einer Behauptung genötigt, welche die Sphäre des Historischen und insofern empirisch Überprüfbaren betrifft – der Behauptung, jedermann sei sich in Pflichtsituationen des moralischen Gesetzes bewusst. Damit scheint klar, dass sie »eine historisch bestimmte Form des moralisch Allgemeinen« (H.-E. Schiller 2006: 64) ist, die daran scheitert, dass sie das Gegenteil behaupten muss. Diese Kritik scheint mit dem Hinweis, sie unterscheide nicht ordentlich zwischen Genesis und Geltung, nicht entkräftet werden zu können. Denn ihre Pointe soll ja darin liegen, dass Kant in seinem Geltungsdiskurs behaupten muss, die Affizierbarkeit des Gemüts durch Pflichtbegriffe sei eine »gleichsam natürliche Gefühlsdisposition« eines jeden Menschen, ein »anthropologischer Grundbestand«. (Recki 2001: 312) Eine solche Behauptung ist zwar nicht direkt zu widerlegen, da sich mit den Mitteln der Einzelwissenschaften über das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein des Pflichtbewusstseins nichts ausmachen lässt.28 Indirekt lässt sie sich aber durch den Verweis auf die unbestreitbaren genetischen Vo­ raussetzungen der kantischen Theorie und ihres Gegenstandes bestreiten. Nun wusste auch Kant, dass die Moralvorstellungen der Menschen und ihre Reflexionsform, die Moralphilosophie, eine Geschichte haben. Und Kant ist sich durchaus bewusst, dass ein wie diffus auch immer geartetes Bewusstsein des moralischen Gesetzes nicht für alle Zeiten und Kulturen zu unterstellen ist. Es sei das »Merkmal roher barbarischer Völker«, so Kant in einer Vorlesung, dass »sie keine Achtung für[s] Gesetz haben. Sie suchen ihr Heil in der Gesetzlosigkeit, und wähnen sich frey, wenn ohne ihre Bewilligung sie von Steuern frey sind, und ertragen übrigens die gleichsam mit Sturm ausgeübten himmelschreiendsten Ungerechtigkeiten, wenn z.B. ein unschuldiger Bascha strangulirt oder geköpft wird, welches leider im osmannischen Reiche nichts neues wäre. Dabei trösten sie sich damit, daß sie vor der Hand doch immer noch frey sind, wenn auch einem andern der Kopf genommen wird.« (Kant AnthD 348 f.)

Wie Adornos Beispiel der ›Kopfjäger‹ kann auch dieses strenggenommen nicht illustrieren, was es illustrieren soll: das Fehlen von Pflichtbewusstsein. Immerhin zeigt es, dass Kant, anders als die Grundlegungsschriften der Moralphilosophie (GMS; KpV) vermuten lassen, offenbar der Ansicht ist, die Achtung für das Gesetz sei den Menschen nicht schon als solchen zuzuschreiben. Kant zufolge kann sie offenbar nicht 28 »Auch ist das moralische Gesetz gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist, gegeben, gesetzt, daß man auch in der Erfahrung kein Beispiel, da es genau befolgt wäre, auftreiben konnte.« (KpV A 81).

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nur einzelnen Individuen heute fehlen, sie kann auch nicht für alle historischen (geschweige vorhistorischen) Zeiten unterstellt werden. Das Zitierte gibt aber nicht nur eine Meinung Kants wieder, die philosophisch ohne jedes Interesse wäre, vielmehr wird es durch eine entscheidende Bestimmung seiner Moralphilosophie gestützt. Als »vernünftiges Wesen« und Subjekt technisch-praktischer Vernunft ist der Mensch nicht schon »Vernunftwesen« (TL A 65) und Subjekt moralisch-praktischer Vernunft. Die Religionsschrift unterscheidet zwischen verschiedenen für das Begehrungsvermögen des Menschen und den Gebrauch seiner Willkür konstitutiven »ursprüngliche Anlagen«: Der »Anlage für die Tier­ heit des Menschen, als eines lebenden«, der Anlage »für die Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich vernünftigen«, schließlich der Anlage »für seine Persönlichkeit, als eines vernünftigen und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens«. (RGV B 15 f.; vgl. OP AA XXII: 55 f.) Nicht überraschend, bestimmt Kant das Wesen des Menschen nicht durch die animalitas und rationalitas allein, sondern fügt der klassischen Zweiteilung als drittes Element die Persönlichkeit hinzu. Die Anlage für die Menschheit befähigt den Menschen, seine Selbsterhaltung durch freie Willkür und technisch-praktische (instrumentelle) Vernunft sicherzustellen, erhebt ihn aber ›im Werte‹ nicht über die Tierheit. Erst die Anlage für die Persönlichkeit gibt ihm diesen Wert. Freilich ist diese Anlage mit der für die Menschheit nicht notwendig verbunden. Sie ist vielmehr als eine »besondere Anlage« zu betrachten. »Denn es folgt daraus, daß ein Wesen Vernunft hat, gar nicht, daß diese ein Vermögen enthalte, die Willkür unbedingt, durch die Vorstellung der Qualifikation ihrer Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung zu bestimmen, und also für sich selbst praktisch zu sein: wenigstens so viel wir einsehen können.« (RGV B 15 f. Anm.) So wenig von dem logischen Zwang des triftigen Arguments ein Weg zur moralischen Nötigung führt, so wenig von der Vernunft als (theoretischem) Vermögen zu denken zur Vernunft als (praktischem) Vermögen der Autonomie. Die Persönlichkeit ist deshalb keine notwendige Eigenschaft des Menschen als animal rationale. Dass sie aber eine wirkliche Eigenschaft des Menschen ist, wissen wir, weil und insofern das moralische Gesetz »in uns gegeben« (RGV B 16 Anm.) ist. »Die Anlage für die Persönlichkeit« ist eine Bedingung der Möglichkeit des moralischen Bewusstseins. Sie ist nach Kants unglücklicher Formulierung »die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder« (RGV B 18).29 Sie ist, mit anderen Worten, die Empfänglichkeit der freien Willkür für die Achtung für das moralische Gesetz. Die Achtung fürs Gesetz war der zweiten Kritik zufolge das durch reine Vernunft in der Sinnlichkeit des Menschen gewirkte moralische Gefühl, das ein jeder in einer moralisch relevanten 29 Dazu Wimmer (1990: 110 f.).

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Situation habe und das von seiner Einsicht in das moralisch Geforderte nicht zu trennen sei. Im Unterschied dazu bezeichnet die Religionsschrift die ›Anlage‹ oder das Vermögen zu diesem aktuellen Gefühl als moralisches Gefühl.30 Nach Auskunft der Tugendlehre ist es das Vermögen zu »Lust oder Unlust, bloß aus dem Bewußtsein der Übereinstimmung oder des Widerstreits unserer Handlung mit dem Pflichtgesetze« und zählt zu den »natürliche[n] Gemütsanlagen (praedispositio), durch Pflichtbegriffe affiziert zu werden; welche Anlagen zu haben nicht als Pflicht angesehen werden kann, sondern die jeder Mensch hat und kraft deren er verpflichtet werden kann« (TL A 35 f.). Die Rede von der ›natürlichen Gemütsanlage‹ darf freilich nicht naturalistisch verstanden werden, wie Kant betont, wenn er das Vermögen zu dem moralischen Gefühl zwar jedem Menschen attestiert, allerdings einschränkt: insofern er als moralisches Wesen zu betrachten ist. »Ein jeder Mensch (als ein moralisches Wesen) hat es ursprünglich in sich; die Verbindlichkeit aber kann nur darauf gehen, es zu kultivieren und, selbst durch die Bewunderung seines unerforschlichen Ursprungs, zu verstärken.« (TL A 36). Die Verbindlichkeit geht auf die Kultivierung des moralischen Gefühls als eines Vermögens. Das Vermögen selbst kann nicht auf die Kultivierung vernünftiger Wesen überhaupt als seinen Ursprung zurückgeführt werden.31 Sein Ursprung ist der Zeit und dem Grund nach unerforschlich. Es auf seinen Ursprung zurückführen hieße darzutun, »wie ein freier Wille möglich sei« – das aber »ist ein für die menschliche Vernunft unauflösliches Problem« (KpV A 128). Die Anlage für die Persönlichkeit erschließt sich allein transzendentaler Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit des moralischen Bewusstseins, dessen Wirklichkeit durch das Bewusstsein des moralischen Gesetzes für den, der es hat, nicht zu leugnen ist. Die Wirklichkeit der Autonomie und somit die der Persönlichkeit ist geltungstheoretisch allein durch das Vernunftfaktum-Theorem aufzuweisen. Die moralische Erfahrung, die Kant jedem Menschen als moralischem Wesen unterstellt: das Bewusstsein einer unbedingten Nötigung und das damit einhergehende Bewusstsein moralischer Freiheit, lässt sich nicht als Phänomen in Raum und Zeit feststellen und aus der Perspektive der dritten Person beschreiben, sondern nur durch trans­ zendentale Reflexion als durch Vernunft gewirktes explizieren. Daher geht die Frage, ob den Menschen für alle historischen Zeiten ein Pflichtbewusstsein und folglich eine Empfänglichkeit für Pflichtbegriffe zu attestieren sei, die apriorische Geltungstheorie der Moral als solche nichts 30 Vgl. RGV B 18. Dazu Beck (1960: 210 ff.), der als einer der wenigen Autoren überhaupt zwischen dem aktuellen Gefühl und dem Vermögen dazu unterscheidet. Vgl. dort auch die Erläuterungen zu den unterschiedlichen, aber miteinander verträglichen Ausführungen Kants in MdS und KpV. 31 So aber Ludwig (2014: 125) in seinem ansonsten erhellenden Aufsatz.

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an. Dass sie selbst und ihr Gegenstand, das moralische Bewusstsein, geschichtlich geworden sind, versteht sich, berührt aber nicht ihre Geltung. Aus dem Umstand, dass die Leugnung des Pflichtbewusstseins und des Vermögens der Autonomie, anders als die Leugnung des Denkens, widerspruchsfrei möglich ist, folgt nach Kant also nicht, dass die Moral für das menschliche Selbstverständnis nicht konstitutiv ist. Die Frage, ob es seit jeher konstitutiv war oder ab welchem Zeitpunkt es als konstitutiv anzusetzen sei, kann für die Moralphilosophie Kants kein Thema sein. Mithin ist es unter dem hier allein zählenden Aspekt der Geltung kein Widerspruch, mit Kant zu behaupten, allen Menschen, nämlich als moralischen Wesen, stehe das moralische Gesetze ›jederzeit‹ vor Augen, und wiederum mit Kant zuzugeben, dass die Achtung fürs Gesetz damit keineswegs für die frühe Steinzeit behauptet werden muss.32 Die Einwände, die Kant die historische Bedingtheit seiner Theorie und ihres Gegenstandes vorrechnen, resultieren nicht aus deren immanenter Kritik, sondern erfolgen immer schon von einem Standpunkt jenseits dieser Theorie. Am wirkungsmächtigsten ist bis heute die Kritik Hegels, in dessen Philosophie des objektiven Geistes Kants Begriff der Moralität ›aufgehoben‹ ist und die Genese und Geltung der daseienden Freiheit (dem Anspruch nach!) zusammenfallen. Hegel geht spekulativ über das, was ›unsere endliche menschliche Vernunft vermag‹ (Kant), hinaus. Wer mit Hegel fordert, Geltung und Genese des moralischen Bewusstseins müssten in ein und derselben Theorie thematisiert werden, kommt nicht umhin, mit Hegel über Kants Vernunftbegriff hinauszugehen. Wer dazu nicht bereit ist, weil er schon Kants Vernunftbegriff für zu ›stark‹ hält, wird deren geltungstheoretischen Anspruch und emphatischen Begriff der Autonomie verwerfen. Er wird in den Chor derer einstimmen, die von vornherein bestreiten, dass das Bewusstsein einer unbedingten moralischen Nötigung die ratio cognoscendi der Freiheit sein könne und den Standpunkt der kantischen Moralphilosophie (›weder im Himmel, noch auf der Erde‹) für einen verkappt theologischen halten. Er wird daher die des Theologischen unverdächtige These, wonach das moralische Bewusstsein im Anschluss an Darwin, Marx, Nietzsche oder Freud durch seine evolutionäre, gesellschaftliche, kulturelle oder psychische Funktion zu erklären sei, attraktiv finden. Freilich: Solche Erklärungen »machen sich in der Regel einer petitio principii schuldig«, denn nur wer als wahr 32 Damit sind nach Kant Überlegungen dazu, wie es phylogenetisch betrachtet beim Menschen zu einer sukzessiven Distanzierung und Befreiung von Naturtrieben, der allmählichen Herausbildung eines Bewusstseins der Wahlund Entscheidungsfreiheit und schließlich zu der ›dunklen‹ Vorstellung kam, Menschen nicht wie Sachen behandeln zu dürfen, nicht ausgeschlossen. Sie sind aber der Moralphilosophie nachgeordnet und können deren Prinzipien nicht berühren. Kant nennt seine Skizze Mutmaßlicher Anfang der Men­ schengeschichte eine »bloße Lustreise« (MuA A 2).

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voraussetzt, dass es keinen kategorischen Imperativ gibt, muss die moralischen Erfahrungen des Einzelnen funktional erklären. »Es ist nicht so, dass zum Beispiel sprachanalytische Untersuchungen als solche irgendwie zeigen würden, dass normative Sätze gar keine Aussagen sind, sondern ›in Wahrheit‹ Imperative oder Expressionen oder dergleichen; nur wer schon ein non-kognitivistisches oder antirealistisches Weltbild hat, wird solche alternativen Erklärungsmodelle attraktiv finden.« (Schönecker 2014: 73)

2. Der Sinn der Moral Das nicht zu leugnende Bewusstsein unbedingter Verpflichtung konstituiert zufolge der zweiten Kritik die Doppelnatur des Menschen als intelligibles Vernunftwesen und bedürftiges vernünftiges Wesen und damit die Differenz von kategorischem Sollen und Sein, von Kausalität aus Freiheit und Naturkausalität, unbedingtem Sollen und faktisch bedingtem Wollen. »Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört und so fern hat seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern«, so Kant. »Aber er ist doch nicht so ganz Tier, um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleichgültig zu sein, und diese bloß zum Werkzeuge der Befriedigung seines Bedürfnisses, als Sinnenwesens, zu gebrauchen. Denn im Werte über die bloße Tierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet.« (KpV A 108) In dem Bewusstsein unbedingter Verpflichtung hat der Mensch eine – freilich nicht theoretische, sondern nur praktische – Erkenntnis seiner selbst als eines freien Wesens.33 Er urteilt nämlich, »daß er etwas kann, darum, weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre« (KpV A 54). In der praktischen Erkenntnis seines »eigentlichen Selbst« (GMS B 118) erkennt er sich nicht etwa als reines Vernunftwesen oder reiner Wille, sondern als ein Wesen, welches das Vermögen der Autonomie besitzt und zugleich unter dem Einfluss »sinnlicher Antriebe« steht. Der reine Wille ist mithin nicht das »ganze Selbst« des Menschen; ebenso wenig ist sein »pathologisch bestimmbares Selbst« (KpV A 33 In der Rostocker Anthropologiehandschrift heißt es: »Das Erkenntnis seiner selbst nach derjenigen Beschaffenheit [die] was er an sich selbst ist kann durch keine innere Erfahrung erworben werden und entspringt nicht aus der Naturkunde vom Menschen sondern ist einzig und allein das Bewußtsein seiner Freiheit welche ihm durch den kategorischen Pflichtimperativ also nur durch den höchsten praktischen Vernunft kund wird.« (Anth 429).

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131) für das Ganze zu nehmen. Das Selbst des Menschen ist vielmehr die Einheit der unterschiedenen Momente des Intelligiblen und Sinnlichen.34 Als Subjekt und Objekt moralischer Gesetzgebung ist der Mensch Person und Zweck an sich selbst. Sein Vermögen der Autonomie ist das Vermögen eines Wesens, das zur Sinnenwelt gehört und doch zugleich den »von seiner eigenen Vernunft gegebenen reinen praktischen Gesetzen« unterworfen ist, also »zugleich zur intelligibelen Welt gehört« (KpV A 155). Das Subjekt der Moralität kann als solches nicht über sich selbst und andere Subjekte der Moralität wie über Sachen als Mittel zu beliebigen Zwecken disponieren, sondern muss sich selbst und andere immer auch als Selbstzweck betrachten. Denn als Subjekt der Moralität fordert es von sich selbst als Objekt, dass es seine »Maxime im Gebrauche der Mittel zu jedem Zwecke auf die Bedingung ihrer Allgemeingültigkeit, als eines Gesetzes für jedes Subjekt einschränken soll«. Das aber »sagt eben so viel, als: das Subjekt der Zwecke, d.i. das vernünftige Wesen selbst, muß niemals bloß als Mittel, sondern als oberste einschränkende Bedingung im Gebrauche aller Mittel, d.i. jederzeit zugleich als Zweck, allen Maximen der Handlungen zu Grunde gelegt werden«. (GMS B 82 f.) Der formale kategorische Imperativ, stets nur nach einer gesetzestauglichen Maxime des Willens zu handeln, enthält demnach implizit bereits den ›praktischen Imperativ‹, die Zweckformel, die mit der Selbstzwecklichkeit des Menschen einen Inhalt, wenngleich keinen empirisch bedingten hat: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« (GMS B 66 f.) Aufgrund seiner Intelligibilität als Vernunftwesen ist der Mensch für sich und andere Zweck an sich selbst und hat einen unbedingten Wert, eine Würde.35 Und aufgrund seiner Fähigkeit, sich gegen das moralisch Notwendige und für die sinnlichen Antriebe seiner Natur entscheiden zu können, soll er für sich und andere Zweck an sich sein, soll er seine und die Würde anderer unbedingt achten.36 Mithin kommen ihm Selbstzwecklichkeit und Würde ungeachtet dessen zu, wie er faktisch handelt oder von anderen behandelt wird. Wäre er nur dann Zweck an sich selbst, wenn er moralisch handelte, wäre die Erfüllung der moralischen Norm Voraussetzung für ihre Geltung. Hätte er nur dann eine Würde, wenn er selbst entsprechend handelte oder von anderen entsprechend 34 Intelligible Welt und sinnliche Welt sind zwei Aspekte menschlicher Existenz, nicht zwei ontologisch unterschiedene Welten. »[S]o ist die übersinnliche Natur, so weit wir uns einen Begriff von ihr machen können, nichts anders, als eine Natur unter der Autonomie der reinen praktischen Vernunft.« (KpV A 74). 35 Vgl. GMS B 77 f. 36 »Die Diastase von Indikativ und Imperativ rührt aus der Entscheidungsfreiheit des Menschen.« (Wimmer 1990: 72).

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behandelt würde, wäre diese Würde bedingt und nicht unbedingt, sie könnte ihm zu- oder abgesprochen werden. Erst mit der Zweckformel und den sich an diese anschließenden Überlegungen zum Zweckbegriff wird einsichtig, inwiefern Kant, wenn er von der Gesetzestauglichkeit einer Maxime des Willens spricht, mehr meint als deren Universalisierbarkeit. Gesetze haben nach Kant nicht nur Allgemeinheit, sondern auch Notwendigkeit. Die kategorisch geforderte Gesetzestauglichkeit der Maxime ist daher durch einen ›Universalisierungstest‹ nicht zu erweisen. Ein solcher Test taugt nur dazu, zu beurteilen, ob eine gegebene Maxime die Allgemeinheit eines Gesetzes annehmen kann, er erlaubt aber kein Urteil darüber, ob ihr auch die Notwendigkeit eines Gesetzes zukommt. Hält eine gegebene Maxime dem ›Universalisierungstest‹ stand, ist sie moralisch möglich oder erlaubt, deshalb aber nicht schon moralisch notwendig oder geboten. Um ihrer Gesetzestauglichkeit willen muss sie aber nicht nur moralisch möglich, sondern notwendig sein – notwendig für ein »Reich der Zwecke«. Die Zweckformel führt auf den Begriff eines solchen Reichs, worunter »ein Ganzes aller Zwecke […] in systematischer Verknüpfung« (GMS B 74) zu verstehen ist. Denn wenn jedes vernünftige Wesen sich selbst und alle anderen niemals nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich selbst betrachtet, so betrachtet sich jedes selbst und alle anderen als gesetzgebend in einer durch die Freiheit des Willens möglichen Gesellschaft, in der die Realisierung der subjektiven Zwecke eines jeden die Möglichkeit der Realisierung der subjektiven Zwecke aller anderen zwanglos befördern würde. Näheres Hinsehen zeigt freilich, dass der Begriff des Reichs der Zwecke in der Grundlegung mehr leisten soll, als er tatsächlich leisten kann. Dies wird deutlich an der offensichtlich widersprüchlichen Bestimmung, wonach das Reich der Zwecke erstens nicht nur »die vernünftigen Wesen als Zwecke an sich«, sondern auch die subjektiven »Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag« einschließe, zweitens aber im Hinblick auf dieses Reich »von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger Wesen als Zwecke an sich, imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahiert« (GMS B 74) werden müsse. Demnach sind für das Reich der Zwecke neben den Vernunftwesen als ›selbständigen‹ Zwecken an sich die subjektiven, zu bewirkenden Zwecke dieser Vernunftwesen konstitutiv und nicht konstitutiv. Sie sind für das Reich konstitutiv, denn dieses Reich soll handelnd bewirkt werden, ist mithin kein existierendes Reich reiner Vernunftwesen. Sein Begriff ist eine »praktische Idee, um das, was nicht da ist, aber durch unser Tun und Lassen wirklich werden kann, und zwar eben dieser Idee gemäß, zu Stande zu bringen« (GMS B 81). Ohne die Einbeziehung von subjektiven, zu bewirkenden Zwecken, d.h. nur auf den ›selbständigen Zweck‹ der Selbstzwecklichkeit der Person bezogen, ergibt die Rede vom Reich der Zwecke also keinen Sinn. 81

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Andererseits können nicht subjektive Zwecke überhaupt konstitutiv sein für das Reich der Zwecke, sondern nur solche, die den Inhalt einer moralisch notwendigen Maxime bilden. Kant hat bislang aber nicht gezeigt, wie Maximen, die moralisch notwendig sind für ein Reich der Zwecke, zu bestimmen sind. Das Kriterium der Selbstzwecklichkeit des Menschen ist für sich betrachtet ebenso wie das der Verallgemeinerbarkeit einer gegebenen Maxime nur ein negatives Kriterium für deren Gesetzestauglichkeit.37 Durch die Prüfung gegebener Maximen können prinzipiell keine für das Reich der Zwecke konstitutiven subjektiven Zwecke bestimmt werden, denn kontingente Maximen enthalten immer nur kontingente Zwecke. Konstitutive Zwecke können nur aus der Vernunft selbst bestimmt werden, und dies nur als die allgemeine Form konkreter subjektiver Zwecke, nicht als diese konkreten Zwecke selbst. Eben dies hat Kant in der Tugendlehre und zuvor schon in der ›Dialektik‹ der Kritik der praktischen Vernunft gesehen und die Konsequenzen gezogen. In beiden Schriften findet sich die aus der Perspektive der Grundlegung und der ›Analytik‹ der zweiten Kritik irritierende Feststellung, dass ohne einen objektiven Zweck (KpV) bzw. objektive Zwecke (TL), nämlich Zwecke, die zugleich Pflicht sind, ein kategorischer Imperativ unmöglich wäre. Die zweite Kritik kennt den objektiven Zweck nur im Singular, als höchstes Gut, in dessen Begriff Tugend und Glück »als notwendig verbunden« (KpV A 204) gedacht werden. Das höchste Gut sei ein »a priori notwendiges Objekt unseres Willens«, das mit dem moralischen Gesetz »unzertrennlich« zusammenhänge. Seine Beförderung sei Pflicht, sie müsse deshalb möglich sein. Denn wäre sie unmöglich, so wäre das moralische Gesetz »phantastisch und auf leere, eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch«. (KpV A 204 f.) Die Tugendlehre spricht vom objektiven Zweck im Plural, nennt eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit,38 und rechtfertigt diese wie die zweite Kritik das höchste Gut. Gäbe es keine objektiven Zwecke, »so würden, weil doch keine Handlung zwecklos sein kann, alle Zwecke für die praktische Vernunft immer nur als Mittel zu andern Zwecken gelten und ein kategorischer Imperativ wäre unmöglich; welches alle Sittenlehre aufhebt« (TL A 12). Insbesondere die Formulierung der Tugendlehre macht den Sachverhalt deutlich, um den es geht. Die durch reine Vernunft bestimmte Willkür muss eine zweckbestimmte Willkür sein, wenn ihr moralisches Wollen nicht ›leer‹ sein soll. Schon die zweite Kritik hält fest, es sei »freilich unleugbar, daß alles Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie 37 Vgl. GMS B 82. 38 Genauer besehen sind eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit insofern formale Zwecke, als aus ihnen wiederum eine Vielzahl von besonderen Zwecken, die Pflichten sind, resultieren.

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haben müsse«, setzt allerdings hinzu, dass diese bei Strafe der Heteronomie »darum nicht eben der Bestimmungsgrund und Bedingung der Maxime« (KpV A 60)39 sein dürfe. Die Tugendlehre wird deutlicher. Alles Wollen ist zweckbestimmt. Gäbe es nun ausschließlich Zwecke, die sich der Mensch nach sinnlichen Antrieben macht, so gäbe es nur hypothetische, nicht aber kategorische Imperative. Letztere setzen Zwecke voraus, die zugleich Pflicht sind, Zwecke, die reine praktische Vernunft selbst und unbedingt gebietet. Denn nur dann ist der Akt der Zwecksetzung ein Akt der Freiheit im emphatischen Sinne. Moralisches und daher im strikten Sinne freies Wollen ist kein leeres Wollen, wie viele Kant-Kritiker seit Hegel meinen, sondern eines, das eine Materie, einen Gegenstand hat, und zwar einen durch reine praktische Vernunft selbst bestimmten. Zwecke, die zugleich Pflicht sind, »begründen« Kant zufolge »ein Gesetz für die Maximen der Handlungen« (TL A 19), indem sie den subjektiven Zweck, den ein jeder hat, dem objektiven, den er haben soll, unterordnen. Als Gesetze für Maximen fungieren objektive Zwecke nicht einfach als negative Prinzipien und als Auswahlkriterien unter schon gegebenen Maximen, sondern schreiben dem Handelnden eine Maximenbildung vor, die ihnen, den objektiven Zwecken, selbst entspricht. Es gilt nicht nur das formale Kriterium, dass die Maximen einer allgemeinen Gesetzgebung nicht widersprechen dürfen, sondern das materiale Kriterium, dass sie sich für die Ausbildung eigener Vollkommenheit oder die Beförderung fremder Glückseligkeit qualifizieren müssen. Das oberste Prinzip der Ethik lautet deshalb: »Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann.« Dieser ethische Imperativ geht über die Zweckformel des kategorischen Imperativs hinaus. Ihm zufolge ist es »nicht genug, daß er [der Mensch] weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht«. (TL A 30) Der Mensch ist sich selbst Zweck, bedeutet, er hat die Pflicht zur Vervollkommnung seiner selbst. Er soll zum einen seine körperlichen, sensitiven und intellektuellen Fähigkeiten entwickeln, um damit die Voraussetzung für ein tatsächlich moralisches Handeln zu schaffen, und er soll zum zweiten eine Tugendgesinnung ausbilden, um »seine Pflicht zu tun, und zwar aus Pflicht« (TL A 24). Der Mensch ist des andern Menschen Zweck, bedeutet, er hat die Pflicht, des anderen Glück durch Unterstützung seiner rechtlich erlaubten subjektiven Zwecke zu befördern.40 Kant betont in diesem Zusammenhang, dass keiner der beiden Zwecke, die zugleich Pflicht sind, den Menschen überfordert. Da beide Pflichten als Tugendpflichten im Unterschied zu Rechtspflichten nur 39 »Denn ohne allen Zweck kann kein Wille sein.« ( GTP A 212 Anm.). 40 Vgl. TL A 15 ff.

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auf Maximen und nicht auf Handlungen gehen, lassen sie dem Einzelnen hinsichtlich der konkreten Gestaltung seines Handelns einen weiten Spielraum. Sie schreiben ihm nicht vor, wie und in welchem Maße er seine Pflicht erfüllen soll und nötigen ihn deshalb auch nicht zu Handlungen, die seine realen Möglichkeiten übersteigen: Ultra posse nemo obligatur.41 »Alle Verbindlichkeit«, heißt es in den Vorarbeiten zur Tugendlehre, »setzt nämlich ein Gesetz voraus. Geht dieses Gesetz bestimmt und unmittelbar auf die Handlung so daß die Art wie? und der Grad wie viel? in ihr ausgeübt werden soll im Gesetz bestimmt ist so ist die Verbindlichkeit vollkommen (obligatio perfecta) und das Gesetz ist stricte obligans es bleibt uns keine Wahl übrig weder für ausnahmen wenn das Gesetz in seiner allgemeinheit gültig ist noch für das Maas der Befolgung desselben. Gebietet aber das Gesetz nur nicht unmittelbar die Handlung sondern nur die Maxime der Handlung läßt es dem Urtheil des Subjects frey die Art wie und das Maas in welchem Grad das Gebotene ausgeübt werden solle nur daß so viel als uns unter den gegebenen Bedingungen möglich ist davon zu thun nothwendig sey so ist die Verbindlichkeit unvollkommen und das Gesetz nicht von enger sondern nur weiter Verbindlichkeit late oligans.« (VATL 394)

Der Handelnde muss selbst beurteilen, welche Maxime unter den gegebenen Umständen die dem objektiven Zweck angemessene ist, wie und in welchem Maß er seine Tugendpflicht erfüllt. Seine Überlegungen sind dabei notwendig auch pragmatischer Art. Weil die Realisierung objektiver Zwecke »immer empirische Bedingungen an sich hat«, erfordert sie »eine Überlegung in Ansehung technisch=practischer Imperative« (VATL 394).42 »[W]as zu tun sei, kann nur von der Urteilskraft, nach Regeln der Klugheit (den pragmatischen), nicht denen der Sittlichkeit (den moralischen) […] entschieden werden.« (TL A 91 Anm.)43 Die Urteilskraft entscheidet zwar nach pragmatischen Regeln, aber unter der Maßgabe des moralisch Geforderten. Sie steht im Dienst reiner praktischer, nicht technisch-praktischer Vernunft. 41 Der Vorwurf der Überforderung ist populär. Ohne Kant beim Namen zu nennen, hat ihn bspw. Enzensberger (1993: 74) erhoben: Da »alle unsere Handlungsmöglichkeiten endlich sind, öffnet sich die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer weiter. Bald ist die Grenze zur objektiven Heuchelei überschritten; dann erweist sich der Universalismus als moralische Falle.« W. Becker (1989: 6) spricht von »fernethischem Illusionismus«, der »eine ideologische Funktion« habe. 42 Vgl. TL A 91 Anm. 43 Klugheit ist für Kant eben nicht, wie Luckner (2005: 241) durch ein Zitat aus der Grundlegung meint belegen zu können, »die Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten Wohlsein« (GMS B 42). Dazu ausführlich Esser (2004: 257 ff.).

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Aufgrund des weiten Spielraums, den die Tugendpflichten dem Subjekt im Hinblick auf ihre konkrete Ausübung lassen, ist dessen Überforderung ausgeschlossen. Tugendpflichten gebieten nichts, was dem Einzelnen unmöglich wäre oder ihn über alle Maßen belastete. Die Pflicht zur Ausbildung einer Tugendgesinnung verlangt vom Einzelnen nicht dessen Heiligkeit, sondern die Festigung seiner moralischen Standfestigkeit angesichts widerstrebender Neigungen. Und die Pflicht zur Beförderung des Glücks anderer Menschen verlangt vom Individuum nicht die Aufopferung seiner eigenen rechtlich möglichen subjektiven Zwecke. »Denn mit Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) anderer ihre zu befördern, würde eine an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetze machte. Also hat diese Pflicht einen Spielraum, mehr oder weniger hierin zu tun, ohne daß sich die Grenzen davon bestimmt angeben lassen.« (TL A 27) Wenn die Moral nicht verlangt, der Mensch solle ihr heroisch sein Glück in dieser Welt zum Opfer bringen, dann ist vorderhand nicht zu sehen, warum die Moralphilosophie neben der Frage ›Was soll ich tun?‹ auch noch die Frage ›Was kann ich hoffen?‹ zu beantworten hat. Eben dieser Ansicht ist aber Kant, der sie in der ›Dialektik‹ der zweiten Kritik erörtert. Die ›Dialektik‹ teilt mit der Tugendlehre den Gedanken, dass moralisches Wollen etwas wollen muss, weil ein Wollen, das nichts will, keines ist; dass es also zweckbestimmt sein muss und es daher eines subjektiv zu bewirkenden Zwecks bedarf, der zugleich objektiver Zweck, das heißt Pflicht ist. Im Unterschied zur Tugendlehre handelt sie aber von diesem objektiven Zweck im Singular und versteht darunter das höchste Gut, in dessen Begriff Tugend und Glückseligkeit ›als notwendig verbunden‹ gedacht werden. Das höchste Gut ist »die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft« (KpV A 194). Es ist eine Vernunftidee oder ein »ethischer Weltbegriff« (Düsing 1971: 32), der Inbegriff dessen, was durch Handeln aus Pflicht befördert werden soll. Die Pflicht zu seiner Beförderung ist deshalb keine besondere Pflicht neben anderen Pflichten, sie entspringt vielmehr der Reflexion auf deren Sinn für das endliche Vernunftwesen. Diese Reflexion ist unvermeidlich, denn es ist »eine von den unvermeidlichen Einschränkungen« der praktischen Vernunft des Menschen, dass sie an dem Erfolg der moralischen Handlungen interessiert ist. Für den Menschen ist es nicht genug, dass er seine Pflicht tut, »es mag nun auch mit dem irdischen Leben alles aus sein, und wohl gar selbst in dieser Glückseligkeit und Würdigkeit vielleicht niemals zusammentreffen«. Als endlichem Vernunftwesen stellt sich ihm unweigerlich die Frage nach dem »Ausgang« seines »moralischen Tuns und Lassens […], den der Weltlauf herbeiführen wird«. (RGV B XII Anm.)44 44 Vgl. RGV B VI f.: »Aber aus der Moral geht doch ein Zweck hervor; denn es kann der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung

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Das muss angesichts des in der ›Analytik‹ und der Tugendlehre Ausgeführten irritieren. Denn nach der ›Analytik‹ ist sich ein jeder der unbedingten Forderung reiner praktischer Vernunft und seiner Fähigkeit, ihr entsprechend handeln zu können, apodiktisch gewiss. Und nach der Tugendlehre negiert die Moral nicht das Streben nach Glück, sondern setzt ihm lediglich normative Grenzen. Die Sinn-Frage erscheint deshalb widersinnig. Wenn moralisches Handeln ein im emphatischen Sinne vernünftiges Handeln ist, sind keine vernünftigen Gründe denkbar, die gegen seine Sinnhaftigkeit sprechen, und nicht-vernünftige, nämlich nur zweckrationale Gründe dürfen keine Rolle spielen. Kant beginnt die Erörterung der Sinn-Frage, indem er Tugend nicht mehr wie in der ›Analytik‹ als »moralische Gesinnung im Kampfe« (KpV A 151), sondern »als die Würdigkeit glücklich zu sein« bestimmt und behauptet, dass es »selbst im Urteile einer unparteiischen Vernunft« (KpV A 198 f.) ungerecht wäre, wenn das glücksbedürftige, aufgrund seiner moralischen Bestimmung der Willkür auch glückswürdige endliche Wesen des Glückes nicht teilhaftig würde. Moralisches Handeln hat demnach nur dann einen Sinn, wenn Glückswürdigkeit und tatsächliches Glück des Menschen in keinem zufälligen, sondern notwendigen Verhältnis stehen. Kant scheint hier das gängige Vorurteil, seine zugegebenermaßen rigoristische Moralphilosophie sei auch sinnenfeindlich,45 widerlegen zu wollen, indem er die unbedingte Verpflichtung des Individuums und sein Bedürfnis nach Glück miteinander in Einklang zu bringen sucht. Als Vernunftwesen, das zugleich bedürftiges Naturwesen ist, hat der Mensch ein legitimes Verlangen, sein Glück in dieser Welt zu finden, »und die reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben« (KpV A 166). Doch der Begriff der ›Glückseligkeit‹ changiert in der zweiten Kritik nicht zufällig zwischen dem Wohlergehen des Menschen in dieser Welt und der Glückseligkeit der unsterblichen Seele im Jenseits. Das Problem der notwendigen Verbindung von Moralität, als Glückswürdigkeit, und Glück nötigt Kant zufolge zum Übergang von der Moral- in die Religionsphilosophie. Als handelndes Wesen »in der Welt« ist der Mensch »doch nicht zugleich Ursache der Welt und der Natur selbst« (KpV A der Frage ausfallen möge: was dann aus unserm Rechthandeln herauskom­ me, und worauf wir, gesetzt auch, wir hätten dieses nicht völlig in unserer Gewalt, doch als auf einen Zweck unser Tun und Lassen richten könnten, um damit wenigstens zusammen zu stimmen.« 45 Zum Rigorismus: RGV B 10; das Vorurteil der Sinnenfeindlichkeit artikuliert Schillers Distichon »Gewissensskrupel«: »Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung,/ Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin./ Decisum/ Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten/ Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.« (F. Schiller 1797: 299 f.).

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224). Weil sein Vermögen nicht hinreicht, das Glück in der Welt »einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken«, muss »ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht, d.i. die Moral führt unausbleiblich zur Religion« (RGV B XIII Anm.). Es scheint demnach, dass die Frage nach dem Sinn moralischen Handelns zwar auf das Verhältnis von Glückswürdigkeit und Glück in dieser Welt zielt, sich aber allein durch den Rekurs auf Innerweltliches nicht angemessen beantworten lässt. Um den Übergang in die Religionsphilosophie zu motivieren, reicht es freilich nicht, Tugend als Glückswürdigkeit zu bestimmen und die Verbindung von Glückswürdigkeit und Glück als notwendig.46 Kant muss in einem zweiten Schritt behaupten, dass »die völlige Angemessen­ heit der Gesinnungen zum moralischen Gesetze die oberste Bedingung des höchsten Guts« (KpV A 119) sei. Damit ist Heiligkeit gefordert, das heißt »eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins, fähig ist« (KpV A 220). Diese Vollkommenheit ist in Bezug auf das endliche Vernunftwesen nur denkbar in Gestalt eines unendlichen Fortschritts, der seine unendliche Existenz, mithin seine unsterbliche Seele voraussetzt.47 Reine praktische Vernunft postuliere das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele als notwendige Bedingungen der Möglichkeit des höchsten Guts. Die Postulate seien theoretische Sätze, die als solche aber nicht erweislich seien.48 Sie seien theoretisch, weil sie auf ein Sein und nicht wie praktische Sätze auf ein Sollen gingen. Nicht erweislich seien sie, weil dieses Sein nicht in der Anschauung gegeben sei. Sie gründeten allein in dem ›Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft‹, das geforderte höchste Gut als möglich denken zu können. Durch sie werde das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele nicht erkannt, sondern an ihre objektive Realität lediglich geglaubt.49 Dieser Glaube sei ein Vernunftglaube, ein ›Fürwahrhalten‹, das nur subjektiv, nicht objektiv zureichend sei. Er berechtige zu der Hoffnung, die Beförderung des höchsten Guts sei möglich. Das höchste Gut zu befördern sei Pflicht, an das Dasein Gottes zu glauben sei nicht Pflicht, aber moralisch notwendig.50 Das endliche Vernunftwesen habe keine Pflichten gegenüber Gott. Aber nur indem es seine Pflichten als Gebote eines göttlichen, moralisch vollkommenen Urhebers der Natur ansehe, könne mit der moralischen Willensbestimmung die Hoffnung auf eine ihr entsprechende Glückseligkeit einhergehen. 46 Vgl. KpV A 198 ff. 47 Vgl. KpV A 219 f. 48 Vgl. KpV A 220. Zur Postulatenlehre Wimmer 1990: 81 ff. 49 Vgl. KpV A 227. 50 Vgl. KpV A 226.

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Die Sinn-Frage lässt sich demnach als rein innerweltliche Frage gar nicht angemessen verstehen, geschweige denn beantworten. Der Mensch kann die unbedingte Forderung der Moral nur dann als sinnvoll verstehen, wenn er mit seinem moralischen Handeln einen unbedingten Zweck befördert, der zwar nicht in dieser, aber doch in einer jenseitigen Welt auch seiner Glücksbedürftigkeit Rechnung trägt. Er muss hoffen dürfen, durch moralisches Handeln sein Glück zu erlangen – freilich nicht allein aus eigner Kraft und nicht das sinnliche Glück in dieser Welt, sondern mit Gottes Hilfe das Glück einer unsterblichen Seele in einer jenseitigen Welt. Die Lehre vom höchsten Gut beantwortet die Sinn-Frage nicht, indem sie die unbedingte Verpflichtung des Individuums mit seinem Verlangen nach Glück in dieser Welt in Einklang bringt. Vielmehr erweckt sie den Eindruck, die Sinn-Frage sei nur in der Weise einer die ›Analytik‹ ergänzenden, nachträglichen Rechtfertigung des unbedingten Anspruchs der Moral zu beantworten – durch den Nachweis, die Hoffnung, für moralisches Handeln dereinst mit Glück belohnt zu werden, sei vernünftig. Sie bedroht damit das Fundament der Ethik gleich zweifach. Erstens stellt sie die Lehrstücke vom Vernunftfaktum und der Achtung vor dem Gesetz in Frage, zweitens aber scheint sie direkt in Eudämonismus und Theologie zu führen und Autonomie durch Heteronomie zu ersetzen. Kant bestreitet dies. In der synthetischen Verbindung von Tugend und Glück im höchsten Gut sei jene der Grund, dieses aber die Folge. Die »Hereinnahme« des Glücks in die Moral mache die Moral deshalb nicht zu einer »Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen« (KpV A 234). Die Willkür sei mithin nicht heteronom. Der Übergang von der Moral in die Religion tue der Autonomie auch keinen Eintrag, denn das moralische Gesetz sei unabhängig von der Religion in seiner Geltung erwiesen.51 Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft sei die Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote, aber nicht als »Verordnungen[] eines fremden Willens, sondern als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst« (KpV A 233), weshalb die Autonomie gewahrt bleibe. Schließlich sei der Vernunftglaube an das Dasein Gottes und an eine unsterbliche Seele nicht konstitutiv für Moralität. Zwar schwäche derjenige, der nicht glaube, seine moralische Motivation, er bleibe aber doch unleugbar Adressat der moralischen Forderung und er sei sich ebenso unleugbar bewusst, ihr genügen zu können.52 Auch der Atheist, für den moralisches Handeln auf eine »Nichtigkeit« hinauslaufe, könne »dem Rufe seiner sittlichen inneren Bestimmung anhänglich bleiben« (KdU B 428). Beharre er nicht auf der »Alleinherrschaft der spekulativen Vernunft« und leugne stur alles, was sich nicht durch objektive Gründe oder dogmatische Überzeugung 51 Vgl. GTP A 212 ff. 52 Vgl. KdU B 427 ff.

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rechtfertigen lasse, könne er sogar der Perspektive der Nichtigkeit moralischen Handelns und einer völligen Hoffnungslosigkeit entgehen – nämlich dann, wenn es für ihn in praktischer Hinsicht hinreicht, dass sich das Dasein Gottes als Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts zumindest widerspruchsfrei denken lasse.53 Kants Argumentation kann hier aus mehreren Gründen nicht überzeugen. (1) Die für den Übergang von der Moral zur Religion notwendige These von der Heiligkeit als der obersten Bedingung des höchsten Guts wirft die Frage auf, inwiefern sie selbst vor dem ›Urteile einer unparteiischen Vernunft‹ bestehen kann. Wenn ein vernünftiges Wesen in der Sinnenwelt zu keinem Zeitpunkte seines Daseins zur Heiligkeit fähig ist, und wenn andererseits eine unsterbliche Seele, sollte sie existieren, für sinnliches Glück gänzlich unempfänglich ist, dann ist die Hoffnung eines endlichen Vernunftwesens auf sein Glück im Jenseits widersinnig. Ferner wird die moralische Beurteilung des irdischen, per definitionem unheiligen Daseins des Menschen irrelevant.54 Schließlich aber kann das höchste Gut zu befördern nicht Pflicht sein, wenn es sich nicht auf diese Welt bezieht, in der allein gebotene Handlungen stattfinden können. (2) Sind die Postulate theoretische Sätze, die in einem Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft gründen, welches seinerseits auf der Pflicht, das höchste Gut zu befördern, gründet, welche ihrerseits im moralischen Gesetz gründet,55 dann bedarf die Moral nur dann nicht der Religion, wenn die verpflichtende Kraft des moralischen Gesetzes unabhängig ist von der Möglichkeit des höchsten Guts. Dass dem so sei, wird Kant nicht müde zu behaupten. Die Vernunft bedürfe des höchsten Guts und müsse eine oberste Intelligenz als dessen notwendige Bedingung annehmen, aber nicht um der Verbindlichkeit der moralischen Forderung wegen, sondern um zu verhindern, dass das höchste Gut »zusamt der ganzen Sittlichkeit nicht bloß für ein bloßes Ideal gehalten werde, wenn dasjenige nirgend existierte, dessen Idee die Moralität unzertrennlich begleitet« (DO A 316). Dagegen ist zu sagen: Wenn ohne den Glauben an das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele für das endliche Vernunftwesen die Möglichkeit des höchsten Guts entfällt, dann muss ihm moralisches Handeln als zwecklos und hoffnungslos erscheinen. Sein »Leben selbst könnte hier ›falsch‹ genannt werden« (Albrecht 1978: 164). Das Lehrstück vom höchsten Gut droht damit in das Dilemma zu führen, dass Moralität weder mit noch ohne die Erwartung von Lohn möglich ist.56 Könnte das Individuum mit Handlungen aus 53 Vgl. KdU B 428 f.; DO A 328. 54 Vgl. Schweitzer (1899: 181). 55 Vgl. KpV A 256 f. 56 Vgl. Brandt (2007: 374); vgl. TL A VII f.; A 32 f.; A 47.

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Pflicht nicht die Hoffnung auf ›entsprechendes‹ Glück verbinden, wäre die moralische Forderung die nach Aufopferung des Individuums für die unbedingte vernünftige Allgemeinheit des moralischen Gesetzes. Wäre diese Hoffnung zwar vernünftig, aber nur unter der Bedingung des Glaubens an das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele, würde die Moral qua Moralphilosophie das Individuum auf ein »künftiges Leben« (KdU B 427) vertrösten und zu einer Art ›Opium für das Volk‹ (Lenin). Wieder wäre die Forderung der Moral die nach Aufopferung des Individuums für den abstrakten Begriff reiner praktischer Vernunft. Dem naheliegenden Einwand, es mache immerhin einen Unterschied, ob sich das Individuum für die Moralität oder für den ›Führer‹ opfere, hat Kant selbst den Boden entzogen, indem er betont, dass es ›selbst im Urteile einer unparteiischen Vernunft‹ nicht zu rechtfertigen sei, wenn der Glückswürdige des Glücks nicht teilhaftig werden könnte. Mithin wäre es unvernünftig, betrachtete sich das bedürftige Vernunftwesen selbst als bloßes Mittel für die Verwirklichung der Vernunft. (3) Wollte Kant dem Dilemma entgehen, indem er Postulatenlehre und Vernunftglauben nicht an das endliche Vernunftwesen schlechthin, sondern an den »Rechtschaffenen« adressierte, der sagt: »ich will, daß ein Gott, daß mein Dasein in dieser Welt, auch außer der Naturverknüpfung, noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich auch daß meine Dauer endlos sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen« (KpV A 258), so führte auch das nicht weiter. Wäre nämlich der moralische Vernunftglaube »eine freiwillige, zur moralischen (gebotenen) Absicht zuträgliche« Bestimmung, die »selbst aus der moralischen Gesinnung entsprungen« (KpV A 263) ist, so würde der Rechtschaffene durch seine moralische Gesinnung zu einem Glauben gedrängt, dessen er gar nicht bedürfte.57 Durch den Übergang von der Moralphilosophie im engeren Sinne zur Religionsphilosophie soll die Frage: ›Was darf ich hoffen?‹ beantwortet werden. »Nur denn, wenn Religion dazu kommt, tritt auch die Hoffnung ein, der Glückseligkeit dereinst in dem Maße teilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht gewesen, ihrer nicht unwürdig zu sein.« (KpV A 234) Kant verlegt mit dem ›dereinst‹ die notwendige Verbindung von Moralität und Glück aus dieser Welt in eine jenseitige und setzt an die Stelle des Glücks des vernünftigen Naturwesens die Glückseligkeit der unsterblichen Seele. Seine Antwort auf die Frage ›Was darf ich hoffen?‹ besteht in der Auskunft, dass in dieser Welt für mich kein Anlass zu der Hoffnung besteht, vernünftiges Handeln und sinnliches Glück stünden in einem notwendigen Verhältnis. Diese Auskunft kann nicht überraschen, denn sie deckt sich mit der Erfahrung von jedermann. 57 Vgl. Höffe (2012: 185).

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3. Die Reduktion der Freiheit auf Autonomie Die objektive Hoffnungslosigkeit, die das Lehrstück vom höchsten Gut gegen Kants Intention begründet, rührt daher, dass sie Freiheit im strengen Sinne nur als moralische gelten lässt und den Sinn der Moralität für uns davon abhängig macht, dass es eine berechtigte Hoffnung auf einen notwendigen Zusammenhang von tugendhaftem Handeln und Glück gebe. Die zuletzt genannte These kann nicht vernünftig sein. Nicht nur spricht alle Erfahrung gegen einen notwendigen Zusammenhang von Tugend und Glück in dieser Welt. Auch davon abgesehen ist der Gedanke, Glück, verstanden als »der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht« (KpV A 224), sei eine notwendige Folge moralischen Handelns, widersinnig. Denn selbst unterstellt, alle Menschen würden jederzeit moralisch handeln, blie­ben »glücksgefährdende Reste pragmatischer Torheit« (Höffe 2012: 181), es blieben Wünsche, die entweder aus technisch-praktischen oder aus moralischen Gründen nicht erfüllbar wären, und schließlich bliebe es dabei, dass Schicksalsschläge, die außerhalb menschlicher Zuständigkeit und Verantwortung liegen, die Hoffnung auf ein glückliches Leben zunichtemachen können. Der Gedanke eines notwendigen Zusammenhangs von Tugend und Glück kann aber, wie oben gezeigt, auch nicht durch das Übergehen in eine jenseitige Welt an Überzeugungskraft gewinnen. Auch die kantische Reduktion von Freiheit im strikten Sinne auf moralische Freiheit ist nicht haltbar. Näheres Hinsehen zeigt, dass Kants kritische Philosophie hier in eine Aporie führt. Sie bedarf nämlich einerseits zwingend eines nicht-moralischen Begriffs der Freiheit, kann diesen Begriff aber andererseits nicht gelten lassen. Um das Aporetische der kantischen Argumentation zu verdeutlichen, sei die Freiheitsthematik im Folgenden am Leitfaden der drei Kritiken skizziert.

3.1. Kritik der reinen Vernunft In der ersten Kritik diskutiert Kant Freiheit zunächst im kosmologischen Kontext der so genannten dritten Antinomie, geht im Zuge der Auflösung dieser Antinomie dann über auf das Thema der Handlungsfreiheit des Menschen in der Welt und thematisiert schließlich im ›Kanon der reinen Vernunft‹ die moralische Freiheit des Willens. Kosmologische Freiheit ist »das Vermögen, eine Reihe in der Zeit [der Kausalität nach] ganz von selbst anzufangen« (KrV B 478). Die These, dass zur Erklärung der Ereignisse in der Welt eine solche ›Kausalität durch Freiheit‹ notwendig anzunehmen sei, scheint der Antithese, wonach es keine Freiheit gibt und alles in der Welt der Naturkausalität unterliege, kontradiktorisch 91

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entgegengesetzt. Wird aber die Einsicht des transzendentalen Idealismus beherzigt, wonach unsere Erkenntnis auf Gegenstände möglicher Erfahrung eingeschränkt ist, die uns in den Formen unserer Sinnlichkeit Raum und Zeit gegeben sind, auf Erscheinungen also, und wir unabhängig von diesen Formen Dinge an sich zwar denken aber nicht erkennen können, so lässt sich der Widerstreit auflösen. Kausalität durch Freiheit und Naturkausalität sind dann miteinander vereinbar, wenn die Geltung der ersten auf die außerzeitliche, intelligible Sphäre, die der zweiten auf die innerzeitliche, sinnlich bedingte beschränkt ist. Wenn innerhalb der Zeitreihe, also innerhalb der Welt der Erscheinungen jede Ursache selbst wiederum verursacht und mithin bedingt ist, so ist es kein Widerspruch, eine außerhalb der Zeitreihe bedingter Ursachen liegende unbedingte, intelligible Ursache dieser Reihe zu denken. Kausalität durch Freiheit und Naturkausalität widersprechen sich also im Hinblick auf ein und dasselbe Ereignis in der Welt der Erscheinungen nicht, denn beide Arten der Kausalität sind nur verschiedene Hinsichten, nach denen dieses Ereignis betrachtet werden kann. Das gilt a fortiori für die Handlungen des Menschen, der als Gegenstand möglicher Erfahrung der Naturkausalität unterliegt, als vernunftbegabtes Wesen aber offenbar ein Vermögen hat, welches ihn zum intelligiblen Grund, das heißt zum Subjekt seiner Handlungen macht. »Der Mensch ist eine von den Erscheinungen der Sinnenwelt, und insofern auch eine der Naturursachen, deren Kausalität unter empirischen Gesetzen stehen muß. Als eine solche muß er demnach auch einen empirischen Charakter haben, so wie alle anderen Naturdinge. Wir bemerken denselben durch Kräfte und Vermögen, die es in seinen Wirkungen äußert. Bei der leblosen, oder bloß tierischbelebten Natur, finden wir keinen Grund, irgendein Vermögen uns anders als bloß sinnlich bedingt zu denken. Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich einesteils Phänomen, anderenteils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann.« (KrV B 574 f.)

Seinem Selbstverständnis nach ist der Mensch Subjekt freien Handelns, denn er ist sich bewusst, dass er sein Handeln durch Regeln, Imperative, selbst bestimmt. Solche Imperative drücken ein Sollen aus, dessen Grund nur ein Begriff, eine Idee der Vernunft, nicht aber eine Ursache der Natur sein kann. Zwar unterliegen seine Handlungen Naturbedingungen, diese betreffen aber nicht unmittelbar die Bestimmung seiner Willkür, sondern nur deren Wirkung in der Welt. Seine Willkür ist zwar »pathologisch«, durch sinnliche Antriebe »affiziert«, sie ist dadurch aber nicht 92

DIE REDUKTION DER FREIHEIT AUF AUTONOMIE

»necessitiert«, genötigt (KrV B 562). »[S]o gibt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach, und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hineinpaßt.« (KrV B 576) Im kosmologischen Kontext ist das Thema der Freiheit das »eines Ursprungs der Welt« (KrV B 476). Was hat die Freiheit als ›Weltproblem‹ mit der menschlichen Handlungsfreiheit, gar mit der Moral zu tun? Die naheliegende und kantkonforme Antwort lautet: Wenn schon der Gedanke der Freiheit im kosmologischen Sinne (transzendentale Freiheit) logisch unmöglich, weil widersprüchlich wäre, dann wäre damit auch alle praktische Freiheit, die eine freie Willkür impliziert, »vertilgt« (KrV B 562). Kosmologische (transzendentale) Freiheit ist demnach die Bedingung der Möglichkeit von praktischer Freiheit.58 Dagegen ist das Selbstverständnis des Menschen als eines frei Handelnden kein hinreichender Beleg seiner Freiheit. Genauer besehen ist es in zweierlei Hinsicht ungenügend. Zum einen ist es nicht objektivierbar, zum anderen nicht täuschungsimmun. Beides ist zu unterscheiden. Es ist nicht objektivierbar: Zwar kann die »praktische Freiheit« des Handelns »durch Erfahrung bewiesen werden« (KrV B 830), aber dieser ›Beweis‹ beruht nur auf »innerer Erfahrung«. Jeder, der seine Aufmerksamkeit auf sich selbst wendet, wird einräumen, dass seine Willkür und damit sein Handeln nicht unmittelbar durch sinnliche Antriebe, sondern durch vernunftgeleitete Überlegungen bestimmt sind, die darauf abzielen, zu ermitteln, was für sein langfristiges Wohl gut und nützlich ist.59 Diese introspektiv ›bewiesene‹ praktische Freiheit kann nicht objektiviert werden. Ihr ›Beweis‹ resultiert nicht in einem Urteil, dem jeder prinzipiell zustimmen muss, denn solche Urteile sind nur möglich von Gegenständen in Raum und Zeit, nicht aber von den Bewusstseinszuständen des Einzelnen. Wird aber der Mensch bloß als ein raumzeitlicher Gegenstand betrachtet, so kommt nur sein »empirischer Charakter«, das heißt das Naturgesetz seiner Wirksamkeit in den Blick. »In Ansehung dieses empirischen Charakters gibt es also keine Freiheit, und nach diesem können wir doch allein den Menschen betrachten, wenn wir lediglich beob­ achten.« (KrV B 578) Das Selbstverständnis des Menschen als eines frei Handelnden ist auch nicht täuschungsimmun: Dass sich Menschen außerhalb ihrer akademischen Beschäftigung mit dem Thema Willensfreiheit, etwa als Hirnforscher oder Philosophen, für gewöhnlich einen freien Willen attestieren 58 Vgl. KrV B 561. 59 Vgl. KrV B 830 f. Oder mit Fichte (1798: 126): »Wer möchte behaupten, dass er mit derselben mechanischen Nothwendigkeit esse, mit welcher er verdaut?«

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und in ihrem alltäglichen Handeln gar nicht anders als frei verstehen können, ist kein hinreichender Beleg ihrer Freiheit. Sie könnten sich in ihren Handlungen frei wähnen, während sie tatsächlich unfrei sind. Dies wäre dann der Fall, wenn die Vernunft ganz im Dienste natürlicher Neigungen stehen und infolgedessen ein ihr »fremdes Interesse bloß administrier[n]« (GMS B 89) würde. Wäre dem so, wäre die introspektiv ›bewiesene‹ Freiheit die einer durch »psychologische Kausalität […], d.i. durch Vorstellungen« betriebenen Maschine. Kant nennt sie in der zwei­ ten Kritik die »Freiheit eines Bratenwenders« (KpV A 172 ff.) und gibt schon in der ersten Kritik zu bedenken: Zwar erkenne sich der Mensch »selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann«, sondern seiner Vernunft zuschreiben müsse, »ob aber die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer wirkender Ursachen nicht wiederum Natur sein möge« (KrV B 574; B 831), sei damit nicht geklärt. Mit anderen Worten: Nur wenn die unbedingte transzendentale Freiheit ›feststeht‹, darf sich der Mensch zu Recht als Subjekt freier Handlungen betrachten. Nur wenn gezeigt werden kann, dass er das Vermögen der Freiheit als Unabhängigkeit »von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt« (KrV B 831) besitzt, ist Freiheit wirklich. Gemeint sind alle sinnlichen Ursachen, und dies bedeutet wiederum: alle Ursachen, die in der Zeit liegen und darum notwendig durch andere, ihnen vorhergehende Ursachen bedingt sind. Darunter fallen die äußeren, raumzeitlichen Ursachen der Erscheinungswelt, die insgesamt durch den Naturmechanismus bestimmt ist, aber auch die inneren Ursachen, die Motive und Absichten des Subjekts, dessen innerer Sinn durch ›psychologische Kausalität‹ bestimmt ist. Nicht nur die raumzeitlichen Gegenstände möglicher Erfahrung, auch die nicht-räumlichen, aber in der Zeit als Form des inneren Sinnes liegenden Vorstellungen des Subjekts unterliegen demnach der Kausalität der Natur. Die Ausdehnung der Naturkausalität auf die inneren Beweggründe des Subjekts ist in der ersten Kritik angedeutet,60 in der zweiten dann explizit ausgeführt. Kant sieht sich aufgrund der Zeitlichkeit der inneren Beweggründe zu dieser Ausdehnung berechtigt. Aus dem »Begriff der Kausalität, als Naturnotwendigkeit« folge, »daß eine jede Begebenheit, folglich auch jede Handlung, die in einem Zeitpunkte vorgeht, unter der 60 Im Kontext der Auflösung der dritten Antinomie heißt es, der intelligible Charakter der reinen Vernunft handele frei, »ohne in der Kette der Naturursachen, durch äußere oder innere, aber der Zeit nach vorhergehende Gründe, dynamisch bestimmt zu sein«. (KrV B 581.)

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DIE REDUKTION DER FREIHEIT AUF AUTONOMIE

Bedingung dessen, was in der vorhergehenden Zeit war, notwendig sei. Da nun die vergangene Zeit nicht mehr in meiner Gewalt ist, so muß jede Handlung, die ich ausübe, durch bestimmende Gründe, die nicht in meiner Gewalt sind, notwendig sein, d.i. ich bin in dem Zeitpunkte, darin ich handle, niemals frei.« (KpV A 169) Die damit behauptete Kongruenz von Zeitlichkeit und Kausalität als Naturnotwendigkeit ist aber mit dem »Lehrbegriff des transzendentalen Idealism« unverträglich.61 Transzendentalphilosophisch muss unterschieden werden zwischen Erscheinung als Gegenstand möglicher Erfahrung und Erscheinung als Phänomen des inneren Sinns. Kants theoretische Philosophie setzt sich dadurch entscheidend von Empirismus und subjektivem Idealismus ab, dass sie transzendentale Bedingungen aufweist, die erfüllt sein müssen, damit etwas für uns ein Gegenstand möglicher Erfahrung sein kann. Gegenstände möglicher Erfahrung sind aber ihrem Dasein nach in Zeit und Raum gegeben. Die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung sind mithin solche äußerer, nicht innerer Erfahrung. Dies kann auch unter Bezug auf das Subjekt möglicher Erfahrung gezeigt werden, das entgegen der Intention Kants nur ein Subjekt äußerer, nicht innerer Erfahrung ist.62 In seiner ›Widerlegung des Idealismus‹ erklärt Kant die äußere Erfahrung als konstitutiv für das empirische Selbstbewusstsein. »Alle Zeitbestimmung setzt etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus. Dieses Beharrliche aber kann nicht eine Anschauung in mir sein. Denn alle Bestimmungsgründe meines Daseins, die in mir angetroffen werden können, sind Vorstellungen, und bedürfen als solche, selbst ein von ihnen unterschiedenes Beharrliches, worauf in Beziehung der Wechsel derselben, mithin mein Dasein in der Zeit, darin sie wechseln, bestimmt werden können. Also ist die Wahrnehmung dieses Beharrlichen nur durch ein Ding außer mir und nicht durch die bloße Vorstellung eines Dinges außer mir möglich. Folglich ist die Bestimmung meines Daseins in der Zeit nur durch die Existenz wirklicher Dinge, die ich außer mir wahrnehme, möglich.« (KrV B 275 f.)63

Kants Argument ist ungereimt, denn das Beharrliche in der Wahrnehmung gründet der eigenen Theorie zufolge in der transzendentalen 61 Vgl. Brandt (2002: 162 f.). Anders Firla (1981: 251), die auf Formulierungen Kants verweist, die es erlauben, mit Heinrichs (1968: 44) von einer »Verzeitlichung« »im Verpflichtetsein« zu sprechen. Allerdings bleibt ungeklärt, wie dies auf der Grundlage der kantischen Identifizierung von Zeitlichkeit und Kausalität als Naturnotwendigkeit möglich sein soll. Firla übergeht die Passagen, welche die Naturkausalität auf den Bereich des inneren Sinnes ausdehnen. 62 Dazu ausführlich Kuhne (2007: 36–81). 63 In der von Kant in der zweiten Vorrede (B XXXIX) veränderten Fassung.

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Synthesis eines gegebenen Mannigfaltigen gemäß der Kategorie Sub­ stanz.64 Die Einheit desjenigen Bewusstseins, welchem dieses Beharrliche korrespondiert, ist mithin die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption. Das empirische Subjekt, dessen Bewusstsein unter der ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption steht, ist damit auf die Funktion der Erkenntnis reduziert. Der Bereich der Erkenntnis ist aber nicht der Bereich der Introspektion, sondern der der Gegenstände möglicher Erfahrung. Die intentionalen Korrelate des unter der ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption stehenden Bewusstseins sind ausschließlich die von der aktuellen (äußeren) Wahrnehmung des empirischen Subjekts unabhängigen Gegenstände möglicher Erfahrung, nicht aber die Empfindungszustände, die an seine aktuelle (innere) Wahrnehmung gebunden sind. Dem auf die Funktion der Erkenntnis beschränkten empirischen Subjekt ist also innere Erfahrung unmöglich. Paradoxerweise wird innere Erfahrung, das nicht zu bezweifelnde Faktum des unmittelbaren Bewusstseins meiner Empfindungen, durch die Bedingungen, die nach Kant für sie gelten, unmöglich, denn diese Bedingungen sind Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Indem Kant das Subjekt der inneren Erfahrung aufhebt in das erkennende Subjekt, verliert der Bereich der inneren Erfahrung seine Selbständigkeit gegenüber dem Bereich der Erkenntnis.65

3.2. Kritik der praktischen Vernunft Die erste Kritik erwies die transzendentale Freiheit im Medium der trans­ zendentalen theoretischen Reflexion als denkmöglich, vermochte aber die Wirklichkeit transzendentaler Freiheit als praktischer Freiheit nicht aufzuweisen. Die Wirklichkeit transzendentaler Freiheit bleibt in der Kri­ tik der reinen Vernunft »also ein Problem« (KrV B 831). Kant führt im ›Kanon der reinen Vernunft‹ zwar zentrale Begriffe seiner Moralphilosophie ein, vermag aber das Sittengesetz selbst nur als Beurteilungs- und noch nicht, wie später in der zweiten Kritik, auch als Bewirkungsprinzip zu entwickeln. Die Motivation moralischen Handelns gründet demnach in der Hoffnung auf eine von Gott gestiftete Welt proportionaler Glückseligkeit. Weil die Vernunft nur als Maßstab, aber noch nicht als 64 Vgl. KrV B 183; B 225. 65 Vgl. Heintel (1985: 140): Die »transzendentale Gegenstandskonstitution bei Kant [geht] über die Anschauungs- und Verstandesformen nur bis zu einer Erscheinungswelt ohne eigentliche Innerlichkeit, die daher als solche weder ontologisch differenziert werden kann [...] noch es gestattet, daß ›Ich‹ sich (mich) selbst als daseiend in der Erscheinungswelt von allem anderen Daseienden grundsätzlich absetzen kann.«

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Motiv moralischen Handelns aufgewiesen ist, gibt es noch keine eigenständige Sphäre unbedingten moralischen Sollens. Wer dem Sittengesetz entsprechend handelt, tut dies aus Klugheit – um glücklich zu werden. Moral und Klugheit sind noch nicht wirklich geschieden.66 Die Wirklichkeit unbedingter Freiheit lässt sich nicht im Medium spekulativer, theoretischer Vernunft aufweisen, sondern allein durch die »Erkenntnis, die wir von einer reinen praktischen Vernunft, und durch dieselbe, haben können« (KpV A 162). Während die erste Kritik zeigt, dass die transzendentale Idee der Freiheit denkmöglich ist, weist die zweite die Wirklichkeit reiner praktischer Vernunft und die Wirklichkeit transzendentaler Freiheit in der »absoluten Bedeutung« (KpV A 4) auf, die sie im Kontext der dritten Antinomie hat. Die Realität der Freiheit wird erkannt durch das Bewusstsein des moralischen Gesetzes, welches ein unmittelbares Bewusstsein oder »ein Faktum der Vernunft« (KpV A 56) ist. Aus der im kosmologischen Kontext gewonnenen denkmöglichen Idee unbedingter Freiheit wird derart durch die aufgewiesene Evidenz des moralischen Gesetzes die Wirklichkeit der Freiheit als des Vermögens der Autonomie des Menschen. Unbedingte Freiheit ist also wirklich, aber nur als moralische, nur als das Vermögen autonomer Selbstbestimmung. Damit ist eine gegenüber allem Empirischen selbstständige Sphäre des Intelligiblen aufgewiesen, die nicht durch Natur-, sondern Freiheitsgesetze bestimmt ist, und der Mensch, der seiner empirischen Seite nach den Naturgesetzen unterliegt, untersteht seiner intelligiblen Seite nach zugleich der unbedingten Forderung reiner praktischer Vernunft. Er ist Adressat eines unbedingten Sollens, das eine Notwendigkeit artikuliert, die in der Natur nicht existiert. In praktischer Hinsicht ist jetzt der Verdacht ausgeräumt, die Vernunft sei in ihrer Gesetzgebung »wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt« (KrV B 831). Die Reduktion von Freiheit auf moralische Freiheit scheint vor dem Hintergrund der Dichotomie von Naturnotwendigkeit aller raumzeitlichen Begebenheiten einerseits und intelligibler Freiheit andererseits plausibel. Näheres Hinsehen zeigt freilich, dass sie nicht haltbar ist. Die Dichotomie hat ihren Ursprung in der so genannten dritten Antinomie und deren Auflösung. Kant beruft sich in der zweiten Kritik ausdrücklich auf dieses Lehrstück und unterstreicht damit die Abhängigkeit der zweiten Kritik von der Argumentation der ersten. Denn obwohl die Kritik der praktischen Vernunft die Wirklichkeit der Freiheit durch das Vernunftfaktum-Theorem selbständig aufweist, lässt sie sich doch den Begriff der Freiheit »als Unabhängigkeit von allem Empirischen« (KpV A 173) von der ersten Kritik vorgeben.67 66 »Kant räumt hier der Selbstliebe eine zu starke Kraft ein, als daß er ohne sie, vielleicht sogar gegen sie, auf Moralität rechnete.« (Höffe 2003: 293 f.). 67 Dazu Brandt (2002: 160 ff.).

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Nun gelingt es der ersten Kritik nicht, den Zusammenhang zwischen der kosmologischen und innerweltlichen Freiheit einsichtig zu machen und zu zeigen, dass der kosmologische Kontext bereits »Grundbausteine der Moral« (KrV B 494) enthalte. Der Übergang von der kosmologischen zur innerweltlichen praktischen Freiheit bedeutet einen Wechsel des Gegenstandes der Argumentation.68 Kant zufolge ist dieser Gegenstandswechsel sachlich gerechtfertigt, weil menschliche Handlungsfreiheit nur dann als möglich gedacht werden könne, wenn in der Welt überhaupt ein unbedingtes Verursachen denkbar ist. Denkbar sei es aufgrund der transzendentalphilosophischen Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung. Kant identifiziert hier die intelligible Ursache der Reihe sinnlicher Ursachen mit dem aus der ›Analytik‹ der ersten Kritik bekannten Ding an sich, der uns unbekannten Ursache der Affektion des Subjekts, und verbindet damit die kosmologische Freiheit mit der Theorie der Affektion. Soll nämlich den Dingen an sich Kausalität eignen, wofür immerhin zahlreiche Passagen der ersten Kritik sprechen, so ist diese Kausalität als Einwirken der Dinge an sich auf die Sinnlichkeit des Subjekts, das heißt als Affektion zu verstehen, nicht aber als Manifestation transzendentaler Freiheit. Wenn Kant zunächst kosmologische Freiheit als denkmöglich dartut, indem er die Dinge an sich als intelligible Ursachen aller Erscheinungen bestimmt und dann auf die innerweltliche Freiheit und auf die besondere Erscheinung Mensch übergeht, schließt er offenbar nach dem Schema der Subalternation von der universellen auf die partikuläre Aussage: Wenn alle Dinge an sich frei sind, und der Mensch auch als Ding an sich angesehen werden kann, dann ist auch der Mensch frei.69 Doch dieser Schluss ist unhaltbar, weil seine Voraussetzung, die Gleichsetzung von intelligibler Ursache und Ding an sich, unhaltbar ist. Sieht man von diesen Inkonsistenzen ab, zeigt sich, dass die Reduktion von Freiheit im strikten Sinne auf moralische Freiheit in zweifacher Hinsicht problematisch ist: einmal im Hinblick auf das Personsein des Menschen (1), dann im Hinblick auf die technisch-praktische Vernunft und den hypothetischen Imperativ (2). (1) Mit dem Vernunftfaktum-Theorem ist die Wirklichkeit moralischer Freiheit apodiktisch gewiss, und der zunächst in kosmologischer Hinsicht entwickelte und dann auf den innerweltlichen Kontext übertragene Dualismus von Naturnotwendigkeit aller raumzeitlichen Begebenheiten und intelligibler Kausalität aus Freiheit ist ›in praktischer Hinsicht‹ als wirklich aufgewiesen. Als Subjekt der Moralität ist der Mensch demnach ›Bürger zweier Welten‹, der sinnlichen und der intelligiblen, denn als homo noumenon gibt er sich das Gesetz der Freiheit, dem er als homo phaenomenon unbedingt Folge leisten soll. Zu fragen ist aber, ob 68 Anders Höffe (2003: 254). 69 Vgl. Ertl (1998: 28).

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der Mensch tatsächlich in die dichotomische Struktur von Naturkausalität und moralischer Kausalität aus Freiheit passt. Denn wenn auch sofort zuzugeben ist, dass Kants Rede von den zwei Welten nicht zwei im theoretischen und zwar ontologischen Sinne verschiedene Welten meint, sondern nur zwei verschiedene Perspektiven, unter denen der Mensch sich selbst ›in praktischer Hinsicht‹ betrachten muss, so ist doch fraglich, ob er sich in konsistenter Weise derart betrachten kann. So scheint zumindest die von der moralischen Freiheit unterschiedene Freiheit der Willkür des Menschen ortlos. Dass es eine solche Freiheit geben muss, liegt auf der Hand. Denn die Entscheidung für oder gegen das moralisch Geforderte muss ein Akt der Freiheit sein, um dem Subjekt zugerechnet werden zu können. Ohne die Freiheit »der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln (libertas indifferentiae)« (RL B 27), gäbe es keine dem Subjekt zurechenbaren moralisch guten oder schlechten Handlungen. Der Ort dieser Freiheit kann aber weder im Bereich der Naturkausalität noch in dem der moralischen Kausalität aus Freiheit liegen. Eine dritte Möglichkeit: diese Freiheit psychologisch zu denken und in das ›Innere‹ des Subjekts zu verlegen, ist durch Kants Ausdehnung der Naturkausalität auf den Bereich der Vorstellungen des inneren Sinnes ausgeschlossen.70 Kant erörtert und entschärft das Problem der Freiheit im Sinne von Entscheidungs- oder Wahlfreiheit in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten unter Rückgriff auf den traditionellen Terminus der ›libertas indifferentiae‹. Dabei versteht er unter Indifferenzfreiheit nicht die Freiheit zu beliebigem Wollen, sondern allein die, sich für oder gegen das moralische Gesetz zu entscheiden.71 Das Konzept der Indifferenzfreiheit als solcher ist für Kant uninteressant, weil auf seiner Grundlage die Frage nach der Wirklichkeit der Freiheit der Willkür nicht beantwortet werden kann. Das Bewusstsein kausaler Indeterminiertheit ist nicht täuschungsimmun. »Jeder, selbst der Fatalist oder der Determinist, gibt – mit Mephistopheles – zu: ›Du glaubst zu schieben.‹ Der Fatalist oder der Determinist fügt nur hinzu: ›Aber du wirst geschoben.‹« (Beck 1960: 186) In den Fokus rückt die Indifferenzfreiheit erst, nachdem die Wirklichkeit der Freiheit der Willkür unabhängig von ihr aufgewiesen ist und Kant nicht umhinkommt, das »Phänomen« einer freien Entscheidung gegen das moralisch Geforderte zu thematisieren. Zwar biete die Erfahrung dafür »häufige Beispiele«, doch könne der Begriff der Freiheit nicht aus 70 Brandt (2010: 79): »Im Zwei-Weltensystem der Transzendentalen Kosmologie […] ist die Willkür ein exterritoriales Gebilde, denn sie kommt aus einer anderen Sparte der ›metaphysica specialis‹, der Psychologie.« Ders. (2002: 163): »Subjekt ist der Mensch nur und ausschließlich durch das Sittengesetz und die von ihm vorausgesetzte Freiheit. Gegen die Fiktion einer komparativen, innerlich und psychologisch gedachten Freiheit steht das Entweder-Oder von Zeitlichkeit und moralischer Intelligibilität.« 71 Dazu ausführlich Klemme (2011).

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solcher Erfahrung begründet werden. »Denn ein anderes ist, einen Satz (der Erfahrung) einräumen, ein anderes, ihn zum Erklärungsprinzip (des Begriffs der freien Willkür)« zu machen. (RL B 28) Aus der Erfahrung freier Entscheidungen für oder gegen das Gesetz könne nicht geschlossen werden, dass dem Begriff der Willkür notwendig das Merkmal der Freiheit zukomme. Freiheit im nachdrücklichen Sinne ist demnach allein moralische Freiheit, das Vermögen der Selbstgesetzgebung, »die Möglichkeit, von dieser abzuweichen, ein Unvermögen« (RL B 28). Als ›Unvermögen‹ ist die Freiheit, dem moralischen Gesetz zuwider handeln zu können, aber keine Illusion. Vielmehr schließt das Bewusstsein der moralischen Nötigung das der Freiheit ein, sich dieser Nötigung fügen oder ihr zuwider handeln zu können. Jeder (oder beinahe jeder), der sich in einer Pflichtsituation befindet, weiß, dass er kann, weil er soll, und weiß zugleich, dass er faktisch wollen kann, was er nicht soll. Seine Entscheidung für oder gegen das moralisch Geforderte ist ein Akt unbedingter Freiheit. Weil die Freiheit und nicht das stärkere Motiv den Ausschlag gibt, kann der Akt der Entscheidung kausal nicht erklärt werden. Versuche, die Entscheidung für oder gegen das moralisch Geforderte kausal zu erklären, streichen den Menschen als Subjekt der Moralität durch. (2) Das Fehlen eines moralunabhängigen Freiheitsbegriffs ist für die Lehre von den hypothetischen Imperativen problematisch und verstellt Kant einen adäquaten Zugang zu den Konstituentien der vom Menschen geschaffenen sogenannten zweiten Natur. Moralische Freiheit ist nur im Medium reiner praktischer Vernunft angemessen zu thematisieren. Aus der Perspektive reiner praktischer Vernunft sind aber die freie Zwecksetzung und die technisch-praktische Vernunft des Menschen nur funktionale Äquivalente des tierischen Instinkts. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist nur graduell. Im »Werte über die bloße Tierheit erhebt ihn [den Menschen] das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet«. (KpV A 108) Kant kommt zwar im Hinblick auf die hypothetischen Imperative nicht umhin, die Willkür als ein Vermögen vorauszusetzen, das durch sinnliche Antriebe zwar affiziert, aber nicht determiniert ist, wenn anders die Realisierung vorausgesetzter Zwecke als vernunftgeleitete Handlung und nicht einfach als instinktgeleitetes Verhalten begreifbar sein soll. Dennoch artikuliere sich aber in solchem Handeln keine Freiheit im strikten Sinne.72 Der Umstand, dass der Mensch nicht nur wie jedes Naturding nach Gesetzen der Natur wirkt, sondern auch nach der Vorstellung der Gesetze zu handeln vermag, indem er sein Handeln durch Regeln technisch-praktischer Vernunft bestimmt, bewegt Kant nicht dazu, einen moralneutralen Freiheitsbegriff zuzugestehen. Ein solcher wäre 72 Vgl. TL A 11.

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auch mit dem Dualismus von bedingter Naturkausalität und unbedingter moralischer Freiheit unverträglich. Es ist deshalb zwar konsequent, wenn er in der dritten Kritik die technisch-praktischen Regeln »als Korollarien« (KdU B XIII) der theoretischen Philosophie zuordnet – allerdings ist es auch fatal. Hypothetisch gebietende Imperative enthielten die Erkenntnis des Kausalverhältnisses zwischen der gebotenen Handlung und dem gewollten Zweck. Weil für sie die theoretische Erkenntnis besonderer Kausalzusammenhänge konstitutiv sei, beruhten sie wesentlich auf dem Natur- und nicht auf dem Freiheitsbegriff. Praktische Bedeutung erhielten sie nur durch die Beziehung auf den vom Subjekt willkürlich gesetzten und in der Sinnenwelt zu realisierenden Zweck. Dieses Argument ist in den Grundlegungsschriften schon vorbereitet. So heißt es in einer Anmerkung der zweiten Kritik, dass Sätze, die in der Naturlehre praktisch genannt werden, »eigentlich technisch heißen« sollten. Solche Sätze zeigten »nur das Mannigfaltige der möglichen Handlung an, welches eine gewisse Wirkung hervorzubringen hinreichend ist« und seien mithin »eben so theoretisch, als alle Sätze, welche die Verknüpfung der Ursache mit einer Wirkung aussagen«. (KpV A 47 Anm.) Reine Vernunft sei hier nicht für sich selbst praktisch, denn »um die Willensbestimmung ist es [...] gar nicht zu tun«. Nicht der Mensch als Vernunftwesen schreibe sich als Sinnenwesen das Gesetz seines Handelns vor, sondern »eigentlich«, so Kant in der Grundlegung, gibt »die Natur das Gesetz« (GMS B 94), das der Mensch nur durch Erfahrung erkennen kann. Dass der Mensch die Gesetze der Natur erkennen und diese Erkenntnis für seine Zwecke nutzen kann, hat aus der Perspektive reiner praktischer Vernunft nichts mit moralischer Autonomie zu tun, aber hat es deshalb auch nichts mit Freiheit zu tun? Weil Kant Freiheit allein aus der Perspektive reiner praktischer Vernunft (bzw. der moralisch-teleologisch reflektierenden Urteilskraft in der dritten Kritik) betrachtet, wird sie ihm nur im Hinblick auf die praktische Subjektivität des Einzelnen zum Thema, dessen freie Willkür und praktische Vernunft für sich betrachtet noch nicht einmal Handlungsfreiheit verbürgen können. Vielmehr kann auch diese dem Menschen nur insofern attestiert werden, als dieser eben nicht nur über technisch-praktische, sondern auch über moralisch-praktische Vernunft verfügt.73 Mit Kant ist von positiver Freiheit im Hinblick auf die Willkür und die praktische Vernunft des Menschen nicht unabhängig von dem Gedanken einer reinen für sich praktischen Vernunft zu sprechen. Dass der praktische Eingriff der Menschen in den 73 Beim Handeln nach hypothetischen Imperativen könne eigentlich nicht von Freiheit gesprochen werden, so Brandt (2007). Aber: »Die Freiheit bei moralneutralen Handlungen könnte darin legitimiert sein, daß es Handlungen von freiheits-, weil moralfähigen Menschen sind und sie an dieser Freiheit auf eine theoretisch nicht geklärte Weise teilhaben.« (489).

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Naturzusammenhang, dass mithin Arbeit für das Freiheitsthema relevant sein könnte, bleibt außer Betracht. Ebenso wenig wird thematisiert, dass die Handelnden sich in ihrer Zweckrealisierung gegenständlicher Mittel bedienen, die in der Regel realisierte Zwecke sind und ein Potential bilden, das über die Funktion der Vermittlung subjektiver Zwecke hinausreicht. Einzig die Handlung selbst gilt Kant als Mittel der Zweckrealisierung. Die Bedeutung moralneutraler Freiheit für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess bleibt unerkannt. Während Enzyklopädisten und Politische Ökonomen längst die technischen Erfindungen thematisieren und dem Zusammenhang von technischem und gesellschaftlichem Fortschritt nachgehen, gerät Kant das Erfinden von Technik zum x-beliebigen Beispiel für eine Handlung nach ›Prinzipien der Selbstliebe‹ – für eine Handlung, die als Mittel für die Realisierung eines vorausgesetzten Zwecks hypothetisch geboten ist. ›Prinzipien der Selbstliebe‹, heißt es in der zweiten Kritik, »können zwar allgemeine Regeln der Geschicklichkeit (Mittel zu Absichten zu finden) enthalten, alsdenn sind es aber bloß theoretische Prinzipien, (z.B. wie derjenige, der gerne Brot essen möchte, sich eine Mühle auszudenken habe)« (KpV A 46 f.).

3.3. Kritik der Urteilskraft Kant hat gesehen, dass die in den beiden ersten Kritiken entwickelte Dichotomie von Natur und Freiheit nicht das letzte Wort sein kann.74 Bliebe es bei ihr, wäre nicht einzusehen, inwiefern der »Begriff der Freiheit« nach den Worten der Vorrede der zweiten Kritik »den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen […] Vernunft« (KpV A 4) bilden kann. Erst mit der dritten Kritik »endige ich also mein ganzes kritisches Geschäft« (KdU X). Die »unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen« (KdU B XIX) wirft erkenntnistheoretische und praktische Fragen auf, denen sich Kant in der Kri­ tik der Urteilskraft stellt. Erkenntnistheoretische Fragen: Ungeachtet der in der ersten Kritik aufgewiesenen Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis überhaupt könnte »die spezifische Verschiedenheit der empirischen Gesetze der Natur, samt ihren Wirkungen, dennoch so groß sein […], daß es für unseren Verstand unmöglich wäre, in ihr eine faßliche Ordnung zu entdecken« (KdU B XXXVI f.). Die Grundsätze des reinen Verstandes bestimmen nur die allgemeine kategoriale Form einer Natur ›überhaupt‹, der die besonderen Naturgesetze genügen müssen, besagen aber nichts über den Inhalt dieser Gesetze. Für besondere Erkenntnis muss wirkliche 74 Die folgenden Überlegungen stützen sich in Teilen auf Kuhne (2007).

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Erfahrung »dazu kommen« (KrV B 165). Gemeint ist die unmittelbare Erfahrung, die das empirische Subjekt macht, wenn es den gegebenen Phänomenen der Natur, nach dem treffenden Ausdruck aus der Vorrede, »fragend« (KrV B XIII) gegenübertritt. Unmittelbar ist diese Erfahrung insofern, als ihr Subjekt nicht schon Funktionsorgan der transzendentalen Einheit der Apperzeption ist. Die ›Fassungskraft‹ dieses Subjekts wäre durch die unendliche Mannigfaltigkeit des ihm empirisch Gegebenen überfordert, verfügte es nicht über das Vermögen, in dem gegebenen Besonderen a priori eine ihm fassliche Ordnung zu präsumieren und das Allgemeine (›empirische‹ Begriffe und Gesetze) zu suchen.75 Ein solches Subjekt ist auf dem Boden der ersten Kritik freilich nicht denkbar. Denn ihr zufolge gründet die Einheit des empirischen Bewusstseins ebenso wie die seines Gegenstandes in der kategorialen Synthesis eines an sich unbestimmten Mannigfaltigen der Wahrnehmung. Ein empirisches Subjekt und ein empirischer Gegenstand, deren Bestimmtheit jeweils selbst Bedingung der Erkenntnis wäre, ist nicht möglich, denn beider ontologische, von der kategorialen Synthesis unabhängige Bestimmtheit ist auf die bloße Existenz reduziert. Die Möglichkeit der Erkenntnis des Besonderen als eines solchen ist ein Problem, das mit den Mitteln der ersten Kritik nicht gelöst werden kann, von dessen Lösung aber das Gelingen der Transzendentalphilosophie entscheidend abhängt. Praktische Fragen: »Der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme.« (KdU B XIX f.) Die Beförderung des höchsten Guts in der Welt durch besondere moralische Handlungen ist Pflicht, mithin moralisch notwendig, aber physisch zufällig. Anders als für das im Gedankenexperiment erwogene reine Vernunftwesen, für welches das moralische Gesetz ein Seinsgesetz, ein Gesetz seiner Vernunftnatur ist, fallen für uns Natur- und Freiheitsgesetze, Sein und Sollen nicht in eins. Auch wenn die Gesetzgebungen des Verstandes und der Vernunft einander nicht widerstreiten, so schränken sie sich doch »in ihren Wirkungen in der Sinnenwelt unaufhörlich« (KdU B XVIII) ein. Das Subjekt der Moralität trifft nicht nur ›in sich‹ auf durch seine sinnliche Natur bedingte Neigungen, die seiner Pflicht widerstreiten, es trifft ›außer sich‹ auch auf besondere Ereignisse, die nach spezifischer Naturkausalität ablaufen 75 Vgl. Heimsoeth (1970: 99). Zwar kennt auch die erste Kritik Beispiele für den regulativen Vernunftgebrauch in den Einzelwissenschaften und somit Vernunftideen, die partikulare Gegenstände bezeichnen (etwa B 673 f.), aber die Erkenntnis von partikularen Gegenständen als solchen ist hier noch nicht das eigentliche Thema, und die regulative Bedeutung der die Erfahrung leitenden Ideen hat hier noch nicht den Charakter eines selbständigen Prinzips. Dazu Kuhne (2007: 118 ff.).

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und die Realisierung der moralisch bestimmten Willkür vereiteln können. Zwar weiß der Mensch zufolge der zweiten Kritik, dass er ›kann, weil er soll‹ (KpV A 54), aber die apodiktische Gewissheit seiner Freiheit gilt nur für das moralische Bewusstsein und enthält keine Erkenntnis ihrer physischen Realisierbarkeit in der Sinnenwelt. Darüber, ob er das physische Vermögen hat, das moralisch Gesollte zu verwirklichen, muss »die Erfahrung« (KpV A 100) urteilen. Gefordert ist wiederum die materiale Erfahrung des empirischen Subjekts, deren Möglichkeit aber in der Moralphilosophie kein Thema ist. Kant muss deshalb in der dritten Kritik die Selbständigkeit des empirischen Subjekts gegenüber der transzendentalen Einheit der Apperzeption und die Potentialität seiner Begriffe gegenüber einem empirisch gegebenen Mannigfaltigen der Natur dartun.76 Die Möglichkeit moralischen Handelns unter den besonderen Gegebenheiten (natürlichen, gesellschaftlichen, ökonomischen) der Welt, in der das Individuum lebt, ist nur denkbar, wenn eine allgemeine Zweckmäßigkeit des Gegebenen für vernünftig bestimmtes Handeln vorausgesetzt werden kann. Nötigen also sowohl erkenntnistheoretische wie praktische Fragen zu einer Vermittlung von Natur- und Freiheitsbegriff, so ist der praktische Aspekt nach Kant doch der ausschlaggebende. Denn wenn auch »das Sinnliche das Übersinnliche im Subjekte nicht bestimmen kann, so ist dieses doch umgekehrt […] möglich, und schon in dem Begriffe einer Kausalität durch Freiheit enthalten, deren Wirkung diesen ihren formalen Gesetzen gemäß in der Welt geschehen soll« (KdU B LIV). Praktische Vernunft fordert die Denkbarkeit eines ›Übergangs‹ von der intelligiblen Freiheit zur sinnlichen Natur, kann diese Forderung aber nicht selbst erfüllen. Soll die Vermittlung von Natur und Freiheit möglich sein, muss ein gemeinsames Drittes beider ›Gebiete‹ denkbar sein. Es muss »einen Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält, geben« (KdU B XX), dessen Begriff weder einer der theoretischen noch der praktischen Vernunft ist. Das tertium comparationis von Natur und Freiheit ist das Übersinnliche, das für den auf die sinnliche Erscheinungswelt restringierten Verstand notwendig unbestimmt bleibt und nur im Medium praktischer Vernunft als das Vermögen der Freiheit erkannt und bestimmt wird. Die Überwindung der Kluft zwischen Natur und Freiheit ist daher nur möglich durch ein gegenüber Verstand und praktischer Vernunft drittes Vermögen, das der reflektierenden Urteilskraft, und durch ein drittes transzendentales Prinzip, das der Zweckmäßigkeit der Natur für unsere Erkenntnis.77 Sie tragen eine Argumentation, die (u.a.) dar76 Dazu Kuhne (2007: 114 ff. u. pass.). 77 Die Lehre der ›Kritik der ästhetischen Urteilskraft‹ vom Schönen als ›Symbol der Sittlichkeit‹ (KdU B 254 ff.) bleibt im Folgenden unberücksichtigt. Dazu Recki (2001).

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tun soll, wie die Realisierung besonderer moralischer Zwecke durch das empirische Subjekt und wie seine Erkenntnis (im alltäglichen und wissenschaftlichen Sinn) besonderer Naturkausalität auf dem Boden der Transzendentalphilosophie möglich ist. Indem sie zeigt, dass sich das Verhältnis von empirischem Subjekt und Natur bzw. Welt nicht in den Bestimmungen der ersten und zweiten Kritik erschöpft, erfüllt die Kri­ tik der Urteilskraft ein Desiderat dieser Kritiken, die beide zwar auf die Notwendigkeit der nicht deduzierbaren, materialen Erfahrung des empirischen Subjekts verweisen, aber die Frage nach ihren Möglichkeitsbedingungen unbeantwortet lassen. Das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur für unsere Erkenntnis ermöglicht die teleologische Beurteilung einzelner Naturdinge und des Naturganzen. Seine Geltung ist nicht konstitutiver, sondern regulativer Art. Die Urteilskraft bestimmt durch es nicht autonom die Natur selbst, sondern heautonom ihre Reflexion über die Natur,78 oder sie bestimmt die Natur in der Weise des ›als ob‹. Das Prinzip ist subjektiv, weil es die Natur als zweckmäßig nur für ›unser‹ Erkenntnisvermögen vorstellt, und es ist formal, weil es für alle besonderen Naturdinge und -gesetze gilt und nicht nur für eine bestimmte Klasse von Dingen oder Gesetzen. Aufgrund seiner Formalität lässt es den Naturbegriff der ersten Kritik: Natur als Totalität der Erscheinungen unter ›mechanischen‹79 Gesetzen, die alle der Form der transzendentalen Naturgesetze genügen, unberührt. Dagegen würde durch ein Prinzip der objektiven materialen Zweckmäßigkeit von Naturdingen ein Naturbegriff eingeführt, der »eine ganz andere Ordnung der Dinge« (KdU B 297) bezeichnete, nämlich eine Ordnung nach Zwecken. Die Naturdinge würden durch ihn als zweckmäßig nicht nur für unsere Erkenntnis, sondern für sich selbst vorgestellt. Die reflektierende Urteilskraft ›erweiterte‹ damit zwar nicht die Naturerkenntnis, wohl aber den Naturbegriff zum Übersinnlichen. Ein solches Prinzip ist aus dem der formalen Zweckmäßigkeit nicht herzuleiten, wird durch es aber »vorbereitet« (KdU B LI). ›Veranlasst‹ ist es durch »Beobachtung« (KdU B 296), nämlich durch ›methodisch angestellte Erfahrung‹, welche zeigt, dass es Naturdinge gibt, die durch mechanische Gesetze allein nicht erklärt werden können. Weil ›unser diskursiver‹ Verstand Ganzheiten nur als Aggregate vorstellen kann, ist unser Erkennen angesichts von Naturdingen, an denen sich die Abhängigkeit der Teile vom Ganzen beobachten lässt (Organismen), auf den Zweckbegriff verwiesen. Dieser ermöglicht uns, das Naturding teleologisch als 78 Vgl. KdU B XXXVII. 79 ›Mechanisch‹ ist jede Erzeugung, die von Zweckbegriffen unabhängig ist. ›Mechanische Gesetze‹ stehen unter dem »Grundsatz der Erzeugung. Alles, was geschieht (anhebt zu sein) setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt« (KrV A 189).

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Naturzweck zu denken, es also hinsichtlich des Zusammenwirkens seiner Teile so vorzustellen, als ob es seiner Möglichkeit nach in einem »übersinnlichen Prinzip« (KdU B 304), einer Idee gründe. Die Urteilskraft projiziert in die Natur zweckmäßige Einheit, welche weder aus der Gesetzmäßigkeit des reinen Verstandes folgt noch unmittelbar an den Phänomenen selbst durch physische Nachforschung anzutreffen ist. Kant zufolge muss die teleologische Betrachtung bestimmter Naturdinge auf das Naturganze ausgedehnt werden. ›Veranlasst‹ ist diese Ausdehnung durch die theoretische Betrachtung der Organismen selbst, welche zeigt, dass diese in ihrer Selbsterhaltung bzw. Selbsterzeugung auf notwendige Bedingungen außer ihnen verwiesen sind. Organismen sind abhängig von anderen Organismen und von unbelebter Materie. Die innere Zweckmäßigkeit eines Naturdings ist offenbar abhängig davon, dass Naturdinge außer ihm für sie äußerlich zweckmäßig sind. Die reflektierende Urteilskraft bildet deshalb mit der Idee des Naturganzen als einer in sich zweckmäßig organisierten Totalität, als eines »Systems der Zwecke«, ein weiteres »übersinnliches Prinzip«. Analog dem Prinzip der Beurteilung der inneren Zweckmäßigkeit in einem Organismus, welches besagt, dass in diesem nichts umsonst oder zwecklos ist, besagt dieses Prinzip: »Alles in der Welt ist irgend wozu gut; nichts ist in ihr umsonst.« (KdU B 300 f.) Nun ist die teleologische Beurteilung des Naturganzen als in sich zweckmäßig organisierte Totalität nicht möglich ohne die Bestimmung eines obersten, unbedingten Zwecks als Prinzip der Einheit des Systems. Solange sie aber nur der Form der Naturzwecke und nicht ihrer Existenz gilt, ist für sie kein unbedingter Zweck auszumachen. Denn was der Form nach Zweck ist, wie die Organismen, kann der Existenz nach Mittel sein für anderes. Erst die teleologische Betrachtung der Existenz von Naturzwecken eröffnet die Möglichkeit, den Begriff eines Endzwecks einzuführen. »In diesem Falle also kann man entweder sagen: der Zweck der Existenz eines solchen Naturwesens ist in ihm selbst […] oder dieser ist außer ihm in anderen Naturwesen.« (KdU B 381 f.) Die Betrachtung des Zwecks der Existenz von Naturdingen führt in einen unendlichen Regress von einander bedingenden Zwecken und zu der Einsicht, dass ein unbedingter Zweck »ganz außerhalb der physisch-teleologischen Weltbetrachtung liegt« (KdU B 300). Als unbedingter Zweck muss er dem Zusammenhang der bedingten Naturzwecke transzendent sein. Wäre er ihm aber transzendent, könnte er nicht Prinzip seiner Einheit sein. Er kann also weder nur immanenter Bestandteil des Zusammenhangs der bedingten Naturzwecke sein, denn dann wäre er selbst bloßer Naturzweck, noch kann er ganz außerhalb dieses Zusammenhangs liegen, denn dann wäre er für diesen Zusammenhang irrelevant. Der drohenden Antinomie, wonach der unbedingte Zweck dem Zusammenhang der bedingten Naturzwecke weder immanent noch transzendent und 106

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sowohl immanent wie auch transzendent sein muss, entgeht Kant, indem er zwischen dem ›letzten Zweck der Natur‹ und dem ›Endzweck‹ unterscheidet. Der letzte Zweck der Natur ist immanenter Bestandteil des Zusammenhangs der Naturzwecke, der Endzweck ist diesem Zusammenhang transzendent.80 Beide Zweckbestimmungen aber können nur ›im‹ Menschen angetroffen werden, der als einziger unter allen Naturzwecken »sich einen Begriff von Zwecken machen« (KdU B 383) kann, und beide sind nicht unabhängig voneinander. Denn nur wenn der Mensch als Endzweck begriffen wird, kann er mit Grund auch als letzter Zweck der Natur betrachtet werden. Endzweck ist der Mensch aber allein als Subjekt der Moralität. Allein von ihm »kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er existiere. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich, dem, so viel er vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann, wenigstens welchem zuwider er sich keinem Einflusse der Natur unterworfen halten darf.« (KdU B 398) Die Einsicht, dass der Begriff des Endzwecks »bloß ein Begriff unserer praktischen Vernunft« (KdU B 432) ist, transformiert die physischteleologische in die moralisch-teleologische Weltbetrachtung der Urteilskraft.81 Deren Reflexion erhellt, dass das Dasein des Vernunftwesens Mensch (und das aller anderen Vernunftwesen, wie Kant stets betont) als Zweck an sich selbst ihn hinsichtlich aller anderen Wesen und Dinge auf der Welt zum Endzweck macht.82 Er darf alles andere in der Welt nur als Mittel betrachten, sich selbst und andere Vernunftwesen aber nicht. Die Reflexion der Urteilskraft bescheidet sich aber nicht mit der teleologischen Explikation der aus der Grundlegung und aus der zweiten Kritik bekannten Selbstzwecklichkeit des Menschen. Sie expliziert auch, in welchem Verhältnis der Mensch als Endzweck zum höchsten Gut als dem »Endzweck der reinen praktischen Vernunft« (KpV A 233) steht. Das Endzwecksein des Menschen qua moralisches Wesen entspringt der teleologischen Beurteilung von Existierendem und ist ein genuiner Begriff der moralisch reflektierenden Urteilskraft. Dagegen ist das höchste Gut eine Idee der reinen praktischen Vernunft und bezeichnet nichts 80 Vgl. KdU B 381 ff. 81 Die Frage, worein diese Einsicht fällt: in die Urteilskraft selbst, in den ›Philosophen‹, in die von Kant hier nicht thematisierte ›transzendentale Reflexion‹, bleibt hier unerörtert. Vgl. dazu die These Kroners (1921 ff. I: 238 ff.), unter dem Namen der ›reflektierenden Urteilskraft‹ werde sich die Philosophie Kants insgesamt zum Gegenstand, ohne dass Kant daraus die notwendigen Konsequenzen gezogen habe. 82 »Daß, in der Ordnung der Zwecke, der Mensch […] Zweck an sich selbst sei«, ist in der zweiten Kritik (A 237) angedeutet, aber nicht ausgeführt. Ebenfalls angedeutet ist die »Möglichkeit einer solchen übersinnlichen Natur, deren Begriff zugleich der Grund der Wirklichkeit derselben durch unseren freien Willen sein könne«. (KpV A 78).

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Existierendes, sondern den höchsten Zweck, den zu befördern durch die Realisierung besonderer sittlicher Zwecke Pflicht ist. Dieser Begriff des Endzwecks hat, insofern er nur in unserer Pflicht begründet ist, nur »subjektiv-praktische Realität« (KdU B 429). Um ihm objektive praktische Realität zuzusprechen, muss gezeigt werden, dass die Welt an ihr selbst auf die Realisierung des höchsten Guts angelegt ist, also »der Endzweck der Schöpfung […] diejenige Beschaffenheit der Welt« ist, die zu dem »Endzwecke unserer reinen praktischen Vernunft […] übereinstimmt«. Die moralische Teleologie der Urteilskraft führt so auf den Begriff des »Endzwecks der Schöpfung«, welcher sie durch die Nötigung zum moralischen Gottesbeweis in »moralische Theologie« übergehen lässt. Denn »ohne einen Welturheber und Regierer, der zugleich moralischer Gesetzgeber ist«, können wir uns »aufgrund der Beschaffenheit unseres Vernunftvermögens« den Endzweck der Schöpfung »gar nicht begreiflich machen«. (KdU B 432 ff.) Die Kluft zwischen sinnlicher Natur und intelligibler Freiheit wird nicht durch den theoretischen Aufweis des »Grund[es] der Einheit des Übersinnlichen« (KdU B XX) von Natur und Freiheit überwunden, sondern nur in praktischer Hinsicht und in der Weise des ›als ob‹.83 Die dritte Kritik endet dort, wo schon die zweite angelangt war: beim moralischen Gottesbeweis. Die Urteilskraft befriedigt ein Interesse der reinen praktischen Vernunft, indem sie das Naturganze so betrachtet, als ob es das Werk eines moralischen Welturhebers wäre.84 Anders als die zweite Kritik expliziert die dritte aber die Selbstzwecklichkeit des Menschen als Endzweck und setzt sie in Beziehung zum höchsten Gut. Dadurch soll deutlich werden: Nicht nur ist der Mensch als Subjekt der Moralität unter allen Naturdingen in der Welt Endzweck, sein Wille hat auch einen Endzweck, das höchste Gut, dessen Realisierung wiederum die Welt selbst zu ihrem Endzweck hat. Der damit erreichte Fortschritt der Argumentation der kritischen Philosophie der Freiheit lässt sich nach Kant am Begriff des ›Übersinnlichen der Natur in uns und außer uns‹ ablesen, der durch die drei Kritiken hindurch zunehmend deutlicher geworden ist.85 Während zufolge der ersten Kritik der reine Verstand durch die Restriktion seiner Gesetze auf die Sinnenwelt eine »Anzeige« gibt auf das übersinnliche Substrat der Natur, es dabei aber »gänzlich unbestimmt« lässt, und zufolge der zweiten Kritik reine Vernunft ihm »durch ihr praktisches Gesetz a priori die Be­ stimmung« gibt, verschafft die Urteilskraft durch ihr Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur dem »übersinnlichen Substrat (in uns sowohl als außer uns) Bestimmbarkeit durch das intellektuelle Vermögen« und 83 Dazu kritisch Frank/Zanetti (1996: 1329 f.). 84 Vgl. KdU B 419. 85 Dazu ausführlich Düsing (1968).

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macht derart »den Übergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich«. (KdU B LV f.) Als ästhetische Urteilskraft bringt sie das Übersinnliche in uns in den Blick, welches dem freien, harmonischen Spiel von Verstand und Einbildungskraft in der Betrachtung des Schönen zugrunde liegt und eine Affinität mit dem Vermögen der Autonomie besitzt.86 Als physisch teleologische Urteilskraft führt sie auf den Begriff eines produktiven, die Welt nach seinen Zwecken ordnenden Verstandes, dessen Hervorbringung als durch einen Endzweck geleitet ihn als moralischen Welturheber denken lässt und einen Übergang von der physisch-teleologischen zur moralisch-praktischen Vorstellung des übersinnlichen Substrats der Natur außer uns ermöglicht.87 Die Erweiterung des Naturbegriffs zum Übersinnlichen durch die reflektierende Urteilskraft soll gewährleisten, dass der Mensch die Natur, die zugleich seine Welt ist, nicht als bloßes Aggregat von Naturphänomenen, nicht als eine »Wüste« (KdU B 410), sondern als einen sinnvollen Zusammenhang betrachten kann. Motiviert ist sie vor allem durch moralphilosophische Erwägungen (1). Es verwundert daher nicht, dass sie die Reduktion der Freiheit auf Autonomie nicht revidiert (2). Dennoch ergeben sich aus ihr Konsequenzen für die Möglichkeit einer Philosophie der Geschichte (3). (1) Mit der Erweiterung des Naturbegriffs zum Übersinnlichen holt die dritte Kritik begrifflich ein, was in den Grundlegungsschriften erst angedeutet ist. Diese verweisen von sich aus auf eine ›übersinnliche‹ Natur und deuten damit einen Naturbegriff an, der von dem der ersten Kritik differiert. Im Rückblick auf die Grundlegungsschriften zeigt sich, wie entscheidend der neue Naturbegriff von moralphilosophischen Erwägungen abhängt, und wie entscheidend für diese Erwägungen der Zweckbegriff ist. Das höchste Gut oder der Endzweck, den zu befördern der Mensch verpflichtet ist, ist eine Konsequenz seiner Selbstzwecklichkeit. Der Einzelne kann sich selbst und andere Menschen nur dann als 86 »Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse, ohne einen zu gewaltsamen Sprung, möglich, indem er die Einbildungskraft auch in ihrer Freiheit als zweckmäßig für den Verstand bestimmbar vorstellt, und sogar an Gegenständen der Sinne auch ohne Sinnenreiz ein freies Wohlgefallen finden lehrt.« (KdU B 260). 87 »Wir können also, bei aller möglichen Erweiterung der physischen Teleologie […] wohl sagen: daß wir […] die Natur, in ihren uns bekannt gewordenen zweckmäßigen Anordnungen, nicht anders als das Produkt eines Verstandes, dem diese unterworfen ist, denken können. Ob aber dieser Verstand mit dem Ganzen derselben und dessen Hervorbringung noch eine Endabsicht gehabt habe möge (die alsdann nicht in der Natur der Sinnenwelt liegen würde): das kann uns die theoretische Naturforschung nie eröffnen.« (KdU B 409 f.).

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Zweck an sich selbst behandeln, wenn er seine und ihre zu bewirkenden, inhaltlichen Zwecke berücksichtigt. Aus der Zweckformel des kategorischen Imperativs »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest« (GMS B 66 f.) folgt daher, wie oben bereits gesagt, der Begriff des Reichs der Zwecke.88 »Ein Reich der Zwecke« ist aber »nur möglich nach der Analogie mit einem Reiche der Natur« (GMS B 83). Der Begriff der Selbstzwecklichkeit des Menschen führt auf den eines Reichs der Zwecke, dessen Mitglieder ihre Maximen unter Berücksichtigung ihres eigenen Gesichtspunkts und der Gesichtspunkte aller anderen Mitglieder setzen, so dass die inhaltlichen Zwecke aller ein System bilden. In den Grundlegungsschriften verfügt Kant noch nicht über die begrifflichen Mittel für die angemessene Charakterisierung eines solchen Systems. Die Rede von der Analogie mit einem Reich der Natur weist hier einerseits zurück auf die erste Kritik, welche die im 18. Jahrhundert noch gängige affirmative teleologische Naturauffassung kritisch in ein regulatives Prinzip der einzelwissenschaftlichen Forschung verwandelt, sie weist aber andererseits auch voraus auf die dritte Kritik, welche auf der Grundlage des selbständigen Prinzips der reflektierenden Urteilskraft die kritische Teleologie allererst entfaltet. Erst mit deren Begriff der inneren Zweckmäßigkeit bzw. des Naturzwecks verfügt Kant über ein Modell für das Reich der Zwecke. Denn so wie im Naturzweck »alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist« (KdU B 296), sind es auch die Mitglieder im Reich der Zwecke: Jedes bezieht sich auf alle anderen als Mittel und Zweck zugleich. Und bereits der im Zuge der Französischen Revolution anvisierte Staat von freien und gleichen Bürgern darf soweit als vernünftig beurteilt werden, wie er dem Modell des ›organisierten Naturprodukts‹ entspricht. »So hat man sich, bei einer neuerlich unternommenen gänzlichen Umbildung eines großen Volks zu einem Staat, des Worts Organisation häufig für Einrichtung der Magistraturen u.s.w. und selbst des ganzen Staatskörpers sehr schicklich bedient. Denn jedes Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck, und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum, seiner Stelle und Funktion nach, bestimmt sein.« (KdU B 294 Anm.) Unabhängig von dem moralischen Dasein des Menschen als Endzweck ist kein letzter Zweck der Natur zu bestimmen. Der Versuch führt nach Kant notwendig auf die Idee der Glückseligkeit und ist unhaltbar. Glückseligkeit ist die Idee eines Zustandes, der dem Menschen als bedürftigem Wesen adäquat ist. Diese Idee taugt nicht als letzter Zweck der Natur, denn Erfahrung zeigt, dass die Natur im Ganzen den Menschen nicht zu ihrem Liebling erkoren hat. Er ist nicht nur den Unbilden und Katastrophen der 88 Vgl. GMS B 74; Ricken (1989: 245).

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Natur außer ihm ausgesetzt, hinzukommt, »daß das Widersinnische der Naturanlagen in ihm ihn noch in selbstersonnene Plagen [...] versetzt und er […] an der Zerstörung seiner eigenen Gattung arbeite, daß, selbst bei der wohltätigsten Natur außer uns, der Zweck derselben, wenn er auf die Glückseligkeit unserer Spezies gestellt wäre, in einem System derselben auf Erden nicht erreicht werden würde.« (KdU B 389 f.) Nur unter der Bedingung, dass der Mensch seinem moralischen Dasein nach als Endzweck beurteilt wird, kann an ihm auch das bestimmt werden, was ihn zum letzten Zweck der Natur macht. Denn als letzter Zweck der Natur muss das angesehen werden, was ihn zu diesem moralischen Dasein allererst ›vorbereitet‹. »Als das einzige Wesen auf Erden, welches Verstand, mithin ein Vermögen hat, sich selbst willkürlich Zwecke zu setzen«, ist der Mensch nur unter der Bedingung der letzte Zweck der Natur, dass er »den Willen habe, dieser und ihm selbst eine solche Zweckbeziehung zu geben, die unabhängig von der Natur sich selbst genug, mithin Endzweck, sein könne […]./ Um aber auszufinden, worein wir am Menschen wenigstens jenen letzten Zweck der Natur zu setzen haben, müssen wir dasjenige, was die Natur zu leisten vermag, um ihn zu dem vorzubereiten, was er selbst tun muß, um Endzweck zu sein, heraussuchen.« (KdU B 390 f.) Ist der Mensch nur qua moralisches Wesen als Endzweck zu betrachten, und darf als letzter Zweck der Natur nur dasjenige an ihm betrachtet werden, was ihn dazu ›vorbereitet‹, Endzweck sein zu können, dann kann der letzte Zweck der Natur nur darin liegen, alle natürlichen Anlagen des Menschen, das heißt der Gattung, zu entwickeln. Auch in diesem Kontext kann die Glückseligkeit nicht als letzter Zweck der Natur angesehen werden. Während sie unabhängig vom moralischen Dasein des Menschen nicht als letzter Zweck der Natur betrachtet werden kann, weil die Natur aller Erfahrung nach den Menschen nicht bevorzugt, so kann sie es unter der Bedingung seines moralischen Daseins nicht, weil der Mensch, der sie »zu seinem ganzen Zwecke macht«, damit die Heteronomie seiner freien Willkür affirmiert und sich »unfähig macht, seiner eigenen Existenz einen Endzweck zu setzen und dazu zusammen zu stimmen«. So bleibt allein die formale Bestimmung der Fähigkeit der Zwecksetzung überhaupt als letzter Zweck der Natur, der auf den der Natur transzendenten Endzweck ›vorbereitet‹. »Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Kultur. Also kann nur die Kultur der letzte Zweck sein, den man der Natur in Ansehung der Menschengattung beizulegen Ursache hat.« (KdU B 391) Die Kultur ist der historische Prozess der Befreiung des Menschen von der Befangenheit in Naturzwängen.89 Sie kann nach Kant aber nur so 89 Dass der Grad der Naturunabhängigkeit und Naturbeherrschung als Maßstab der Kulturentwicklung gilt, versteht sich philosophiegeschichtlich nicht

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beurteilt werden, wenn sie als ›Vorbereitung‹ auf den Endzweck begriffen wird, nämlich als das, was den Menschen schließlich »empfänglich« macht für »höhere[] Zwecke, als die Natur selbst liefern kann« (KdU B 394). Nur in Bezug auf den der Natur transzendenten moralischen Zweck ist Kultur mehr als die durch technisch-praktische Vernunft vermittelte Selbsterhaltung der Gattung. Letztere unterscheidet den Menschen nur unwesentlich vom Tier. Als Subjekt technisch-praktischer Vernunft ist der Mensch ein vernünftiges Wesen, kein Vernunftwesen. Gäbe es nur »vernünftige Wesen, deren Vernunft aber den Wert des Daseins der Dinge nur im Verhältnisse der Natur zu ihnen (ihrem Wohlbefinden) zu setzen, nicht aber sich einen solchen ursprünglich (in der Freiheit) selbst zu verschaffen im Stande wäre, so wären zwar (relative) Zwecke in der Welt, aber kein (absoluter) Endzweck, weil das Dasein solcher vernünftigen Wesen doch immer zwecklos sein würde« (KdU B 421 ff.). Zwar manifestiert sich in Kultur die Distanz des Menschen zur Natur und insofern Freiheit, aber diese Freiheit ist negativ bestimmt, Freiheit von unmittelbarem Naturzwang, und nicht positiv: Autonomie. Die Freiheit von unmittelbarem Naturzwang, die freie Willkür ist eine Naturanlage des Menschen, die ihn nicht über die Natur stellt. Deshalb kann die Geschichte zwar als Prozess der Kultivierung, nicht aber als Prozess der Moralisierung des Menschen gefasst werden. Der Endzweck selbst bleibt außerhalb der Natur und damit auch außerhalb der Geschichte. (2) Kant versteht unter dem Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur »den vermittelnden Begriff zwischen den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriffe« (KdU B LV). Seine vermittelnde Funktion hat, wie Kant deutlich sieht, eine theoretische und praktische Dimension. Zweckmäßigkeit der Natur ist »die analytisch rekonstruierbare Funktionsbedingung aller Erkenntnis und zugleich […] das Prinzip allen Handelns« (Recki 2001: 76). Weil die reflektierende Urteilskraft sich aber in den Grenzen des vorausgesetzten Dualismus von verstandesbestimmter Naturkausalität und vernunftbestimmter Kausalität durch Freiheit halten muss, ihre Reflexion die Geltung von erster und zweiter Kritik nicht tangieren darf, kann sie die Kluft zwischen sinnlicher Natur und intelligibler Freiheit nur unter dem Vorzeichen des Freiheitsbegriffs, das heißt aber unter dem Vorzeichen der Moral überbrücken. Die durch das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur eröffnete Möglichkeit, Naturerkenntnis transzendentalphilosophisch nicht mehr nur als die einer Natur von selbst. »Die Voraussetzung, unter der ein noch so ›primitives‹ Machverhalten eine antiphysische Aureole gewinnen und im Licht einer geistig schöpferischen Leistung verstanden werden« konnte, war »der Glaube an die Natur als Kreatur und das Selbstverständnis des Menschen, der seine vis volendi mit der Gottes so gläubig vergleichen kann, wie es Descartes in der IV. Meditation seiner ›Prima philosophia‹ tut.« (Perpeet 1976: 1320 f.).

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›überhaupt‹ zu thematisieren, sondern die Erkennbarkeit des Besonderen als solchen zum Gegenstand zu machen, führt deshalb nicht zur Rechtfertigung eines nicht-moralischen Begriffs der Freiheit, sondern behauptet im Gegenteil den moralischen Begriff der Freiheit als den einzig legitimen. Durch das Prinzip »wird die Möglichkeit des Endzwecks« (KdU B LV) erkannt, das heißt die Möglichkeit des höchsten Guts in der Welt allererst verständlich.90 Es ist deshalb nur konsequent, wenn die dritte Kritik »alle technisch-praktische Regeln […] nur als Korollarien« (KdU B XIII) der theoretischen Philosophie gelten lässt und dem Handeln nach hypothetischen Imperativen keine moralneutrale Freiheit als Möglichkeitsbedingung zuerkennt. Technisch-praktische Regeln beruhen nach Kant wesentlich auf dem Natur- und nicht auf dem Freiheitsbegriff, weil für sie die theoretische Erkenntnis besonderer Kausalzusammenhänge konstitutiv ist. Praktisch91 sind sie insofern, als sie einen in der Sinnenwelt zu realisierenden subjektiven Zweck voraussetzen. Solche Zwecke sind aber per se keine moralischen. Der logische Ort der Moralität besteht in den Handlungen und Unterlassungen der Subjekte in Beziehung auf sich selbst und auf andere. Dass das Verhältnis der Handelnden zueinander durch ihr Verhältnis auf ein Drittes, die Natur außer ihnen, vermittelt ist, spielt aus der Perspektive reiner praktischer Vernunft keine Rolle. Die Abhängigkeit der Handelnden von Naturbedingungen betrifft die Frage der physischen, nicht die der moralischen Möglichkeit eines Zwecks, einer Maxime, einer Handlung und fällt in die Korollarien der Naturphilosophie. Dass die Handelnden sich gegenständlicher Mittel bedienen, um ihre Zwecke zu erreichen; dass diese Mittel auch zu Kants Zeiten in der Regel ihrerseits realisierte Zwecke sind; dass diese, etwa wenn es sich um Produktionsmittel handelt, ein Potential bilden, welches in der Funktion der Vermittlung subjektiver individueller Zwecke nicht aufgeht, wird von Kant nicht thematisiert. Einzig die Handlung selbst gilt ihm als Mittel zur Zweckrealisierung.92 Die Trennung zwischen dem Technisch- und Moral-Praktischen ist nicht minder radikal als die zwischen der theoretischen und praktischen Vernunft. Sie hat zur Folge, dass die Erkenntnis der Natur und 90 Dazu Düsing (1971: 38). 91 »Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist.« (KrV B 828) Was durch Freiheit möglich ist, ist durch das Vermögen der freien Willkür möglich, welches durch reine praktische oder empirisch bedingte praktische Vernunft bestimmbar ist. 92 »Zwar bestimmt Kant bei der Definition des Begriffs ›Mittel‹ dieses im Sinne des ›Werkzeugs‹, das bei der zur Verwirklichung des Zwecks führenden Handlung gebraucht wird [GMS B 63] […]. Sonst gebraucht Kant aber den Ausdruck ›Mittel‹ durchgehend für die Handlung selbst.« (Marc-Wogau 1938: 45 f.; vgl. ebd. 261 ff.); ferner Rohbeck (1993: 90 ff.).

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der praktische Eingriff in den Naturzusammenhang durch menschliches Handeln für die Philosophie der Freiheit kaum relevant sind. Da die zweckmäßige Aneignung der Natur nur gemäß hypothetischen Imperativen möglich ist, ist sie aus der Perspektive reiner praktischer Vernunft oder der moralisch-reflektierenden Urteilskraft nur insoweit von Belang, als sie auf den moralischen Endzweck, auf Freiheit im emphatischen Sinne ›vorbereitet‹. Kant erwähnt zwar die gesellschaftliche Arbeitsteilung und die durch Geld vermittelte Distribution der Güter;93 er sieht durchaus, dass die Emanzipation der Menschheit von unmittelbaren Naturzwängen auf ihrer Fähigkeit beruht, Wissen zu tradieren, und er erkennt, dass die Tradierung von Wissen nicht allein in der Weitergabe lebensgeschichtlich erworbener Erfahrung besteht, sondern in der Akkumulation von Erkenntnis durch und in den Wissenschaften.94 Er lässt zumindest anklingen, dass die zunehmende Emanzipation des Menschen von unmittelbarer Naturabhängigkeit die Kultur zu einer gegenüber der Natur relativ selbständigen Sphäre macht. Der Mensch soll »alles aus sich selbst herausbringen« (AG A 389 f.). Er kann aber die Kultur nicht als durch Freiheitsgesetze konstituierte und daher gegenüber der Natur eigenständige Sphäre anerkennen. Die Aneignung der Natur unter menschlichen Zwecken, die wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Leistungen der Menschen fallen allesamt in den Bereich der Heteronomie. Fortschritte in diesem Bereich geben keine Anzeige auf das spezifisch menschliche Vermögen der moralischen Freiheit. Ohne dieses ist aber »alles, was geschieht oder geschehen kann, bloßer Mechanism der Natur« und die Politik nur die »Kunst, diesen zur Regierung der Menschen zu benutzen«. (ZeF B 76) (3) Kants Lehre vom letzten Zweck und Endzweck eröffnet die Möglichkeit von Geschichtsphilosophie und negiert sie zugleich. Indem sie den historischen Prozess der Kultivierung des Menschen auf dessen moralisches Dasein als ›Endzweck‹ bezieht, eröffnet sie die Möglichkeit einer Philosophie der Geschichte, die der spezifisch menschlichen Bestimmung noumenaler Freiheit Rechnung trägt und deshalb Geschichte nicht als einen blinden Naturprozess auffassen muss, in dem allein skrupelloser Egoismus und natürliche Kräfteverhältnisse wirken. Zugleich negiert sie aber die Möglichkeit von Geschichtsphilosophie, indem sie den historischen Prozess radikal trennt von der Idee, auf die bezogen er allein als spezifisch menschliche Geschichte betrachtet werden kann. Der 93 Vgl. GMS B V f.; RL B 126 f. 94 Vgl. Anth B 320 f. »Befremdend bleibt es immer hiebei: daß die ältern Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben, um nämlich diesen eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk [...] höher bringen könnten; und daß doch nur die spätesten das Glück haben sollen, in dem Gebäude zu wohnen.« (AG A 391).

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Übergang von der Natur zur Freiheit bleibt so abstrakt. Auf der Grundlage von letztem Zweck und Endzweck allein lässt sich daher die Frage: ob die Menschheit insgesamt im Fortschreiten zum moralisch Besseren begriffen sei,95 zwar stellen, aber nicht beantworten. Sie lässt sich stellen, weil der Mensch unleugbar auch homo noumenon ist und somit nicht in Naturbestimmungen aufgeht. Sie lässt sich aber nicht beantworten, weil aus der Idee moralischer Freiheit kein telos der Geschichte abzuleiten ist, auf das bezogen ein (künftiges) Fortschreiten des Menschengeschlechts im Medium der reflektierenden Urteilskraft konstruierbar wäre. Anders verhält es sich mit dem Begriff des Rechts als »Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.« (Kant RL 33) Das Recht schränkt die Willkürfreiheit aller gesetzmäßig ein, um ihre Koexistenz in größtmöglicher Freiheit sicherzustellen. Anders als Wissenschaft, Technik und Ökonomie bestimmt das Recht a priori normativ den Bereich der äußeren Handlungsfreiheit. Das allgemeine Rechtsgesetz ist eine Spezifikation des kategorischen Imperativs. »Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralischen Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imperativ, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d.i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann.« (RL B 48) Die unbedingte Geltung des Rechts gründet im »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft«. Während dieses dem einzelnen Subjekt kategorisch gebietet, so zu handeln, dass die Maxime seines Willens »jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« (KpV A 54), gebietet das Rechtsgesetz kategorisch: »äußerlich« so zu handeln, dass der freie Gebrauch seiner Willkür »mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne« (RL B 34). Sein Adressat ist nicht der Wille des je einzelnen Subjekts, sondern »der Wille überhaupt, der auch der Wille anderer sein könnte« (TL A 18). Es verlangt nicht, dass einer um des Gesetzes willen handelt, sondern besagt nur, dass er »in der Idee« objektiv darauf eingeschränkt sei und von anderen durch äußeren Zwang tatsächlich eingeschränkt werden dürfe. »Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden.« (RL B 35) Insofern das Recht in reiner praktischer Vernunft gründet und doch die Sphäre der äußeren Handlungen des Menschen normativ bestimmt, steht es seinem Begriff nach in der Mitte zwischen der autonomen intelligiblen und der heteronomen sinnlichen Welt – und somit zwischen Moralität und Kultur. »Recht ist also das Bindeglied von Kultur und Moral.« (Luf 1978: 46) Anders als die Idee moralischer Freiheit enthält der Begriff des Rechts das telos, auf das hin ein künftiges Fortschreiten 95 Vgl. SdF A 131 ff.; GTP A 274 ff.

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des Menschengeschlechts konstruierbar ist. Es ist die Idee eines ewigen Friedens zwischen den Staaten – das »höchste[] politische[] Gut« (RL B 266). »Man kann sagen, daß diese allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung […] den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ausmache.« (RL B 265) Die Frage nach dem ›moralischen‹ Fortschritt der Menschheit kann deshalb nur beantwortet werden, wenn sie nicht auf den Fortschritt der Moralität, sondern der Legalität abhebt. »Nicht ein immer wachsendes Quantum der Mo­ ralität in der Gesinnung, sondern Vermehrung der Produkte ihrer Lega­ lität in pflichtmäßigen Handlungen« allein kann den »Ertrag« des Fortschritts bilden. (SdF A 156)96 Die Rechtslehre verweist mit ihrem Begriff des höchsten politischen Guts auf die Geschichte, in der die ›unwiderstehliche‹ Forderung der reinen rechtlich-praktischen Vernunft, dass die Staaten den Naturzustand, in dem sie sich befinden, verlassen und in einen rechtlichen Zustand treten sollen, zu realisieren wäre. Ist die Annäherung der Staaten an den vollkommenen Rechtszustand eines ewigen Friedens kategorisch geboten, dann muss sie auch möglich sein. Die Rechtslehre vermag aber nicht die Bedingungen anzugeben, unter denen sie möglich ist.97 Von den Bedingungen der Möglichkeit des höchsten politischen Guts handelt die Philosophie der Geschichte (der Ausdruck wird von Kant nicht verwendet), welche ihrerseits nur unter Voraussetzung dieses Begriffs der Rechtslehre möglich ist. Im Zentrum der tastenden geschichtsphilosophischen Versuche Kants steht im Streit der Fakultäten die Lehre vom ›Geschichtszeichen‹, während die Idee zu einer allgemeinen Geschichte, die dritte Kritik und die Friedensschrift eine kritische Naturteleologie im Medium der reflektierenden Urteilskraft entfalten, die zuletzt auf die Beantwortung der Frage zielt, inwiefern der Mensch als ein Vernunftwesen, das zugleich bedürftiges Naturwesen ist, die Natur bzw. Welt als einen sinnvollen Zusammenhang ansehen kann, als eine Totalität, in die er ›passt‹.98 Diese Überlegungen, die hier nicht im Detail nachvollzogen werden können,99 haben ihre Wirkung auf Kants idealistische Nachfolger nicht verfehlt. So konstatiert schon das so genannte Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus ganz im Sinne Kants: »[D]ie Frage ist diese: Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?« (Hegel, ÄS 234) Im Folgenden 96 Kant hat hier erst mit der Lehre vom letzten Zweck und Endzweck zu einiger Klarheit gefunden. Dazu Langthaler (1991: 54–79). 97 Dazu Deggau (1983: 291 ff.). 98 Schon 1771, fast 20 Jahre vor Erscheinen der dritten Kritik und ihren Ausführungen zur ästhetischen Urteilkraft, notiert Kant: »Die Schöne Dinge zeigen an, daß der Mensch in der Welt passe.« (NLogik: 127). 99 Eine detaillierte Untersuchung der geschichtsphilosophischen Versuche Kants liefert Kleingeld (1995).

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sei die Lehre vom Geschichtszeichen zunächst stichworthaft vorgestellt, anschließend Kants kritische Teleologie skizziert. Im Streit der Fakultäten konzipiert Kant die Philosophie der Geschichte als »a priori mögliche Darstellung der Begebenheiten, die da kommen sollen« (SdF A 132). Die Frage, ob die Menschheit insgesamt im Fortschreiten zum moralisch Besseren begriffen ist, lässt sich ihr zufolge mit Hinweis auf ein Phänomen beantworten, das, wenngleich nur indirekt, die Idee des Rechts betrifft. Demnach ist zwar nicht die Französischen Revolution, wohl aber die begeisterte Reaktion aller »Zuschauer« derselben ein »Geschichtszeichen«. Ihre Begeisterung gilt nicht einzelnen Taten oder Untaten der Revolutionäre, sondern dem Versuch der Errichtung einer republikanischen Verfassung, welche Kriege unwahrscheinlicher macht und dadurch den Fortschritt begünstigt. Als affektive »Teilnehmung am Guten« kann sie nur eine »moralische Anlage im Menschengeschlecht« zur Ursache haben, denn »wahrer Enthusiasm« geht nicht auf den Eigennutz, sondern immer nur auf das »rein Moralische […], dergleichen der Rechtsbegriff ist«. (SdF A 144 f.)100 Ein solches Phänomen »vergißt sich nicht mehr« (SdF A 149) und erlaubt, bei allen möglichen Rückschlägen, die Vorhersage, dass das Menschengeschlecht in der Tat in einem Prozess der fortschreitenden Verrechtlichung der Verhältnisse zwischen den Individuen innerhalb der Staaten und zwischen den Staaten selbst begriffen ist. In der Idee, in der dritten Kritik und in der Friedensschrift entfaltet Kant seine geschichtsphilosophischen Überlegungen im Medium der teleologisch reflektierenden Urteilskraft (deren Begriff erst der dritten Kritik zu entnehmen ist). Das telos dieser Konstruktion im Modus des ›als ob‹ ist das höchste politische Gut, ihre Funktion die einer Theodizee in praktischer Absicht, ihr Leitfaden a priori die regulative Idee der ›Naturabsicht‹. »Die Vernunft, vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab, [verdammt] den Krieg als Rechtsgang schlechterdings« und macht den Friedenszustand »zur unmittelbaren Pflicht«. (ZeF B 34 f.) Reine praktische Rechtsvernunft gebietet 100 Vgl. auch ZeF B 33. Krasnoff (1994: 33) zieht eine Parallele zwischen dem ›Enthusiasm‹ der Zuschauer der Französischen Revolution und dem Beispiel des Mannes, der zugeben muss, dass er auch angesichts der Todesdrohung die von ihm geforderte Falschaussage verweigern kann (KpV A 54). Dort handele es sich um das Faktum der Politik (›fact of politics‹), dass die Forderung nach einer Verrechtlichung der Verhältnisse in der Gesellschaft tatsächlich moralisch fundiert und wirkmächtig ist, hier um das Faktum der Vernunft, dass der Einzelne tatsächlich ein unleugbares Bewusstsein des moralisch Geforderten und seiner Freiheit, diesem entsprechen zu können, hat. Beide Male werde etwas illustriert, was nicht deduzibel sei und was auch anders, etwa psychologisch, historisch oder gesellschaftstheoretisch erklärt werden könne – ohne damit die kantische Auffassung zu widerlegen.

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den vollkommenen Rechtszustand des ewigen Friedens. Realisiert werden kann dieser nur durch die Handlungen der Menschen, insbesondere die der ›Staatsoberhäupter‹ und ›Politiker‹. Allerdings können die Menschen selbst dieses Ziel nicht garantieren. Zwar machen sie die Geschichte, aber sie machen sie nicht »nach einem verabredeten Plane« (AG A 387) und können dies auch nicht. Ein solcher Plan setzte ein einheitliches vernünftiges Wollen aller und ein entsprechendes Handeln voraus, mithin die Wirklichkeit jenes Zustandes, der allererst realisiert werden soll. Er setzte zudem »die Beherrschung aller Bedingungen der Realisierung des vorgestellten Zwecks« voraus, mithin »die Kenntnis der Totalität der Welt« (Deggau 1983: 304). Die Welt als solche ist aber zufolge der ersten Kritik kein Gegenstand möglicher Erkenntnis. Für die Realisierung des ewigen Friedens zwischen den Staaten gilt, was für die Herausbildung von Rechtsverhältnissen zwischen den Individuen zu sagen ist: Weil dazu »das Wollen aller einzelnen Menschen, in einer gesetzlichen Verfassung nach Freiheitsprinzipien zu leben (die dis­ tributive Einheit des Willens aller)«, nicht hinreicht, sondern erforderlich ist, »daß alle zusammen diesen Zustand wollen (die kollektive Einheit des vereinigten Willens)«, so muss »über diese Verschiedenheit des partikularen Wollens aller, noch eine vereinigende Ursache desselben hinzukommen« (ZeF B 73 f.). Die Menschen schränken ihre Willkür nicht jederzeit selbst auf die Bedingungen freier Koexistenz ein, auf die sie durch das Rechtsgesetz der Vernunft objektiv praktisch eingeschränkt sind.101 Wäre es anders, dürfte man ihnen »einen angebornen und unveränderlich-guten, obzwar eingeschränkten Willen beilegen« (SdF A 140 f.), wozu aber kein Anlass besteht.102 Denn obgleich ein jeder, sofern er nur Verstand hat, den Naturzustand verlassen, mithin »die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft« will, »so verleitet ihn doch seine selbstsüchtige tierische Neigung, wo er darf [i.e. wo es gefahrlos möglich ist], sich selbst auszunehmen«. (AG A 394 ff.) In »der Ausführung jener Idee (in der Praxis)« ist daher »auf keinen anderen Anfang des rechtlichen Zustandes zu rechnen, als den durch Gewalt, auf deren Zwang nachher das öffentliche Recht gegründet wird«. Die geschichtliche Realisierung des Rechtszustandes zwischen den Individuen und zwischen den Staaten lässt »schon zum voraus«, so Kant, »große Abweichungen von jener Idee (der Theorie) in der wirklichen Erfahrung« erwarten. (ZeF B 74 f.) Die geschichtliche Entstehung von Staaten ist selbst kein rechtmäßiger Vorgang, sondern ein naturwüchsiger, 101 Vgl. RL B 34. 102 Vgl. RGV B 27 ff. Die Friedensschrift spricht von der »Bösartigkeit der menschlichen Natur, die sich im freien Verhältnis der Völker unverhohlen blicken läßt (indessen daß sie im bürgerlich-gesetzlichen Zustande durch den Zwang der Regierung sich sehr verschleiert)«. (ZeF B 32).

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gewaltsamer Prozess, und ein Gleiches gilt für die allmähliche Verrechtlichung der Beziehungen zwischen den Staaten. Die ›vereinigende Ursache‹, die hinzukommen muss, um die kollektive Einheit des vereinigten Willens zu ermöglichen, ist nach Kant die »ungesellige Geselligkeit der Menschen«, der »Antagonism« (AG A 392).103 Die Natur bedient sich seiner als eines Mittels, um die Naturanlagen des Menschen (der Gattung) vollständig zu entwickeln. Sie zwingt den Menschen zur Distanzierung von der Natur in ihm und außer ihm, zur Disziplinierung seiner Begierden und zur Ausbildung seiner Geschicklichkeit, unter welche die Wissenschaften und Künste fallen. Jedes Übel ist ihr ein nützliches Mittel zu diesem Zweck, »und der Zweck der Natur selbst, wenn es gleich nicht unser Zweck ist, wird doch hiebei erreicht« (KdU B 393). Insbesondere bedient sie sich »der Ungleichheit unter den Menschen«, von denen »die größte Zahl die Notwendigkeiten des Lebens gleichsam mechanisch […] zur Gemächlichkeit und Muße anderer besorget, welche die minder notwendigen Stücke der Kultur, Wissenschaft und Kunst, bearbeiten, und von diesen in einem Stande des Drucks, saurer Arbeit und wenig Genusses gehalten wird, auf welche Klasse sich denn doch manches von der Kultur der höheren nach und nach auch verbreitet« (KdU B 392 f.). »Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht« besonders der Herrschenden treiben die Kultivierung des Menschen einerseits voran, verhindern aber zugleich, dass »ein weltbürgerliches Ganze, d.i. ein System aller Staaten« (KdU B 393) entsteht, welches allein das Recht in den besonderen Staaten peremtorisch sichern könnte, was wiederum die Bedingung für die vollständige Entwicklung aller Naturanlagen des Menschen ist. Der Krieg ist deshalb unvermeidlich und fungiert, wenn nicht als »aller Dinge Vater« (Heraklit B 53), so doch als der »vielleicht« absichtliche Versuch der obersten Weisheit, »Gesetzmäßigkeit mit der Freiheit der Staaten und dadurch Einheit eines moralisch begründeten Systems derselben, wo nicht zu stiften, dennoch vorzubereiten« (KdU B 393 f.). Die Natur zwingt sowohl die Individuen als auch die Staaten dazu, den juridischen Naturzustand, in dem sie sich jeweils im Verhältnis zu anderen Individuen und Staaten befinden, zu verlassen und bereitet sie darauf vor, das zu tun, wozu sie durch die reine Rechtsvernunft kategorisch verpflichtet sind.104 Nur sie gewährleistet, »daß dasjenige, was 103 Laut der Religionsschrift ist der ›Antagonism‹ eine zufällige Anlage des Menschen. Sie ist zwar nach allem, was über den Menschen aus der Geschichte bekannt ist, nicht zu leugnen, der Mensch wäre aber auch ohne sie »an sich möglich« (RGV B 19). 104 »Da der Naturzustand der Völker, eben so wohl als einzelner Menschen, ein Zustand ist, aus dem man herausgehen soll, um in einen gesetzlichen zu treten: so ist, vor dieser Ereignis, alles Recht der Völker und alles durch den Krieg erwerbliche oder erhaltbare äußere Mein und Dein der Staaten bloß

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der Mensch nach Freiheitsgesetzen tun sollte, aber nicht tut, dieser Freiheit unbeschadet auch durch einen Zwang der Natur, daß er es tun wer­ de, gesichert sei« (ZeF B 59). So macht der Antagonismus selbst, dass die Menschheit diejenigen Fähigkeiten entwickelt, die sie für seine Abschaffung braucht, und die Kultur als Prozess der Befreiung von Naturzwängen ist insofern selbst noch ein Teil der Natur. Die historischen Fortschritte auf dem Wege zu »einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft« sind und werden den Menschen »patholo­ gisch-abgedrungen« (AG A 393 f.). Die geschichtliche Annäherung an den durch reine Rechtsvernunft geforderten vollkommenen Rechtszustand ist nicht anders möglich als durch willkürliche Herrschaft und Gewalt – wenngleich beide im Zuge der Verrechtlichung menschlicher Verhältnisse tendenziell abnehmen. In der durch die Natur erzwungenen Kultivierung der Gattung und Verrechtlichung der Beziehungen zwischen den Individuen und zwischen den Staaten fungieren die Individuen nur als Mittel zum allgemeinen Zweck, ist der »Einzelne nur Schaum auf der Welle« (Büchner 1834: 256). Den naheliegenden Einwand, die teleologische Geschichtskon­ struktion kollidiere mit der moralischen Bestimmung der Selbstzwecklichkeit der Individuen, kann Kant formal und inhaltlich zurückweisen. Formal mit dem Hinweis darauf, dass die Geschichtsbetrachtung den Begriff der Selbstzwecklichkeit des Menschen voraussetzt, dessen durch reine praktische Vernunft aufgewiesene Geltung sie als Unternehmen der reflektierenden Urteilskraft gar nicht in Frage stellen kann. Inhaltlich mit dem Hinweis darauf, dass die Selbstzwecklichkeit des Menschen als noumenale Bestimmung durch Historisches, also Empirisches gar nicht berührt werden kann. Die Konstruktion eines geschichtlichen Fortschritts durch die reflektierende Urteilskraft erfolgt im Interesse reiner praktischer Vernunft. Der Versuch, durch die Idee einer Naturabsicht dem »widersinnigen Gange menschlicher Dinge« wenigstens im Großen die Form eines »Systems« abzugewinnen (AG A 387; A 408), zielt darauf ab, die noumenale Bestimmung des Menschen mit der Geschichte in einer Weise zu vermitteln, die allen Katastrophen zum Trotz die Hoffnung zulässt, die historische Entwicklung sei mehr als ein Naturgeschehen und laufe insgesamt auf ein gutes Ende zu. Er ist insofern eine Theodizee in praktischer Absicht, eine »Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorse­ hung« (AG A 410). Weltgeschichte liegt nicht einfach vor, sondern wird durch die reflektierende Urteilskraft allererst konstituiert. Die Idee einer wollenden, planenden und handelnden Natur konstituiert das planlose provisorisch, und kann nur in einem allgemeinen Staatenverein (analogisch mit dem, wodurch ein Volk Staat wird) peremtorisch geltend und ein wahrer Friedenszustand werden.« (RL B 256 f.).

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DIE REDUKTION DER FREIHEIT AUF AUTONOMIE

Aggregat menschlicher Handlungen zu einem systematischen Ganzen namens Geschichte. Sie ist eine regulative Idee, die aber für das Handeln der ›Politiker‹ und ›Staatsoberhäupter‹ konstitutiv werden soll. Der philosophische Begriff der Geschichte soll auf dem Wege der Aufklärung des Publikums »selbst für diese [in ihr entfaltete] Naturabsicht beförderlich« (AG A 407), mithin selber ein wirksamer Teil dieser Geschichte werden. »So kommt es zu der merkwürdigen Selbstimplikation der Geschichtsphilosophie; sie veranschlagt die Rückwirkung einer Theorie der Ge­ schichte auf deren eigenen Verlauf.« (Habermas 1962: 142).105

105 Der Gedanke der ›Selbstimplikation‹ ist Marxisten vertraut. »Die von der Marxschen Theorie formulierte historische Umwälzung [der kapitalistischen Klassengesellschaft in die solidarische kommunistische Gesellschaft] hat zur Voraussetzung, daß die Theorie von Marx zur Bewußtseinsform der Arbeiterklasse und als solche zum Element der Geschichte selbst wird.« (Rosa Luxemburg 1903: 377).

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II. EXKURS ZU HEGEL Am Anfang der Epoche, die erst nach ihrem Ende und mit deutschtümelndem Unterton ›Deutscher Idealismus‹ genannt wurde,1 steht die Überzeugung Fichtes, Schellings und Hegels, dass ›über Kant hinauszugehen‹ sei. Das Wort Reinholds von den fehlenden »Prämissen« (Reinhold 1789: 67) der kantischen Philosophie bringt Fichte 1793 in einem Brief an Heinrich Stephani auf eine Formel, die die Verbeugung vor Kant mit der Kritik an ihm prägnant verbindet. Kant habe »überhaupt die richtige Philosophie; aber nur in ihren Resultaten, nicht nach ihren Gründen« (GA III,2: 28).2 Er habe mit dem Ich der transzendentalen Einheit der Apperzeption zwar die absolute Bedingung allen Bewusstseins gefunden, es aber unterlassen, dieses näher zu bestimmen und aus ihm alle weiteren Bedingungen abzuleiten. Statt eines Systems der Philosophie habe er nur ein Aggregat von Vernunftbestimmungen geliefert. Der Zusammenhang seiner praktischen Philosophie der Freiheit mit seiner theoretischen Philosophie sei ungeklärt. Tatsächlich kann das ›Ich denke‹ Kant zufolge über den Aufweis seines Vollzugs hinaus nicht Gegenstand einer Theorie sein, da eine solche schon immer unter der Bedingung des ›Ich denke‹ stünde.3 Wesen und Sein des ›Ich denke‹ bleiben daher notwendig unbestimmt. Und Kants Aufweis der Wirklichkeit der Freiheit durch die Lehre vom Bewusstsein des moralischen Gesetzes als »Faktum der Vernunft« (KpV A 56) impliziert die radikale Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft. Ihre Einheit kann Kant nur proklamieren, ihr gemeinsames Prinzip aber nicht aufweisen.4 Infolge dieser Trennung gilt die Natur in theoretischer Hinsicht im Hinblick auf die allgemeine Form ihrer Gesetzmäßigkeit als durch die synthetischen Leistungen des spontanen ›Ich denke‹ konstituiert, in praktischer Hinsicht dagegen als Inbegriff der Heteronomie. Für die zweite Kritik sind die Nicht-Determiniertheit und die Spontaneität des transzendentalen Subjekts, das in der ersten Kritik thematisch ist, ohne Bedeutung. Die Wirklichkeit der Freiheit ist hier durch das Vernunftfaktum-Theorem erwiesen, dem zufolge das Ich sich selbst nur in praktischer Hinsicht und nur im Medium praktischer Vernunft in seinem Wesen und Sein begreifen kann. Kant hat zwar keine Theorie des Selbstbewusstseins oder der Subjektivität intendiert, seine idealistischen Nachfolger verstehen ihn aber in 1 2 3 4

Vgl. Jaeschke (2000: 219 ff.) Ähnlich Schelling 1795 an Hegel: vgl. Frank/Kurz (1975: 119). Vgl. KrV B 404. Vgl. Kuhne (2007); die folgenden Überlegungen stützen sich in Teilen auf Kuhne (2020).

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EXKURS ZU HEGEL

diesem Sinne. Fichte zufolge hat Kant mit dem Ich der transzendentalen Einheit der Apperzeption auf den »ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz« der Wissenschaftslehre und mithin auf das Ich als ›Tathandlung‹ »gedeutet« (Fichte 1794: 99). Hegel zufolge »rechtfertigt es sich durch einen Hauptsatz der Kantischen Philosophie«, gemeint ist das »Ich denke, [das] alle meine Vorstellungen begleiten können [muß]« (KrV B 131 f.), »daß, um das zu erkennen, was der Begriff sei, an die Natur des Ich erinnert wird«. (Hegel WdL II 255) Das »Seyn (Wesen)« (Fichte 1794: 97) bzw. die »Natur« (Hegel) des Ich verfehlt freilich, wer da­ runter die ›Vorstellung‹ Ich versteht. Ich steht vielmehr für die nicht-empirische, reine Subjektivität. Fichte fasst diese als ›Tathandlung‹ oder ›in sich zurückgehende Tätigkeit‹ rein affirmativ: »Ich ist nothwendig Identität des Subjects und Objects: Subject-Object; und dies ist es schlechthin ohne weitere Vermittelung.« (1794: 985). Hegel fasst sie dagegen als »reine[n] Begriff« (WdL II 253), das heißt aber: nicht affirmativ. Das Negative, so der entscheidende ›spekulative‹ Gedanke, kommt dem Ich nicht irgendwie ›hinzu‹ durch Affektion (Kant) oder durch eine der Tathandlung des Ich entgegengesetzte Ich-Tätigkeit (Fichte), sondern ist ihm ›immanent‹. Ich ist die Tätigkeit der Selbstbestimmung, »in einem sich als das Negative seiner selbst, nämlich als bestimmt, beschränkt zu setzen und bei sich, d.i. in seiner Identität mit sich und Allgemeinheit zu bleiben, und in der Bestimmung, sich nur mit sich selbst zusammenzuschließen«. (Rph 54) Als sich selbst bestimmende Einheit ist das Ich wahre Unendlichkeit. Das ›Hinausgehen über Kant‹ geschieht bei Fichte zunächst ›im kantischen Geiste‹, während Schelling und Hegel schon früh zu erkennen meinen, dass nicht nur über Kant, sondern auch über Fichte hinauszugehen sei, insofern auch dieser eine Reflexionsphilosophie der Endlichkeit treibe und somit den der Philosophie eigentümlichen Gegenstand, das Absolute, verfehle. In der Tat beansprucht Fichte mit der Grundla­ ge der gesamten Wissenschaftslehre (1794/5) sowie mit seinem Natur­ recht (1796) und seiner Sittenlehre (1798) ›nach Prinzipien der Wissenschaftslehre‹ zu begründen, was Kant nicht (mehr) begründen konnte, nämlich eine Philosophie in Systemgestalt, die sich streng innerhalb der transzendentalphilosophisch allein zulässigen Grenze des Bewusstseins hält. Fichte überwindet die Dualismen der kantischen Philosophie, aber er bleibt Transzendentalphilosoph. Die transzendentale Subjektivität ist das System der Möglichkeitsbedingungen des wirklichen Bewusstseins endlicher Vernunftwesen, das durch die Erfahrung einer unabhängig von ihrem Zutun vorhandenen Welt bedingt ist. Die ›Erklärung‹ dieser Erfahrung überschreitet nicht den Bereich dessen, was ›im‹ Bewusstsein liegt und vermeidet damit den ›Spinozismus‹, der »in einem Felde sich 5 Anm. zur 2. Auflage.

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befindet, auf welches die Vernunft ihm nicht weiter folgen kann« (Fichte 1794: 101). Schelling und Hegel reklamieren dagegen einen ›höheren Standpunkt‹, von dem aus sich die Unterscheidung zwischen zulässiger Bewusstseinsimmanenz und unzulässiger -transzendenz als obsolet erweisen soll. Hegel zufolge bezieht Fichte wie schon Kant den einseitigen Standpunkt eines subjektiven Idealismus, der nur das Ich, nicht aber die Natur als Subjekt-Objekt bestimmt und infolgedessen das Andere des Ich nicht als sein Anderes begreifen kann. Hegel vollzieht schon früh den ›spekulativen‹ Schritt über diese nur subjektive Subjekt-Objekt-Einheit hinaus, indem er das Bewusstsein holistisch, als Totalität fasst und »die Momente des sich organisierenden Bewußtseins weder auf der Seite des Subjekts in der Form von Vermögen, Neigungen, Leidenschaften, Trieben u.s.w. [betrachtet], noch auf der andern Seite des Gegensatzes als eine Bestimmtheit der Dinge, sondern wie es als Einheit und Mitte von beidem absolut für sich ist« (JS I 203). Das sich organisierende Bewusstsein ist konkreter als ›Geist‹ zu fassen, als ein den Individuen vorausgesetztes überindividuelles Ganzes, das gleichwohl durch sie auch hervorgebracht wird und sich in geschichtlichen ›Welten‹ realisiert. »Der Geist ist […] das Individuum, das eine Welt ist.« (PhG 326) Hegel und Fichte stimmen darin überein, dass das Recht im Anschluss an Kant nicht mehr unter Rekurs auf die egoistisch motivierten und zweckrational begründeten Entscheidungen der Individuen (Hobbes) oder auf allgemeine Utilitätserfahrungen und -erwägungen (Hume) zurückgeführt werden kann. Das Recht muss vielmehr als Vernunftrecht verstanden werden, Vernunft aber als reines Selbstbewusstsein oder reine Subjektivität. Die Geltung des Rechts ist demnach die der Vernunft selbst. Hegel und Fichte begreifen allerdings Subjektivität unterschiedlich, der eine als transzendentale, Denken und Handeln des endlichen Vernunftwesens konstituierende Form, der andere als überindividuelle, Geist und Natur übergreifende Struktur eines sich auf sich beziehenden, sich von sich unterscheidenden und sich darin als identisch begreifenden Ganzen. Hegels Rechtsphilosophie sei im Folgenden skizziert.

1. Der Begriff des Willens als Wille des Begriffs Als Philosophie des objektiven Geistes fassen Hegels Grundlinien das Recht als »eine zweite Natur«. »Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur 124

DER BEGRIFF DES WILLENS ALS WILLE DES BEGRIFFS

ist.« (Rph 46) Das Recht ist nicht der »Inbegriff der Bedingungen« (RL B 33), die die Koexistenz der Individuen in größtmöglicher Freiheit garantieren (Kant, Fichte) und deren Geltung in reiner praktischer Vernunft (Kant) bzw. in reiner Vernunft (Fichte)6 gründet, sondern ist das »Dasein des freien Willens« oder »die Freiheit, als Idee« (Rph 80). In seiner kon­ kreten Gestalt als Sittlichkeit ist es eine Totalität historisch gewachsener und kulturell geprägter Lebensformen, Ordnungen und Institutionen, deren immanente Vernunft aufzuweisen der Philosophie obliegt.7 Da der Geist neben der Natur die zweite Art ist, in der sich die logische Idee ein Dasein gibt, ist die immanente Vernünftigkeit der ›zweiten Natur‹ ontologisch garantiert. Die dialektische ›Methode‹ der Logik präformiert, wie in der Wissenschaft des Rechts »der Begriff sich aus sich selbst entwickelt und nur ein immanentes Fortschreiten und Hervorbringen seiner Bestimmungen ist« (Rph 84). Dem Begriff ist die Beziehung auf das ihm Äußerliche immanent. Er allein hat Wirklichkeit, »und zwar so, daß er sich diese selbst gibt« (Rph 29). Die Idee des Rechts ist als Einheit von Begriff und Dasein der Prozess und das Resultat seiner Selbstverwirklichung. Hegel zufolge hat es ›die‹ Philosophie »mit Ideen und darum nicht mit dem, was man bloße Begriffe zu heißen pflegt« (Rph 29) zu tun. Dabei ist ›Idee‹ nicht mehr wie bei Kant ein notwendiger Begriff der endlichen Vernunft, der im Theoretischen von regulativem Gebrauch ist, indem er Verstandeserkenntnisse ordnet, und im Praktischen, wie der Begriff der Freiheit, von konstitutivem Gebrauch ist, indem er freies, d.i. moralisches Handeln ermöglicht. ›Idee‹ ist auch nicht nur ein bestimmter Gedankeninhalt, sondern die Einheit von Begriff und Dasein. ›Dasein‹ aber ist als durch den Begriff hervorgebrachtes nicht bloße Faktizität, sondern vernünftige Wirklichkeit. Hat der Begriff des Rechts selbst Wirklichkeit, kann es sich bei ihm nicht um einen diskursiven, durch Inhalt und Umfang bestimmten Begriff handeln. Nicht Kants »Begriff von hundert Talern« (KrV B 627), sondern das Ich der transzendentalen Einheit der Apperzeption, das Hegel ontologisiert, bildet das Modell.8 Auch in der philosophischen Tradition ist der Begriff, der selbst Wirklichkeit hat, nicht irgendein Begriff, sondern der des Absoluten. Hegel führt in der Rechtsphilosophie zwar nicht den ontologischen Gottesbeweis, berührt 6 Der Begriff des Rechts ist »ein ursprünglicher Begriff der reinen Vernunft«, der als »ein praktischer Begriff« gedacht, »bloss technisch-praktisch« ist. (Fichte 1796: 8; 10). 7 »Jeder findet den Staat vor. Er ist schon längst im Staat erzogen, seine Muttermilch in sich aufgenommen, ohne er es noch weiß. […] Er kann immer den Staat hassen, dann haßt er seine eigenste Natur, und er kann nicht aus der Haut herausfahren.« (Hegel Rph 1821/22: 233). 8 Zu den »tiefsten und richtigsten Einsichten« der kantischen Vernunftkritik gehört, »daß die Einheit, die das Wesen des Begriffs ausmacht, als […] Einheit des ›Ich denke‹ oder des Selbstbewußtseins erkannt wird«. (WdL II 254).

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aber hier, wie überall,9 dessen Thema. Der Begriff des an und für sich freien Willens ist nicht nur absolut im Sinne von unbedingt, sondern das Absolute selbst: »Der objektive Geist ist die absolute Idee, aber nur an sich seiend; indem er auf dem Boden der Endlichkeit ist, behält seine wirkliche Vernünftigkeit die Seite äußerlichen Erscheinens an ihr.« (Enz III 303) Die grundlegenden Bestimmungen des Begriffs des Willens: Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, sind die des ›Begriffs‹.10 Hegel fasst den Begriff des Willens zu Beginn der Rechtsphilosophie als »Willen des Begriffs« (Theunissen 1982: 332). Der wahrhaft freie Wille ist denkender Wille oder wollendes Ich. Dass er in seinem Anderen nur ›bei sich selbst ist‹, gilt in theoretischer wie in praktischer Hinsicht, seine Selbstbeziehung ist nicht nur kognitiv, sondern auch voluntativ. »[D]er abstrakte Begriff der Idee des Willens ist überhaupt der freie Wille, der den freien Willen will.« (Rph 79) Dass die Struktur des ›Ich denke‹ zugleich die eines allgemeinen und reflexiven ›Ich will‹ ist – diese Logifizierung und Intellektualisierung des Willens ist zunächst wenig plausibel. Die Rede von dem ›freien Willen, der den freien Willen will‹, scheint nämlich den Sachverhalt zu ignorieren, dass der Wille als solcher gerade nicht allgemein und reflexiv ist, sondern immer besonderer Wille ist, der etwas will und also von dem Gegenstand seines Wollens unterschieden ist. Dort, wo er allgemeinen Formen genügt oder genügen soll, sind diese nicht von ihm selbst hervorgebracht, sondern durch Denken – etwa unter dem Namen ›reiner praktischer Vernunft‹ – konstituierte Formen. Nur das Denken selbst lässt sich als unmittelbar allgemeine Tätigkeit begreifen, nicht aber das Wollen, oder das Wollen nur insofern, als es auf das sich selbst bestimmende Denken reduziert ist. Hegel konzediert dies anscheinend selbst, wenn er ausführt, die Identität von denkendem Ich und freiem Willen sei Resultat des sich im Willen ›durchsetzenden‹ Denkens, welche Durchsetzung als ›Reinigung‹ des Willens von bloß vorgefundenen, natürlichen und partikularen Inhalten zu verstehen sei. »Das Selbstbewußtsein, das seinen Gegenstand, Inhalt und Zweck bis zu dieser Allgemeinheit [des Denkens] reinigt und erhebt, tut dies als das im Willen sich durchsetzende Denken. Hier ist der Punkt, auf welchem es erhellt, daß der Wille nur als denkende Intelligenz wahrhafter, freier Wille ist.« (Rph 72) Das Denken, von dem Hegel in der Einleitung der Grundlinien behauptet, es setze sich im Willen durch, ist das empirischer Subjekte, die das Vernünftige wollen und durch das Wollen des Vernünftigen ihre Partikularität abstreifen. Von dem Vernünftigen aber beansprucht der Haupttext nachzuweisen, dass es der Wirklichkeit nicht transzendent ist als moralische Forderung an die Handelnden, sondern 9 Schopenhauer (1847: 20) schimpft Hegels Philosophie »eine monstrose Amplifikation des ontologischen Beweises«. 10 Vgl. Rph §§ 5–7.

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immanent als ihre begriffliche Struktur. Das Vernünftige erscheint den Bürgern des sittlichen Staates nicht als moralische Nötigung, als Pflicht im Gegensatz zu ihrer Neigung, sondern als Wirklichkeit der Freiheit in den staatlichen Institutionen. Weil im sittlichen Staat das Normative faktisch ist, ist das Handeln der Individuen innerhalb und gemäß seiner Ordnung weder durch ein abstraktes Sollen noch durch ihre Willkür und Partikularität bestimmt, sondern ein Handeln »nach den Begriffen der Sittlichkeit überhaupt« (Rph 67). Der sittliche Staat ist der moderne Staat. In ihm ist die Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem, Vernunft und Sinnlichkeit, Pflicht und Neigung, Freiheit und Notwendigkeit gelungen. In der Phänomenologie des Geistes handelt Hegel in ganz anderer Weise von einem im Willen sich durchsetzenden Denken. Es ist das Denken des späteren Herrn, das sich zunächst in dessen eigenem Willen durchsetzen muss, um sich dann in dem Willen des Knechts durchsetzen zu können. In einem Kampf auf Leben und Tod demonstriert der spätere Herr gegenüber dem späteren Knecht seinen Anspruch auf reines Fürsichsein und unbedingte Freiheit, indem er bereit ist, von allen natürlichen Inhalten seines Willens zu abstrahieren und also sein Leben dranzusetzen. Nach der Anerkennung seines Anspruchs durch das unterlegene Individuum, welches zu solcher Abstraktion oder Reinigung des Willens nicht fähig war, setzt sich das Denken des Herrn qua Befehl im Willen dieses nun zum Knecht bestimmten Individuums durch. Der freie Wille des Herrn in spe aus der Phänomenologie hat mit dem ›freien Willen, der den freien Willen will‹ aus den Grundlinien das Moment der unbedingten, abstrakten Allgemeinheit gemein. Der Wille, der sich selbst will, ist demnach nicht der mit dem Ich strukturgleiche, an und für sich freie und allgemeine Wille, sondern der Wille, der über andere Willen herrschen will. Gegen die Kritik, der sich selbst wollende Wille sei nicht die noch abstrakt gefasste Idee der Freiheit, sondern der Wille, der herrschen will, kann Hegel wie immer darauf verweisen, dass es untunlich ist, eine Bestimmung aus einem Teil der Philosophie unmittelbar auf eine aus einem anderen Teil zu beziehen, weil solches Vorgehen die Argumentation ausblendet, die von dem einen zum anderen führt. Der Begriff des Willens aus der Philosophie des objektiven Geistes kann demnach nicht unmittelbar auf ein Lehrstück aus der Philosophie des subjektiven Geistes bezogen werden. »Der an und für sich seiende Geist unterscheidet sich dadurch von dem erscheinenden Geiste, daß in derselben Bestimmung, worin dieser nur Selbstbewußtsein, Bewußtsein von sich, aber nur nach dem natürlichen Willen und dessen noch äußerlichen Gegensätzen ist […], der Geist sich als abstraktes und zwar freies Ich zum Gegenstande und Zwecke hat und so Person ist.« (Rph 9411) 11 Die Anmerkung verweist auf die selbständige Phänomenologie des Geistes (1807) und auf die Phänomenologie als Teil der Geistphilosophie.

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Hegel kann auch darauf verweisen, dass der Wille desjenigen Individuums, das aus dem Kampf auf Leben und Tod als Herr hervorgeht, mit dem an und für sich allgemeinen Willen zwar das Element der reinen Unbestimmtheit gemein hat, das aber diese Unbestimmtheit nicht aus der Negation von Bestimmtheit überhaupt resultiert, sondern aus der Negation des eigenen Lebens, weshalb qua Kampf diese Unbestimmtheit auch nicht ›übergeht‹ in Bestimmtheit oder Dasein ›überhaupt‹, sondern in die Bestimmtheit des als freier Wille anerkannten Individuums. Der Wille des (späteren) Herrn in der Phänomenologie ist nicht nur der eines Individuums, sondern individueller Wille. Im Unterschied dazu ist der Wille der Person zu Beginn der Grundlinien zwar auch der Wille eines Individuums, aber nicht individueller, sondern allgemeiner Wille.12 Hegel kann weiter darauf verweisen, dass der oben erwogenen Kritik die Verwechslung von Wille und Willkür zugrunde liege und damit die Missachtung einer Unterscheidung, auf die die Einleitung der Rechtsphilosophie ausdrücklich hinweist. Im Unterschied zum an und für sich freien Willen, dessen Allgemeinheit konkret ist, weil der Wille sich in seiner reinen Allgemeinheit selbst zum Gegenstand hat, eignet der Willkür nur die formelle Allgemeinheit des Selbstbewusstseins und eine abstrakte Gewissheit der Freiheit des Willens, weil dem reflektierenden und insofern unendlichen Ich eine Mannigfaltigkeit gegebener, ›endlicher‹ Inhalte des Willens gegenübersteht. »Die Willkür ist, statt der Wille in seiner Wahrheit zu sein, vielmehr der Wille als Widerspruch.« (Rph 66) Hegel kann schließlich darauf verweisen, dass der in der Phänome­ nologie thematische Kampf um Anerkennung in die Zeit der Staatenbildung fällt, während der zu Beginn der Rechtsphilosophie als »gegeben« (Rph 30) vorausgesetzte Begriff des freien Willens auf den modernen Staat verweist, in dem die universelle Rechtsfähigkeit des Menschen als Menschen anerkannt ist. »Der Kampf um die Anerkennung in der angegebenen bis zum Äußersten getriebenen Form [kann] bloß im Na­ turzustande, wo die Menschen nur als Einzelne sind, stattfinden […].« Der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staate bleibt er fern, »weil daselbst dasjenige, was das Resultat jenes Kampfes ausmacht, nämlich das Anerkanntsein, bereits vorhanden ist« (Enz III 221). Der Kampf um Anerkennung bildet den Anfang der Geschichte des Menschen als einer Geschichte der Freiheit, die zugleich eine der Herrschaft von Menschen über Menschen ist. Indem der spätere Herr dem späteren Knecht seinen Anspruch auf reines Fürsichsein und unbedingte Freiheit praktisch demonstriert und der Knecht diesen Anspruch anerkennt, sind beide für einander nicht mehr nur »in der Weise gemeiner Gegenstände« (PhG 148). Ihr Verhältnis zueinander ist nicht länger allein durch natürliche Bestimmtheiten wie körperliche Kraft bestimmt, sondern sie sind 12 Vgl. Theunissen (1982: 331).

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durch ein geistiges Band verbunden. Zwar ist die Anerkennung einseitig und das reine Fürsichsein und die Freiheit des Herrn sind widersprüchlich bestimmt, insofern die notwendige Allgemeinheit des reinen Fürsichseins die partikulare Zufälligkeit dieses Herrn ist, dessen Selbstständigkeit von der Arbeit des Knechts abhängt, also dessen Unselbstständigkeit ist. Gleichwohl zeigt sich Geschichte als eine Abfolge von Anerkennungsverhältnissen, bis zum modernen Staat, in dem erst gilt: »Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend.« (PhG 147) Selbstbewusstsein ist in Wahrheit nicht unmittelbare Selbstgewissheit und leere Punktualität, sondern Geist: »Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.« (PhG 145) Wenn die Grundlinien den sich selbst wollenden Willen als strukturgleich mit dem denkenden Ich bestimmen und wenn die Phänomenolo­ gie den sich selbst wollenden Willen als den Willen, der herrschen will, fasst, dann bezeichnet dieser den Anfang der Geschichte der Freiheit, welche in den modernen Staat mündet, jener aber das noch abstrakt gefasste Prinzip,13 welches dem modernen Staat zugrunde liegt. Die Geschichte der Freiheit hebt an mit der gewaltsam erzwungenen einseitigen Anerkennung des Herrn durch den Knecht – verwirklicht ist die Freiheit im modernen Staat, in dem sich die Individuen als Rechtspersonen aufeinander beziehen. Genauer betrachtet ist der in ›Herrschaft und Knechtschaft‹ thematisierte Sachverhalt aber kein historischer. Der Kampf auf Leben und Tod hat Hegel zufolge den ›Naturzustand‹ der Individuen zur Voraussetzung und ist wie dieser eine theoretisch erschlossene notwendige Bedingung der Geschichte als Geschichte der Freiheit, nicht aber ein durch empirische Forschung zutage gefördertes historisches Faktum.14 Die Phänomenologie thematisiert unter dem Titel ›Herrschaft und Knechtschaft‹ eine notwendige Bedingung der Geschichte der Freiheit.15 Diese ist aber als Weltgeschichte wesentlich Staatengeschichte, denn allein im Staat als einem sittlichen Ganzen ist die Freiheit substantiell, hat sie Objektivität.16 »In der Weltgeschichte kann nur von Völkern die Rede sein, welche einen Staat bilden. Denn man muß wissen, daß ein solcher die Realisation der Freiheit, d.i. des absoluten Endzwecks ist, daß 13 Vgl. Rph 86: »Die Idee muß sich immer weiter in sich bestimmen, da sie im Anfang nur erst abstrakter Begriff ist.« 14 Vgl. PhGsch 58. 15 Die Phänomenologie stellt die Geschichte der Bildung des menschlichen Geistes in einer systematischen Abfolge von Bewusstseinsgestalten dar, die der historischen Abfolge dieser Gestalten zum Teil widerspricht. Genauer finden sich in ihr »unterschiedliche[] Typen von Geschichte« (Baptist 1998: 254). 16 »Der Staat ist die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist. Er ist so der näher bestimmte Gegenstand der Weltgeschichte überhaupt, worin die Freiheit ihre Objektivität erhält und in dem Genusse dieser Objektivität lebt.« (PhGsch 57).

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er um seiner selbst willen ist; man muß ferner wissen, daß allen Wert, den der Mensch hat, alle geistige Wirklichkeit, er allein durch den S­ taat hat.« (PhGsch 56)

2. Fragen an Hegel Dass Hegels Rechtsphilosophie nicht von Geschichte, Gesellschaft und Ökonomie abstrahiert und das Recht als daseiende und nicht nur sein sollende Freiheit begreift, gilt seit jeher als ihr großer Vorzug im Vergleich zu der Rechtslehre Kants, die nur ein formales Apriori kennt. Dieser Lesart zufolge gelangt Kant nur zu dem »Staat in der Idee« (RL B 195),17 während Hegels ›Idee des Staates‹ ihn auch historisch begreifen lässt, und während die Transzendentalphilosophie der politischen und rechtlichen Empirie nur abstrakte Vernunftprinzipien entgegenhält, bringt Hegel wieder zur Geltung, wovon diese abstrahiert. Die Formalismus-Kritik an Kant greift nun entweder zu kurz oder sie geht zu weit. Sie greift zu kurz, wenn sie sich darauf verlegt, die Welt der historischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Tatsachen gegen die ›reine‹ Vernunft der Transzendentalphilosophie auszuspielen. Denn dass Menschen immer schon in bestimmte Traditionen, Normensysteme und institutionelle Zusammenhänge hineingeboren werden, bestreitet diese gar nicht. Sie stellt gar nicht in Abrede, dass das Recht historisch und gesellschaftlich vermittelt ist.18 Sie besteht nur darauf, dass damit noch gar nichts über seine nicht nur juristische, soziale oder faktische, sondern normative Geltung gesagt ist. Die Kritik geht aber zu weit, wenn sie mit Hegel die Philosophie darauf verpflichten will, die der Empirie immanente Vernunft darzustellen getreu dem Satz aus der Vorrede: »Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft.« (Rph 26) Näheres Hinsehen zeigt nämlich, dass die Aufhebung des Hiats zwischen Vernunft und Geschichte und zwischen Sein und Sollen in der Philosophie des objektiven Geistes durchaus problematisch ist. Das ist im Folgenden unter drei verschiedenen Gesichtspunkten zu skizzieren: dem Verhältnis von Vernunft und Geschichte, Normativem und Deskriptivem und dem von ›Sache der Logik und Logik der Sache‹ (Marx). 17 Ebd.: Der »Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll, welcher jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient«. 18 Die Vernunft wirkt »nicht instinktmäßig, sondern bedarf Versuche, Übung und Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur andern allmählich fortzuschreiten«. (Kant AG A 389). Vgl. Hoffmann (2006: 48).

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FRAGEN AN HEGEL

2.1. Vernunft und Geschichte Hegel zufolge haben die Bestimmung der Prinzipien des Staates als eines sittlichen Ganzen und die Darstellung der Weltgeschichte als des Prozesses der zeitlichen Entwicklung des Staates beide ihren systematischen Ort in der Rechtsphilosophie. Deren Darstellung gilt sowohl der Wirklichkeit als auch der Verwirklichung der Idee der Freiheit als Idee des Rechts.19 Wirklichkeit hat die Idee der Freiheit im modernen Staat. Dieser ist das – geographisch (noch) auf Westeuropa und Nordamerika begrenzte – Resultat der Weltgeschichte, welche ihrerseits aber nichts anderes ist als die Selbstverwirklichung des Begriffs der Freiheit in der Zeit. Bedingung der Möglichkeit der systematischen Darstellung des Rechts ist, dass der Begriff in seiner geschichtlichen Selbstverwirklichung ›fertig‹ ist, sich ein Dasein gegeben hat. Dies ist der Fall im modernen, auf den Prinzipien der Französischen Revolution beruhenden Staat, in dem der Mensch als Mensch Subjekt des Rechts ist. Die Rechtsphilosophie beansprucht, Begriffliches und Historisches in ihrer notwendigen Einheit darzustellen. Dies erscheint nur folgerichtig für eine Philosophie, die als Philosophie des Absoluten zwischen beiden keinen Gegensatz gelten lassen kann.20 Ein solcher Gegensatz ist vielmehr ausgeschlossen, wenn »die Unterschiede der besonderen philosophischen Wissenschaften nur Bestimmungen der [absoluten] Idee selbst sind und diese es nur ist, die sich in diesen verschiedenen Elementen darstellt« (Enz I 64). Hegel kritisiert die bloß geschichtliche ›Erklärung‹ des positiven Rechts durch die Historische Rechtsschule und die apriorische Kon­ struktion des Naturrechts bei Kant und Fichte. Beide sind unwahr, insofern sie von dem jeweils anderen abstrahieren,21 wie das Beispiel der Sklaverei verdeutlicht. Die von Gustav Hugo »behauptete Berechtigung der Sklaverei […] sowie die Berechtigung einer Herrschaft als bloßer Herrenschaft überhaupt und alle historische Ansicht über das Recht der Sklaverei und der Herrenschaft« nehme »den Menschen als Naturwesen überhaupt nach einer Existenz (wozu auch die Willkür gehört) […], die seinem Begriffe nicht angemessen« sei. Hingegen halte die »Behauptung des absoluten Unrechts der Sklaverei« an dem »Begriffe des Menschen als Geistes, als des an sich freien, fest«, sei aber darin einseitig, dass »sie den Menschen als von Natur frei oder, was dasselbe ist, den Begriff als 19 Rph 83: »Jede Stufe der Entwicklung der Idee der Freiheit hat ihr eigentümliches Recht, weil sie das Dasein der Freiheit in einer ihrer eigenen Bestimmungen ist.« 20 »Gott regiert die Welt […], die Vollführung seines Plans ist die Weltgeschichte. Diesen will die Philosophie erfassen; denn nur was aus ihm vollführt ist, hat Wirklichkeit, was ihm nicht gemäß ist, ist nur faule Existenz.« (PhGsch 53). 21 Vgl. Rph 34 ff.; 123 f.

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EXKURS ZU HEGEL

solchen in seiner Unmittelbarkeit, nicht die Idee, als das Wahre nimmt«. (Rph 123) Die Vermittlung des Getrennten hat die Form der Selbstentwicklung des Begriffs. Sie kann nicht in der ›Anwendung‹ des apriorischen Begriffs auf einen gegebenen historischen Stoff bestehen. Diese unterstellte die Selbständigkeit der Relata. Sie wäre »nicht mehr spekulatives Denken und Entwicklung des Begriffs, sondern Subsumtion des Verstandes« (Rph 34). Der apriorische Begriff ist nicht anzuwenden auf Geschichtliches, sondern als in sich geschichtlich zu erweisen. Der Erweis hat dabei »die Bedeutung einer an und für sich gültigen Rechtfertigung« (Rph 35 f.) der historischen Bestimmungen. Dem Anspruch der Vermittlung von Begriff und Geschichte anscheinend entgegen, begreift Hegel die Abfolge der Kategorien in der Rechtsphilosophie als rein begriffliche, die sich mit der historischen nicht deckt. Die »wissenschaftliche[] Entwicklung der Idee« des Rechts muss von der »zeitlichen Entwicklung« (Rph 85) seiner Gestaltungen unterschieden werden. Die Differenz der begrifflichen Genesis, die die Geltung ist, zur bloß historischen Genesis, drückt sich in der von begrifflicher und historischer Abfolge der Gestaltungen aus. »So kann man z.B. nicht sagen, daß das Eigentum vor der Familie dagewesen sei, und trotzdem wird es vor derselben abgehandelt.« (Rph 86) Doch die Differenz von begrifflicher und historischer Entwicklung ist für die Darstellung selbst nicht konstitutiv. Den Gestaltungen kommt unabhängig von der Selbstexplikation des Rechtsbegriffs keine philosophisch relevante Bedeutung zu.22 Die begriffene Wirklichkeit des Rechts im modernen Staat ist somit die Wahrheit der historischen Entwicklung, die in diesen Staat mündet. Die Vermittlung von Begriff und Geschichte als Aufhebung der Geschichte in den Begriff impliziert die Nichtigkeit der historischen Bestimmungen als solcher. Nur als begriffene, das heißt vom Begriff gesetzte sind sie. Insofern ist es nur konsequent, wenn abgesehen vom Unterabschnitt ›Weltgeschichte‹ Geschichte nur in der Einleitung, den Anmerkungen und Zusätzen der Rechtsphilosophie thematisch ist. Allerdings entsteht damit der »Anschein, daß der Staat [...] erst im Kontakt mit anderen Staaten von der Geschichte affiziert wird«. Die Weltgeschichte erscheint infolgedessen »selbst als eine formale Entwicklung eines abs­ trakten Prinzips in der Zeit – des fortschreitenden Bewußtseins von Freiheit – nicht im direkten Zusammenhang mit den Begriffen Person, Moralität, Familie, Sittlichkeit, Staat, die ihr erst Sinn verleihen«. (Brauer 1982: 22)23 Der logische Ort der Weltgeschichte in der Rechtsphilosophie ist paradox. 24 Der moderne Staat, das Resultat der Selbstobjektivierung der Idee der Freiheit in der Geschichte, resultiert in die Geschichte. 22 Vgl. Rph 35. 23 Vgl. Hartmann (1982: 313); Hösle (1987: 457). 24 Vgl. Brauer (1982: 19).

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Das notwendige Resultat der Geschichte ist im »Verhältnis der Staaten gegeneinander [...] der Zufälligkeit ausgesetzt« (Rph 503).

2.2. Normatives und Deskriptives Die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Geschichte in der Philosophie des objektiven Geistes zieht die nach dem Verhältnis von Normativem und Deskriptivem nach sich. Die Vermutung, dass eine Philosophie des Absoluten zwischen beiden keine Kluft anerkennen kann, bestätigt die berühmt-berüchtigte Formel: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« (Rph 24) Die Grund­ linien wollen den Staat nicht »belehren, wie er sein soll, sondern vielmehr, wie er, das sittliche Universum, erkannt werden soll. […] Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt.« (Rph 26) Hegel zufolge hat die Idee des Staates Wirklichkeit im modernen Staat, auch wenn sie in keinem der faktisch existierenden Staaten vollständig realisiert ist. »Bei der Idee des Staates muß man nicht besondere Staaten vor Augen haben.« (Rph 403) Von den besonderen Staaten ist aber auch nicht ganz abzusehen, denn der Idee des Staates als einem Gedachten muss in der historischen Staatenwelt etwas korrespondieren, wenn das Gedachte womöglich nicht nur ein Gesolltes sein soll. Zumindest ansatzweise muss die Struktur des Staates in den modernen Staaten auffindbar sein, wenn die Rechtsphilosophie ihren Lesern mit der »vernünftigen Einsicht« in die Sache zugleich auch »die Versöhnung mit der Wirklichkeit« (Rph 27) gewähren soll. Wenn der Begriff des Staates in den modernen Staaten Wirklichkeit hat, dann sind diese vor den anderen Staaten, die die Geschichte kennt, offenbar normativ ausgezeichnet. In den Vorlesungen über die Philoso­ phie der Geschichte beschreibt Hegel mit Emphase den historischen Moment, in dem der moderne Staat das Licht der Welt erblickt. »Der Gedanke, der Begriff des Rechts machte sich mit einem Male geltend, und dagegen konnte das alte Gerüst des Unrechts keinen Widerstand leisten. Im Gedanken des Rechts ist also jetzt eine Verfassung errichtet worden, und auf diesem Grunde sollte nunmehr alles basiert sein. Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d.i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. […] Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen.« (PhGsch 529) 133

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Die Unterscheidung von modernem und vormodernem Staat und Recht setzt einen normativen Begriff von Staat und Recht voraus. Dieser müsste in der Rechtsphilosophie dargestellt werden, doch intendiert diese laut der Vorrede explizit keine normative Theorie. Die Philosophie des objektiven Geistes scheint einen normativen Begriff von Staat und Recht in Anspruch zu nehmen und zugleich von sich zu weisen. Der Widerspruch löst sich auf, wenn näher betrachtet wird, welche Art von Normativität sie in Anspruch nimmt und welche sie kritisiert. Was den modernen Staat vor seinen historischen Vorläufern auszeichnet, ist, dass in ihm Subjektivität und Substantialität des Sittlichen konkret zur Einheit gebracht sind. Während in den antiken Staaten die substantielle Allgemeinheit der polis den Individuen logisch und ontologisch vorgeordnet ist – der Mensch kann nur in der polis seine menschliche Bestimmung erfüllen (Aristoteles) –, und in der Neuzeit umgekehrt die Individuen dem Staat – der Staat ist ein menschliches Kunstwerk (Hobbes) –, ist im modernen Staat die Subjektivität der Individuen ein konstitutives Element der vernünftigen Allgemeinheit des Staates.25 Die Norm, deren Erfüllung den modernen Staat auszeichnet, ist spekulativ-logischer Natur. Die Einheit von Subjektivität und Substantialität hat ihren systematischen Ort in der Logik. Sie ist eine Bestimmung des Begriffs. Es ist mithin die dem Begriff immanente Normativität, welche der moderne Staat im Unterschied zu seinen historischen Vorläufern erfüllt. Das Kriterium der Modernität von besonderen Staaten ist nicht ihr zeitliches Erscheinen in der Geschichte, sondern der Grad ihrer Übereinstimmung mit der Idee des Staates, welche ihrerseits qua Idee den Strukturen der spekulativen Logik genügt. Der moderne Staat ist zwar ein – notwendiges – Resultat der Geschichte, aber nicht alle Staaten, die sich in der Moderne faktisch vorfinden, sind modern. Die dem Begriff eigene Normativität ist ein Implikat des ontologischen Wahrheitsbegriffs Hegels. Hegel definiert Wahrheit als »Übereinstimmung des Gegenstandes mit sich selbst, d.h. mit seinem Begriff« (Enz I 323). Die wahrhafte Übereinstimmung von Gegenstand und Begriff ist nur im Falle des Absoluten gegeben; nur das Absolute, Unendliche ist absolut wahr, alle anderen, endlichen Gegenstände sind auch immer unwahr. »Gott allein ist die wahrhafte Übereinstimmung des Begriffs und der Realität; alle endlichen Dinge aber haben eine Unwahrheit an sich, sie haben einen Begriff und eine Existenz, die aber ihrem Begriff unangemessen ist. Deshalb müssen sie zugrunde gehen, wodurch die Unangemessenheit ihres Begriffs und ihrer Existenz manifestiert wird.« (Enz I 86) Hegel behauptet nicht, nur das Absolute sei wahr, alle endlichen Dinge aber unwahr, sondern unterscheidet zwischen der absoluten Wahrheit 25 Vgl. Rph 407; 410.

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des Absoluten und der graduellen Wahrheit endlicher Dinge.26 Gemessen am Absoluten sind die endlichen Dinge als solche unwahr, gemessen an ihrem Begriff sind sie mehr oder weniger wahr. So ist etwa von einem wahren oder schlechten Freund, einem wahren oder schlechten Kunstwerk zu sprechen. »In diesem Sinne ist ein schlechter Staat ein unwahrer Staat, und das Schlechte und Unwahre überhaupt besteht in dem Widerspruch, der zwischen […] dem Begriff und der Existenz eines Gegenstandes stattfindet. Von einem solchen […] können wir uns eine richtige Vorstellung machen, aber der Inhalt dieser Vorstellung ist ein in sich Unwahres.« (Enz I 86) Einige Staaten sind wahr, weil und insofern sie den Begriff des Staates hinreichend realisieren. Einige Staaten sind unwahr, weil und insofern sie ihren Begriff nicht hinreichend realisieren. Dabei hat ihre Wahrheit ebenso wie ihre Unwahrheit einen zeitlichen Kern.27 So ist etwa nach der »welthistorischen Begebenheit« (PhGsch 535) der Französischen Revolution, durch die der Mensch gilt, »weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist« (Rph 360), eine dahinter zurückbleibende staatliche Ordnung unwahr, weil sie den Begriff des Staates nur unzureichend realisiert. Dagegen ist die antike polis, die nur wenige freie, und zwar männliche Bürger kennt, im Vergleich zur orientalischen Despotie wahr. Denn während in dieser die Willkürfreiheit des einzelnen Despoten herrscht, »findet sich« hier »schon die Allgemeinheit« (Rph 407) der Freiheit vor, die für den Staat als sittliches Ganzes konstitutiv ist. »In den Griechen ist erst das Bewußtsein der Freiheit aufgegangen.« (PhGsch 31) Die Unterscheidung zwischen wahren und unwahren Staaten erfolgt nicht auf der Grundlage einer im kantischen Sinne normativen und verpflichtenden Staatsidee. Die dem Begriff eigene Normativität ist damit unvereinbar. Dem Sollen gilt gerade die Kritik der Rechtsphilosophie. Die Qualifizierung eines Staates als ›schlecht‹ schließt daher auch nicht die Aufforderung an die Individuen ein, ihn evolutionär zu verbessern oder revolutionär zu ersetzen. Jeder Staat ist qua Staat eine Existenzweise des Begriffs, ungeachtet dessen, ob er diesen hinreichend oder nicht hinreichend realisiert. Auch der »schlechteste Staat, dessen Realität dem Begriffe am wenigsten entspricht, insofern er noch existiert, ist er noch Idee; die Individuen gehorchen noch einem machthabenden Begriffe« (WdL II 465 f.). Weil der Begriff die Beziehung auf die Realität zu seiner immanenten Bestimmung hat,28 bedeutet die Auskunft, dass ein Staat dem Begriff ›am wenigsten‹ entspricht, zugleich, dass er immer noch eine Existenzweise des Begriffs und also der Vernunft ist. »Ganz unvernünftig 26 Vgl. Halbig (2002: 181 ff.). 27 Die Formulierung spielt an auf Adornos These vom »Zeitkern der Wahrheit« (Adorno 1966: 364). 28 Vgl. WdL II 466; Rph 52.

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kann der Staat nicht sein.« (Rph 1821/22, 234) Was dem Begriff in keiner Weise entspricht, lässt sich auch nicht begreifen. Hegels ontologischem Wahrheitsbegriff zufolge ist die Vernunft in ihrer Erkenntnis auf die Selbsterkenntnis festgelegt – darauf, »durch sich selbst in allem sich selbst zu finden und zu erkennen« (WdL II 552). Wenn Hegel auch dem schlechtesten Staat noch Vernünftigkeit konzediert, dann spricht er damit nicht nur aus, was unmittelbar in der Lehre vom Begriff und der ihm immanenten Normativität angelegt ist, sondern demonstriert auch, dass diese Lehre in ihrer Konsequenz einem Machtpositivismus wenig entgegenzusetzen hat. Der Hinweis, ›die Individuen gehorchen noch einem machthabenden Begriffe‹, ist eine euphemistische Umschreibung für den Sachverhalt, dass die Individuen noch einer Macht gehorchen. Verwiesen wird auf ein factum brutum, das über die Vernünftigkeit der Macht nichts besagt. Dass diese Macht noch vernünftig ist, ist eine bloße Behauptung, und der Versuch, sie durch eine Analogie plausibel zu machen, muss scheitern: »Der Staat«, so Hegel, »ist kein Kunstwerk, er steht in der Welt, somit in der Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums; übles Benehmen kann ihn nach vielen Seiten defigurieren. Aber der häßlichste Mensch, der Verbrecher, ein Kranker und Krüppel ist immer noch ein lebender Mensch; das Affirmative, das Leben, besteht trotz des Mangels, und um dieses Affirmative ist es hier zu tun.« (Rph 404)29 Dass ein Verbrecher noch ein Mensch ist, steht nicht in Zweifel. Nur Menschen können überhaupt zu Verbrechern werden. Nur das vernunftbegabte Sinnenwesen vermag sich bewusst gegen das Vernünftig-Allgemeine zu wenden.30 Dass aber eine Macht, der die Individuen noch gehorchen, deshalb, weil sie ihr gehorchen, noch ein Staat und somit ein sittliches Universum ist, darf bezweifelt werden. Auch wenn prinzipiell kein faktisch vorfindlicher Staat beanspruchen kann, schlechthin »die Wirklichkeit der sittlichen Idee« (Rph 398) zu sein, muss er nicht doch von einer ›Räuberbande‹ 31 zuverlässig zu unterscheiden sein? Für die zuverlässige Identifizierung einer historisch vorfindlichen Macht, der die Individuen gehorchen, entweder als Staat oder als 29 Hösle (1987: 557) bleibt in seinem Urteil unklar: »Man wird Hegel auch darin folgen: Der totalen Anarchie eines Kampfes aller gegen alle dürfte selbst die degenerierteste Diktatur vorzuziehen sein. Allerdings bemerkt Hegel wohl zu wenig die antike und mittelalterliche Regel ›corruptio optimi pessima‹, nach der die Pervertierung einer affirmativen Struktur eben wegen deren Macht das Gefährlichste ist.« 30 Vgl. Rph 178 ff. (›Zwang und Verbrechen‹). Nach Theunissen (1982: 346) ist der »Verbrecher« der »erste wirkliche Mensch« innerhalb der systematischen Darstellung der Rechtsphilosophie, weil er das Recht als Recht verletzt, und das heißt: das Recht als Recht weiß. 31 Vgl. Augustinus (419: 173). In den Vorlesungen über die Philosophie der Re­ ligion besteht Hegel auf dem Unterschied von Staat und bloßer Herrschaft

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Nicht-Staat, findet sich bei Hegel kein Kriterium. Das Kriterium der Gerechtigkeit lässt Hegel nur in eingeschränktem Maße gelten. Die Gerechtigkeit der Staaten habe »in der Sphäre der bewußten Wirklichkeit ihre bestimmte Bedeutung und Wert und finde[] darin ihr Urteil«. Die Weltgeschichte liege aber außerhalb dieses Gesichtspunktes. In ihr erhalte »dasjenige notwendige Moment der Idee des Weltgeistes, welches gegenwärtig seine Stufe ist, sein absolutes Recht«. (Rph 505) Die ›Sphäre der bewußten Wirklichkeit‹ ist der je besondere Staat, der als sittliches Universum eine Existenzweise der Vernunft ist und dessen Bürger als moralische, sittliche und religiöse Wesen am Göttlichen partizipieren,32 der aber als eine historische ›Gestaltung‹ der Sittlichkeit notwendig defizient ist und dessen Bürger als ›Söhne ihrer Zeit‹ zu keinem endgültigen Urteil befugt sind. Weil ›das Wahre das Ganze ist‹ (PhG 24), kann der logische Ort der Beurteilung von Staaten nur die Weltgeschichte sein und nur der Weltgeist ein wahres Urteil über sie fällen. Die Weltgeschichte ist sein Weltgericht, und deshalb geht es in ihr – allen Katastrophen zum Trotz – vernünftig zu: »Die Weltgeschichte ist […] nicht das bloße Gericht seiner [des Weltgeistes] Macht, d.i. die abstrakte und vernunftlose Notwendigkeit eines blinden Schicksals, sondern, weil er an und für sich Vernunft […] ist, ist sie die aus dem Begriffe nur seiner Freiheit notwendige Entwicklung der Momente der Vernunft.« (Rph 504) Hegel zufolge müssen Negationen des Sittlichen als bestimmte Negationen begriffen werden. Seine Auffassung der Weltgeschichte als »Theodizee« (PhGsch 28) schließt a priori aus, dass die Sphäre der Sittlichkeit als Ganze negiert werden kann.33 Er leugnet die historischen Katastrophen nicht – die Weltgeschichte kann als eine »Schlachtbank« betrachtet werden, »auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden« –, doch hält er eine Geschichtsbetrachtung, die vom »Bilde des Besonderen zum Allgemeinen« aufsteigt, für theoretisch falsch. Die Frage, »welchem Endzwecke diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind«, ist nicht durch eine Reflexion zu beantworten, zu deren Wesen es gehört, »sich in den leeren, unfruchtbaren Erhabenheiten jenes negativen Resultats trübselig zu gefallen«. (PhGsch 35 f.) Statt von dem Besonderen der Vorstellung ist von dem Vernünftig-Allgemeinen des Begriffs auszugehen und der Unterschied von Wirklichkeit und zufälliger Existenz zu berücksichtigen. »[W]as vernünftig einer Macht über Individuen. Jener ist eine »vernünftige Totalität in sich«, diese dagegen »verdient […] den Namen Staat nicht« (PhR I 161). 32 Vgl. PhGsch 49 ff. 33 Dazu Schnädelbach (2000: 251). Das für den Begriff konstitutive Moment der absoluten Negativität erlaubt es nach Tuschling (2004: 316), »das Unrecht in all seinen Formen« bis hin »zum Holocaust [] aus dem Begriff des freien Willens abzuleiten und zu begreifen als der Freiheit, d.h. dem System der Freiheits-Bestimmungen und dem freien Willen eines jeden, immanent.«

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ist, ist wirklich und umgekehrt, aber nicht in der Einzelheit und dem Besonderen, das sich verwirren kann.« (Rph 1819/20, 8) Es fällt auf: Wenn auch der ›schlechteste Staat‹ eine Existenzweise der Vernunft ist, wenn »[g]anz ohne Identität des Begriffs und der Realität […] nichts zu bestehen« (Enz I 369) vermag, wenn keine Negation der Sittlichkeit denkbar ist, welche diese in Gänze vernichtet, wenn ein Urteil nur dem Weltgeist zusteht und der hegelsche Philosoph, in dem dieser zu einem Bewusstsein seiner selbst gelangt, auf das Erkennen dessen, was ist, festgelegt ist, dann wird der herausgestellte Unterschied von vernünftiger, notwendiger Wirklichkeit und ›vorübergehendem Dasein‹ (Rph 29) eingezogen und das Faktische erhält unmittelbar normative Dignität. Der jeweilige Staat, die jeweiligen Verhältnisse sind dann von denen, die in ihnen zu leben gezwungen sind, als in irgendeiner Weise vernünftig zu affirmieren. »Der jeweilige Staat ist eben der in der Geschichte noch nicht besser mögliche Staat und hat sein Recht. Die Antizipation des Besseren wäre subjektives Räsonieren, schon da man ja – einmal in der Gegenwart Hegels angekommen – für den Wettbewerb der Staatskonzepte nicht in systematischer Theorie sagen kann, wie die Entelechie lautet.« (Hartmann 1982: 314) Auf der Grundlage der Rechtsphilosophie könnte Hegel sein berühmtes frühes Diktum »Deutschland ist kein Staat mehr« (DVD 461) nicht mehr formulieren. Er müsste es abwandeln in: ›Deutschland ist kein wahrer Staat mehr‹. Aus der Perspektive der Rechtsphilosophie ist das frühe Urteil über das Heilige Römische Reich Deutscher Nation das eines ›Linkshegelianers‹. Hegel nimmt hier eine Position ein, die später die linken Kritiker seiner Rechtsphilosophie gegen ihn einnehmen werden.34 Hegels Pathos von der Vernünftigkeit des Wirklichen und der Versöhnung mit dem Wirklichen folgt konsequent aus dem Anspruch seiner Philosophie, Darstellung des Absoluten zu sein, das heißt die absolute Idee zu ihrem »einzige[n] Gegenstand und Inhalt« (WdL II 549) zu haben. Als Darstellung des Absoluten muss sie die Form eines logisch in sich geschlossenen Systems haben, in dem für die prinzipielle Differenz von Sein und deontologischem Sollen kein logischer Ort existiert. Diese Differenz, die nach Kant nicht aufzuheben ist, weil sie ein Charakteristikum unserer endlichen Vernunft ist, kann in der Darstellung des Absoluten nur als Moment der Subjektivität thematisch sein.35 Hegel ist deshalb aufgrund seines Begriffs der Philosophie genötigt, die praktische Philosophie »theoretizistisch« (Hösle 1987: 424) zu begreifen als die Wissenschaft, welche die vernünftigen Prinzipien der historischen, gesellschaftlichen Welt quasi aristotelisch auf den Begriff bringt, statt wie Kant aus reiner praktischer Vernunft Prinzipien abzuleiten, nach denen diese Welt sukzessiv und ins Unendliche verändert werden soll. Die Thematisierung 34 Vgl. Löwith (1941: 179 ff.); ders. (1962: 15). 35 Vgl. Rph 252 ff.

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des Sollens und Gesollten ist ihr nur noch »in der Perspektive der 3. Person« (Schnädelbach 2000: 350) möglich: als Beschreibung von Normen oder Pflichten, denen die Individuen im Staat unterliegen. Dieser affirmative, die Verhältnisse verklärende Charakter der hegelschen Philosophie lässt den jungen Marx von dem »falschen Positivismus Hegels« sprechen, der allerdings nicht auf dessen Person, sondern auf dessen »Princip« zurückzuführen sei. »Von einer Accommodation Hegels gegen Religion, Staat etc. kann also keine Rede mehr sein, da diese Lüge die Lüge seines Prinzips ist.« (ÖPM 299/58136). Ähnlich hatte sich kurz zuvor Feuerbach über das »Geheimnis« der hegelschen Philosophie geäußert: »Erst wird alles umgeworfen, aber dann wieder alles an seinen alten Platz gestellt.« (1843a: 297) Marx’ These vom affirmativen Charakter der Philosophie Hegels ist ein Topos der marxistischen und der sich von Marx herleitenden kritischen Gesellschaftstheorie geworden. Da Marx im Kapital eine »dialektische Methode« (K I² 709/27) in Anspruch nimmt, die der Hegels direkt entgegengesetzt sei, ist seine frühe These auch für das adäquate Verständnis des Kapitals relevant. Denn als direktes Gegenteil der hegelschen dialektischen Methode wird man der marxschen einen nicht-affirmativen, kritischen Charakter zuschreiben müssen (dazu mehr in: III, 5.1.).

2.3. ›Sache der Logik und Logik der Sache‹ Hat die Philosophie die absolute Idee zu ihrem einzigen Gegenstand und Inhalt, dann kann ihre Methode diesem Gegenstand und Inhalt nicht äußerlich sein. Eine solche äußerliche Methode wäre etwa die der kantischen Philosophie, die die Wirklichkeit von Erkenntnis voraussetzt, um nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit zu fragen, und die Faktizität von Moral voraussetzt, um ihr apriorisches Prinzip zu ergründen. Als »Teil« (Rph 3037) der Philosophie des Absoluten darf sich die Rechtsphilosophie nicht damit bescheiden, rekursiv die notwendigen Bedingungen des zu verwirklichenden Rechts zu entfalten,38 sie muss vielmehr 36 Noch 1870 reagiert Marx erbost auf die Akkomodationsthese, nachdem Wilhelm Liebknecht sich in diesem Sinn geäußert hatte. Er habe »ihm geschrieben, wenn er über Hegel nur den alten […] Dreck zu wiederholen wisse, so solle er doch lieber das Maul halten«. Marx an Engels, 10. Mai 1870 (MEW 32: 503). 37 Vgl. Enz I 60: »Jeder der Teile der Philosophie ist ein philosophisches Ganzes, ein sich in sich selbst schließender Kreis, aber die philosophische Idee ist darin in einer besonderen Bestimmtheit oder Elemente.« 38 Vgl. Nuzzo (1995), 105: »Da die Idee die Struktur der Absolutheit in sich aufweist, kann der Konstitutionsprozeß der Idee keineswegs mit dem Diskurs des endlichen, subjektiven Denkens […] identisch sein.«

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den zureichenden Grund des verwirklichten Rechts darstellen. Der zureichende Grund des verwirklichten Rechts ist aber die Idee des Rechts selbst, und die Methode der Darstellung ist wiederum die Idee, insofern diese nämlich qua Idee der dialektischen Methode der spekulativen Logik genügt. Die Idee des Rechts ist deshalb aus dem Begriff des Rechts immanent zu entwickeln. Diese Entwicklung ist entsprechend den methodischen Vorgaben aus der Wissenschaft der Logik ein Fortgehen zu neuen Bestimmungen und zugleich ist sie ein Rückgehen, denn die neuen Bestimmungen konkretisieren den zu Beginn notwendig abstrakten Begriff.39 Was für die Struktur der Rechtsphilosophie insgesamt gilt: dass die systematische Abfolge der Sphären des abstrakten Rechts, der Moralität und der Sittlichkeit eine fortschreitende Konkretisierung des identischen, zunächst abstrakten Begriffes ist, gilt auch für die Binnenstruktur der Sittlichkeit.40 Die systematische Abfolge der Sphären von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat bedeutet eine zunehmende Konkretisierung des zunächst abstrakten Begriffs der Sittlichkeit und bildet den ›Beweis des Begriffs des Staats‹. »Diese Entwicklung der unmittelbaren Sittlichkeit durch die Entzweiung der bürgerlichen Gesellschaft hindurch zum Staate, der als ihren wahrhaften Grund sich zeigt, und nur eine solche Entwicklung, ist der wissenschaftliche Beweis des Begriffs des Staats.« (Rph 397) Der ›Beweis‹ verdeutlicht den Anspruch der hegelschen Philosophie, realphilosophische Erkenntnis gemäß der dialektischen Methode zu generieren. Nur sofern die Philosophie des Staates dieser Methode genügt, ist sie Wissenschaft, denn das Spekulativ-Logische ist konstitutiv für die sachhaltige Erkenntnis. »Weil im Gange des wissenschaftlichen Begriffs der Staat als Resultat erscheint, indem er sich als wahrhafter Grund ergibt, so hebt jene Vermittlung und jener Schein sich ebensosehr zur Un­ mittelbarkeit auf. In der Wirklichkeit ist darum der Staat überhaupt vielmehr das Erste, innerhalb dessen sich erst die Familie zur bürgerlichen Gesellschaft ausbildet, und es ist die Idee des Staates selbst, welche sich in diese beiden Momente dirimiert.« (Rph 397 f.) Der Gang ›des Begriffs‹ ist ein Kreisgang, in welchem die Vermittlung von Grund und Begründetem absolut ist. Aus dem rekursiv erschlossenen Grund der Rechtsbestimmungen gehen diese progressiv hervor. So ist der erschlossene Grund die Voraussetzung der Voraussetzungen, aus denen er erschlossen ist. Die Idee des Staates ist ein logisch in sich subsistierender Schluss,41 in dessen 39 Vgl. Rph 83. 40 Vgl. Rph 87 f. 41 Vgl. WdL II 352: »Der Schluß ist […] der vollständig gesetzte Begriff; er ist daher das Vernünftige. […] In der Vernunft […] sind die bestimmten Begriffe in ihrer Totalität und Einheit gesetzt. Der Schluß ist daher nicht nur vernünftig, sondern alles Vernünftige ist ein Schluß.«

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Resultat die Institutionen des Rechts als Daseinsweisen des Begriffs des Rechts gerechtfertigt sind. Hegels Konstruktion des Übergangs von der bürgerlichen Gesellschaft in den Staat zeugt von der analytischen Potenz seiner Philosophie und zugleich zeigt sich in ihr die Problematik, die die Präponderanz des Spekulativ-Logischen birgt. Als ›wahrhafter Grund‹ der bürgerlichen Gesellschaft kann der Vernunftstaat nicht aus ihr abgeleitet werden. Den Staat aus der bürgerlichen Gesellschaft ableiten hieße, ihn auf seine Funktion für die bürgerliche Gesellschaft, das ›System der Atomistik‹, reduzieren. Eine solche Ableitung verfiele Hegels Kritik des ›formellen Grundes‹, denn in ihr wären die Staatsfunktionen doppelt bestimmt: als Grund des Staates und als seine Wirklichkeit respektive Wirksamkeit. Derselbe Inhalt wäre also einmal als Grund und dann als Begründetes behauptet.42 Dies wäre eine Begründung, eine Rechtfertigung des Staates wie bei den neuzeitlichen antiteleologischen Staatsvertragstheoretikern, welche die »Legitimation des Staates nie von seinen durch die Entstehungsbedingungen definierten Funktionen« (Spaemann 1984: 196) ablösen können. Hegel zufolge kann der Staat durch seine Funktionen, etwa Polizei, Rechtspflege, Korporation, nicht begriffen werden. Hegel leitet zwar die Funktionen des Staates aus der bürgerlichen Gesellschaft ab, nicht aber den Staat selbst. Der Staat selbst ist »absoluter unbewegter Selbstzweck« (Rph 399). Dass Hegel Staatsfunktionen aus der bürgerlichen Gesellschaft ableitet, bringt ihn in die Nähe zu den neuzeitlichen Staatstheoretikern, dass er den Staat selbst aber nicht aus der bürgerlichen Gesellschaft ableitet, sondern als absoluten Selbstzweck bestimmt, unterscheidet ihn von diesen und bringt ihn in die Nähe des Aristoteles – allerdings unter völlig anderen theoretischen Voraussetzungen. Nach Aristoteles sind die Einzelnen objektiv auf ein Leben im Staat hingeordnet, und die Bestimmung des Staates ist ontologisch-metaphysisch mit der Wesensbestimmung des Menschen verschränkt. Aristoteles begründet Politische Herrschaft im Rahmen einer objektiven Teleologie.43 Dagegen ist für Hobbes und Locke das Staatsganze nicht mehr objektiv vorausgesetzt als der Ort, an dem allein die Einzelnen ein ihnen als Menschen adäquates Leben führen können, sondern vorausgesetzt sind die Einzelnen selbst, und der Staat ist ein Abgeleitetes. Die Legitimation des Staates ist nicht zu trennen von den Funktionen, die ihm die Einzelnen übertragen haben. So ist bei Hobbes die Bedingung der Entstehung des Staates das Bewusstsein der Einzelnen, dass ohne Staat kein sicheres und gutes Leben möglich ist. Das ist das Bewusstsein eines Mangels, und die Errichtung des Staates erfolgt, um diesen Mangel zu beseitigen. Der Staat ist wesent42 Vgl. WdL II 96 f. 43 Vgl. Politik 1252b f.

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lich durch seine Funktion definiert, diesen Mangel des ›Naturzustandes‹ zu beseitigen. Wenn die hegelsche Begründung des Staates die theoretischen Mängel der neuzeitlichen Vertragstheoretiker vermeidet und eine Kritik dieser Theorien ermöglicht, so ist sie damit aber noch nicht selbst als sachangemessen erwiesen. Es ist deshalb zu fragen, ob der ›Beweis des Begriffs des Staats‹ ungeachtet dessen, dass er Hegel zufolge der dialektischen Methode genügt, auch der Sache, um die es geht, angemessen ist. Die Antwort auf diese Frage, die aus hegelscher Sicht freilich befremden muss, ist negativ. Der von Hegel hergestellte begriffliche Zusammenhang von bürgerlicher Gesellschaft und Staat ist sachlich falsch. Schon der junge Marx kommt zu diesem Ergebnis und sieht in Hegels Bestimmung ein Beispiel dafür, dass es ihm nicht um »die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik« (KHS 18/216) zu tun sei. Marx’ Kritik beruht freilich selber auf keinem überzeugenden Fundament.44 Sie resultiert zwangsläufig aus der Anwendung der von Ludwig Feuerbach übernommenen Methode der ›Umkehr‹ von Subjekt und Prädikat auf Hegels Argumentation. Marx übernimmt von Feuerbach eine Methode, die dem kritisierten Gegenstand äußerlich ist. Freilich verfügt Marx auch über ein Argument, das unabhängig von der ›Umkehrmethode‹ Feuerbachs ist und direkt an Hegels Argumentation anknüpft. Die Rechtsphilosophie kennt nämlich nicht nur den ›logischen‹ Übergang von der bürgerlichen Gesellschaft in den Staat, sie thematisiert auch eine der bürgerlichen Gesellschaft immanente, historisch zu konstatierende Dynamik, welche die bürgerliche Gesellschaft ›über sich hinaus‹ treibe. Hegel begreift das Über-sich-Hinaustreiben als räumliche Expansion der bürgerlichen Gesellschaft, Marx als ihre Transformation in eine andere Gesellschaft. Befindet sich die bürgerliche Gesellschaft »in ungehinderter Wirksamkeit« (Rph 389), so vermehrt sie Hegel zufolge einerseits den Reichtum, denn die gesellschaftliche Arbeitsteilung in der Produktion von Gütern für den Markt und die Vermittlung der Konsumtion von Gütern durch den Markt führt zur Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums. Ande­ rerseits führt beides dazu, dass diejenigen, die von ihrer Arbeit abhängig sind, weil sie nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben, immer mehr in Abhängigkeit und Not geraten.45 Sie werden abhängig davon, dass ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt wird, und sie geraten in 44 Vgl. Henrich (1982: 432 ), der Marx’ früher Kritik der Rechtsphilosophie zu Recht bescheinigt, dass sie Hegels »Syn-Logismus der Vermittlungen« teils »dementiert«, teils »ignoriert« und »deren Logik zu einer ganz anders gearteten Begriffsform« verschiebt. Nach Hegel sei das Verhältnis von Staat und Gesellschaft nicht als Kausalverhältnis zu denken, nach Marx schon. 45 ›Arbeit‹ und ›Arbeitskraft‹ werden von Hegel nicht unterschieden.

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FRAGEN AN HEGEL

Not, weil sie nicht zu einem Preis nachgefragt wird, der ein angemessenes Leben der Verkäufer ermöglicht. »Das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesellschaft notwendige reguliert [...], bringt die Erzeugung des Pöbels hervor.« Dabei mache die Armut an sich keinen zum Pöbel, vielmehr werde dieser »erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw. Ferner ist damit verbunden, daß der Mensch, der auf die Zufälligkeit angewiesen ist, leichtsinnig und arbeitsscheu wird.« Im Pöbel entstehe »das Böse, daß er die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch seine Arbeit zu finden, und doch seine Subsistenz zu finden als sein Recht anspricht. Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustande der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird. Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende.« (Rph 389 f.) Die bürgerliche Gesellschaft ist ein ›System der Bedürfnisse‹, in dem die Befriedigung partikularer Zwecke durch die Arbeit der Individuen für den anonymen Markt vermittelt ist, und die Bedürfnisse der Individuen sind gesellschaftlich präformiert. Diejenigen Individuen, die ihre gesellschaftlich präformierten Bedürfnisse nicht vermittels ihrer Arbeit befriedigen können, gehören demnach zur Gesellschaft und sind zugleich von ihr ausgeschlossen. Dieser Widerspruch macht sich in einer Gesinnung geltend, die das eigene Unglück denjenigen anlastet, die auf der Sonnenseite der Gesellschaft stehen, und die ›ein Recht‹ behauptet, durch eigene Arbeit in der Gesellschaft subsistieren zu können. Hegel bekennt, dass er keinen Ausweg sieht aus dem Widerspruch, den er in der bürgerlichen Gesellschaft erkannt hat. Die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach ganz unten durch entsprechende Steuergesetze sei mit dem Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und mit dem diesem Prinzip entsprechenden Ehrgefühl der Individuen, wonach die Subsistenz durch Arbeit vermittelt erhalten werden muss, unvereinbar. Die Armen in staatlich alimentierte Arbeit zu bringen, sozusagen einen ›zweiten Arbeitsmarkt‹ zu eröffnen, steigere die schon bestehende Überproduktion und vergrößere damit das Elend. Es zeige sich, »daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist […], dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern«. Hegel sieht darin eine Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft, durch welche diese über sich hinausgetrieben wird, »zunächst diese bestimmte Gesellschaft, um außer ihr in anderen Völkern, die ihr an Mitteln, woran sie Überfluß hat [...], nachstehen, Konsumenten und damit die nötigen Subsistenzmitteln zu suchen«. (Rph 390 f.) Die bürgerliche Gesellschaft, zunächst die der ökonomisch 143

EXKURS ZU HEGEL

entwickelteren Staaten, wird durch ihre eigene Dialektik ›über sich hi­ nausgetrieben‹: neue Märkte werden erschlossen, Länder kolonisiert. Dies vermag temporär für eine bestimmte Gesellschaft Entlastung bedeuten, vermag aber den der bürgerlichen Gesellschaft als solcher immanenten Widerspruch nicht aufzuheben, so Hegel. Es ist oft bemerkt worden, dass Hegel hier den späteren Marxisten Stichworte für eine Verelendungs- und Imperialismustheorie liefert. Der junge Marx begreift das Über-sich-Hinaustreiben der bürgerlichen Gesellschaft als ihre wesentliche Transformierung. Danach hat Hegel eine historisch zu konstatierende Dialektik ausgemacht, die nur durch die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft überwunden werden kann. Der politischen Revolution, die historisch die bürgerliche Gesellschaft hervorbrachte, muss demnach eine ›menschliche Emanzipation‹ folgen. Deren Subjekt nennt Marx ›Proletariat‹, lange bevor er durch seine Untersuchung der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise dessen Begriff gewonnen hat.46

46 Vgl. KHRE, ZJF.

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III. MARX Freiheit im emphatischen Sinne, so hat sich gezeigt, basiert für Kant wie für Hegel darauf, dass eine nicht bloß menschliche reine Vernunft zum alleinigen Bestimmungsgrund des Willens taugt und insofern selbst Wille – reiner Wille – ist. Freiheit besteht in der Selbstgesetzgebung bzw. Selbstbestimmung der Vernunft, die insofern reine Vernunft ist, als »sie bloß sich selbst« (KpV A 38) voraussetzt. Für Kant ist diese Vernunft ein Vermögen des empirischen Subjekts, dessen Wille von Hause aus kein reiner Wille ist, sondern die ›pathologisch‹ affizierte freie Willkür. Das empirische Subjekt erfährt die Wirklichkeit seiner Freiheit in Gestalt der Tatsache seiner moralischen Nötigung. Seine Freiheit ist moralische Freiheit. Deren Wirklichkeit als Vermögen ist ihm zwar apodiktisch gewiss, die etwaige Aktualisierung dieses Vermögens ist aber nicht zweifelsfrei zu eruieren. Die Wirklichkeit moralischer Freiheit lässt sich in Raum und Zeit nicht dingfest machen. Praktische Philosophie zielt auf Gesetze »von dem, was geschehen soll, ob es gleich niemals geschieht, d.i. objektiv-praktische Gesetze« (GMS B 62), und die geschichtsphilosophischen Versuche Kants sind ihr nachgeordnet. Indem Kant Freiheit nur als moralische gelten lässt, verstellt er sich die Möglichkeit, über die Objektivierung von Freiheit in der Geschichte zu handeln. Für Hegel ist die Freiheit nicht nur moralische Freiheit, deren Wirklichkeit als Vermögen des empirischen Subjekts apodiktisch gewiss ist, vielmehr hat Freiheit ein Dasein im Recht, welches neben dem Recht im engeren Sinne auch Moralität und Sittlichkeit umfasst. Der sich als frei wissende und seine Freiheit im Recht verwirklichende Wille ist objektiver Geist und die Sphäre des Rechts das Reich der historisch verwirklichten Freiheit. Die Verwirklichung der Freiheit bildet den Prozess der Weltgeschichte, der in den modernen Staat terminiert. Für Kant wie für Hegel ist die Wirklichkeit von Freiheit ontologisch garantiert. Dabei bedeutet ›ontologisch‹ allerdings jeweils Verschiedenes. Kant zufolge wird das Individuum im Bewusstsein des unbedingten Sollens der Wirklichkeit seiner Freiheit als eines Vermögens inne und gewinnt derart ein Wissen von seinem wahren Selbst. Dieses Wissen ist freilich nur ein praktisches und keine theoretische Erkenntnis. Hegel zufolge ist die Freiheit des Willens eine Weise des Daseins der absoluten Idee. Und sowohl Kant wie auch Hegel begreifen Geschichte »als zweckmäßige Entwicklung zur vernünftigen Rechtsordnung« (Siep 1995, 364), wobei für die Darstellung dieser Entwicklung in den explizit geschichtsphilosophischen Schriften die 145

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Fortschritte von Wissenschaft, Technik und Ökonomie nicht kon­ stitutiv sind.1 Im Kapital scheint das philosophisch zentrale Thema der Freiheit des Willens bzw. der Autonomie der Vernunft keine große Rolle zu spielen. Wenn Marx Freiheit explizit thematisiert, so fast nur in Formen, in denen sie Gegenstand seiner Kritik oder Ironie ist: Freiheit als die bürgerliche Ideologie vom freien Willen »rechtlich ebenbürtige[r] Personen« (K I² 191/190)2, als die »des Kapitals in Aussaugung der erwachsnen Arbeitskraft« (K I² 281/295) oder als die des »hegel’schen ›Begriff‹« (K I² 129/118). Auch seine Beobachtung, wonach die kapitalistische Umwandlung der unmittelbaren Produktionsprozesse zur ›Unterdrückung der individuellen Lebendigkeit, Freiheit‹ der Arbeiter führe, ist nicht geeignet, Aufschluss zu geben über den der Kapitalkritik möglicherweise zu Grunde liegenden Freiheitsbegriff. Marx meint offenbar, die Kritik der politischen Ökonomie bedürfe keiner ausdrücklichen Erörterung des Freiheitsbegriffs. Das scheint auch nicht weiter verwunderlich. Gegenstand des Kapitals ist die kapitalistische Produktionsweise und deren Theorie, die Politische Ökonomie. In seinem Zentrum stehen daher ökonomische Bestimmungen wie ›Wert‹ und ›Mehrwert‹, ›Produktion‹, ›Konsumtion‹ und ›Akkumulation‹, nicht aber die traditionellen philosophischen Begriffe ›Vernunft‹ und ›Willensfreiheit‹. Zudem scheint der materialistische Charakter der Kapitaltheorie ohnehin unvereinbar mit philosophischen ›Spekulationen‹ über Freiheit und Vernunft. Freilich steckt hier ein Problem: Marx betont zwar den materialistischen Charakter seiner Wissenschaft in einer Vielzahl von Formulierungen, bei näherem Hinsehen wird aber deutlich, dass diese auf durchaus verschiedene und nicht einfach miteinander kompatible ›Materialismen‹ verweisen. Marx’ berühmtes Wort, er habe im Kapital »hier und da« mit Hegels Ausdrucksweise »kokettirt« (K I² 709/27), lässt sich demnach abwandeln. Denn nur die »Ausdrucksweise« genommen und noch nicht nach ihrer Sachhaltigkeit gefragt, muss gesagt werden, dass Marx nicht nur mit der Sprache Hegels, sondern auch mit der Feuerbachs, Darwins, ja sogar mit der Ludwig Büchners, Jakob Moleschotts und Karl Vogts gelegentlich kokettiert. Wie für jeden anderen Philosophen oder Theoretiker gilt für Marx, dass er auch ein Kind seiner Zeit ist. Die Grundtendenz in seiner Zeit ist aber die materialistische Perspektive auf die Welt. Die materialistische Anthropologie Feuerbachs, die zunächst die Theologie, dann die ›neuere Philosophie‹ entzaubern möchte, ist von dem naturwissenschaftlichen Materialismus Büchners et al. unterschieden, beide stehen aber zumindest bis zur Jahrhundertmitte in engem Kontakt. Und in den 1860er Jahren ist für den wissenschaftsorientierten Materialismus ein sich 1 Vgl. Rohbeck (2000: 77; 97). 2 Vgl. K I² 502/562; ebd. 99 f. Anm. 24/82 Anm. 24.

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von Darwins Lehre herleitendes Menschenbild konstitutiv. Es setzt eine Tendenz ein, unter der ›Natur des Menschen‹ nicht mehr mit Feuerbach dessen Wesen zu verstehen, sondern seine mit den Mitteln der empirischen Naturwissenschaft fassbare Natur. »Nur die Naturwissenschaften können die Welt befreien«, schreibt Roland Daniels 1851 an seinen Freund Karl Marx (MEGA III/4: 363).3 Die naheliegende Erklärung für das marxsche ›Kokettieren‹ mit materialistischen Ausdrucksweisen verschiedener Provenienz, er gebe sich damit als Kind seiner Zeit zu erkennen, ist sicher richtig, allerdings ist mit ihr in der Sache selbst noch gar nichts entschieden.4 Unter dem Gesichtspunkt einer immanenten Kritik des Kapitals sind drei Passagen von besonderem Interesse. Sie ragen aus der dominierenden Ignorierung oder Ironisierung des Freiheitsthemas heraus. Zunächst die Stelle im ersten Kapitel des ersten Bandes, in welcher der Ausdruck ›Verein freier Menschen‹ eine Gesellschaft bezeichnet, in der die Individuen »mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben«. (K I² 109/92) Frei sind die Menschen in dieser Gesellschaft, weil zwischen ihnen keine persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse bestehen und die arbeitsteilige gesellschaftliche Produktion und Distribution der Produktions- und Lebensmittel nicht ›naturwüchsig‹, sondern ›planmäßig‹ erfolgt. Zweitens die Passage am Ende des dritten Bandes mit der berühmten Formel von der materiellen gesellschaftlichen Reproduktion als dem »Reich der Nothwendigkeit«, das die Grundlage bilden könne für »das wahre Reich der Freiheit«, in dem »die menschliche Kraftentwicklung […] sich als Selbstzweck gilt« (K III 838/828). Mit dem Begriffspaar Notwendigkeit und Freiheit und dem Terminus des Selbstzwecks scheint sich Marx wieder auf philosophischem Gebiet zu bewegen und einen Freiheitsbegriff anzudeuten, der auf die klassische deutsche Philosophie verweist. Allein die Wortwahl lässt an die Antinomie von Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit in Kants erster Kritik und an seine Lehre von der Selbstzwecklichkeit des Menschen denken und erinnert an Schillers Unterscheidung zwischen »dem furchtbaren Reich der Kräfte« und dem »fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins« (F. Schiller 1795: 667). Zu nennen ist drittens eine Passage aus dem Kapitel über den Arbeitsprozess, in der es heißt, die Aufmerksamkeit des Arbeiters sei für die ganze Dauer der Arbeit »um so mehr« erheischt, »je weniger sie durch den eignen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit 3 Zum Verhältnis Marx/Daniels vgl. Mocek (2002: 156 ff.). 4 »Vielleicht«, so Lefèvre (2000: 187), zeigen manche marxschen Formulierungen »nicht mehr, als daß Marx, ungeachtet seiner Theorie, vom Fortschrittsglauben seiner Zeit ebenso tief geprägt war wie, ebenfalls ungeachtet seiner Theorie, Darwin.« Vgl. Sandkühler (1997).

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sich fortreißt, je weniger er sie daher als Spiel seiner eignen körperlichen und geistigen Kräfte genießt« (K I² 193/193). Marx zitiert hier beinahe wörtlich Schiller: »Der höchste Genuß aber ist die Freiheit des Gemütes in dem lebendigen Spiel aller seine Kräfte.« (Schiller 1803: 816) Schiller spricht von dem ästhetischen Genuss der Kunst, in welchem sich der Mensch als ein »in sich selbst vollendete[s] Ganze[s]« (Schiller 1795: 623) erfährt. Marx spricht nicht von ästhetischem Genuss, sondern unterscheidet Tätigkeiten des Arbeiters, die eine hohe Aufmerksamkeit erheischen, von solchen, die weniger Aufmerksamkeit erfordern. Dabei zeigt das ›um so mehr, je weniger‹ an, dass der Unterschied zwischen diesen Tätigkeiten ein gradueller innerhalb der Arbeit ist, nicht aber ein prinzipieller zwischen zwei verschiedenen Arten von Tätigkeiten.5 Es liegt nahe, die Arbeit, die der Arbeiter ›als Spiel seiner eignen körperlichen und geistigen Kräfte genießt‹, mit ›der menschlichen Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt‹, zu identifizieren. Dann wäre allerdings der Unterschied zwischen dem Reich der Notwendigkeit und dem der Freiheit nur ein gradueller.6 Der von Marx zumindest angedeutete eminente Unterschied zwischen naturnotwendiger Arbeit und selbstzweckhafter Kraftentwicklung wäre damit eingezogen. Für eine solche Interpretation spricht allerdings, dass Marx selbst den angedeuteten eminenten Unterschied in der Kritik des Gothaer Programms einzieht, wenn er über eine »höhere[] Phase der kommunistischen Gesellschaft« schreibt, in ihr werde »die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfniss« (KGP 15/21) sein. Diese Bestimmung lässt sich als ein Wiederanknüpfen an den Arbeitsbegriff der Ökonomisch-Philo­ sophischen Manuskripte interpretieren – als Charakterisierung der Utopie nicht-entfremdeter Arbeit.7 Manche Interpreten schließen daraus, der in der Formel von Notwendigkeit und Freiheit angedeutete eminente Unterschied zwischen naturnotwendiger Arbeit und selbstzweckhafter Tätigkeit sei zu vernachlässigen. Maßgebend sei der Arbeitsbegriff, den Marx in den Manuskripten unter dem starken Einfluss der materialistischen Anthropologie Ludwig Feuerbachs entwickelt habe. Nun ist es kein Zufall, dass jede der drei genannten Passagen auf den utopischen Gehalt der Kapitaltheorie deutet. Der ›Verein freier Menschen‹, das vom ›Reich der Notwendigkeit‹ unterschiedene ›wahre 5 So aber Lohmann (1991: 113). 6 Sayers (2006: 266): »In short, freedom is a matter of degree. It ranges all the way from the unfreedom of instinctive and purely natural (›animal‹) acti­vity, through different kinds of labour more or less immediately determined by need, up to the truly free activitiy of artistic creation.« 7 »Meine Arbeit wäre freie Lebensäusserung, daher Genuß des Lebens. Unter der Voraussetzung des Privateigenthums ist sie Lebensentäusserung, denn ich arbeite, um zu leben, um mir ein Mittel des Lebens zu verschaffen. Mein Arbeiten ist nicht Leben.« (ÖPM 466/463).

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Reich der Freiheit‹ und die Arbeit als ›genussvolles Spiel der eignen körperlichen und geistigen Kräfte‹ haben in der kapitalistischen Wirklichkeit keinen Ort. Sie weisen über diese hinaus auf eine »höhere[] Gesellschaftsform«. Ohne die Idee der realen Möglichkeit dieser höheren Gesellschaftsform, »deren Grundprincip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist« (K I² 543/618), wäre die Theorie der kapitalistischen Produktionsweise nicht zugleich deren Kritik. Dem ersten Blick entgegen ist der Begriff der Freiheit für das Kapital demnach konstitutiv – in Frage steht allerdings, welcher Begriff der Freiheit? Und in welcher Weise ist er konstitutiv? Der emphatische Freiheitsbegriff Kants oder Hegels scheint von vornherein als unvereinbar mit dem marxschen Materialismus. Als unproblematisch könnte dagegen der naturalistische Freiheitsbegriff Feuerbachs erscheinen, zumal gezeigt werden kann, dass sich Marx nicht nur in seinen Frühschriften darauf affirmativ bezieht. In den folgenden Abschnitten wird allerdings anders argumentiert. Die zu erhärtende These lautet: Für die Kapitaltheorie als Kapitalkritik ist Kants emphatischer Begriff der Freiheit des Willens konstitutiv. Darüber hinaus ist zu zeigen, dass und inwiefern das Hauptwerk des selbst erklärten Materialisten und Nicht-Philosophen Marx in vielfacher Weise durch die Philosophie insbesondere Feuerbachs und Hegels geprägt ist, ohne dass Marx davon ein adäquates Bewusstsein hat. Zumal sein Verhältnis zur hegelschen Philosophie ist durch die selbst gewählte Metapher des materialistischen ›Umstülpens‹ der idealistischen Dialektik nicht annähernd bezeichnet. Überhaupt sind Marx’ Selbsteinschätzungen nicht geeignet, die argumentative Abhängigkeit des Kapitals von der Philosophie aufzuklären. Auch der Rekurs auf seine intellektuelle Biographie oder auf die Geschichte der Herausbildung des Marxismus als Weltanschauung der Arbeiterbewegung führen hier nicht weiter. Fragen der Geltung sind nicht durch Verweis auf die Genese zu beantworten, und die marxsche Kapitalkritik ist nicht mit dem Marxismus zu verwechseln.

1. Über einige Selbstmissverständnisse der ›materialistischen‹ Wissenschaft Im Kapital thematisiert Marx Freiheit implizit zunächst als die Freiheit der Menschen von unmittelbarem Naturzwang, wenn er die allgemeinen, von besonderen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen abstrahierenden Bestimmungen des Arbeitsprozesses entwickelt: die Arbeit selbst, den Arbeitsgegenstand und das Arbeitsmittel. Arbeit ist demnach die zweckmäßige Verausgabung von Arbeitskraft und als »Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse« eine »ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens« (K I² 199/198). Seine bedürftige Physis macht 149

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den Menschen abhängig von der Natur außer ihm, sein Intellekt versetzt ihn in die Lage, diese Natur praktisch für seine Zwecke zu nutzen. Arbeitend tritt der Mensch dem Naturstoff selbst als eine »Naturmacht« gegenüber, wirkt gegenständlich auf ihn ein. Als geistiges und natürliches Wesen bewirkt er durch seine Arbeit nicht nur eine Formveränderung im Natürlichen, sondern verwirklicht darin »zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Thuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß«; und indem er die Natur außer ihm zweckmäßig verändert, »verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit.« Durch seine Arbeit befreit sich der Mensch von unmittelbarer Naturabhängigkeit, kultiviert die äußere wie eigene Natur. Die kulturschöpferische Qualität der Arbeit wird besonders deutlich bei der Betrachtung des Arbeitsmittels, das »ein Ding oder ein Komplex von Dingen [ist], die der Arbeiter zwischen sich und den Arbeitsgegenstand schiebt«. Indem der Arbeiter seinen Zweck nicht unmittelbar im Naturstoff verwirklicht, sondern vermittelt durch das Arbeitsmittel, »benutzt er die mechanischen, physischen, chemischen Eigenschaften der Dinge, um sie als Machtmittel auf andre Dinge, seinem Zweck gemäß, wirken zu lassen«. (K I² 192 ff./192 ff.) Marx’ Charakterisierung des selbst produzierten Arbeitsmittels, des Werkzeugs, ist deutlich an Bestimmungen Hegels orientiert und zugleich erkennbar bemüht, deren philosophischen, spekulativen Gehalt nicht zu affirmieren, wenn sie, wo Hegel von ›der‹ Vernunft und ›ihrem‹ Zweck, nur vom Menschen und seinem Zweck spricht. Marx verweist auf Hegels Wort von der »List der Vernunft«, »welche, indem sie die Objekte ihrer eigenen Natur gemäß aufeinander einwirken und sich an einander abarbeiten läßt, ohne sich unmittelbar in diesen Proceß einzumischen, gleichwohl nur ihren Zweck zur Ausführung bringt« ( K I² 194 Anm. 2/194 Anm. 2).8 Nach Hegel ist der endliche Zweck aufgrund seines endlichen Inhalts nicht ein »Absolutes« oder »schlechthin an und für sich […] Vernünftiges«, sondern nur der ideelle Ausdruck eines besonderen und vergänglichen Bedürfnisses. Die »Vernünftigkeit«, die der Realisierung endlicher Zwecke in der Natur eignet, zeigt sich »als solche« daher nicht am Zweck selbst, sondern am Werkzeug, das sich in seinem Gebrauch erhält. Es ist »allgemeiner« als der Zweck, da es verschiedene Zwecke realisieren und neue Bedürfnisse und Zwecksetzungen hervorrufen kann.9 Der »Pflug ist ehrenvoller, als unmittelbar die Genüsse sind, welche durch ihn bereitet werden und die Zwecke sind.« (WdL II 453) 8 Vgl. Hegel Enz I 365; WdL II 452. 9 Vgl. Rohbeck (1993: 114), dem zufolge Hegels Ausführungen den Einfluss der Aufklärung, namentlich der Dokumentation und Bewertung der Werkzeuge etwa in der Enzyklopädie, schlagend beweisen.

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Ehre, dem Ehre gebührt. Auch Marx spricht dem Werkzeug einen zentralen Stellenwert zu, wenn er den »Gebrauch und die Schöpfung von Arbeitsmitteln« als charakteristisch für den spezifisch menschlichen Arbeitsprozess erklärt. Ohne ironische Färbung zitiert er Benjamin Franklins Definition des Menschen als »toolmaking animal«10 und bestimmt die Arbeitsmittel als »Gradmesser« des Entwicklungsstands der menschlichen Arbeitskraft, als »Anzeiger« der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen gearbeitet wird, und als Unterscheidungskriterium der verschiedenen »ökonomischen Epochen«. (K I² 194/194 f.) Prima vista scheint die unterschiedliche Art, in der Hegel und Marx die zentrale Bedeutung des Werkzeugs für die Arbeit beschreiben, ein gutes Beispiel dafür zu sein, wie dieser die Einsichten des Idealisten materialistisch wendet.11 Nach Hegel unterscheidet sich der Mensch vom Tier durch das Denken – dadurch, »daß er sich als Ich weiß« (Enz I 204).12 Als Ich (großgeschrieben!) ist er unendliche, negative Beziehung auf sich oder absolute Negativität. So ist er gegen alle Bestimmtheit bestimmt und diesseits aller Einteilungen nach dem Schema von Gattung und spezifischer Differenz verortet. Als denkende Subjektivität ist der Mensch nicht auf seine biologische Artzugehörigkeit zu reduzieren und durch die Beziehung auf die Gattung Sinnenwesen mit Tieren zu vergleichen.13 Als Ich ist er somit unvergleichbar und daher kein Bestandteil des Objektbereichs der Einzelwissenschaften. Anders bei Marx, der den Menschen nicht als Ich, sondern als gegenständlich tätiges Wesen fasst.14 Dabei ist die gegenständliche Tätigkeit das Merkmal, das er mit den Tieren gemeinsam hat, während ihn das Merkmal der Werkzeugfa10 Franklins Definition, heißt es später, sei »für das Yankeethum« so charakteristisch wie Aristoteles’ Definition des Menschen als ein wenn nicht »politisches, jedenfalls gesellschaftliches Thier« für das »klassische Alterthum« (K I² 324/346). Nach Marx haben beide durchaus etwas Richtiges am Menschen getroffen. Zu Aristoteles EKPÖ 22/20. 11 So bspw. A. Schmidt (1962). 12 Vgl. Enz I 41 f.; 82; Rph 46. 13 »Aber der Mensch, insofern das Prädicat der Freiheit von ihm gelten kann, d.i. insofern er absolut und nicht vorgestelltes noch vorstellbares Subject ist, hat mit den Naturwesen gar nichts gemein, und ist ihnen also auch nicht entgegengesetzt.« (Fichte 1794: 117) Vgl. Kants Notiz aus der Mitte der siebziger Jahre: »(Ob es so schweer sey, sich selbst zu erkennen. Nein! Aber den Menschen zu erkennen, weil man ihn mit nichts anderem vergleichen kan, ist schwer.) (transcendentale Kentnis.)« (NAnth: 661). 14 Vgl. DI 8/21: »Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Thieren unterscheiden. Sie selbst fangen an sich von den Thieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen ihre Lebensmittel zu produziren, ein Schritt der durch ihre körperliche

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brikation von ihnen unterscheidet. Der Mensch fällt insofern nicht aus dem Objektbereich der Wissenschaften heraus. Das scheint durchaus plausibel, deckt es sich doch mit der Vorstellung, die spezifisch menschliche Arbeit und mit ihr der Mensch selbst sei im Zuge der Evolution aus »ersten thierartig instinktmäßigen Formen der Arbeit« entstanden. Als toolmaking animal ist der Mensch von anderen Sinnenwesen nicht absolut, sondern nur graduell unterschieden. Das Merkmal, das ihn vor diesen auszeichnet, ist »im Keim schon gewissen Thierarten eigen«. (K I² 192 ff./192 ff.) Marx’ materialistische Wendung hegelscher Bestimmungen zeigt sich weiter daran, dass er mit Hegel Arbeit als Realisierung eines telos bestimmt, gegen Hegel aber nicht darin aufgehen lässt. Marx zufolge bedarf das Vermögen der Arbeitskraft zu seiner Aktualisierung auf Seiten des Subjekts eines Zweckbegriffs, der das Resultat der Arbeit antizipiert, und es bedarf eines materiellen Substrats, »das ohne Zuthun des Menschen von Natur vorhanden ist«. Dieses Substrat ist durch Arbeit formbar, weil es unabhängig von ihr bereits geformt ist. Arbeit ist keine creatio ex nihilo. »Der Mensch kann in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d.h. nur die Formen der Stoffe ändern«, wobei er beständig von Naturkräften unterstützt wird. (K I² 76/57) Diese Bestimmungen der Arbeit decken sich noch mit Hegels Befund. »Praktisch verhält sich der Mensch zu der Natur als zu einem Unmittelbaren und Äußerlichen selbst als ein unmittelbar äußerliches und damit sinnliches Individuum, das sich aber auch so mit Recht als Zweck gegen die Naturgegenstände benimmt.« (Enz II 13) Auch nach Hegel ist der Mensch durch physische Not gezwungen, sich die Natur außer ihm arbeitend anzueignen und dabei auf ein bereits geformtes Substrat der Arbeit angewiesen: »Immer aber ist die Materie nicht ohne wesentliche Form, und nur durch diese ist sie etwas. Je mehr ich mir diese Form aneigne, desto mehr komme ich auch in den wirklichen Besitz der Sache.« (Rph 116 Anm.)15 Marx und Hegel stimmen darin überein, dass der Mensch durch die Erfordernisse seiner physischen Selbsterhaltung zur Arbeit genötigt ist und dass seine Arbeit als notwendig partikulare Tätigkeit ebenso notwendig naturbedingt ist. Durch Arbeit kann der Mensch dem Naturzusammenhang nicht gänzlich entkommen. Dass sich beide Arbeitsbegriffe dennoch wesentlich voneinander unterscheiden, ist darin begründet, dass Marx Hegels Begriff der Natur nicht teilt. (Dass Marx selbst keinen eigenen konsistenten Begriff der Natur besitzt, wird später deutlich werden.) Nach Hegel ist die Natur wie der Geist eine Daseinsweise der absoluten Idee, und zwar derart, Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produziren, produziren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.« 15 Vgl. A. Schmidt (1962: 121 f.).

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dass die Idee sich diese Daseinsweise selbst gibt. Es ist die Idee, die sich in die Natur entäußert und aus der Natur als Geist in sich zurückkehrt. Die Natur ist die bestimmte Negation der Idee, »die Idee in der Form des Andersseins« (Enz II 24). Negiert ist in ihr nicht das Logische schlechthin, sondern die Seinsweise der Idee als ideelle Einheit. Ihre Grundbestimmung ist daher die Äußerlichkeit, das reelle Außereinander in Raum und Zeit, welches aber auf die Idee und mithin auf das Logische bezogen ist. Die Natur ist somit der Widerspruch von reellem Außereinander und ideeller Einheit, welcher in der begrifflichen Entwicklung der Natur seine Verlaufsform hat und durch den Übergang der Natur in Geist aufgehoben wird. Im Geist ist die Idee, die an sich in der Natur wirkt, für sich geworden. Hegels Naturbegriff ist mit dem Gedanken einer ontologisch-metaphysischen Ansichbestimmtheit der Natur unvereinbar. Das hat Konsequenzen für den Begriff der Arbeit als der zweckrationalen, gegenständlichen Tätigkeit empirischer Subjekte.16 Weil die Natur an sich Idee ist, kann Hegel die geistige Seite der Arbeit, die ideelle Antizipation in der Zweckbestimmung, zu ihrem Wesen erklären, ohne ihre Naturbedingtheit leugnen zu müssen. Arbeit ist derart wesentlich Realisierung eines subjektiven Zwecks, welcher in dieser Realisierung nur mit sich selbst zusammengeht. Der Phänomenologie zufolge enthält der realisierte Zweck nichts, was nicht im subjektiven Zweck gesetzt ist. »Das Tun ist nämlich nur reines Übersetzen aus der Form des noch nicht dargestellten in die des dargestellten Seins; das Ansichsein jener dem Bewußtsein entgegengesetzten Wirklichkeit ist zum bloßen leeren Scheine herabgesunken.« (PhG 296) Die gegenständlichen Bedingungen der Arbeit, der Arbeitsgegenstand und das Arbeitsmittel, sind derart zu bloßen Momenten der Zweckrealisierung herabgesetzt. Durch die Hypostasierung der geistigen Seite der Arbeit fügt sich deren Begriff der idealistischen Dialektik von Setzung und Voraussetzung, nach der sich das Vorausgesetzte als Gesetztes erweist. Deutlich wird dies nicht nur in der Philosophie des subjektiven und objektiven Geistes, sondern auch in der Wissenschaft der Logik, die, merkwürdig genug, das geistphilosophische Thema der Arbeit im Teleologie-Kapitel behandelt.17 Hegel bestimmt hier den teleologischen Prozess als »Übersetzung des distinkt als Begriff existierenden Begriffs in die Objektivität«, wobei »dieses Übersetzen in ein vorausgesetztes Anderes« nur »das Zusammengehen des Begriffes durch sich selbst mit sich selbst ist« (WdL II 454). Was dem Zweck als Äußerlichkeit, als Natur oder Objekt vorausgesetzt erscheint, kann gegen den Zweck keinen selbständigen ontologisch-metaphysischen Rang beanspruchen, denn es ist ohne Beziehung auf den Zweck eine leere Abs­ traktion wie das kantische ›Ding an sich‹. Weil die Äußerlichkeit mit 16 Zum Folgenden Rohbeck (1993: 116 ff.). 17 Vgl. Hösle (1987: 248 ff.).

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dem Zweck gesetzt ist, ist sie nach Hegel auch durch ihn gesetzt. Die reale Verschiedenheit von Zweck und Äußerlichkeit erweist sich damit als Schein, das Vorausgesetzte als ein Gesetztes. »Die gegen den Begriff selbständige Äußerlichkeit des Objekts, welche der Zweck sich voraussetzt, ist in dieser Voraussetzung als ein unwesentlicher Schein gesetzt und auch an und für sich schon aufgehoben; die Tätigkeit des Zwecks ist daher eigentlich nur Darstellung dieses Scheins und Aufheben desselben.« (WdL II 458) Hegel zufolge hat die Betrachtung der Natur als je schon geformte Materie und Mittel für einen außer ihr liegenden endlichen Zweck ihre relative Berechtigung, wenn es darum geht, das Subjekt der Arbeit »unmittelbar« als bedürftiges Individuum zu fassen, das die von ihm vorgefundene Natur außer ihm zu seinem Nutzen verwendet. Solche Betrachtung zeigt, dass der Mensch als Subjekt der Arbeit dem Zusammenhang der Naturgegenstände und damit der Sphäre der Endlichkeit nicht entkommen kann. Allerdings bleibt solche Betrachtung auch selbst der Endlichkeit – dem »endlich-teleologischen Standpunkt« – verhaftet und ist daher untauglich, das Zweckverhältnis zu begreifen. Zu begreifen ist dies nur durch »die Betrachtungsweise des Begriffs, der seiner Natur nach überhaupt und damit der Natur als solcher immanent ist« (Enz II 13). Weil der Begriff als übergreifendes Subjekt18 die Möglichkeit der Realisierung subjektiver Zweckbegriffe ontologisch garantiert, ist der Natur keine Ansichbestimmtheit zuzusprechen, die nicht in der Funktion ihrer Bestimmbarkeit aufgeht. Den Einwand, die Entäußerung von Subjektivität in einem an sich bestimmungslosen Material reduziere diese auf die Selbstbestimmung absoluter Subjektivität, deren Begriff den Unterschied von Möglichkeit und Wirklichkeit nicht kenne; die Kritik, die Absolutsetzung von Subjektivität sei nicht vereinbar mit der Praxis menschlicher Arbeit in Wissenschaft und materieller Produktion, welche zeige: Experimente können schiefgehen, die zweckmäßige Verausgabung von Arbeitskraft kann misslingen, kann Hegel parieren mit dem Hinweis, er leugne gar nicht die äußerliche Bestimmbarkeit und das Zufällige in der Natur, bestreite aber, dass beides als indirekte Anzeige der ontologisch-metaphysischen Selbständigkeit der Natur gegenüber der erkennenden Subjektivität zu interpretieren sei, als Hinweis darauf, dass die Natur eben nicht restlos in Geist aufzulösen sei. Was derart als Index für die Endlichkeit menschlicher Subjektivität genommen wird, ist Hegel zufolge allein der Defizienz der Natur geschuldet. »Das unmittelbar Konkrete nämlich ist eine Menge von Eigenschaften, die außereinander 18 »Der Gegenstand, die objektive und subjektive Welt überhaupt sollen mit der Idee nicht bloß kongruieren, sondern sie sind selbst die Kongruenz des Begriffs und der Realität; diejenige Realität, welche dem Begriffe nicht entspricht, ist bloße Erscheinung, das […] Zufällige.« (Hegel, WdL II 464).

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und mehr oder weniger gleichgültig gegeneinander sind, gegen die eben darum die einfache für sich seiende Subjektivität ebenfalls gleichgültig ist und sie äußerlicher, somit zufälliger Bestimmung überläßt. Es ist die Ohnmacht der Natur, die Begriffsbestimmungen nur abstrakt zu erhalten und die Ausführung des Besonderen äußerer Bestimmbarkeit auszusetzen.« (Enz II 34). Dass das Zufällige in der Natur und die äußerliche Bestimmbarkeit konkreter Naturdinge die ›Ohnmacht der Natur‹ dokumentieren, ergibt sich allein aus der Perspektive ›des Begriffs‹ als übergreifenden Subjekts. Wird diese Perspektive absoluter Subjektivität nicht eingenommen – und Marx bestreitet, dass sie eingenommen werden kann –, erscheint das Wort von der Ohnmacht der Natur als Ausdruck eines typisch idealistischen quidproquo, das nur umgekehrt werden muss, um den wahren Sachverhalt zu zeigen. Die vermeintliche Ohnmacht der Natur erweist sich dann als die Ohnmacht des menschlichen Geistes, der sich bloß theoretisch, bloß kontemplativ auf die von ihm unabhängige Natur bezieht und daher zu ihr nur in ein äußerliches Verhältnis tritt.19 Seine Ohnmacht kann dieser Geist nur abstreifen, wenn er sich der Natur gegenüber nicht nur theoretisch, sondern zugleich auch praktisch verhält und als der Geist gegenständlicher Subjekte gegenständlich auf die Natur einwirkt. Für einen solchen Geist ist die Natur eine unaufhebbare Voraussetzung seiner selbst.20 Marx teilt nicht Hegels Naturbegriff, daher auch nicht dessen Begriff der Arbeit. »Bloß der Hegel’sche ›Begriff‹ bringt es fertig, sich ohne äußern Stoff zu objektiviren«, heißt es in der ersten Auflage des Kapitals (K I131).21 Die ironische Anmerkung richtet sich gegen Hegels Fassung ›des Begriffs‹ als übergreifendes Subjekt und seine Hypostasierung der geistigen Seite der Arbeit, welche die konkrete Arbeit zur Erscheinungsform der abstrakten Arbeit des Geistes verkehrt. Marx’ materialistische Wendung hegelscher Bestimmungen wirft die Frage auf, auf welcher theoretischen Grundlage sie stattfindet und inwiefern hinsichtlich des derart gewonnenen Begriffs der Arbeit überhaupt von Freiheit gesprochen werden kann. Zunächst ist klar, dass von Freiheit in dem emphatischen Sinne Kants oder Hegels, von Freiheit als 19 Vgl. Bulthaup (1975: 141). 20 Vgl. Feuerbach (1842: 238): »Die Hegelsche Philosophie kann schon deshalb nicht festgehalten werden, weil die verzwickte, untergeordnete, unnatürliche Stellung der Natur in ihr ganz der Bedeutung widerspricht, welche immer mehr im Leben und in der Wissenschaft die Natur gewinnt. Die wahre Stellung der Natur finden wir aber nur, wenn wir an die Stelle des abstrakten Spektrums des ›Weltgeistes‹ den lebendigen Menschengeist setzen.« 21 Vgl. Enz I 351: »Der Begriff, welcher zunächst nur subjektiv ist, schreitet, ohne daß er dazu eines äußeren Materials oder Stoffs bedarf, seiner eigenen Tätigkeit gemäß dazu fort, sich zu objektivieren.«

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Selbstgesetzgebung bzw. Selbstbestimmung der Vernunft, die insofern reine Vernunft ist, als ›sie bloß sich selbst‹ voraussetzt, keine Rede sein kann. Dass von Freiheit überhaupt gesprochen werden kann, liegt allein darin begründet, dass Arbeit als Realisierung eines antizipierten telos die Aktualisierung eines Vermögens ist, welches »den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet« (K I² 193/193). Konstitutiv für die Arbeit des Baumeisters ist eine Idee, eine geistige Vorstellung: der Zweckbegriff. Seine Arbeit ist daher durch Bewusstsein und freie Willkür vermittelt. Insofern ist der Baumeister im Unterschied zur Biene nicht nur Naturwesen, sondern auch freies, geistiges Wesen. Doch was ist, genauer besehen, unter der geistigen Seite des Menschen zu verstehen? Wiederum nicht das, was Hegel darunter versteht. »Für Hegel«, heißt es im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals, »ist der Denkproceß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.« (K I² 709/27) Ist das Ideelle nur das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle, dann kann es keine Selbständigkeit und Autonomie gegenüber dem Materiellen beanspruchen. Marx handelt von der geistigen Seite des Menschen nicht wie Hegel als Prinzipientheoretiker absoluter Subjektivität, sondern als Materialist,22 der zu wissen meint, dass der Geist nur im Verlauf der tätigen Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur außer ihm und mit seinesgleichen entstanden sein kann. An die Stelle von Subjektivität als Prinzip tritt bei Marx ein – wie noch zu zeigen ist: höchst problematischer – Begriff der Praxis.23 An die Stelle der Darstellung sich selbst begründender, weltkonstituierender Subjektivität tritt »die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen«. Die Entwicklung ›des Begriffs‹, die die Geltung ist, wird ersetzt durch die empirische Untersuchung der historischen Genese und der Funktion des Gegenstandes. Damit verliert die »selbständige Philosophie« »ihr Existenzmedium«. (DI 36/27)24 Das Problematische der marxschen Auffassung der Unselbständigkeit des Ideellen, Geistigen, wird deutlich, wenn man fragt, welche 22 Den Ausdruck ›Historischer Materialismus‹ führt Engels 1892 in der Einleitung zur englischen Ausgabe der Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft ein: EUW 292. Stalin (1938) unterscheidet dann dogmatisch zwischen dem dialektischen Materialismus, der die Natur zum Gegenstand hat, und dem historischen Materialismus, der dessen Leitsätze auf die Erforschung der Gesellschaft anwendet. Der Text ist ein Auszug aus dem »Kurzen Lehrgang« der KPdSU (B): Zentralkomitee der KPdSU (B) (1938: 126 ff.). 23 Vgl. Fleischer (1969: 26 f.) 24 Horkheimer (1933a: 92): »Während der Idealismus wegen der selbständigen Bedeutung, die das Geistige für ihn besitzt, sich damit beschäftigt‚ ›die

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Argumente diese sich materialistisch verstehende Hegel-Kritik anführen kann. Anders gesagt: Was für ein Materialismus liegt ihr zugrunde? Die Unklarheit, die hier besteht, rührt daher, dass der Autor des Kapitals dessen ›materialistischen‹ Charakter in einer Vielzahl von Formulierungen besonders betont, indem er mit materialistischer Ausdrucksweise verschiedener Provenienz ›kokettiert‹. Neben Anklängen an den zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Materialismus sind es evolutionistische Deutungen der menschlichen Arbeit, die einer naturalistischen Auffassung des Menschen Vorschub leisten. Entscheidend für die Emanzipation von und die Kritik an Hegel (und der Philosophie überhaupt), für die Entwicklung eines materialistischen Ideologiebegriffs sowie für die Utopie einer freien Gesellschaft ist freilich Marx’ Aneignung und Kritik der philosophischen materialistischen Anthropologie Ludwig Feuerbachs. Im Folgenden werden die unterschiedlichen Facetten des marxschen Materialismus vorgestellt und auf ihre Stichhaltigkeit überprüft: seine evolutionistische Deutung der Arbeit (1.1.), seine Skizze der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit als Befreiung von Naturzwängen (1.2.), seine ›materialistische‹ Kritik der Philosophie (1.3.) und seine utopische und wieder philosophische Konzeption von Arbeit als Selbstverwirklichung (1.4.). Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Mit Ausnahme der Skizze in (1.2.), die für sich betrachtet weitgehend unproblematisch ist (nicht aber im Kontext des marxschen Materialismus), hält keine dieser Auffassungen der Kritik stand. Das Ergebnis ist mithin für die von Marx im Kapital (und anderen Schriften) artikulierte Auffassung einer materialistischen Theorie desaströs. Mithin muss es anschließend darum gehen, die Kapitaltheorie gegen den falschen Materialismus ihres Autors zu verteidigen.

1.1. Die evolutionistische Deutung der Arbeit Wenn Marx das Sehen als »ein physisches Verhältniß zwischen physischen Dingen« (K I² 103/86) beschreibt, so mag dies als eine unglückliche Redeweise genommen werden, die illustrieren soll, dass der Sehvorgang im Unterschied zum Wertverhältnis der Arbeitsprodukte natürliche Grundlagen hat. Wörtlich genommen, redet er hier allerdings einer materialistischen Abbild-Theorie das Wort, die das Ideelle auf rein materielle Vorgänge reduziert und sich von dem naturwissenschaftlichen eigenen Voraussetzungen ständig von neuem in Frage zu stellen‹, ist die Prüfung der eigenen Voraussetzungen im Materialismus durch wirkliche Schwierigkeiten motiviert, in welche die von ihnen abhängige Theorie gerät. Er ist in diesen Fragen viel weniger ›radikal‹ als die idealistische Philosophie.«

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Materialismus Büchners, Moleschotts und Vogts nicht prinzipiell unterscheidet, den er an anderer Stelle als »abstrakt« (K I² 364 Anm. 89/393 Anm. 89)25 kritisiert. Wenn Marx im Kapitel über den Arbeitsprozess die gegenständliche Tätigkeit des Menschen als das Merkmal bestimmt, das er mit den Tieren gemeinsam hat, während ihn das Merkmal der Werkzeugfabrikation von ihnen unterscheidet, dann deckt sich das mit der Vorstellung, wonach die spezifisch menschliche Arbeit und mit ihr der Mensch selbst im Zuge der Evolution aus »ersten thierartig instinktmäßigen Formen der Arbeit« entstanden sind. Der Mensch ist demnach als »toolmaking animal« von anderen Sinnenwesen nur graduell unterschieden. Das Merkmal, das ihn vor diesen auszeichnet, ist »im Keim schon gewissen Thierarten eigen« (K I² 194/194). Die im Kapital nur angedeutete evolutionistische Deutung der Umsetzung und Übersetzung des Materiellen in das Ideelle findet sich ausführlicher in den Randglossen zu Adolph Wagners ›Lehrbuch der politischen Ökonomie‹ von 1879/80.26 Bei »einem Professoralschulmeister« wie Wagner, heißt es dort, seien »die Verhältnisse der Menschen zur Natur von vornherein nicht prak­ tische, also durch die Tat begründete Verhältnisse, sondern theoretische […]. [D]er Mensch steht im Verhältnis zu Dingen der Außenwelt als Mittel zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. Aber die Menschen beginnen keineswegs damit, ›in diesem theoretischen Verhältnis zu Dingen der Außenwelt zu stehen‹. Sie fangen, wie jedes Tier, damit an, zu essen, zu trinken etc., also nicht in einem Verhältnis zu ›stehen‹, sondern sich aktiv zu verhalten, sich gewisser Dinge der Außenwelt zu bemächtigen durch die Tat, und so ihr Bedürfnis zu befriedigen. (Sie beginnen also mit 25 Engels spricht von einem »vulgäre[n] Reiseprediger-Materialismus«, der die »berliner Althegelei« abgelöst habe (AVAD 122 ff./332). Auch Feuerbach, dessen anthropologischer Materialismus sich vom naturwissenschaftlichen Materialismus unterschieden weiß (vgl. Grün 1874: 308), ist nicht gefeit vor entsprechenden Anwandlungen, wenn er in seiner Rezension von Moleschotts Lehre der Nahrungsmittel. Für das Volk die Märzniederlage auf die übermäßige Kartoffelkost des deutschen Volkes zurückführt. Kartoffeln seien ungeeignet, den Muskeln Kraft und dem Gehirn Hoffnung zu geben. Gut geeignet sei dagegen die Erbse (1850: 367). Die Schlichtheit der Thesen von Büchner et al. darf im Übrigen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der von ihnen repräsentierte Typus materialistischer Theoriebildung »bis heute schulbildend geblieben ist« (Bayertz 2007: 70). 26 Die Randglossen entstanden 1879/80, als Marx begann, die Ethnologen Lewis Henry Morgan, Sir John Phear, Sir Henry Sumner Maine und Sir John Lubbock zu studieren (vgl. Krader 1976). Engels zufolge hatte sich Marx »vorbehalten«, die Resultate Morgans zusammen mit den Ergebnissen seiner (und Engels’) »materialistischen Geschichtsuntersuchung darzustellen und dadurch erst ihre ganze Bedeutung klar zu machen« (UF 11/27).

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der Produktion.) Durch die Wiederholung dieses Prozesses prägt sich die Eigenschaft dieser Dinge, ihre ›Bedürfnisse zu befriedigen‹, ihrem Hirn ein, die Menschen wie Tiere lernen auch ›theoretisch‹ die äußern Dinge, die zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse dienen, vor allen andern unterscheiden. Auf gewissem Grad der Fortentwicklung […] werden sie auch bei der ganzen Klasse diese erfahrungsmäßig von der übrigen Außenwelt unterschiedenen Dinge sprachlich taufen. Dies tritt notwendig ein, da sie im Produktionsprozeß […] fortdauernd in einem werktätigen Umgang unter sich und mit diesen Dingen stehn […]. Aber diese sprachliche Bezeichnung drückt durchaus nur aus als Vorstellung, was wiederholte Bestätigung zur Erfahrung gemacht hat, nämlich daß den in einem gewissen gesellschaftlichen Zusammenhang bereits lebenden Menschen […] gewisse äußere Dinge zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse dienen.« (RAW 363)

Wie ›jedes Tier‹ verhalten sich die Menschen aktiv zur Natur außer ihnen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Im Verlauf dieser Auseinandersetzung der Menschen mit der äußeren Natur ist das Geistige entstanden und hat dabei irgendwann ›notwendig‹ die Gestalt der Sprache angenommen. Marx’ Skizze krankt unter anderem daran, dass er erstens ›die Menschen‹ schon in einem naturgeschichtlichen Zustand ansetzt, in dem diese noch gar nicht von den Tieren unterschieden sind,27 und die Genese der Menschen aus der Tierwelt meint beschreiben zu können. Und dass er zweitens die ›Prägung des Hirns‹, einen materiellen Prozess, mit einem Lernprozess, also einem geistigen Vorgang, verwechselt28 und Menschen wie Tieren gleichermaßen unterstellt. Subjekt des Lernens ist aber weder das Gehirn noch die Psyche, sondern der Mensch, also das Lebewesen, das nicht nur eine äußere, physische und eine innere, psychische Seite hat, sondern als ein geistiges Wesen beide Seiten auch übergreift und 27 Ähnlich schon Rousseau (1755: 72) in seiner hypothetischen Geschichte des Menschen: Die Begierden des »wilden Menschen« gehen »nicht weiter als seine physischen Bedürfnisse«. »Schmerz und Hunger« fürchtet er als einzige Übel. »Ich sage Schmerz und nicht Tod; denn ein Tier wird nimmermehr wissen, was Sterben ist. Die Kenntnis des Todes und der Schrecken, die ihn begleiten, gehören zu den ersten Dingen, die der Mensch erlangt, nachdem er sich von seinem tierischen Stande entfernt hat.« 28 In der Sprache der analytischen Philosophie des Geistes handelt es sich um einen »mereologischen Fehlschluss«: eine Fähigkeit des Menschen wird einem Teil seines Organismus zugerechnet (dazu Bennett/Hacker 2003). – Diderot (1774-80: 703) stellt immerhin die richtige Frage: »Betrachten Sie die weiche Substanz des Gehirns als eine empfindliche, lebende Wachsmasse, der alle möglichen Formen eingeprägt werden können, die keine der Formen, die ihr eingeprägt wurden, wieder verliert und doch unaufhörlich neue Formen aufnimmt und bewahrt./ Nun gut: das ist das Buch. Wo aber ist der Leser?«

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sich in ein rationales Verhältnis zu ihnen setzen kann.29 Die genannten Punkte sind, zu Marx’ Zeiten ebenso wie heute, populäre Vorstellungen davon, wie phylogenetisch betrachtet das Materielle im Menschenkopf umgesetzt und übersetzt worden ist ins Ideelle. Sie sind kompatibel mit den Überlegungen, die Engels in Anlehnung an Darwin über die natürliche und kulturelle Evolution des Menschen im Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen (1876) anstellt. Daraus sei im Folgenden etwas ausführlicher zitiert (444–451). Engels zufolge hat Darwin eine »annähernde Beschreibung« unserer Vorfahren, der »menschenähnlichen Affen«, gegeben, die vollständig behaart waren und in Rudeln auf Bäumen lebten. Als diese Affen, »wohl zunächst durch ihre Lebensweise veranlaßt, die beim Klettern den Händen andre Geschäfte zuweist als den Füßen«, anfingen, auf ebener Erde ohne Hilfe der Hände einen aufrechten Gang anzunehmen, »war der ent­ scheidende Schritt getan für den Übergang vom Affen zum Menschen«. Die Hand war jetzt frei für andere Tätigkeiten. Sie diente und dient »zum Pflücken und Festhalten der Nahrung«. Manche Affen bauen sich mit ihr »Nester in den Bäumen oder gar, wie der Schimpanse, Dächer zwischen den Zweigen zum Schutz gegen die Witterung. Mit ihr ergreifen sie Knüttel zur Verteidigung gegen Feinde oder bombardieren diese mit Früchten und Steinen. Mit ihr vollziehen sie in der Gefangenschaft eine Anzahl einfacher, den Menschen abgesehener Verrichtungen. Aber grade hier zeigt sich, wie groß der Abstand ist zwischen der unentwickelten Hand selbst der menschenähnlichsten Affen und der durch die Arbeit von Jahrhunderttausenden hoch ausgebildeten Menschenhand. […] Keine Affenhand hat je das rohste Steinmesser verfertigt.« Im Lauf vieler Jahrtausende lernten die werdenden Menschen, ihre Hand zunehmend komplizierteren Verrichtungen anzupassen. »So ist die Hand nicht nur das Organ der Arbeit, sie ist auch ihr Produkt. Nur durch Arbeit, durch Anpassung an immer neue Verrichtungen […] hat die Menschenhand jenen hohen Grad von Vollkommenheit erhalten, auf dem sie Raffaelsche Gemälde, Thorvaldsensche Statuen, Paganinische Musik hervorzaubern konnte.« Dabei war sie »nur ein einzelnes Glied eines ganzen, höchst zusammengesetzten Organismus«, und was ihr »zugute kam, kam auch dem ganzen Körper zugute, in dessen Dienst sie arbeitete«. Ihre allmähliche Verfeinerung »und die mit ihr Schritt haltende Ausbildung des Fußes 29 ›Geistiges Wesen‹ in einem weiten Sinn, der Hegels Geistphilosophie ebenso wie Kants und Fichtes Transzendentalphilosophie einschließt. Diejenigen, die die geistige Verfassung des Menschen radikal in Frage stellen, treiben (schlechte) Metaphysik und bestätigen nur Kants These: »Daß der Geist des Menschen metaphysische Untersuchungen einmal gänzlich aufgeben werde, ist eben so wenig zu erwarten, als daß wir, um nicht immer unreine Luft zu schöpfen, das Atemholen einmal lieber ganz und gar einstellen würden.« (Kant, Prol A 192).

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für den aufrechten Gang hat unzweifelhaft […] auf andre Teile des Organismus rückgewirkt.« Mit der Ausbildung der Hand und mithin der Entwicklung der Arbeit begann Engels zufolge die Herrschaft des Menschen über die Natur, die seinen Gesichtskreis erweiterte und »die Gesellschaftsglieder« näher aneinanderschloss. Die »werdenden Menschen« hatten ein Bedürfnis zu kommunizieren. »Das Bedürfnis schuf sich sein Organ: Der unentwickelte Kehlkopf des Affen bildete sich langsam, aber sicher um […] und die Organe des Mundes lernten […] einen artikulierten Buchstaben nach dem anderen auszusprechen.« Engels betont: »Daß diese Erklärung der Entstehung der Sprache aus und mit der Arbeit die einzig richtige ist, beweist der Vergleich mit den Tieren. Das wenige, was diese, selbst die höchstentwickelten, einander mitzuteilen haben, können sie auch ohne artikulierte Sprache mitteilen.« Zuerst Arbeit, nach ihr »und dann mit ihr die Sprache« seien »die beiden wesentlichsten Antriebe, unter deren Einfluß das Gehirn eines Affen in das bei aller Ähnlichkeit weit größere und vollkommnere eines Menschen allmählich übergegangen« sei. »Die Rückwirkung der Entwicklung des Gehirns und seiner dienstbaren Sinne, des sich mehr und mehr klärenden Bewußtseins, Abstraktions- und Schlußvermögens auf Arbeit und Sprache gab beiden immer neuen Anstoß zur Weiterbildung.« Mit dem »Auftreten des fertigen Menschen« trat schließlich ein neues Element hinzu – »die Gesellschaft«. Aus dem »Affenrudel« sei so in hunderttausenden von Jahren »eine Gesellschaft von Menschen« hervorgegangen. »Und was finden wir wieder [!] als den bezeichnenden Unterschied zwischen Affenrudel und Menschengesellschaft? Die Arbeit.« Was sich im Tierreich finde, sei »noch keine eigentliche [!] Arbeit. Die Arbeit fängt an mit der Verfertigung von Werkzeugen.« Sie wurde immer vielseitiger. Die Menschen trieben neben Jagd und Viehzucht Ackerbau. Handel und Gewerbe, Kunst und Wissenschaft entwickelten sich. Aus Stämmen wurden Nationen und Staaten. Gegenüber Recht, Politik und insbesondere Religion traten »die bescheidneren Erzeugnisse der arbeitenden Hand in den Hintergrund«. Die »Menschen gewöhnten sich daran, ihr Tun aus ihrem Denken zu erklären statt aus ihren Bedürfnissen (die dabei allerdings im Kopf sich widerspiegeln, zum Bewußtsein kommen)«. Schließlich entstand »jene idealistische Weltanschauung«, die noch heute so sehr herrscht, »daß selbst die materialistischsten Naturforscher der Darwinschen Schule sich noch keine klare Vorstellung von der Entstehung des Menschen machen können, weil sie unter jenem ideologischen Einfluß die Rolle nicht erkennen, die die Arbeit dabei gespielt hat«. Wie Marx in den oben zitierten Passagen situiert auch Engels »unsere behaarten Vorfahren« zunächst in einem naturgeschichtlichen Zustand, in dem sie von den Tieren noch gar nicht oder eben nur als besondere Tierart unterschieden sind, und beansprucht die Entstehung der 161

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Menschen als Kulturwesen (›Raffael‹, ›Thorvaldsen‹, ›Paganini‹) aus der Tierwelt in nichtteleologischer Weise, nämlich kausal erklären zu können. Marx hatte Darwins Theorie als »sehr bedeutend« bezeichnet: »Trotz allem Mangelhaften« sei »hier zuerst der ›Teleologie‹ in der Naturwissenschaft nicht nur der Todesstoß gegeben, sondern der rationelle Sinn derselben empirisch auseinandergelegt« (Brief an Lassalle vom 16. Januar 1861: MEW 30: 578). Teleologische Erklärungen sind nach Darwin unwissenschaftlich. Wenn die Evolutionstheorie Strukturen konstatiert, die für die Selbsterhaltung von Lebewesen zweckmäßig (tauglich, nützlich, funktional) sind, beansprucht sie diese kausal zu erklären, das heißt auf den Mechanismus der natürlichen Auslese zurückzuführen. Engels skizzenhafte Ausführungen zielen auf eine solche kausale Erklärung. Er »betrachtet die Arbeit zwar expressis verbis als Ursache, als unmittelbare Wirkursache (causa efficiens), aber seine Formulierungen erwecken eher den Eindruck eines Kreisprozesses mit starker Rückkoppelung, aus dem die Aufwärtsentwicklung, der Aufstieg des Menschen, hervorgegangen ist«. (Reichholf 2010: 130) Um das Hervorgehen des Wissenschaft treibenden Kulturmenschen aus dem Affen ohne Rekurs auf transzendente Instanzen (Gott) oder Lücken und Sprünge im Naturprozess zu erklären, müssen Marx und Engels eine eminente Differenz zwischen beiden leugnen und die unterscheidenden Merkmale als quantitative begreifen. Arbeit, Sprache und Intellekt finden sich so ansatzweise auch schon im Tierreich. Schon die tierischen Vorfahren des Menschen beginnen, in welch rudimentärer Form auch immer, zu arbeiten und werden in der Folge durch ihre Arbeit sukzessive aus dem unmittelbaren Naturzusammenhang der Tierwelt heraus in einen kulturellen und gesellschaftlichen versetzt. Infolgedessen erscheint der Unterschied zwischen ihnen und uns zwar als ungeheuer groß, er ist aber kein prinzipieller. Dasselbe lehrt Darwin in der Abstammung des Menschen. Ein »anthropomorpher Affe« müsste »bei objektiver Beurteilung seines eigenen Zustandes selbst zugeben«, dass er außerstande wäre, metaphysische Vorstellungen nachzudenken oder mathematische Probleme zu lösen. Aber wie groß auch immer der Unterschied zwischen Menschen und Tieren sein möge, er sei »doch nur ein gradueller und kein prinzipieller« (Darwin 1871: 160).30 Es resultiert eine »Vertierlichung des Menschen«, denn der Mensch wird als das Tier gefasst, das im Verlauf der Evolution bestimmte 30 Im Unterschied dazu besteht Prof. Kuckuck darauf, dass es eine nicht deduzierbare spezifische Differenz von Mensch und Tier gibt: »Wollen wir aber von Abstammung reden, so stammt der Mensch vom Tier ungefähr, wie das Organische aus dem Unorganischen stammt. Es kam etwas hinzu.«/ »Hinzu? Was, wenn ich fragen darf?«/ »Ungefähr das, was hinzukam, als aus dem Nichts das Sein entsprang. Haben Sie je von Urzeugung gehört?« (Mann 1954: 542).

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Eigenschaften erworben hat, und eine »Vermenschlichung des Tieres« (Janich: 2010), denn den Tieren scheint nichts Menschliches wirklich fremd zu sein. Der für Marx und Engels zentrale Begriff der Arbeit wird dadurch diffus. Indem Marx menschliche Arbeit als Realisierung eines bewusst antizipierten Zwecks von tierischem Verhalten abgrenzt (Baumeister vs. Biene), charakterisiert er sie durch ein teleologisches, ideelles Moment, das sich einer kausalen Erklärung sperrt. Indem er in Bezug auf den »urzeitlichen« Zustand aber von menschlicher Arbeit spricht, die »ihre erste instinktartige Form noch nicht abgestreift hatte«, deutet er darauf, dass menschliche Arbeit im heutigen Verständnis aus »thierartig instinktmäßigen Formen der Arbeit« (K I² 192/193) hervorgegangen ist in einem nicht zielgerichteten, kausal zu erklärenden Prozess. Indem er den »specifisch menschlichen Arbeitsproceß« durch den »Gebrauch und die Schöpfung [!] von Arbeitsmitteln« charakterisiert sieht, rekurriert er auf ein teleologisches, ideelles Moment, indem er dieses aber »im Keim schon gewissen Thierarten« (K I² 194/194) attestiert, deutet er wieder auf eine kausal zu erklärende Entwicklung. (Die Keim-Metapher ist hier ein Missgriff, steht sie doch eigentlich für einen zielgerichteten Prozess.) Genau so verfährt Engels. Einerseits ordnet er den Menschen und seine Arbeit in ein kausal zu erklärendes Tier-Mensch-Kontinuum ein, andererseits schreibt er dem Menschen und seiner Arbeit ein Merkmal zu, welches das Kontinuum sprengt. Arbeit ist teleologisch bestimmt. Ohne die Fähigkeit der Zwecksetzung könnte der Mensch keine Werkzeuge herstellen und Gemälde, Statuen und Musik hervorbringen. Wie Marx, wenngleich weniger ausdrücklich, fasst Engels das Arbeitsvermögen als Inbegriff menschlicher Subjektivität, die sich in materieller, ästhetischer und wissenschaftlicher Arbeit manifestiert. Arbeit (genauer: das Arbeitsvermögen) ist demnach die spezifische Differenz, die den Menschen vom Tier abgrenzt und nicht auf den Kausalmechanismus der natürlichen Auslese zurückgeführt werden kann. Und wie Marx erklärt Engels zugleich, sie sei darauf zurückzuführen.31 In »einem gewissen Sinn« habe die Arbeit »den Menschen selbst geschaffen« (AAM 444), damit also auch das spezifisch menschliche Arbeitsvermögen. In einem anderen Sinn, als »eigentliche Arbeit«, beginne sie allerdings erst »mit der Verfertigung von Werkzeugen« (AAM 449). Engels’ Skizze und Marx’ verstreute Bemerkungen leisten einer naturalistischen Auffassung des Menschen Vorschub, wenn sie mit Darwin 31 Aus der Sicht einer »kritischen Anthropologie« hält Thyen (2007: 33 f.) fest: »Jeder Tier-Mensch-Vergleich setzt die differentia specifia schon voraus.« Worin diese besteht, sei durch die Einzelwissenschaften nicht auszumachen. »Jeder Begriff des Menschen, der zugleich der Begriff eines möglichen Selbst-Verständnisses von Lebewesen ist, ist ein speziezistischer Begriff. Nur der Spezies Mensch können wir ein ›Selbst-Verständnis‹ zuschreiben.« Daher sei »auch unser Wissen über Tiere – anthropologisch – begrenzt«.

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meinen, die natürliche und kulturelle Evolution des Menschen sei mit den Mitteln einer einheitlichen positiven Wissenschaft zu erklären.32 Sie setzen sich über die Einsicht von Kant, Fichte, Hegel hinweg, wonach der Mensch als Vernunftwesen nicht in den Gegenstandsbereich einer Einzelwissenschaft fällt und mit anderen Gegenständen vergleichbar ist. Seine Subjektivität, der Inbegriff der Prinzipien, die seine Verfassung als Subjekt vernünftigen Erkennens und freien Handelns ausmachen, ist nicht aus anderem zu erklären. Mit Kant: Das ›Ich denke‹, das für jede Erkenntnis konstitutiv ist, kann nur um den Preis des fehlerhaften Zirkels, also gar nicht wie ein x-beliebiger Gegenstand betrachtet werden; die unbedingte Freiheit des Willens ist kein möglicher Gegenstand der Einzelwissenschaften, die nur Bedingtes erklären können. Wird der Mensch aber in seiner biologischen Bestimmung als ›Homo sapiens‹ thematisiert, wird er als Subjekt verfehlt. Daher Fichtes Warnung: »Vor nichts aber hüte – sowohl die Geschichte, als eine gewisse Halbphilosophie – sich mehr, als vor der völlig unvernünftigen und allemal vergeblichen Mühe, die Unvernunft durch allmählige Verringerung ihres Grades zur Vernunft hinaufzusteigern; und, wenn man ihnen nur die hinlängliche Reihe von Jahrtausenden giebt, von einem Orang-Outang zuletzt einen Leibnitz oder Kant abstammen zu lassen!« (1806: 134)33 Die spöttische Bemerkung der ersten Wissenschaftslehre, die »meisten Menschen« hätten Kant nicht verstanden, denn sie »würden leichter dahin zu bringen seyn, sich für ein Stück Lava im Monde, als für ein Ich zu halten« (1794: 175 Anm.), trifft auch das naturalistische Selbstmissverständnis derjenigen, die meinen, die kausale Erklärung der Entwicklung ›des Menschen‹ aus dem Tier sei eine sinnvolle wissenschaftliche Aufgabe. Sie halten sich selbst zwar nicht für Lava, aber doch für die Mitglieder einer Wissenschaft treibenden Tierart. Einlassungen wie die Fichtes werden nicht selten bei Seite geschoben mit dem Hinweis, sie gehörten in eine andere Zeit und zu einem überwundenen Paradigma der Philosophie. Der Mainstream der zeitgenössischen Philosophie und Wissenschaftstheorie verwirft den, wie es im Jargon heißt: ›starken‹ Begriff der Subjektivität, der bei Kant angedeutet 32 Engels naturalisiert die menschliche Geschichte, aber nicht nach Art des Sozialdarwinismus, dessen gesellschaftliche Funktion er und Marx gleichermaßen durchschaut haben (vgl. A. Schmidt 1962: 200). 33 Hegel fordert mit Blick auf evolutionstheoretische Ansätze, »[s]olcher nebuloser, im Grunde sinnlicher Vorstellungen, wie insbesondere das sogenannte Hervorgehen z.B. der Pflanzen und Tiere aus dem Wasser und dann das Her­ vorgehen der entwickelteren Tierorganisationen aus den niedrigeren usw.« müsse »sich die denkende Betrachtung entschlagen«. (Enz II 31 f.) Gegen eine Kritik, die Hegels kategoriale Einwände nicht ernst nimmt, weil sie sich mit der modernen, Hegel unbekannten Evolutionstheorie von vornherein auf der sicheren Seite wähnt: Kalenberg (1997).

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und bei seinen idealistischen Nachfolgern entfaltet ist. Gleichwohl gelangen einige ihrer Vertreter zu Einsichten, die mit der Warnung Fichtes kompatibel sind. Nach Gutmann/Weingarten ist die Rede von der Entwicklung des Menschen aus dem Tier »ein verhängnisvolles Missverständnis« (2001: 564). Nach Janich handelt es sich bei der »Frage, wann, wo und wodurch das Tier zum Menschen wurde«, um »ein Scheinpro­ blem«. Der »›emergente[]‹ Sprung vom Tier zum Menschen« ließe sich nur von einem der Welt transzendenten »Beobachterstandpunkt« in Raum und Zeit verorten und charakterisieren. Dass der Mensch als Na­ turgegenstand im Laufe der Naturgeschichte entstanden ist, sei trivial und Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung. Wie der Mensch als das Wesen entstanden ist, das sich in der Gemeinschaft mit seinesgleichen spezifisch humane Fähigkeiten zuschreibe (zweckrational zu handeln, sich wechselseitig sprachlich verantwortlich zu machen, Institutionen zu bilden usw.) bleibe dem naturwissenschaftlichen Zugriff prinzipiell verborgen. (Janich 2010: 175 f.) Diese Probleme sehen Marx und Engels nicht, wenn sie wie Darwin und seine Nachfolger ›den Menschen‹ aus der Beobachterperspektive in dreifacher Hinsicht traktieren: als Naturwesen, als Kulturwesen und implizit – in Gestalt von sich selbst – als Kulturwesen, das eine Geschichte der natürlichen und kulturellen Evolution seiner selbst schreibt. Als Kulturwesen, die Wissenschaft treiben, kennen sie den für jede Theorie und jedes theoretische Arbeiten konstitutiven Unterschied von wahr und falsch, der sich nur um den Preis des vitiösen Zirkels, also gar nicht evolutionistisch herleiten lässt. Wie jeder Naturalismus hat auch dieser den Einwand gegen sich, dass die von ihm beanspruchte Geltung seinem Inhalt widerspricht. »Eine Naturalisierung des Menschen als Tier, die selbst wissenschaftlich sein möchte, ist ein performativer Selbstwiderspruch.« (Janich 2010a: 62) Der Begriff der Arbeit kann nicht aus der Untersuchung der natürlichen und kulturellen Evolution des Menschen gewonnen werden, sondern allein aus der Reflexion auf den Kulturmenschen, der als einziges Lebewesen dazu fähig ist, Wissenschaft zu treiben und sich selbst zum Gegenstand von Wissenschaft zu machen. Allerdings muss er dabei beachten, dass der eigene Sprachgebrauch selbst schon von wissenschaftlicher Relevanz ist. Wer zuerst beobachtetes Tierverhalten als Herstellung und Gebrauch von Werkzeugen deutet und in der Alltagsprache beschreibt, um anschließend daraus auf die Zweckrationalität dieser Tiere zu schließen, täuscht darüber hinweg, dass nur in Beziehung auf das Zwecke setzende und Mittel wählende Subjekt sinnvollerweise von Gegenständen als ›Werkzeugen‹ zu sprechen ist. Während die naive Verwendung der Alltagssprache dazu führt, dass Behauptungen über die Leistungen bestimmter Tiere »nicht an Erfahrung scheitern« können (Janich 2010: 91), verhilft die kritische Reflexion auf sie zu der Einsicht, dass die 165

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Herstellung und der Gebrauch von Werkzeugen die Fähigkeit zu begrifflichem Denken,34 sprachlicher Kommunikation und praktischer Kooperation (Janich), also das Subjekt technisch-praktischer Vernunft (Kant) voraussetzt.35 Das Gesagte hat Konsequenzen für die Argumentation im Kapital. Weil Arbeit, anders als der Terminus ›Stoffwechsel‹ (K I² 198/198) suggeriert, kein bloßer Vorgang in der Natur ist, sondern einen normativen Charakter hat, setzt sie den Menschen als ein Subjekt voraus, welches seine Tätigkeit und ihr Resultat beurteilen und von anderen Subjekten dafür verantwortlich gemacht werden kann. Dieses Subjekt ist über den unmittelbaren Naturzusammenhang immer schon hinaus. Von seiner ›Natur‹ lässt sich nur dann konsistent sprechen, wenn klar ist, dass damit die Natur gemeint ist, die es hat und zu der es sich verhalten kann, die es aber nicht ist.36 Nur so lässt sich die Natur des Menschen thematisieren, ohne ihn damit unter die Dinge der Natur einzureihen. Die unreflektierte Verwendung des Naturbegriffs fiele hinter Kants Einsicht zurück, wonach ein »jedes Ding der Natur« zwar »nach Gesetzen« wirke, aber nur »ein vernünftiges Wesen« das Vermögen habe, »nach der Vorstellung der Gesetze, d.i. nach Prinzipien, zu handeln, oder einen Willen« (GMS B 36). Arbeit impliziert das Subjekt technisch-praktischer Vernunft. Von ihr lässt sich nur in Bezug auf solche Lebewesen sprechen, die frei sind von unmittelbarem Naturzwang, also über eine freie Willkür verfügen, die nicht instinktgeleitet und daher durch Vernunft bestimmbar ist. ›Vernunft‹ meint dabei zunächst technisch-praktische Vernunft. Wie eine durch technisch-praktische Vernunft bestimmbare Willkür in der natürlichen Geschichte des Menschen entstehen konnte, entzieht sich aus den oben genannten Gründen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis.37 Wie es dazu gekommen ist, dass diese bestimmbare Willkür durch Vernunft 34 Begriffliches Denken nicht notwendig in dem strengen diskursiven Sinn, in dem es vom mythischen Denken in Vorstellungen unterschieden ist. 35 Vgl. Reichholf (2010: 138), dessen evolutionsbiologische Überlegungen zum Ursprung der menschlichen Arbeit contre cœur demonstrieren, dass durch sie kein Begriff der Arbeit zu gewinnen ist. »Arbeit hat viele Gesichter. ›Die Arbeit‹ gibt es nicht, obgleich sie sich naturwissenschaftlich als zusätzliche [über die zur Subsistenz aufzubringende] Energieausgabe recht genau quantitativ bestimmen ließe.« 36 Dazu Spaemann (1996), dessen scharfsinnige Überlegungen auch für den gewinnbringend sind, der nicht alle ihre Voraussetzungen und Schlussfolgerungen teilt. 37 Wenn Kant in der ersten Kritik (B 858 Anm.) von einem »natürlichen« Interesse des Menschen an der Moralität spricht, will er damit sagen, dass die Freiheit, die es dem Menschen ermöglicht, dem kategorischen Imperativ zu genügen, »als faktisch gegeben vorgestellt werden muß«. (Konhardt 1979: 70).

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bestimmt wurde und aus der Möglichkeit von Freiheit deren Wirklichkeit wurde, ist nicht der natürlichen, sondern der kulturellen Geschichte der Menschen zu entnehmen. Dabei kann, wieder aus den oben genannten Gründen, retrospektiv betrachtet gegenständliche Tätigkeit als solche nicht schon als Objektivierung von Freiheit angesehen werden. Vielmehr ist dazu gefordert, dass diese Tätigkeit unter Bedingungen erfolgt, die für die technisch-praktische Vernunft der Tätigen sprechen, für ihre Fähigkeit zu begrifflichem Denken, sprachlicher Kommunikation und praktischer Kooperation. Erst wenn diese Bedingungen erfüllt werden können, ist es möglich, dass die Menschen ihre Auseinandersetzung mit der Natur kooperativ und arbeitsteilig so organisieren, dass ihrer Arbeit ein Mehrprodukt entspringt, welches über die Notwendigkeit ihrer Reproduktion als Naturwesen hinausweist. Und nur dann, wenn diese gesellschaftliche Produktion eines Mehrprodukts auf Dauer gestellt ist, ermöglicht sie Kultur. Der Blick in die schriftlich überlieferte Geschichte zeigt, dass die dauerhafte Produktion von Mehrprodukt immer an die Herrschaft von Menschen über Menschen gebunden war. Eine »Naturkraft gesellschaftlich zu kontroliren, damit Haus zu halten, sie durch Werke von Menschenhand auf großem Maßstab erst anzueignen oder zu zähmen« (K I² 483/537), ist technisch-praktisch nicht ohne die »Direktion, welche die Harmonie der individuellen Thätigkeiten vermittelt und die allgemeinen Funktionen vollzieht, die aus der Bewegung des produktiven Gesammtkörpers im Unterschied von der Bewegung seiner selbstständigen Organe entspringen« (K I² 327/350), möglich. Diese Direktion beruht »in der antiken Welt, dem Mittelalter« auf »unmittelbaren Herrschafts- und KnechtschaftsVerhältnissen, zumeist auf der Sklaverei« (K I² 331/354). Herrschaft dieser Art ist nicht unmittelbare physische Gewalt, auch wenn sie ohne die Möglichkeit der Androhung von Gewalt nicht möglich ist, sondern die tradierbare Macht der Wenigen über die Vielen. Ihre materielle Grundlage ist das gesellschaftliche Mehrprodukt, welches durch die Beherrschten erarbeitet wird. Es ermöglicht, dass die Herrschenden selbst nicht arbeiten müssen und auch wenige andere von der materiellen Produktion freigestellt sind, die dann als Priester, Mediziner, Geometer, Astronomen, Philosophen oder Künstler kulturelle Leistungen im engeren, nicht unmittelbar materiellen Sinne erbringen: in Gestalt kultischer Handlungen, religiöser Weltdeutung, wissenschaftlicher Erkenntnis oder ästhetischer Produktion. Die erzwungene Mehrarbeit der Vielen ermöglicht die Muße der Wenigen, ohne die nach der Einsicht des Aristoteles keine Wissenschaft möglich ist.38 Marx stellt im Kapital die Verschränkung von Herrschaft, Mehrarbeit und Kultur heraus, erweckt dabei aber wieder den Eindruck, der 38 Vgl. Aristoteles, Metaphysik 981a.

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kulturelle Zustand der Menschen sei durch Rekurs auf Arbeit aus dem natürlichen Zustand herzuleiten. »Nur sobald die Menschen sich aus ihren ersten Thierzuständen he­ rausgearbeitet, ihre Arbeit selbst also schon in gewissem Grad vergesellschaftet ist, treten Verhältnisse ein, worin die Mehrarbeit des einen zur Existenzbedingung des andern wird. In den Kulturanfängen39 sind die erworbnen Produktivkräfte der Arbeit gering, aber so sind die Bedürfnisse, die sich mit und an den Mitteln ihrer Befriedigung entwickeln. Ferner ist in jenen Anfängen die Proportion der Gesellschaftstheile, die von fremder Arbeit leben, verschwindend klein gegen die Masse der unmittelbaren Producenten. Mit dem Fortschritt der gesellschaftlichen Produktivkraft wächst diese Proportion absolut und relativ.« (K I² 481/534 f.)

Die naturalistische Deutung der Genese des Kulturmenschen lässt den Begriff der Arbeit und infolgedessen auch den der Mehrarbeit diffus werden. Weil sie schon unseren behaarten tierischen Vorfahren Arbeit zuschreibt, bleibt in ihr die freie Subjektivität als Konstituens von Arbeit außen vor und unerkannt, dass die auf Dauer gestellte Mehrarbeit Kultur als Sphäre der Freiheit von Natur konstituiert. Wird das Subjekt der Arbeit begrifflich nicht als Subjekt technisch-praktischer Vernunft gefasst, wird nicht gesehen, dass es sich bei Arbeit um eine Handlung und nicht nur um ein Verhalten handelt. Handlungen sind vernunftgeleitet, sie unterliegen hypothetischen Imperativen, also Normen, die als solche nicht einfach in der Natur vorkommen. Arbeit ist ebenso wenig wie Spazierengehen ein bloßer Vorgang in der Natur, ein naturwissenschaftlich treu zu konstatierendes Verhalten von Lebewesen wie Nestbau, Brutpflege oder Vorratshaltung. Als vernunftgeleitete Tätigkeit ist sie nicht einfach ein Faktum, sondern steht unter Geltungsdifferenzen.40 Der Arbeitende kann seine Arbeit richtig oder falsch ausführen, seinen Zweck erfolgreich realisieren oder verfehlen, die richtigen oder falschen Mittel zur Zweckrealisierung wählen. Indem er sich aus Einsicht Zwecke setzt, bewegt er sich in einem Raum, der Tieren verschlossen und einer kausalen Erklärung nicht zugänglich ist – im »Raum der Vernunft« (Gosepath 1999: 741). Eine solche Argumentation stößt bei Marxisten naturgemäß nicht auf ungeteilte Zustimmung. Vielen gilt sie als ideologisch, weil sie Arbeit in idealistischer Verkennung auf die Produktion von Ideen reduziere. Für Ruben ist sie die Domäne linker Intellektueller.42 Gegen Lukács, 39 ›Kulturanfänge‹ bezeichnet hier wie bei L. H. Morgan ganz allgemein die Periode, »die der Zivilisation vorausgeht« (Krader 1976: 204). 40 Vgl. Kuhlmann (2002: 225). 41 In Anspielung auf Sellars’ (1997: 76) »space of reasons«. 42 Die Intellektuellen-Schelte erinnert an Engels, der (s.o.) der darwinschen Schule vorwirft, aufgrund mangelnder Einsicht in die evolutionäre Rolle der Arbeit nicht materialistisch genug zu sein.

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der Arbeit ohne vorangegangene »teleologische Setzung« für »unmöglich« (1973: 16 f.) erklärt, versichert Ruben daher, die »Genesis der Erkenntnis« sei wohl kaum »durch die Ergießung des Heiligen Geistes am schönen Pfingstsonntag« (1976: 22) zu erklären. »Wir vertreten also die These: Nicht aus der Voraussetzung des Verstandes erwächst die Arbeit, sondern aus der Voraussetzung der Arbeit wird der Verstand erzeugt.« Der Mensch habe »zufallsdeterminiert, sozusagen als M ­ utante mit Selektionsvorteil«, zunächst Werkzeuge produziert, an denen sich dann sein Verstand bildete. (1976: 23) Ruben betrachtet die Evolution ›des Menschen‹ offenbar als eine Naturtatsache. Er muss daher kritische Einwände, abgesehen von ihrem vermeintlich ideologischen Gehalt, als supranaturalistische Spintisiererei abtun. Tatsächlich bezeichnet ›Evolution‹ aber »ein Modell der Systematisierung von Informationen über Vergangenes, das nur historisch zufällig in der Biologie entwickelt wurde« (Schnädelbach 2004: 295). Evolutionistische Erklärungen sind daher nicht per se naturalistisch. Sie sind es aber sicher dann, wenn sie in der spezifisch menschlichen Kultur, der sie selbst angehören, nur ein graduell bestimmtes Stadium der menschlichen Evolution überhaupt (nicht nur des Menschen als eines Naturgegenstandes) erblicken. Beide, Ruben und Lukács, können sich auf das Kapital berufen. Denn den einschlägigen Bestimmungen im Kapitel über den Arbeitsprozess fehlt es, wie eben gezeigt, an Klarheit. Den Eindruck einer naturalistischen Tendenz in Marx’ Argumentation erwecken – zumindest auf den ersten Blick – auch Formulierungen, die sich explizit oder implizit auf Darwins Abstammungslehre beziehen. Wenn Marx im Kapital darauf hinweist, dass Darwin »das Interesse auf die Geschichte der natürlichen Technologie«, nämlich »auf die Bildung der Pflanzen- und Thierorgane als Produktionsinstrumente für das Leben der Pflanzen und Thiere« gelenkt habe, und fragt, ob »die Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen, der materiellen Basis jeder besondren Gesellschaftsorganisation, nicht die gleiche Aufmerksamkeit« (K I² 364 Anm. 89/392 f. Anm. 89) verdiene, dann deutet seine Parallelsetzung von natürlicher Technologie in der Natur und künstlicher Technologie in der Kultur an, dass die Theorie der Bildungsgeschichte der materiellen Basis besonderer Gesellschaftsformen nicht ohne Anleihen bei der Evolutionstheorie auskommt. Marx selbst hat in den Kapiteln über die ›Produktion des relativen Mehrwerts‹ Umrisse einer solchen Theorie skizziert und sich dabei in der Tat wiederholt auf Darwin bezogen. Dort folgt etwa auf die Feststellung, dass die Manufakturperiode »die Arbeitswerkzeuge durch deren Anpassung an die ausschließlichen Sonderfunktionen der Theilarbeiter« vereinfache, verbessere und vermannigfache, der Hinweis auf Darwin. Dieser habe »in seinem epochemachenden Werk über ›die Entstehung der 169

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Arten‹ mit Bezug auf die natürlichen Organe der Pflanzen und Thiere« bemerkt: »›So lange ein und dasselbe Organ verschiedne Arbeiten zu verrichten hat, läßt sich ein Grund für seine Veränderlichkeit vielleicht darin finden, daß natürliche Züchtung jede kleine Abweichung der Form weniger sorgfältig erhält oder unterdrückt, als wenn dasselbe Organ nur zu einem besondren Zwecke allein bestimmt wäre.‹« Unmittelbar zuvor ist davon die Rede, es sei »nur das von Generation auf Generation gehäufte und von Vater auf Sohn vererbte Sondergeschick, das dem Hindu wie der Spinne diese Virtuosität« beim Weben verleihe. Und von der Manufaktur heißt es, »ihre Verwandlung der Theilarbeit in den Lebensberuf eines Menschen« entspreche »dem Trieb früherer Gesellschaften, die Gewerbe erblich zu machen, sie in Kasten zu versteinern oder in Zünfte zu verknöchern, falls bestimmte historische Bedingungen dem Kastenwesen widersprechende Variabilität des Individuums erzeugen. Kasten und Zünfte entspringen aus demselben Naturgesetz, welches die Sonderung von Pflanzen und Thieren in Arten und Unterarten regelt, nur daß auf einem gewissen Entwicklungsgrad die Erblichkeit der Kasten oder die Ausschließlichkeit der Zünfte als gesellschaftliches Gesetz dekretirt wird.« (K I² 335 f./359 ff.)

Dass Kasten und Zünfte ›aus demselben Naturgesetz entspringen‹, welches die Spezifizierung von Pflanzen und Tieren regelt, soll offenbar für eine frühe Stufe der Menschheit gelten. Die Formulierung legt, wörtlich genommen, ein naturalistisches bzw. biologistisches Verständnis nahe. Demnach wäre die Bildung von Kasten und Zünften in frühen Zeiten ein Teil des natürlichen Evolutionsgeschehens gewesen und erst später, auf ›einem gewissen Entwicklungsgrad‹, wäre als spezifisch kulturelles Element ›die Erblichkeit der Kasten oder die Ausschließlichkeit der Zünfte als gesellschaftliches Gesetz‹ aufgetreten. Plausibler als diese Deutung, die mit den Kasten und Zünften den Menschen und sein gesellschaftliches Leben zumindest in früher Zeit ganz dem Naturgeschehen eingliedert, ist die, wonach Marx hier auf die Evolution als ein Schema zurückgreift, mit dem auch nicht-natürliche, nämlich historischgesellschaftliche Prozesse gedeutet werden können, ohne sie damit biologistisch auf natürliche zu reduzieren.43 Marx’ Rede von ›demselben Naturgesetz‹ ist demnach nicht mehr als eine Analogie, die nicht dazu berechtigt, ihm eine naturalistische Perspektive zu unterstellen.44 Gegen eine solche nicht-naturalistische Interpretation der einschlägigen Formulierungen erheben sich allerdings sogleich wieder Bedenken, wenn Marx an anderer Stelle die historisch zu konstatierende »Verwandlung des Handwerksmeisters in den Kapitalisten« als Beleg für die Richtigkeit des hegelschen Gesetzes des Umschlagens von Quantität in Qualität begreift. 43 Vgl. Poser (2001: 261 ff.). 44 Vgl. Krader (1976: 211).

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»Der Geld- oder Waarenbesitzer verwandelt sich erst wirklich in einen Kapitalisten, wo die für die Produktion vorgeschoßne Minimalsumme weit über dem mittelaltrigen Maximum steht. Hier, wie in der Naturwissenschaft, bewährt sich die Richtigkeit des von Hegel in seiner Logik entdeckten Gesetzes, daß bloß quantitative Veränderungen auf einem gewissen Punkt in qualitative Unterschiede umschlagen.« (K I² 308/327)45 Marx’ Rede von einem in der Geschichts- wie der Naturwissenschaft gleich bewährten Gesetz deutet voraus auf das wenig später von Engels projektierte Unterfangen, aus der »Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft« die »Gesetze der Dialektik« als »die allgemeinsten Gesetze dieser beiden Phasen der geschichtlichen Entwicklung sowie des Denkens selbst« zu abstrahieren. Engels versteht sein Projekt als materialistische Hegelkritik. Hegel habe die dialektischen Gesetze »in seiner idealistischen Weise als bloße Denkgesetze entwickelt« und »der Natur und Geschichte aufoktroyirt«. »Kehren wir die Sache um, so wird alles einfach und die in der idealistischen Philosophie äußerst geheimnißvoll aussehenden dialektischen Gesetze werden sofort einfach und sonnenklar.« (DdN 175/348)46 Dass diese materialistische Umkehrung der hegelschen Logik deren idealistische Struktur gerade dort, wo sie zu kritisieren ist, unter einem anderen Namen reproduziert, ist Engels entgangen. An die Stelle eines Geistmonismus tritt ein Materiemonismus. »Es ist ein ewiger Kreislauf in dem die Materie sich bewegt« und in dem »die Zeit des organischen Lebens und noch mehr die des Lebens selbst- und naturbewußter Wesen ebenso knapp bemessen ist wie der Raum in dem Leben und Selbstbewußtsein zur Geltung kommen.« Allerdings haben wir »die Gewißheit daß die Materie in allen ihren Wandlungen ewig dieselbe bleibt, daß keins ihrer Attribute je verloren gehn kann, und daß sie daher auch mit derselben eisernen Nothwendigkeit, womit sie auf der Erde ihre höchste Blüthe, den denkenden Geist wieder ausrotten wird, ihn anderswo und in andrer Zeit wieder erzeugen muß«. (DdN 315 f./327) Der Prozess der an sich bestimmungslosen Materie, die sich in sich unterscheidet und je nach der Stufe ihrer Selbstentfaltung sich als Dunstnebel, Tier oder menschliches Bewusstsein bestimmt, deckt sich mit »Hegels logische[m] Programm, bei zugrundeliegendem bestimmungslosem Substrat die Qualitäten durch einen Kreislauf der Bestimmung an diesem Sub­strat zu begründen« (Ruschig 1997: 91). 45 In der Anmerkung dazu heißt es: »Die in der modernen Chemie angewandte […] Molekulartheorie beruht auf keinem andren Gesetze.« Vgl. den Brief an Engels vom 22. Juni 1867 (MEW 31: 306). 46 Engels zufolge gibt es in »der Hauptsache« drei allgemeine Gesetze: »das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt; das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze, das Gesetz von der Negation der Negation« (ebd.).

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1.2. Produktivkraftentwicklung als Befreiung von Naturzwängen Abstrahiert man von den Passagen im Kapital, in denen Marx einer naturalistischen Auffassung des Menschen Vorschub leistet, wird der Blick frei für diejenige Auffassung von Freiheit, die für die Kapitaltheorie eine tragende Rolle spielt und auf den ersten Blick als unproblematisch erscheint. Es ist wiederum die Freiheit der Menschen von unmittelbaren Zwängen der äußeren Natur, aber ihr theoretischer Ort ist die Lehre von den besonderen Produktionsmethoden des ›relativen Mehrwerts‹. In ihr geht es nicht um vorhistorische Zeiten oder um die historische Geschichte im Allgemeinen, sondern um die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit im Kontext der Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise. Marx entfaltet hier einen Begriff der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit, der nicht nur für die Erklärung der kapitalistischen Produktionsweise zentral ist, sondern auch über diese hinausweist. Dabei konstatiert er nicht einfach, was historisch dingfest zu machen ist. Schon die Überschrift des vierten Abschnitts: ›Die Produktion des relativen Mehrwerts‹,47 deutet an, dass nicht einfach eine historische Entwicklung beschrieben, sondern von materiellen Bedingungen der Kapitalverwertung gehandelt wird. Dass diese Bedingungen allesamt historisch entstanden sind, ist selbstverständlich; ebenso, dass die große Industrie zeitlich der manufakturellen Produktion folgte. Marx verweist auf die historischen Umstände und Entwicklungen. Aber der Fokus liegt nicht auf der möglichst umfassenden Beschreibung historischer Details, sondern auf der Bestimmung der Elemente, die sich – retrospektiv betrachtet: unter Voraussetzung des Begriffs des Kapitals – als materielle Bedingungen der sich herausbildenden kapitalistischen Produktionsweise erweisen. Entscheidend an der Abfolge der Kapitel ›Kooperation‹, ›Teilung der Arbeit und Manufaktur‹ sowie ›Maschinerie und große Industrie‹ ist daher, dass sie Formen des Produktionsprozesses bezeichnet, die in zunehmendem Maß den Erfordernissen der Selbstverwertung des Werts entsprechen. Allerdings hat Marx nicht explizit zwischen diesem systematischen Aspekt der Betrachtung der historischen Abfolge von Kooperation, Manufaktur und großer Industrie einerseits und seinen skizzenhaften Beschreibungen der besonderen Umstände und Entwicklungen andererseits unterschieden und dadurch das Missverständnis provoziert, er handele von Manufaktur und großer Industrie in der Weise eines Historikers. Wenn er zu Beginn des zwölften Kapitels behauptet: »Die auf Theilung der Arbeit beruhende Kooperation schafft sich ihre klassische Gestalt in 47 Die Unterscheidung zwischen absolutem und relativem Mehrwert hat analytischen Charakter und ist nicht als historische zu verstehen.

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der Manufaktur. Als charakteristische Form des kapitalistischen Produktionsprocesses herrscht sie vor während der eigentlichen Manufakturperiode, die, rauh angeschlagen, von Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum letzten Dritttheil des achtzehnten währt« (K I² 332/356), erweckt Marx den Eindruck, die Manufaktur habe die materielle Produktion einer ganzen Epoche geprägt. Diese Epoche hat es freilich nach Auskunft des Historikers »nirgendwo im Westen gegeben: weder in Kontinentaleuropa noch in England, auch nicht in den nordamerikanischen Kolonien oder später in den Vereinigten Staaten« (Wehler 1987: 103). Der Historiker muss daher in »der oft behaupteten Stufenfolge vom Handwerk und dem Verlag über die Manufaktur zur Industriefabrik […] eine Konstruktion ohne zuverlässiges empirisches Fundament« erblicken. Der Gedanke, »das europäische Gewerbe« habe vom Hochmittelalter bis zur Indus­ triellen Revolution »klar abhebbare evolutionäre Organisationsphasen« durchlaufen, gilt ihm als unrealistisch. »Realistisch ist es dagegen, von einer Gemengelage dieser Betriebsformen spätestens vom 16. bis weit in das 19., ja 20. Jahrhundert hinein auszugehen, wobei sich ihre Bedeutung, auch im Verhältnis zueinander, erst allmählich, dann aber ruckartig verschoben hat.« (Wehler 1987: 112) Marx hat allerdings nicht nur das Missverständnis einer Manufakturepoche nahegelegt, er hat auch auf eine ›Gemengelage‹ gedeutet. Die Manufaktur, heißt es im selben Kapitel, konnte »die gesellschaftliche Produktion weder in ihrem ganzen Umfang ergreifen, noch in ihrer Tiefe umwälzen. Sie gipfelte als ökonomisches Kunstwerk auf der breiten Grundlage des städtischen Handwerks und der ländlich häuslichen Industrie.« (K I² 362/390) Im 24. Kapitel hält Marx mit Blick auf England fest, der Vernichtung der »häuslich-ländliche[n] Nebenindustrie« in besonderen Geschäftszweigen durch die Manufaktur korrespondiere die Schaffung derselben in anderen Zweigen, da sie dieser »zur Bearbeitung des Rohmaterials bis zu einem bestimmten Grad bedarf«. Die Manufakturperiode »produciert daher eine neue Klasse kleiner Landleute, welche die Bodenbestellung als Nebenzweig und die industrielle Arbeit zum Verkauf des Produkts an die Manufaktur […] als Hauptgeschäft treiben.« (K I² 672/776) Der Gegensatz zwischen der Perspektive des Historikers und der marxschen Behauptung einer ›Manufakturperiode‹ lässt sich schlichten, wenn der Ausdruck als Anzeige dafür genommen wird, dass – retrospektiv betrachtet, das heißt gemessen an den Erfordernissen des Kapitals – in dem genannten Zeitraum die Manufaktur als die avancierteste Form des Produktionsprozesses erscheint.48 Entscheidende Stufen in dem historischen Prozess der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit sind nach Marx die einfache 48 Nach Borkenau (1934: 9) macht »nicht etwa das quantitative Überwiegen der Manufakturen […] das 17. Jahrhundert zum Manufakturzeitalter«,

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Kooperation (1), die manufakturmäßige Teilung der Arbeit (2) und das Maschinensystem der großen Industrie (3). In diesem Prozess, zu dessen konstitutiven Elementen zuletzt auch die gesellschaftliche Indienstnahme der Naturwissenschaften gehört (4), wird die materielle Produktion zunehmend unabhängig von den individuellen Erfahrungen, Kenntnissen, Fertigkeiten und Naturkräften der Individuen und werden die materiellen Bedingungen für eine ›höhere‹, freie Gesellschaft geschaffen (5). (1) Durch die Kooperation vieler Individuen, das heißt durch deren planmäßiges Neben- und Miteinander-Arbeiten in demselben Produktionsprozess oder zusammenhängenden Prozessen, steigt nicht nur die Produktivkraft jedes Individuums, sondern es entsteht eine qualitativ neue, gesellschaftliche Produktivkraft. Aus der Kooperation entspringt die »gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit oder Produktivkraft gesellschaftlicher Arbeit«. Der Arbeiter streift »seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen« (K I² 326/349) – allerdings tut er dies nur in einer rudimentären Form. Er streift nämlich seine individuellen Schranken nur insofern ab, als sein Zusammenwirken mit anderen zur »Schöpfung« von gesellschaftlicher Produktivkraft überhaupt führt. Weil die gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit in der Kooperation aus dem bloßen Zusammenwirken vieler einfacher Arbeiten entspringt, bleibt sie von deren Qualität abhängig. (2) Die Manufaktur entwickelt die gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit weiter, indem sie die Arbeit der Einzelnen auf Teilfunktionen reduziert, die Arbeiter in diesen Teilfunktionen zu Höchstleistungen abrichtet und die vielen Teilarbeiter zu einem Gesamtarbeiter kombiniert. »Während die einfache Kooperation die Arbeitsweise der Einzelnen im Großen und Ganzen unverändert läßt, revolutionirt die Manufaktur sie von Grund aus und ergreift die individuelle Arbeitskraft an ihrer Wurzel. Sie verkrüppelt den Arbeiter in eine Abnormität, indem sie sein Detailgeschick treibhausmäßig fördert durch Unterdrückung einer Welt von produktiven Trieben und Anlagen. […] Die besondren Theilarbeiten werden nicht nur unter verschiedne Individuen vertheilt, sondern das Individuum selbst wird getheilt.« (K I² 354 f./381) Die Manufaktur bleibt dabei allerdings abhängig von den Teilarbeitern, weil sie deren Detailgeschick nur innerhalb der ihr durch die leibliche Natur gesetzten Schranken steigern kann. Sollen die Arbeiter zu Teilarbeitern der manufakturinternen »Gliederung des gesellschaftlichen Arbeitsprocesses« (K I 376/407) werden, muss dieser Prozess zuvor den Arbeitern angepasst werden. (3) Mit der Maschinerie der großen Industrie ist die materielle Produktion von dieser »organischen Schranke« (K I² 365/394) emanzipiert. An sondern der Umstand, dass unter den Bedingungen einer in der Hauptsache erst handwerklichen Technik der manufakturelle Produktionsprozess der Rationalisierung die günstigsten Chancen bietet.

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die Stelle des ›subjektiven Prinzips‹ der Kombination von Teilarbeitern tritt ein ›objektives Prinzip‹. »Der Gesammtproceß wird hier objektiv, an und für sich betrachtet, in seine konstituirenden Phasen analysirt, und das Problem, jeden Theilproceß auszuführen und die verschiednen Theilprocesse zu verbinden, durch technische Anwendung der Mechanik, Chemie u.s.w. gelöst.« (K I² 371/401) Das Maschinensystem ist insofern ein »ganz objektive[r] Produktionsorganismus«, den die Arbeiter als »fertige materielle Produktionsbedingung« vorfinden (K I² 376/407). Im Vergleich zur Manufaktur, in der »die Arbeiter Glieder eines lebendigen Mechanismus« sind, erscheint es als »ein todter Mechanismus«, dem sie »als lebendige Anhängsel einverleibt« werden. Vor den in ihm dienstbar gemachten Naturkräften verschwindet ihr Detailgeschick »als ein winzig Nebending«. (K I² 410/445 f.) Die Arbeiter sind nur mehr austauschbare Träger von gesellschaftlicher Durchschnittsarbeitskraft, und die Arbeit des einzelnen Arbeiters ist »unmittelbar gesellschaftliche« Arbeit.49 »Die Maschinerie […] funktionirt nur in der Hand unmittelbar vergesellschafteter oder gemeinsamer Arbeit. Der kooperative Charakter des Arbeitsprocesses wird jetzt also durch die Natur des Arbeitsmittels selbst diktirte technische Nothwendigkeit.« (K I² 376/407) Die formale Bestimmung, wonach das Gesetz der Verwertung sich für den einzelnen Produzenten erst vollständig realisiert, »sobald er als Kapitalist produciert, viele Arbeiter gleichzeitig anwendet, also von vornherein gesellschaftliche Durchschnittsarbeit in Bewegung setzt« (K I² 321/343), wird historisch erstmals durch die Maschinerie in adäquater Weise realisiert. Marx spricht von der »reelle[n] Subsumtion der Arbeit unter das Kapital« (K I² 480/533). Die »geistigen Potenzen« der Arbeit treten jetzt dem Arbeiter als fremde gesellschaftliche Mächte gegenüber, die Wissenschaft ist »in den Dienst des Kapitals [ge]preßt« (K I² 356/383). (4) Die Bedeutung der modernen Wissenschaften für die entwickelte kapitalistische Produktionsweise ist kaum zu überschätzen. Marx thematisiert sie im Kontext der entstehenden Produktionsweise und im Hinblick auf die Funktion, die sie in der von ihren Entstehungsbedingungen unabhängig gewordenen Produktionsweise hat. Er begreift sie »als das allgemeine geistige Product der gesellschaftlichen Entwicklung«, oder als »das Product der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung in ihrer abstrakten Quintessenz«. Als geschichtliches, gesellschaftliches Produkt ist sie »an ihrer Quelle betrachtet« das »Product der Arbeit«. (RS 121 f.) Genauer besehen ist sie das Resultat einer spezifischen Art von gesellschaftlicher Arbeit – einer gesellschaftlichen Arbeit, die auch ›allgemeine Arbeit‹ ist. »Allgemeine Arbeit«, so eine Notiz in Marx’ Entwurf zum dritten Buch des Kapitals, »ist alle wissenschaftliche, alle Entdeckung, 49 In der hegelianisierenden Ausdrucksweise der Grundrisse: Die Arbeit des Einzelnen ist »in ihrem unmittelbaren Dasein gesezt als aufgehobne einzel­ ne, d.h. als gesellschaftliche Arbeit« (Gr 585/605).

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alle Erfindung. Sie ist bedingt theils durch Cooperation mit Mitlebenden, theils durch Benutzung der Arbeiten Früherer.« (K III 159/114)50 Konstitutiv für wissenschaftliche Arbeit ist die Kooperation der einzelnen Wissenschaftler in einem diachronen und synchronen arbeitsteiligen Forschungsprozess. Weil der Fortschritt in den Wissenschaften auf einer die Generationen übergreifenden arbeitsteiligen Kooperation der einzelnen Wissenschaftler beruht, in der die Lebenden die ›Arbeiten Früherer‹ benutzen, hat er den Charakter der Akkumulation von Wissen. ›Akkumulation‹ meint dabei nicht die Anhäufung von einzelnen Resultaten, sondern den Prozess, in dem die Gewinnung neuer Resultate nur durch die instrumentelle Verwendung bereits vorhandener möglich ist. Ermöglicht wird solche Akkumulation dadurch, dass die einmal gewonnenen Resultate durch ein methodisch geregeltes Verfahren reproduzierbar sind. Der einzelne Wissenschaftler kann derart das vorhandene Wissen als Instrument zur Gewinnung neuen Wissens benutzen, ohne dass er sich dessen historische Genese und die dieser ursprünglich zugrunde liegenden theoretischen Probleme noch einmal vergegenwärtigen müsste. Die durch Reproduzierbarkeit ihrer Resultate, Wissensakkumulation, diachrone und synchrone Arbeitsteilung und Kooperation bestimmte wissenschaftliche Arbeit ist allgemeine Arbeit in dem doppelten Sinne, dass ihre Resultate der Menschheit gehören51 und sie das Wissen der Menschheit zu ihrer Voraussetzung hat. Wissenschaft ist daher ein Gattungsunternehmen. In der mathematischen Naturwissenschaft existiert das akkumulierte Wissen der Gattung von ihrer Auseinandersetzung mit der ersten Natur. Marx’ Notiz zur allgemeinen Arbeit beschränkt diese allerdings nicht auf wissenschaftliche Arbeit im strengen Sinne. Sie zählt zu ihr »alle Ent­ deckung, alle Erfindung«, und zielt auf die Rolle, die sie im Unterschied zur »[g]emeinschaftliche[n] Arbeit«, die auf der »unmittelbare[n] Co­ operation der Individuen« beruht, »im Productionsproceß« (K III 159/113 f.) spielt. In der Formulierung ›alle Entdeckung, alle Erfindung‹ ist nicht exakt zwischen wissenschaftlicher Arbeit im eigentlichen Sinne und der technischen Konstruktion von Apparaten unterschieden, und tatsächlich interessiert Marx auch kaum, was naturwissenschaftliche und technisch-konstruktive Arbeit voneinander unterscheidet, sondern was ihnen gemeinsam ist. Gemeinsam ist beiden, dass ihre Entdeckungen und Erfindungen nicht unmittelbar auf das Konto der Gattung gehen, sondern auf das bestimmter Individuen,52 dann aber eine reproduzierba50 Marx’ verstreute Bemerkungen zur »allgemeinen Arbeit« drücken »z.T. mehr eine Intuition aus als eine systematisierte Begrifflichkeit« (KWM 1: 140). 51 »[W]as Einer im Reiche der Wahrheit erwirbt, hat er Allen erworben.« (F. Schiller 1789: 363). 52 Nicht die Gattung erfindet Spinnmaschinen, mechanische Webstühle und Dampfmaschinen, sondern Richard Arkwright, Jacques de Vaucanson und James Watt. Andererseits: »Eine kritische Geschichte der Technologie würde

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re Form erhalten, mit der sie zum Potential der Gattung werden. Dabei steht die Arbeitszeit, die nötig ist, um das Produkt der geistigen Arbeit »zu reproduciren, in gar keinem Verhältnisse […] zu der Arbeitszeit, die zu ihrer Originalproduction erforderlich ist. Z.B. den binomischen Lehrsatz kann ein Schuljunge in einer Stunde lernen.« (ÖM VI 2117 f.) Die Reproduzierbarkeit der Resultate naturwissenschaftlicher und technischer Arbeit ermöglicht ihre instrumentelle Benutzung durch jede entsprechend ausgebildete Arbeitskraft. Der systematischen Reproduzierbarkeit und Instrumentalisierbarkeit der Resultate dieser Arbeit korrespondiert auf Seiten der Arbeitskräfte deren systematische Qualifizierung und Instrumentalisierung für die ›Bedürfnisse‹ der gesellschaftlichen Reproduktion, die in der kapitalistischen Produktionsweise als Nachfrage nach spezifisch ausgebildeten Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt erscheinen. Technische Erfindungen sind allerdings erst dann systematisch, unabhängig von dem Wissen und dem Geschick ihres Erfinders, reproduzierbar, wenn die Gesetze bekannt sind, nach denen sie funktionieren. Sind es zu Beginn der Industrialisierung »Wissenschafts-Handwerker« (Ullrich 1979: 126 ff.), die Apparate und Maschinen entwickeln – »der Uhrmacher Watt die Dampfmaschine, der Barbier Arkwright den Kettenstuhl, der Juwelierarbeiter Fulton das Dampfschiff« (K I² 467/512 f.)53 –, so basiert die maschinelle Produktion von Maschinen in der großen Industrie auf der technologischen Anwendung der Naturwissenschaft.54 »Die Erfindung« ist jetzt »ein Geschäft und die Anwendung der Wissenschaft auf die unmittelbare Production selbst ein für sie bestimmender und sie sollicitirender Gesichtspunkt.« (Gr 580/600) Damit setzt eine Entwicklung ein, in der die materiellen Bedingungen der gesellschaftlichen Reproduktion in zunehmendem Maße selbst systematisch reproduzierbar werden und das naturwissenschaftlich-technische Wissen der überhaupt nachweisen, wie wenig irgend eine Erfindung des 18. Jahrhunderts einem einzelnen Individuum gehört.« (K I² 364 Anm. 89/392 Anm. 89). 53 Die Charakterisierung Watts als »Uhrmacher« erweckt einen falschen Eindruck. »Watt begann zwar als ›Mathematischer Instrumentenmacher‹ der Universität in Glasgow und hatte keine ›bescheinigte‹ akademische Ausbildung, aber durch sein frühes Interesse an Mathematik, durch seine grüblerische Neugier und durch die guten Verbindungen zur Glasgower Universität gab es bald niemanden, der mehr über Wasser, Wärme und Dampf wußte, theoretisch und praktisch, als er.« (Ullrich 1979: 126); vgl. Bernal (1954: 552 ff.). 54 Während die Entwicklung von Maschinenbau und Metallurgie lange Zeit von »Praktikern« geprägt ist – im Maschinenbau »gingen die alten Traditionen des Mühlenbauers und des Uhrmachers kontinuierlich in die des neuen Maschineningenieurs über« –, verdankt die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende Chemie- und Elektroindustrie ihr Entstehen »ausschließlich der Wissenschaft« (Bernal 1954: 524; 554).

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Gesellschaft »zur unmittelbaren Productivkraft« (Gr 582/602) wird. Die Arbeiter haben es nicht mehr mit unmittelbaren Naturkräften wie Wasser und Wind zu tun, sondern mit Naturkräften, die in Gestalt der Technik fungibel geworden sind.55 (5) Die Freiheit der Menschen ist zunächst negativ bestimmt – als Freiheit von unmittelbaren Zwängen der äußeren Natur. Sie ist durch »die Produktionsweise des materiellen Lebens« (K I² 112 Anm. 33/96 Anm. 33) bedingt. Die Menschen emanzipieren sich in dem Maße von den unmittelbar vorgefundenen Naturkräften, wie die gesellschaftliche Produktivkraft ihrer Arbeit sich entwickelt. Mit der Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft verändert sich das Verhältnis der Arbeit, die gesellschaftlich notwendig ist für die Reproduktion der unmittelbaren Produzenten, zugunsten der darüber hinaus geleisteten gesellschaftlichen Mehrarbeit. Die Mehrarbeit manifestiert sich dann in einem entsprechend vergrößerten gesellschaftlichen Mehrprodukt. In der kapitalistischen Produktionsweise ist das Mehrprodukt Träger des Mehrwerts, dessen Verwandlung in Geld nur Durchgangsstadium der Rückverwandlung der Masse dieses Geldes in neue, möglichst effizientere Produktionstechnik ist. Diese Produktionstechnik ist als Resultat gesellschaftlicher Arbeit selbst eine Objektivation von Freiheit (»Die Natur baut keine Maschinen«: Gr 582/602) und zugleich ist mit ihr die Möglichkeit gegeben, den Bereich der Freiheit weiter auszudehnen. Ihre Anwendung im unmittelbaren Produktionsprozess verringert nämlich erneut die zur Reproduktion der unmittelbaren Produzenten gesellschaftlich notwendige Arbeit und vergrößert die Mehrarbeit. Darin, dass sich infolge der gestiegenen gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit die Arbeitszeit insgesamt nicht verringert, sondern nur die Mehrarbeitszeit im Verhältnis zur notwendigen Arbeitszeit zunimmt, offenbart sich das Kapitalverhältnis als ein Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis. Das Kapital, so Marx in den Grundrissen, ist »selbst der processirende Widerspruch«, denn es ziele darauf, die »Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduciren« und zugleich setze es »die Arbeitszeit als einziges Maaß und Quelle des Reichthums«. Es vermindere die Arbeitszeit »in der Form der nothwendigen, um sie zu vermehren in der Form der überflüssigen; sezt daher die überflüssige in wachsendem Maaß 55 »Was unter technischen Bedingungen als Naturkraft anzusehen ist, ist seinerseits schon Resultat des Eingriffs in den Naturzusammenhang, Produkt von Arbeit, in dem das in der Natur vorgefundene Material nicht mehr wiederzuerkennen ist. Aus Kohle, Luft und Wasser werden in der Dampfmaschine Bewegungsenergien, die erst dann ein sinnlich faßbares Korrelat – durch Pumpen in Bewegung gesetztes Wasser, bewegte Lasten, Dampfschiffe etc. – bekommen, wenn die Dampfmaschine für einen gegen den in ihr organisierten Funktionszusammenhang der Naturkräfte gleichgültigen Zweck eingesetzt wird.« (Bulthaup 1973: 43 f.).

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als Bedingung – question de vie et de mort – für die nothwendige«. (Gr 582/601 f.) Der Fortschritt der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit und mithin die Befreiung von der Unmittelbarkeit der ersten Natur vollziehen sich von Beginn an in bestimmten Herrschaftsverhältnissen, die jeweils durch die spezifischen Formen, in denen »unbezahlte Surplusarbeit aus den unmittelbaren Producenten ausgepumpt wird« (K III 732/799), bestimmt sind. Ist es die längste Zeit die Herrschaft von Menschen über Menschen, tritt in der kapitalistischen Produktionsweise an die Stelle der persönlichen Herrschaft von einigen über viele der anonyme, »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse« (K I² 663/765). Der Fortschritt der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit geht zudem auf Kosten des einzelnen Arbeiters. Die ›geistigen Potenzen‹ seiner Arbeit werden von ihm geschieden und treten ihm zunehmend als fremde gesellschaftliche Mächte gegenüber, sein Arbeitsvermögen wird zunehmend für die Erfordernisse des Produktionsprozesses abgerichtet und seine Arbeit ihres Inhalts entleert. Der Scheidungsprozess der ›geistigen Potenzen‹ der Arbeit vom Arbeiter »beginnt in der einfachen Kooperation, wo der Kapitalist den einzelnen Arbeitern gegenüber die Einheit und den Willen des gesellschaftlichen Arbeitskörpers vertritt. Er entwickelt sich in der Manufaktur, die den Arbeiter zum Theilarbeiter verstümmelt. Er vollendet sich in der großen Industrie, welche die Wissenschaft als selbstständige Produktionspotenz von der Arbeit trennt und in den Dienst des Kapitals preßt.« (K I² 355 f./382) Die ›Entleerung‹ der individuellen Arbeit von ihrem Inhalt kulminiert im »entleerten Maschinenarbeiter« (K I² 410/446). Indem die große Industrie sich »ihres charakteristischen Produktionsmittels« bemächtigt und »Maschinen durch Maschinen« produziert, schafft »sie ihre adäquate technische Unterlage und stellt[] sich auf ihre eignen Füße«. (K I² 375/405)56 Die gesellschaftliche Reproduktion des industriellen Kapitals stellt sich damit als ein gegenüber seinen Entstehungsbedingungen selbständig gewordener gesellschaftlicher Funktionszusammenhang dar, die kapitalistische Produktionsweise gestaltet »sich jetzt als eine Productionsweise sui generis« (RS 105). Die Freiheit der Menschen von der ersten Natur ist in ihr in einer bis dahin für utopisch gehaltenen Art und Weise verwirklicht – allerdings in einer verkehrten Gestalt. Zwar ist in der Maschinerie das naturwissenschaftlich-technische Wissen der Gesellschaft, der ›general-intellect‹, zur unmittelbaren Produktivkraft 56 ›Maschinen durch Maschinen produziert‹ suggeriert, die Reflexivität der Kapitalverwertung hätte in der materiellen Produktion ein gegenständliches Korrelat. Marx will aber gar nicht behaupten, Maschinen produzierten (ganze) Maschinen, sondern zielt darauf, dass die große Industrie ihre Maschinen zunächst von Manufakturen bezog und erst später selbst herstellte (vgl. K I² 373/403).

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geworden. Die in ihr eindeutig fixierten Naturzusammenhänge machen sie fungibel für menschliche Zwecke. Doch die Maschinerie ist im unmittelbaren Produktionsprozess nur eine Existenzweise des Kapitals, sie ist fixes Kapital. Die durch sie bestimmte Produktivkraft der Arbeit und der durch sie bestimmte gesellschaftliche Zusammenhang der individuellen Arbeiten im unmittelbaren Arbeitsprozess sind damit »aus der Arbeit in das Capital verlegt«. Das Kapital wird damit »ein sehr mystisches Wesen, indem alle gesellschaftlichen Productivkräfte der Arbeit als ihm, im Gegensatz zu der Arbeit als solcher, zukommende und aus seinem eignen Schoß hervorsprossende Kräfte erscheinen«. (K III 849/835) Gleichwohl enthält die entwickelte kapitalistische Produktionsweise bereits die materiellen Bedingungen, die es ermöglichen, dass nach ihrer Überwindung aus dem »Theilindividuum«, dem »bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion«, das »total entwickelte Individuum« werden kann, »für welches verschiedne gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Bethätigungsweisen sind«. Die kapitalistische Form der Produktion schafft selbst die Voraussetzungen zur Überwindung der alten Arbeitsteilung. Zu ihnen zählen neben der technischen Basis der Produktion auch die polytechnischen und agronomischen Schulen, die »naturwüchsig« entstehen, auch wenn sich diese Schulen, soweit ihnen eine Tendenz zur Aufhebung der alten Arbeitsteilung innewohnt, »im diametralsten Widerspruch« zur kapitalistischen Form der Produktion befinden. (K I² 466 f./512) Mit dem ›total entwickelten Individuum‹, das nicht mit einer besonderen Arbeit sozial verwachsen ist, sondern sich in verschiedenen gesellschaftlichen Funktionen betätigt, knüpft Marx an das berühmte Bild an, das die Deutsche Ideologie von der »kommunistischen Gesellschaft« zeichnet, »wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Thätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt & mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu thun, Morgens zu jagen, Nachmittags zu fischen, Abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisiren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger Fischer Hirt oder Kritiker zu werden« (DI 34 ff./33). Weiter unten wird zu fragen sein, inwiefern sich die Utopie des ›total entwickelten Individuums‹ mit dem Prinzip der nachkapitalistischen, »höheren Gesellschaftsform« verträgt – dem Prinzip der »volle[n] und freie[n] Entwicklung jedes Individuums« (K I² 543/618), und ob das ›total entwickelte Individuum‹ als ein Bewohner des ›wahren Reichs der Freiheit‹ betrachtet werden muss.57 57 Im utopischen Marxismus Blochs (1959 III: 1140 f.) geht dies alles nahtlos zusammen: »Nirgends wurde individuelle Rettung intensiver betrieben als bei Marx im ›Kapital‹, und zwar vom – Totum her, wie es auch für den einzelnen Menschen gilt.« Das »total zu entwickelnde Individuum« verlange

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Marx unterschlägt in seiner Darstellung der historischen Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit nicht deren geistige Seite, er spricht von den ›geistigen Potenzen‹ der Produktivkraft der Arbeit und misst der Wissenschaft eine für die kapitalistische Produktionsweise essentielle Bedeutung bei. Aber er nimmt die Unbedingtheit des geistigen Elements des historischen Prozesses nicht ernst. Sie ernst nehmen hieße, ihm eine Selbständigkeit gegenüber dem Historischen zugestehen. Eine solche Position bedeutete aus der Perspektive des marxschen Denkens einen Rückfall in die seit der Rezeption des feuerbachschen Materialismus überwundene ›selbständige‹ Philosophie. Dass Marx Wissenschaft allein unter dem Aspekt der Genese und gesellschaftlichen Funktion thematisiert, ist nicht zu kritisieren, wohl aber, dass er die Dimension der mit ihr erhobenen Geltungsansprüche und deren prinzipielle Thematisierung in der Philosophie verwirft (dazu III,2.1./1.4.1.).

1.3. Die Kritik der Philosophie 1.3.1. Mit und gegen Feuerbach, mit und gegen Hegel Marx’ Wort vom Ideellen als dem nur im Menschenkopf umgesetzten und übersetzten Materiellen wurde oben in den Kontext von Passagen gestellt und interpretiert, die auf eine evolutionistische Erklärung der Arbeit hi­ nauslaufen. Marx’ Formulierung muss aber auch und vor allem im Kontext seiner durch Feuerbachs materialistische Anthropologie inspirierten Kritik der Philosophie Hegels und seiner Epigonen verstanden werden. Hegels Dialektik ist für Marx in allen Phasen der Entwicklung seines Denkens »unbedingt das letzte Wort aller Philosophie« (Brief an Lassalle vom 31. Mai 1858: MEW 29: 561).58 Seine zunächst überschwängliche Bewunderung der feuerbachschen Anthropologie gilt nicht einer Philosophie im hergebrachten Sinne, sondern einer Theorie, mit deren Hilfe der Spekulation Hegels und den Abstraktionen der Philosophie überhaupt in Richtung auf eine ›reelle Wissenschaft‹ zu entkommen sei, einer Wissenschaft, die zugleich als ›philosophische Grundlage‹ des Sozialismus tauge. »Feuer­ bach«, heißt es in den Manuskripten, »ist der einzige, der ein ernsthaftes, »eben das Totum einer Gesellschaft, worin das individuelle Interesse vom Gesamtinteresse nicht nur gegönnt wird, sondern mit ihm in den substantiellen Zielen zusammenfällt«. Erst dann würden »auch die großen Worte sinnvoll, welche die Klassengesellschaft bald über die Würde des Individu­ ums, bald über die Generalität der wahren Moral ausgegeben hat«. 58 Feuerbach (1843a: 295) sieht in Hegel immerhin die »Vollendung der neueren Philosophie«.

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ein kritisches Verhältniß zur hegel’schen Dialektik hat und wahrhafte Entdeckungen auf diesem Gebiete gemacht hat, überhaupt der wahre Ueberwinder der alten Philosophie ist.« Er habe den Beweis erbracht, dass »die Philosophie nichts andres ist als die in Gedanken gebrachte und denkend ausgeführte Religion«, also nur »eine andere Form und Daseinsweise d[er] Entfremdung des menschlichen Wesens«. Indem Feuerbach »das gesellschaftliche Verhältniß ›des Menschen zum Menschen‹« zum Prinzip der Theorie mache, sei er der Begründer des »wahren Materialismus und der reellen Wissenschaft«. (ÖPM 276/569 f.) Marx zögert nicht, dieser Wissenschaft sogleich auch praktisch-politische Bedeutung zuzuschreiben. In seinem Brief vom 8. August 1844 versichert er Feuerbach, dieser habe »dem Sozialismus eine philosophische Grundlage gegeben, und die Kommunisten haben diese Arbeiten auch sogleich in dieser Weise verstanden. Die Einheit der Menschen mit den Menschen, die auf dem realen Unterschied der Menschen begründet ist, der Begriff der Menschengattung aus dem Himmel der Abstraktion auf die wirkliche Erde herabgezogen, was ist er anders als der Begriff der Gesellschaft!« (MEW 27: 425) Die Selbständigkeit, schärfer: Autonomie der Philosophie als Theorie der Subjektivität beruht bei Kant und seinen idealistischen Nachfolgern darauf, dass sie Vernunftwissenschaft ist.59 Als Vernunftwissenschaft begründet sie die Differenz von Geltung und Genesis. Die Selbständigkeit der Philosophie zu kritisieren bedeutet im Kontext der feuerbachschen Argumentation, diese Differenz zu kritisieren und Geltung in Genesis aufzulösen. »Wer mit Bewußtsein und Absicht nichts voraussetzt«, so Feuerbach, »setzt unbewußt gerade das als wahr voraus, was er uns erst beweisen soll. Der nur ist ein wahrhaft genetischer Denker, dessen Resultat in direktem Widerspruch steht mit seinem bewußten Anfang.« (1846: 179)60 Feuerbach will die Autonomie des Ideellen als idealistische Chimäre entlarven und erhebt dessen ›Naturalisierung‹ zum Programm. Eine Lehre sei »solange nur eine Hypothese, solange nicht ihre natürliche Basis gefunden 59 Kritik der reinen Vernunft ist als genitivus subiectivus und obiectivus zu verstehen. »Die reine Vernunft ist in der Tat mit nichts als sich selbst beschäftigt, und kann auch kein anderes Geschäft haben.« (Kant 1787: B 708) Fichte: »Wir können aus dem Umkreise unserer Vernunft nicht herausgehen; gegen die Sache selbst ist gesorgt.« (1796: 40) Ob Kant und Fichte dem jeweiligen Anspruch gerecht werden, ist eine andere Frage. Dazu Kuhne (2007). 60 Ders. (1839: 38): »Die einzige voraussetzungslos beginnende Philosophie ist die, welche die Freiheit und den Mut hat, sich selbst zu bezweifeln, welche sich aus ihrem Gegensatz [der Nicht-Philosophie] erzeugt. Die neueren Philosophien haben aber insgesamt mit sich begonnen, nicht mit ihrem Gegenteil. Sie haben die Philosophie, d.h. die ihrige, unmittelbar als Wahrheit vorausgesetzt. Die Vermittlung hat bei ihnen nur die Bedeutung der Verdeut­ lichung, wie bei Fichte, oder der Entwicklung, wie bei Hegel. Kant war kritisch gegen die alte Metaphysik, aber nicht gegen sich selbst.«

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ist«. Dies gelte insbesondere für die Auffassung der Freiheit. Nur seiner »neuen« Philosophie werde es gelingen, »die Freiheit, die bisher eine antiund supranaturalistische Hypothese war, zu naturalisieren« (1843: 262). Materialistisches Denken darf demnach nicht die denkende und wollende Subjektivität als reine Tätigkeit oder reines Setzen unter dem Namen des ›Ich‹, des ›reinen Willens‹ oder des ›Begriffs‹ zum Prinzip erheben, sondern muss dem Faktum Rechnung tragen, dass es der ›ganze Mensch‹ ist, der denkt, und theoretisches Denken gegenüber dem sinnlichen Dasein des Menschen nur ein abgeleiteter Modus der Aneignung von Welt ist. »Der Mensch denkt, nicht das Ich, nicht die Vernunft. Die neue Philosophie stützt sich also nicht auf die Gottheit, d.i. Wahrheit, der Vernunft allein für sich, sie stützt sich auf die Gottheit, d.i. Wahrheit des ganzen Menschen.« (1843a: 333) Der ganze Mensch ist ein sinnliches, das heißt ein ›gegenständliches‹ Wesen und als solches ein Teil der Natur. Das Wesen seines wie alles Lebens ist die ›Lebensäußerung‹. »Leben heißt Leben, empfinden Empfindungen äußern. […] Ja, was du nicht sinnlich bist, das bist du auch nicht. […] Dein Wesen fällt ohne, ja, wider dein Wissen und Willen in die Sinne. […] Sinnlichkeit ist Wirklichkeit.« (1846a: 136; 139)61 Als gegenständliches Wesen kann er sich nur erhalten, indem er sich auf die Natur außer ihm bezieht. In dieser Beziehung zeigt sich, was er ist. Denn was »ein Wesen ist, das wird nur aus seinem Gegenstande erkannt« (1843a: 270). Um den Menschen vom Tier zu unterscheiden und ihn »als ein über den Tieren stehendes Wesen zu erkennen« (1843a: 335), muss daher nicht auf Außersinnliches rekurriert werden. Der Mensch unterscheidet sich nur dadurch vom Tier, dass er »das allersinnlichste und allerempfindlichste Wesen von der Welt ist«. Allein »in ihm wird die Sinnenempfindung aus einem relativen, den niedern Lebenszwecken untergeordneten Wesen ein absolutes Wesen, Selbstzweck, Selbstgenuß«, etwa wenn er »aus dem zwecklosen Anblick der Sterne himmlische Wonne einsaugt«. Kurzum: »Nur dadurch also ist der Mensch Mensch, daß er nicht wie das Tier ein beschränkter, sondern ein absoluter Sensualist ist.« (1846a: 143 f.) Das instinktgeleitete Tier ist ein »partikuläres«, der Mensch »ein universelles, darum kein beschränktes und unfreies, sondern uneingeschränktes, freies Wesen«. Wenn die tierischen Sinne schärfer sind als die menschlichen, so sind sie es doch »nur in Beziehung auf bestimmte, mit den Bedürfnissen des Tiers in notwendigem Zusammenhang stehende Dinge«, während sich die menschlichen »über die Schranke der Partikularität« und die »Gebundenheit an das Bedürfnis« zu »selbständiger, zu theoretischer Bedeutung und Würde« (1843a, 335 f.) erheben. Die »neue Philosophie« Feuerbachs »macht den Menschen mit Ein­ schluß der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen 61 Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist versteht Feuerbach als Erläuterung zu den Grundsätzen der Philosophie der Zukunft von 1843.

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und höchsten Gegenstand der Philosophie« (1843a: 337). Ihr Naturalismus ist nicht szientifisch, sondern spekulativ. Sie schreibt den Methoden der Naturwissenschaften kein »Erklärungsprivileg« (Keil 2008: 197) zu für das, was in der Welt geschieht und existiert, sondern fasst das Wesen der Natur in Bestimmungen, die »im Horizont Hegels und der romantischen Naturphilosophie« (Schmidt 1973: 135) verbleiben. »Das Wesen der Natur«, so Feuerbach, »ist ursprünglich schon ein in sich unterschiedenes Wesen; denn nur ein bestimmtes, unterschiedenes, individuelles Wesen ist ein wirkliches Wesen.« (1851: 147) Dass sich Feuerbach hier wie auch in anderen Kontexten als Schüler der von ihm kritisierten Spekulation62 erweist, indem er die Natur als eine sich selbst spezifizierende Einheit fasst, ist freilich ein Urteil, das nur von einem ›Standpunkt‹ außerhalb seiner Anthropologie erfolgen kann. Als Terminus der hegelschen Philosophie muss ›Spekulation‹ das Selbstverständnis einer Theorie verfehlen, deren eigener ›Standpunkt‹ nur dem einleuchten kann, der sich von den erkenntnistheoretischen Fragen und diskursiven Begründungsansprüchen der Philosophie nicht irritieren lässt.63 Feuerbachs Frage »Wie sollte das Denken als Tätigkeit eines wirklichen Wesens nicht die wirklichen Dinge und Wesen erfassen?« ist nur rhetorisch gemeint. Es gilt der »kategorische[] Imperativ«: »Wolle nicht Philosoph sein im Unterschied vom Menschen, sei nichts weiter als ein denkender Mensch; denke nicht als Denker, d.h. in einer aus der Totalität des wirklichen Menschenwesens herausgerissenen und für sich isolierten Fakultät; denke als lebendiges, wirkliches Wesen.« Nur »im Vakuum« der philosophischen Abstraktion »entstehen die peinlichen, unfruchtbaren und für diesen [i.e. philosophischen] Standpunkt unauflöslichen Fragen« (1843a: 334).64 Was sich selbst als Negation der ›neueren Philosophie‹65 versteht, erscheint aus der philosophischen Perspektive wie schlechte, nämlich weitgehend thesenartig und unbegründet vorgetragene Philosophie. So mutet etwa der für Feuerbach zentrale Begriff der Unmittelbarkeit dem Leser nicht weniger, sondern mehr zu als Hegels Philosophie universeller Ver62 Schmidt (1973: 160). Schnädelbach (1987: 160) spricht in Bezug auf Feuerbach und Marx von »spekulativem Naturalismus«. Gemeint sei »eine Position, die die spekulative Grundfigur einer sich selbst entzweienden Totalität naturalistisch wendet, d.h. ihr einen Naturbegriff zuordnet«. 63 Denen auch die ›Umkehrmethode‹ nicht genügt: »Die Methode der reformatorischen Kritik der spekulativen Philosophie überhaupt unterscheidet sich nicht von der bereits in der Religionsphilosophie angewandten. Wir dürfen nur immer das Prädikat zum Subjekt und so als Subjekt zum Objekt und Prinzip machen – also die spekulative Philosophie nur umkehren, so haben wir die unverhüllte, die pure, blanke Wahrheit.« (Feuerbach 1843: 244). 64 Dazu ausführlich Brudney (1998; 2002). 65 Die ›neue Philosophie‹ Feuerbachs erinnert insofern an die ›Nicht-Philosophie‹ F.H. Jacobis: zu dieser Kuhne (2007).

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mittlung, gegen die er sich richtet. Gegen Hegels Dialektik, nach der sich das Unmittelbare als Vermitteltes erweist, meint Feuerbach einen positiven Begriff des Unmittelbaren anführen zu können. »›Alles ist vermittelt‹, sagt die Hegelsche Philosophie. Aber wahr ist etwas nur, wenn es nicht mehr ein Vermitteltes, sondern Unmittelbares ist.« (1843a: 321) Das Aporetische dieser Formulierung springt ins Auge. Logisch ist Unmittelbarkeit nur als Negation von Vermittlung zu bestimmen. Wenn das Unmittelbare das Wahre ist, »das Denken aber nur Vermittlung, wie kann dann das Denken Wahrheit beanspruchen?« (Arndt 1992: 32). Feuerbachs Insistieren auf einem positiven Begriff von Unmittelbarkeit trägt irrationale Züge, wenn er die Realität der Einzeldinge als »eine mit unserem Blute besiegelte Wahrheit« bezeichnet und die Sprache als das dem sinnlichen Bewusstsein »Nichtige« (1839: 43), oder wenn er »das Sein […] auf lauter […] Unsagbarkeiten« (1843a: 308) gegründet sieht.66 Weil Feuerbach seine emphatische Auffassung des ›ganzen Menschen‹ der hegelschen Spekulation nur antithetisch entgegensetzt, taugt die Berufung auf sie argumentativ wenig. Marx (und Engels) erschien sie freilich für kurze Zeit als der einzige theoretische Weg, auf dem sich der »groteske[n] Felsenmelodie« (BV 8) Hegels intellektuell entkommen ließ. Wenn im Folgenden Marx’ kritische Aneignung und Weiterentwicklung der feuerbachschen Lehre vom menschlichen Gattungswesen thematisiert wird, so geschieht dies nicht, um die Entwicklung des marxschen Denkens möglichst lückenlos zu dokumentieren. Das Interesse an den Frühschriften ist vielmehr systematisch und sachlich motiviert. Wer, so die später zu erhärtende These, nach den normativen Grundlagen des Kapitals fragt, muss sich auch mit Marx’ Mill-Exzerpten und den Manuskripten beschäftigen. Aus zwei Gründen: Zum einen ist die in ihnen skizzierte Theorie der Entfremdung der Ort im marxschen Werk, an dem Marx selbst, wenn auch nicht explizit, normative Begriffe entwickelt – zuvörderst den der Entfremdung selbst. Zum anderen lässt sich zeigen, dass Marx später, in den 1850er und 1860er Jahren, ungeachtet der zurückliegenden, vernichtenden Kritik am Begriff des Gattungswesens immer dann Begriffe und Argumente der Frühschriften bemüht, wenn die Argumentation selbst die Einführung normativer Bestimmungen notwendig macht. Marx’ kritisches Anschließen an Feuerbach interessiert im Folgenden unter drei Aspekten: dem normativen Begriff des Gattungswesens (1.3.1.1.), der Entfremdungskritik und der Utopie eines nicht entfremdeten, wahrhaft menschlichen Lebens (1.3.1.2.), schließlich der Frage, inwiefern die den Manuskripten eigene normative Dimension ethisch oder geschichtsphilosophisch verstanden werden muss (1.3.1.3.). 66 Auf die irrationalen Züge der Philosophie Feuerbachs ist oft verwiesen worden. Zur Diskussion seines Begriffs der Unmittelbarkeit: Schmieder (2004: 105–130).

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1.3.1.1. ›Gattungswesen‹ als normativer Begriff In den Manuskripten teilt Marx den feuerbachschen Standpunkt einer gegen die ›neuere Philosophie‹ gerichteten Wissenschaft mitsamt ihrem schillernden, spekulativen Naturbegriff. Zugleich geht er über Feuerbach hinaus, indem er die ›Lebensäußerung‹ des Menschen wesentlich als güter- bzw. warenproduzierende gesellschaftliche Tätigkeit, als die geschichtsbildende Macht der Arbeit begreift, aus deren Entfremdung auch die Entfremdung anderer Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu erklären sei. Entscheidende Stichworte und manche prägnante Formulierung findet Marx bei Moses Heß, der etwa zur selben Zeit Feuerbachs Zurückführung der Theologie in Anthropologie als unzureichend kritisiert. Heß zufolge ist das Geld »im praktischen Leben den entäußerten Menschen« ebenso »die Quelle alles Heils und Segens, wie Gott es in ihrem theoretischen Leben ist«. Es stelle sich daher die Frage: »Wa­ rum ist Feuerbach zu diesen wichtigen, praktischen Konsequenzen seines Prinzips nicht gelangt?« Nach Feuerbach sei die wahre Lehre vom göttlichen Wesen die vom menschlichen Wesen: »Theologie ist Anthro­ pologie«. Das sei »nicht die ganze Wahrheit«. Tatsächlich sei das Wesen des Menschen »das Zusammenwirken der verschiedenen Individuen für einen und denselben Zweck, für ganz identische Interessen«. Die »wahre Lehre vom Menschen« sei »die Lehre von der menschlichen Gesellschaftung, d.h. Anthropologie ist Sozialismus«. (Heß 1844: 29367) In Marx’ Worten: Im praktischen »Erzeugen einer gegenständlichen Welt«, in der »Bearbeitung der unorganischen Natur« bewährt sich der Mensch als ein Wesen, »das sich zu der Gattung als seinem eignen Wesen oder zu sich als Gattungswesen verhält«. Seine »bewußte Lebenstätigkeit« unterscheide ihn »unmittelbar von der tierischen Lebenstätigkeit«. (ÖPM 241/516 f.) Das Tier produziere einseitig und nur unter der Herrschaft des physischen Bedürfnisses, der Mensch dagegen universell und selbst frei vom physischen Bedürfnis. Der Standpunkt der Manuskripte ist der feuerbachsche des ›ganzen Menschen‹, allerdings modifiziert durch die in Marx’ Augen entscheidende materialistische Einsicht, wonach Entfremdung nicht nur in Gestalt 67 Heß (1845: 330 f.): »Der gegenseitige Austausch der individuellen Lebenstätigkeit, der Verkehr, die gegenseitige Erregung der individuellen Kräfte, dieses Zusammenwirken ist das wirkliche Wesen der Individuen, ihr wirkli­ ches Vermögen. […] Je stärker der Verkehr, desto stärker ist auch ihre Productionskraft.« Dieser menschliche Verkehr entwickele sich im Verlaufe der »Geschichte durch viele Kämpfe und Zerstörungen hindurch«. Heß hatte seinen Aufsatz Über das Geldwesen der Redaktion der Deutsch-Französi­ schen Jahrbücher größtenteils übergeben, als diese eingestellt werden mussten [vgl. ebd. XLIII: Einl. Hrsg.]. Er war Marx also schon vor seiner Veröffentlichung bekannt.

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von Religion (und Philosophie) vorliege und in all ihren Gestalten aus der geschichtlichen Analyse der Entfremdung des ›wirklichen Lebens‹ der Menschen, ihrer materiellen gesellschaftlichen Produktion, zu erklären sei. Diese Analyse zeige, dass das materielle Privateigentum »der materielle sinnliche [mithin: gegenständliche] Ausdruck des entfremdeten mensch­ lichen Lebens« sei. »Seine Bewegung – die Production und Consumtion – ist die sinnliche Offenbarung von der Bewegung aller bisherigen Production, d.h. Verwirklichung oder Wirklichkeit d[es] Menschen. Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc.« seien »nur be­ sondre Weisen der Production« und fielen »unter ihr allgemeines Gesetz«. Folglich sei »die positive Aufhebung des Privateigenthums«, d.h. »die Aneignung des menschlichen Lebens«, auch »die positive Aufhebung aller Entfremdung, also die Rückkehr des Menschen aus Religion, Familie, Staat etc. in sein menschliches, d.h. gesellschaftliches Dasein. Die religiöse Entfremdung als solche geht nur in dem Gebiet des Bewußtseins, des menschlichen Innern vor, aber die ökonomische Entfremdung ist die des wirklichen Lebens, – ihre Aufhebung umfaßt daher beide Seiten.« (ÖPM 263 f./537) Der Mensch verwirklicht durch gegenständliche Tätigkeit seine Wesenskräfte. Tut er dies unter der Bedingung des Privateigentums (an Produktionsmitteln), ist die Verwirklichung seiner Wesenskräfte eine Entwirklichung – die Produkte seiner Arbeit treten ihm als fremde Mächte mit je eigener, untereinander inkompatibler Gesetzlichkeit gegenüber. Von Seiten seiner eigenen Produkte ergehen daher an den Menschen miteinander unverträgliche Anforderungen, so etwa durch Nationalökonomie und Moral: »Wenn ich den Nationalökonomen frage: Gehorche ich den ökonomischen Gesetzen, wenn ich aus der Preißgebung, Feilbietung meines Körpers an fremde Wollust Geld ziehe, […] so antwortet mir der Nationalökonom: meinen Gesetzen handelst du nicht zuwider; aber sieh’ dich um, was Base Moral und Base Religion sagt.« (ÖPM 282/550 f.) Der entscheidende Schritt über Feuerbach hinaus besteht Marx zufolge in der Umkehr der Erklärungsrichtung von (Selbst-) Entfremdung und in dem veränderten Selbstverständnis der Theorie, die sich nicht länger als Theorie der menschlichen Praxis, sondern als deren selbstbewusstes, auf Veränderung zielendes Element versteht. Was in den Manuskripten eher umständlich angedeutet wird, findet sich in der vierten These über Feuerbach prägnant formuliert: »Feuerbach geht von dem Factum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdopplung der Welt in eine religiöse u. eine weltliche aus. Seine Arbeit besteht darin die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Aber, daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt u. sich ein selbstständiges Reich in den Wolken fixirt, ist nur aus der Selbstzerrissenheit u. Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären«. Diese müsse in ihrem Widerspruch theoretisch verstanden und praktisch revolutioniert werden. Es reiche nicht hin, »die irdische Familie als das Geheimniß der heiligen 187

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Familie« zu entdecken, vielmehr müsse »nun erstere selbst theoretisch u. praktisch vernichtet werden«. (TüF 20/6) Vom Standpunkt des modifizierten Begriffs des gegenständlichen Gattungswesen konfrontiert Marx »das Grosse an der Hegelschen Phä­ nomenologie« mit der »grosse[n] That« Feuerbachs (ÖPM 292/574; 276/569). Groß an der Phänomenologie sei, »daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß« fasse, »die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung«. Anders als Feuerbach erfasse Hegel die Arbeit »als das sich bewährende Wesen des Menschen« und erkenne, dass die Verwirklichung des menschlichen Gattungswesens nur Resultat eines geschichtlichen Prozesses sein könne, der »zunächst [!] wieder nur in der Form der Entfremdung möglich« sei. Indem die Phänomenologie Religion, Reichtum, Staatsmacht als das ›Werk‹ des Menschen begreife, das seinen Produzenten gleichwohl beherrsche,68 fasse sie »die Entfremdung des Menschen«; indem sie aber den Menschen als Selbstbewusstsein, Geist, und sein Werk als Entäußerung des Geistes fasse, dessen Fremdheit aufgehoben sei, wenn sie als diese Entäußerung erkannt werde, sei sie »die verborgne, sich selbst noch unklare und mysticierende Kritik«. (ÖPM 285/573) Zwar fasse Hegel »das Wesen der Arbeit«, indem er sie aber nur als »abstrakt geistige« anerkenne und die Aneignung der entfremdeten Gegenstände nur als eine Aneignung von Gedankenbestimmungen, mystifiziere er sie. (ÖPM 292 f./574) Seine Theorie der Entfremdung und ihrer Aufhebung sei daher selbst eine Gestalt der Entfremdung, so Marx, der damit das Verdikt Feuerbachs bestätigt.69 Gegen Hegels vorgebliche Reduzierung des Menschen auf ein »spiritu­ alistisches Wesen« (ÖPM 293/575) bringt Marx dessen ›Gegenständlichkeit‹ in Stellung. Der »wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus- und einathmende Mensch« sei ein »gegenständliche[s] Wesen« mit »gegenständlichen Wesenskräfte[n]«. Sein Wirken sei »gegenständlich und es würde nicht gegenständlich wirken, wenn nicht das Gegenständliche in seiner Wesensbestimmung läge. Es schafft, sezt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesezt ist, weil es von Haus aus Natur ist.« Setzt der Mensch seine gegenständlichen Wesenskräfte als von ihm ontologisch unterschiedene Gegenstände, »so ist nicht das Setzen Subjekt; es ist die Subjektivität gegenständ­ licher Wesenskräfte, deren Action daher auch eine gegenständliche sein 68 Vgl. Hegel, PhG 360: »Aber diese Welt ist geistiges Wesen, sie ist an sich die Durchdringung des Seins und der Individualität; dies ihr Dasein ist das Werk des Selbstbewußtseins; aber ebenso eine unmittelbar vorhandene, ihm fremde Wirklichkeit, welche eigentümliches Sein hat und worin es sich nicht erkennt.« 69 Feuerbach (1843a: 301): »So entäußert und entfremdet die absolute Philosophie dem Menschen sein eignes Wesen, seine eigne Tätigkeit!«

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muß«. (ÖPM 295/577) Das exzessive Pochen auf die ›Gegenständlichkeit‹ menschlicher Subjektivität will den feuerbachschen Gedanken, wonach der Mensch als ein unmittelbar positives, jeder Selbsttätigkeit und Vermittlung vorgängiges, sich selbst gegebenes Subjekt zu fassen sei, stark machen. Es sei eine »grosse That« Feuerbachs, »der Negation der Negation, die das absolut positive zu sein behauptet, das auf sich selbst ruhende und positiv auf sich selbst begründete Positive entgegen[ge]stellt« (ÖPM 276/569 f.) zu haben. Ist der Phänomenologie zufolge im »absoluten Wissen« der Gegenstand des Bewusstseins überwunden, weil und insofern »die Entäusserung des Selbstbewußtseins es ist, welche die Dingheit sezt« (ÖPM 294/576; vgl. PhG 575), so zeigt dies nach Marx und Feuerbach schlagend, dass Hegel die ›gegenständliche‹, ›sinnliche‹, ›reale‹, ›wirkliche‹ Welt nur ›indirekt‹, nämlich als begrifflich vermittelte gelten lasse. Feuerbach: Weil »von vornherein der Begriff […] als das absolute, allein wahre Wesen vorausgesetzt ist, so kann das Reale oder Wirkliche nur auf indirekte Weise, nur als das wesentliche und notwendige adjectivum des Begriffs anerkannt werden«. Hegel wolle »das Ding selbst ergreifen, aber im Gedanken des Dings«. (1843a: 313) Marx: Weil bei Hegel »nicht der wirkliche Mensch, darum auch nicht die Natur – der Mensch ist die menschliche Natur – als solcher zum Subjekt gemacht wird, sondern nur die Abstraktion d[es] Menschen, das Selbstbewußtsein, so kann die Dingheit nur das entäusserte Selbstbewusstsein sein« (ÖPM 295/577). Schon ein Jahr zuvor, in der Kritik des Hegelschen Staatsrechts, hatte Marx dem spekulativen Programm Hegels, »das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken« (PhG 23), entgegnet: das »reelle[] Ens (ὑποκείμενον, Subjekt)« (KHS 25/224) lasse sich nicht in Gedankenbestimmungen auflösen.70 Marx’ Hegel-Kritik bedient sich der hegelschen Termini ›Entfremdung‹, ›Entäußerung‹ und ›Aufhebung‹, verändert aber vor dem Hintergrund der Lehre vom ›gegenständlichen Gattungswesen‹ ihre Bedeutung. Marx knüpft zwar an einen Begriff der Entfremdung an, wie er sich in der Phänomenologie findet,71 setzt ihn aber, anders als Hegel, mit dem der Entäußerung gleich.72 Hegel zufolge ist Entfremdung der Zustand, in dem der Geist sich in seinem eigenen Werk nicht erkennt, die Aufhebung dieser Entfremdung besteht in dem Sichwiederfinden des Geistes im eigenen Werk. Marx zufolge bezeichnen ›Entfremdung‹ und 70 14 Jahre später heißt es: »Das Ganze wie es im Kopfe als Gedankenganzes erscheint ist ein Product des denkenden Kopfes, der sich die Welt in der ihm einzig möglichen Weise aneignet […]. Das reale Subject bleibt nach wie vor ausserhalb des Kopfes in seiner Selbstständigkeit bestehn; solange sich der Kopf nämlich nur spekulativ verhält, nur theoretisch.« (EKPÖ 37/36). 71 Im Kapitel ›Der sich entfremdete Geist. Die Bildung‹; vgl. Siep (2000: 189 ff.). 72 Dazu ausführlich von Magnis (1975: 81–111).

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›Entäußerung‹ gleichermaßen den Zustand, in dem das Arbeitsprodukt und die Arbeit nicht als Vergegenständlichung menschlicher Wesenskräfte erfahren werden können. Es sei dies zwar ein historisch notwendiger, aber nur transitorischer Zustand. Die kommunistische Gesellschaft wäre frei von Entfremdung respektive Entäußerung. In ihr träten an die Stelle der Entäußerung menschlicher Wesenskräfte deren ›Äußerung‹.73 Religion, Privateigentum, Staat wären als Gestalten der Entfremdung ›aufgehoben‹, aber nicht im hegelschen Sinne, in welchem »Aufheben« beides: »die Verneinung und die Aufbewahrung, die Bejahung« (ÖPM 299/581) meint, sondern abgeschafft. »Um den Gedanken des Privateigenthums aufzuheben, dazu reicht der gedachte Communismus vollständig aus. Um das wirkliche Privateigenthum aufzuheben, dazu gehört eine wirk­ liche communistische Aktion. Die Geschichte wird sie bringen und jene Bewegung, die wir in Gedanken schon als eine sich selbst aufhebende wissen, wird in der Wirklichkeit einen sehr rauhen und weitläufigen Proceß durchmachen.« (ÖPM 289/553) Die Kritik an Hegels Ausführungen über Religion, Privateigentum und Staat erfolgt nicht immanent, sondern von außen. Marx misst sie am normativen Begriff des gegenständlichen Gattungswesens. Zufolge dieses Begriffs ist es erstens ein unhaltbarer Spiritualismus, die genannten Sphären als solche des absoluten bzw. objektiven Geistes zu fassen und zu ordnen, und zweitens ist das Leben des Menschen unter den Bedingungen dieser Sphären ein seinem Wesen unwürdiges. 1.3.1.2. Entfremdungskritik und wahrhaft menschliches Leben Vor dem Hintergrund seiner Auffassung vom Gattungswesen kritisiert Marx die bürgerliche Gesellschaft, indem er verschiedene Formen der Entfremdung diagnostiziert und auf die menschliche Selbstentfremdung in der Arbeit als ihren Grund zurückführt. Zum einen ist der Arbeiter von dem Produkt und den Bedingungen seiner Arbeit getrennt und entfremdet, denn sie gehören nicht ihm, sondern dem Kapitalisten; er ist sodann seinem menschlichen Gattungswesen entfremdet, denn statt universell und mithin frei tätig sein zu können, wie es seinem menschlichen Wesen entspricht, ist er gezwungen, für seine Selbsterhaltung zu arbeiten. Schließlich ist der arbeitende Mensch auch dem anderen Menschen entfremdet. Weil die Einzelnen ihr Gattungswesen nicht affirmieren können, können sie sich auch nicht wechselseitig aufeinander als Gattungswesen beziehen. 73 In den Manuskripten trennt Marx allerdings nicht durchgehend terminologisch zwischen ›Entäußerung‹ (= ›Entfremdung‹) und ›Äußerung‹ (= ›Selbstbestätigung‹).

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Diese verschiedenen Formen der Entfremdung haben ihren Grund in der Entfremdung der Arbeit selbst. Arbeit ist die Äußerung und Vergegenständlichung menschlicher Wesenskräfte. Unter den Bedingungen des Privateigentums an Produktionsmitteln erscheint diese Äußerung als Entäußerung, diese »Verwirklichung der Arbeit […] als Entwirkli­ chung des Arbeiters« (ÖPM 236/512). Die entfremdete Arbeit ist dem Arbeiter »äusserlich«, sie gehört »nicht zu seinem Wesen«, er bejaht sich nicht, sondern verneint sich in ihr; fühlt sich in ihr »nicht wohl, sondern unglücklich«, entwickelt in ihr »keine freie physische und geistige Energie«, sondern »abkasteit« seine Physis und »ruinirt« seinen Geist. Sie »ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse ausser ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, daß, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existirt, die Arbeit als eine Pest geflohen wird«. Ihre Äußerlichkeit für den Arbeiter erscheint darin, »daß er in ihr nicht sich selbst, sondern einem andern angehört«. Sie ist »nicht seine Selbstthätigkeit«, sondern »der Verlust seiner selbst« – Selbstentfremdung. (ÖPM 238 f./514) Gegen Marx’ Entfremdungslehre spricht ihre Voraussetzung: der durch Feuerbach eingeführte, aber nicht begründete Begriff des Menschen als ›Gattungswesen‹. Davon abgesehen und den Begriff als gültig unterstellt, kann sie nicht leisten, was sie leisten soll. Sie soll zeigen, wie aus dem Begriff der entfremdeten Arbeit der des Privateigentums notwendig folgt. Marx geht von dem »Nationalökonomischen, gegen­ wärtigen Factum« aus, dass der Arbeiter »um so ärmer« wird, »je mehr Reichthum er producirt« (ÖPM 235/511).74 Die Erklärung dieses Faktums führe auf den Begriff der entfremdeten Arbeit, aus dessen Analyse folge, wie sich dieser Begriff »in der Wirklichkeit aussprechen und darstellen« müsse – nämlich als System des Privateigentums. »Das Pri­ vateigenthum ergiebt sich also durch Analyse aus dem Begriff der ent­ äusserten Arbeit, d.i. d[es] entäusserten Menschen, der entfremdeten Arbeit, des entfremdeten Lebens, d[es] entfremdeten Menschen.« (ÖPM 244/520) Marx meint damit einen notwendigen Zusammenhang in der »Bewegung des Privateigenthums« aufgezeigt zu haben. Eine solche Entwicklung der »nationalökonomischen Kategorien« mache den ökonomischen Gesamtzusammenhang allererst begreifbar. Die Nationalökonomie selbst bringe es nur dazu, begriffslos Fakten unter Gesetze zu subsumieren (ÖPM 234 ff./510 f.; dazu III, 5.1.). Näheres Hinsehen zeigt freilich, dass die Argumentation zirkulär gerät. Marx unterscheidet nicht nur zwischen der Arbeit als Tätigkeit der Vergegenständlichung des menschlichen Gattungswesens einerseits und ihrem Produkt als dem vergegenständlichten, gegenüber dem Arbeiter selbständigen Teil dieses 74 Vgl. Hegel, Rph 389 ff.

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Gattungswesens, er identifiziert sogleich die Fremdheit, die dem Produkt aufgrund seiner ontologischen Selbständigkeit gegenüber dem Arbeiter zukommt, mit der Fremdheit, die ihm als Eigentum eines anderen eignet. Marx geht »so vor, daß er Arbeit und Produkt einander gegenüberstellt, vom Produkt, das als fremd vorausgesetzt ist, und einem Anderen gehört, zurückschließt auf den Grund des fremden Produkts und fremden Besitzers in der entfremdeten Arbeit. Aber dieser Grund ist eine petitio: er enthält schon die Entfremdung, die er erklären soll.« (Hartmann 1970: 151 f.)75 Anders als er meint, deduziert Marx nicht das Privateigentum aus dem Begriff der entfremdeten Arbeit, sondern setzt die Entfremdung unter Verweis auf den nationalökonomischen Zustand, mithin auf das System des Privateigentums voraus. Damit ist aber der von ihm formulierte und nicht eingelöste Anspruch, zu zeigen, wie die »Entfremdung im Wesen der menschlichen Entwicklung begründet« (ÖPM 246/521)76 ist, als prinzipiell nicht einlösbar erwiesen. Und ein Weiteres wird deutlich: Marx’ Begriff der Entfremdung ist normativ. Die Feststellung, dass der Mensch sich in seiner Arbeit sein Gattungswesen nicht bestätigen kann, ist eine Wertung, die nicht auf die subjektiven Empfindungen des jeweiligen Subjekts zurückzuführen ist, sondern auf eine objektive, im Wesen des Menschen gründende Norm. Diese besagt, dass es dem Menschen als universellem und ›darum‹ freiem Wesen prinzipiell unangemessen ist, sich zum Mittel zu machen und mithin sich sein Gattungswesen zu entfremden. »Marxens Wertungen basieren letztlich auf dieser einen Grundnorm: Der Mensch ist als autonomes Wesen zu behandeln.« (von Magnis 1975: 129) Das subjektive Unwohl- oder Wohlfühlen, welches Marx in seinen plastischen Beschreibungen von Entfremdungsphänomenen anführt, kann, muss aber nicht ein Indiz dafür sein, dass tatsächlich Entfremdung vorliegt.77 »Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar«, so die Heilige Familie.78 »Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung 75 Ausführlich von Magnis (1975: 111–139). 76 »Marx, der ausgegangen war, das zufällige Faktum [dass der Arbeiter immer ärmer wird, je mehr er produziert] zu begreifen, hat nun seinerseits ein zufälliges Faktum in der Hand, die Entfremdung in der Arbeit, für die überhaupt keine Gründe mehr angegeben werden können.« (von Magnis 1975: 139). 77 Vgl. Archard (1987: 33). Milanovićs (2019: 268 f.; 273) These, das »Vordringen der Kommodifizierung« (»Heute kann jeder, der ein bisschen Freizeit hat, diese Zeit ›verkaufen‹ und für einen Online-Vermittlungsdienst arbeiten«) beseitige die Entfremdung, weil diese anders als jene voraussetze, »dass wir uns einer Dichotomie zwischen uns als ontologischen Wesen und uns als wirtschaftlichen Agenten bewusst sind«, trifft mithin nicht zu. 78 ›Proletariat‹ kommt in den 1840er Jahren in den allgemeinen Sprachgebrauch. In ihm drückt sich zunächst ein vages Bewusstsein der mit

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wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz.« (HF 37)79 Allerdings hat Marx den Unterschied zwischen subjektivem Gefühl und objektiver Wertung selbst nicht betont, sondern immer wieder die subjektiven Eindrücke, Gefühle und Verhaltensweisen der Arbeiter zum Argument für das Vorliegen von Entfremdung gemacht. Marx’ Charakterisierung der entfremdeten Arbeit erhellt zugleich die Utopie nicht entfremdeter Arbeit. Sie wäre freie, selbstzweckhafte Tätigkeit, geschähe nicht aus äußerer Not, sondern innerer Notwendigkeit, wäre dem Arbeiter ein Bedürfnis und nicht ein Mittel zur Bedürfnisbefriedigung. Er würde in ihr seine Gattungskräfte nicht nur betätigen, sondern auch bestätigen, die Vergegenständlichung seiner Kräfte wäre eine seines Selbst, Arbeit wäre Selbstverwirklichung. »Der Communismus als positive Aufhebung des Privateigenthums, als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für d[en] Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichthums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen. Dieser Communismus ist als vollendeter Naturalismus=Humanismus, als vollendeter Humanismus=Naturalismus […] die wahrhafte Auflösung des Widerstreits des Menschen mit der Natur und mit d[em] Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Nothwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Räthsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.« (ÖPM 263/536)

Bei näherem Hinsehen erweist sich die Utopie des wahrhaft menschlichen Lebens, wie sie Marx in den Manuskripten und den Mill-Exzerpten skizziert, als unhaltbar. Die Manuskripte offerieren als Paradigma einer solchen Produktion »surprisingly« (Avineri 1968: 89) das Verhältnis von Mann und Frau. Das »Verhältniß des Mannes zum Weib« sei »das natürlichste Verhältniß d[es] Menschen zum Menschen«. In Bevölkerungswachstum und kapitalistischer Entwicklung einhergehenden gesellschaftlichen Umbrüche aus. »Sein Gebrauch war ungenau und dehnbar genug, um einer Vielzahl polemischer Absichten dienen zu können.« (Moore 1978: 189) Bei Marx gewinnt der Begriff in dem Maße Kontur, wie es ihm gelingt, den des Kapitals zu entwickeln. 79 »Die Entfremdung erscheint […] darin, daß mein Lebensmittel eines an­ dern ist«, dass »was mein Wunsch der unzugängliche Besitz eines andern ist«, dass »jede Sache selbst ein andres als sie selbst«, dass »meine Thätigkeit ein andres, […] endlich – und dieß gilt auch für den Capitalisten – daß überhaupt die unmenschliche Macht her[rscht]«. (ÖPM 290/554).

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ihm zeige sich, »inwieweit das natürliche Verhalten des Menschen menschlich oder inwieweit das menschliche Wesen ihm zum Natür­ lichen Wesen, inwieweit seine menschliche Natur ihm zur Natur geworden ist. In diesem Verhältniß zeigt sich auch, inwieweit das Be­ dürfniß des Menschen zum menschlichen Bedürfniß, inwieweit ihm also der andre Mensch als Mensch zum Bedürfniß geworden ist, inwieweit er in seinem individuellsten Dasein zugleich Gemeinwesen ist.« (ÖPM 262/535) Die Mill-Exzerpte erläutern die Struktur der wahrhaft menschlichen Produktion genauer am Modell zweier Individuen, die sich unmittelbar und wechselseitig als Personen aufeinander beziehen, sich also nicht instrumentalisieren. »Gesezt wir hätten als Menschen producirt: Jeder von uns hätte in seiner Production sich selbst und den andern doppelt bejaht. Ich hätte 1) in meiner Production meine Individualität, ihre Eigenthümlichkeit vergegenständlicht und daher sowohl während der Thätigkeit eine individuelle Lebensäusserung genossen, als im Anschauen des Gegenstandes die individuelle Freude, meine Persönlichkeit als gegenständ­ liche, sinnlich anschaubare und darum über allen Zweifel erhabne Macht zu wissen. 2) In deinem Genuß oder Deinem Gebrauch meines Produkts hätte ich unmittelbar den Genuß, sowohl des Bewußtseins, in meiner Arbeit [ein] menschliches Bedürfniß befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenständlicht und daher dem Bedürfniß eines andern menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft zu haben, 3) für dich der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als eine Ergänzung deines eignen Wesens, als ein nothwendiger Theil deiner selbst gewußt und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken als in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen, 4) in meiner individuellen Lebensäusserung unmittelbar Deine Lebensäusserung geschaffen zu haben, also in meiner individuellen Thätigkeit unmittelbar mein wahres Wesen, mein menschliches, mein Gemeinwesen bestätigt und verwirklicht zu haben.« (AJM 465/462)

Die Passage zeigt, wie stark der gelernte Hegelianer Marx zu dieser Zeit durch die materialistische Anthropologie des ehemaligen Hegelianers Feuerbach beeinflusst ist. Formal ist die Beziehung beider Individuen symmetrisch bestimmt: »von deiner Seite geschähe, was von meiner gesch[ieht]« (AJM 465/463). Dem Inhalt nach ist sie durch die kritisch weiterentwickelte Anthropologie Feuerbachs geprägt. Die Individuen sind nicht hegelsche ›Selbstbewusstseine‹ in einer Beziehung wechselseitiger Anerkennung, sondern ›gegenständliche Gattungswesen‹, die in ihrer Arbeit dieses ihr Wesen betätigen und bestätigen. Ein jedes erfährt darin, was es durch seine Arbeit bewirken kann und folglich ist. Denn was der Mensch ist, so Marx mit Feuerbach, zeigt sich in seinem Gegenstand, marxisch genauer: dem Gegenstand seiner gegenständlichen 194

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Tätigkeit.80 Der Genuss, den das andere Individuum durch den Gebrauch meines Produkts hat, ist unmittelbar auch mein Genuss – in dreifacher Hinsicht. Zunächst: Seinen Genuss wissend, weiß ich, dass ich mit dem Produkt meiner Arbeit ein menschliches Bedürfnis befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenständlicht und daher dem Bedürfnis eines anderen menschlichen Wesens seinen Gegenstand verschafft habe. Allein, als isolierter Einzelner, könnte ich mein Gattungswesen nicht vergegenständlichen, so Marx mit Feuerbach.81 Dann: Den Genuss des Anderen wissend, weiß ich mich selbst als ›Mittler‹ zwischen dem Anderen und der Gattung. Ich bin mir bewusst, von dem anderen als Ergänzung seines eigenen Wesens gewusst und empfunden zu werden, weiß mich also in seinem Denken wie in seiner Liebe bestätigt. Für Marx wie für Feuerbach erkennt das Individuum nur in der Liebe den anderen Menschen als Person, als nicht austauschbares ›Ding‹ von Würde oder absolutem Wert.82 Angesichts des oben genannten normativen Paradigmas der Mann/Frau-Beziehung muss allerdings betont werden, dass sich ›Liebe‹ nicht darin erschöpft, sondern offenbar von Marx wie schon von Feuerbach auch in einem weiteren Sinn verstanden wird »als andern wohlwollen und wohltun, also die Selbstliebe anderer als berechtigt anerkennen« (Feuerbach 1846: 180). Schließlich: Den Genuss des Anderen wissend, weiß ich, mit meiner Lebensäußerung unmittelbar die Lebensäußerung des Anderen geschaffen, also in meiner individuellen Tätigkeit unmittelbar mein menschliches Gemeinwesen betätigt und bestätigt zu haben. Marx’ Gegenüberstellung von wahrhaft menschlicher Produktion und Produktion unter »der Voraussetzung des Privateigenthums« ergibt: Im Kommunismus wäre meine Arbeit »freie Lebensäusserung, daher Genuß des Lebens«, in der bürgerlichen Wirklichkeit ist sie »Lebens­ entäusserung, denn ich arbeite, um zu leben«; im Kommunismus wäre »daher« in meiner Arbeit »die Eigenthümlichkeit meiner Individualität, weil mein individuelles Leben bejaht«, in der bürgerlichen Gesellschaft ist sie »bis zu dem Punkte entäussert, daß diese Thätigkeit mir verhaßt, eine Qual und vielmehr nur der Schein einer Thätigkeit, darum auch 80 Feuerbach (1843a: 270): »Was aber ein Wesen ist, das wird nur aus seinem Gegenstande erkannt; der Gegenstand, auf den sich ein Wesen notwendig bezieht, ist nichts anderes als sein offenbares Wesen.« 81 Das »Geheimnis« der Trinität, die sowohl für Hegels Philosophie als auch für die Religion »das höchste Mysterium« sei, ist nach Feuerbach »das Geheimnis des gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Lebens – das Geheimnis der Notwendigkeit des Du für das Ich« (1843a: 339 f.). 82 Feuerbach (1843a: 317): »Nur in der Empfindung, nur in der Liebe hat ›Die­ ses‹ – diese Person, dieses Ding – d.h. das einzelne, absoluten Wert, ist das Endliche das Unendliche – darin und nur darin allein besteht die unendliche Tiefe, Göttlichkeit und Wahrheit der Liebe.«

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eine nur erzwungene Thätigkeit und nur durch eine äusserliche zufällige Noth, nicht durch eine innere nothwendige Noth mir auferlegt ist«. (AJM 466/463) In der kommunistischen Produktion bezögen sich die Individuen unmittelbar und wechselseitig als Personen aufeinander. Jedes sähe in der Befriedigung der Bedürftigkeit des anderen das Ziel seiner Produktion, hätte in dem Genuss seines Produkts durch das andere seinen eigenen Genuss, erkennte mithin das andere Individuum unmittelbar als Zweck an. In der bürgerlichen Gesellschaft dagegen beziehen sich die Individuen als rationale Egoisten aufeinander, die einander als Mittel zur Befriedigung privater Zwecke benutzen. Der Einzelne sieht nicht in der Befriedigung der Bedürftigkeit des anderen das Ziel seiner Produktion, als Privateigentümer produziert er vielmehr für eine zahlungskräftige Nachfrage auf einem anonymen Markt mit dem Ziel, die produzierte Ware gegen die allgemeine Ware Geld zu tauschen. Kurzum: Die Einzelnen begegnen sich nicht als Gattungswesen, indem sie ›Gattungsakte‹,83 sondern als rationale Egoisten, indem sie Tauschakte vollziehen. Das entworfene normative Paradigma scheint kaum mit den Grundlagen einer arbeitsteiligen, auf moderner Technik basierenden gesellschaftlichen Produktion vereinbar. Vielmehr ruft es das Bild einer »›Hauswirtschaft‹ im Großen« (Hartmann 1970: 522).84 hervor, in der die vereinigten Produzenten über das Was und Wie der Produktion entscheiden, sie organisieren und leiten. Statt Waren um des Profits willen zu produzieren, werden Güter zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung hergestellt und direkt – ohne Vermittlung durch einen anonymen Markt – verteilt. Maßgebend ist dabei die Bedürftigkeit der Einzelnen, nicht die von ihnen jeweils investierte Arbeitszeit. Das Modell zweier Individuen, die sich in ihrer Produktion unmittelbar und wechselseitig als Personen aufeinander beziehen, scheint schon deshalb verfehlt, weil es zu einfach strukturiert ist. Es schreibt eine Unmittelbarkeit der Beziehung der Individuen fest, die in der kommunistischen Produktion nicht möglich ist. (1) Im Modell produziert je ein Individuum ein ganzes Produkt (Fertigprodukt), während in der gesellschaftlichen Produktion des ›Vereins freier Menschen‹ viele Individuen in vielen Einzelproduktionen mittels moderner Technik Produkte oder Produktteile herstellen. Die Arbeitsprozesse in den jeweiligen Einzelproduktionen und der kooperative 83 Vgl. AJM 454/453; ÖPM 271/542. 84 Hartmann bescheinigt Marx in diesem Zusammenhang »Naivität« (ebd.), Schmidt am Busch (2002: 122) einen Rückfall hinter Hegel, aus dessen Perspektive Marx’ Utopie als »eine vormoderne Gestalt des Geistes« erscheine, »weil sie die Trennung von Privatem und Gesellschaftlichem als auch von Gesellschaftlichem und Staatlichem unterläuft«. »Eine dem Marxschen Konzept des ›gegenständlichen Gattungswesens‹ entsprechende Wirtschaftsform hielt Hegel nur im Rahmen der sich selbst versorgenden Familie für möglich« (121): verweist auf JS III 194 ff.

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Zusammenhang der Einzelproduktionen untereinander mögen nun so menschenfreundlich wie nur möglich organisiert sein – die im Modell gegebene Unmittelbarkeit der Beziehung etwa von Individuum A als Produzent und Individuum B als Konsument ist nicht erreichbar. Im Modell besteht die Unmittelbarkeit der Beziehung darin, dass sich A und B nicht wie Privateigentümer vermittelt über ihre Sachen aufeinander beziehen, sondern wie wahre Menschen, die einander als Zwecke anerkennen. Wen sollte aber Produzent A, der in einer Fabrik Teile für ein Smartphone herstellt, unter den möglichen Konsumenten als Person unmittelbar anerkennen? Eine unmittelbare Beziehung zu einem Konsumenten im Sinne des Modells ist A prinzipiell verwehrt, weil er selbst nur als ein Glied in der Fertigungskette des Produkts fungiert, das von anderen konzipiert wurde. Weder ist er der alleinige Produzent, noch bezieht er sich als Teilproduzent auf einen bestimmten Konsumenten. (2) Das Modell scheint auch darin verfehlt, dass es die Individuen allein als Produzenten von Produkten der individuellen Konsumtion anführt. Die Produktion von Produktionsmitteln ist aber nicht nur für die kapitalistische, sondern (aus anderen Gründen!) auch für die anvisierte kommunistische Gesellschaft essentiell. Nur avancierte Produktionstechnik gewährleistet ein Niveau der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit, dass es erlaubt, die Bedürfnisse nach Konsumtionsmitteln zu befriedigen und die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit tendenziell zugunsten von mehr freier Zeit zu senken. Produktionsmittel, etwa Maschinen, taugen aber nicht zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung eines Individuums. Derjenige, der als Glied einer Fertigungskette an der Produktion von Produktionsmitteln beteiligt ist, bezieht sich mit seiner Tätigkeit und dem Endprodukt nicht unmittelbar auf das Bedürfnis eines Individuums, dessen Genuss unmittelbar sein Genuss ist. (3) Das Modell vermag offenbar nicht zu leisten, was es leisten soll. Weder lassen sich mit ihm die bürgerlichen Verhältnisse begründet kritisieren, noch kann mit ihm die Struktur einer wahrhaft menschlichen, auf nicht entfremdeter Arbeit beruhenden gesellschaftlichen Produktion kenntlich gemacht werden. Marx’ Vorgehen ist durch Feuerbach geprägt. Sein Modell zweier Individuen, die sich in ihrer Produktion unmittelbar und wechselseitig als Personen aufeinander beziehen, ist dem Verhältnis von ›Ich und Du‹ nachgebildet, das bei Feuerbach für die Gesellschaftlichkeit des Individuums steht.85 Feuerbach setzt seine Auffas85 Feuerbach (1843a: 339): »Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten – eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt.« Marx am 8. August 1844 an Feuerbach: »Die Einheit der Menschen mit den Menschen, die auf dem realen Unterschied der Menschen begründet ist, der Begriff der Menschengattung aus dem Himmel der Abstraktion

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sung vom Menschen als Gattungswesen nicht nur den vermeintlichen Abstraktionen der ›neueren Philosophie‹ (›Ich‹, ›Selbstbewusstsein‹, ›Geist‹) entgegen, sondern enttäuscht auch bewusst die Erwartung einer diskursiven Begründung seiner philosophischen Thesen. »Wahr und göttlich ist nur, was keines Beweises bedarf, was unmittelbar durch sich selbst gewiß ist, unmittelbar für sich spricht und einnimmt, unmittelbar die Affirmation, daß es ist, nach sich zieht – das schlechthin Entschie­ dene, schlechthin Unbezweifelhafte, das Sonnenklare. Aber sonnenklar ist nur das Sinnliche; nur wo die Sinnlichkeit anfängt, hört aller Zweifel und Streit auf. Das Geheimnis des unmittelbaren Wissens ist die Sinn­ lichkeit.« (1843a: 321)86 Ironischerweise muss Feuerbach sich aber den Vorwurf gefallen lassen, selbst über Abstrakta wie ›Gattung‹ und ›Individuum‹ nicht hinausgelangt zu sein. Der Gefahr, beide gegeneinander zu fixieren, ist durch das Pochen auf Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit nicht zu entkommen. »Individuum sein heißt zwar allerdings ›Egoist‹ sein, es heißt aber auch zugleich, und zwar nolens volens, Kommunist sein«, und: »Folge den Sinnen! Wo der Sinn anfängt, hört die Religion und hört die Philosophie auf, aber du hast dafür die schlichte, blanke Wahrheit« (Feuerbach 1845: 432 f.) – solche Appelle können erkenntnistheoretische oder geistphilosophische Argumente weder außer Kraft setzen noch eine Gegenposition begründen. Indem Marx ins Zentrum rückt, wovon Feuerbach weitgehend abstrahiert: die historische, gesellschaftliche Praxis als ›gegenständliche Tätigkeit‹ des Menschen, geht er über Feuerbach hinaus. Er geht allerdings nicht weit genug. Wie Feuerbach verwirft er den emphatischen Vernunftbegriff der klassischen deutschen Philosophie im Namen eines genetischen Denkens, das sich kritisch gegen die von ›der‹ Philosophie behauptete Autonomie des Geistigen gegenüber dem ›wirklichen Leben‹ richtet.87 Wie für diesen ist auch für Marx Geistiges »als Wirkliches anthro­pologische Konfiguration von Menschen. In dieser Reduktion liegt ein Nominalismus, ein Insistieren auf dem wirklichen, einzelnen Menschen, der als einzelner aber gerade ein ›Gemeinwesen‹ (= Gemeinschaftswesen) sein soll.« (Hartmann 1970: 175 f.) Der Satz »Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen« lässt sich durch das Modell zweier Individuen und ihrer ›Gattungsakte‹ nicht erhellen.88 Eine auf die wirkliche Erde herabgezogen, was ist er anders als der Begriff der Gesellschaft!« (MEW 27: 425). 86 Popitz (1953: 126) spricht von dem »Kardinalsatz Feuerbachs«. 87 Seit der Deutschen Ideologie tut er dies im Rahmen der materialistischen Geschichtsauffassung und mit den Mitteln ihrer Ideologiekritik. 88 Feuerbachs (1845: 434) Bemerkung, die Gattung bedeute bei ihm »nicht ein abstractum, sondern nur, dem einzelnen, für sich selbst fixierten Ich gegenüber, das Du, den andern, überhaupt die außer mir existierenden menschlichen Individuen«, ist eine von vielen Behauptungen, die allesamt nicht

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Entfremdungsanalyse, die ihn unkritisch voraussetzt und in feuerbachscher Manier ›den Menschen‹ als Gattungswesen beschwört, erklärt nichts und taugt nicht als kritische Theorie kapitalistischer Verhältnisse. 1.3.1.3. Sozialismus89 als Ziel der Geschichte Für die Entfremdungsanalyse der Manuskripte ist ein normativer Begriff des Menschen konstitutiv. Unter seiner Voraussetzung werden die verschiedenen Entfremdungsphänomene als zu kritisierende objektive Sachverhalte begriffen und die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse als solche, die nicht sein sollen, oder positiv ausgedrückt: überwunden werden sollen.90 Das Sollen ist dabei nicht deontologisch, als moralisches Sollen zu verstehen – Marx führt keine unbedingte Pflicht an, sich gegen die Verhältnisse zu stemmen –, sondern teleologisch. Die Normativität, die dem Begriff des Gattungswesens eignet, ist nicht präskriptiv, sondern evaluativ. Ist sie damit auch ethischer Art? Nicht wenige Autoren wollen in den Manuskripten eine an Aristoteles angelehnte ethische Argumentation entdeckt haben. Die Manuskripte enthielten mehr oder weniger verborgen eine Lehre vom guten Leben und Handeln. Nach Angehrn fungiert als »implizite Norm« der Entfremdungskritik »so etwas wie ein Modell von Selbstverwirklichung, wie es in der Nikomachischen Ethik als Definitionsmoment des Glücks festgehalten wird: Ein Tätigsein (energeia) im Sinne der höchsten und vollendetsten Fähigkeiten«. (Angehrn 1986: 126) Der »›teleologische‹ Ansatz der Selbstverwirklichung« argumentiere nicht mit »Sollenssätzen oder mit moralischen Gütern wie Gerechtigkeit; eher wäre er der Seite der ›nicht-moralischen‹ Güter zuzuschlagen« (Angehrn 1986: 146). Nach Quante gibt es »ohne Zweifel viele Passagen in den Manuskripten, die sich durchaus im Sinne einer geeignet sind, »seinen entschiedenen Nominalismus« zu »mildern«, wie A. Schmidt (1973: 176) meint. 89 Die Manuskripte behaupten: »Der Communismus ist die nothwendige Gestalt und das Energische Princip der nächsten Zukunft, aber der Communismus ist nicht als solcher das Ziel der menschlichen Entwicklung – die Gestalt der menschlichen Gesellschaft.« Die Gestalt der menschlichen Gesellschaft, die das Ziel ist, nennt Marx hier »Socialismus«. Der Kommunismus sei vermittelt durch die Aufhebung des Privateigentums, der »Socialismus als Socialismus« bedürfe einer solchen Vermittlung nicht mehr, er gründe in sich (ÖPM 274 f./546). 90 Zustände der Entfremdung sind dem Menschen »schlechthin unangemessen«, so von Magnis (1975: 389 f.). »Schlechthin«, weil das Urteil über die Unangemessenheit insofern unbedingt ist, als es alle subjektiven Beteuerungen, man fühle sich doch wohl in dem als Entfremdung kritisierten Zustand, trumpft.

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ethischen Argumentation lesen lassen, wenn [!] man den Essentialismus des Gattungswesens im Sinne einer aristotelischen Ethik der Wesensverwirklichung begreift. Evaluativ ist diese Lesart, weil das Sein-Sollen der essentialistischen Ontologie ein Handeln-Sollen in der Perspektive der Beteiligten, welche die Wesensstruktur realisieren, nach sich zieht.« Quante spricht von einem »ontologisch fundierte[n] ethische[n] Imperativ«. Bestätigt sieht er diese Lesart durch seine Interpretation des oben bereits zitierten und kritisierten Modells wahrhaft menschlicher Produktion aus den Mill-Exzerpten. »Eingelassen in die ontologische Dimension der wechselseitigen Abhängigkeit« der beiden Individuen sei »die Forderung [!] nach der angemessenen individuellen Perspektive auf diese ontologische Dimension sowie die Forderung [!] nach der richtigen Haltung gegenüber den Bedürfnissen der anderen.« Zudem könne »die Symmetriebedingung« des Verhältnisses der beiden Individuen »für eine gerechtigkeitstheoretische Begründung dieser in der ontologischen Verschränkung der Individuen qua Gattungswesen gründenden Ansprüche herangezogen werden«. Marxens antiphilosophische Haltung und seine Kritik an ethischen und rechtlichen Argumentationen erschwerten es freilich, die derart »freigelegte ethische Dimension der Anerkennung als eine angemessene ethische Konzeption des guten menschlichen Lebens zu rekonstruieren«. (Quante 2009: 293; 299 f.) Sicher: Wenn man die Lehre vom Gattungswesen »im Sinne einer aristotelischen Ethik der Wesensverwirklichung begreift«, dann lassen sich »ohne Zweifel viele Passagen« der Manuskripte »durchaus im Sinne einer ethischen Argumentation lesen«.91 Tatsächlich stützen aber weder die Manuskripte noch die Mill-Exzerpte die These von der impliziten ethischen Norm. Zwar lässt sich das »Sein-Sollen« eines Zustands wahrer menschlicher Produktion im Rahmen »der essentialistischen Ontologie« nachweisen, ihm korrespondiert aber kein »Handeln-Sollen in der Per­ spektive der Beteiligten«. Marx zufolge ist die (Selbst-) Entfremdung des menschlichen Gattungswesens ein historisch notwendiger und notwendig an sein Ende kommender Prozess – abzulesen an der »Bewegung des Privateigenthums«.92 Nur unter dessen »Herrschaft«, die im industriellen Kapital ihre »vollendete objektive Gestalt« erreicht und »zur weltgeschichtlichen Macht« (ÖPM 260/533) wird, produzieren die Menschen jenen gesellschaftlichen Reichtum, der nach der ›Aufhebung‹ des Privateigentums gesellschaftlich angeeignet werden kann. Dem Menschen, der 91 Quante (2009: 300) räumt ein, es gebe »mächtige Züge der Marxschen Philosophie, die es enorm erschweren, […] die hier vorgeschlagene Interpretation durchzuhalten«. 92 Die Entfremdung ist »im Wesen der menschlichen Entwicklung begründet«, wie vermag Marx allerdings nicht zu sagen (ÖPM 246/521); das Privateigentum ist eine »geschichtliche Nothwendigkeit« (ÖPM 264/537).

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seinem Wesen nach universell und ›darum‹ frei ist, ist es in den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen verwehrt, eine entsprechende Existenz zu führen. Die Verhältnisse sind daher nur als ein transitorischer Zustand seiner Entwicklung zu verstehen. Deren telos entspringt der Differenz von Wesen und Existenz des Menschen. Zu realisieren ist es nur in einem historischen Prozess und in vollem Umfang nur für die Gattung. Die als privativ zu charakterisierende Individualität und die durch die vorgegebene Wesensbestimmung des Menschen historisch aufgegebene Universalität bedingen einander.93 Wie bei Feuerbach wird unterstellt, im Wesen des Menschen sei das Prinzip seiner Entwicklung schon gegeben.94 Der Mensch sei, anders als das Tier, darauf angelegt, sich die Welt universell anzueignen, das heißt sich selbst zu universalisieren. Das egoistische Verhalten der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft ist diesen daher nicht individuell anzulasten, es drückt nur die Verfasstheit des gesellschaftlichen Ganzen aus. So unvermeidbar wie die bürgerliche Gesellschaft ist die durch sie produzierte gesellschaftliche ›Dummheit‹. »Das Privateigenthum hat uns so dumm und einseitig gemacht, daß ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben, also als Capital für uns existirt oder von uns unmittelbar besessen, gegessen, getrunken, an unsrem Leib getragen, von uns bewohnt etc kurz, gebraucht wird. Obgleich das Privateigenthum alle diese unmittelbaren Verwirklichungen des Besitzes selbst wieder nur als Lebensmittel faßt und das Leben, zu dessen Mittel sie dienen, ist das Leben des Privateigenthums, Arbeit und Capitalisirung.« (ÖPM 268/540)

Unter der Herrschaft des Privateigentums werden Mensch und außermenschliche Natur zu bloßen Mitteln seines Lebens. Das Privateigentum kann nur leben, indem es das Leben der Individuen entmenschlicht.95 »An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne« tritt »daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Ha­ bens«. Statt seine Wesenskräfte in gegenständlicher gesellschaftlicher Tätigkeit zu bestätigen, jagt der Mensch einem bloßen Surrogat dieser Kräfte nach, dem Geld. Was »das Geld kaufen kann, das bin ich«. Das Geld »ist das entäusserte Vermögen der Menschheit« (ÖPM 319 f./564 f.). So ist es nicht mehr Mittel, sondern Selbstzweck. Um an seiner quantitativ unbegrenzten Macht teilzuhaben, macht der Einzelne sich 93 Zu Feuerbach A. Schmidt (1973: 168): Was Feuerbachs Konzeption »über das ›Sein‹ des Menschen sagt, impliziert allemal ein (historisch vermitteltes) ›Sollen‹; gegebene Individualität und aufgegebene Totalität bedingen einander.« 94 Den teleologischen, meist gar nicht thematisierten Zug des feuerbachschen Denkens stellt Nüdling (1936) heraus. 95 Später wird Marx vom »Vampyrdurst« des Kapitals sprechen (vgl. K I² 261/271).

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und seinesgleichen zu Mitteln seines Erwerbs und die Natur zum bloßen Material seiner Arbeit. Marx zufolge handelt es sich hier nicht um einen ethisch zu kritisierenden Sachverhalt, sondern um eine Dimension der geschichtlich notwendigen Bewegung des Privateigentums. »Auf diese absolute Armuth mußte das menschliche Wesen reducirt werden, damit es seinen innern Reichthum aus sich herausgebäre.« (ÖPM 269/540)96 Seinen »innern Reichthum« gebiert das menschliche Wesen durch »die Aufhebung des Privateigenthums«, welche die »vollständige Emancipa­ tion aller menschlichen Sinne und Eigenschaften« sei. Das Bedürfnis und der Genuss sind wahrhaft menschlich geworden. Sie haben »ihre egoisti­ sche Natur und die Natur ihre blose Nützlichkeit verloren«. Der Nutzen ist »zum Menschlichen Nutzen geworden«. (ÖPM 269/540) Im Kommunismus ist das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu seinesgleichen und zur Natur radikal verändert. Zunächst sein Selbstver­ hältnis: In seiner Tätigkeit bestätigt der Mensch jetzt seine Wesenskräfte. Seine Arbeit ist »freie Lebensäußerung, daher Genuß des Lebens« (AJM 466/463). An die Stelle der »abstrakte[n] Genußsucht«, der nicht endenden Jagd nach dem Geld als dem »Gegenstand, der [die] Möglichkeit aller Genüsse enthielte« (Gr 146 f./149), ist der »Selbstgenuß« getreten, in dem sich der selbstzweckhafte Charakter der gegenständlichen Tätigkeit manifestiert. In ihr bejaht der Mensch sein »individuelles Leben«, sie und nicht der Besitz irgendeines Gegenstandes oder das Geld als Inbegriff allen gegenständlichen Reichtums ist daher sein »wahres, thäti­ ges Eigenthum« (AJM 466/463). Zweitens sein Verhältnis zu seinesgleichen: Die Bejahung der ›Eigentümlichkeit‹ der Individualität des Menschen ist zugleich Bejahung seines gesellschaftlichen Wesens. Seine freie Tätigkeit ist Gattungsakt und als dieser zugleich gesellschaftliche Tätigkeit. Die Entwicklung »der spezifischen Individualität jedes Einzelnen ist von selbst auf die Bedürfnisbefriedigung der anderen bezogen, wie umgekehrt die Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse zur Entfaltung der einzelnen Individuen führt« (von Magnis 1975: 159 f.). Der Einzelne genießt daher nicht nur seine Tätigkeit und deren Produkt, vielmehr ist auch der Genuss, den 96 Marx verweist auf Heß (1843: 225), der allerdings vom »Ich« oder »geistigen Wesen« spricht, wenn er ausführt, wie die »Seinsucht« zur »Hab­ sucht« führe. »Das materielle Eigenthum ist das zur fixen Idee gewordene Fürsichsein des Geistes. Weil er die Arbeit, […] das Hinausarbeiten seiner selbst nicht als seine freie That, als sein eignes Leben geistig begreift, sondern als ein materiell Anderes erfaßt, muß er’s auch für sich fest halten, um sich nicht in’s Endlose zu verlieren, um zu seinem Fürsichsein zu kommen. Eigenthum hört aber auf, dasjenige dem Geiste zu sein, was es sein soll, nämlich sein Fürsichsein, wenn nicht die That im Schaffen, sondern das Resultat, die Schöpfung als das Fürsichsein des Geistes […] kurz, sein Anderssein als sein Fürsichsein erfaßt und mit beiden Händen fest gehalten wird.«

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deren Produkt einem anderen bereitet, sein Genuss; der Einzelne bestätigt sein Gattungswesen nicht nur in seiner individuellen Tätigkeit und deren Produkt, sondern auch in der Tätigkeit und den Produkten der anderen. »Indem daher überall einerseits dem Menschen in der Gesellschaft, die gegenständliche Wirklichkeit als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte als menschliche Wirklichkeit und darum als Wirklichkeit seiner eignen Wesenskräfte wird, werden ihm alle Gegenstände als die Vergegenständlichung seiner selbst, als die seine Individualität bestätigenden und verwirklichenden Gegenstände, als seine Gegenstände; d.h. Gegenstand wird er selbst.« (ÖPM 269/541) Das Ineinandergreifen von individueller Besonderheit und gesellschaftlicher Allgemeinheit ist ein unmittelbares, durch keine Selbstentfremdung des Gattungswesens vermitteltes. Drittens sein Verhältnis zur Natur: In seiner gegenständlichen Tätigkeit äußert der Mensch spezifische Bedürfnisse, die nur im Austausch mit der Natur außer ihm befriedigt werden können. Dieser Austausch ist im Kommunismus ein ›menschlicher‹, weil er nicht mehr dem ›Sinn des Habens‹ unterworfen ist. Die Natur ist nicht länger eine um des Profits willen auszubeutende Ressource und die Produkte sind nicht Waren, deren Verkauf einen Profit abwerfen soll, sondern Gegenstände, die unmittelbar zur Befriedigung konkreter menschlicher Bedürfnisse hergestellt werden. In ihrer Produktion eignet sich der Mensch »sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als ein totaler Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, empfinden, wollen, thätigsein, lieben, kurz, alle Organe seiner Individualität, wie die Organe, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe sind, sind in ihrem gegenständ­ lichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben.« (ÖPM 268/539) Die Tätigkeit des Menschen ist selbstzweckhaft und insofern autonom, als sie aus ›innerer Notwendigkeit‹ erfolgt. Der »reiche Mensch« der kommunistischen Gesellschaft ist »zugleich der einer Totalität der menschlichen Lebensäusserung bedürftige Mensch«. Die Betätigung seiner Gattungskräfte ist ihm eine »innere Nothwendigkeit« (ÖPM 273/544). Er betätigt sich nicht um der Befriedigung egoistischer Bedürfnisse willen oder aus Gründen profaner Nützlichkeit, sondern um sich qua Betätigung seiner Gattungskräfte als Mensch zu bestätigen. Der selbstzweckhafte Charakter seines Gattungsaktes, die Reflexivität seiner gegenständlichen Tätigkeit, die sich nach Marx als Genuss dieser Tätigkeit für den Tätigen selbst, als dessen ›Selbstgenuß‹97 manifestiert, wird 97 Vgl. AJM 465 f./462 f. Marx erläutert hier, inwiefern der Gattungsakt unmittelbar Selbstbejahung und Selbstgenuß einschließt. Der Ausdruck

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in der Literatur nicht selten unter Rückgriff auf Aristoteles erläutert.98 Der Bezug zu Feuerbach sollte dabei nicht übersehen werden. Feuerbach hatte zunächst gegen den ›Spiritualismus‹ des Christentums, dann gegen den der idealistischen Philosophie, der Sinnlichkeit des Menschen wieder philosophische Geltung verschaffen wollen. Ähnlich wie die christliche Lehre nur den »supernaturalistischen« (Feuerbach 1841: 546) als den wahren Leib anerkenne und damit den wirklichen, lebendigen Leib des Menschen missachte, setze die idealistische Philosophie die Freiheit des Menschen in eine abstrakte Vernunft oder einen abstrakten Willen und missachte damit den Umstand, dass sie sich über sein »ganzes Wesen« (1843a: 336) erstrecke. Marx war ihm darin gefolgt. Schreibt Feuerbach 1843, der Mensch sei »ein universelles, darum kein beschränktes und unfreies, sondern uneingeschränktes, freies Wesen« (1843a: 335 f.), so notiert Marx ein Jahr darauf in den Manuskripten, der Mensch verhalte »sich zu sich als einem universellen, darum freien Wesen« (ÖPM 239/515). Für beide ist der Mensch ein zugleich sinnlich-gegenständliches und universelles Wesen, dessen Freiheit darin besteht, sich »eine seiner Totalität, allen seinen Kräften und Anlagen entsprechende Sphäre zu verschaffen« (Feuerbach 1867–69: 312). Marx zufolge kann der Mensch seine Gattungskräfte nur im Einklang mit seiner eigenen und der außermenschlichen Natur bestätigen. Diese »vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur« ist in der kommunistischen Gesellschaft hergestellt. Der Kommunismus ist »der durchgeführte Naturalismus d[es] Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur«. (ÖPM 264 ff./538) In ihm ist der »theoretische Gegensatz« von »Spiritualismus und Materialismus«, welchen die Philosophie vergeblich theoretisch zu lösen suchte, praktisch gelöst und die Sinnlichkeit praktisch anerkannt. Es ist demnach praktisch realisiert, was Feuerbach im We­ sen des Christentums noch theoretisch gefordert hatte – die »aufrichtige Anerkennung der Sinnlichkeit«. Denn: »Was nicht als Selbstzweck – keineswegs darum auch als letzter Zweck – anerkannt wird, das wird nicht anerkannt.« (1841: 546)99 ›Selbstgenuß‹ findet sich in ÖPM 268/540, der Ausdruck ›Selbstbejahung‹ nur dort, wo es um die Kritik ihrer hegelschen Variante geht (ÖPM 277/570; 299/581). 98 Tugendhat (1979: 212) glaubt, dass mit der »altmodischen aristotelischen Begrifflichkeit [des eigenen Seins als des Worumwillen des Menschen] eine viel bessere Basis gegeben ist, um das fassen zu können, was Marx mit entfremdeter Arbeit [folglich auch nicht-entfremdeter] meinte, als mit der Hegelschen, am Subjekt-Objekt-Modell« orientierten. Vgl. Angehrn (1986); daran anschließend Lohmann (1991). 99 Indem der ›Gattungsakt‹ im Selbstgenuss des Tätigen einen Sinn hat, verfällt er nicht dem »teleologischen Zirkel«, der droht, wenn »jemand seine Arbeitstätigkeiten als bloßes Mittel der Lebensfristung und diese als Mittel,

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Die skizzierte Argumentation der Manuskripte beruht auf einem spekulativen und normativen Begriff der Natur. Spekulativ ist dieser Begriff, weil er es erlaubt, das Verhältnis von Gesellschaft und Natur selbst als ein Naturverhältnis zu fassen und die Utopie einer humanisierten Natur und eines naturalisierten Menschen zu entwerfen: »Daß das physische und geistige Leben d[es] Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen andern Sinn, als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Theil der Natur.« (ÖPM 240/516) Solches Beisichsein der Natur im Menschen, für das Marx eindrucksvolle Formulierungen gefunden hat, mag heute besonders attraktiv erscheinen, evoziert es doch die Vorstellung einer ›ökologischen‹ Utopie. Dagegen wäre zweierlei zu sagen: Zum einen ist das in den Manuskripten skizzierte Verhältnis von Mensch und Natur so wenig haltbar wie der Begriff des gegenständlichen Gattungswesens, auf dem es basiert. Zum zweiten kann der Anschein einer ökologischen Utopie nur deshalb entstehen, weil Marx völlig davon absieht, wie genau die Menschen ihren Stoffwechsel mit der Natur außer ihnen betreiben. Auch der in Kontrast zum Begriff des Privateigentums eingeführte Begriff des ›tätigen Eigentums‹ wirkt auf den ersten Blick attraktiv. Sollte mit seiner Wirklichkeit im Kommunismus die gesellschaftlich produzierte Dummheit der ›abstrakten Bereicherungssucht‹ abgeschafft sein, warum dann nicht auch ihre vermeintlichen Folgen, die menschlichen Aggressionen verschiedenster Art bis hin zum Krieg? Im Lichte der Lehre vom tätigen Eigentum hätten sich dann alle anthropologischen und psychologischen Erwägungen über einen menschlichen Aggressionstrieb als ideologisch erwiesen.100 Freilich hat sich bereits gezeigt: Selbst den Begriff des Gattungswesens als haltbar unterstellt, sind die von Marx daraus abgeleiteten Folgerungen in Bezug auf eine kommunistische Produktion nicht haltbar. Normativ ist der Begriff der Natur, weil er es erlaubt, den bestehenden Gesellschaftszustand als einen transitorischen Zustand der arbeitsfähig zu bleiben, begreift oder, was eher Realität sein mag, allenfalls anderslautende Illusionen hegt« (Kambartel 1978: 23). Der Zirkel oder der ihm äquivalente unendliche Regress wird vermieden, indem auf einen ›Selbstzweck‹, aber nicht auf einen ›letzten Zweck‹ rekurriert wird; mit anderen, an Feuerbach erinnernden Worten: Die Argumentation verbleibt in der sinnlichen Sphäre, der Welt des Menschen. 100 Freud (1929/30) nennt diese Sicht der Dinge ein »idealistisches Verkennen der menschlichen Natur« (268). Die Kommunisten glaubten, durch Aufhebung des Privateigentums würden »Übelwollen und Feindseligkeit unter den Menschen verschwinden. Da alle Bedürfnisse befriedigt sind, wird keiner Grund haben, in dem anderen seinen Feind zu sehen.« (242) Die Aggression sei aber nicht durch das Eigentum geschaffen worden, werde daher auch nicht mit seiner Aufhebung verschwinden.

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gesellschaftlichen Entwicklung zu bewerten, der überwunden werden soll. Das Sollen artikuliert keine unbedingte Pflicht, sondern ein Ziel. Dem Menschen, der seinem Wesen nach universell und ›darum‹ frei ist, ist in den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen eine entsprechende Existenz verwehrt. Die Verhältnisse sind daher notwendig als zu überwindende zu verstehen. Das telos entspringt der Differenz von Wesen und gesellschaftlicher Existenz des Menschen. Der normative Charakter seines Naturbegriffs ist Marx verborgen geblieben. Jedenfalls hat er ihn nirgendwo explizit thematisiert oder gar mit seiner vorherrschenden Ablehnung alles Normativen konfrontiert. Die Norm, die er der Sache nach in Anschlag bringt: dass es dem Menschen schlechthin unangemessen ist, als Mittel gebraucht zu werden, bleibt unbegründet, und es ist auch nicht zu sehen, wie sie im Rahmen der Lehre vom menschlichen Gattungswesen oder überhaupt im Rahmen des marxschen Denkens begründet werden könnte.101 Mit dieser Norm stellt sich Marx ohne Zweifel »in eine große Tradition« (von Magnis 1975: 387). Er tut dies aber nicht bewusst, er verbindet damit keine moralischen oder ethischen Ansprüche. Seine Theorie ist weder moralisch noch ethisch, sondern geschichtsphilosophisch angelegt. Der Sozialismus ist das telos der Geschichte. Freilich: Dieses Ergebnis frühen marxschen Denkens wird, kaum ausgesprochen, von eben diesem Denken verworfen: Die Geschichte habe keineswegs ein telos, vielmehr sei es das Proletariat, welches auf der Basis des historisch erreichten Stands der gesellschaftlichen Produktion und aufgrund der Erkenntnis seiner objektiven Interessen sich das Ziel einer kommunistischen Gesellschaft setze und dieses Ziel durchsetze. 1.3.2. Die positive materialistische Wissenschaft Marx’ Abschied von der Philosophie erfolgt in zwei Etappen. Aus der Perspektive der Manuskripte hat Feuerbach den Schlüssel zur Kritik und zum Verlassen der Philosophie geliefert. Aus der Perspektive der Thesen über Feuerbach und der Deutschen Ideologie zählt Feuerbach selbst noch zu den Philosophen, das heißt Ideologen. Die weitgehende Übernahme 101 Brudney (2002: 400 ff.) zufolge würde sich für Marx »die angemessene Begründung« seiner Thesen über das wahrhaft menschliche Leben »aus dem praktischen Leben in einer kommunistischen Gesellschaft ergeben«. Darin sei er »zutiefst Feuerbachianer«. So wie dieser meine, den Europäern um 1840 vor Augen führen zu können, dass sie längst die Sinne für das Christentum verloren und solche für ein Leben als rein materielle Wesen gewonnen hätten, so meine Marx, im Kommunismus werde die Wahrheit seiner Thesen für die Menschen »sinnlich anschaubar« sein. Demnach ist sie in der gegenwärtigen Gesellschaft nicht zu vermitteln. Wie sollte sich Marx dann ihrer sicher sein können?

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von Feuerbachs materialistisch-anthropologischer Theorie der Subjektivität in den Manuskripten steht am Anfang einer Denk-Entwicklung, die auf die ›materialistische Geschichtsauffassung‹102 und ihren Begriff der Ideologie zuläuft – eine Auffassung, die Marx später niemals in Zweifel gezogen hat. Es ist entscheidend, zu sehen, dass sich Marx’ Ablösung von der Philosophie im Namen eines materialistischen, genetischen Denkens vollzieht, welches sich kritisch gegen die von ›der‹ Philosophie behauptete Selbständigkeit und Autonomie des Geistigen gegenüber dem Materiellen, dem ›wirklichen Leben‹ richtet. Marx schließt sich dieser Auffassung früh an und bleibt ihr ungeachtet der späteren Kritik an Feuerbach im Kern treu. Statt mit ›der‹ Philosophie die Unbedingtheit der Vernunft und Fragen der Geltung ins Zentrum zu rücken, thematisiert er zunächst, in den Manuskripten, die gesellschaftlichen Bedingungen (Privateigentum), unter denen sich die gegenständliche Subjektivität des Menschen in der Beziehung zur außermenschlichen Natur betätigt. Mit der Deut­ schen Ideologie fungiert dann nicht länger das Lehrstück vom menschlichen Gattungswesen und seiner Entfremdung als Basistheorie, an seine Stelle tritt die neue Geschichtsauffassung. Die Konsequenzen, die dieser zweite Abschied von der Philosophie für das marxsche Denken hat, sind gravierend und mit der späteren Kapitaltheorie nicht kompatibel. Ihnen wird im Folgenden nachgegangen. Zunächst wird die erneute und neuartige Kritik der Philosophie skizziert (1.3.2.1.), danach die neue, nichtteleologische Geschichtsauffassung (1.3.2.2.). 1.3.2.1. Philosophie ist Ideologie Die Kritik der Philosophie richtet sich jetzt nicht mehr nur gegen Hegel und seine Epigonen, sondern auch gegen Feuerbach.103 Die Deutsche Ideologie spricht von der »Hegelschen & Feuerbachschen Ideologie« (DI 516/442). Das Kommunistische Manifest polemisiert gegen Hegel, Feuerbach und den »philosophischen Unsinn« der davon stark beeinflussten »deutschen Literaten« (»deutschen Sozialisten« bzw. »wahren Sozialisten«), die hinter die »französische Kritik der Geldverhältnisse« und des Staates ihre »philosophischen Redensarten« schrieben, von »Entäußerung des menschlichen Wesens« und »Aufhebung der Herrschaft des 102 Der Ausdruck kommt in der Deutschen Ideologie nicht vor, stattdessen ist die Rede von der durch Marx und Engels »entwickelten Geschichtsauffassung« (DI 43/69) im Unterschied zur philosophischen. Sie wird erst später ausdrücklich ›materialistisch‹ genannt; vgl. Engels AD 237/26: »Diese beiden großen Entdeckungen: die materialistische Geschichtsauffassung und die Enthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produktion vermittelst des Mehrwerths, verdanken wir Marx.« 103 Zum Folgenden auch Kuhne (2017); (2017a).

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abstrakt Allgemeinen« sprächen. (MKP 486) Wenn Marx und Engels den »Philosophen« attestieren, sie hätten dem Prozess der Geschichte ein »Ideal unter dem Namen: ›der Mensch‹« untergeschoben und ihn »als Selbstentfremdungsprozeß ›des Menschen‹ gefaßt« (DI 114/69) – dann schließt dies natürlich die Kritik der Manuskripte ein. An die Stelle von Hegels geistphilosophischer, spekulativer Darstellung von Staat, Gesellschaft und Geschichte soll jetzt die empirische Analyse der historisch gewordenen gesellschaftlichen Praxis der Menschen treten. Nicht von ›Ideen‹, sondern von ›Tatsachen‹, nicht von ›dem‹ Menschen, sondern von ›den wirklichen Individuen‹ sei auszugehen. »Die Thatsache ist also die: bestimmte Individuen die auf bestimmte Weise produktiv tätig sind gehen diese bestimmten gesellschaftlichen & politischen Verhältnisse ein. Die empirische [!] Beobachtung muß in jedem einzelnen Fall den Zusammenhang der gesellschaftlichen & politischen Gliederung mit der Produktion empirisch [!] & ohne alle Mystifikation & Spekulation [!] aufweisen. Die gesellschaftliche Gliederung & der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß bestimmter Individuen hervor; aber dieser Individuen nicht wie sie in der eignen oder fremden Vorstellung erscheinen mögen, sondern wie sie wirklich sind, d.h. wie sie wirken, materiell produzieren, also wie sie unter bestimmten materiellen & von ihrer Willkühr unabhängigen Schranken, Voraussetzungen & Bedingungen thätig sind.« (DI 135/25)

Geistigen Gebilden, seien es rechtliche oder moralische Vorstellungen, seien es einzelwissenschaftliche oder philosophische Theorien, kann damit kein legitimer Anspruch auf normative Geltung unterstellt werden. Vielmehr können diese Gebilde nur als faktisch geltend oder als faktisch anerkannt aufgegriffen und auf ihre Entstehung und Funktion hin untersucht werden. Der von ›der‹ Philosophie artikulierte Anspruch auf Selbständigkeit bzw. Autonomie von Geistigem gegenüber der historisch-gesellschaftlichen Praxis ist aus der Perspektive der materialistischen Geschichtsauffassung von vornherein verfehlt. Diese versteht sich selbst auch nicht als Philosophie, soll heißen: als »Spekulation« und »›reine‹ Theorie«, sondern als »wirkliche, positive Wissenschaft« (DI 31/31; 136/27). Ihre Betrachtungsweise ist zwar »nicht voraussetzungslos«, lässt aber als Voraussetzungen nur solche gelten, die im Gegenstandsbereich selbst angetroffen werden; sie »geht von den wirklichen Voraussetzungen aus, sie verläßt sie keinen Augenblick«. Die wirklichen Voraussetzungen sind die Menschen »in ihrem wirklichen empirisch anschaulichen Entwicklungsprozeß unter bestimmten Bedingungen« (DI 136/27). Voraussetzungen, die nicht im Gegenstandsbereich angetroffen werden können, weil sie apriorische Prinzipien der erkennenden und wollenden Subjektivität sind, sind damit als nicht wirkliche Voraussetzungen bezeichnet. Sie sind die Domäne der Philosophie, die sich 208

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einbildet, »wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen« (DI 31/31).104 Erkenntnistheoretische Reflexionen und Überlegungen zur normativen Geltung rechtlicher oder moralischer Bestimmungen sind demnach gegenstandslos. Sie sind typische Weisen der ideologischen Verselbständigung des Geistigen gegenüber dem wirklichen Lebensprozess durch die Philosophie. Gegenstandslos ist auch die teleologisch argumentierende Geschichtsphilosophie. Denn ›empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekulation‹ lassen sich keine ›Bestimmung‹, kein ›Zweck‹ und damit auch kein Sinn der menschlichen Geschichte aufweisen. »Die Geschichte ist nichts [!] als die Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen, von denen Jede die ihr von allen vorhergegangenen übermachten Materiale, Kapitalien, Produktionskräfte exploitirt, daher also einerseits unter ganz veränderten Umständen die überkommene Thätigkeit fortsetzt & andrerseits mit einer ganz veränderten Thätigkeit die alten Umstände modifizirt, was sich nun spekulativ so verdrehen läßt, daß die spätere Geschichte zum Zweck der früheren gemacht wird, z.B. daß der Entdeckung Amerikas der Zweck zu Grunde gelegt wird, der französischen Revolution zum Durchbruch zu verhelfen, wodurch dann die Geschichte ihre aparten Zwecke erhält & eine ›Person neben anderen Personen‹ (als da sind ›Selbstbewußtsein, Kritik, Einziger‹ &c.) wird, während das, was man mit den Worten ›Bestimmung‹, ›Zweck‹, ›Keim‹, ›Idee‹ der früheren Geschichte bezeichnet, weiter nichts als eine Abstraktion von der späteren Geschichte ist, eine Abstraktion von dem eben aktiven Einfluß, den die frühere Geschichte auf die spätere ausübt.« (DI 40/45)

Aus der Perspektive der materialistischen Wissenschaft betrachtet ist die Geschichte zwar ein gerichteter, aber nicht ein auf ein telos ausgerichteter Prozess. Auch Feuerbach kann vor dieser Wissenschaft nicht bestehen. Die Kritik, die ihn als Ideologen kenntlich macht, gilt dabei ausgerechnet dem Begriff, der ihn noch kurze Zeit zuvor in den Augen von Marx (und Engels) zum Begründer des ›wahren Materialismus und der reellen Wissenschaft‹ hatte werden lassen – der Begriff des gegenständlichen Gattungswesens. Auch das Gattungswesen ist nicht ein Gegenstand, der sich ›empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekulation aufweisen‹ lässt. Die positive materialistische Wissenschaft interessiert sich nicht für das Gattungswesen ›des Menschen‹, sondern für die tatsächlichen Bedürfnisse und Interessen der Individuen. Feuerbachs 104 »Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind./ Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.« (MKP 475).

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Denken gilt jetzt wie zuerst das hegelsche als ein Beispiel dafür, wie die Philosophie einfachste Tatsachen mystifiziert. Die einst als materialistische Einsicht gefeierte Bemerkung Feuerbachs (in den Grundsätzen der Philosophie der Zukunft), das Wesen des Menschen sei nur in der ›Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten‹, der Mensch ›für sich‹ sei Mensch ›im gewöhnlichen Sinne‹, der Mensch ›mit Mensch‹ sei ›Gott‹, entlarvt sich Engels zufolge beinahe von selbst als philosophischer Humbug. »Soweit kommt die Philos.[ophie] daß sie die triviale Thatsache über die Unentbehrlichkeit des Verkehrs zwischen den Menschen ohne deren Erkenntniß die zweite Menschengeneration die überhaupt existirte, nie erzeugt worden wäre, die überhaupt schon im Geschlechtsunterschied liegt, als das größte Resultat am Ende ihrer ganzen Carrière hinstellt. U. noch dazu in der mysteriösen Form der ›Einheit von Ich & Du‹. Diese Phrase wäre gar nicht möglich, wenn F.[euerbach] nicht an den Geschlechtsakt den Gattungsakt, die Gemeinschaft von Ich & Du κατ’ ἐξοχήν gedacht hätte. U. soweit seine Gemeinschaft praktisch wird, beschränkt sie sich auch auf den Geschlechtsakt & die Verständigung über philos.[ophische] Gedanken & Probleme.« (DI 124 ff./541 f.)

Wenn sich auf nicht-spekulativem, empirischem Wege das feuerbachsche Gattungswesen nicht aufweisen lässt, so lässt sich doch auf diesem Weg der »reale Grund« von derlei Produktionen der philosophischen Einbildungskraft erkennen. Der »reale Grund dessen, was sich die Philosophen als ›Substanz‹ & ›Wesen des Menschen‹ vorgestellt« haben, heißt es in der Deutschen Ideologie, ist die »Summe von Produktionskräften, Kapitalien & sozialen Verkehrsformen, die jedes Individuum & jede Generation als etwas Gegebenes vorfindet« (DI 46/38). Hatte Feuerbach dem Menschen eine universelle Natur anthropologisch attestiert, so verweist Marx darauf, dass die Universalität der Menschen historisch und gesellschaftlich allererst herzustellen sei – nach der Abschaffung kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Hatte Feuerbach dem Menschen anthropologisch unterstellt, er strebe »unaufhaltsam nach unbeschränkter Entfaltung« (1846b: 91) seines vollen Wesens, er wolle – mit einer späteren Formulierung – alle »die Beschränkungen aufheben, die wirklich aufzuheben, die nicht notwendig sind, nicht zum Wesen des Lebens gehören« (1851: 314), so verweist Marx darauf, dass es die »große Industrie« war, welche »durch die universelle Konkurrenz alle Individuen zur äußersten Anspannung ihrer Energie« zwang und jedes »in der Befriedigung seiner Bedürfnisse von der ganzen Welt abhängig machte«. (DI 87 f./60) Das »menschliche Wesen« ist eben, wie Marx in der sechsten These über Feuerbach formuliert, »kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstractum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« (TüF 20 f./6) Der Wortlaut der These suggeriert, Marx halte am Begriff des menschlichen Wesens fest, 210

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korrigiere nur die feuerbachsche Variante. Tatsächlich aber verabschiedet er ihn. Ist das menschliche Wesen in seiner Wirklichkeit nicht mehr als ›das ensemble‹ der historisch variierenden ›gesellschaftlichen Verhältnisse‹, dann bezeichnet ein diesen Verhältnissen vorgängiger Wesensbegriff etwas Nicht-Wirkliches, Ausgedachtes, und auf den Begriff des menschlichen Wesens muss verzichtet werden.105 Kurzum: Wer positive Wissenschaft statt Ideologie treiben will, »muß ›die Philosophie bei Seite liegen lassen‹«, er »muß aus ihr heraus springen & sich als ein gewöhnlicher Mensch an das Studium der Wirklichkeit geben, wozu auch literarisch ein ungeheures, den Philosophen natürlich unbekanntes Material vorliegt«. (DI 291/218)106 Der materialistischen Auffassung zufolge ist das gesellschaftliche Bewusstsein der Menschen durch die Art bedingt, in der sie gesellschaftlich produzieren. Die Produktionsweise bedingt als reale Basis den ideellen Überbau der geistigen Formen, in denen sich die Menschen der Gesellschaft und ihrer gesellschaftlichen Interessen bewusst sind: Recht, Politik, Religion, Philosophie.107 Diese Formen gesellschaftlichen Bewusstseins sind insofern Formen falschen Bewusstseins: Ideologie, als sie gegenüber dem materiellen Reproduktionsprozess, der sie bedingt, Selbständigkeit beanspruchen. Indem rechtliche, politische, religiöse und philosophische Ideen derlei Selbständigkeit beanspruchen, wird der tatsächliche Sachverhalt auf den Kopf gestellt und das realiter Sekundäre, das Ideelle, zum Primären verkehrt. Formulierungen, welche die skizzierte materialistische Geschichtsauffassung und ihren Ideologiebegriff ausdrücken, finden sich in den The­ sen über Feuerbach (vierte These) und in der Deutschen Ideologie ebenso wie in den Vorarbeiten zum Kapital und im Kapital selbst. Die Deutsche Ideologie wirft der »ganzen bisherigen Geschichtsauffassung« vor, dass sie die gesellschaftliche Reproduktion weitgehend ausblendet und daher zwangsläufig den Illusionen aufsitzen muss, die geschichtliche Epochen 105 Althusser (1965: 178 f.) sieht darin eine »totale theoretische Revolution«, in welcher »der philosophische (theoretische) Mythos vom Menschen zu Asche reduziert wird«. 106 Marx bezieht sich auf Heß (1845a: 384): Feuerbachs Philosophie der Zu­ kunft fordere die Überwindung der Philosophie, über das »Wie« dieser Überwindung sei Feuerbach aber »mit sich selbst im Widerspruche«. Seine Lehre vom Gattungswesen sei »philosophischer Schwindel«. Sein Widerspruch werde »nur vom Socialismus gelöst«, welcher »die Philosophie […] bei Seite liegen läßt – keine philosophischen Bücher über die Negation der Philosophie schreibt«, sondern ausspreche, »wie die Philosophie als bloße Lehre zu negiren und im gesellschaftlichen Leben zu verwirklichen« sei. 107 Von ›Basis‹ spricht Marx das erste Mal im Vorwort von Zur Kritik der Poli­ tischen Ökonomie (1859: 100/8); von ›Überbau‹ das erste Mal in Der acht­ zehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852: 121/139).

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von sich selbst hatten: »Z.B. bildet sich eine Epoche ein, durch rein ›politische‹ od. ›religiöse‹ Motive bestimmt zu werden, obgleich ›Religion‹ u. ›Politik‹ nur Formen ihrer wirklichen Motive sind, so acceptirt ihr Geschichtsschreiber diese Meinung.« (DI 48/39) Das Kapital befindet: »Soviel ist klar, daß das Mittelalter nicht vom Katholizismus und die antike Welt nicht von der Politik leben konnte. Die Art und Weise, wie sie ihr Leben gewannen, erklärt umgekehrt, warum dort die Politik, hier der Katholizismus die Hauptrolle spielte.« (K I² 111 f. Anm. 33/96 Anm. 33) In Wahrheit sind rechtliche, politische, religiöse und philosophische Ideen kaum mehr als die Illusionen, die eine Epoche von sich selbst hat. Illusionen bezüglich der bürgerlichen Gesellschaft haben nicht nur deren »Apologeten«, so Marx in den Grundrissen, sondern auch deren sozialistische Kritiker, wenn sie »den Socialismus als Realisation der von der französischen Revolution ausgesprochnen Ideen der bürgerlichen Gesellschaft nachweisen« und zeigen wollen, dass der Tauschwert in seiner adäquaten Form »ein System der Freiheit und Gleichheit aller« ist, das »durch das Geld, Capital etc.« nur verfälscht worden ist. Was die sozialistischen Kritiker von den bürgerlichen Apologeten unterscheidet, ist zum einen »das Gefühl der Widersprüche«, die das System der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit einschließt, zum anderen ihr »Utopismus«. Weil sie nicht begreifen, dass die bürgerliche Gesellschaft den Unterschied zwischen ihrer realen und idealen Gestalt selbst notwendig hervorbringt, meinen sie, ihre ideale gegen ihre reale Gestalt kritisch wenden und die ideale Gestalt selbst realisieren zu können. Das aber ist »ein ebenso frommer wie dummer Wunsch«. Fromm, weil auf dem Glauben an ewig gültige Ideale basierend, dumm, weil die ideale Gestalt nur der ideelle Ausdruck der realen Gestalt ist, nur »das Lichtbild dieser Realität«. (Gr 171 f./174)108 Die Kritik ideologischer Bewusstseinsformen darf Marx zufolge nicht nach dem Vorbild der feuerbachschen Religionskritik verfahren und sich damit bescheiden, die ideologische Form auf ihre gesellschaftliche Grundlage zurückzuführen, sondern muss sie aus der Struktur dieser Grundlage selbst erklären. Es kann kein Zweifel sein, dass Marx die materialistische Geschichtsauffassung und das ihr entsprechende ideologiekritische Vorgehen auch als methodischen Rahmen der Kapitalkritik betrachtet. Beruht die materialistische Geschichtsauffassung nach der 108 Etwa 20 Jahre später zieht Marx in einem Brief an Adolph Sorge (19. Oktober 1877) eine ernüchternde Bilanz. Der jahrzehntelange Kampf gegen den utopischen Sozialismus habe nicht verhindert, dass »das Phantasiegespiel über den künftigen Gesellschaftsbau« wieder »grassiert« – jetzt allerdings in einer Verfallsform. »Es ist natürlich, daß der Utopismus, der vor der Zeit des materialistisch-kritischen Sozialismus letzteren in nuce in sich barg, jetzt wo er post festum kommt, nur noch albern sein kann, albern, fad und von Grund aus reaktionär.« (MEW 34: 303).

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Deutschen Ideologie darauf, den wirklichen Produktionsprozess und die von ihm erzeugte Verkehrsform »als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen« und »die sämmtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnisse & Formen des Bewußtseins, Religion, Philosophie, Moral &c &c aus ihr zu erklären u. ihren Entstehungsprozeß aus ihnen zu verfolgen« (DI 45/37 f.), so erklärt Marx diese Vorgehensweise noch im Kapital zur einzig wissenschaftlichen. »Die Technologie enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsproceß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen. Selbst alle Religionsgeschichte, die von dieser materiellen Basis abstrahirt, ist – unkritisch. Es ist in der That viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden, als umgekehrt aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztre ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode.« (K I² 364 Anm. 89/393 Anm. 89)

Der Vorzug der propagierten Methode liegt nicht nur darin, dass sie materialistisch ist, sondern dass sie materialistisch und ›daher‹ wissenschaftlich ist. Die materialistische Geschichtsauffassung und die ihr entsprechende Vorgehensweise werden von Marx im Namen der Wissenschaft und ihres Wahrheitsanspruchs propagiert. Die materialistische Geschichtsauffassung ist keine Ideologie – auch keine Ideologie der Arbeiterklasse –, vielmehr lassen sich durch sie die Phänomene des gesellschaftlichen Überaus in ihrem ideologischen Charakter allererst erkennen. Erst auf ihrer Grundlage ist Wissenschaft statt Ideologie, und das heißt vor allem: Wissenschaft statt Philosophie möglich. 1.3.2.2. Kommunismus als Ziel des Proletariats Für die Deutsche Ideologie ist das Gattungswesen eine philosophische Abstraktion und als solche nur insofern Gegenstand der positiven materialistischen Wissenschaft, als diese auch Ideologiekritik ist. Der primäre Gegenstand dieser Wissenschaft sind aber nicht die von Philosophen ersonnenen Abstrakta, sondern ist ›der wirkliche Lebensprozess der Menschen‹, wie er sich auf einem bestimmten Stand der Produktivkraftentwicklung und unter bestimmten Verkehrsformen vollzieht. Im Zentrum des theoretischen Interesses steht jetzt die gesellschaftliche Arbeitsteilung unter den Bedingungen des Privateigentums (an Produktionsmitteln).109 »Zwei Fakta« seien in Bezug auf die Epoche der großen Industrie nicht 109 DI 33/32: »Übrigens sind Theilung der Arbeit & Privateigentum identische Ausdrücke – in dem Einen wird in Beziehung auf die Thätigkeit dasselbe

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zu leugnen. »[A]uf der einen Seite« existiert »eine Totalität von Produktivkräften, die gleichsam eine sachliche Gestalt angenommen haben & für die Individuen selbst nicht mehr die Kräfte der Individuen, sondern des Privateigenthums« sind. »Auf der andern Seite steht diesen Produktivkräften die Majorität der Individuen gegenüber, von denen diese Kräfte losgerissen sind & die daher alles wirklichen Lebensinhalts beraubt, abstrakte Individuen geworden sind, die aber dadurch erst in den Stand gesetzt werden, als Individuen mit einander in Verbindung zu treten.« Ihre Arbeit hat »allen Schein der Selbstbethätigung verloren & erhält ihr Leben nur, indem sie es verkümmert«. (DI 110 f./67) Weil ihr Zusammenwirken nicht freiwillig sei, erscheine den Individuen ihre durch die Arbeitsteilung entstandene »soziale Macht, d.h. die vervielfachte Produktionskraft […], nicht als ihre eigne, vereinte Macht, sondern als eine fremde [!], außer ihnen stehende Gewalt, von der sie nicht wissen woher & wohin, die sie also nicht beherrschen können, die im Gegenteil nun eine eigenthümliche vom Wollen & Laufen der Menschen unabhängige, ja dies Wollen & Laufen erst dirigirende Reihenfolge von Phasen & Entwicklungsstufen durchlaufen110« (DI 37/34). Weil die gesellschaftliche Arbeitsteilung dem Einzelnen eine bestimmte Tätigkeit aufzwinge – »er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will« –, komme es zu einer Spaltung zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Interessen. Und »eben aus diesem Widerspruch des besondern & gemeinschaftlichen Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbstständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel- & Gesammtinteressen, an, & zugleich als illusorische Gemeinschaftlichkeit«. Alle Kämpfe innerhalb des Staats seien deshalb »nichts als die illusorischen Formen« der wirklichen Kämpfe, welche die verschiedenen Klassen untereinander führen. (DI 34/33) Das utopische Gegenbild zu den bestehenden Verhältnissen ist die »kommunistische[] Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Thätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt & mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu thun, Morgens zu jagen, Nachmittags zu fischen, Abends Viehzucht zu treiben nach dem Essen zu kritisiren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger Fischer Hirt oder Kritiker zu werden« (DI 34 ff./33).111 Bleibt der ironische Unterton unbemerkt, liegt das Missverständnis eines agrarischen Idylls nahe, in dem die Einzelnen jeweils den Tätigkeiten nachgehen, zu denen sie ausgesagt, was in dem andern in Bezug auf das Produkt der Thätigkeit ausgesagt wird.« 110 MEW 3: durchläuft. 111 Vgl. Engels, GK 376.

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gerade die größte Lust haben.112 Gemeint ist tatsächlich etwas anderes, nämlich die Ersetzung der alten gesellschaftlichen Teilung der Arbeit durch eine neue. In der alten Arbeitsteilung, die sich ›naturwüchsig‹, also nicht von den Individuen gemeinsam geplant, herausbildet, sind die Menschen auf eine bestimmte Tätigkeit beschränkt und durch diese Beschränkung voneinander isoliert. Ihre eigene gesellschaftliche Produktion tritt ihnen daher als eine soziale Macht gegenüber, von der sie beherrscht werden.113 In der anvisierten kommunistischen Gesellschaft dagegen werde die Teilung der Arbeit von den Individuen gemeinsam geregelt; »die zu einer Totalität entwickelten und nur innerhalb eines universellen Verkehrs existierenden Produktivkräfte« würden durch »die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen« angeeignet. Ihre Arbeit habe den Charakter der »Selbstbethätigung« (DI 112/67 f.). Ihr wirklicher Reichtum, der »ganz« von dem Reichtum ihrer wirklichen Beziehungen abhängig sei, sei universeller Art. Die Menschen seien »mit der Produktion (auch mit der geistigen) der ganzen Welt in praktische Beziehung gesetzt & in den Stand gesetzt sich die Genußfähigkeit für diese allseitige Produktion der ganzen Erde (Schöpfungen der Menschen) zu erwerben« (DI 42/37). Dabei ist, wie Marx (mit Engels) betont, der Kommunismus »nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten« habe, sondern »die wirkliche Bewegung welche den jetzigen Zustand aufhebt« (DI 37/35). Er darf mithin nicht als moralisch gesolltes telos der Geschichte verstanden werden. Dergleichen wäre mit der positiven materialistischen Wissenschaft genauso unverträglich wie die spekulative Geschichtsphilosophie hegelscher Provenienz. Der den ›jetzigen Zustand‹ ablösende kommunistische ist kein moralisch gesollter, sondern ist auf der Grundlage der Erkenntnis der ›wirklichen Bewegung‹ absehbar. Kommunisten, die sich auf dem Stand der avancierten 112 In grotesker Weise missversteht Arendt (1958: 106) diese Passage: Nach Marx würde der Mensch in der künftigen Gesellschaft »seine teilweise Befreiung von der Arbeit« dazu benützen, »seine Zeit im Wesentlichen mit den privaten und weltunbezogenen Liebhabereien [zu] vertun, die wir Hobby nennen«. 113 Die gesellschaftliche Erfahrung dessen, was Marx als ›alte Arbeitsteilung‹ bezeichnet, artikuliert sich im 18. Jahrhundert, als die alte Arbeitsteilung noch neu war, in Kunstwerken wie ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹. »Wenn der Edelmann durch die Darstellung seiner Person alles gibt, so gibt der Bürger durch seine Persönlichkeit nichts und soll nichts geben«, so Wilhelm in einem Brief, in dem er seinen Entschluss, Schauspieler zu werden, mitteilt. Der Bürger »soll einzelne Fähigkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird schon vorausgesetzt, daß in seinem Wesen keine Harmonie sei noch sein dürfe, weil er, um sich auf eine Weise brauchbar zu machen, alles übrige vernachlässigen muß.« Goethe (1795/6: 291).

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materialistischen Auffassung befinden, »predigen überhaupt keine Mo­ ral« (DI 302/229). Nur wer ›die wirkliche Bewegung‹ nicht kennt, läuft Gefahr, zu moralisieren.114 Wie die Manuskripte rechtfertigt auch die Deutsche Ideologie den Zustand der völligen Verarmung und Abwesenheit jeden Lebenssinns der Proletarier als historisch notwendig, weil und insofern er die Voraussetzung für die Realisierung einer kommunistischen Gesellschaft ist, in der ein jedes Individuums an einer historisch völlig neuen Art gesellschaftlichen Reichtums partizipieren wird. »Nur die von aller Selbstbethätigung vollständig ausgeschlossenen Proletarier der Gegenwart sind im Stande, ihre vollständige […] Selbstbethätigung, die in die Aneignung einer Totalität von Produktivkräften & der damit gesetzten Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten besteht, durchzusetzen.« (DI 112/67 f.) Im Unterschied zu den Manuskripten liegt aber der Überwindung der bestehenden Verhältnisse kein teleologisches, aus der Differenz von Gattungswesen und tatsächlicher Existenz entspringendes Sollen zugrunde, sondern allein die Erkenntnis der ›wirklichen Bewegung‹. Die Proletarier »müssen« das Privateigentum aufheben, weil unter seiner Herrschaft »die Produktivkräfte & die Verkehrsformen […] zu Destruktivkräften geworden sind, & weil der Gegensatz der Klassen auf seine höchste Spitze getrieben ist« (DI 497/424). Die Rede von der ›wirkliche[n] Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt‹, enthält die ganze Problematik der marxschen und späteren marxistischen Geschichtstheorie. Ist mit ihr eine Einsicht in objektive historische Gesetzmäßigkeiten gemeint, so dass das von der materialistischen Theorie aufgeklärte Proletariat dem Selbstlauf der Geschichte bis zum Eintreten des Kommunismus einfach zuschauen könnte? Oder ist das revolutionäre Handeln des Proletariats konstitutiv für die wirkliche Bewegung? Zufolge der materialistischen Wissenschaft ist der Kommunismus nicht das Ziel der Geschichte, sondern des Proletariats. Die Arbeiterklasse, theoretisch aufgeklärt über den ökonomischen Mechanismus, der die unmenschlichen Lebensbedingungen ihrer Mitglieder verursacht, und informiert über die bereits vorhandenen materiellen Bedingungen einer kommunistischen Gesellschaft, muss sich deren aktiver Verwirklichung verschreiben. Setzt sie sich den Kommunismus als Ziel ihres kollektiven Handelns, so ist dieser Akt nicht determiniert, und dennoch tut sie nur, was sie tun ›muss‹. Mit der Einsicht in ihre 114 So etwa Weitling (1842: 240 f.), der, trotz Insistierens auf dem Prinzip des »Interesses«, für den Fall, dass sich die Herrschenden der Verwirklichung der kommunistischen Ideen widersetzen, feststellt: »Dann muß eine Moral gepredigt werden, die noch niemand zu predigen wagte, und die jede Regierung des Eigennutzes unmöglich macht; […] eine Moral, welche die Auflösung und Niederlage der Herrschaft der persönlichen Interessen mit sich führen wird.«

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Lage in der bestehenden Produktionsweise hat sie auch ihr objektives Interesse an deren Überwindung und an der Errichtung des Kommunismus erkannt. Ihr revolutionäres Handeln geschieht aus Einsicht in die Notwendigkeit. Ihr telos, die kommunistische Gesellschaft, ist eine Idee, die sich nicht ›blamieren‹ kann, weil sie von ihrem objektiven Interesse nicht unterschieden ist.115 Diese Idee ist nicht das Produkt philosophischer Einbildungskraft, sondern die praktische Konsequenz, die aus der theoretischen Analyse der ›wirklichen Bewegung‹ folgt. Die materialistische Wissenschaft fördert zwar mit den immanenten Gesetzmäßigkeiten der bestehenden Produktionsweise auch deren Tendenz zur Selbstauflösung zutage, die Errichtung der neuen Gesellschaftsform kann aber nur die bewusst gewollte Handlung der Klasse sein. Die sich hinter dem Rücken der Individuen durchsetzende Notwendigkeit ist theoretischer Natur, die Notwendigkeit der Revolution kann nur praktischer Natur sein.116 Durch »die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieterische Not – den praktischen Ausdruck der Not­ wendigkeit«, wird das Proletariat zur Empörung gegen die Verhältnisse und zur Selbstbefreiung von ihnen motiviert, so die Heilige Familie. »Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.« (HF 38) Für ›die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt‹, ist demnach das revolutionäre Handeln des Proletariats konstitutiv. Konstitutiv für die Umdeutung des Kommunismus (resp. Sozialismus: 1.3.1.) von einem notwendigen Ziel der Geschichte (Manuskripte) in ein notwendiges Ziel des historischen Akteurs Proletariat (Heilige Familie, Deutsche Ideologie) ist allerdings die Unterstellung einer absoluten Verelendung des Proletariats. Einmal davon abgesehen, dass diese empirisch keineswegs immer ein Merkmal kapitalistischer Verhältnisse war und ist, und weiter davon abgesehen, dass sie der späteren Kapitaltheorie zufolge auch nicht notwendig aus der kapitalistischen Produktionsweise resultiert, kann unter Berufung auf sie die Arbeiterklasse nicht als selbsttätig handelndes Subjekt verstanden werden. Das Proletariat, das durch seine elende Lage ›unmittelbar‹ zur Empörung und Selbstbefreiung gezwungen ist, vollzieht damit eben nur, wozu es durch die kapitalistischen Verhältnisse, mithin durch die Geschichte, genötigt ist. Die genannten Schwierigkeiten deuten, abgesehen von der Problematik der Verelendungsthese, darauf, dass es schwierig sein dürfte, materialistische Wissenschaft zu treiben, ohne reduktionistisch, objektivistisch 115 »Die ›Idee‹ blamierte sich immer, soweit sie von dem ›Interesse‹ unterschieden war.« (HF 85). 116 Vgl. Habermas (1971: 413).

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und deterministisch zu argumentieren. Dass die neue Geschichtsauffassung ihre Tücken hat, sei im Folgenden anhand des Vorworts von Zur Kritik der Politischen Ökonomie gezeigt. Marx referiert sie hier in äußerst kondensierter Weise und prägt dabei jene klassischen Formulierungen, die unter dem Schlagwort ›Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein‹ populär geworden sind, weil sie den vermeintlichen Objektivismus und Determinismus seiner Theorie eindeutig zu bestätigen scheinen.117 Zwei Dinge werden dabei oft übersehen. Zum einen, dass Marx selbst die skizzierte Auffassung nicht als abgeschlossene Theorie vorstellt, sondern als das »allgemeine Resultat« seiner ökonomischen Forschungen, welches, »einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente« (ZKPÖ 100/8). Ebenso wenig wie die Deutsche Ideologie eine ausgeführte Theorie von Gesellschaft und Geschichte enthält, liefert das Vorwort das Kondensat einer solchen Theorie. Vielmehr handelt es sich hier wie dort um programmatische und methodische Überlegungen – um einen ›Leitfaden‹ der Forschung.118 Zum anderen, dass Marx’ Vorwort gerade wegen seines vermeintlich eindeutig objektivistischen und deterministischen Charakters mehr Fragen aufwirft, als es klärt. Gegen die materialistische Methode sprechen nicht nur gute Argumente der Philosophie, sie scheint auch unvereinbar mit anderen Lehrstücken und Aussagen ihres Verfechters.119 Dies sei an dem entscheidenden Passus des Vorworts, der hier ausführlich zitiert wird, gezeigt: »In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, nothwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesammtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und 117 In den Versuchen des alten Engels, den Objektivismus und Determinismus der Theorie zu relativieren und zugleich zu bestätigen, trägt die Formel ›in letzter Instanz‹ die ganze Begründung: »Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase.« (Brief an Joseph Bloch vom 21./22. September 1890: MEW 37: 463). 118 Vgl. Habermas (1976: 144), der zunächst erwägt, ob es sich um eine heuristische These handelt oder um eine Theorie, und sich dann für letzteres entscheidet. Ebd. 41: »Ich bin […] der Meinung, daß schon Marx den Historischen Materialismus als eine umfassende Theorie der sozialen Evolution verstanden, und die Theorie des Kapitalismus als eines ihrer Teilstücke angesehen hat. Aber lassen wir Marxens Auffassung dahingestellt.« 119 Dazu Wellmer (1969: 99 ff.); Fleischer (1970: 87 ff.).

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politischer Ueberbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den socialen, politischen und geistigen Lebensproceß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung gerathen die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen, oder was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigenthumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche socialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Ueberbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurtheilt, was es sich selbst dünkt, eben so wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurtheilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.« (ZKPÖ 100 f./8 f.)

Die Passage wirft einige Fragen bzw. Probleme auf. (1) Wenn die Menschen in der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens von ihrem Willen unabhängige Produktionsverhältnisse eingehen, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte120 entsprechen, dann sind die Produktionsverhältnisse, die wesentlich Produktionsmittel-Eigentumsverhältnisse sind, nicht von ihren Bedürfnissen und Interessen, auch nicht von ihren Klasseninteressen abhängig, sondern vom Stand der Produktivkräfte. Ist es der Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, der soziale Revolutionen auslöst, dann sind diese nicht auf konfligierende Klasseninteressen zurückzuführen, vielmehr haben sie in diesem Widerspruch ihre davon unabhängige, objektive Ursache. Die ideellen Formen, worin sich die Individuen des materiellen Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten, sind dann nur dessen ideeller Reflex oder ideologische Begleiterscheinung. Weil sie für den Widerspruch nicht 120 Marx spricht häufig, auch im Kapital, ungenau von ›Produktivkräften‹. Strenggenommen ist von der Produktivkraft der Arbeit (Singular) und den sie bestimmenden Umständen (Plural) zu sprechen (vgl. K I² 74/54).

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konstitutiv sind, hat materialistische Wissenschaft auch nicht bei ihnen anzusetzen, sondern zuerst den materiellen Konflikt ›naturwissenschaftlich treu zu konstatieren‹, um dann aus ihm die ideologischen Formen zu ›erklären‹. (2) Sind die ideellen Formen Reflex eines objektiven Widerspruchs, so kann Marx die eigene Theorie, die qua Theorie ideelle Form ist, nur dann vom Ideologieverdikt ausnehmen und den Selbstwiderspruch vermeiden, wenn er zeigt, dass und wie es möglich ist, den materiellen Konflikt ohne Rekurs auf die ideellen Formen ›naturwissenschaftlich treu zu konstatieren‹. Dies hat Marx aber nirgendwo getan. Vielmehr widerlegt seine später ausgeführte Kapitalkritik, indem sie notwendig die Gestalt einer Kritik der politischen Ökonomie hat, der Sache nach diesen Anspruch als unhaltbar, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen ist. (3) Ist das Kapital tatsächlich die ›naturwissenschaftlich treue‹ Beschreibung des der kapitalistischen Produktionsweise immanenten materiellen Konflikts, dann ist die Kapitaltheorie nicht zugleich Kapitalkritik; sie erklärt den Konflikt theoretisch, ohne die Produktionsweise zu kritisieren. Ihre Beschreibung des Widerspruchs von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen enthält dann ebenso wenig wie die von Naturvorgängen einen Maßstab der Kritik. Ihr fehlt die normative Dimension. (4) Ist die Artikulation von Klasseninteressen nur das Epiphänomen eines objektiven Prozesses, der ›naturwissenschaftlich treu‹ zu konstatieren ist, so hat das Konsequenzen für den Begriff der Geschichte und den Begriff der Ideologie. Für den Begriff der Geschichte: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft« ist dann nur mehr in einem oberflächlichen Sinn als »die Geschichte von Klassenkämpfen« (MKP 462) zu begreifen. Der berühmte erste Satz des Manifests ist dann zu ersetzen durch die These der Deut­ schen Ideologie, wonach die Geschichte die »der sich entwickelnden & von jeder neuen Generation übernommenen Produktivkräfte & damit die Geschichte der Entwicklung der Kräfte der Individuen selbst« (DI 104/72) ist. Geschichte ist dann im Kern der objektive Prozess der Entsprechung und Nichtentsprechung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Die Klassenkämpfe in der Geschichte sind durch ihre Funktion bestimmt, Produktionsverhältnisse, die die Produktivkraftentwicklung objektiv hemmen, zu beseitigen und durch angemessene zu ersetzen. Dass die revolutionären Klassen dabei im Namen von ›Ideen‹ und ›legitimen Ansprüchen‹ kämpfen, darf nicht dazu führen, Geschichte als Prozess fortschreitender Selbstaufklärung der Gattung zu verstehen.121 121 Im Manifest werden die Produktivkräfte zum Subjekt der ›Empörung‹ gegen die Produktionsverhältnisse. »Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die

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Dies wäre ideologisch. Es hieße nämlich, von der »wirklichen Basis« der Geschichte zu abstrahieren und sie »nach einem außer ihr liegenden Maßstab« (DI 47/39) zu beurteilen. Folglich kann der Fortschritt, der in der Geschichte zu konstatieren ist, nur technisch-praktischer, nicht moralisch-praktischer Art sein. Naturwissenschaftlich treu ablesen lässt er sich an dem naturwissenschaftlich-technischen Potential, das die Gattung von ihrer unmittelbaren Abhängigkeit von der Natur emanzipiert. Für den Begriff der Ideologie: Haben Ideen »keine Selbständigkeit« gegenüber dem materiellen Lebensprozess der Menschen, haben sie »keine Geschichte« und »keine Entwicklung«, gilt vielmehr, dass die »wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte« und Produktionsverhältnisse, auch bestimmte Ideen produzieren (DI 135 f./26 f.), dann sind zwar die »Gedanken der herrschenden Klasse […] in jeder Epoche die herrschenden Gedanken«, aber nur insofern und weil sie »der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse« (DI 60/46) sind. Die herrschende Klasse herrscht zwar im Namen von Ideen, ihre Herrschaft ist aber funktional bestimmt: Sie hat die Funktion, die den Produktivkräften objektiv entsprechenden Produktionsverhältnisse zu gewährleisten. Dem ideellen Moment ihrer Herrschaft, den moralischen, rechtlichen und religiösen Ideen, darf daher keine Selbständigkeit gegenüber den materiellen Verhältnissen zugesprochen werden. Weil Klassenherrschaft funktional bestimmt ist, kann sie aus dem Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen nur objektiv erklärt werden, ist aber durch Rekurs auf Ideen weder zu legitimieren noch zu kritisieren. Solches Unterfangen wäre wiederum reine Ideologie. (5) Marx lässt offen, was genau darunter zu verstehen ist, dass die Produktionsverhältnisse den Produktivkräften entsprechen oder nicht entsprechen, deren Entwicklungsformen oder Fesseln sind. Soviel ist aber klar: Soll es sich bei der ›Dialektik‹122 der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse um ein objektives Prinzip handeln, das der Geschichte, verstanden als zeitliche Abfolge verschiedener Produktionsweisen, Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind.« (MKP 467). 122 Der Ausdruck ›Dialektik der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse‹ stammt nicht von Marx, sondern von Marxisten. Er trifft aber die objektivistische und deterministische Tendenz der hier zu diskutierenden marxschen Formulierungen. In den Grundrissen findet sich die Notiz: »Dialektik der Begriffe Productivkraft (Productionsmittel) und Productionsverhältniß, eine Dialectic, deren Grenzen zu bestimmen und die realen Unterschiede nicht aufhebt.« (EKPÖ 43/43) Eine spätere Notiz präzisiert, jetzt im Kontext der Wert- und Geldbestimmungen, es gelte »die idealistische Manier der Darstellung zu korrigieren, die den Schein hervorbringt, als handle es sich nur um Begriffsbestimmungen und die Dialektik dieser Begriffe« (Gr 85/85 f.).

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zugrunde liegt, dann müssen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse in einem notwendigen, systematischen Zusammenhang stehen. Diesen Zusammenhang hat Marx erst in der Mehrwerttheorie des Kapitals begründet, welche aber nur für die entwickelte kapitalistische Produktionsweise, nicht für die ihr vorhergehenden Epochen Geltung beansprucht.

1.4. Die Nötigung zur Philosophie 1.4.1. Manuskripte und Deutsche Ideologie: Kontinuität oder Bruch? Wer positive Wissenschaft statt Ideologie treiben will, muss der Deut­ schen Ideologie zufolge aus der Philosophie »heraus springen & sich als ein gewöhnlicher Mensch an das Studium der Wirklichkeit geben« (DI 291/218).123 Die Metapher des ›Herausspringens‹ macht den dezisionistischen Zug deutlich, welcher der von Marx (und Engels) betriebenen Kritik der Philosophie zwangsläufig eignet. Diese Kritik, die der Philosophie insgesamt gilt, versteht sich selbst nicht als philosophisch. Sie will nicht eine bestimmte Erkenntnistheorie oder normative Ethik, sondern philosophisches Denken überhaupt von einem Standpunkt außerhalb der Philosophie kritisieren.124 Der Einwand, Marx und Engels kritisierten gar nicht die Philosophie überhaupt, sondern nur Hegel und seine Schule, geht am Selbstverständnis dieser Kritik vorbei und ist sachlich falsch. Er geht am Selbstverständnis der Kritik vorbei, denn Marx ist Zeit seines Lebens der Auffassung, im System Hegels sei die Philosophie zu sich selbst gekommen und habe ihr telos erreicht. Kritik der Philosophie Hegels und seiner Epigonen meint deshalb Kritik der Philosophie überhaupt. Der Einwand ist aber vor allem sachlich unzutreffend. Denn indem die materialistische Geschichtsauffassung nur solche Voraussetzungen gelten lassen will, die im Gegenstandsbereich der Betrachtung selbst angetroffen werden, negiert sie zwei Eigenschaften der Philosophie, die spätestens seit der Neuzeit für sie konstitutiv sind: ihre Reflexivität und Autonomie.125 Anders als die Einzelwissenschaften, die gegenständliche 123 Motive dieses Abschnitts finden sich bereits in Kuhne (2017); (2017a). 124 Das unterschreibt Haug (1986: 52): Die »uneingelöste Aktualität des Marxschen Denkens« zum Thema Moral äußere sich in Gestalt von »Fragen«, die aber nur zu dem sprächen, »der aus der traditionellen philosophischen Produktionsweise aussteigt«. Anders Rockmore (1992), der Marx ganz im Kontext der klassischen deutschen Philosophie sieht. 125 Mit Hegel (WdL I 172): »Jede Philosophie ist wesentlich Idealismus oder hat denselben wenigstens zu ihrem Prinzip, und die Frage ist dann nur, inwiefern dasselbe wirklich durchgeführt ist.«

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Erkenntnis bezwecken, fragt die Philosophie nach den Bedingungen der Möglichkeit solcher Erkenntnis und thematisiert darüber hinaus auch die Möglichkeitsbedingungen ihrer eigenen, philosophischen Erkenntnis. Sie ist die Wissenschaft, in der sich das Denken, das reflexiv ist, explizit thematisch ist. Weil das Vermögen zu denken traditionell Vernunft heißt, darf sich die Philosophie Vernunftwissenschaft nennen. Erklärt nun die materialistische Betrachtungsweise die Vernunftwissenschaft per se für ideologisch, weil sie von nicht wirklichen Voraussetzungen handele, so erklärt sie die Vernunft und deren Selbstthematisierung für fiktiv. Mit anderen, nämlich kantischen Worten: Sie verbietet quid iuris-Fragen und lässt nur quid facti-Fragen zu. Jene zielen auf den Geltungsgrund von Begriffen, diese auf deren faktischen Erwerb oder Besitz.126 Ihr Verbot geltungstheoretischer Überlegungen kann naturgemäß nicht aus der Untersuchung der ›wirklichen Voraussetzungen‹ resultieren, es ist dogmatisch gesetzt. Ihre dem Anspruch nach nicht-philosophische Kritik der »selbständige[n] Philosophie« (DI 136/27) ist daher unbegründet. Dieser Kalamität ist durch die Behauptung, die marx-engelssche Philosophiekritik sei »selber im höchsten Maße philosophisch bedeutsam« (Fleischer 1970: 55), nicht zu entkommen. Nicht hilfreich ist auch die These, wonach nur »ein apriorisches Philosophieren« verabschiedet werde, »das sich jenseits der Wissenschaften bewegt und diesen gegenüber ein Parallelwissen beansprucht«, »de facto« werde aber weiter philosophiert im Rahmen einer »realistische[n] Sozialphilosophie, die sich sowohl an praktisch-politischer Erfahrung als auch an wissenschaftlichem Wissen orientiert«. (Lindner 2013: 157) Der Verballhornung des Erkenntnisanspruchs der Vernunftwissenschaft Philosophie (›Parallelwissen‹) liegt das verbreitete Vorurteil zugrunde, wonach diese im Unterschied zu den seriösen Disziplinen infallibles Wissen beanspruche. Dem hat schon Fichte widersprochen mit dem Hinweis, wir seien »nicht Gesetzgeber des menschlichen Geistes, sondern seine Historiographen«. Das »System des menschlichen Geistes« sei zwar »absolut gewiss und infallibel«, seine Darstellung in der Philosophie aber nicht. »[N]ie darf man auf Infallibilität Anspruch machen.« (Fichte 1794a: 76 f.) Das materialistische Programm der Überwindung der ›selbständigen Philosophie‹ im Namen einer positiven Wissenschaft von der Wirklichkeit unterschreitet das philosophisch erreichte Niveau der Argumentation, wenn es die erkenntnistheoretische Reflexion der Reflexion für ideologisch erklärt und deren Resultate ignoriert. Zu diesen Resultaten zählt unter anderen die Einsicht in den Unterschied von Genesis und Geltung. Die Untersuchung der Genese einer wahren Theorie begründet 126 Vgl. KrV B 116 ff. »Quaestio facti ist, auf welche Art man sich zuerst in den Besitz eines Begriffs gesetzt habe;/ quaestio iuris, mit welchem Recht man […] denselben besitze und ihn brauche.« (Kant, NMph: 267).

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nicht deren Wahrheit, und die Untersuchung der Genese einer falschen Theorie vermag zwar aufzuzeigen, warum es in der Entwicklung dieser Theorie zu Irrtümern kam, erweist damit diese Irrtümer aber nicht als wahr.127 Die ideologiekritische Untersuchung der Genese von Bewusstseinsformen setzt als Bedingung ihrer Möglichkeit den Unterschied von wahr und falsch voraus. Sie vermag diesen Unterschied nicht wiederum ideologiekritisch zu begründen. Die Frage nach der Genese zielt auf die Umstände und Bedingungen, unter denen etwas: ein Theorem, ein Begriff, eine Norm entstanden ist, die Frage nach der normativen Geltung betrifft die Gründe, die das Theorem, den Begriff, die Norm stützen. Indes zeigt sich: Der propagierte Abschied von der Philosophie misslingt. Seinem materialistischen Programm entgegen wird Marx wieder philosophisch und muss es werden, um mit Grund von der nachkapitalistischen als der »höheren Gesellschaftsform« (K I² 543/618) sprechen zu können. Als Analyse und Kritik der bestehenden Gesellschaft enthält die Kapitaltheorie zwar keine konkreten Vorschläge für deren Umgestaltung und entwirft kein detailliertes Bild der Gesellschaftsform, die der kapitalistischen folgen soll. Doch Marx kommt nicht umhin darzutun, inwiefern die anvisierte Gesellschaft das normative Prädikat ›höhere Gesellschaftsform‹ verdient. Der bloße Umstand, dass es sich bei der neuen Gesellschaftsform um eine nicht-kapitalistische handelt, reicht natürlich nicht hin. Dem Hinweis, die Reproduktion dieser nicht-kapitalistischen Gesellschaft werde von deren Mitgliedern gemeinsam planmäßig betrieben und kontrolliert, ist unmittelbar kein Grund für deren normative Auszeichnung zu entnehmen. Tatsächlich hat Marx die neue Gesellschaftsform zu verschiedenen Zeiten grob skizziert und dabei Formulierungen geprägt, die in unterschiedlicher Weise auf die normative Dimension seiner Theorie deuten. Laut dem Kommunistischen Manifest (1848) ist die neue, klassenlose Gesellschaft »eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (MKP 482). Laut dem dritten Band des Kapitals (1864/65) ist ihre grundlegende Struktur der Dualismus ›Reich der Notwendigkeit/wahres Reich der Freiheit‹. Das »wahre Reich der Freiheit« beginne jenseits der materiellen Produktion als dem »Reich der Nothwendigkeit«, mithin erst dort, wo das Arbeiten, das in allen Gesellschaftsformen und Produktionsweisen »durch Noth und äussere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört«. Erst in ihm beginne »die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck« gelte, aber nur auf dem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis möglich sei. (K III 838/828) Laut der Kritik des Gothaer Programms (1875) gilt in »einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft«: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, Jedem nach seinen Bedürfnissen!« (KGP 15/21). 127 Vgl. Poser (2001: 252).

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Dass die Formel des Manifests von der ›Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist‹, eine Verwandtschaft mit kantischen Bestimmungen des Rechtsbegriffs aufweist, ist öfter bemerkt worden.128 Nach Kant ist das Recht »der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann« (RL B 33).129 Schiller hat auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Formeln aus dem Manifest und der kantischen Rechtslehre aufmerksam gemacht. In beiden gehe es um die Bedingungen der Freiheit eines jeden. Während es aber Kant um eine »Verträglichkeit des Nebeneinander« gehe, ziele Marx auf die Gemeinschaftlichkeit, »die von Anfang an« für seine »Utopie zentral war«. Während Kant unter Freiheit die der Willkür verstehe und damit an den Eigentümer denken lasse, der mit dem rechtlich Seinen beliebig verfahren könne, lasse Marx’ Rede von der ›freien Entwicklung‹ eher an den Bildungsbegriff denken, »an die Entfaltung konkreter, freilich nicht vorgeschriebener Inhalte«. Während Kant die Allgemeinheit des Handelns der Einzelnen als die apriorische Allgemeinheit des Vernunftrechts fasse, »das über den Individuen und ihrem Willkürhandeln steht«, bestimme sie Marx als Qualität des Handelns selbst. Während schließlich Kant das Subjekt der Freiheit als abstraktes Rechtssubjekt und somit als »isolierten Eigentümer« fasse, bestimme es Marx als Subjekt »der freien Entwicklung«, womit wohl »jenes materielle Subjekt« gemeint sei, das in den Manuskripten als der »wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte ein- und ausatmende Mensch« in seiner »gegenständlichen Tätigkeit« charakterisiert werde. (H.-E. Schiller 2006: 160) Schillers Vergleich der beiden Formeln erfolgt aus der Perspektive der Manuskripte. Sie bilde auch für die späteren Jahre den entscheidenden Bezugspunkt: »Befreiung meint die Realisierung des Gattungswesens in den Individuen. Da diese Individuen assoziiert sein werden, verwirklichen sie auch die Gesellschaftlichkeit des menschlichen Wesens und damit eine der frühesten Wunschvorstellungen des jungen Marx.« (H.-E. Schiller 2006: 160) Die verbreitete Ansicht, wonach sich Marx’ Utopie nur vor dem Hintergrund seines an Feuerbach anknüpfenden Theorems vom menschlichen Gattungswesen verstehen lasse,130 deutet zu Recht darauf, dass der Autor des Kapitals seit den Manuskripten einen em128 Der Verweis darauf spielt schon eine prominente Rolle in der Debatte zwischen neukantianischen Sozialisten, Orthodoxen und Austromarxisten: vgl. etwa Vorländer (1926: 300); Mehring (1900: 365 ff.); Adler (1904a: 109 f.). 129 Vgl. KrV B 373. 130 Marx-Biograph McLellan (1973: 322) sieht im Zentrum der marxschen Utopie seit den 1844er Jahren »das ›universal entwickelte‹ Individuum – ein Begriff, mit dem er in den ›Grundrissen‹ schier unerträglich oft operiert«.

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phatischen Begriff des Menschen und näher eine emphatische Auffassung von menschlicher Arbeit, Reichtum, Freiheit, Leben und Eigentum bemüht, um die kommunistische Gesellschaftsform gegenüber der kapitalistischen als die höhere auszuzeichnen.131 Den Manuskripten zufolge ist Arbeit in der kommunistischen Gesellschaft Gattungsakt, das heißt freie Lebensäußerung, spontane Selbstbetätigung und Selbstbestätigung des zugleich individuellen und gesellschaftlichen Lebens der Einzelnen, ihr »wahres, thätiges Eigenthum« (AJM 466/463). In ihr und ihren Resultaten als dem gegenständlichen Dasein der menschlichen Wesenskräfte besteht der gesellschaftliche Reichtum. Der Deutschen Ideologie zufolge besteht der wirkliche Reichtum in der universellen Aneignung der zur Totalität entwickelten Produktivkräfte durch die in dieser Aneignung sich selbst zu totalen Individuen entwickelnden Einzelnen. Die Aufhebung des Privateigentums ermöglicht es den Individuen, sich mit der materiellen und geistigen Produktion »der ganzen Welt in praktische Beziehung« zu setzen und »sich die Genußfähigkeit für diese allseitige Produktion der ganzen Erde (Schöpfungen der Menschen) zu erwerben« (DI 42/37). Den Grundrissen zufolge ist der Reichtum, »wenn die bornirte bürgerliche Form abgestreift wird«, nichts anderes als »die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Productivkräfte etc der Individuen« (Gr 392/395 f.); der »wirkliche Reichthum ist die entwickelte Productivkraft aller Individuen« (Gr 584/604.) Dem Kapital zufolge hängt in der nachkapitalistischen Gesellschaftsform der »wirkliche Reichthum der Gesellschaft« nicht mehr von der Länge der Mehrarbeit, »sondern von ihrer Productivität und mehr oder minder reichen Productionsbedingungen ab, worin sie sich vollzieht« (K III 837 f./828). Das »Grundprincip« der gesellschaftlichen Produktion ist hier »die volle und freie Entwicklung jedes Individuums«. (K I² 543/618) Die emphatische Auffassung von Arbeit, Reichtum, Freiheit, Leben und Eigentum, die die Mill-Exzerpte und Manuskripte im Kontext der Lehre vom Gattungswesen des Menschen vertreten, findet sich in den späteren Schriften, in denen Marx mit dieser Lehre gebrochen hat, wieder. Marx erweckt damit den Eindruck einer Kontinuität zwischen den Schriften, die sich auf die Lehre vom Gattungswesen stützen, und denen, die sie kritisieren. Wie sollen aber diese Bestimmungen weiterhin Geltung beanspruchen können, wenn ihr Geltungsgrund der Kritik verfällt und der Charakter der Theorie sich radikal verändert hat? Zufolge der Der »chiliastische touch« sei hier nicht weniger ausgeprägt als in den Ma­ nuskripten. 131 Zu Recht weist Lohmann (1991: 81) darauf hin, dass »die philosophisch unerheblich scheinende Kategorie des ›Reichtums‹« in den Manuskripten wie im Kapital »den kritischen Blick auf die bürgerliche Gesellschaft bestimmt«.

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Deutschen Ideologie entfremdet nicht ›der‹ Mensch sich seinem Wesen, sondern den einzelnen Menschen stehen die Resultate ihrer eigenen Arbeit als eine von ihnen unabhängige, ›fremde‹ gesellschaftliche Macht gegenüber. Statt von dem Menschen im Singular ist von den Individuen im Plural die Rede, statt von ›Wesenskräften‹ nur noch von ›Kräften‹. An die Stelle des spekulativen Naturalismus einer Humanisierung der Natur und Naturalisierung des Menschen tritt die positive materialistische Wissenschaft. Zwar begreift auch die Deutsche Ideologie den gegebenen Gesellschaftszustand als einen historisch vorübergehenden, aber sie antizipiert die kommunistische Gesellschaft nicht mehr im Rahmen einer teleologischen Geschichtsphilosophie als Aufhebung »menschlicher Selbstent­ fremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für d[en] Menschen« (ÖPM 263/536). Mit dem Gattungswesen entfällt das telos der Geschichte. Die positive materialistische Wissenschaft fasst die Geschichte als gerichteten, aber nicht als auf ein telos ausgerichteten Prozess. Geschichte ist der kumulative Prozess »der sich entwickelnden & von jeder neuen Generation übernommenen Produktivkräfte & damit die Geschichte der Entwicklung der Kräfte der Individuen selbst« (DI 104/73). Dabei müssen die sich entwickelnden Produktivkräfte immer wieder in Widerspruch zu den gegebenen Verkehrsformen bzw. Produktionsverhältnissen geraten und der Widerspruch muss »in einer Revolution eklatiren« (DI 90/74). Jetzt ist »empirisch begründet«, dass »durch die kommunistische Revolution« die »Befreiung jedes einzelnen Individuums in demselben Maße durchgesetzt wird, in dem die Geschichte sich vollständig in Weltgeschichte verwandelt«. (DI 42/37) Die Analyse der ›wirklichen‹ Produktion und der von ihr erzeugten Verkehrsform ergibt, dass die kapitalistische Produktionsweise selbst die objektiven und subjektiven Bedingungen ihrer Aufhebung hervorbringt. Sie führt nämlich in den »herrschenden Völker[n]« (DI 38/35) zu einem zuvor nicht für möglich gehaltenen Anwachsen der Produktivkraft der Arbeit und bewirkt damit für eine Minderheit der Menschen eine »Welt des Reichthums u. der Bildung«, während sie die »Masse der Menschheit als durchaus ›Eigenthumslos‹ erzeugt«. (DI 37/34) Durch die rasante Produktivkraftentwicklung erwächst objektiv die Möglichkeit einer Gesellschaft freier Individuen, und durch die völlige Verarmung der Masse der Menschen werden ihnen die überkommenen Verhältnisse subjektiv zu einer »›unerträgliche[n]‹ Macht«, das heißt zu einer »Macht, gegen die man revolutionirt« (DI 37/34). Während die Manuskripte die universelle Entwicklung des Menschen als Verwirklichung einer in Gestalt des menschlichen Gattungswesens vorausgesetzten Potenz fassen, muss seit der Deutschen Ideologie auf den metaphysischen Begriff eines vorausgesetzten Wesens verzichtet werden. Zwar sprechen die Grundrisse noch vom »absolute[n] 227

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Herausarbeiten« der »schöpferischen Anlagen«, betonen aber zugleich, dass es »ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangne historische Entwicklung« geschehe; es werde »nicht gemessen an einem vorherge­ gebnen Maaßstab« (Gr 392/396). Die Entwicklung der menschlichen Kräfte ist ein historischer Prozess, über den nicht philosophisch spekuliert, sondern der empirisch erforscht werden muss.132 Die Rede von ›der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher‹ zielt nicht mehr auf die Utopie einer Versöhnung zwischen »dem Menschen mit der Natur und mit d[em] Menschen« (ÖPM 263/536), sondern auf die »volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sog. Natur sowohl wie seiner eigenen Natur« (Gr 392/396). Ähnliches gilt für das Kapital. Beide Schriften bewegen sich insofern in dem von der Deutschen Ideologie skizzierten und für die weitere Forschung als verbindlich vorgegebenen Rahmen der ›wirklichen, positiven Wissenschaft‹, auch wenn die Sprache besonders der Grundrisse noch stark von der für die Manuskripte typischen Vermengung feuerbachscher und hegelscher Ausdrucksweise geprägt ist. Wenn Marx hier den historischen Prozess als »absolute[] Bewegung des Werdens« und als »Selbstzweck« (Gr 392/396) charakterisiert, ist das nicht Resultat der positiven materialistischen Wissenschaft, sondern eigenes Erbe. Es ist der Gedanke von der Selbsterzeugung des Menschen durch Arbeit (laut den Manuskripten ›das Grosse an der Hegelschen Phänomenologie‹), und dass Marx auf ihn zurückkommt ist ein Indiz dafür, dass die Überwindung der Philosophie durch die materialistische Wissenschaft nicht recht gelingen will. Indem Marx seit den Mill-Exzerpten und Manuskripten an der emphatischen Auffassung von Arbeit, Reichtum, Freiheit, Leben und Eigentum – kurz: an der Utopie vom Menschen als einem ›totalen Individuum‹ festhält, erweckt er den Eindruck einer Kontinuität zwischen den frühen und späteren Schriften. Indem er aber in der Deutschen Ideologie (und den Feuerbachthesen) die Gattungsmetaphysik verwirft, erweckt er den Eindruck eines Bruchs. Seine expliziten Äußerungen zum Verhältnis der frühen und späteren Schriften führen nicht zu mehr Klarheit. 132 Taylor (1975) sieht in solchen Differenzen keinen Bruch im marxschen Denken. Marx sei »von Anfang an um die Herstellung einer Synthese bemüht« zwischen der radikalen Aufklärung, die in Natur und Gesellschaft Gegenstände der positiven Wissenschaft sehe, und »dem ›expressiven Streben‹ nach Ganzheit« (724). Weil er Hegels Geistbegriff auf den Menschen übertragen habe, habe er aber nicht einsehen können, dass die anvisierte Synthese von »Expressivismus« und »Szientismus« unmöglich sei (728). ›Expressivismus‹ meint die Anschauung, »daß die Verwirklichung der Natur in jedem von uns zugleich eine Form von Ausdruck ist« (1989: 651). Taylor sieht darin eine der »Schlüsselideen« des späten 18. Jahrhunderts, die im Kern modern sei: »die Idee einer sich selbst bestimmenden Subjektivität, deren Wesensrealisation Selbstrealisation ist« (1975: 33).

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Rückblickend auf die Deutsche Ideologie spricht Marx davon, er und Engels hätten in ihr mit ihrem »ehemaligen philosophischen Gewissen« (ZKPÖ 101/10) abgerechnet. In der Tat hatten in ihr beide unter einigem Aufwand an Ironie und Sarkasmus die nachhegelsche Philosophie inklusive der feuerbachschen Gattungsmetaphysik und der eigenen Entfremdungstheorie verabschiedet: »Philosophie & Studium der wirklichen Welt verhalten sich zu einander wie Onanie & Geschlechtsliebe.« (DI 291/218) Andererseits hatten sie in der Deutschen Ideologie die Entwicklung der eigenen Auffassung auch als kontinuierlich gedeutet. Der »Gang« einer »die wirklichen materiellen Voraussetzungen als solche empirisch beobachtenden und darum erst wirklich kritischen Anschauung der Welt« sei schon »angedeutet in den ›Deutsch-Französischen Jahrbüchern‹ in der ›Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‹ und ›Zur Judenfrage‹«. Freilich: »Da dies damals noch in philosophischer Phraseologie geschah, so gaben die hier traditionell unterlaufenden philosophischen Ausdrücke wie ›menschliches Wesen‹, ›Gattung‹ pp den deutschen Theoretikern die erwünschte Veranlassung, die wirkliche Entwicklung zu mißverstehen & zu glauben, es handle sich hier wieder nur um eine neue Wendung ihrer abgetragenen theoretischen Röcke.« (DI 291/217 f.) Gemäß dieser Selbstdeutung besteht zwischen der Gattungsmetaphysik der Manuskripte und der in der Deutschen Ideologie skizzierten positiven materialistischen Wissenschaft kein wirklicher Bruch. Die Kritik an und die Polemik gegen ›Gattungswesen‹ und ›Entfremdung‹ im Namen der materialistischen Wissenschaft wären demnach nicht allzu ernst zu nehmen. Allerdings wäre Marx’ und Engels’ Abrechnung mit ihrem ehemaligen ›philosophischen Gewissen‹ sehr oberflächlich ausgefallen. Mit der ironischen Bemerkung, von ›Entfremdung‹ sei die Rede, »um den Philosophen verständlich zu bleiben« (DI 37/34), hätte sich Marx nur terminologisch von der Philosophie und den eigenen Frühschriften abgesetzt. Marx hätte schon früh den ›Gang‹ einer materialistischen Anschauung der Welt angetreten, sich aber erst später von der philosophischen Begrifflichkeit verabschiedet. Der Bruch, der zwischen den Frühschriften und der Deutschen Ideologie tatsächlich besteht, scheint so gesehen nicht der Rede wert. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn deutlich wird er nur dann, wenn die normative Dimension der Manuskripte ernst genommen wird. Davon kann bei Marx keine Rede sein. Die normative Dimension der frühen Schrift, so wurde oben gezeigt, ist gattungsmetaphysisch und geschichtsphilosophisch fundiert. Die untersuchten und dargestellten Zustände sind dem Wesen des Menschen nicht angemessen. Das kennzeichnet ihren Status als transitorisch. Muss nun aber laut der in der Deutschen Ideologie postulierten positiven materialistischen Wissenschaft auf den Begriff des Gattungswesens verzichtet werden, dann auch auf den der Entfremdung. Dieser Begriff 229

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kann in ihr keine erklärende und evaluative Funktion haben. Mit dem Maßstab der Beurteilung entfällt auch ihr Gegenstand. Entfremdung ist kein Sachverhalt, der einfach vorliegt und empirisch zu konstatieren ist. Tatsächlich ist in der Deutschen Ideologie nur zweimal von ›Entfremdung‹ die Rede, beide Male in ironisch-distanzierender Weise. Diese Ironisierung führt in die Irre: Wenn gesellschaftliche Zustände nur unter der Voraussetzung des ›philosophischen‹ Begriffs Gattungswesen mit dem Wertprädikat ›Entfremdung‹ bezeichnet werden können, dieser Begriff aber verworfen werden muss, dann kann nicht mehr auf ›Entfremdung‹ rekurriert werden, ›um den Philosophen verständlich zu bleiben‹. Es scheint, dass Marx sich hier selbst in die Irre geführt hat. Weil ihm die normative Dimension des Begriffs des Gattungswesens nicht bewusst ist, ist für ihn der Verzicht auf diesen Begriff nur insofern von Belang, als jetzt konsequenterweise statt von ›dem Menschen‹ von ›den Menschen‹ zu reden ist und damit dem Anspruch der materialistischen Theorie, die empirisch zu beobachtenden materiellen Voraussetzungen ins Visier zu nehmen, auch sprachlich genüge getan ist. Die von Marx provozierte und seit langem diskutierte Frage ›Kontinuität oder Bruch?‹ lässt sich mit den Mitteln des marxschen Denkens nicht befriedigend beantworten. Wird dagegen der von Marx ignorierte normative Charakter der Gattungsmetaphysik gewürdigt und gezeigt, warum Marx auch nach ihrer ideologiekritischen Verabschiedung genötigt ist, auf sie zurückzukommen, dann wird deutlich: Innerhalb der Grenzen des marxschen Denkens kann nicht von der Alternative ›Kontinuität oder Bruch‹ gesprochen werden. Vielmehr ist eine – allerdings paradoxe – Kontinuität zu konstatieren. 1.4.2. Zwei Varianten eines Zurück zur Philosophie Die Fragwürdigkeit der Position einer ›materialistischen‹ Überwindung der Philosophie zeigt sich unter anderem daran, dass Marx gegen sie in dem Moment verstoßen muss, in dem er die kapitalistische Produktionsweise kritisiert und von ihr die nachkapitalistische als ›höhere‹ Gesellschaftsform abhebt. Marx muss jetzt gegen seine methodische Maßgabe, keine anderen als historische Voraussetzungen anzuerkennen, verstoßen, denn aus der Betrachtung des historischen Prozesses – nicht der Ideen, die ihm entspringen, sondern des ›wirklichen Lebens‹ der Menschen – allein lassen sich keine normativen Kriterien für die Bestimmung einer höheren, normativ ausgezeichneten Gesellschaftsform gewinnen. Die Betrachtung zeigt nur einen gerichteten Prozess der sich erweiternden Bedürfnisse und der Fähigkeiten, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Sie zeigt, dass der Umfang der Bedürfnisse und die Mittel zu ihrer Befriedigung beim »Civilisirten« im Vergleich zum »Wilden« (K III 838/828) 230

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enorm zugenommen haben. Sie zeigt ferner, dass mit der Schaffung neuer Mittel indirekt auch neue Bedürfnisse geschaffen wurden. »[D]ie Erzeugung der Mittel zur Befriedigung« elementarer Lebensbedürfnisse ist nach der Deutschen Ideologie die »erste geschichtliche That« der Menschen. »Das Zweite ist, daß das befriedigte erste Bedürfniß selbst, die Aktion der Befriedigung & das schon erworbene Instrument der Befriedigung zu neuen Bedürfnissen führt.« (DI 26 f./28) Im Gebrauch der für die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse erzeugten Mittel entdecken die Menschen, dass diese Mittel einen »Überschuß an Handlungsmöglichkeiten« (Rohbeck 2000: 124) besitzen. Sie lassen sich auch zur Realisierung neuartiger, bislang unbekannter Zwecke gebrauchen. (Diese Entdeckung setzt auf Seiten der Menschen, das sei ergänzt, das Vermögen der Vernunft voraus.) Die materialistische Geschichtsbetrachtung zeigt also einen quantitativ bestimmten Fortschritt. Dabei eignet ihr, wie jeder Rede vom Fortschritt, eine evaluative Dimension. Die Zunahme der Bedürfnisse und der Fähigkeiten zu ihrer Befriedigung wird bewertet. Soweit die Kriterien der Bewertung auf erfahrungsbasiertem Wissen beruhen, steht dieses Vorgehen im Einklang mit der propagierten Methode. Die Sphäre der bloß historischen Voraussetzungen verlässt nicht, wer etwa eine technische Erfindung oder medizinische Erkenntnis als ›gut für die Menschen‹ und mithin als einen ›Fortschritt‹ bewertet. Auch Marx verbleibt in ihr, solange er die kommunistische Gesellschaft als ein Ziel begreift, welches dem objektiven Interesse der Mitglieder der Arbeiterklasse an besseren Lebensbedingungen entspringt. Wenn die Arbeiter in den existierenden Produktionsverhältnissen notwendig ausgebeutet werden, Armut und Verelendung erleiden, können sie an deren Weiterbestehen kein Interesse haben. Sie sind dann »unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieterische Not – den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit – zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen« (HF 38). Nun gehört es zwar zum Kern der späteren Kapitaltheorie, dass die Verkäufer der Ware Arbeitskraft ausgebeutet werden, nicht aber, dass sich diese Ausbeutung auch in Armut und Elend manifestieren muss (Einleitung 1). Die Kapitaltheorie enthält keinen stichhaltigen Grund, der gegen die Möglichkeit einer kapitalistischen Gesellschaft spräche, in der die Arbeitskraftverkäufer subjektiv mit ihren Arbeitsbedingungen und ihrem ›Lebensstandard‹ im Großen und Ganzen zufrieden wären. Die Rede von einer absolut gebieterischen Not trifft womöglich auf bestimmte historische und gesellschaftliche Situationen zu, macht aber im Hinblick auf die kapitalistischen Produktionsverhältnisse generell keinen Sinn. Ob dies Marx dazu bewogen hat, den Kommunismus nicht allein als ein Ziel zu fassen, welches sich das revolutionäre Proletariat im Lichte seiner Klasseninteressen und der gegebenen materiellen Möglichkeiten 231

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selbst setzt, sei dahingestellt. Jedenfalls führt er in den Grundrissen und im Kapital nicht nur Klasseninteressen und den Stand der Produktivkraftentwicklung, also historische Voraussetzungen für die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft an, sondern macht nach dem Vorbild der Manuskripte auch nicht-historische Voraussetzungen geltend. Er führt normative Bestimmungen ein, die aus der Perspektive der positiven materialistischen Wissenschaft als philosophische Ideen kritisiert werden müssten. Als erstes ist hier die Bestimmung der nachkapitalistischen als der ›höheren‹ Gesellschaftsform zu nennen. Sie ist nicht deshalb die ›höhere‹, weil in ihr die Arbeitsbedingungen der Menschen und ihre Versorgung mit Gebrauchswerten sich wesentlich verbessert hätten, sondern weil ihr »Grundprincip« ein normativ ausgezeichnetes ist: »die volle und freie Entwicklung jedes Individuums«. Marx unterstellt offenbar, dass eine Gesellschaft, in der dieses Prinzip wirksam ist, sein soll, denn er spricht der existierenden Produktionsweise im Hinblick auf die anvisierte eine »transitorische Notwendigkeit« zu. Sie sei historisch notwendig »zur Schöpfung von materiellen Produktionsbedingungen, welche allein die reale Basis« der höheren bilden können. (K I² 543/618) Der Grund dieses Sollens wird von Marx nicht genannt. Geschichtsphilosophischer Art darf er nicht sein, das verstieße gegen die materialistische, nicht-teleologische Geschichtsauffassung. Der empirischen Untersuchung des realen historischen Prozesses kann er aber nicht entnommen werden. Eine solche Untersuchung könnte allenfalls pragmatische Gründe namhaft machen, die aus der Perspektive bestimmter Menschen für die Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sprechen. Es zeigt sich hier ein Dilemma des marxschen Denkens: Nur mit den Mitteln der positiven materialistischen Wissenschaft lässt sich die anvisierte nachkapitalistische Gesellschaft nicht normativ auszeichnen und die bestehende nicht charakterisieren als eine, die überwunden werden soll. Beides ist nur möglich auf der Grundlage normativer, ›philosophischer‹ Bestimmungen. Die materialistische Wissenschaft schließt aber ein Zurück in die Philosophie aus. Marx hat dieses Dilemma nicht gelöst, sondern – sollte es ihm überhaupt bewusst gewesen sein – ignoriert und ist dort, wo seine Überlegungen das normative Element unabdingbar machten, stets auf Überlegungen zurückgekommen, die sich schon in den Manuskripten und den von ihm kommentierten Auszügen aus James Mills Élémens d’économie politique finden. Es sind dies Überlegungen philosophischer Art. Bezeichnenderweise erfolgt der Sprung zurück in die Philosophie in zwei einander ausschließenden Varianten. Der einen Variante zufolge ist die anvisierte nachkapitalistische Gesellschaftsform deshalb die höhere, weil sich in ihr die Individuen durch Arbeit selbst verwirklichen. Der anderen Variante zufolge taugt Arbeit prinzipiell nicht als Selbstverwirklichung. Die nachkapitalistische Gesellschaft qualifiziert sich dadurch als die höhere, dass in ihr der so menschenwürdig wie möglich eingerichtete 232

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gesellschaftliche Produktionsprozess als Basis für ein jenseits davon liegendes ›Reich der Freiheit‹ fungiert. Der Umstand, dass die These ›Arbeit als Selbstverwirklichung‹ von den Manuskripten über die Vorarbeiten zum Kapital bis zum Kapital und die Kritik des Gothaer Programms in Marx’ Schriften präsent ist, während sich die Antithese (soweit ich sehe) nur in einer Passage aus dem dritten Band des Kapitals findet, verleitet das Gros der Interpreten dazu, die Antithese nicht wirklich ernst zu nehmen.133 Für eine Interpretation, die den Fokus auf das marxsche Denken und nicht auf die möglicherweise davon differierende Kapitaltheorie und Kapitalkritik legt, bietet es sich an, in der Passage des dritten Bandes eine Art theoretischen Ausrutscher zu sehen, der Marx zudem in einem nicht von ihm selbst publizierten Manuskript unterlaufen sei. Sie wird die Variante ›Arbeit als Selbstverwirklichung‹ deshalb als die für Marx maßgebliche ansehen. Eine an der Kapitaltheorie qua Theorie interessierte Interpretation kann dem zustimmen, muss aber darauf bestehen, dass damit über die Sache selbst noch gar nichts gesagt ist. Beide Varianten des Zurück in die Philosophie werden im Folgenden anhand der Passagen über die Reiche der Notwendigkeit und der Freiheit aus dem dritten Band des Kapitals und anhand der Grundrisse diskutiert. Wenn Kapital III (1) und Grundrisse (2) kontrastiert werden, so geschieht dies nur, um die beiden Varianten möglichst deutlich herauszustellen. Es wird damit nicht behauptet, dass es im Kapital insgesamt oder in den Grundrissen insgesamt nicht Passagen gibt, die den hier jeweils thematisierten widersprechen. Das Gegenteil ist der Fall. (1) Kapital III: Marx zufolge basierte in der bisherigen Geschichte die Verausgabung von gesellschaftlicher Mehrarbeit immer auf äußerem Zwang gegen die unmittelbaren Produzenten, war die – zunehmende – Freiheit von der ersten Natur immer verschränkt mit gesellschaftlicher Herrschaft. Mit dem Übergang in die ›höhere Gesellschaftsform‹ entfiele die Herrschaft des Kapitals, aber nicht die Notwendigkeit gesellschaftlicher Mehrarbeit. »Surplusarbeit überhaupt, als Arbeit über das Maaß der gegebnen Bedürfnisse hinaus, muß immer bleiben.« Sie »ist erheischt durch die Assecuranz gegen Zufälle, und durch die nothwendige dem Fortschritt der Bevölkerung und der Entwicklung der Bedürfnisse selbst entsprechende progressive Ausdehnung des Reproductionsprocesses«. 133 Ellmers (2015: 175 f.) etwa relativiert Marx’ Ausführungen zu den Reichen der Notwendigkeit und Freiheit mit Hinweis auf Grundrisse und Kritik des Gothaer Programms. Auch müssten Arbeiten, »die mit dem Bedürfnis der Individuen nach qualifizierter individueller Selbstverwirklichung nicht deckungsgleich sind«, nicht zwangsläufig »nur als Beschränkung«, sie könnten »auch« als sinnvolle »soziale Praxis« erfahren werden. Offen bleibt, was mit »qualifizierter individueller Selbstverwirklichung« gemeint ist. Die Behauptung, Marx sei ein Vertreter des »auf Aristoteles zurückgehende[n] Perfektionismus«, führt nicht weiter.

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Die gesellschaftliche Mehrarbeit bleibt die materielle Grundlage auch der höheren Gesellschaftsform, allerdings hat sie in dieser nicht mehr eine »antagonistische Form«. (K III 837/827) Weil Mehrarbeit historisch immer direkte oder ökonomisch und rechtlich vermittelte Zwangsarbeit war und insofern in dem Terminus ›Mehrarbeit‹ Herrschaftsverhältnisse immer mitzudenken sind, kann, so eine Überlegung aus dem ersten Band des Kapitals, im Hinblick auf die höhere Gesellschaftsform auf ihn verzichtet werden. Es bliebe dann die ›notwendige Arbeit‹, deren Bedeutung sich allerdings verändert hätte. »Die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsform erlaubt den Arbeitstag auf die nothwendige Arbeit zu beschränken.« Ihr Umfang würde allerdings wachsen. »Einerseits weil die Lebensbedingungen des Arbeiters reicher und seine Lebensansprüche größer. Andrerseits würde ein Theil der jetzigen Mehrarbeit zur nothwendigen Arbeit zählen, nämlich die zur Erzielung eines gesellschaftlichen Reserve- und Akkumulationsfonds nöthige Arbeit.« (K I² 493 f./552) Die gesellschaftliche Sphäre, in der die so bestimmte notwendige Arbeit – notwendig für die materielle Reproduktion einer freien Gesellschaft – verausgabt wird, ist das »Reich der Nothwendigkeit«, auf dessen Grundlage sich laut dem dritten Band das »Reich der Freiheit« erhebt. »Das Reich der Freiheit beginnt in der That erst da, wo das Arbeiten, das durch Noth und äussere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduciren, so muß es der Civilisirte, und er muss [es] in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Productionsweisen.« Die Freiheit in der Sphäre der materiellen Produktion kann »nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die associirten Producenten diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, ihn unter ihre gemeinschaftliche Controlle bringen, statt von ihm als einer blinden Macht controllirt zu werden, mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adaequatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dieß immer ein Reich der Nothwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Nothwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Reduction des Arbeitstags ist die Basis.« (K III 838/828)

Fünf Punkte sind hervorzuheben: (a) Marx unterscheidet hier klar zwischen dem »Arbeiten, das durch Noth und äussere Zweckmäßigkeit bestimmt ist« und der »menschliche[n] Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt«, und verortet das erste in der materiellen Produktion, die letztere in einer Sphäre jenseits davon. Arbeit als Stoffwechsel mit der Natur ist ›in allen 234

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Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen‹ notwendig. Das heißt nicht, dass es im Reich der Notwendigkeit keine Freiheit gäbe,134 aber sie kann hier nur darin bestehen, dass die Menschen den gesellschaftlichen Produktionsprozess gemeinschaftlich so regeln, dass ihr Arbeiten sich unter ihrer ›menschlichen Natur‹ möglichst würdigen Bedingungen vollziehen kann. Das wahre Reich der Freiheit kann nur auf dem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis ›aufblühn‹. (b) Die Passage enthält allerdings nicht nur eine nüchterne Absage an den spekulativen Naturalismus der Manuskripte, sie enthält auch normative Bestimmungen, die auf eben diesen verweisen. Marx führt unvermittelt eine Bestimmung ein, die er seit der Deutschen Ideologie als philosophisches Ideologem kritisiert, den spekulativen und normativen Begriff der ›menschlichen Natur‹. Die Arbeitsbedingungen im Reich der Notwendigkeit können – diese Freiheit besteht – so gestaltet werden, dass sie der ›menschlichen Natur‹ möglichst ›würdig‹ sind. Der Begriff deutet zurück auf die Manuskripte. Diesen zufolge sind ›würdige‹ Arbeitsbedingungen solche, unter denen der Mensch sein Gattungswesen betätigen und bestätigen kann, sie ermöglichen Arbeit als ›Gattungsakt‹. Laut dem Kapital sind und bleiben die Individuen in der materiellen Produktion aber nur in relativer Weise frei. Die Notwendigkeit, der sie unterliegen, ist gerade nicht die »innere« des »reichen all und tiefsinnigen Menschen« (ÖPM 271/542), sondern die des endlichen, bedürftigen Menschen, der sich nur durch den gemeinsam mit anderen betriebenen Stoffwechsel mit der Natur außer ihm erhalten kann. Dabei bleibt die Natur auch dann, wenn die Menschen die materiellen Bedingungen ihrer Reproduktion in Gestalt von Produktionstechnik selbst herstellen, die gegebene Voraussetzung ihres Produktionsprozesses. Marx erläutert nicht, wie sich die menschliche Natur, die als normativer Maßstab für die Organisation des materiellen Produktionsprozesses fungiert, von der menschlichen Natur unterscheidet, die qua Arbeit erhalten werden muss.135 Er verliert kein Wort darüber, wie im Rahmen einer Theorie, die sich der »einzig materialistische[n] und daher wissenschaftliche[n] Methode« (K I² 364 Anm. 89/393 Anm. 89) verpflichtet weiß, derartige normative Setzungen zu verstehen sind. (c) Marx fasst den Unterschied zwischen der Art, wie ›der Wilde‹ und ›der Civilisirte‹ mit der Natur ringen, als einen bloß quantitativen. Beide leben in einem Reich der Notwendigkeit, aber der Umfang der Bedürfnisse und die Mittel zu ihrer Befriedigung sind beim ›Wilden‹ im Vergleich zum ›Civilisirten‹ eng begrenzt. Mit anderen Worten: Die 134 So aber Marcuse (1968: 229 f.): »Das Reich der Notwendigkeit bleibt immer ein Reich der Unfreiheit.« In Marx’ Konzeption der beiden Reiche sei »die Teilung des menschlichen Daseins in Arbeitszeit und Freizeit ausgedrückt«. 135 Vgl. Lohmann (1991: 112).

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Unterscheidung zwischen mehr oder weniger Freiheit von unmittelbaren Naturzwängen ist eine innerhalb des sich historisch erweiternden Reichs der Notwendigkeit. Von diesem ist das Reich der Freiheit nicht graduell, sondern eminent unterschieden. Die spezifische Differenz zwischen beiden Reichen ist die Freiheit der menschlichen Tätigkeit von ›Not und äußerer Zweckmäßigkeit‹. Die normative Auszeichnung des Reichs der Freiheit gegenüber dem der Notwendigkeit betont Marx, indem er von ihm als dem ›wahren [!] Reich der Freiheit‹ spricht. Es beginnt jenseits der materiellen Produktion, nämlich dort, wo die ›menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt‹, möglich ist. (d) Marx charakterisiert die selbstzweckhafte menschliche Kraftentwicklung nur negativ: sie ist nicht durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt. Weil sie jenseits der arbeitsteilig organisierten Produktion der Gesellschaft angesiedelt ist, ist das Individuum hier nicht durch seine Funktion für die Gesellschaft bestimmt. Marx widerspricht damit einer Passage aus dem ersten Band, in der es heißt, dass nach der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse aus dem »Theilindividuum« als dem »bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion« das »total entwickelte Individuum« werden könne, »für welches verschiedne gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Bethätigungsweisen sind« (K I² 466/512). Dieses Individuum, sollte es denn überhaupt möglich sein, wäre kein Bewohner des wahren Reichs der Freiheit. (e) Die nur negative Charakterisierung der selbstzweckhaften Kraftentwicklung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um eine objektive, dem subjektiven Meinen und Wollen enthobene Bestimmung handelt. Darauf deutet die Bezeichnung der Sphäre, für die sie gilt. Marx spricht vom ›wahren Reich der Freiheit‹ und nicht etwa vom Reich der Freizeit. Wahrhaft frei kann der Mensch nur in dieser, jenseits der gesellschaftlichen Produktion liegenden Sphäre sein, weil er nur hier seine menschlichen Kräfte betätigen kann, ohne dass seine Betätigung nur ein Mittel zu einem außer ihr liegenden Zweck ist.136 Der emphatische Ausdruck ›menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt‹, erinnert an die Charakterisierung der nicht-entfremdeten Arbeit in den Manuskripten. Darauf ist noch zurückzukommen. 136 Formal betrachtet schließt Marx mit der Bestimmung der Selbstzweckhaftigkeit an Aristoteles an, dem zufolge das Leben als Ganzes nur dann sinnvoll ist, wenn das menschliche Streben objektiv auf ein nicht weiter mediatisierbares letztes Ziel hingeordnet ist, das kein partikulares Gut ist, sondern die dem Menschen als solchem angemessene Lebensweise (vgl. Einleitung: die Passage zu Nussbaum). Anders als bei Aristoteles ist der Selbstzweck hier aber kein »letzter Zweck«. Als materialistischer Kritiker der Philosophie hält sich Marx an das Diktum Feuerbachs: »Was nicht als Selbstzweck – keineswegs darum auch als letzter Zweck – anerkannt wird, das wird nicht anerkannt.« (Feuerbach (1841: 546).

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(2) Grundrisse: Dem eminenten Unterschied, der im Kapital zwischen der durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmten Arbeit im Reich der Notwendigkeit und der selbstzweckhaften menschlichen Kraftentwicklung im Reich der Freiheit besteht, widersprechen die Grundrisse. Gegen Adam Smith, der Arbeit quasi alttestamentarisch als »Fluch« begreife und die »Ruhe« mit »Freiheit und Glück« identifiziere,137 wendet Marx ein, dass »das Individuum ›in seinem normalen Zustand von Gesundheit, Kraft, Thätigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit‹ auch das Bedürfniß einer normalen Portion von Arbeit hat, und von Aufhebung der Ruhe«. (Gr 499/512) Smiths’ Auffassung der Arbeit treffe auf die »Sklaven-Fronde-Lohnarbeit« zu, also auf historische Formen »äussere[r] Zwangsarbeit«, gegenüber denen die Nichtarbeit allerdings als Freiheit und Glück erscheine, sei aber als allgemeine Bestimmung verfehlt. Zwar scheine »das Maaß der Arbeit« durch ihren Zweck und die zu seiner Realisierung zu überwindenden Hindernisse »äusserlich gegeben«, aber zum einen sei die Überwindung dieser Hindernisse »an sich Bethätigung der Freiheit«, zum zweiten werde in der nachkapitalistischen, freien Gesellschaft den äußeren Zwecken der »Schein blos äusserer Naturnothwendigkeit abgestreift«, die Arbeit werde »travail attractif, Selbstverwirklichung des Individuums«. Als Beispiel für »wirklich freie Arbeiten« nennt Marx das »Componiren« und wechselt damit irritierenderweise von der Sphäre der materiellen in die der ästhetischen Produktion. (Gr 499/512) Dieser Wechsel ist nicht zufällig. In Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise können nur der ästhetischen Sphäre Beispiele für wirklich freie Arbeit entnommen werden, während solche Arbeit im gesellschaftlichen Produktionsprozess als utopisch erscheinen muss. In der bürgerlichen Gesellschaft ist wirklich freie Arbeit das Privileg einer Minderheit. Unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen dagegen kann zufolge der Grundrisse auch die Arbeit in der materiellen Produktion den Charakter freier Arbeit annehmen. Voraussetzung dafür ist, »daß 1) ihr gesellschaftlicher Charakter gesezt ist, 2) daß sie wissenschaftlichen Charakters, zugleich allgemeine Arbeit ist, nicht Anstrengung des Menschen als bestimmt dressirter Naturkraft, sondern als Subject, das in dem Productionsprocess nicht in blos natürlicher, naturwüchsiger Form, sondern als alle Naturkräfte regelnde Thätigkeit erscheint«. In dem Maße, in dem diese Bedingungen erfüllt sind, verschwindet der den äußeren Zwecken anhaftende »Schein blos äussrer Naturnothwendigkeit«. (Gr 499/512) Dass diese Bedingungen in der modernen bürgerlichen Gesellschaft tatsächlich weitgehend erfüllt sind, ist die »grosse geschichtliche Seite des Capitals« (Gr 241/244). Das Kapital reißt alle Schranken nieder, »die die Entwicklung der Productivkräfte, die Erweiterung der Bedürfnisse, 137 Vgl. Smith (1789: 30); vgl. 3. Mose 17–19.

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die Mannigfaltigkeit der Production, und die Exploitation und den Austausch der Natur- und Geisteskräfte hemmen«. »Hence the great civilising influence of capital; seine Production einer Gesellschaftsstufe, gegen die alle frühren nur als lokale Entwicklungen der Menschheit und als Naturidolatrie erscheinen.« (Gr 322/323) Seine »historische Bestimmung ist erfüllt, sobald einerseits die Bedürfnisse so weit entwickelt sind, daß die Surplusarbeit über das Nothwendige hinaus selbst allgemeines Bedürfniß ist, aus den individuellen Bedürfnissen selbst hervorgeht – andrerseits die allgemeine Arbeitsamkeit durch die strenge Disciplin des Capitals, wodurch die sich folgenden Geschlechter durchgegangen sind, entwickelt ist als allgemeiner Besitz des neuen Geschlechts« und drittens »der Besitz und die Erhaltung des allgemeinen Reichthums« durch die hohe gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit nur noch »eine geringre Arbeitszeit für die ganze Gesellschaft erfordert und die arbeitende Gesellschaft sich wissenschaftlich zu dem Process ihrer fortschreitenden Reproduction in stets größrer Fülle verhält«. (Gr 241/244) Damit sind »die materiellen Elemente für die Entwicklung der reichen Individualität« vorhanden, »die ebenso allseitig in ihrer Production als Consumtion ist und deren Arbeit daher auch nicht mehr als Arbeit, sondern als volle Entwicklung der Thätigkeit selbst erscheint, in der die Naturnothwendigkeit in ihrer unmittelbaren Form verschwunden ist; weil an die Stelle des Naturbedürfnisses ein geschichtlich erzeugtes getreten ist« (Gr 241/244). Für die wissenschaftsbasierte Produktion der großen Industrie ist nicht die unmittelbare Arbeit des Individuums wesentlich, »sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Productivkraft, sein Verständniß der Natur, und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper – in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums« (Gr 581/601). ›Gesellschaftliches Individuum‹ bezeichnet nicht den Sachverhalt, dass Menschen immer in Gesellschaften existieren und produzieren, der einzelne »nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann« (Gr 22/20). ›Gesellschaftliches Individuum‹ ist der Einzelne nicht in allen historischen Epochen, vielmehr zeichnet sich seine reale, historische Möglichkeit erst mit der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise ab. Im ›gesellschaftlichen Individuum‹ sind gesellschaftliche Allgemeinheit und Individualität in Einheit. Die vermehrte freie Zeit ist »sowohl Mussezeit als [auch] Zeit für höhre Thätigkeit«. Sie verwandelt »ihren Besitzer natürlich in ein andres Subject […] und als dieß andre Subject tritt er dann auch in den unmittelbaren Productionsprozess«. Hat der unmittelbare Produktionsprozess in »Bezug auf den werdenden Menschen betrachtet« eine disziplinierende Funktion, indem er den Menschen zur allgemeinen Arbeitsamkeit zwingt und erzieht, ist er in »Bezug auf den gewordnen Menschen, in dessen Kopf das accumulirte Wissen der Gesellschaft existirt«, »Ausübung, 238

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Experimentalwissenschaft, materiell schöpferische und sich vergegenständlichende Wissenschaft«. (Gr 589/607) Marx macht in diesen Passagen das Kapital, das Resultat einer historischen Entwicklung ist, zum immanenten telos dieser Entwicklung, und fasst den Prozess der Entstehung der modernen kapitalistischen Produktionsweise – durch eine Anleihe bei Hegel – als einen ›Bildungsprozess‹, in dem sich ein Allgemeines, das Kapital, in dem Maße verwirklicht, in dem die Individuen, wenn auch nicht bewusst, sich in ihrem Handeln zu Mitteln seiner Verwirklichung machen. Die Verwirklichung des Allgemeinen geht derart einher mit der Verallgemeinerung der Individuen, die allerdings einen zwiespältigen Charakter hat: In ökonomischer Hinsicht werden die Individuen zu ökonomischen Charaktermasken, in technisch-praktischer Hinsicht, im Hinblick auf ihre Fähigkeiten zur Naturbeherrschung, werden sie tendenziell zu Trägern des akkumulierten Wissens der Gesellschaft. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse verhindern freilich, dass diese Tendenz der Bildung des Gesellschaftsmenschen, des voll entwickelten Individuums sich frei entfalten kann. Dies ist erst nach der Abschaffung dieser Verhältnisse möglich. Im Vergleich der Grundrisse mit dem dritten Band des Kapitals fällt auf: (a) An die Stelle des Unterschieds zwischen der durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmten Arbeit im Reich der Notwendigkeit und der selbstzweckhaften menschlichen Kraftentwicklung im Reich der Freiheit tritt hier der Unterschied zwischen der Arbeit, die unmittelbar naturnotwendig ist, und der Arbeit, ›in der die Naturnotwendigkeit in ihrer unmittelbaren Form verschwunden ist; weil an die Stelle des Naturbedürfnisses ein geschichtlich erzeugtes getreten ist‹. (b) An die Stelle der selbstzweckhaften menschlichen Kraftentwicklung als spezifischer Differenz zwischen dem Reich der Notwendigkeit und dem Reich der Freiheit tritt die Differenz zwischen unmittelbarer und geschichtlich vermittelter Naturnotwendigkeit, unmittelbarem und geschichtlich vermitteltem Naturbedürfnis. (c) Die Utopie der Grundrisse ist radikaler als die des Kapitals, erweist sich aber bei näherem Hinsehen als weniger gut begründet. Laut dem Kapital kann es nicht gelingen, den äußeren Zwecken den ›Schein bloß äußerer Naturnotwendigkeit‹ (Grundrisse) abzustreifen, denn den äußeren Zwecken hängt kein Schein bloß äußerer Naturnotwendigkeit an. In der Sphäre der materiellen Produktion ist und bleibt das Arbeiten ›durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt‹. Laut den Grundris­ sen wird wirklich freies Arbeiten im Zuge der Verwissenschaftlichung der materiellen Produktion auch in dieser Sphäre möglich, sobald die kapitalistischen Produktionsverhältnisse beseitigt sind. Diese Position verdankt sich allerdings nicht einer präziseren Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen von Arbeit als Selbstverwirklichung, sondern einem 239

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großzügigen Einsatz hegelscher Denkfiguren wie Unmittelbarkeit und Vermittlung, Setzen und Voraussetzen. Daher ist von den beiden Varianten eines Zurück in die Philosophie diejenige aus dem dritten Band des Kapitals die überzeugendere. Ihr zufolge qualifiziert sich die nachkapitalistische Gesellschaft dadurch als die höhere, dass in ihr der so menschenwürdig wie möglich eingerichtete gesellschaftliche Produktionsprozess als Basis für ein jenseits davon liegendes Reich der Freiheit fungiert. Wie die Passagen aus Kapital III und den Grundrissen zeigen, ist für beide Varianten eines Zurück in die Philosophie der normative Gedanke der Selbstverwirklichung als Verallgemeinerung138 zentral. Allerdings wird er jeweils in unterschiedlicher Weise skizziert. Der Ort der Selbstverwirklichung ist einmal das Reich der Freiheit, einmal der gesellschaftliche Reproduktionsprozess. Entsprechend meint Selbstverwirklichung einmal ›selbstzweckhafte menschliche Kraftentfaltung‹, einmal ›wirklich freie Arbeit‹. Marx hat in Kapital III nicht vollständig mit der in den Grundrissen vertretenen und auf die Manuskripte zurückgehenden Auffassung gebrochen. Den Maßstab für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen im Reich der Notwendigkeit, den normativen Begriff der ›menschlichen Natur‹, entnimmt er den Frühschriften, und in der Charakterisierung der Tätigkeit im Reich der Freiheit als selbstzweckhafte menschliche Kraftentwicklung greift er auf die frühe Auffassung der nicht-entfremdeten Tätigkeit als ›Gattungsakt‹ zurück.139 Marx bestimmt die selbstzweckhafte Tätigkeit in der Passage des dritten Bandes allerdings nur negativ: sie ist nicht durch ›Not und äußere Zweckmäßigkeit‹ bestimmt. Weil sie jenseits der arbeitsteilig organisierten Produktion der Gesellschaft angesiedelt ist, ist ihr Subjekt nicht durch gesellschaftliche Funktionen bestimmt. Für ihre positive Auffassung bleibt im Kontext des marxschen Denkens nur die Bestimmung, welche den Manuskripten zufolge die nicht-entfremdete Arbeit positiv charakterisiert: Die Selbstzweckhaftigkeit der menschlichen Kraftentwicklung manifestiert sich demnach für den Tätigen als Selbstgenuss. Auch im Kapital steht Marx kein anderes Argument zur Verfügung. Der Kritiker der autonomen Philosophie kann den objektiven Sinn der Tätigkeit nicht nach dem Vorbild Kants oder Hegels, mithin moral- oder geistphilosophisch bestimmen.140 Noch der erste Band bemüht das Krite138 Zum Thema Selbstverwirklichung als Verallgemeinerung Theunissen (1982). 139 Zu Recht bemerkt Fleischer (1970: 52), dass Marx in den Manuskripten mit dem »Normbegriff des menschlichen Wesens« den affirmativen Maßstab seiner Kritik offenlegt und die Frühschrift insoweit »nicht nur eine Durchgangsstufe seines Denkens« sei. 140 Beider Freiheitsbegriffe gelten Marx wie schon Feuerbach als philosophische Abstraktionen und Mystifikationen. »Täuscht man sich nicht selbst«, fragt Marx rhetorisch in einem Zeitungsartikel von 1853, »wenn man an Stelle des Individuums mit seinen wirklichen Beweggründen, mit den zahlreichen,

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rium des Selbstgenusses, um die Arbeit, die naturnotwendige Bedürfnisse befriedigen soll, von der Arbeit zu unterscheiden, deren Zwecke auf anderen Bedürfnissen beruhen. Die Aufmerksamkeit des Arbeiters, heißt es dort, sei für die ganze Dauer der Arbeit »um so mehr« erheischt, »je weniger sie durch den eignen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreißt, je weniger er sie daher als Spiel seiner eignen körperlichen und geistigen Kräfte genießt« (K I² 193/193).141 Indem Marx die Möglichkeit von Selbstverwirklichung auf das Reich der Freiheit einschränkt, bricht er (der Sache nach: ob bewusst oder nicht, ist hier nicht die Frage) mit der utopischen Vorstellung, Arbeit könne nach der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbstzweckhafte Tätigkeit werden. Arbeit bleibt auch dann, wenn ihr – mit den Manuskripten zu sprechen – die Form der Entfremdung abgestreift ist, eine äußere Naturnotwendigkeit. Indem Marx aber den Selbstgenuss als Sinn stiftendes Element der selbstzweckhaften Tätigkeit im Reich der Freiheit begreift, rekurriert er auf ein Merkmal, das den Manuskripten zufolge die Arbeit in der kommunistischen Gesellschaft, die Arbeit als ›Gattungsakt‹ auszeichnet. ›Selbstgenuss‹ bezeichnet den objektiven Sinn der Tätigkeit und somit den objektiven Sinn eines Lebens, das sich entweder in dieser Tätigkeit äußert (Manuskripte) oder sich in dem Maße der Ausdehnung des Reichs der Freiheit gegenüber dem Reich der Notwendigkeit142 immer mehr in ihr zu äußern vermag ihn bedrängenden sozialen Verhältnissen die Abstraktion des ›freien Willens‹ setzt, eine der vielen menschlichen Eigenschaften an Stelle des Menschen selbst?« (TS 508) Nach Feuerbach (1867-69: 297) gründet die »Befangenheit im Idealismus« überhaupt auf dem »abstracten Schluss: was in der Wirkung, ist in der Ursache. Denken setzt ein denkendes Wesen voraus. Das ist ganz falsch: es denkt ein sinnliches Subject, ein sinnliches Wesen. Ja das Denken ist eine nothwendige Eigenschaft […] eines individuellen Wesens, das sich von seiner Gattung unterscheidet.« 141 Dass die Passage den Unterschied zwischen naturnotwendiger und nicht-naturnotwendiger Arbeit als graduellen fasst und insofern der aus dem dritten Band widerspricht, wurde zu Beginn des Marx-Abschnitts bereits festgestellt. Hier ist nur von Interesse, dass Marx auch im ersten Band des Kapitals, der nach der Arbeit an den Manuskripten zum dritten Band erschien, das Kriterium des Selbstgenusses anführt. 142 Die Sorge, der Traum von der weitgehenden Befreiung der Menschen vom Arbeitszwang könne sich in dem Moment seiner Realisierung als Fluch erweisen (»Denn es ist ja eine Arbeitsgesellschaft, die von den Fesseln der Arbeit befreit werden soll, und diese Gesellschaft kennt kaum noch vom Hörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten, um deretwillen die Befreiung sich lohnen würde« [Arendt 1958: 11]), hat Marx nicht umgetrieben. Arendts These ist bürgerliche Ideologie, lässt sie doch die Produktionsverhältnisse außen vor. Davon abgesehen: Radikal veränderte

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(Kapital III). ›Selbstgenuss‹ ist mithin nicht individualistisch gemeint. Die Befindlichkeit und die Wünsche des in der modernen Gesellschaft vereinzelten Einzelnen bilden für Marx nicht den Angelpunkt der Theorie. Die Bescheidenheit heutiger Autoren, die ihrer Theorie nur eine eingeschränkte ›Reichweite‹ bescheinigen und sie damit in vielerlei Richtungen ›anschlussfähig‹ halten, ist Marx fremd. Das Selbst des Individuums ist den Manuskripten zufolge kein individuelles, sondern das des Individuums als Gattungs- respektive Gesellschaftswesen, dessen Tätigkeit unmittelbar gesellschaftliche Tätigkeit ist (auch wenn sie nicht notwendig unmittelbar gemeinschaftliche Tätigkeit sein muss143). Auch die selbstzweckhafte Kraftentwicklung in Kapital III ist nicht individualistisch zu verstehen. Die Zwecke, die durch selbstzweckhafte Tätigkeiten im Reich der Freiheit realisiert werden, sind spezifisch menschliche Zwecke. Marx nimmt stillschweigend den ›philosophischen‹ Begriff eines allgemeinen Selbst, oder des Selbst als des substantiell Allgemeinen des Individuums in Anspruch. Im Reich der Freiheit bezieht sich »das ›Selbst‹ der selbstzweckhaften Tätigkeiten […] so auf die jeweiligen Tätigkeiten, daß sie in allen ihren Aspekten nicht durch etwas anderes, sondern durch den Träger der Fähigkeiten, d.h. den Menschen, bestimmt sind und in diesem Sinne ihm ›eigen‹ sind.« Im Unterschied zum Reich der Notwendigkeit ist der Mensch hier »nur auf sich bezogen, unter Ausschluß der Beziehung auf Anderes, so daß wir hier vom selbstzweckhaften Gebrauch der Fähigkeiten eine vollständige Befriedigung erwarten können, weil nur das dem Menschen an sich Eigene angeeignet wird«. (Lohmann 1991: 111; 113) Ob sich Marx der Schwierigkeiten voll bewusst ist, die sich dem stellen, der unter den Bedingungen der Moderne die Rede vom objektiv sinnvollen Leben rechtfertigen will, ist zu bezweifeln. Wo er das Thema berührt, zeigt sich eher eine Irritation als ein begriffliches Verständnis. »Wir finden bei den Alten nie eine Untersuchung, welche Form des Grundeigenthums etc die productivste, den größten Reichthum schafft?«, heißt es in den Grundrissen. In der Antike erscheine der Reichtum »nicht als Zweck der Production«, untersucht werde immer, »welche Weise des Eigenthums die besten Staatsbürger schafft«. Die »alte Anschauung«, die den Menschen, »in welcher bornirten nationalen, religiösen, politischen Bestimmung auch immer als Zweck der Production« auffasse, erscheine im Vergleich zur modernen Welt, in der »die Production als Zweck des Menschen und der Reichthum als Zweck der Production« gelte, »sehr erhaben«. (Gr 391 f./395) Diese Überlegungen ähneln denen zur Kunst. Nach Marx liegt die Schwierigkeit »nicht darin zu verstehn, daß Produktionsverhältnisse sind nach Marx nur die notwendige, nicht die hinreichende Bedingung für ein ›Erblühn‹ des wahren Reichs der Freiheit. 143 Vgl. ÖPM 267/538.

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griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten.« (EKPÖ 45/45) Die Rede von der »Norm« ist hier ebenso irritierend wie im Zitat zuvor der Ausdruck »erhaben«. Beides ist durch die materialistische Theorie nicht gedeckt. Den normativen Gedanken der Selbstverwirklichung als Verallgemeinerung kann nur eine Theorie entwickeln, die mit dem Begriff des Selbst als des substantiell Allgemeinen des Individuums vereinbar ist. Das marxsche Denken ist damit unvereinbar.144 Wenn in der Theorie an die Stelle der vermeintlichen philosophischen Fiktionen Gattungswesen (Feuerbach) und Geist (Hegel) die ›wirklichen‹ Individuen treten sollen, die in historisch bestimmten Produktionsverhältnissen und auf einem bestimmten Niveau der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit ihren Stoffwechsel mit der Natur bewerkstelligen, dann kann mit der »Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums« nur gemeint sein, dass das empirische Subjekt sich das existierende Wissen in einem hohen Maße aneignet, so dass in seinem »Kopf das accumulirte Wissen der Gesellschaft existirt« (Gr 589/607). Dass das Individuum ›seine eigene allgemeine Produktivkraft aneignet‹, bedeutet nur mehr, dass es umfassend am erreichten Stand der gesellschaftlichen Produktivkraft partizipiert, und dass es die Natur ›durch sein Dasein als Gesellschaftskörper‹ be144 Das hat es möglicherweise mit jeder Philosophie gemein, die weder Hegels Auskunft akzeptiert, der Mensch sei »diese Nacht, das leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält« (Js III 172), noch diejenige Kants, der Mensch habe (nur) in praktischer Hinsicht Zugang zu seinem »eigentlichen Selbst« (GMS B 118). Nach Heidegger (1929: 209) hat keine Zeit »so viel […] vom Menschen gewußt wie die heutige. […] Aber auch keine Zeit wußte weniger, was der Mensch sei, als die heutige.« Nach Adorno (1959: 115) betreibt der »Halbgebildete […] Selbsterhaltung ohne Selbst.« ›Selbst‹ und ›Bildung‹ im emphatischen Sinn sind Ideen, deren utopischer Gehalt nicht nur gegen die bestehenden Verhältnisse, sondern auch gegen die Theorien, in denen sie bislang allein ihren Ort hatten, verteidigt werden muss. Elster (1986: 110) möchte die marxsche Utopie der vollen und freien Selbstverwirklichung eines jeden ersetzen durch die freie und partielle Selbstverwirklichung einiger, als ein Ergebnis der versuchten Selbstverwirklichung aller. Den Begriff des Selbst diskutiert er nicht, verweist stattdessen auf Ergebnisse der Industriepsychologie (112). Nach Kocyba (2000: 133) ist im Kapitalismus der »Ruf nach Selbstverwirklichung in der Arbeit« längst angekommen – in Gestalt neuer Managementstrategien. Die Missachtung der Subjektivität der Arbeitenden im Produktionsprozess, die durch den Taylorismus noch einmal forciert worden war, erwies sich am Ende als nicht effizient genug. Der Taylorismus »wurde mit seinen eigenen Waffen geschlagen: Nicht-tayloristische Unternehmenskonzepte erwiesen sich als effizienter«. Dazu auch: Boltanski/Chiapello (1999: 502 ff.).

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herrscht, hat nur mehr den nüchternen pragmatischen Sinn, dass es über das Wissen der Gesellschaft instrumentell verfügen kann. Dieses wirkliche Individuum hat kein allgemeines Selbst. Mithin wird seine Tätigkeit jenseits der materiellen Produktion nicht als ›menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt‹, charakterisiert werden können. Inwiefern das ›wahre Reich der Freiheit‹ sich von einem ›kommunistischen Reich der Freizeit‹ unterscheidet, ist so nicht zu sagen. Mit dem Anführen der ›menschlichen Natur‹ und der ›selbstzweckhaften Kraftentwicklung‹ kommt Marx in Kapital III in paradoxerweise auf seine Frühschriften zurück. Er zitiert aus ihnen zwei Begriffe und verwirft zugleich den theoretischen Kontext, in dem sie einmal ihren Ort hatten. Mit der ›menschlichen Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt‹, rekurriert Marx auf einen Begriff der menschlichen Natur, der nicht mehr gilt. Dieser Begriff verbleibt wie der Naturbegriff der Manuskripte überhaupt im Horizont Hegels, Feuerbachs und der romantischen Naturphilosophie und ist daher unvereinbar mit der positiven materialistischen Wissenschaft. Ist der normative und spekulative Begriff der menschlichen Natur aber nicht haltbar, dann lässt sich Marx-immanent nicht mehr sagen, was unter selbstzweckhafter Tätigkeit zu verstehen ist.145 Die theoretische Verlegenheit, in die Marx hier gerät, verweist darauf, dass sich der Autor der Kapitalkritik über einen ihrer grundlegenden Begriffe niemals hinreichend Klarheit verschafft hat: den Begriff der Natur.146 Zu Beginn dieser Arbeit wurde betont, dass Marx Hegels Naturbegriff nicht teile und daher auch nicht dessen Begriff der Arbeit. Fragt man nun, was über diese negative Charakterisierung hinaus den marxschen Begriff der Natur ausmache, ergibt sich ein ähnlich schillerndes Bild wie im Falle des marxschen Materialismus-Verständnisses. Diese Ähnlichkeit ist nicht zufällig, denn beide: Marx’ Natur- und seine Materialismus-Auffassung, stehen in engem Zusammenhang. Drei verschie145 Nicht Marx’ »Annahme, gesellschaftliche Produktion in einer zukünftigen Gesellschaft könne befriedigend und angenehm strukturiert werden« (Postone 1993: 67 Anm. 16), ist problematisch, sondern seine Rede von Selbstverwirklichung und selbstzweckhafter Tätigkeit. Auf welcher begrifflichen Grundlage erfolgt sie? Anders (1980: 363 f.) zufolge ist die Formel von der ›Humanisierung der Arbeit‹ »eine contradictio in adjecto«; es könne sie so wenig geben wie eine Humanisierung des Krieges. Unabhängig von den Eigentumsverhältnissen eigne der Arbeit heute eine »negativ-intentionale Struktur«, die sie »sinnlos« mache. 146 Klarheit verschafft auch nicht A. Schmidt (1962: 122). Marx nehme zwischen Kant und Hegel »einen nur schwer zu fixierenden vermittelnden Ort ein«. Dass Schmidt diesen ›Ort‹ nicht genauer bestimmen kann, liegt u.a. daran, dass er die Unterschiede zwischen Frühschriften und Kapital nicht scharf genug herausarbeitet, was wiederum daran liegt, dass er zwischen Marx’ Denken und der Kapitaltheorie nicht deutlich unterscheidet.

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ÜBER EINIGE SELBSTMISSVERSTÄNDNISSE

dene Auffassungen von Natur lassen sich unterscheiden. Zunächst der bereits thematisierte normative und spekulative Naturbegriff der Manu­ skripte, dann ein szientistischer, gegen philosophische Überlegungen gerichteter, und schließlich finden sich aristotelisch inspirierte Überlegungen zur Ansichbestimmtheit der Natur. Der szientistische Naturbegriff ist ein integrales Element des Konzepts der materialistischen Wissenschaft, der zufolge sich »jedes tiefsinnige philosophische Problem ganz einfach in ein empirisches Faktum« auflösen lässt, wenn die Dinge nicht mehr – wie noch bei Feuerbach – »durch die ›Brille‹ des Philosophen« betrachtet werden. Wird stattdessen untersucht, wie die Individuen wirklich sind und wirken, löst sich beispielsweise die in der Philosophie »vielberühmte ›Einheit des Menschen mit der Natur‹« in das empirische Faktum der »Industrie« auf. In der Industrie, dem sich historisch verändernden Stoffwechsel der Menschen mit der äußeren Natur, hat diese Einheit »von jeher bestanden«. (DI 20 f./43) Die Industrie ist die »Grundlage der ganzen sinnlichen Welt, wie sie jetzt existiert«, wobei allerdings die ontologische »Priorität der äußeren Natur bestehen« (DI 22/44) bleibt. Die Bestimmungen der Arbeit im Allgemeinen aus dem Kapital widersprechen diesem szientistischen Naturbegriff nicht. ›Natur‹ bezeichnet hier den aller menschlichen Arbeit vorausgesetzten ›Gegenstand überhaupt‹ dieser Arbeit, den der Mensch in dem Maße erkennt, wie er ihn durch Arbeit für gesellschaftliche Zwecke aneignet. Die Realisierung des Arbeitsvermögens bedarf eines Materials, und auch wenn dieses im konkreten Fall schon durch die Arbeit anderer vermittelt, genauer: geformt ist, geht dieses Material doch nicht vollständig in seiner Formung durch gesellschaftliche Arbeit auf. »Der Mensch kann in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d.h. nur die Formen der Stoffe ändern. Noch mehr. In dieser Arbeit der Formung wird er beständig unterstützt von Naturkräften. Arbeit ist also nicht die einzige Quelle der von ihr producierten Gebrauchswerthe.« (K I² 76 f./57 f.) »Der manufacturer, der mit der Dampfmaschine arbeitet, wendet auch Naturkräfte an« und profitiert von der »Fähigkeit des Wassers, seinen Aggregatzustand zu ändern, in Dampf überzugehn«. (K III 756/656) Überlegungen dazu, wie die Natur unabhängig von ihrer Aneignung durch gesellschaftliche Arbeit, sei es solche in der materiellen Produktion, sei es die allgemeine, wissenschaftliche Arbeit, bestimmt sei, sind mit dem verkürzten, szientistischen Naturbegriff unvereinbar. Gleichwohl finden sie sich bei Marx. Anders als Engels, der auch 40 Jahre nach der polemischen Philosophie- und Feuerbachschelte der Deutschen Ideologie noch einmal deren szientistischen Ton trifft, wenn er meint, »die Praxis, nämlich das Experiment und die Industrie« seien die »schlagendste Widerlegung« des kantischen Dings an sich »wie aller andern philosophischen Schrullen« (LF 134/276), sind Marx auch zur Zeit der Ausarbeitung seiner 245

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Kapitalkritik philosophische Überlegungen keineswegs fremd. So unterscheidet er etwa in einer Passage der Grundrisse aristotelisch zwischen morphḗ und eidos, zwischen der den Dingen »äusserliche[n] Form«, die stofflich existiert, und ihrer nicht-stofflichen, »immanente[n] Form«, und fasst diese als das »lebendige[], immanente[] Gesetz der Reproduction« natürlicher »Substanzen« (Gr 271 f./277 f.). Diese Überlegungen gelten einer Ansichbestimmtheit der Natur, die sich der Erkenntnis der positiven Wissenschaften entzieht, die aber auch nicht in einer positiven Metaphysik zu fassen ist. Auch wenn sie nur der Selbstverständigung dienen und experimentierenden Charakter haben, sind sie ein Indiz dafür, dass der Autor der Kapitalkritik mit seinen Überlegungen zur Natur auch lange nach der mit polemischer Verve geführten Philosophiekritik noch an kein Ende gelangt ist.147 Überhaupt bestätigen die in diesem Kapitel angestellten Überlegungen die Sentenz des Me-ti: »Me-ti sagte: Meister Ka-meh trat den Philosophen zu verschiedenen Zeiten seines Lebens verschieden gegenüber.« (Brecht 1934 ff.: 555)

2. Zur Kapitaltheorie148 2.1. Normative Implikationen der Kapitaltheorie Es gibt im Kapital Passagen, die nur als Bestätigung der materialistischen Geschichtsauffassung und ihres Basis-Überbau-Schemas verstanden werden können.149 Wie oben gezeigt, erklärt Marx diese Auffassung ganz in der Manier der Deutschen Ideologie zur einzig wissenschaftlichen. Die Technologie enthülle mit dem aktiven Verhalten des Menschen zur Natur, dem unmittelbaren Produktionsprozess seines Lebens, auch den seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der »ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen« (K I² 364 Anm. 89/393 Anm. 89). Diese Vorstellungen aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen zu entwickeln, sei die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode. Marx’ Vorgehensweise im Kapital entspricht aber nicht dem propagierten Verfahren. Seine verbale Bestätigung der so genannten materialistischen Methode ist durch die Darstellung des Kapitals nicht 147 Haag (1983) zufolge betritt Marx mit solchen Überlegungen »unbewußt« wieder »Kants kritischen Weg« (103). »Die Erkenntnis der Nichtigkeit dessen, was bei Hegel das Absolute heißt«, führe ihn »in die Nähe einer negativen Metaphysik.« (108). 148 Das Kapitel beansprucht keine vollständige Darstellung der Kapitaltheorie, sondern beschränkt sich auf die für das Thema dieser Arbeit unerlässlichen Bestimmungen. Es stützt sich in Teilen auf Kuhne (1995). 149 Motive dieses Abschnitts finden sich bereits in Kuhne (2015); (2017a).

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gedeckt. Die Kapitalkritik entwickelt nicht aus den so genannten wirklichen Lebensverhältnissen der Menschen ihre ideologischen Vorstellungen, vielmehr ist ihr zu entnehmen, warum dies nicht möglich ist. Zwei Gründe sprechen dagegen. Zum einen suggeriert der Ausdruck ›wirkliche Lebensverhältnisse‹, es handele sich um einen Gegenstand, der einer rein empirischen Analyse zugänglich ist, so wie der Ausdruck ›die Wohnverhältnisse in der Bundesrepublik zu Beginn des 21. Jahrhunderts‹, der einen Gegenstand bezeichnet, der durch empirische Untersuchungen hinlänglich erforscht werden kann. Die Kapitalkritik zeigt aber gerade, dass dies nicht der Fall ist. Der materielle Reproduktionsprozess der bürgerlichen Gesellschaft ist eine historisch gewordene Totalität von Einzelproduktionen, die durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung technisch voneinander abhängig sind. Zwar ist eine einzelne Produktion noch der unmittelbaren Erfahrung zugänglich, die Totalität der zur gesellschaftlichen Produktion integrierten Einzelproduktionen lässt sich aber nur noch in Analogie zu einer solchen Einzelproduktion konstruieren: durch die Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit einer Produktion, die technisch von den Resultaten anderer Produktionen abhängig ist, für die jeweils dasselbe gilt. Zum anderen aber ist in der kapitalistischen Produktionsweise die gegenständliche Tätigkeit nicht nur Voraussetzung der Kapitalverwertung, sondern durch den ungegenständlichen Prozess der Kapitalverwertung selbst ›gesetzte‹ Voraussetzung. Die Kapitalverwertung vollzieht sich zwar nur durch gegenständliche Tätigkeiten, deren bestimmte Form ist für sie aber gleichgültig. Soweit »das Capital fixe [das in Produktionstechnik ausgelegte Kapital] in seinem Dasein als bestimmter Gebrauchswerth festgebannt, entspricht es nicht dem Begriff des Capitals, das als Werth gleichgültig gegen jede bestimmte Form des Gebrauchswerths und jede derselben als gleichgültige Incarnation annehmen oder abstreifen kann«. (Gr 573/594) Weil die gegenständliche Tätigkeit in den Einzelproduktionen in dem ungegenständlichen Prozess des Kapitals gründet, kann der gesellschaftliche Reproduktionsprozess noch nicht einmal in Analogie zu einem rein gegenständlichen Prozess dargestellt werden.150 Der theoretische Zugang zu dieser Totalität ist deshalb notwendig intellektuell vermittelt durch die immanente Kritik tradierter Theorie. »Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt«, so Marx am 22. Februar 1858 brieflich an Lassalle, »ist Kritik der ökonomischen Kategorien, oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung des Systems Kritik desselben.« (MEW 29: 550)151 Mithin ist die Alternative, die 150 Dazu Bulthaup (1977: 293 ff.). 151 Marx spricht hier von der Darstellungs-, nicht von der Forschungsweise (vgl. K I² 709/27). Die Forschungsweise, soweit sie ebenfalls in einer Kritik

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Marx entwirft: Entweder in feuerbachscher Manier die ideologischen Vorstellungen (›religiösen Nebelbildungen‹) auf die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse (›ihren irdischen Kern‹) zurückzuführen, oder aus den spezifisch historischen Lebensverhältnissen die ideologischen Vorstellungen (›ihre verhimmelten Formen‹) zu entwickeln, nicht vollständig, und das von ihm als einzig wissenschaftlich apostrophierte Vorgehen gar nicht möglich. Wären die Vorstellungen oder ideellen Formen, worin sich die Menschen materieller gesellschaftlicher Konflikte bewusst werden und sie ausfechten, nur die ideologische Begleiterscheinung dieser Konflikte, so könnte Marx die eigene Theorie, die qua Theorie ideelle Form ist, nur dann vom Ideologieverdikt ausnehmen und den Selbstwiderspruch vermeiden, wenn er zeigte, dass und wie es möglich ist, den materiellen Konflikt ohne Rekurs auf die ideellen Formen »naturwissenschaftlich treu« (ZKPÖ 101/9) zu konstatieren. Dies ist aber unmöglich. Der theoretische Zugriff auf den kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozess ist unter Abstraktion von dem ökonomischen Wissen der Gesellschaft und ohne die Kritik tragender ökonomischer Begriffe nicht denkbar. Der Prozess des Kapitals ist auch nicht der bloße Anwendungsfall einer unabhängig von der Kapitalkritik entwickelten materialistischen Geschichtsauffassung und ihres Theorems der Dialektik der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse. Denn diese Dialektik liegt, wie gesehen, nicht der Geschichte überhaupt, sondern der kapitalistischen Produktionsweise zugrunde. Ist aber die immanente Kritik der Wissenschaft der Politischen Ökonomie eine notwendige Bedingung der Ergründung der Wahrheit, weil sie allererst den Zugang zum Gegenstand eröffnet, dann kann es sich bei den Begriffen, Urteilen und Schlüssen dieser Wissenschaft nicht um ideologische ›Nebelbildungen‹ handeln, die einer realen Basis entspringen und aus ihr zu erklären sind. Der Inhalt dieser Wissenschaft kann dann nicht einfach ideologischer Reflex der materiellen Basis sein. Vielmehr ist der Politischen Ökonomie der rationale Anspruch auf Wahrheit ihrer Resultate zu unterstellen. Erst diese Unterstellung macht sie zu einem Gegenstand, der immanent zu kritisieren ist. Marx hat offenbar nicht erkannt, dass sein Vorgehen im Kapital dem von der materialistischen Geschichtsauffassung propagierten ›einzig‹ wissenschaftlichen Vorgehen widerspricht, oder wenn er es erkannt haben sollte, so hat er nicht durchgehend die notwendigen Konsequenzen daraus gezogen. Wenn Marx die Politische Ökonomie immanent kritisiert, erkennt er damit faktisch den Anspruch dieser Wissenschaft auf die Geltung ihrer Resultate an und bricht der Sache nach mit der materialistischen Geschichtsauffassung und deren Basis-Überbau-Schema. Gemäß der Geschichtsauffassung der Politischen Ökonomie besteht, zeigt sich in den Vorarbeiten zum Kapi­ tal, insbesondere in den Theorien über den Mehrwert.

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entscheidet über die Wahrheit und Unwahrheit von Theorie die Geschichte in ihrer theoretischen und praktischen Dimension. Ihre theoretische Dimension ist die positive materialistische Wissenschaft, welche die ›wirkliche Bewegung‹ ›naturwissenschaftlich treu‹ beschreibt, ihre praktische der revolutionäre Klassenkampf des Proletariats. »Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, Prinzipien«, vielmehr sind sie »nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.« (MKP 475) »Die englischen Arbeiter sind die erstgeborenen Söhne der modernen Industrie. Sie werden also nicht die letzten sein, der durch diese Industrie erzeugten sozialen Revolution zu helfen, einer Revolution, die die Emanzipation ihrer eignen Klasse in der ganzen Welt bedeutet, die so universal ist wie die Herrschaft des Kapitals und die Lohnsklaverei. […] Die Geschichte ist der Richter – ihr Urteilsvollstrecker der Proletarier.« (PP 4). Während die materialistische Geschichtsauffassung kurzerhand die ›wirkliche Geschichte‹ zur Legitimationsinstanz erklärt, liegt dem Kapi­ tal der Sache nach ein damit inkompatibler, normativer Begriff von Wissenschaft zugrunde. Dieser Begriff schließt eine spezifische Selbständigkeit des Geistigen gegenüber dem so genannten wirklichen Lebensprozess eins, während die Geschichtsauffassung jede Selbständigkeit des Geistigen ausschließt. Die Selbständigkeit des Geistigen, die die Kapitaltheorie der Sache nach in Anspruch nimmt, ist durch die Anerkennung der Autonomie des Denkens und des Geltungsanspruch der Wissenschaft charakterisiert. Die normative Geltung geistiger Gebilde ist demnach von ihrer faktischen Geltung oder Anerkennung und von ihrer Genese und Funktionalität zu unterscheiden, Geltung ist nicht in Genese und Funktionalität aufzulösen. Die so charakterisierte Selbständigkeit des Geistigen ist nicht die von Hegel prätendierte der ›Idee‹. Mit ihr wird die Vernunft nicht zum Absoluten erklärt, die vernünftige Erkenntnis nicht zum Medium der Selbsterkenntnis des Absoluten, und keine ›absolute Methode‹ unterstellt, die in der Selbstbewegung des Begriffs besteht.152 Mit ihr wird vielmehr an der Einsicht festgehalten, dass wir, mit Fichte zu sprechen, »aus dem Umkreise unserer Vernunft nicht herausgehen« (Fichte 1796: 40) können – einer Vernunft, die als Organ aller Erkenntnis und Begründung nicht aus anderem hergeleitet werden kann und insofern als unbedingt gelten muss. Konstitutiv für den Zugang zum Gegenstand der Kapitaltheorie ist, wie gesehen, die Kritik der Politischen Ökonomie. Die Begriffe dieser (bürgerlichen153) Wissenschaft begreift Marx als »Kategorien«, das heißt als 152 Vgl. WdL I 49; WdL II 548 ff. 153 Auch dort, wo die klassische politische Ökonomie »annähernd auf den wahren Sachverhalt« stößt, vermag sie ihn nicht »bewußt zu formuliren.

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»gesellschaftlich gültige, also objective Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der [kapitalistischen] Waarenproduktion« (K I² 106 f./90). Wert, Geld, Lohn, Profit, Zins usf. sind objektive Gedankenformen, weil und insofern sie ›gesellschaftlich gültig‹ sind. Gesellschaftliche Gültigkeit haben sie als ökonomische Formbestimmtheiten der ›Warenwelt‹, die den Subjekten als gegebene und unbegriffene Voraussetzungen ihres Handelns erscheinen. »Jeder kann Geld als Geld brauchen, ohne zu wissen, was Geld ist.« (ÖM IV 1346) Die Termini ›ökonomische Kategorie‹ und ›objektive Gedankenform‹ entstammen nicht der Politischen Ökonomie eines Adam Smith oder David Ricardo, die in der Tradition des englisch-schottischen Empirismus stehen, sondern verweisen auf die hegelsche Philosophie.154 Kategorien sind nach Hegel sowohl Denk- wie auch Seinsbestimmungen.155 Ihre systematische Entwicklung in der Wissenschaft der Logik handelt einerseits von etwas Allbekanntem, denn »was ist bekannter als eben die Denkbestimmungen, von denen wir allenthalben Gebrauch machen, die uns in jedem Satze, den wir sprechen, zum Munde herausgehen«. Andererseits ist aber, »was bekannt ist, darum nicht erkannt«. (WdL I 22)156 Jeder kann ›Sein‹, ›Wesen‹, ›Grund‹, ›Ursache‹ usf. im Munde führen, ohne zu wissen, was die logischen Gegenstände sind, die durch diese Ausdrücke bezeichnet werden. Der Terminus ›objektive Gedankenform‹ verweist auf Hegels Philosophie des objektiven Geistes. Der objektive Geist ist nach Hegel ein den Individuen vorausgesetztes überindividuelles Ganzes, das gleichwohl durch sie auch hervorgebracht wird und sich in geschichtlichen ›Welten‹ realisiert. Näher sind es die Sphären von Recht, Moralität und Sittlichkeit, in denen sich der Geist vermittels menschlicher Tätigkeit objektiviert. Seine Objektivierung ist ontologisch begründet, denn der Geist überhaupt ist die eine Weise, in der die absolute Idee ihr Dasein darstellt, die Natur die andere.157 Indem Marx von ›ökonomischen Kategorien‹ und ›objektiven Gedankenformen‹ spricht, begreift er die tragenden Begriffe der Politischen Ökonomie also anders als die Politischen Ökonomen selbst – wenn sie denn überhaupt einen Begriff von ihren Begriffen hatten. Eben dies Sie kann das nicht, so lange sie in ihrer bürgerlichen Haut steckt.« (K I² 504/564). 154 Habermas (1976: 147) spricht schon in Bezug auf die sechste Feuerbachthese (›ensemble menschlicher Verhältnisse‹) davon, dass Marx »eine am Hegelschen Begriff des objektiven Geistes geschulte Kampfansage gegen den methodischen Individualismus der bürgerlichen Sozialwissenschaften« formuliere. 155 Vgl. PhG 181 ff. 156 Vgl. PhG 35. 157 Vgl. WdL II 549.

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bezweifelt Marx. Sein Gebrauch dieser Ausdrücke besagt ein Zweifaches: Zum einen, dass es sich bei den ökonomischen Bestimmungen um solche der Totalität des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses handelt, und dass die Politische Ökonomie, die sie wissenschaftlich traktiert, insofern als das theoretische Selbstbewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft anzusehen ist, als die Instanz, in der die Gesellschaft ein theoretisches Wissen von sich selbst als einer sich durch Produktion, Distribution und Konsumtion von Waren reproduzierenden Einheit besitzt. Zweitens soll der Gebrauch dieser Ausdrücke andeuten, dass es sich bei den ökonomischen Begriffen – mit Hegel zu sprechen – zwar um etwas »Bekanntes«, darum aber noch nicht »Erkanntes« handelt. Das gilt natürlich für das Alltagsbewusstsein, es gilt aber auch für die Wissenschaft der Politischen Ökonomie. Im Unterschied zu den Bürgern, die jeden Tag Geld gebrauchen, ohne darüber nachzudenken, »was Geld ist«, machen die Politischen Ökonomen Geld zum Gegenstand ihrer Untersuchung, greifen es dabei aber als »fertige Form« (K I² 106/90) auf und erliegen damit dem durch die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst hervorgebrachten Schein. Mit anderen Worten: Das Wissen der Politischen Ökonomie ist nicht die lautere Wahrheit, sondern Ideologie (vgl. III, 3.1.). Es ist ein Wissen, das die Erscheinungsformen wesentlicher Verhältnisse, also ein in Wahrheit Vermitteltes, als etwas Unmittelbares begreift. Als objektive Gedankenformen der kapitalistischen Produktionsweise sind die tragenden ökonomische Begriffe oder Kategorien Totalitätsbestimmungen. Die Kapitaltheorie, die diese Bestimmungen entfaltet, ist mithin keine empirische Wissenschaft. Das erhellt bereits aus der Einführung des Wertbegriffs. Denn Marx ist offenbar nicht auf dem Wege empirischer Untersuchungen zum Wert als dem »gemeinsamen Dritten« (K I² 71 ff./51 ff.) der sachlich verschiedenen Arbeitsprodukte, die auf dem Markt getauscht werden, gelangt. Die empirische Untersuchung aller Austauschverhältnisse ist nicht möglich – es sind unüberschaubar viele. Und selbst wenn sie möglich wäre, würde durch sie doch nicht die nicht-empirische Eigenschaft des Wertes der Waren entdeckt. Marx ist auch nicht Marxist genug, um wie Lenin einfach den Bescheid zu erteilen, milliardenfache Tauschakte bewiesen von sich aus den Wert.158 Und schließlich ist Marx als Ökonom nicht in der Situation des Naturwissenschaftlers, der eine Hypothese durch »Experimente« (K I² 66/12) überprüfen kann. Marx erschließt den Wert als notwendige Bedingung objektiv bestimmten Äquivalententauschs. Dieser Schluss ist spekulativ, denn 158 »Das Gemeinsame, das in allen Waren enthalten ist, ist menschliche Arbeit schlechthin. […] Milliarden Tauschakte beweisen das.« Lenin (1915: 48) »Tout ce que je sais, c’est que je ne suis pas Marxiste« soll Marx laut Engels gesagt haben: Brief vom 5. August 1890 an Conrad Schmidt (MEW 37: 436).

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er geht auf die empirisch nicht zu bewältigende Totalität der Tauschverhältnisse von Arbeitsprodukten. Sein Resultat hat unmittelbar nur regulative Geltung.159 In Anlehnung an Kant kann von einem Schluss der reflektierenden Urteilskraft gesprochen werden, durch den die allgemeine Regel zu einem gegebenen Besonderen nur problematisch, nur versuchsweise angenommen wird.160 Der Begriff der Wertsubstanz Arbeit überhaupt ist kein empirischer Begriff, dem in der Erfahrung etwas korrespondiert, sondern eine Idee. Er bezeichnet das Wertsein der Arbeitsprodukte als notwendige Bedingung ihres äquivalenten Austauschs. Als Idee befasst Arbeit überhaupt nicht die extensionale Totalität der in Relation stehenden Arbeitsprodukte unter sich, sondern als Begriff von deren intensionaler Totalität, als Inbegriff, in sich. Zu Beginn des ersten Bandes des Kapitals ist vorausgesetzt, dass der Kapitalist seine Waren in der Zirkulationssphäre, das heißt auf dem Markt, zu ihrem Wert verkauft und diejenigen Waren zu ihrem Wert kauft, die er zur kontinuierlichen Fortführung der Produktion benötigt. Mit Ausnahme der Arbeitskraft ist dabei von der sachlichen Gestalt der zirkulierenden Waren abstrahiert. Indem die Zirkulationssphäre als Totalität der Ware-Geld-Beziehungen dargestellt wird, ist davon abgesehen, dass die Zirkulation nicht in sich subsistiert, sondern abhängig ist von den außer ihr liegenden Produktionsprozessen der Einzelkapitale. Indem die Produktion und Reproduktion des Kapitals weitgehend am Modell des Einzelkapitals dargestellt wird, ist davon abstrahiert, wie die vielen Einzelkapitale ökonomisch und technisch aufeinander bezogen sind. Und indem schließlich unterstellt wird, dass die Waren zu ihrem Wert ausgetauscht werden und der Kapitalist den Mehrwert einstreicht, 159 Die Charakterisierung der Kapitalkritik als »eine höchst problematische ›Arbeitsteilung‹ zwischen empirisch-wissenschaftlicher Kapitalanalyse und Residuen einer spekulativen Geschichtslogik« (Wellmer 1986: 233) geht an der Sache vorbei. Weder enthält das Kapital eine Geschichtsphilosophie noch ist seine Werttheorie das Resultat einer »empirisch-wissenschaftlichen« Analyse. Wellmer folgt hier unkritisch Habermas (1968), von dem er auch die These übernimmt, Marx verschleiere die Differenz zwischen »›strikter Erfahrungswissenschaft‹ und ›Kritik‹« (Wellmer 1969: 70). Nach Schmidt am Busch (2011: 74 ff.) wird Marx’ Werttheorie von »grundbegrifflichen Problemen belastet, die eine empirische Überprüfung ihres ›Wahrheitsgehalts‹ behindern, wenn nicht unmöglich machen«. Schon die Rede von der abstrakten Arbeit als wertbildender Substanz sei problematisch, da der einzelne Arbeiter gar nicht wisse, »daß er durch seine Tätigkeit ›abstract menschliche Arbeit‹ vergegenständlicht« (2002: 115). Iorio (2003: 1) meint, Marx’ ökonomische Theorie sei »wohl im wissenschaftlichen Sinn des Wortes als widerlegt zu erachten« und daher zu vernachlässigen. Das ›wohl‹ lässt offen, ob sie tatsächlich widerlegt ist. 160 Vgl. Kuhne (2007: 123 f.).

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ist von der Wert-Preis-Differenz und dem Verhältnis des Mehrwerts zu den verschiedenen Revenueformen Arbeitslohn, Profit, Rente abgesehen. Die Abstraktionen, die für die Darstellung des Kapitals im ersten Band konstitutiv sind, werden im zweiten und dritten Band schrittweise aufgelöst. Der zweite Band zeigt, dass der Reproduktionsprozess des gesellschaftlichen Kapitals sowohl den Produktions- als auch den Zirkulationsprozess umfasst und erklärt, wie er als Einheit von materieller Reproduktion und Kapitalverwertung möglich ist. Der dritte Band vermittelt die Wert- und Mehrwerttheorie zu den Preisen und den an der ›Oberfläche‹ des Gesamtprozesses, der ›Konkurrenz‹ erscheinenden Revenueformen.

2.2. Der Vorrang des gesellschaftlichen Kapitals vor den Einzelkapitalen Jedes individuelle Kapital ist ökonomisch und technisch abhängig vom gesellschaftlichen. Ökonomisch, weil es den in der Produktion angeeigneten Mehrwert in der Zirkulation realisieren muss durch den Verkauf von Waren; technisch, weil es die gegenständlichen Bedingungen seiner Reproduktion nicht selbst herstellt, sondern angewiesen ist auf die Resultate der in den verschiedenen Produktionszweigen angelegten industriellen Kapitale. Das Einzelkapital hat seine Substanz am Austausch, in welchem es das eigene Warenprodukt aus seinem Kreislauf ausscheidet und Warenprodukt fremder Kapitale absorbiert. Wirklichkeit hat der Prozess der Selbstverwertung im unmittelbaren Produktionsprozess als Exploitationsprozess der Arbeitskraft. Doch ist diesem logisch vorgeordnet die Totalität des gesellschaftlichen industriellen Kapitals. Die Analyse der Formbewegung des Kapitalwerts im Reproduktionsprozess der Einzelkapitale erweist diese als abhängig von einer Totalität, die sie auch hervorbringen. Weil kein Einzelkapital ökonomisch und technisch in sich subsistiert und alle Einzelkapitale qua Austausch notwendig auf die Totalität des gesellschaftlichen Kapitals verwiesen sind, muss das gesellschaftliche Kapital ›mehr‹ sein als die allgemeine Form der Einzelkapitale. Es kann nicht nur der Quantität, sondern muss der Qualität nach von den Einzelkapitalen unterschieden sein. Es muss die notwendigen Bedingungen der Reproduktion der Einzelkapitale beinhalten, die diese aus sich nicht herstellen können. Seine Allgemeinheit kann deshalb nicht nur extensional bestimmt sein, sie muss vielmehr eine spezifische Differenz zu den Einzelkapitalien einschließen. »Dass das gesellschaftliche Kapital = Summe der individuellen Kapitale […] u. die Gesammtbewegung des gesellschaftlichen Kapitals = Summe der Bewegungen des individuellen Kapitals, schliesst in keine Weise aus, 253

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dass diese Bewegung als Bewegung des vereinzelten individuellen Kapi­ tals andre Phänomene darbietet, als dieselbe Bewegung, wenn sie unter dem Gesichtspunkt einer Theilbewegung, als Bewegung eines ­Theils der Gesammtbewegung des gesellschaftlichen Kapitals, also in ihrem Zusammenhang mit den Bewegungen seiner andern Theile betrachtet wird u. zugleich Probleme löst, deren Lösung bei der Betrachtung des Kreislaufs des einzelnen individuellen Kapitals vorausgesetzt ist, statt sich aus demselben zu ergeben.« (K II 636 f./101)

Die Bestimmungen der partikularen Bereiche der Zirkulation und der Produktion haben für sich genommen nur regulative Geltung. Konstitutiv wird die Geltung durch den Nachweis, dass sie notwendige Bedingungen des zu erklärenden gesellschaftlichen Gesamtreproduktionsprozesses sind. Der Mangel der Zirkulations- und Produktionsbestimmungen verweist auf die Totalität des gesellschaftlichen Kapitals als Einheit beider Sphären. Diese Einheit lässt sich nicht aus den individuellen Kapitalkreisläufen konstruieren. Der Versuch führte in den unendlichen Progress einander bedingender Kreisläufe. Der Progress kann nicht dogmatisch mit der Behauptung abgebrochen werden, das gesellschaftliche Kapital entspreche den Einzelkapitalen. Denn diese müssen notwendig austauschen, der Inbegriff aller austauschenden individuellen Kapitale aber nicht. Auch der Begriff der Ware Arbeitskraft als tertium comparationis beider Sphären bezieht diese nur äußerlich aufeinander. Der Kauf der Ware Arbeitskraft in der Zirkulation zu ihrem Wert setzt voraus, dass sie bereits Resultat des kapitalistischen Produktionsprozesses ist, welcher seinerseits die Warenform der Arbeitskraft unterstellt. Was für die Arbeitskraft, gilt für alle Waren. Sie sind nicht nur Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, sondern ebenso sehr dessen Voraussetzungen. Daraus ergibt sich das Problem der unendlichen Iteration. Die Zirkulation bedingt die Produktion, die die Zirkulation bedingt. Das wechselseitige Voraussetzen nötigt zum Schluss auf die Totalität des gesellschaftlichen Kapitals als Einheit von Zirkulation und Produktion und als Einheit von Produktion und Reproduktion.161 Der Schluss auf die Totalität sprengt die Immanenz der iterativen Reflexion durch die Einführung einer wesentlich neuen Bestimmung – der differentia specifica der Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals zu der der Einzelkapitale. Diese kann nicht der Formbewegung des Kapitals entspringen, denn die ist allen Einzelkapitalen gemein, sondern nur deren Inhalt. »So lange wir 161 »Die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der Reproduktion. Keine Gesellschaft kann fortwährend produciren, d.h. reproduciren, ohne fortwährend einen Theil ihrer Produkte in Produktionsmittel oder Elemente der Neuproduktion rückzuverwandeln. [...] Hat die Produktion kapitalistische Form, so die Reproduktion.« (K I² 523/591).

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die Werthproduktion u. den Produktenwerth der Kapitalien individuell betrachteten, war die Naturalform des Waarenprodukts für die Analyse ganz gleichgültig, ob sie z.B. aus Maschinen bestand oder aus Korn oder aus Spiegeln. Es war dieß immer nur Beispiel u. jeder beliebige Produktionszweig konnte gleichmässig zur Illustration dienen.« Im Hinblick auf die Reproduktion des Kapitals »genügte es zu unterstellen, daß innerhalb der Cirkulationssphäre der Theil des Waarenprodukts, welcher Kapitalwerth darstellt, sich in seine Produktionselemente u. daher in seine Gestalt als produktives Kapital rückverwandelt«, dass also »Arbeiter u. Kapitalist auf dem Markt die Waaren vorfinden, worin sie Arbeitslohn u. Mehrwerth verausgaben. Diese nur formelle Manier der Darstellung genügt nicht mehr bei Betrachtung des gesellschaftlichen Gesammtkapitals u. seines Produktenwerths.« (K II 370/393) Die Selbstverwertung der Einzelkapitale bedingt einen funktionierenden Stoffersatz zwischen ihnen, also gesellschaftliche Arbeitsteilung. In der Analyse des individuellen Kreislaufs ist das Gelingen dieses Prozesses unterstellt. Die Untersuchung der individuellen Kreisläufe zeigt, dass die Einzelproduktionen technisch zur gesellschaftlichen Produktion integriert sein müssen, aber nicht, wie die gesellschaftliche Produktion im Unterschied zu den Einzelproduktionen bestimmt ist. »Wie also die verschiednen Bestandtheile des gesellschaftlichen Gesammtkapitals, wovon die einzelnen individuellen Kapitalien nur selbstständig funktionirende Bestandtheile bilden, sich im Cirkulationsprocess wechselseitig ersetzen, mit Bezug auf das Kapital sowohl als den Mehrwerth – ergiebt sich nicht aus den einfachen Metamorphosenverschlingungen der Waarencirkulation [...], sondern erfordert andre Untersuchungsweise.« (K II 655 f./118) Nur die Analyse des gesellschaftlichen Warenprodukts eines Jahres kann die notwendigen Bedingungen der Einheit von ökonomischen Formbestimmungen und deren stofflichem Substrat aufweisen und die unterschiedlichen Charaktere der Reproduktionsprozesse von gesellschaftlichem Kapital und Einzelkapitalen bestimmen. Die Analyse des gesellschaftlichen Warenprodukts ist vermittelt durch die Auflösung eines Paradoxons der ökonomischen Tradition. Adam Smith zufolge löst sich der Preis des Warenprodukts auf in die drei Formen der Revenue. »Lohn, Gewinn und Rente sind die drei Urquellen eines jeden Einkommens wie eines jeden Tauschwertes.« (Smith 1789: 46) Smith schließt per Analogie von der (falschen) Aufteilung des Preises des gesellschaftlichen Warenprodukts in die drei Revenueformen auf die des Preises einer Ware und umgekehrt.162 Zwar gesteht er in seiner Analyse der Bestandteile des Warenpreises dem Warenprodukt des individuellen Kapitals einen Wertteil zu, geeignet, »die Abnutzung der Arbeitstiere und den Verschleiß anderer Ackerbaugeräte auszugleichen« (Smith 162 Vgl. Smith (1789: Kap. 6 pass.).

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1789: 45), leugnet diesen aber für das Warenprodukt der Gesellschaft. In marxsche Termini übersetzt: Das Warenprodukt eines individuellen Kapitals beinhaltet möglicherweise einen konstanten Wertteil, der den Wert der verbrauchten Produktionsmittel darstellt; es zerfällt also der Möglichkeit nach in c+v+m. Aber gesellschaftlich betrachtet, lösen sich die Preise aller Produktionsmittel zuletzt in v+m oder ›exoterisch‹ in Arbeitslohn, Profit und Rente auf. Aus Smiths Argumentation folgt ein unendlicher Regress. Jeder in c+v+m zerfallende Produktenwert eines Kapitals verweist auf die Produktenwerte der Produzenten seiner Produktionsmittel, welche notwendig wieder in c+v+m zerfallen und auf Produktenwerte anderer Produzenten verweisen. Der Regress könnte nur gestoppt werden durch ein Kapital, das Produktionsmittel herstellt, ohne selbst aus Produktionsmitteln, also aus konstantem Kapital zu bestehen. Ein Kapital aber, dessen Produktenwert nur aus v+m besteht, kann es nicht geben: »Danach müßte die Gesellschaft jedes Jahr de novo ohne Kapi­ tal anfangen«, so Marx 1863 an Engels (MEW 30: 362). Smiths falsche Analyse führt nicht nur kapitalistische, sondern jede Form der Reproduktion menschlicher Gemeinwesen ad absurdum. Das ›Dogma‹ von der Auflösung des konstanten Wertteils in varia­bles Kapital und Mehrwert bzw. in die drei Revenueformen resultiert aus der falschen werttheoretischen Bestimmung, wonach die Arbeit selbst Wert hat, und der daraus folgenden falschen Analyse der gesellschaftlichen Reproduktion. Solange nicht zwischen Arbeit und Arbeitskraft unterschieden ist, kann der ›Doppelcharakter der Arbeit‹ als zugleich Gebrauchswerte produzierende und wertbildende nicht bestimmt werden. Verausgabung von Arbeitskraft in der Zeit bildet nicht per se Wert. Ohne die Teilung des Arbeitstags in notwendige und Mehrarbeitszeit fehlt ihr das Maß. Smith weiß nicht, dass Arbeit neuen Wert nur schaffen kann, indem sie zugleich den in den Produktionsmitteln und Rohstoffen enthaltenen Wert »gratis« (K I² 217 f./221) überträgt. Der Unterschied von Wertprodukt (v+m) und Produktenwert (c+v+m) bleibt ihm deshalb verborgen. Dieser ist aber konstitutiv für die Bestimmung gesellschaftlicher Reproduktion unter der Form des Kapitals. Er erklärt, wie das gesellschaftliche Warenprodukt der stofflichen Gestalt nach ganz Resultat der verausgabten Jahresarbeit ist, dem Wert nach aber nur in seinen Teilen v+m. Damit löst er den Schein auf, als sei das materielle Korrelat des konstanten Kapitals, die Produktionsmittel, ohne Verausgabung von Arbeitskraft reproduziert worden.163 Marx hat die Bestimmung des Doppelcharakters der Arbeit in der Warenanalyse des ersten Bandes dogmatisch eingeführt. In Analogie zur 163 Vgl. K II 387 ff./424 ff. Derselbe Schein ist thematisch bei der »Darstellung des Produktenwerts in proportionellen Teilen des Produkts« am Modell des Einzelkapitals. Er ist dort nur leichter zu durchschauen. Vgl. K I² 229 ff./234 ff.

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Bestimmung der Ware als zugleich Wert und Gebrauchswert wird die warenproduzierende Arbeit als wertbildende abstrakte und gebrauchswertbildende konkrete Arbeit bestimmt. Ihre zwieschlächtige Natur bilde den »Springpunkt [...], um den sich das Verständniß der politischen Oekonomie dreht« (K I² 75/56). Ebenso wenig wie die Bestimmung der Ware, ist die der Arbeit im ersten Kapitel begründet. Ihre Begründung ist vermittelt durch die Konstruktion der Totalität als Einheit von materieller Reproduktion der Gesellschaft und Verwertung des Kapitals in den Reproduktionsschemata des zweiten Bandes. 2.2.1. Reproduktionsschemata Die Schemata stellen die Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals dar als »eine Bewegung innerhalb des Produktenwerths selbst, worin das Gesammtkapital resultirt« (K II 370/393). Als Bewegung innerhalb des Resultats der Bewegung der gesellschaftlichen Produktion sind sie die statische Fassung des dynamischen Prozesses der kapitalistischen Gesamtreproduktion. ›Austausch‹ meint hier nicht den Verkauf von Warenprodukt auf dem Markt zwecks Realisierung des darin inkorporierten Mehrwerts, sondern die Darstellung des gesellschaftlichen Jahresproduktenwerts in proportionellen Teilen des gesellschaftlichen Jahresprodukts. Die »funktionell oder begrifflich verschiednen Bestandtheile« (­K I² 231/236) c+v+m des Jahresproduktenwerts sind abgebildet auf zwei verschiedene Arten von Gebrauchswerten (Produktions- und Konsumtionsmittel) bzw. die entsprechenden Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion.164 Die statische Abbildung des Prozesses und die Proportionalität der verschiedenen Abteilungen verleihen den Schemata den Charakter eines Plans gesellschaftlicher Produktion. Ein solcher Plan ist der kapitalistischen Produktionsweise, in welcher »der Zusammenhang der Production als blindes Gesetz auf die Productionsagenten wirkt« (K III 331/267), fremd. Es könnte deshalb scheinen, dass in den Schemata aufgrund ihrer Abstraktheit von der spezifisch kapitalistischen Form der gesellschaftlichen Reproduktion selbst abstrahiert ist. Sie würden dann allgemeine Gleichgewichtsbedingungen gesellschaftlicher industrieller Reproduktion überhaupt formulieren.165 Die Wertbestimmtheit der Gebrauchswertarten wäre ihnen äußerlich. Marx hätte den Fehler Proudhons und der Politischen Ökonomie wiederholt und bei der Betrachtung 164 Eine dritte Abteilung, Luxusmittelproduktion, wird später eingeführt. 165 Vgl. Stalin (1952: 81 f.): »Alle diese Grundthesen der Marxschen Reproduktionstheorie sind eben Thesen, die nicht nur für die kapitalistische Formation Geltung haben und ohne deren Anwendung keine sozialistische Gesellschaft bei der Planung der Volkswirtschaft auskommen kann.«

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einer »Gesellschaft kapitalistischer Produktionsweise en bloc, als Totalität«, von ihrem »spezifisch historisch-ökonomischen Charakter« abstrahiert. »Umgekehrt. Man hat es dann mit dem Gesammtkapitalisten zu thun, das Gesammtkapital erscheint als das Aktienkapital aller individuellen Kapitalisten zusammen. Diese Aktiengesellschaft hat das mit vielen andren Aktiengesellschaften gemein, daß jeder weiß, was er he­ rein sezt, aber nicht, was er herauszieht.« (K II 397 f./431) Der Vergleich mit der Aktiengesellschaft ist hier deplaziert. Er gehört in die Darstellung der Konkurrenz.166 Die Einzelkapitale, die sich realiter als Konkurren­ ten aufeinander beziehen, sind theoretisch in den Abteilungen Produktions-, Konsumtions- und Luxusmittelproduktion zusammengefasst. Die Pointe der Schemata liegt darin, dass in ihnen die materielle Reproduktion der Gesellschaft mit der des Kapitals harmoniert, und sie dennoch keine »falsche Abstraction« 167 darstellen. Abstrakt sind sie insofern, als Austausch der Produkte zu ihren Werten unterstellt und von Wertveränderungen abgesehen ist. Marx untersucht zudem zunächst die Bedingungen einfacher Reproduktion, welche für die kapitalistische Produktionsweise notwendig ausgeschlossen ist. »Andrerseits aber: Soweit Accumulation stattfindet, bildet die einfache Reproduktion stets einen Theil derselben, kann also für sich betrachtet werden u. ist ein realer Factor der Accumulation.« (K II 728/394) Die Schemata sind Modelle, die sich nicht unmittelbar mit der empirisch wahrnehmbaren Realität decken, aber ein notwendiges Element ihrer theoretischen Erklärung bilden. Ihre Abstraktheit168 resultiert nicht aus dem bloßen Absehen von ökonomischen Phänomenen, sondern ist Produkt der spekulativen reflektierenden Urteilskraft. Für die quantitativen Verhältnisse in den Schemata gilt dasselbe wie für die in der 166 Den Vergleich mit der Aktiengesellschaft bringt Marx nicht zufällig im Zusammenhang mit der Bestimmung der Durchschnittsprofitrate und des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage (vgl. K III 234 f./168; 268 ff./205 ff.). 167 Vgl. die Kritik an Storch: Es sei »eine falsche Abstraction, eine Nation, deren Productionsweise auf dem Werth beruht [...], als einen blos für die nationalen Bedürfnisse als solche arbeitenden Gesammtkörper zu betrachten«. (K III 871/859). Die ›Harmonie‹ von materieller Reproduktion und kapitalistischer Form diente sozialdemokratischen Theoretikern in der Reproduktionsschemata-Debatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Ausweis einer kontinuierlichen Entwicklung des Kapitalismus. Vgl. Rosdolsky (1968: III 530 ff.). 168 So sieht Marx zunächst ganz ab vom Unterschied des fixen und zirkulierenden Kapitals, von den unterschiedlichen Umschlagszeiten und den unterschiedlichen Mehrwert- bzw. Profitraten der in den verschiedenen Produktionszweigen angelegten Kapitale, von der Zirkulation des Geldes. Bensch (1995: 40 ff.) wendet sich gegen die »gemeinhin« geteilte Auffassung, Produktivkraftsteigerung der Arbeit und Steigerung der organischen Zusammensetzung spielten keine Rolle.

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Warenanalyse und des unmittelbaren Produktionsprozesses: Sie illus­ trieren wesentliche oder ›qualitative‹ Bestimmungen. Insofern sie nicht unmittelbar auf empirische Phänomene zu beziehen sind, sind sie willkürlich. Nicht willkürlich sind sie, insofern die Größen-Proportionen durch die zu illustrierende wesentliche Bestimmung vorgegeben sind.169 So können Veränderungen des variablen oder konstanten Wertteils des Gesamtprodukts zwar die quantitative Bestimmtheit des Verhältnisses c:v berühren, nicht aber »das Gesetz« (K II 369/393) aufheben, wonach ein Teil der jährlichen gesellschaftlich disponiblen Arbeitskraft notwendig in die Produktion von Waren geht, die hernach als variables und – gegen Smith – als konstantes Kapital fungieren. Die in der Abstraktion liegende Vereinfachung modifiziert die Darstellung der gesellschaftlichen Reproduktion nicht wesentlich. Das Abweichen der Preise von den Werten berührt das gesellschaftliche Kapital als solches nicht. Nach wie vor werden dieselben Quanta Gebrauchswerte ausgetauscht. Was sich ändert, sind die Wertverhältnisse der Einzelkapitale. Diese sind aber nicht Gegenstand der Schemata. Die Gleichgültigkeit der Wert-Preis-Differenz fürs gesellschaftliche Kapital ist notwendig zu unterstellen. Sie ist identisch mit der Unterstellung der Geltung des Wertgesetzes selbst. »Der Austausch der Waaren zu ihrem Werth – oder was nur andre Form dafür, der Verkauf der Waaren zu ihrem Werth, ist das Rationelle, das natürliche Gesetz ihres [der gesellschaftl. Reproduktion] Gleichgewichts, wovon die Abweichungen zu erklären sind, nicht umgekehrt die adequacy.« (K III 262/197) Wertveränderungen, sofern allgemein und gleichmäßig, lassen die Relationen der Wertteile des gesellschaftlichen Gesamtprodukts unberührt und sind daher ebenfalls ohne Belang. »So weit sie dagegen partiell u. nicht gleichmässig vertheilt sind, stellen sie Störungen dar, welche [...] als solche nur verstanden werden können, so weit sie als Abweichungen von gleichbleibenden Werthverhältnissen betrachtet werden.« (K II 369/393) Auch hier ist das Wertgesetz notwendig zu unterstellen, da der Mannigfaltigkeit empirisch konstatierbarer Preisbewegungen nicht unmittelbar deren Kausalität abzulesen ist. »Die Bewegungen der Einzelkapitale und persönlichen Revenuen kreuzen, vermengen, verlieren sich in einem allgemeinen Stellenwechsel – der Cirkulation des gesellschaftlichen Reichthums – der den Blick verwirrt und der Untersuchung sehr verwickelte Aufgaben zu lösen gibt.« (K I³ 555/617) Die Reproduktionsschemata nehmen in der Konstruktion der Totalität des Reproduktionsprozesses des gesellschaftlichen Kapitals eine vermittelnde Stellung ein. Zentrale werttheoretische Bestimmungen, die im ersten Band dogmatisch und – wie die von Produktenwert und 169 Vgl. K II 739/406; K I² 229 Anm. 31/234 Anm. 31a; K I² 82 Anm. 17/64 Anm. 17.

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Wertprodukt – am Modell des Einzelkapitals eingeführt werden, erhalten durch den Rekurs auf die Totalität des gesellschaftlichen industriellen Kapitals ihre vorläufige Begründung. Sie erweisen sich als notwendige Bedingungen gesellschaftlicher Produktion unter kapitalistischer Form. Sie erklären, wie die Reproduktion des Gesamtkapitals als Einheit von materieller Reproduktion der Gesellschaft und Verwertungsprozess möglich ist. Nur unter der Voraussetzung des Doppelcharakters der Arbeit, der darin implizierten Differenz von Wert der Arbeitskraft und deren wertbildender Anwendung sowie der Unterscheidung von Produktenwert und Wertprodukt sind die funktionell verschiedenen Bestandteile des Kapitals auf ihre stofflichen Träger widerspruchsfrei zu beziehen. Die Widerlegung des smithschen Theorems von der Auflösung des konstanten Kapitalwerts in variables Kapital und Mehrwert ist systematische Voraussetzung der Akkumulationstheorie. Vorläufig ist diese Begründung, weil sie auf einen neuen Widerspruch führt, wenn die Arbeitsteilung nicht mehr nur abstrakt als Stoffersatz zwischen den Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion, sondern als solche zwischen den verschiedenen Produktionszweigen thematisch ist. Sie gerät dann in Gegensatz zu ihrer ökonomischen Form, dem Wertgesetz. 2.2.2. Durchschnittsprofitrate Marx unterscheidet zwischen der Wertzusammensetzung, der technischen und der organischen Zusammensetzung des Kapitals. »Die Zusammensetzung des Kapitals ist in zweifachem Sinn zu fassen. Nach der Seite des Werths bestimmt sie sich durch das Verhältniß, worin es sich theilt in konstantes Kapital oder Werth der Produktionsmittel und variables Kapital oder Werth der Arbeitskraft, Gesamtsumme der Arbeitslöhne. Nach der Seite des Stoffs, wie er im Produktionsproceß fungirt, theilt sich jedes Kapital in Produktionsmittel und lebendige Arbeitskraft; diese Zusammensetzung bestimmt sich durch das Verhältniß zwischen der Masse der angewandten Produktionsmittel einerseits und der zu ihrer Anwendung erforderlichen Arbeitsmenge andrerseits. Ich nenne die erstere die Werthzusammensetzung, die zweite die technische Zusammensetzung des Kapitals. Zwischen beiden besteht enge Wechselbeziehung. Um diese auszudrücken, nenne ich die Werthzusammensetzung des Kapitals, insofern sie durch seine technische Zusammensetzung bestimmt wird und deren Aenderungen wiederspiegelt170: die organische Zusammensetzung des Kapitals.« (K I³ 574 f./640171) 170 ›wiederspiegelt‹ im Marx-Text. 171 Die Passage fehlt in den ersten beiden deutschen Auflagen. Sie ist von Marx in die französische Ausgabe des Kapitals (1875) eingefügt worden. Engels hat sie für die dritte deutsche Auflage übernommen.

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Dass die in den verschiedenen Zweigen der gesellschaftlichen Produktion angelegten Kapitale sich in ökonomischer Hinsicht aus dem konstanten und variablen Kapitalwert zusammensetzen und in dieser Hinsicht nur quantitativ differieren, ist selbstverständlich, ebenso, dass sie sich hinsichtlich ihrer stofflichen Seite in aller Regel qualitativ unterscheiden. Schon die Produktionstechnik, das gegenständliche Korrelat des fixen Kapitals, ist bei verschiedenen Kapitalen in der Regel verschieden. Die Passage suggeriert allerdings, die technische Zusammensetzung sei nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ bestimmbar als ›das Verhältnis zwischen der Masse der angewandten Produktionsmittel‹ und ›der zu ihrer Anwendung erforderlichen Arbeitsmenge‹. Wäre dem so, ließe sich von einer Steigerung der technischen Zusammensetzung sprechen, nämlich von einer Zunahme der ›Masse der Produktionsmittel‹ im Vergleich zur ›erforderlichen Arbeitsmenge‹. Möglich wäre das nur, wenn die bislang verwendeten Produktionsmittel durch zusätzliche derselben Art ergänzt würden: Statt wie bislang mit zehn Spinnmaschinen gleichen Typs wird mit elf produziert. Dies ist nun offenbar nicht die Regel in einer Produktionsweise, in der die Produzenten versuchen müssen, durch neue und effizientere Technik in derselben Zeit mehr Waren herzustellen. Ist die Charakterisierung der technischen Zusammensetzung des Kapitals also problematisch,172 dann auch die der organischen Zusammensetzung. Lässt sich im strengen Sinn nicht von einer ›Steigerung der technischen Zusammensetzung‹ im Zuge des technischen Fortschritts sprechen, dann auch nicht von einer dadurch bestimmten Wertzusammensetzung, welche ›insofern‹ als organische zu bezeichnen sei. Der Begriff der organischen Zusammensetzung deutet darauf, dass die ökonomische Zusammensetzung des Kapitals durch die technische Gestalt seines Produktionsprozesses bedingt ist. Er bezeichnet aber kein Abbildverhältnis zwischen technischen und ökonomischen Bestimmungen, wie die Widerspiegelungsmetapher suggeriert. »[B]ei constanter technologischer Zusammensetzung [kann] change stattfinden im Werthverhältniß und bei veränderter technologischer Zusammensetzung das Werthverhältniß dasselbe bleiben.« (K III 218/155) Im Folgenden wird dennoch am Begriff der organischen Zusammensetzung festgehalten. Denn auch wenn Marx nicht stichhaltig begründen kann, dass die Wertzusammensetzung mit der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit steigt, handelt es sich doch um »eine durchaus plausible Annahme« (Heinrich 2006: 322). Ein ›Gesetz des tendenziellen Falls‹ der allgemeinen Durchschnittsprofitrate und eine Tendenz zur fortschreitenden Produktion einer ›industriellen 172 Bensch (1995: 72) sieht das Problem. Gleichwohl sei »die Rede vom Wachsen der technischen Zusammensetzung nicht gegenstandslos, sie ergibt sich als notwendige Grundlage der Bestimmung der beschleunigten Akkumulation«.

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Reservearmee‹ lassen sich daraus aber nicht ableiten, wie Heinrich gezeigt hat.173 Marx zufolge gilt bei gleicher Mehrwertrate (gleiche Umschlagszeiten vorausgesetzt) nur für Kapitale von gleicher organischer Zusammensetzung »der allgemeinen Tendenz nach« das Gesetz, dass »die Profite sich verhalten wie die Grössen der Capitalien und daher gleich grosse Capi­ talien in gleichen Zeiträumen gleich grosse Profite abwerfen«. Die Kapitale in den verschiedenen Industriezweigen haben demnach aufgrund ihrer verschiedenen organischen Zusammensetzung (und verschiedenen Umschlagszeiten) ungleiche Profitraten. »Das von uns Entwickelte gilt auf der Basis […], daß die Waaren zu ihren Werthen verkauft werden. Andrerseits unterliegt es keinem Zweifel, daß in der Wirklichkeit, von den unwesentlichen, zufälligen und sich ausgleichenden Unterschieden abgesehn, die Verschiedenheit der durch­ schnittlichen Profitraten für die verschiednen Industriezweige nicht exis­ tirt und nicht existiren könnte, ohne das ganze System der bürgerlichen Production aufzuheben. Es scheint also, daß die Werththeorie hier unversöhnlich mit der wirklichen Bewegung ist (unvereinbar mit den wirklichen Productionsphänomenen) und daher überhaupt darauf verzichtet werden muß, die letztren zu begreifen.« (K III 229 f./162)

Unter der Bedingung, dass Profit nur eine andere Bezeichnung des Mehrwerts darstellt und eine allgemeine Mehrwertrate existiert, hat das Kapital mit der niedrigsten organischen Zusammensetzung die höchste Profitrate. Kapitalistische Produktionsweise und technischer Fortschritt wären miteinander unvereinbar. Die Existenz einer allgemeinen Rate des Mehrwerts ist im Begriff des relativen Mehrwerts begründet. Das entscheidende Mittel der Steigerung des relativen Mehrwerts, die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit durch effiziente Produktionstechnik, setzt eine arbeitsteilige industrielle Produktion von Produktionsmitteln voraus, die auf der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnis basiert. Marx hat die technische Kooperation der Kapitale der verschiedenen Zweige als Bedingung der Produktion des relativen Mehrwerts und materielle Grundlage der allgemeinen Mehrwertrate entwickelt. Allgemeine Steigerung des relativen Mehrwerts bedingt allgemeine Verwohlfeilerung des Arbeitsvermögens durch Steigerung der Produktivkraft der Arbeit in der Produktion notwendiger 173 Vgl. Heinrich (2006: 322 ff.). Den Grundrissen zufolge verbürgt das Gesetz vom tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate, dass die durch das Kapital »herbeigeführte Entwicklung der Productivkräfte, auf einem gewissen Punkt angelangt die Selbstverwerthung des Capitals aufhebt, statt sie zu setzen«. Es ist daher »vom historischen Standpunkt aus das wichtigste Gesetz« (Gr 622 f./641).

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Lebensmittel. »Der Werth einer Waare ist aber nicht nur bestimmt durch das Quantum der Arbeit, welche ihr die letzte Form giebt, sondern ebensowohl durch die in ihren Produktionsmitteln enthaltne Arbeitsmasse. [...] Steigerung der Produktivkraft und entsprechende Verwohlfeilerung der Waaren in den Industrien, welche die stofflichen Elemente des konstanten Kapitals, die Arbeitsmittel und das Arbeitsmaterial, zur Erzeugung der nothwendigen Lebensmittel liefern, senken also ebenfalls den Werth der Arbeitskraft.« (K I² 314/334)174 Der durch die Konkurrenz den Herstellern derselben Warenart aufgeherrschte Zwang permanenter Produktivkraftsteigerung führt zur Verallgemeinerung der technischen Bedingungen der Produktion, damit zu einer Verallgemeinerung der Exploitationsbedingungen im selben Zweig. Die technische Abhängigkeit der Kapitale verschiedener Zweige führt dazu, dass die Kapitale auch von der Produktivkraftsteigerung und damit verbundenen erhöhten Exploitation der Arbeitskraft in fremden Zweigen profitieren. Durch die technische Integration der verschiedenen Zweige zur gesellschaftlichen Produktion ist Produktivkraftsteigerung in der Herstellung notwendiger Lebensmittel, der Herstellung von Produktionsmitteln für die Lebensmittelproduktion, und der Herstellung von Produktionsmitteln für die Herstellung von Produktionsmitteln für die Lebensmittelproduktion gleichbedeutend mit der Verwohlfeilerung der Arbeitskraft, oder mit der allgemeinen Erhöhung der Rate des relativen Mehrwerts. Lediglich erhöhte Produktivkraft in der Luxusmittelproduktion lässt den Wert der Arbeitskraft unberührt. Die allgemeine, wissenschaftliche Arbeit175 geht, sofern sie der Produktion verbesserter Produktionstechnik dient, auf die Erhöhung des relativen Mehrwerts. Sie zweckt darauf ab, das gesellschaftliche Warenprodukt der notwendigen Lebensmittel dem Wert nach absolut zu senken. Der Widerspruch, der durch die »Bildung einer allgemeinen Profitrate (Durchschnittsprofit) und Verwandlung der Waarenwerthe in Productionspreisse« (K III 230/164) gelöst werden soll, resultiert nicht aus dem Vergleich der Werttheorie mit der empirischen Realität kapitalistischer Produktionsweise, sondern ist der systematischen Entwicklung des Wertbegriffs immanent.176 Als Resultat der rekursiven Reflexion auf die notwendigen Bedingungen des industriellen Mehrwerts/ Profits setzt er die Existenz des gesellschaftlichen industriellen Kapitals voraus und ist seinerseits systematische Voraussetzung der Konstruktion des Übergangs von Werten in Produktionspreise. Der theoretische Übergang kann deshalb nicht als »das ›verbesserte Spiegelbild‹ 174 Die Konstruktion der Durchschnittsprofitrate über die technische Abhängigkeit der Kapitale verschiedener Zweige ist hier angedeutet. 175 Vgl. K III 159/113 f. 176 Anders z.B. Dämpfling (1985: 23).

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einer tatsächlichen historischen Transformation« (Meek 1967: 210177) interpretiert werden. Die ungleichen Profitraten von Kapitalen verschiedener organischer Zusammensetzung ergeben sich auf der Grundlage der Bestimmungen der Mehrwertproduktion. Marx bezeichnet die besonderen Profitraten als »Substanz, Voraussetzung der allgemeinen Profitrate«. (ÖM V 1626) Die Durchschnittsprofitrate bestimmt die Verteilung des Gesamt-Pro­fits auf die in den verschiedenen Zweigen angelegten Kapitale gemäß ihrer Größe. Ihr zu entwickelnder Begriff ist Begriff des Verhältnisses, in dem die Sphärenkapitale am Gesamt-Profit partizipieren. So ist er Relationsbegriff. Notwendige Bedingung der Bestimmung der Relationen der Profite des Sphärenkapitals ist die substantielle Bestimmtheit dessen, was in Relation steht. In den gegebenen Warenprodukten der Produktionszweige bildet der Profit ein Element des Produktenwerts. Dieses Element erscheint in der Konkurrenz als ein »auf unbegreifliche Weise bestimmte[r] Zuschlag« (K III 884/873) zum Kostpreis. Soll den Profiten nicht nur der Name gemeinsam sein, müssen sie objektiv in einem gemeinsamen Dritten übereinstimmen. Die systematische Entwicklung des Wertbegriffs in den ersten beiden Bänden des Kapitals erschließt mit dem Gesamt-Mehrwert des industriellen Kapitals das tertium comparationis der Profite. Sie erschließt den Gesamt-Mehrwert als notwendige Bedingung der objektiven quantitativen Bestimmtheit der Relationen der Profite der verschiedenen Zweige, oder als notwendige Bedingung der allgemeinen Profitrate. Es gilt: »[D]ie Summe der Profite in den verschiednen Productionssphären = der Summe des Mehrwerths und die Summe der Productionspreisse des gesellschaftlichen Gesammtproducts = der Summe seiner Werthe.« (K III 249/182) Der Schluss auf die Totalität unterstellt die unmittelbare Geltung des Wertgesetzes fürs gesellschaftliche Kapital.178 Durch die Einheit von gesellschaftlicher Mehrwert- und Profitsumme führt er die Profite aller industriellen Zweige vollständig auf die gesellschaftlich geleistete Mehrarbeit als ihre Substanz zurück. Er bestimmt den Gesamt-Mehrwert als absolutes Maß der Größe des Profits.179 Mehr Profit, als in den verschiedenen Sphären zusammen an 177 Meek sitzt hier Engels’ falscher Definition des Verhältnisses von ›Logischem‹ und ›Historischem‹ auf; er kann sich ferner auf sachlich falsche Bemerkungen von Marx beziehen, die diesem vorwiegend in Texten zur Selbstverständigung unterlaufen (etwa K III 252/186). In der Ansicht, dass Marx ein Abbildverhältnis von ›Logischem‹ und ›Historischem‹ unterstellt, sind sich, ungeachtet ihrer sonstigen Differenzen, auch Böhm-Bawerk (1896: 55 ff.) und Hilferding (1904: 164) einig. 178 Marx erschließt eine notwendige Bedingung der Durchschnittsprofitrate und stellt nicht eine »empirische These« auf, wie Eberle (1979: 151) meint. 179 »Der Durchschnittsprofit [...] wäre[] blos imaginair und haltlos, nähmen wir nicht die Werthbestimmung als Grundlage. Die Ausgleichung

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Mehrwert wirklich angeeignet wird, ist gesellschaftlich nicht zu verteilen. »Wie der Mehrwerth des einzelnen Capitals in jeder besondren Productionssphäre das Maaß der absoluten Grösse des Profits ist – so weit dieser blos verwandelte Form des Mehrwerths – so ist der Gesammt­ mehrwerth, den das Gesammtcapital, also die Gesammtklasse der Capitalisten producirt, das absolute Maaß des Gesammtprofits des Ge­ sammtcapitals, wobei unter Profit auch alle Formen des Mehrwerths zu verstehn, wie Rente, Zins etc.« (ÖM V 1627 f.) Aus der Gleichsetzung von Mehrwert- und Profitsumme sowie Wert- und Produktionspreissumme folgt direkt, dass die allgemeine Profitrate der Gesamt-Mehrwert/ Profit bezogen aufs gesamte vorgeschossene Kapital ist; ferner, dass der Profit, welcher entsprechend der allgemeinen Rate auf ein Kapital von gegebener Größe unabhängig von seiner organischen Zusammensetzung fällt, der Durchschnittsprofit ist. In dem Schluss auf das tertium comparationis der Profite ist deren objektive Bestimmtheit als notwendige Bedingung ihrer Bestimmbarkeit unterstellt. Die Durchschnittsprofitrate als objektives Maß der Kapitalverwertung ist darin vorausgesetzt. Unter Voraussetzung der Existenz der Durchschnittsprofitrate kann die Nominaldefinition des Produktionspreises gegeben werden. Der Produktionspreis einer Ware setzt sich zusammen aus ihrem Kostpreis plus dem Durchschnittsprofit. Dass der Produktionspreis einer Ware für ihren Käufer ihr Kostpreis ist und in die Preisbildung anderer Waren eingehen kann, modifiziert die Nominaldefinition.180 Die Realdefinition muss den Grund der Verwandlung des Werts in den Produktionspreis enthalten. Die Gleichsetzung der Profitsumme mit der des Mehrwerts des industriellen Kapitals behauptet, dass die gegebenen Profite objektiv bestimmt sind und am Mehrwert ihre Substanz haben. Der Begriff des Mehrwerts und des Durchschnittsprofits hat aber nur dann objektive Geltung, wenn dargetan ist, worin die objektive Bestimmtheit der Relation der Profite in dieser Substanz fundiert ist. Das erfordert die Begründung der Bildung der Durchschnittsprofitrate aus dem Wertgesetz. Für die Wirklichkeit des kapitalistischen Reproduktionsprozesses ist die Existenz der Durchschnittsprofitrate vorausgesetzt; für dessen theoretische Erklärung kann sie nur Resultat der diskursiven Darstellung sein. »Die eigentlich schwierige Frage hier ist die: Wie diese Ausgleichung der Profite oder diese Herstellung zur allgemeinen Profitrate vorgeht, da sie der Mehrwerthe in different trades ändert nichts an der absoluten Grösse dieses Gesammtmehrwerths, sondern ändert nur seine Vertheilung in den different trades. Die Bestimmung dieses Mehrwerths selbst aber geht nur aus der Bestimmung des Werths durch Arbeitszeit hervor. Ohne diese ist der Durchschnittsprofit Durchschnitt von nichts, blose fancy.« (ÖM III 840). 180 Vgl. K III 241 f./174.

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offenbar ein Resultat [als begriffene] ist und nicht ein Ausgangspunkt sein kann.« (K III 250/183)181 Marx’ Ausführungen zur Bildung der allgemeinen Profitrate sind Fragment geblieben und widersprüchlich. Sie changieren zwischen den Extremen der Entstehung der Durchschnittsprofitrate durch die Konkurrenz und ohne die Konkurrenz. Einerseits gilt, »daß die Conkurrenz die Profitraten in den verschiednen Productionssphären zum Durchschnittsprofit p. 100 ausgleicht und eben dadurch in den verschiednen Productionssphären die Werthe in Productionspreisse verwandelt«. (K III 278/218) Andererseits: »[I]ndem wir von einer nothwendigen Rate des Profits sprechen, wollen wir eben die von den Bewegungen der Conkurrenz unabhängige Profitrate kennen, welche ihrerseits die Konkurrenz regulirt. Die durchschnittliche Profitrate tritt ein mit dem Gleichgewicht der Kräfte der verschiednen Capitalisten gegeneinander. Die Konkurrenz kann dieß Gleichgewicht herstellen, aber nicht die Profitrate, die auf diesem Gleichgewicht eintritt. Sobald das Gleichgewicht hergestellt ist, warum ist nun die allgemeine Profitrate 10 oder 20 oder 100%? Von wegen der Konkurrenz.« (K III 883/872) Entweder die Konkurrenz gleicht die besonderen Profitraten zur Durchschnittsprofitrate aus in dem Sinne, dass diese allein Wirkung der Konkurrenz ist. Dann produziert die Konkurrenz die Durchschnittsprofitrate. Oder die Konkurrenz besteht in sich wechselseitig aufhebenden Kräften, von denen unabhängig eine notwendige Durchschnittsprofitrate existiert. Dann besteht die Wirkung der Konkurrenz nur in den temporären Schwankungen der Marktpreise um die durch die Rate bestimmten Produktionspreise. Die Konkurrenz erklärt dann nur die kontingenten Abweichungen von den durch »die innern Gesetze der capitalistischen Production« (K III 430/368) bestimmten Preise. Die erste Alternative läuft in die Aporien der klassischen Politischen Ökonomie. Die Werttheorie steht den ökonomischen Phänomenen unvermittelt gegenüber und »die Konkurrenz muß auf sich nehmen alle Begriffslosigkeiten [...] zu erklären« (K III 884/873). Notwendige Bedingung des Begriffs der Durchschnittsprofitrate ist der des Mehrwerts. Die Preistheorie setzt die Werttheorie systematisch voraus. Aus dieser folgt der Widerspruch, der durch die Begründung der Durchschnittsprofitrate und der Verwandlung der Werte in Produktionspreise zu lösen ist. Die Durchschnittsprofitrate muss die Koexistenz von Kapitalen verschiedener organischer Zusammensetzung ermöglichen. Damit ist das Problem der Verteilung der gesellschaftlich disponiblen Arbeit gestellt. Diese ist in den Reproduktionsschemata abstrakt dargestellt 181 Die allgemeine Profitrate ist »nie ein handgreifliches und gegebnes Factum in der Art des Zinsfusses«; sie selbst »erscheint nur als Minimum limit des Profits, nicht als empirische Gestalt der wirklichen Profitrate«. (K III 439 f./380).

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als Wert- und Stoffersatz zwischen den Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion unter der Bedingung des Äquivalententauschs. Diese Bedingung entfällt jetzt. Der Verteilung der gesellschaftlich disponiblen Arbeit als der von Kapital nach dem Maß des Durchschnittsprofits sind Bestimmungen des Warentauschs nicht angemessen. Marx hat gesehen, dass die Distribution der gesellschaftlichen Arbeit unter der Bedingung des äquivalenten Warenaustauschs zu Werten eminent unterschieden ist von der unter der Bedingung des nicht-äquivalenten Warenaustauschs zu Produktionspreisen. »Es sind prima facie zwei ganz verschiedne Dinge, ob Waaren zu ihren Werthen [...] oder ob sie zu solchen Preissen verkauft werden, daß ihr Verkauf gleich grosse Profite auf gleiche Massen der zu ihrer respectiven Production vorgeschossnen Capitalien abwirft.« (K III 250/184). Dennoch hat er die Verteilung qua Durchschnittsprofitrate in Analogie zu der nach Werten erörtert. »Ist diese Vertheilung proportionell, so werden die Producte der verschiednen Gruppen zu ihren Werthen (später Productionspreissen) verkauft oder Modificationen der Werthe, die aber durch allgemeine Gesetze bestimmt sind. Es ist in der That das Gesetz des Werths, wie es sich geltend macht, nicht in bezug auf die einzelnen Waaren oder Artikel, sondern auf die spezifischen Ge­ sammtproducte der besondern durch die Theilung der Arbeit verselbständigten gesellschaftlichen Productionssphären; so daß nicht nur auf die einzelne Waare nur nothwendige Arbeitszeit spent ist, sondern daß von der gesellschaftlichen Gesammtarbeitszeit nur das nöthige proportionelle Quantum in den verschiednen Gruppen verwandt ist.« Bedingung bleibe der Gebrauchswert. »Wenn aber der Gebrauchswerth bei der einzelnen Waare davon abhängt, daß sie an und für sich ein Bedürfniß befriedigt, so bei den gesellschaftlichen Productenmassen, daß sie dem quantitativ bestimm­ ten gesellschaftlichen Bedürfniß für jede besondre Art von Product adaequat ist und die Arbeit daher im Verhältniß dieser gesellschaftlichen Bedürfnisse, die quantitativ umschrieben sind, in die verschiednen Productionssphären proportionell vertheilt ist. […] (Dieser Punkt he­ ranzuziehn bei der Vertheilung des Capitals in die verschiednen Productionssphären.) Das gesellschaftliche Bedürfniß, d.h. der Gebrauchswerth auf gesellschaftlicher Potenz, erscheint hier bestimmend für die Quota der gesellschaftlichen Gesammtarbeitszeit, die den verschiednen besondren Productionssphären anheimfallen. [...] Diese quantitative Schran­ ke der Quota […] ist nur weiterentwickelter Ausdruck des Werthgesetzes überhaupt; obgleich die nothwendige Arbeitszeit hier einen andern Sinn enthält.« (K III 686 f./648 f.)

Die Passage markiert den Stand, bis zu dem Marx’ Überlegungen zur Bildung der allgemeinen Profitrate gediehen sind. Einerseits wird die Differenz von Wert und Produktionspreis als graduell behauptet, andererseits hält Marx in der Klammer im Unterschied zu anderen Passagen explizit 267

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fest, dass die Verteilung der gesellschaftlich disponiblen Arbeit als der von Kapital auf verschiedene Zweige, damit der Produktionspreis, noch nicht begründet ist. Die falsche Analogie der Verteilung nach Werten und nach Produktionspreisen impliziert ein falsches Verständnis des Durchschnittsprofits als einer bloßen Bestimmung der Distribution.182 Als solche wäre der Durchschnittsprofit spezifische Bestimmtheit der Form der wechselseitigen Austauschbarkeit der Warenprodukte der Kapitale der verschiedenen Zweige. Die gesellschaftliche Mehrarbeit als sein Existenzgrund wäre bloß behauptet. Als Bestimmtheit der Form der Relation der Kapitale wäre er entweder dogmatisch als Maß der Konkurrenz behauptet oder stünde zu dieser in einem zirkulären Begründungsverhältnis. Die dogmatische Setzung des Durchschnittsprofits als »Messer und [...] Regulator der Production« (K III 725/791) behauptet ihn als objektiven Bestimmungsgrund der freien Willkür der einzelnen Kapitalisten. Er erscheint als Grund, die Konkurrenz als Folge. Andererseits können es nur die ökonomisch konkurrierenden und technisch voneinander abhängigen Kapitale selbst sein, welche den Durchschnittsprofit hervorbringen. Insofern erscheint er als Folge, nicht als Grund der Konkurrenz. Der an sich unbestimmten Konkurrenz der vielen Einzelkapitale, welcher kein immanentes Maß inhäriert, entspränge auf unbegreifliche Weise der Durchschnittsprofit als deren allgemeine Bestimmtheit.183 Marx betont gegen die Politische Ökonomie die notwendige Differenz von Wesen und Erscheinung, von dem der kapitalistischen Produktion immanenten und dem in der Konkurrenz erscheinenden Maß.184 Weil er aber das nicht erscheinende absolute Maß des gesellschaftlichen Gesamt-Mehrwerts und das erscheinende Maß des Durchschnittsprofits nicht in einer Begründung aufeinander beziehen kann, wird der Gesamt-Mehrwert für die Begründung der Durchschnittsprofitrate irrelevant. Die Selbstverständigung über die Bildung der allgemeinen Profitrate gerät gegen die eigene Intention immer wieder in den Zirkel des wechselseitigen Voraussetzens von Durchschnittsprofit und Konkurrenz.185 Die zirkuläre Begründung ist notwendig falsches Bewusstsein. Sie sitzt dem »Schein der Conkurrenz« (K III 871 ff./860 ff.) auf, den die kapitalistische Produktionsweise selbst erzeugt. In der Konkurrenz tritt den Individuen das gesellschaftlich 182 Zwar betont Marx, dass der Durchschnittsprofit »Hauptfaktor, nicht der Vertheilung der Producte, sondern ihrer Production selbst« ist (K III 899/889; vgl. ÖM V 1612). Dies hat aber keine Konsequenzen für die Begründung der allgemeinen Profitrate. 183 Marx hat die Vorstellung einer aus der Konkurrenz der vielen hervorgehenden Allgemeinheit schon in den Grundrissen (Gr 89/90) kritisiert. 184 Bspw. ÖM III 840. 185 »Diese Gesetze [des Kapitals] sind in der That nichts anders als die allgemeinen Verhältnisse dieser Bewegung [der Konkurrenz], ihr Resultat einerseits, ihre Tendenz andrerseits.« (ÖM V 1603).

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produzierte Wertprodukt (v+m) in Gestalt der selbständigen und voneinander unabhängigen Revenueformen Lohn, Profit und Grundrente gegenüber. Statt als Resultate der ›Zersetzung‹ des Wertprodukts erscheinen ihnen diese als gegebene Voraussetzungen und Bildner des Warenwerts (c+v+m).186 »Dieß quid pro quo ist nothwendig.« (K III 885/875) Die Aufhebung der Differenz von Resultat und Voraussetzung, die den Schein der Konkurrenz konstituiert, hat ihren Grund nicht in der Konkurrenz, sondern im Wertgesetz. Der reale Schein des Kapitals ist einzig durch den Nachweis zu durchbrechen, dass der Bestimmungsgrund der allgemeinen Profitrate das Wert- und Mehrwertgesetz als Gesetz der gesellschaftlich notwendigen Arbeit ist. Dies erheischt »Einsicht in die Gesammtgestalt des capitalistischen Productionsprozesses« (K III 269/205). Die Totalität des kapitalistischen Produktionsprozesses ist hervorgebracht durch ökonomisch konkurrierende und technisch voneinander abhängige Kapitale. Hersteller derselben Warenart konkurrieren über die Verwohlfeilerung ihrer Waren. Das Mittel ist die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit über den herrschenden Durchschnitt durch Einführung verbesserter Produktionstechnik. Neue Technik wird dann eingeführt, wenn ihr Wert unter dem der Arbeitskraft liegt, die sie ersetzt. Die Konkurrenz zwingt die Hersteller derselben Warenart fortwährend zur Einführung der Technik, die den Kostpreis pro Ware senken hilft.187 Sie macht sie damit unmittelbar abhängig von den Kapitalen der Zweige, in denen diese Technik produziert wird und mittelbar von denen, die die Produktionsmittel dieser Kapitale herstellen. Die Konkurrenz innerhalb desselben Zweigs führt aufgrund ihrer technischen Bedingungen zur Abhängigkeit der Kapitale dieses Zweigs von der Totalität des in allen anderen Zweigen angelegten Kapitals. Zugleich konkurrieren die Kapitale der verschiedenen Zweige um profitable Anlagesphären. Kapital fließt in den Zweig, der überdurchschnittliche Profite verspricht. Durch die Konkurrenzen sind die Kapitale negativ aufeinander bezogen. Durch 186 Und was ist mit dem konstanten Kapital? In der Konkurrenz zeigt »die Erfahrung«, dass die Produkte eines Einzelkapitals in anderen Produktionssphären als konstantes Kapital fungieren, und umgekehrt Produkte aus diesen Sphären in ihm. Da also für den Kapitalisten, »soweit seine Neuproduction geht, der Werthzusatz gebildet wird, dem Schein nach, durch die Grössen von Arbeitslohn, Profit, Rente, so gilt dieß auch für den constanten Theil, die das Product andrer Capitalisten sind und daher reducirt sich, ultimately, wenn auch in einer Weise, der nicht ganz auf die Sprünge zu kommen ist, der Preiß des constanten Capitaltheils und damit der Ge­ sammtwerth der Waaren in letzter Instanz auf die Wertsumme, die aus der Addition der selbstständigen, nach verschiednen Gesetzen geregelten, und aus verschiednen Quellen entspringenden Werthbildnern – Arbeitslohn, Profit, und Rente – resultirt«(K III 890 f./880). 187 Vgl. K III 898/888.

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die technische Abhängigkeit sind die Kapitale der verschiedenen Zweige affirmativ aufeinander bezogen. Ihre Konkurrenz hat ihre technische Kooperation zur notwendigen Bedingung. Der Widerspruch, der durch die Begründung der Durchschnittsprofitrate gelöst werden soll, liegt weder in der technischen Abhängigkeit der Einzelproduktionen noch in der Konkurrenz. Er ist vielmehr dem Wertgesetz immanent, welches technische Bestimmungen, wie überhaupt den Gebrauchswert, zum bloßen Mittel der Verwertung bestimmt. Dass das Wertgesetz Arbeitsteilung zwischen Kapitalen verschiedener organischer Zusammensetzung zugleich fordert und ausschließt, ist genauer zu bestimmen als Widerspruch im Begriff des relativen Mehrwerts. Dieser fordert Steigerung der Produktivkraft der Arbeit durch Anwendung effizienter Produktionstechnik als Mittel zur Erhöhung des relativen Mehrwerts,188 welches Mittel aber zu einem Anwachsen des konstanten gegenüber dem variablen Kapitalwert führt, also die Profitrate fallen lässt. Damit ist das Mittel des Verwertungszwecks diesem zugleich entgegengesetzt.189 Der Widerspruch im Begriff des relativen Mehrwerts erscheint in der Sphäre des äquivalenten Austauschs zu Werten. Er ist zu lösen190 durch die Einführung der wesentlich neuen inhaltlichen Bestimmung des allgemeinen Zwecks kapitalistischer Produktion. Dieser ist bisher bestimmt als der allen partikularen Zwecken der individuellen industriellen Kapitale gemeinsame der Produktion von Mehrwert überhaupt. Der rekursive Schluss auf die gegenständlichen Bedingungen der Verwertung aller Einzelkapitale erweist diese als wesentlich abhängig von dem Vorhandensein von Mitteln, die die Produktivkraft der Arbeit erhöhen. Die spezifische Differenz des allgemeinen Zwecks zu den partikularen liegt in der spezifischen Bestimmtheit des Gebrauchswerts der Produktionstechnik oder Maschinerie für das Kapital. Gebrauchswert für das gesellschaftliche Kapital haben neben der Arbeitskraft diejenigen Waren, welche dazu bestimmt sind, im unmittelbaren Produktionsprozess als fixes Kapital zu fungieren. Im Dasein der Produktionsmittel als fixes Kapital scheint die ökonomische Zweckbestimmung direkt eingelassen in die Naturalform.191 Produktion von Pro188 Vgl. K I² 318/338 f.; K III 302/243. 189 Die widersprüchliche Bestimmung der Produktivkraftsteigerung durch Technik begründet zwei entgegengesetzte Wirkungen in der Konkurrenz der Kapitale. Die in der Konkurrenz zwischen Herstellern derselben Warenart geforderte systematische Steigerung der Produktivkraft ist durch die Erhöhung der organischen Zusammensetzung von Nachteil für die Konkurrenz der Hersteller verschiedener Warenarten. 190 Marx’ Überlegungen zu Durchschnittsprofitrate und kapitalistischer Akkumulation enthalten die Elemente der Lösung, nicht ihre Darstellung. 191 Dieser Schein ist real, denn kapitalistische Anwendung von Produktionstechnik bezweckt objektiv die Verkürzung der notwendigen Arbeit und die

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duktionsmitteln, insbesondere solcher für die Produktionsmittelindus­ trie, ist Produktion von Gegenständen, in denen das industrielle Kapital seinen zunächst in Geldform realisierten Mehrwert produktiv akkumulieren kann.192 Sie ist Produktion von Produktivität, da neue Produktionstechnik nur dann eingeführt wird, wenn sie vermehrt Surplusarbeit einsaugt. »Insofern die Production von Capital fixe auch der stofflichen Seite nach unmittelbar gerichtet ist [...] auf die Production von Mitteln zur Werthschöpfung [...], – die Production von Werth stofflich in dem Gegenstand der Production selbst gesezt als Zweck der Production, der Vergegenständlichung von Productivkraft, Werth producirender Kraft des Capitals – ist es in der Production des Capital fixe, daß das Capital in einer höheren Potenz als in der Production von capital circulant sich als Selbstzweck sezt und als Capital wirksam erscheint.« (Gr 585/605) Im Zweck der Produktion von Produktionsmitteln ist der Vorrang des gesellschaftlichen Verwertungsprozesses vor den Einzelkapitalen als Vorrang des Wert- und Mehrwertgesetzes vor der Konkurrenz begründet.193 Der unmittelbare Zweck der individuellen industriellen Kapitale, die Produktion von Mehrwert ungeachtet der spezifischen Bestimmtheit seines materiellen Substrats, ist vermittelt durch den allgemeinen, im Wertgesetz begründeten Zweck der Produktion von akkumulierbarem Mehrwert. Der dem Wertgesetz immanente Widerspruch erscheint in der Sphäre des Äquivalententauschs. Der Schluss auf den objektiven Zweck kapitalistischer Produktion setzt diese Sphäre zu einer partikularen innerhalb des Austauschs zu Produktionspreisen herab.194 Indem er die zwei Seiten des Widerspruchs – Produktivkraftsteigerung durch technischen Fortschritt als Mittel der Kapitalverwertung und als dieser zuAusdehnung der Mehrarbeit. Das Scheinhafte besteht darin, dass Produktionstechnik unter anderen Produktionsverhältnissen anderen Zwecken dienen könnte, etwa der »Reduction der nothwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und geschaffnen Mittel entspricht« (Gr 582/601). 192 »Geld an sich selbst ist kein Element der wirklichen Reproduction.« (K II 791/486). 193 Diese ist das Abgeleitete, jenes der Grund. Marx’ Bestimmung des Verhältnisses von Wertgesetz und Konkurrenz ist Resultat der Analyse der gegenständlichen Bedingungen der Verwertung der Einzelkapitale der verschiedenen Zweige und nicht Ergebnis einer »ökonomischen Metaphysik« (Petry 1916: 42 f.). 194 Nur »für die Capitalien von mittlerer oder annähernd mittlerer Composition fällt ihr Productionspreiß mit ihrem Werth – wenigstens annähernd – zusammen und der Profit mit dem in ihnen erzeugten Mehrwerth« (K III 249/183).

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gleich entgegengesetzt – auf ihren Grund, den Akkumulationsprozess des gesellschaftlichen industriellen Kapitals bezieht, begründet er ein neues Maßverhältnis. Im Durchschnittsprofit misst sich das Kapital an sich selbst. Der Schluss erweitert das Wertgesetz.195 Es ist jetzt als das dem Akkumulationsprozess des gesellschaftlichen industriellen Kapitals immanente Prinzip bestimmt, welches Produktions-, Zirkulations- und Konsumtionssphäre zur Einheit des Reproduktionsprozesses des industriellen Kapitals zusammenfasst. Es integriert die gesellschaftliche Reproduktion vertikal, durch die Bestimmung der unmittelbaren Produktionsprozesse der Einzelkapitale, und horizontal, durch die Bestimmung der Austauschrelationen zwischen den Einzelkapitalen. Produktion und Distribution des gesellschaftlichen Reichtums sind Funktionen des sich reproduzierenden gesellschaftlichen Kapitals. Kapital ist Beziehung des Werts auf sich selbst. In der Rate des Mehrwerts ist die Abhängigkeit dieser Selbstbeziehung von der erzwungenen Verausgabung von Arbeitskraft offengelegt. Im neuen Maßverhältnis der allgemeinen Profitrate ist sie aufgehoben. Das Kapital hat seine Substanz scheinbar nicht mehr an der erzwungenen Verausgabung von Arbeitskraft in der materiellen Produktion, sondern an sich selbst. Der Produktionspreis scheint nicht mehr durch das Quantum Arbeit überhaupt, sondern rein funktional bestimmt.196 Paradoxerweise sind die Kapitale verschiedener Sphären erst durch ihre materielle Abhängigkeit ökonomisch von jeder materialen Verschiedenheit emanzipiert. Die Analyse der gegenständlichen Bedingungen der Verwertung der Einzelkapitale der verschiedenen Zweige resultiert in den Begriff der Produktion um der Produktion willen. In der reflexiv bestimmten Gesamtproduktion sind die Einzelproduktionen der verschiedenen Zweige zur gesellschaftlichen integriert. Sie sind an ihnen selbst gesellschaftlich bestimmt. Ihre affirmative Beziehung als technisch voneinander abhängige Produktionen drückt sich in Durchschnittsprofitrate und Produktionspreis ökonomisch aus und ist für deren Bildung konstitutiv.197 Im Produktionspreis ist die verschiedene stofflich-technische Zu195 Von Marx angedeutet, allerdings mit der falschen Bestimmung des »gesellschaftlichen Bedürfnisses« als Maß (vgl. K III 687/649). 196 Wird die funktionale Bestimmung des Produktionspreises abgetrennt von ihrer Begründung aus der Produktion von akkumulierbarem Mehrwert und dem dieser zugrunde liegenden Herrschaftsverhältnis, bleibt die funktionalistische Definition: »Werte repräsentieren im System die gesellschaftliche Relevanz des wirtschaftlichen Geschehens, Preise dagegen die systeminterne Autopoiesis.« Das »System der kapitalistischen Produktion« (Marx) erscheint als »›autopoietisches‹ System, das die Elemente, aus denen es besteht, selbst produziert und reproduzieren muß« (Luhmann 1988: 55; 17). 197 Dass die technische Abhängigkeit der Kapitale verschiedener Zweige und nicht deren Fluidität die Durchschnittsprofitrate konstituiert, hat Marx

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sammensetzung der Kapitale verschiedener Zweige, die sich ökonomisch in verschiedener Wertzusammensetzung und verschiedenen Profitraten ausdrückt, aufgehoben. Indem die Kapitale mit verschiedener technischer Zusammensetzung gemäß ihrer Wertgröße am Gesamt-Mehrwert teilhaben, ist ihre qualitative Differenz nur noch von akzidenteller Bedeutung. Sie unterscheiden sich nur noch quantitativ.198 Als verschieden große Quanta derselben Substanz des gesellschaftlichen Kapitals sind sie herabgesetzt zu Momenten von dessen Reproduktion. Wie aus dem eben Entwickelten hervorgeht, hat die Kapitaltheorie kein Transformationsproblem hinterlassen, sondern ein vorgefundenes gelöst. Das Problem, das Marx vorfand, war das der bei Smith, Ricardo und Nachfolgern fehlenden Vermittlung von Werten und Preisen. Die Kapitaltheorie leistet diese Vermittlung durch den Nachweis, dass das gesellschaftliche Kapital als Grund der Mehrwertproduktion der Einzelkapitale den Warenaustausch zu Produktionspreisen erzwingt. Sie zeigt damit auch, dass die Wert-Preis-Vermittlung nicht die Form einer Transformationsgleichung haben kann. Eine solche Gleichung wäre nur möglich, wenn die Werte für sich zu bestimmen wären. Das setzte voraus, dass die Einzelkapitale für sich, unabhängig von der Vermittlung durchs gesellschaftliche Kapital zu bestimmen wären. Dann bestünde das gesellschaftliche Kapital nur aus der Summe der Einzelkapitale und wäre diesen nicht vorgeordnet. Das führte zurück in die Vielheit verschiedener Sphärenprofitraten ohne allgemeine Profitrate, das heißt zurück in den Widerspruch, aus dem die allgemeine Profitrate als notwendige Bedingung der Möglichkeit der Koexistenz technisch kooperierender und ökonomisch konkurrierender Kapitale verschiedener organischer Zusammensetzung erschlossen wurde.

2.3. Grundrente Indem gezeigt wurde, dass sich das gesellschaftliche industrielle Kapital in der allgemeinen Profitrate an sich selbst misst und die Bedingungen seiner Reproduktion selbst produziert, scheint es als ein homogener Prozess begründet, der sich von allen ihm heterogenen Elementen emanzipiert hat. Gegen diese Begründung könnte allerdings eingewandt werden, dass bereits ihr Anfang zu widerlegen sei. Die ersten Bestimmungen des Werts und der wertbildenden Substanz Arbeit überhaupt scheinen angedeutet, aber nicht systematisch ausgeführt: vgl. Gr 346 f./349 f.; 443 f./451 f.; ÖM II 553 ff., wo Marx die Notwendigkeit eines Produktionszweigs für die Reproduktion des Gesamtkapitals mal in Zusammenhang mit der Profitrate, mal allein nach der Seite der Technik betrachtet. 198 Vgl. Gr 564 f./585.

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nämlich tautologisch eingeführt. Marx, so schon die Kritik von BöhmBawerk, habe »bei der Suche nach dem dem Tauschwerte zu Grunde liegenden Gemeinsamen« diejenigen »tauschwerten Güter, die nicht Arbeitsprodukte sind«, von vornherein ausgeschlossen. Das sei »eine methodische Todsünde« (Böhm-Bawerk 1896: 83). Marx hat selbst das Problem formuliert, bevor er seine Lösung kannte. »Wenn der Tauschwerth nichts ist als die in einer Waare enthaltene Arbeitszeit, wie können Waaren, die keine Arbeit enthalten, Tauschwerth besitzen, oder in andern Worten, woher der Tauschwerth bloßer Naturkräfte? Dies Pro­ blem wird gelöst in der Lehre von der Grundrente.« (ZKPÖ 139/48) Der Schluss auf das tertium comparationis des Austauschs ist sinnvoll nur unter der Bedingung, dass die in ihm implizierte Ausschließung von Gütern, welche nicht Resultat von Arbeit sind, aber getauscht werden, gerechtfertigt wird. Diese Rechtfertigung fehlt bislang. Dass das Kapital sich reproduziert, indem es noch die Bedingungen seiner Reproduktion produziert, macht seine Produktion nicht zu einer creatio ex nihilo. Die Lehre von der kapitalistischen Produktion als einer ›Produktion um der Produktion willen‹ muss demnach dartun, wie der Boden als gegebene, selbst nicht produzierbare Voraussetzung jeder materiellen Reproduktion ungeachtet ihrer gesellschaftlichen Form, in die kapitalistische ›Dialektik‹ des Setzens von Voraussetzungen integriert ist, andernfalls sich rückwirkend schon die erste Wertbestimmung und damit die ganze Theorie als falsch erweisen würde. Der Ort der Theorie der Grundrente am Ende der systematischen Darstellung des Wertbegriffs darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie anders als die Bestimmungen von Zins, Kredit und fiktivem Kapital auch unmittelbar auf den Anfang des Kapitals bezogen ist. Bevor die Mechanismen einer teilweisen Emanzipation des Kapitals von der eigentlichen materiellen Produktion dargestellt werden können, muss diese werttheoretisch erklärt werden, indem in der Theorie des Produktionspreises ausgeführt wird, dass und inwiefern der Preis des gesellschaftlichen Warenprodukts mit seinem Wert zusammenfällt. Nur dann ist die spekulative Voraussetzung zu Beginn der Werttheorie: die gegebenen Austauschrelationen preisbestimmter Waren seien objektiv bestimmt durch das in diesen Waren inkarnierte Quantum Arbeit überhaupt, gerechtfertigt. Die Lehre von der Grundrente ist Fragment geblieben, lässt sich aber aus den marxschen Überlegungen konstruieren. »Man muß sich klar machen, worin eigentlich die Schwierigkeit der Behandlung der Grundrente, vom Standpunkt der modernen Oekonomie, als dem theoretischen Ausdruck der capitalistischen Productionsweise, besteht.« Sie »besteht darin nachzuweisen, woher, nach Ausgleichung des Mehrwerths unter den verschiednen Capitalien zum Durchschnittsprofit«, also »nach der scheinbar bereits stattgehabten Vertheilung alles Mehrwerths, der überhaupt zu vertheilen ist, woher da noch der überschüssige Theil dieses 274

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Mehrwerths stammt, den das in Grund und Boden angelegte Capital unter der Form der Grundrente an den Grundeigenthümer zahlt?« (K III 723 f./790) Der ›Standpunkt der modernen Ökonomie‹ ist der der Arbeitswerttheorie. Die Nationalökonomie entdeckt in der Arbeit, die gleichgültig ist gegen jede stoffliche Verschiedenheit ihres Materials und gegen die bestimmte Gestalt ihres Resultats, das Prinzip der Produktion des nationalen Reichtums.199 Ricardo fragt, wie unter der Voraussetzung, dass die in der Landwirtschaft produzierten Waren zu Arbeitswerten getauscht werden und den durchschnittlichen Profit einbringen, Rente möglich ist.200 Dieser Ausgangspunkt enthält die richtige Kritik an Smiths Bestimmung, wonach der Boden selbst zur Wertbildung beiträgt.201 Smiths physiokratische Ansicht ist mit der Arbeitswerttheorie unvereinbar. »Ein Naturelement, etwas von der gesellschaftlichen Arbeitszeit Heterogenes, schüfe Werth.« (ÖM III 780) Ebenfalls unvereinbar mit der Arbeitswerttheorie ist die Erklärung der Rente aus einem im Monopol des Grundeigentums begründeten Preisaufschlag auf den Wert. Ein solcher Monopolpreis würde den Preis der Agrarprodukte beständig über ihren Wert erhöhen, »und das Gesetz der Waarenwerthe ist durchbrochen durch das Monopol des Grundeigenthums« (ÖM III 814). Ricardo zufolge wirft das in Boden ausgelegte Kapital neben dem Durchschnittsprofit erst dann eine Rente ab, wenn die Befriedigung steigender Nachfrage nach Korn die Bebauung schlechterer Böden notwendig macht, und wenn die infolge der steigenden Nachfrage erhöhten Preise des Korns die Bebauung schlechterer Böden ökonomisch erlauben. Schlechterer Boden als der bisher bebaute wird dann bewirtschaftet, wenn dabei zumindest der 199 Schon in den Manuskripten heißt es, die (angelsächsische) Nationalökonomie kenne nur ein Prinzip, das der Arbeit (vgl. ÖPM 249/524; 258/531 u. pass.). 200 Vgl. Ricardo (1821: 57 f.). 201 Vgl. Smith (1789: 299): »Diese Rente darf man als den Ertrag der Naturkräfte ansehen, die der Grundbesitzer dem Pächter zur Nutzung überläßt. [...] Es ist dieses Werk der Natur, welches übrig bleibt, wenn man alles abzieht oder ausgleicht, was man als Leistung des Menschen betrachten kann. [...] Die gleiche produktive Arbeit, in einem Gewerbe eingesetzt, kann niemals eine solch große Reproduktion leisten. Da dort die Natur nichts, der Mensch aber alles leistet, muß die Reproduktion stets von der Anstrengung jener abhängen, die sie erarbeiten.« Ricardo (1821: 61 Fn.) antwortet mit dem Hinweis darauf, dass »keine Manufaktur genannt werden [kann], in der die Natur nicht dem Menschen großzügig und unentgeltlich hilft«. Marx verweist auf die zeitliche Bedingtheit beider Auffassungen. Smith mache »hier noch die Vorperiode der großen Industrie und daher die physiokratische Anschauung geltend«, Ricardo beziehe den »Standpunkt der modernen Industrie« (ÖM II 354).

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Durchschnittsprofit erzielt wird.202 Durchschnittsprofit auf dem schlechten Boden bedeutet überdurchschnittlichen Profit des in besserem Boden engagierten Kapitals. Das Kapital, das schon vor der Einbeziehung neuer, das heißt schlechterer Böden in der Agrikultur angelegt ist, erzielt nach deren Einbeziehung aufgrund seiner günstigeren Produktionsbedingungen einen Extra-Profit, der als Rente fungiert. Dieser Extra-Profit entspringt aus der Differenz des durch das Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit zur Herstellung der Produktenart bestimmten Marktwerts zu dem individuellen Wert jener Produkte dieser Art, die aufgrund günstigerer Produktionsbedingungen weniger Arbeit enthalten. Er ist in dieser Hinsicht von den Extra-Profiten in anderen Produktionszweigen nicht unterschieden und steht im Einklang mit der Arbeitswerttheorie. Ricardos Lehre von der Rente ist so nur modifizierte Lehre des ExtraProfits. »Das Ric. Gesetz herrschte ebenso sehr als wenn kein Grundei­ genthum existirte.« (ÖM III 757) Ricardo muss um der Geltung seiner Arbeitswerttheorie willen eine ökonomische Wirkung des Grundeigentums ausschließen. Das auf dem schlechtesten Boden angelegte Kapital darf keine Rente abwerfen. Der Eigentümer des schlechtesten Bodens müsste demnach dessen Verpachtung zum Nulltarif gestatten oder aber Grundeigentum dürfte nicht existieren. Ricardo geht von der Nichtexistenz des Grundeigentums aus.203 »Nur weil die Menge des Bodens nicht unbegrenzt und an Qualität nicht gleich ist, und weil mit der Zunahme der Bevölkerung Boden geringerer Qualität oder in weniger günstiger Lage in Kultur genommen wird, wird also für seine Benutzung überhaupt eine Rente gezahlt.« (Ricardo 1821: 54) Der Versuch, die Arbeitswerttheorie mit dem Phänomen der Rente in Einklang zu bringen, scheitert am Mangel dieser Theorie selbst. Unter der Voraussetzung der Identität von Werten und Preisen ist die Frage, wie das auf dem schlechtesten Boden engagierte Kapital eine Rente abwerfen kann, nicht zu beantworten. »Weiß man dagegen daß Durchschnittspreisse [meint: Produktionspreise] und Werthe nicht identisch [...], bleibt nur die Frage, warum in der Agricultur der Werth der Waare oder jedenfalls ihr Preiß nicht über ihrem Werth, sondern über ihrem Durchschnittspreiß steht?« 202 Ricardo (1821: 59): »Der Wert des Getreides wird durch die Quantität Arbeit bestimmt, die bei seiner Produktion auf Boden von jener Qualität oder mit dem Teil des Kapitals, der keine Rente bringt, aufgewendet wird. Der Preis des Getreides ist nicht hoch, weil eine Rente gezahlt wird, sondern eine Rente wird gezahlt, weil der Preis des Getreides hoch ist.« 203 Vgl. Ricardo (1821: 52 f.). »Hier also Nicht-Grundeigenthum vorausgesetzt. Obgleich diese Darstellung des Processes annähernd richtig für die settlings of modern peoples, so erstens ungehörig für die entwickelte capitalistische Production; ebenso falsch, wenn dieß als der historische Gang im old Europe vorgestellt wird.« (ÖM III 940 f.).

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(ÖM III 781 f.) Erst als Theorie des Produktionspreises ist die Werttheorie zum Phänomen der Rente vermittelbar. Marx unterscheidet die ›eigentliche‹ Grundrente zunächst vom Zins für das dem Boden einverleibte Kapital. Sie wird nicht dafür, sondern ausschließlich für den Gebrauch des Bodens als solchen gezahlt.204 Als Preis oder Wert des Bodens ist die kapitalisierte Rente eine »irrationelle Kategorie« wie der Preis der Arbeit.205 »Diese imaginären Ausdrücke entspringen jedoch aus den Produktionsverhältnissen selbst. Sie sind Kategorien für Erscheinungsformen wesentlicher Verhältnisse.« (K I² 500/559)206 Marx unterscheidet zwischen absoluter und Differentialrente. Die Differentialrente besteht in dem Extra-Profit, der aus der Differenz zwischen dem individuellen Produktionspreis bestimmter Produzenten und dem allgemeinen, den Markt dieser Produktenart regulierenden Produktionspreis, entspringt. Insofern ist sie von den Extra-Profiten, die aus dem Unterschied von individuellem und allgemeinem Produktionspreis in anderen Produktionssphären resultieren, nicht unterschieden. Das Rentenspezifische dieses Extra-Profits besteht darin, dass er eine Naturbasis hat, den günstigeren Boden, der selbst nicht produzierbar und verallgemeinerbar ist. Sein Besitz bildet ein Monopol. Der Extra-Profit des agrikolen Kapitalisten verdankt sich also der Anwendung einer monopolisierten Naturkraft und ist als Rente an deren Eigentümer, den Grundeigentümer, abzuführen. Die Differentialrente setzt den allgemeinen Produktionspreis als Regulator der Marktpreise einer Produktenart voraus. Dieser Produktionspreis ist der des Warenprodukts, das auf dem schlechtesten, keine Rente tragenden Boden produziert wird.207 Boden, der keine Rente trägt, wird vom Grundeigentümer nicht an den agrikolen Kapitalisten verpachtet. Wird er nicht verpachtet, kann der Preis des auf ihm erwirtschafteten Warenprodukts nicht als Maßstab fungieren. So existierte kein allgemeiner Produktionspreis und kein Extra-Profit, also auch keine Differentialrente. Diese setzt folglich voraus, dass auch der Produktionspreis des Warenprodukts des schlechtesten Bodens eine Rente beinhaltet. Diese Rente, die unabhängig ist »von der Differenz in der Fruchtbarkeit der Bodenarten oder successiver Capitalanlagen auf dem selben Boden« (K III 702/769), nennt Marx absolute Rente. Die absolute Rente ist notwendige Bedingung der Differentialrente.208 Von ihrer Erklärung 204 Vgl. K III 671 ff./632ff. 205 Vgl. K III 675/636. 206 »Preiß der Arbeit und Preiß des Grund und Bodens (oder Naturkräfte überhaupt) sind die beiden einzigen irrationellen Ausdrücke der Art.« (ÖM VI 2190). 207 Vgl. K III 770/671. 208 K III 693/759. Marx am 9. August 1862 an Engels: »Das Einzige, was ich theoretisch zu beweisen habe, ist die Möglichkeit der absoluten Rente, ohne

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hängt die Theorie der Grundrente insgesamt und deren Vermittlung zur Werttheorie ab.209 Die absolute Rente muss ebenfalls eine Form des Extra-Profits darstellen. Sie kann weder als bloßer Preisaufschlag erklärt werden, denn die Bildung dieses Preises, der kein Produktionspreis sein könnte, wäre werttheoretisch unbestimmt; Wert- und Rententheorie wären so nicht zu vermitteln. Noch kann sie aus dem Durchschnittsprofit erklärt werden, denn den eignet sich das agrikole Kapital an. Marx zufolge ist die absolute Rente die Differenz von Wert und Produktionspreis, Mehrwert und Durchschnittsprofit.210 Der Extra-Profit, der die Form der absoluten Rente annimmt, entspringt aus der Differenz des Durchschnittsprofits, den sich das agrikole Kapital aneignet, und dem real von den Arbeitskräften dieses Kapitals produzierten Mehrwert. Das private Grundeigentum tritt dem Kapital als »fremde Macht und Schranke« gegenüber, indem es verhindert, dass der agrikole Mehrwert in den Ausgleich der besonderen Profitraten aller Produktionssphären zur allgemeinen Profitrate eingeht.211 Die Differenz beider eignet sich das Grundeigentum als absolute Rente an. »Die Rente bildet dann einen Theil des Werths, spezieller des Mehrwerths der Waaren, der nur, statt der Capitalistenklasse, die ihn extrahirt hat aus den Arbeitern, den Grundeigenthümern zufällt, die ihn aus den Capitalisten extrahiren.« (K III 713/780) Die ökonomische Seite des Grundeigentums ist von seiner rechtlichen zu unterscheiden. Das Eigentumsverhältnis vorausgesetzt, also kapitalistische Produktionsverhältnisse unterstellt, wirkt das Grundeigentum ökonomisch in doppelter Weise: in Gestalt der absoluten und der Differentialrente. Der Eigentumstitel auf den Boden konstituiert die absolute Rente. Er ist das Machtmittel, mit dem der Eigentümer verhindert, dass der gesamte agrikole Mehrwert in die Bildung der allgemeinen Profitrate eingeht und mit dem er einen Teil dieses Mehrwerts als Rente sich aneignet. Ökonomisch gründet die absolute Rente in der unterdurchschnittlich niedrigen sogenannten organischen Zusammensetzung des in der Landwirtschaft angelegten Kapitals. Sie ist in dieser Hinsicht Ausdruck der rückständigen Produktivkraftentwicklung in dieser Sphäre.212 das Gesetz des Werts zu verletzen. Es ist dies der Punkt, um den sich der theoretische Streit seit den Physiokraten bis heute dreht.« (MEW 30: 274.). 209 Die absolute Rente ist daher mehr als »Illustration des Unterschieds von Werth und Productionspreiß« (ÖM V 1861). Zur Illustrationsthese vgl. Marx’ Brief an Engels vom 2. August 1862: MEW 30: 263. Der These widerspricht Marx, wenn er die Untersuchung des Bodenpreises »als ein Hauptproblem der politischen Oekonomie« (ÖM VI 2190) bezeichnet. 210 Anders Bensch (1998). 211 K III 704/770. 212 Marx verweist in diesem Zusammenhang auf die raschere »Entwicklung der mechanischen Wissenschaften, (und namentlich ihrer Anwendung) [in der verarbeitenden Industrie], verglichen mit der spätern und zum Theil ganz

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Die Differentialrente ist ebenfalls konstituiert durch den Eigentumstitel auf den Boden. Er ist das Machtmittel, mit dem sich der Grundeigentümer den Extraprofit agrikoler Kapitale aneignet. Ökonomisch gründet die Differentialrente in dem modifizierten Produktionspreis des in der Landwirtschaft (und extraktiven Industrie) angelegten Kapitals. Der die Marktpreise für eine Produktenart dieser Zweige regulierende Produktionspreis ist der desjenigen Warenprodukts, welches auf dem schlechtesten, keinen Extraprofit ermöglichenden Boden produziert wird. Dagegen ist der Produktionspreis bisher bestimmt als Preis desjenigen Warenprodukts, welches unter den herrschenden allgemeinen Produktionsbedingungen produziert wird.213 Die Modifizierung des Produktionspreises agrikoler Kapitale ist unabhängig von der Existenz des Grundeigentums. Sie gründet darin, dass die Produktionsbedingungen in der Landwirtschaft nicht derart verallgemeinerbar sind wie in den anderen Bereichen der Produktion. Weil und insofern in der Agrikultur kein Durchschnittsboden herstellbar ist, gibt es keine allgemeinen, sondern nur außergewöhnliche Bedingungen. Weil die natürlichen Bedingungen der Produktion unabhängig vom Prozess des industriellen Kapitals gegeben sind, können sie nicht vollständig in ihn aufgehoben werden. Die durch die nicht produzierbaren natürlichen Produktionsbedingungen erzwungene Modifizierung des Produktionspreises führt zur Fixierung des Extraprofits der Kapitale, die auf besserem Boden produzieren. Die ökonomische Basis der absoluten Rente, die vergleichsweise niedrige sogenannte organische Zusammensetzung der agrikolen Kapitale, ist eine historisch verschwindende. Nur unter der Bedingung der technischen Rückständigkeit der Agrarproduktion liegt der dort produzierte Mehrwert über dem Durchschnittsprofit. Entfällt die Bedingung, entfällt die ökonomische Basis der absoluten Rente, aber nicht notwendig auch die ökonomische Wirkung des privaten Grundeigentums.214 Eine »fak­ tische, wenn auch nicht juristische, Aufhebung des Grundeigenthums« jungen Entwicklung der Chemie, Geologie, und Physiologie (und namentlich wieder in ihrer Anwendung auf die Agricultur)«. (K III 702/768). 213 Vgl. ÖM III 851 f. 214 »Dieser Unterschied [der sog. organischen Zusammensetzung des agrikolen Kapitals im Vergleich zum gesellschaftlichen Durchschnitt] ein historischer; kann also verschwinden. Dieselbe Schlußfolge, die die Existenz der absolu­ ten Grundrente als möglich zeigt, zeigt […] ihre Existenz als blos historisches fact, das einem gewissen Entwicklungsgrad der Agricultur eigen, auf einem höhren verschwinden kann.« (ÖM III 886). Marx unterscheidet hier nicht zwischen der ökonomischen Grundlage der absoluten Rente, welche mit der Angleichung der sog. organischen Zusammensetzung in der Landwirtschaft an den Durchschnitt des gesellschaftlichen Kapitals verschwindet, und der im Privateigentum an Boden begründeten Macht der Grundeigentümer, sich einen Teil des Mehrwerts anzueignen.

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wäre dann gegeben, wenn »der Grundeigenthümer selbst Capitalist oder der Capitalist selbst Grundeigenthümer ist« (K III 693/759). »In diesem Fall«, so Marx 1862 an Engels, »bietet agriculture no peculiar resistance to the application of capital. Es bewegt sich dann in diesem Element so ungeniert wie in dem andern.« (MEW 30: 267)215 Sind aber Grundeigentümer und Kapitalist nicht identisch, bleibt mit dem Fortbestand des Grundeigentums auch seine ökonomische Wirkung. Nach wie vor muß jedes in Boden ausgelegte Kapital eine Rente zahlen. Die absolute Rente kann jetzt nur aus einer Umverteilung des gesamtgesellschaftlich produzierten Mehrwerts resultieren.216 Die ökonomische Basis der Differentialrente, der modifizierte Produktionspreis, bildet die bleibende Grundlage des Differentialprofits. Die durch den modifizierten Produktionspreis bewirkte Fixierung des Extraprofits berührt die Gleichung, wonach bezogen auf das gesellschaftliche Kapital die Summe der Werte = der Summe der Produktionspreise.217 Unter Einschluss der Zweige der agrikolen und extraktiven Industrie ist die Summe der Werte größer als die der Produktionspreise. Sie ist aber gleich der Summe der Produktionspreise plus dem aufgrund des modifizierten Produktionspreises fixierten Extraprofits in diesen Zweigen, denn der Extraprofit, der einer Steigerung der Produktivkraft der Arbeit und nicht zufälligen Zirkulationsgegebenheiten geschuldet ist, ist Resultat wertbildender Arbeit. Auch hier findet eine Umverteilung des vom gesellschaftlichen industriellen Kapital produzierten Mehrwerts statt. Die Totalität der individuellen industriellen Kapitale, welche nicht in der Landwirtschaft oder extraktiven Industrie angelegt sind, ist von den dort fungierenden Kapitalen technisch abhängig. In Gestalt der in diesen Produktionszweigen herrschenden »falschen« Produktionspreise218 und der dauerhaft installierten Extraprofite bezahlt das Kapital insgesamt für seine Abhängigkeit von Naturbedingungen, die es selbst nicht produzieren kann. Mit der Bestimmung der absoluten und der Differentialrente ist die Wert-Produktionspreis-Theorie begründet. Die Abstraktion von der 215 Vgl. K III 693/759. 216 Der »schädliche« ökonomische Effekt des Grundeigentums könnte nur durch die Beseitigung des Grundeigentums selbst beseitigt werden. Das aber würde die Grundlage der kapitalistischen Produktion, Privateigentum an Produktionsmitteln, in Frage stellen. Vgl. ÖM III 700 f.; vgl. K III 674/635 f. 217 Was Marx nicht thematisiert. 218 Vgl. K III 772/673. Marx zufolge geht der Extraprofit in der Agrikultur zu Lasten »der Gesellschaft«. Die Ausführungen können insofern verwirren, als er dem »falschen«, gemäß Kapital und Grundeigentum gebildeten Produktionspreis der Agrikulturprodukte, den »wirklichen« kontrastiert, dieser aber Produktionspreis unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft sein soll.

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Naturbasis der Produktion, die zunächst als Gleichgültigkeit des Werts gegen die stoffliche Verschiedenheit der auszutauschenden Naturalformen erscheint und bleibende Grundlage der systematischen Entwicklung des Wertbegriffs ist, ist jetzt gerechtfertigt. Insofern die Revenueform Rente Teil des Mehrwerts des gesellschaftlichen Kapitals ist, ist sie werttheoretisch bestimmt; insofern sie durch den Eigentumstitel am Boden konstituiert ist, ist sie nicht vollständig in Wertbestimmungen aufzulösen, sondern gründet in Eigentumsverhältnissen, in denen die gewaltsame ursprüngliche Besitznahme des Bodens in die Form eines Rechtsverhältnisses gebracht ist. Insofern die Rente Teil des gesamtgesellschaftlichen Mehrwerts ist, ist sie quantitativ bestimmt; insofern dieser Teil des Mehrwerts qua Eigentumstitel am Boden angeeignet wird, fällt die quantitative Bestimmtheit der Rente außerhalb des Wertgesetzes. Sie ist willkürlich und abhängig von dem Kräfteverhältnis zwischen Kapitalisten und Grundeigentümern. Die anfängliche Abstraktion von der Naturbasis der Produktion bestimmt die Arbeit zum Wertbildner und schließt die Natur als Wertbildner aus.219 In ihr ist Wert bereits als spezifisch historische, bürgerliche Form des gesellschaftlichen Reichtums bezeichnet, nicht als bloßer Titel für stofflichen Reichtum überhaupt.

2.4. Fortschritte und Rückschritte im Begriff der Ökonomie Die im Kapital der Sache nach erreichten Einsichten in den Zusammenhang von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen (1), in die Differenz zwischen materieller Produktion und Ökonomie (2) und in die zwischen technischer und ökonomischer Rationalität (3) erhellen zugleich die Unzulänglichkeiten der früheren Schriften. (1) Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse: Die in der Deut­ schen Ideologie angedeutete und im Vorwort von Zur Kritik der Po­ litischen Ökonomie dann betonte ›Dialektik‹ von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen lässt offen, was darunter zu verstehen ist, dass die Produktionsverhältnisse den Produktivkräften entsprechen oder nicht entsprechen, behauptet sie aber gleichwohl als Motor der Geschichte. Soll es sich bei dieser Dialektik um ein objektives Prinzip 219 Die Abstraktion von der stofflichen Basis der Produktion zu Beginn der Werttheorie erweist sich damit als Abstraktion vom Grundeigentum: »Ferner wird das Grundeigentum = 0 gesetzt, d.h. das Grundeigentum als besondres ökonomisches Verhältnis geht hier noch nichts an. Nur durch diesen Gang ist es möglich, nicht stets bei allen Verhältnissen von allen zu sprechen.« Marx an Engels am 2. April 1858 (MEW 29: 315).

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der Geschichte als zeitliche Abfolge verschiedener Produktionsweisen handeln, dann müssen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse in einem notwendigen, systematischen Zusammenhang stehen. Diesen Zusammenhang hat Marx erst in der Mehrwerttheorie des Kapitals begründet, welche aber nur für die entwickelte kapitalistische Produktionsweise, nicht für die ihr vorhergehenden Epochen Geltung beansprucht.220 Eine der Geschichte immanente Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, die letztere ›automatisch‹ sprengt und schließlich auch über die kapitalistischen Produktionsverhältnisse hinausführt, wird durch manche Formulierungen von Marx und Engels, nicht aber durch die Kapitaltheorie gestützt. (2) Materielle Produktion überhaupt vs. Ökonomie: In den Schriften, die der ausgearbeiteten Mehrwerttheorie vorausgehen, hat Marx den ökonomischen Grund des systematischen Zusammenhangs von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, die Mehrwertproduktion des gesellschaftlichen industriellen Kapitals, noch nicht begriffen. Er begründet diesen Zusammenhang dort nicht ökonomisch, sondern behauptet ihn im Medium der materialistischen Geschichtsauffassung als gültig für alle Epochen der historischen Menschheit. Produktivkräfte bilden demnach in der menschlichen Geschichte das unbedingte Element, welches die Produktionsverhältnisse determiniert. »Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte«, so Marx 1847 im Elend der Philosophie, »verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise […] verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.« (EP 291/130) »Setzen Sie einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte der Menschen voraus«, heißt es ein Jahr zuvor in einem Brief an Annenkow, »und Sie erhalten eine bestimmte Form des Verkehrs (commerce) und der Konsumtion.« (MEW 27: 452) Aus der Perspektive dieser Geschichtsauffassung sind materielle gesellschaftliche Reproduktion und Ökonomie identisch. Deshalb schreibt Marx an Annenkow: Wer wie Proudhon die »der historischen Entwicklung der Menschheit« zugrunde liegende Determination der Verkehrsformen durch die Produktivkräfte nicht verstehe, sei »unfähig […], die ökonomische Entwicklung zu begreifen« (MEW 27: 452). Aus der Perspektive der Kapitaltheorie muss aber zwischen Ökonomie und 220 G.A. Cohens (1978: 423) Anspruch, die These von der Determination der Produktionsverhältnisse durch die Produktivkräfte unter Verzicht auf die Werttheorie zu begründen, geht deshalb an der marxschen Theorie vorbei. Reichelts (1987: 309) Rede von zwei gleich gültigen »Dialektikversionen«, die der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse und die der Wertbewegung, trifft nur für das ›marxsche Denken‹ zu.

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materieller gesellschaftlicher Reproduktion unterschieden werden. Der Sache nach ist hier erkannt, dass erst die materielle Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft sich rein ökonomisch darstellen lässt und dass der Begriff der kapitalistischen Ökonomie die Voraussetzung dafür ist, retrospektiv andere Epochen im Hinblick auf ihre materielle Produktion bzw. ›Ökonomie‹ zu verstehen. »Die bürgerliche Gesellschaft ist die entwickeltste und mannigfaltigste historische Organisation der Produktion«, so Marx in der Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie. Das Verständnis ihrer Gliederung gewähre daher zugleich Einsicht in die Gliederung und die Produktionsverhältnisse untergegangener Gesellschaftsformen. Die bürgerliche Ökonomie liefere den Schlüssel zur antiken, ohne dass dabei aber die historischen Unterschiede übersehen werden dürften. Die vorbürgerlichen Gesellschaftsformen können die »Categorien der bürgerlichen Oekonomie« in sehr verschiedener Weise: »entwickelt, verkümmert, karikirt etc. enthalten, immer in wesentlichem Unterschied« (EKPÖ 40/40). Erst die kapitalistische Produktionsweise hat den Charakter eines in sich subsistierenden Systems, dessen Begriff als Abfolge ökonomischer Formbestimmungen zu entwickeln ist. Marx zufolge setzt der Prozess des gesellschaftlichen industriellen Kapitals seine wesentlichen Voraussetzungen aus sich selbst. Das Kapital produziert seine gegenständlichen Bedingungen entweder selbst und mit ihnen zugleich auch deren ökonomische Formbestimmtheiten, oder es unterwirft gegenständliche Bedingungen, die es nicht selbst produzieren kann, seinen ökonomischen Formbestimmungen. Es produziert beispielsweise nicht nur Maschinen, sondern Maschinen, die dazu bestimmt sind, als Capital fixe zu fungieren. Zwischen der Bestimmung der Maschine als einem Produktionsmittel und ihrer Bestimmung als Capital fixe besteht ein eminenter Unterschied. Als Produktionsmittel kann die Maschine in jeder denkbaren Gesellschaft fungieren, soweit in dieser Gesellschaft das Wissen und die technischen Voraussetzungen für ihren Betrieb gegeben sind. Als Capital fixe kann die Maschine dagegen nur in einer kapitalistischen Ökonomie fungieren. Und innerhalb einer kapitalistischen Ökonomie kann eine Maschine ökonomisch gesehen nur dann fungieren, wenn sie als Capital fixe fungiert, also unbezahlte Arbeit ›einsaugt‹, während sie in technischer Hinsicht auch dann betrieben werden könnte, wenn sie dies nicht tut. Ein Betrieb kann ökonomisch pleite sein, obwohl er über hochmoderne Produktionstechnik verfügt. Und das Kapital unterwirft gegenständliche Bedingungen, die es nicht unmittelbar selbst produzieren kann, seinen ökonomischen Formbestimmungen. So produziert es zwar nicht Menschen als Träger der Arbeitskraft (ebenso wenig wie Grund und Boden), wohl aber die Warenform der Arbeitskraft. Im entwickelten Kapitalverhältnis ist die Warenform der Arbeitskraft durch die Produktion selbst gesetzte Voraussetzung der 283

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Produktion. Historisch dagegen ist sie der Arbeitskraft akzidentell. Zwar gibt es in jeder denkbaren Gesellschaft Arbeitskräfte, also Menschen, die das Vermögen zu arbeiten besitzen, aber nur in der kapitalistischen Gesellschaft hat das Arbeitsvermögen notwendig Warenform, und es ist das Kapital selbst, welches sie setzt. Der kapitalistische Reproduktionsprozess, so Marx im Kapital, »producirt also nicht nur Waare, nicht nur Mehrwerth, er producirt und reproducirt das Kapitalverhältniß selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der andren den Lohnarbeiter« (K I² 534/604). (3) Technische vs. ökonomische Rationalität: Weil und insofern die entwickelte kapitalistische Produktionsweise als ein in sich subsistierendes System erkannt ist, lässt sich historisch erstmals zwischen ökonomischer und nicht-ökonomischer Rationalität und zwischen ökonomischen Bestimmungen und nicht-ökonomischen, etwa rechtlichen und technischen Bestimmungen strikt unterscheiden. In vorkapitalistischen Gesellschaften gibt es keine rein ökonomischen Bestimmungen, vielmehr sind ökonomische, technische und rechtliche Bestimmungen »sachlich, dem Ge­ halte nach unzertrennbar ineinander verflochten« (Lukács 1923: 231).221 Die Einsicht in die drei genannten Unterscheidungen sind der Sache nach in den Vorarbeiten zur Kapitaltheorie und im Kapital selbst erreicht, aber von Marx nicht immer angemessen berücksichtigt worden. Dadurch entsteht bisweilen der falsche Eindruck, die Kapitaltheorie sei mit seiner früher skizzierten materialistischen Geschichtsauffassung vereinbar. So betont Marx einerseits, die ökonomischen Bestimmungen der kapitalistischen Produktionsweise besäßen auch »eine Wahrheit« für die vorkapitalistischen Gesellschaftsformen, allerdings gelte dies nur »cum grano salis« und unter Beachtung des »wesentliche[n] Unterschied[s]«. (EKPÖ 40/40) Andererseits zieht er diesen wesentlichen Unterschied wieder ein, wenn er behauptet: »Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen.« Marx erweckt hier den Anschein, ökonomische Unterscheidungen seien durch die »technologische Vergleichung verschiedner Produktionsepochen« zu gewinnen und Arbeitsmittel seien per se »auch Anzeiger der gesellschaftlichen Verhältnisse, worin gearbeitet wird« (K I² 194/194 f.). Nun resultieren aus dem ›technologischen‹ Vergleich von 221 Vgl. Anderson (1974: 522 f.); vgl. K I² 209/210 f. Anm. 17: In der auf Sklaverei beruhenden Produktion der Antike gilt es »als ökonomisches Princip […] nur die rohesten, schwerfälligsten, aber grade wegen ihrer unbehülflichen Plumpheit schwer zu ruinirenden Arbeitsinstrumente anzuwenden«. Denn der Arbeiter, der gesellschaftlich als instrumentum vocale gilt im Unterschied zum Tier als instrumentum semivocale und dem Arbeitszeug als instrumentum mutum, lässt »Thier und Arbeitszeug fühlen, daß er nicht Ihresgleichen, sondern ein Mensch ist. Er verschafft sich das Selbstgefühl seines Unterschieds von ihnen, indem er sie mißhandelt und con amore verwüstet.«

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Epochen unmittelbar nur technologische Unterschiede. Diese lassen zwar Rückschlüsse auf die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit und das technisch-praktische Wissen einer Gesellschaft zu, nicht aber auf deren ökonomische Verfassung. Ebenso wenig ist den Arbeitsmitteln anzusehen, in welchen gesellschaftlichen Verhältnissen gearbeitet wird. Gesellschaftliche Verhältnisse sind wesentlich Produktionsverhältnisse. Der Begriff des Produktionsverhältnisses bezeichnet das historisch spezifische Verhältnis, in dem die unmittelbaren Produzenten zu den Eigentümern der Produktionsmittel stehen und somit die historisch spezifische »Form, in der unbezahlte Surplusarbeit aus den unmittelbaren Producenten ausgepumpt wird« (K III 732/799). Einem Hammer, einer Maschine oder einem Maschinensystem sind die Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse, in denen sie zur Anwendung kommen, und ist der Zweck der gesellschaftlichen Produktion nicht anzusehen. Marx hat richtig gesehen, dass die ökonomische Unterscheidung von Werkzeug und Maschine sich nicht in naturwissenschaftlich-technischen Bestimmungen erschöpfen kann. Mathematiker, Mechaniker und teilweise auch Ökonomen »erklären das Werkzeug für eine einfache Maschine und die Maschine für ein zusammengesetztes Werkzeug. Sie sehn hier keinen wesentlichen Unterschied und nennen sogar die einfachen mechanischen Potenzen, wie Hebel, schiefe Ebne, Schraube, Keil u.s.w., Maschinen. In der That besteht jede Maschine aus jenen einfachen Potenzen, wie immer verkleidet und kombinirt. Vom ökonomischen Standpunkt jedoch taugt die Erklärung nichts, denn ihr fehlt das historische Element.« (K I² 363/392) Das historische Element kommt dann zum Tragen, wenn berücksichtigt wird, dass Werkzeug und Maschine Arbeitsmittel sind. Als Arbeitsmittel gehen sie nicht in technischen Bestimmungen auf, sondern umfassen das Verhältnis der Menschen zur Natur und zueinander. Dieses Verhältnis unterliegt einer historischen Entwicklung und erfährt mit dem Übergang von der Manufaktur zur großen Industrie eine einschneidende Veränderung. Mit der Einführung der Maschine und weiter dem Maschinensystem »emancipirt« sich die materielle Produktion »von der organischen Schranke, wodurch das Handwerkszeug eines Arbeiters beengt wird« (K I² 365/394). Die Produktion wird unabhängig von den Schranken, die ihr bislang durch die menschliche Physis, das besondere Geschick und die Erfahrung der Individuen gesetzt waren. Die große Industrie basiert auf der technischen Anwendung der Resultate der Naturwissenschaften. Der Produktionsprozess wird hier ohne Rücksicht auf individuelle Besonderheiten der Arbeiter »in seine konstituirenden Phasen analysirt« und das Problem der Verbindung der verschiedenen Teilprozesse »durch technische Anwendung der Mechanik, Chemie u.s.w. gelöst« (K I² 371/401). Anders als Marx in diesen Passagen suggeriert, erfüllt die Berücksichtigung des ›historischen Elements‹ in der skizzierten Weise allein noch 285

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nicht die Ansprüche, die vom ›ökonomischen Standpunkt‹ aus an die Unterscheidung von Werkzeug und Maschine gestellt werden müssen. Soweit das historisch variierende Verhältnis, in das die Menschen durch die Arbeitsmittel zur Natur und zueinander treten, nur nach seiner technisch-praktischen Seite thematisiert wird, resultiert daraus nur eine anthropologisch fundierte Entwicklungstheorie, die um die menschliche Arbeit und deren Charakteristika kreist: den Gebrauch und die Schöpfung von Arbeitsmitteln. Marx selbst hat in einer solchen »kritische[n] Geschichte der Technologie« ein Desiderat gesehen. »Darwin hat das Interesse auf die Geschichte der natürlichen Technologie gelenkt, d.h. auf die Bildung der Pflanzen- und Thierorgane als Produktionsinstrumente für das Leben der Pflanzen und Thiere. Verdient die Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen, der materiellen Basis jeder besondren Gesellschaftsorganisation, nicht gleiche Aufmerksamkeit?« (K I² 364 Anm. 89/392 f. Anm. 89) Sollte das Kapital eine solche Geschichte sein, hätte es statt mit der Ware mit der Arbeit zu beginnen.222 Marx hat aber weder im Kapital noch in anderen Schriften eine »Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen« ausgeführt. Sollen Werkzeug und Maschine ökonomisch unterschieden werden, müssen das kapitalistische Produktionsverhältnis, in dem sie Anwendung finden, und der mit diesem Produktionsverhältnis gesetzte Zweck der gesellschaftlichen Produktion, die Produktion von akkumulierbarem Mehrwert, berücksichtigt werden. Dabei zeigt sich, dass die kapitalistische Anwendung der Maschine einer spezifisch ökonomischen Rationalität unterliegt, die die Beziehung der Arbeiter zu diesem Arbeitsmittel und damit ihre Beziehung zur Natur und zueinander in einer Weise bestimmt, welche die emanzipatorischen Potenzen, die mit maschineller Produktion für die unmittelbaren Produzenten und die Gesellschaft gegeben sind, konterkariert. Denn während die Einführung maschineller Produktion aufgrund der mit ihr einhergehenden Steigerung der Produktivkraft der Arbeit die Möglichkeit eröffnet, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zugunsten vermehrter freier Zeit zu reduzieren, bezweckt ihre kapitalistische Anwendung allein die maximale Ausdehnung der Mehrarbeitszeit. Während Marx mit dem Unterschied zwischen technischer und ökonomischer Rationalität einerseits den zwischen industrieller Produktion 222 Dagegen heißt es schon in den Grundrissen: »Um den Begriff des Capitals zu entwickeln ist es nöthig nicht von der Arbeit, sondern vom Werth auszugehn und zwar von dem schon in der Bewegung der Cirkulation entwickelten Tauschwerth. Es ist ebenso unmöglich direkt von der Arbeit zum Capital übergehen, als von den verschiednen Menschenracen zum Banquier.« (Gr 183/183 f.).

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in abstracto und industrieller Produktion unter kapitalistischen Bedingungen herausarbeitet, verwischt er ihn andererseits auch immer wieder und droht damit hinter den erreichten Erkenntnisstand zurückzufallen. So hält er einerseits den Unterschied zwischen einer möglichen nicht-kapitalistischen und der tatsächlich kapitalistischen Anwendung der Maschine in prägnanter Weise fest, wenn er betont, dass »die Maschinerie an sich betrachtet die Arbeitszeit verkürzt, während sie kapitalistisch angewandt den Arbeitstag verlängert, an sich die Arbeit erleichtert, kapitalistisch angewandt ihre Intensivität steigert, an sich ein Sieg des Menschen über die Naturkraft ist, kapitalistisch angewandt den Menschen durch die Naturkraft unterjocht, an sich den Reichthum des Producenten vermehrt, kapitalistisch angewandt ihn verpaupert u.s.w.« (K I² 424/465) Andererseits zieht er den Unterschied wieder ein, wenn er »die technische Basis« der modernen Industrie als »revolutionär« bezeichnet. Das Prinzip der großen Industrie, jeden Produktionsprozess in seine konstituierenden Elemente aufzulösen, habe die »ganz moderne Wissenschaft der Technologie« geschaffen, die den Produktionsprozess planmäßig organisiere und die erwünschten Nutzeffekte durch »systematisch besonderte Anwendungen der Naturwissenschaft« herbeiführe. »Die moderne Industrie betrachtet und behandelt die vorhandne Form eines Produktionsprozesses nie als definitiv. Ihre technische Basis ist daher revolutionär, während die aller früheren Produktionsweisen wesentlich konservativ war. Durch Maschinerie, chemische Processe und andre Methoden wälzt sie beständig mit der technischen Grundlage der Produktion die Funktionen der Arbeiter und die gesellschaftlichen Kombinationen des Arbeitsprocesses um.« (K I² 465/511) Sicher kann die industrielle Produktion als ›revolutionär‹ bezeichnet werden, wenn damit gemeint ist, dass sie nicht bloßes Moment im kontinuierlich fortschreitenden historischen Prozess der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit ist. Schließlich sind die Menschen mit ihr erstmals in der Lage, Naturkräfte für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess systematisch zu kontrollieren und für ihre Zwecke zu nutzen.223 Marx zielt aber, wenn er die industrielle Produktion hier als ›revolutionär‹ bezeichnet, nur nebenher auf ihren Vergleich mit historisch vorangegangenen Weisen der Produktion. Revolutionär sei sie vor allem deshalb, weil sie keine Gestalt der Produktionstechnik als definitiv betrachte und ihre technische Basis beständig umwälze. Es ist bezeichnend, dass die Anmerkung zu dieser Passage das Kom­ munistische Manifest zitiert: Die Bourgeoisie könne nicht existieren, ohne fortwährend die Produktion umzuwälzen. Im Manifest hat Marx 223 Bensch (2021: 7) spricht von einer »Analogie« von »einmal etablierte[r] Naturwissenschaft« und »einmal etablierte[r] große[r] Industrie«. Beide blieben »fortwährend akkumulativ revolutionär«.

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den ökonomischen Grund des systematischen Zusammenhangs von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen und damit den Unterschied von technischer und ökonomischer Rationalität noch nicht erkannt. Dieser ist aus dem Kapital zu ergänzen: In der Tat ist es die Bourgeoisie, genauer: die Klasse der fungierenden industriellen Kapitalisten, die ohne fortwährende Erneuerung der Produktionstechnik nicht existieren kann, und zwar deshalb, weil die Einführung effizienterer Technik das entscheidende Mittel ist, dem ›Sachzwang‹224 der Kapitalverwertung zu genügen. Revolutionär im angegebenen Sinn ist deshalb das Kapital, nicht aber seine technische Basis für sich betrachtet. Diese ist unter Absehung vom kapitalistischen Produktionsverhältnis und dem mit diesem gesetzten Zweck gesellschaftlicher Produktion weder revolutionär noch nichtrevolutionär. Mit der wissenschaftsbasierten Produktion und der ›ganz modernen Wissenschaft der Technologie‹ ist nur die Möglichkeit, nicht aber schon die Wirklichkeit oder gar die Notwendigkeit der fortwährenden Umwälzung der Produktion gegeben. So wie im Manifest die Produktivkräfte als Subjekt der ›Empörung‹ gegen die Produktionsverhältnisse figurieren,225 figuriert im Kapital mitunter die »moderne Industrie« als das Subjekt, welches »die vorhandne Form eines Produktionsprocesses nie als definitiv« betrachtet. (K I² 465/510 f.) Marx bewegt sich mit solchen Formulierungen nicht auf dem erreichten Erkenntnisstand und provoziert das Missverständnis, Kapitalkritik und materialistische Geschichtsauffassung seien kompatibel. Darüber hinaus leistet er einer mystifizierenden Auffassung der Technik Vorschub, die ihre spezifisch kapitalistische Anwendung mit der Qualität von Technik überhaupt identifiziert und die kapitalistische ›Produktion um der Produktion willen‹ als der Technik inhärente Tendenz behauptet, die dann als Verhängnis kritisiert oder als technische Utopie affirmiert wird.

3. Marx’ Ideologiebegriff und der Ideologiebegriff des Kapitals Nach der materialistischen Geschichtsauffassung und ihrem Basis-Überbau-Schema gehören jeder normative Begriff von Wissenschaft und jede normative Ethik aufgrund der ›Selbständigkeit‹, die sie gegenüber ›den wirklichen Verhältnissen‹ beanspruchen, in den Überbau und sind damit 224 Affirmiert in der Rede von der ›Industriegesellschaft‹. Der Terminus erweckt den Anschein, »als folgte das Wesen der Gesellschaft geradewegs aus dem Stand der Produktivkräfte, unabhängig von deren gesellschaftlichen Bedingungen« (Adorno 1972: 364). 225 Vgl. MKP 467.

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eine ideologische Gestalt gesellschaftlichen Bewusstseins, die Gegenstand der Kritik ist.226 Nun konnte gezeigt werden, dass das tatsächliche Vorgehen der Kapitalkritik nicht dem propagierten Verfahren entspricht. Marx’ verbale Bestätigung der materialistischen Methode ist durch die Darstellung des Kapitals nicht gedeckt. Dem Kapital liegt ein normativer Begriff von Wissenschaft zugrunde, der mit der materialistischen Geschichtsauffassung unvereinbar ist, weil er eine spezifische Selbständigkeit des Geistigen gegenüber dem so genannten wirklichen Leben einschließt. Die Selbständigkeit des Geistigen, die die Kapitalkritik der Sache nach in Anspruch nimmt, ist durch die Anerkennung der Autonomie des Denkens und des Geltungsanspruch der Wissenschaft charakterisiert. Dieser Befund besagt zunächst nur, dass die Kapitalkritik die Dimension der Geltung im Hinblick auf die theoretische Erkenntnis der Struktur des Reproduktionsprozesses der bürgerlichen Gesellschaft nicht leugnet, sondern implizit voraussetzt. Er besagt noch nicht, dass sie die Dimension der normativen Geltung auch in praktischer Hinsicht, in Bezug auf Recht und Moral zumindest implizit affirmiert. Allerdings schließt er bereits aus, dass die Kapitalkritik den Anspruch rechtlicher und moralischer Bestimmungen auf normative Geltung durch Rekurs auf das Basis-Überbau-Theorem der materialistischen Geschichtsauffassung als Ideologie entlarven kann. Denn mit der Anerkennung der Selbständigkeit des Geistigen in theoretischer Hinsicht ist das Basis-Überbau-Theorem nicht kompatibel. Der genannte Befund hat unmittelbare Konsequenzen für den Begriff der Ideologie. Offenbar ohne dass Marx dies selbst bewusst ist, tritt im Kapital neben die seit den 1840er Jahren entwickelte Auffassung von Ideologie ein neuer Ideologiebegriff227 – und dies nicht zufällig. Der neue Ideologiebegriff ist ein integraler Bestandteil der Kapitaltheorie. Er resultiert aus der Erkenntnis der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise und ist nicht das Ergebnis einer allgemeinen Geschichtsauffassung. In seinem Zentrum steht nicht die Unterscheidung zwischen Basis und Überbau, wirklichen Lebensverhältnissen und ideologischen Bewusstseinsformen, sondern die zwischen dem kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozess einerseits und dessen ›Oberfläche‹, der Sphäre der Konkurrenz andererseits. Und während die alte Auffassung von Ideologie 226 Motive dieses Abschnitts finden sich bereits in Kuhne (1998); (2017); (2017a). 227 Eagleton (1991: 101) spricht von »einer ganz neuen Ideologiedefinition«. Seine Erläuterung am Beispiel des Abschnitts über den Fetischcharakter der Ware setzt allerdings irreführend ein, wenn er erklärt, »der gesellschaftliche Charakter der Arbeit verbirgt sich [!] hinter der Zirkulation von Waren, die nicht länger als gesellschaftliche Produkte erkennbar sind«. Marx zufolge erscheinen den Produzenten »die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind« (K I²104/87).

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ganz entschieden gegen ›die‹ Philosophie entwickelt wurde, greift Marx jetzt auf die ehrwürdige philosophische Unterscheidung von Wesen und Erscheinung zurück, um das Verhältnis von Gesamtprozess und Konkurrenz zu charakterisieren: »[A]lle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen.« (K III 721/825). Unter den neuen Ideologiebegriff fallen nicht diejenigen Formen des Bewusstseins, die zufolge der alten Auffassung den Überbau konstituieren, sondern allein solche ökonomischen Inhalts. Indem die Kapitaltheorie »die innere Organisation« (K III 853/839) des Gesamtreproduktionsprozesses darstellt, weist sie nach, dass und warum »alles in der Conkurrenz und in dem Bewußtsein der Agenten der Conkurrenz sich verkehrt darstellt« (K III 300/240). Sie begründet damit, warum die der Oberfläche des Gesamtprozesses geschuldeten ökonomischen Vorstellungen der Individuen ideologisch sind und selbst »die besten Wortführer« der Politischen Ökonomie »mehr oder weniger in der von ihnen kritisch aufgelösten Welt des Scheins befangen« (K III 852/838) bleiben. Die alte Auffassung von Ideologie hatte die Politische Ökonomie vom Ideologievorwurf stillschweigend ausgenommen. In der Aufzählung der den Überbau konstituierenden »sämmtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnisse & Formen des Bewußtseins, Religion, Philosophie, Moral &c &c« (DI 45/38) fehlt sie regelmäßig, und es besteht kein Grund, sie unter dem ›&c &c.‹ zu vermuten. Denn während für Religion, Philosophie und Moral gilt, dass sie »die materielle Produktion des unmittelbaren Lebens« und damit ihren »realen Grund« ausblenden; und während sogar die Wissenschaft von Staat und Gesellschaft: die Rechtsphilosophie, die materielle Basis nicht untersucht, sondern ihr System auf der Grundlage »des allgemeinen Willens« (DI 118 ff./63) entwickelt, verhält es sich ganz anders mit der Politischen Ökonomie. »Ricardo’s Theorie der Werthe«, so Marx im Elend der Philosophie, »ist die wissenschaftliche Darlegung des gegenwärtigen ökonomischen Lebens.« (EP 252/81)228 Als Wissenschaft, die selbst die Basis untersucht, erfüllt die Politische Ökonomie gemäß der materialistischen Methode nicht das Kriterium der Ideologie. Freilich: Auch wenn der neue Ideologiebegriff auf notwendig falsches Bewusstsein ökonomischer Sachverhalte beschränkt ist, so ist es doch nicht die Ideologiekritik des Kapitals insgesamt. Vielmehr umfasst sie auch Recht und Moral. Indem Marx zeigen kann, wie die dem Standpunkt der Konkurrenz geschuldeten ökonomischen Vorstellungen der Revenuequellenbesitzer und Politischen Ökonomen notwendig ›verkehrt‹ 228 Freilich ist Ricardo in dem »Irrtum aller Ökonomen« befangen, »welche die Verhältnisse der bürgerlichen Produktion als ewige hinstellen« (EP 324/170).

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sind, meint er auch zeigen zu können, wie die demselben Standpunkt geschuldeten rechtlichen und moralischen Vorstellungen des Alltagsverstands wie der Theorie notwendig falsch sind. Die Einsicht in die Gesamtstruktur des Kapitals ermöglicht es Marx zufolge, den ideologischen Gehalt der bürgerlichen Rechtsvorstellungen von Privateigentum, Vertrag und ihrer naturrechtlichen Grundlagen offenzulegen. Es ist im Folgenden zu zeigen, dass das nicht zutrifft und Marx hier noch der alten Ideologieauffassung anhängt, auch wenn er sie nicht mehr im Rahmen des Basis-Überbau-Schemas entfaltet, sondern in die Unterscheidung von Gesamtprozess und Konkurrenz einpasst. Im Kapital ist zwischen zwei Ideologiebegriffen und damit zwischen zwei Auffassungen von Ideologiekritik zu unterscheiden. Der Ideologiebegriff, der integraler Bestandteil der Kapitaltheorie ist und der Kritik des Bewusstseins ökonomischer Sachverhalte zugrunde liegt, erweist sich als begründet; der Ideologiebegriff, der der Kritik rechtlicher und moralischer Vorstellungen zugrunde liegt, erweist sich als nicht begründet. Marx knüpft mit ihm an die alte Auffassung an. Im Folgenden sei der neue Ideologiebegriff zunächst erläutert (3.1.). Anschließend sei gezeigt, inwiefern nach Marx Bestimmungen des bürgerlichen Rechts und seiner naturrechtlichen Voraussetzungen auf der Grundlage der systematischen Entwicklung des Wertbegriffs als ideologisch aufgewiesen werden können (3.2./3.3.). Weiter sei das Unzulängliche dieser Ideologiekritik thematisiert und das Verhältnis von Kapitaltheorie und praktischer Philosophie erörtert (3.4.).

3.1. Ideologiekritik der Ökonomie Die Kapitaltheorie eröffnet sich den Zugang zu ihrem Gegenstand durch die immanente Kritik der Politischen Ökonomie. Für sie ist der Geltungsanspruch dieser Wissenschaft entscheidend, der zu überprüfen ist. Marx begreift im Kapital die Bestimmungen der Politischen Ökonomie als »objective Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der [kapitalistischen] Waarenproduktion« (K I² 106 f./90). Der Terminus ›objektive Gedankenform‹ ist, wie gesehen, hegelscher Herkunft und der Politischen Ökonomie fremd. Marx’ Charakterisierung der Politischen Ökonomie ist allerdings nicht eindeutig. Einerseits erweckt er den Anschein, als sei von vornherein nur ein Teil dieser Wissenschaft immanenter Kritik zugänglich. Die klassische Ökonomie gehe auf das Wesen, »den innern Zusammenhang« (K I² 111 Anm 32/95 Anm. 32) der Produktionsverhältnisse, die Vulgärökonomie gebe den falschen, der Sphäre der Konkurrenz geschuldeten Vorstellungen einen wissenschaftlichen 291

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Anstrich. Jene sei Wissenschaft, diese Ideologie. Andererseits kritisiert er, auch die klassische Politische Ökonomie habe das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise nicht adäquat bestimmt. Auch sie sei von Beginn an vulgär. Adam Smith etwa bewege sich »mit grosser Naivität in einem fortwährenden Widerspruch«, indem er zunächst »den innren Zusammenhang der ökonomischen Categorien« verfolge, dann aber den Zusammenhang, wie er in der Konkurrenz dem »praktisch Befangenen und Interessirten« erscheine, unmittelbar daneben stelle (ÖM III 816). Ricardo gehe »aus von der Bestimmung der Wertgröße der Ware durch die Arbeitszeit und untersucht dann, ob die übrigen ökonomischen Verhältnisse, Kategorien, dieser Bestimmung des Wertes widersprechen oder wie weit sie dieselbe modifizieren«. Dieses Verfahren habe zwar eine »historische Berechtigung«, sei aber wissenschaftlich unzulänglich und führe »zu irrigen Resultaten«. Ricardo überspringe »nothwendige Mittelglieder« und suche »in unmittelbarer Weise die Congruenz der ökonomischen Categorien unter einander nachzuweisen« (ÖM III 816; vgl. K III 852 f./838 f.). Die Unterscheidung von klassischer und vulgärer Ökonomie soll ein Resultat der Kritik der Politischen Ökonomie überhaupt sein. Ihr Kriterium, die Bestimmung des Warenwerts durch das inkarnierte Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit, ist aber problematisch, da auch die sogenannte klassische Politische Ökonomie bei näherem Hinsehen keine objektive Wertlehre liefert.229 Folgerichtig bezeichnet Marx im Kapi­ tal die »Kategorien der bürgerlichen Ökonomie« – ungeschieden nach klassischer und vulgärer – als »gesellschaftlich gültige, also objective Gedankenformen« (K I² 106/90). Marx zufolge nehmen Smith und Ricardo nicht-empirische Begriffe wie den des Werts und empirische wie den des sogenannten natürlichen Preises230 als unmittelbar gegeben auf. Indem sie derart Bestimmungen des Wesens und der Erscheinung konfundieren, erfassen sie weder das Wesen noch seine Erscheinungsformen richtig. Smith identifiziert den natürlichen Preis mit dem aus der Konkurrenz resultierenden Kostpreis, diesen mit dem Warenwert, der durch die Revenueformen Lohn, Profit, Rente konstituiert ist, welche durch »einen gewöhnlichen oder Durchschnittssatz«, den es in jeder Gesellschaft gibt, bestimmt sind. (Smith 1789: 48 ff.) Smiths Lehre vom natürlichen Preis ist mit seiner anfangs gegebenen Bestimmung, wonach der Wert einer Ware durch das zu ihrer Produktion gesellschaftlich notwendige Quantum Arbeit bestimmt ist, nicht vermittelt und auch nicht vermittelbar. Ricardo übernimmt Smiths 229 Weshalb Marx in einem Brief an Engels (1. August 1877) auch Smith und Ricardo zur Vulgärökonomie zählt (MEW 34: 67). 230 Der natürliche, Durchschnitts- oder Gleichgewichtspreis ist der Preis, um den die aktuellen Marktpreise schwanken.

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Lehre vom natürlichen Preis.231 Auch er kann den Wert nicht zum Preis vermitteln.232 Beide fallen mit ihrer Preistheorie in falsche, der Konkurrenz geschuldete Vorstellungen zurück. In der Konkurrenz finden die einzelnen Kapitalisten die vermeintlich den Wert bzw. Preis ihres Warenprodukts bildenden Elemente als gegebene Größen von Lohn, durchschnittlichem Profit und Rente vor. Statt als Resultate der Zersetzung des gesellschaftlichen Wertprodukts erscheinen sie als gegebene Voraussetzungen des individuellen Produktionsprozesses. »Dieß quid pro quo ist nothwendig.« (K III 885/875) Das Verschwinden der Differenz von Resultat und Voraussetzung, das den »Schein der Conkurrenz« (K III 871 ff./860 ff.) konstituiert, hat seinen Grund im Verwertungsprozess des gesellschaftlichen industriellen Kapitals. Der Schein ist dem Wesen wesentlich. Auch eine im Gedankenexperiment erwogene Oberfläche des kapitalistischen Gesamtprozesses, an der die Wirkungen der Konkurrenz gleich Null wären, wäre durch das genannte Quidproquo charakterisiert. Angenommen, so Marx, »daß die Werthe der Waaren oder die nur scheinbar von ihnen unabhängigen Productionspreisse der Waaren, unmittelbar und beständig in der Erscheinung zusammenfielen mit den Marktpreissen der Waaren, statt vielmehr sich nur als die regulirenden Durchschnittspreisse durchzusetzen durch die fortwährenden Compensationen der beständigen Fluctuationen der Marktpreisse«, und weiter angenommen, »daß die Reproduction immer unter denselben, gleichbleibenden Verhältnissen stattfinde«, schließlich angenommen, dass der durch Zusatz eines neuen Arbeitsquantums in jeder Produktionssphäre gebildete Neuwert (v+m) »sich in gleichbleibenden oder constanten Verhältnissen beständig zersetze in Arbeitslohn, Profit und Rente, so daß der wirklich gezahlte Arbeitslohn, der tatsächlich realisirte Profit, und die wirkliche Rente beständig unmittelbar zusammenfielen mit dem Werth der Arbeitskraft, der Vertheilung des Gesammtmehrwerths auf jeden selbständigen Theil des gesellschaftlichen Capital […] und den Grenzen, worin die Grundrente, normaliter, auf dieser Basis eingebannt ist […] – selbst unter diesen Voraussetzungen würde die wirkliche Bewegung nothwen­ dig verkehrt erscheinen«. Sie würde nicht erscheinen »als Zersetzung einer vorausgesetzten Werthgröße in […] 3 Theile, die von einander unabhängige Revenueformen annähmen, sondern umgekehrt als Bildung dieser Werthgröße als Summe der unabhängig und für sich selbständig bestimmten, sie componirenden Elemente des Arbeitslohns, des Profits und der Grundrente.« (K III 887 f./876 f.) Wirklichkeit hat der Prozess der Selbstverwertung im unmittelbaren Produktionsprozess des Einzelkapitals als Exploitationsprozess der 231 Vgl. Ricardo (1821: 76). 232 Vgl. K I² 183 Anm. 37/181 Anm. 37.

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Arbeitskraft. Doch ist diesem Produktionsprozess des Einzelkapitals logisch vorgeordnet die Totalität des gesellschaftlichen industriellen Kapitals. Die Analyse der Formbewegung des Kapitalwerts im Reproduktionsprozess der Einzelkapitale erweist diese als abhängig von einer Totalität, die sie allererst hervorbringen. Weil kein Einzelkapital ökonomisch und technisch in sich subsistiert und alle Einzelkapitale qua Austausch notwendig auf die Totalität des gesellschaftlichen Kapitals verwiesen sind, welches selbst nicht austauscht, lässt sich der gesellschaftliche Prozess nicht in Analogie zu dem der Einzelkapitale begreifen. Wo die Politische Ökonomie den ›Standpunkt‹ des Einzelkapitalisten einnimmt, erliegt sie deshalb notwendig dessen falschen Vorstellungen.233 Die Einsicht in die Gesetze, die dem Handeln der Revenuequellenbesitzer in der Konkurrenz zugrunde liegen, ist aus der Konkurrenz nicht unmittelbar zu erlangen.234 Die Einsicht in den Bestimmungsgrund der sogenannten natürlichen oder Durchschnittspreise erheischt, wie gesehen, systematische Reflexion auf das Prinzip der gesamtgesellschaftlichen Produktion. Marx unterstellt im ersten und zweiten Band des Kapitals die quantitative Gleichheit von Wert und Preis.235 Ein Grund für die Abweichung der Preise von den Werten kann aus der einfachen Zirkulation nicht entwickelt werden. Er ergibt sich aus der ungleichen so genannten organischen Zusammensetzung (c:v) ökonomisch konkurrierender und technisch voneinander abhängiger industrieller Einzelkapitale.236 Unter der Bedingung, dass Profit nur eine andere Bezeichnung des Mehrwerts ist und eine allgemeine Mehrwertrate existiert, hat das Kapital mit der niedrigsten organischen Zusammensetzung die höchste Profitrate. Paradox formuliert führte der Zwang der Konkurrenz der Einzelkapitale unter dieser Voraussetzung die gesellschaftliche Produktion zurück auf ein archaisches Niveau. Marx löst den Widerspruch, wie gezeigt, durch den Schluss auf die Bestimmtheit der Totalität des gesellschaftlichen industriellen Kapitals und seinen Vorrang vor den Einzelkapitalen. Die allgemeine Profitrate ist die durch diesen Schluss begründete Voraussetzung der Einzelkapitale. Entgegen mancher marxschen Formulierung237 wird sie nicht durch die Konkurrenz gebildet. Die Konkurrenz bezieht die Vielheit der Kapitale negativ aufeinander. Durchschnittsprofit und Produktionspreis drücken aber eine affirmative Beziehung der Kapitale aufeinander aus: ihre Teilhabe am von den Kapitalen aller industriellen Sphären 233 Vgl. ÖM III 816 ff. 234 Vgl. Gr 448/457. 235 Vgl. K I² 182 Anm. 37/180 Anm. 37. 236 Vgl. K III 212 ff./151 ff. 237 Etwa K III 278/218: »Es ist gesagt worden [von Marx], daß die Conkurrenz die Profitraten in den verschiednen Productionssphären zum Durchschnittsprofit p. 100 ausgleicht und eben dadurch in den verschiednen Productionssphären die Werthe in Productionspreisse verwandelt.«

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produzierten Mehrwert gemäß ihrer Größe und ungeachtet ihrer verschiedenen organischen Zusammensetzung. Die affirmative Beziehung der Kapitale aufeinander und damit allgemeine Profitrate und Produktionspreis können deshalb nicht ihren Grund in der Konkurrenz haben. Im Begriff des Durchschnittsprofits und des Produktionspreises ist das Kapital als gesellschaftliches Ausbeutungsverhältnis bestimmt und zugleich ist erklärt, warum dieses Ausbeutungsverhältnis in den natürlichen Preisen ausgelöscht ist. »Der Productionspreiß schließt den Durchschnittsprofit ein. Wir gaben ihm den Namen Productionspreiß – es ist in fact dasselbe was A. Smith ›natural price‹; Ricardo ›price of production‹, ›cost of production‹, die Physiokraten ›prix nécessaire‹ nennen – (keiner derselben hat den Unterschied des Productionspreisses vom Werth entwickelt)«. Der Productionspreis ist »eine ganz veräusserlichte und prima facie begriffslose Form des Waarenwerths […], eine Form, wie sie in der Concurrenz erscheint, also im Bewußtsein des ›hominis capitalis vulgaris‹, und darum auch in dem der Vulgärökonomen, vorhanden ist«. (K III 272/208) Mit dem Begriff des Produktionspreises ist aus dem gesellschaftlichen Verwertungsprozess begründet, was im ersten Abschnitt ›Ware und Geld‹ des ersten Bandes des Kapitals nur bezeichnet werden konnte: die Verkehrung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen in sachliche Eigenschaften ihrer Arbeitsprodukte. Erklärt ist, warum die Preise als Eigenschaften der produzierten Dinge erscheinen müssen und warum die Revenuequellenbesitzer, die als »freie, rechtlich ebenbürtige Personen« (K I² 191/190) kontrahieren und ihren Willen in die Dinge legen, damit nur die diesen Dingen objektiv inhärierenden ökonomischen Bestimmungen realisieren. »Sie wissen das nicht, aber sie thun es.« (K I² 105/88) Ihr Wissen allein würde auch nichts an diesem ›Sachzwang‹ ändern. Der Unterschied von Wesen und Erscheinung ist für die Wissenschaft konstitutiv. »Alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen.« (K III 721/825) Indem sie das Wesen bestimmt, erklärt sie die Erscheinungen. Das Wesen muss erscheinen, wenn es kein Hirngespinst sein soll. Das Wesen, das der materiellen Produktion der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegt, ist das Kapital. Wo, wie und wem erscheint es? Die Frage ist nach Marx beantwortet. Wo? – in der Konkurrenz; wie? – in den ökonomischen Formbestimmtheiten, die es selber produziert; wem? – den Revenuequellenbesitzern, also jedermann. Es könnte scheinen, Marx habe im Kapital zwei Arten von Wesen und Erscheinungsformen eingeführt. Der Wert erscheint in der einfachen Zirkulation als Tauschwert, und insofern der in der Bestimmtheit des Geldes gesetzte Tauschwert der Preis ist, als Preis. Er evoziert die falsche Vorstellung (Schein), wonach sich die Werte/Preise in der Zirkulation bilden. Der Wert erscheint ferner als Produktionspreis. Der Produktionspreis 295

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gründet in der durch die technische Abhängigkeit der Sphärenkapitale voneinander erzwungenen Durchschnittsprofitrate. Erst mit ihm ist die Ware explizit als Produkt des Kapitals bestimmt. Er stellt sich in der Konkurrenz ›begriffslos‹ als gegebener längerfristiger Durchschnitt der Marktpreise oder als natürlicher Preis dar und evoziert die falsche Vorstellung (Schein), wonach die Revenueformen den Wert bzw. Preis des Warenprodukts konstituieren. Im Produktionspreis als Erscheinungsform des Werts und dem ihm korrespondierenden notwendig falschen Bewusstsein ist konkretisiert, was im Tauschwert/Preis und dem entsprechenden notwendig falschen Bewusstsein noch abstrakt dargestellt ist. Diese Abstraktion ist nicht falsch, denn sie modifiziert den Gegenstand nicht wesentlich: bezogen auf die Totalität gilt die Gleichung Summe der Werte = Summe der Produktionspreise, das heißt es gilt das Wertgesetz. Allerdings leistet die Darstellung der notwendig falschen Vorstellungen der Zirkulationsagenten in den ersten Kapiteln des Kapitals dem Missverständnis Vorschub, der systematischen Abfolge der Bestimmungen korrespondierten historische Verhältnisse (›einfache Warenproduktion‹238) und Bewusstseinsformen. Soweit die Subjekte als Revenuequellenbesitzer ihre Interessen in der kapitalistischen Produktionsweise verfolgen, sind die Formbestimmtheiten der Konkurrenz die Formen, in denen ihr Bewusstsein mit der gesellschaftlichen Realität übereinstimmt – freilich nur mit der gesellschaftlichen Realität, wie sie in der Konkurrenz ›verkehrt‹ erscheint. Es sind Formen des ökonomischen »Alltagslebens« (K I² 500/559) und insofern »gesellschaftlich gültige, also objective Gedankenformen« (K I² 106/90). Ein Denken aber, dass diese Gedankenformen affirmiert, sitzt dem ›Schein der Konkurrenz‹ auf. Die Falschheit des Bewusstseins beruht auf einem eingeschränkten Standpunkt, von dem aus das, was seinem Wesen nach Resultat eines Prozesses oder einer ›Bewegung‹, also vermittelt ist, als etwas Unmittelbares erscheint und wahrgenommen wird. Dies ist die Grundstruktur, die Marx zufolge alle gesellschaftlichen Verkehrungen und daher alle entsprechenden Bewusstseinsformen charakterisiert. Das bekannte Wort »Die vermittelnde Bewegung verschwindet in ihrem eignen Resultat und läßt keine Spur zurück« gilt nicht nur für den »falschen Schein«, wonach eine Ware nicht dadurch Geld wird, dass die anderen Waren in ihr ihre Werte darstellen, sondern »umgekehrt« sie ihre Werte in ihr darstellen, weil sie Geld ist (K I² 120 f./107). So wie der Waren- und Geldfetisch darauf beruht, dass von einem Standpunkt innerhalb des Wertausdrucks der Waren oder innerhalb der Warenwelt nicht die ›vermittelnde Bewegung‹ erkannt, sondern nur ihre Resultate, die ›fixierten‹ Gestalten 238 Vgl. Engels’Ausführungen in K III [MEW 25] 909.

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und ›verrückten‹ Formen wahrgenommen werden können, so beruht der Schein der Konkurrenz darauf, dass von einem Standpunkt innerhalb der Konkurrenz die Bewegung nicht begriffen werden kann, die diese Sphäre allererst hervorbringt. Der Standpunkt ist jeweils ein eingeschränkter, und die wissenschaftliche Erkenntnis der vermittelnden Bewegung ist nur zu erlangen, indem dieser Standpunkt transzendiert wird hin auf den der Totalität. Was schon für den Warenfetisch gilt, gilt auch noch für den ›Schein der Konkurrenz‹: das falsche, sprich ideologische Bewusstsein der ökonomischen Akteure hat einen Grund in der Sache, wie sie unmittelbar erscheint. Innerhalb der Warenwelt ist die Geldform mit der Naturalform des Goldes verwachsen, und in der Konkurrenz sind Lohn, Profit und Rente gegebene Voraussetzungen ökonomischen Handelns.239 Auf den ersten Blick scheint die Begründung der Notwendigkeit des falschen Bewusstseins sich mit dem von der materialistischen Geschichtsauffassung propagierten Verfahren der Ideologiekritik zu decken, nämlich aus der bestimmten Art der materiellen gesellschaftlichen Produktion ihre ideellen Formen oder ideologischen ›Nebelbildungen‹ zu erklären. Es hat sich aber bereits gezeigt, dass die Kapitalkritik auf Voraussetzungen beruht, die mit dieser Geschichtsauffassung unvereinbar sind. Auch lässt sich das Resultat der Ideologiekritik im Kapital nicht mit dem propagierten Verfahren in Einklang bringen. Denn notwendig falsch ist das Bewusstsein nicht deshalb, weil es von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens abstrahiert, sondern deshalb, weil es mit ihren Phänomenen unmittelbar übereinstimmt. Es hat ein Fundament in der Sache – aber nur in der Sache, wie sie erscheint. Deshalb erweist sich die Politische Ökonomie, die so verfährt, wie es die Geschichtsauffassung für eine materialistische Theorie fordert, dem Kapital zufolge 239 Der logische Ort der Vermittlung von Struktur und Handlung ist im Kapital die Sphäre der Konkurrenz. Habermas’ Rezeption der Werttheorie als des unzulänglichen Versuchs einer Verknüpfung von System- und Handlungstheorie (1981: II 302 f.; 490 ff.) geht daher an der Sache vorbei. Ebenso die Kritik Giddens’ (1984: 246), Marx beachte zu wenig den Umstand, dass die Strukturbeziehungen »den Handlungen der korrespondierenden Individuen, die sie personifizieren, nicht isomorph« seien. Unzutreffend ist auch die Feststellung, »dass es Marx um eine kritische Sozialontologie geht, die auf der methodologischen Ausblendung der Akteursperspektive zugunsten einer Explikation von Funktionen (Charaktermasken, Personifikationen) beruht« (Quante 2019: 131). Die neuere Sozialphilosophie und Marx-Interpretation misst die Kapitaltheorie in der Regel an vermeintlich überlegenen methodologischen Anforderungen. Aus der Perspektive der Kapitaltheorie erweist sich die Alternative: Struktur- oder Handlungstheorie, als Scheinalternative, und über das Verhältnis von gesellschaftlicher Allgemeinheit und individueller Besonderheit kann nicht auf dem Wege von Methodendiskussionen vorab entschieden werden.

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als Ideologie. Sie begreift die durch den ungegenständlichen Prozess des Kapitals produzierten ökonomischen Phänomene als empirisch erklärbare Tatsachen, ganz so wie die Deutsche Ideologie die Macht des Weltmarkts als »eine empirische Thatsache« (DI 41/37) der philosophischen Fiktion des Weltgeistes entgegenhält. Die Lehre von der Konkurrenz als der Oberfläche des kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozesses ist ein integraler Bestandteil der Darstellung der »innere[n] Organisation der capitalistischen Productionsweise«. Die Kapitaltheorie kann die ökonomischen Formen, in denen die Revenuequellen-Besitzer sich »völlig zu Hause fühlen«, nur dann als »entfremdete[]« und »irrationelle[]« Formen charakterisieren, wenn sie den Mechanismus aufzeigt, der diese »Welt des Scheins« (K III 852 f./838 f.) hervorbringt. Die Einsicht, wonach die mit der Oberfläche unmittelbar übereinstimmenden Vorstellungen der Menschen gerade aufgrund dieser Übereinstimmung notwendig verkehrt und insofern notwendig falsches Bewusstsein sind, bildet den Kern der Ideologiekritik auf dem Feld der Ökonomie. Sie weist aber über das im engeren Sinne ökonomische Thema hinaus auf das Feld der Politik, auch der Tagespolitik. Wenn kapitalistische Herrschaft als solche nicht unmittelbar erfahren werden kann, wenn ›automatisches Subjekt‹ einen tatsächlich subjektlosen Prozess bezeichnet, der nicht in dem bewussten Handeln der Menschen gründet, sondern sich nur durch dieses bewusste Handeln hindurch vollzieht, dann sitzt jeder Versuch, sie als Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit zu fassen, dem Schein der Oberfläche auf.240 Die Kapitalisten sozusagen als dickbäuchige, Zylinder tragende und Zigarren rauchende Individuen für Systemzwänge verantwortlich zu machen, denen sie als Kapitaleigentümer und Unternehmer selbst in spezifischer Weise unterworfen sind, fällt hinter die Einsichten der Kapitaltheorie zurück. Gleichwohl ist es gängige politische Praxis. Da es in der kapitalistischen Produktionsweise keinen Punkt gibt, »dem Ordnungszustände eindeutig zugerechnet werden können«, lässt sich »ein großer Teil der Kapitalismuskritik« in der Tat »als ein Leiden an dieser Unterbestimmtheit begreifen«. Man versucht sie »›wegzuerklären‹, sie mit allerlei Bildern zu kompensieren, in denen der Kapitalismus ein handlungsfähiges Zentrum erhält, das identifiziert und angegriffen werden kann«. (Plumpe 240 Dies trifft auch Pistors (2019) Anspruch, die »politische Ökonomie des Kapitalismus« (325) durch die Erzählung der »Geschichte der rechtlichen Codierung des Kapitals aus der Perspektive des Guts [asset]« (9) zu erklären. Kapital sei »eine rechtliche Qualität, die hilft, Vermögen zu schaffen und zu schützen« (32). Codiert werde es durch Anwälte. Sie seien seit den Anfängen des Kapitalismus »die Herren des Codes«. Heute überwiegend ansässig in den internationalen Kanzleien Londons und New Yorks, bestehe ihr profitables Geschäftsmodell darin, mächtigen Privatinteressen rechtliche Privilegien zu verschaffen.

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2019: 618241) Mit dem handlungsfähigen Zentrum werden dabei immer Personengruppen identifiziert, die verantwortlich gemacht werden für ›den‹ Kapitalismus respektive seine ›Auswüchse‹. Solche Kritik ist kein Privileg des Vulgärmarxismus, sie findet sich quer durch das politische Spektrum, erfordert sie doch auf Seiten der Kritiker ein Minimum an begrifflicher Anstrengung und verspricht deshalb auf Seiten des Publikums ein Maximum an Zustimmung. Die Intentionen, die mit solcher Kritik verfolgt werden, sind sehr verschieden, die Varianten, in denen sie vorgetragen wird, reichen vom Besinnungsartikel in der Qualitätspresse242 über die Irreführung des Publikums im Vorfeld von Wahlen243 bis hin zur Vorbereitung von Pogromstimmung und Massenmord.244 Mit dem eben Gesagten wird nicht bestritten, dass es Klasseninteressen und Klassenkämpfe gibt und dass Akteure identifiziert werden können, die versuchen, die Interessen des Kapitals politisch durchzusetzen. 241 Dass der Kapitalismus »kein Zentrum« besitzt, lässt sich der Kapitaltheorie entnehmen, es bedarf dazu nicht des Rückgriffs auf »das evolutionäre Paradigma« (605; 618). Plumpe schlägt die Kapitaltheorie unter Wert, weil er sie stillschweigend mit dem Marxismus-Leninismus identifiziert. 242 Der Markt höhle »die Gemeinschaft und das Vertrauen aus, ohne die er nicht bestehen kann«, schreibt Heuser (2020) in der ZEIT. »Vielleicht könnte eine bewusste Politik verhindern, dass Oberegoisten das Gemeinschaftsgefühl zerstören und die Ehrlichen verhöhnen.« Wenn es gelinge, »den Zusammenhalt zum wichtigsten Ziel zu erklären«, könnten »wir den Sozialstaat hier und da zurückziehen, um der gelebten Solidarität Platz zu machen«. Das Gemeinschaftsgefühl zu stärken macht demnach den Kapitalismus menschlicher und ist obendrein ökonomisch rentabel. Am kuscheligsten fühlt sich der Kapitalismus in der ›Volksgemeinschaft‹ an, die sich allerdings auf Dauer ohne ›Endsieg‹ gerade nicht rentiert und hier sicher nicht gemeint ist. 243 »Wir müssen denjenigen Unternehmern, die die Zukunftsfähigkeit ihrer Unternehmen und die Interessen ihrer Arbeitnehmer im Blick haben, helfen gegen die verantwortungslosen Heuschreckenschwärme, die im Vierteljahrestakt Erfolg messen, Substanz absaugen und Unternehmen kaputtgehen lassen, wenn sie sie abgefressen haben. Kapitalismus ist keine Sache aus dem Museum, sondern brandaktuell«, so der SPD-Vorsitzende Müntefering (2004: 18). 244 Hitler unterscheidet 1925 zwischen dem »reinen Kapital«, dem »Ergebnis der schaffenden Arbeit«, und »dem internationalen Börsen- und Leihkapital«, »dessen Existenz und Wesen ausschließlich auf Spekulation beruhen« (228 f.). Jenes habe Volk und Staat zu dienen, dieses drohe beide zu zersetzen. ›Internationales Börsen- und Leihkapital‹ ist hier ein Synonym für ›internationales Judentum‹. Im Hinblick auf die KPD spricht Kistenmacher (2010: 148) von einem »personifizierenden Antikapitalismus«, in dem »die ›jüdischen Kapitalisten‹ durch die ganze Epoche der Weimarer Republik hindurch eine besondere Rolle« einnahmen.

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Für die Verbesserung der Verwertungsbedingungen und für eine Umverteilung von unten nach oben einzutreten, ist ein selbstverständliches Anliegen dieser Akteure. Das ändert aber nichts an dem obigen Befund. Solange das Kapital als solches thematisch ist: als eine sich selbst durch die Ausbeutung der Träger der Ware Arbeitskraft reproduzierende Struktur, ist von der eigentlich politischen Sphäre als solcher nicht die Rede. Der Rekurs auf politisches Handeln und Klassenkämpfe erfolgt dann nur, um deutlich zu machen, dass der Staat und staatliches Handeln notwendig sind für die Aufrechterhaltung des Kapitalverhältnisses – siehe das Kapitel über den Arbeitstag im ersten Band des Kapitals. Die Akteure, um die es hier geht: Arbeiter, Kapitalisten, Grundeigentümer, sind im Wesentlichen als ›ökonomische Charaktermasken‹ thematisch. Dagegen muss natürlich eine Untersuchung der »neoliberalen« Transformation des Nachkriegskapitalismus und der jüngsten Finanz-, Fiskal- und Wachstumskrise konkreter werden und »die kapitalistischen Eliten und ihre politischen Verbündeten« (Streeck 2013: 45) in den Blick nehmen. Freilich darf auch sie das Kapital nicht allein in Gestalt seiner »profitabhängigen Eigentümer[] und Verwalter[]« als »Akteur« (Streeck 2013: 47) charakterisieren und es in seiner Qualität als ›automatisches Subjekt‹ (Marx) ignorieren. Denn mit der grundlegenden Struktur des Kapitals gerät auch der Grund der Kritik an ihm aus dem Blick.

3.2. Ideologiekritik des Rechts Die Menschen, die auf dem Markt Waren kaufen und verkaufen, erkennen sich wechselseitig als Privateigentümer an. Sie treten in ein Rechtsverhältnis, das ein Willensverhältnis ist und die Form des Vertrags hat. »Der Inhalt dieses Rechts- oder Willensverhältnisses«, so Marx im ersten Band des Kapitals, »ist durch das ökonomische Verhältniß selbst gegeben.« (K I² 114/99) Weil der Inhalt des Rechtsverhältnisses durch das ökonomische Verhältnis gegeben ist, dieses aber ein spezifisch historisches ist, sei es »Unsinn«, so Marx im dritten Band, mit Gilbart von »natural justice« [natürlicher Gerechtigkeit] zu sprechen.245 »Die justice der transactions, die zwischen den Productionsagenten vorgehn, beruht 245 »Die Gerechtigkeit der Griechen und Römer fand die Sklaverei gerecht: die Gerechtigkeit der Bourgeois von 1789 forderte die Aufhebung des Feudalismus, weil er ungerecht sei. Für die preußischen Junker ist selbst die faule Kreisordnung eine Verletzung der ewigen Gerechtigkeit. Die Vorstellung von der ewigen Gerechtigkeit wechselt also nicht nur mit der Zeit und dem Ort, sondern selbst mit den Personen, und gehört zu den Dingen, worunter, wie Mülberger richtig bemerkt, ›jeder etwas anderes versteht‹.« (Engels, WF 277).

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darauf, daß ihre transactions aus den Productionsverhältnissen als natürliche Consequenz entspringen. Die juristischen Formen, worin diese ökonomischen transactions, als Willenshandlungen, als Aeusserungen ihres gemeinsamen Willens – und vom Staat den individual parties gegenüber erzwingbare Contracte – erscheinen, können als blosse Formen diesen Inhalt selbst nicht bestimmen.« (K III 412 f./351 f.) Die Rechtsbestimmungen sind nur die juristischen Formen eines durch die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise bestimmten ökonomischen Inhalts. »Sie drücken ihn nur aus. Dieser Inhalt ist gerecht, sobald er der Productionsweise entspricht, ihr adaequat ist. Er ist ungerecht, sobald er selben widerspricht. Z.B. Sklaverei, auf Basis der capitalistischen Productionsweise ist ungerecht.« (K III 413/352) Sklaverei ist der kapitalistischen Produktionsweise nicht adäquat und daher ungerecht. Sie existiert zwar bis heute, ist aber für das Kapital nicht konstitutiv. Die kapitalistische Produktionsweise beruht nicht auf ihr, sondern auf der freien Lohnarbeit. Der über seine Arbeitskraft frei verfügende Arbeiter ist eine gegenüber dem Besitzer der Produktionsmittel rechtlich ebenbürtige Person. Sein Wille ist dem des Kapitalisten nicht durch unmittelbare Herrschaft unterworfen wie der Wille des Sklaven dem des Herrn. Vielmehr handelt er seinen Arbeitsvertrag aus freien Stücken mit dem Kapitalisten aus, und der Arbeitsvertrag kann seinen Status als freie Rechtsperson nicht aufheben. Der ökonomisch bestimmte Inhalt des Vertrags ist der Kauf bzw. Verkauf der Arbeitskraft zu ihrem Wert. Nun vermag die Arbeitskraft mehr Wert zu produzieren, als sie selbst hat. Diesen spezifischen Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft erwirbt der Kapitalist und »verfährt dabei den ewigen Gesetzen des Waarenaustauschs gemäß«. Der Verkäufer der Arbeitskraft realisiert wie der Verkäufer jeder anderen Ware ihren Wert und veräußert ihren Gebrauchswert. »Er kann den einen nicht erhalten, ohne den andren wegzugeben. Der Gebrauchswerth der Arbeitskraft, die Arbeit selbst, gehört ebensowenig ihrem Verkäufer, wie der Gebrauchswerth des verkauften Oels dem Oelhändler.« Da die Arbeitskraft zu ihrem Wert gekauft wird, ist die produktive Konsumtion ihres Gebrauchswerts, ihre profitable Anwendung durch den Kapitalisten »durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer«. (K I² 206 f./208)246 Weil und insofern rechtliche Bestimmungen ökonomische Inhalte nur ausdrücken, sind sie gegen diese nicht kritisch in Stellung zu bringen. Das wird besonders deutlich, wenn Marx die entgegengesetzten Interessen von Arbeiter und Kapitalist hinsichtlich der Begrenzung des Arbeitstags 246 Wildt (1997: 220) bezeichnet dies als die »erstaunlichste These im gesamten Werk von Marx«. »Unrecht« habe hier aber »keine nur juristische, sondern (auch) eine moralische Bedeutung; denn andernfalls wäre die These allzu trivial«.

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thematisiert. Die Länge des Arbeitstags ist keine Naturbestimmung und ergibt sich auch nicht exakt aus den Gesetzen des Warenaustauschs. Diese Gesetze besagen nur, dass Waren zu ihren Werten getauscht werden, dass sie von normaler Güte sein müssen und dass der Gebrauch der erworbenen Ware ihren Verkäufer nichts angeht. Nun handelt es sich bei der Arbeitskraft um eine ganz besondere Ware, denn ihr Gebrauch durch den Kapitalisten schafft mehr Wert, als sie hat, und von ihrem Verkäufer, dem Arbeiter, ist sie physisch nicht zu trennen. Die Arbeitskraft ist der »Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren« (K I² 183/181). Der Arbeiter kann sie nicht morgens am Fabriktor abgeben und abends wieder abholen. Der Kapitalist ist daran interessiert, die Arbeitskraft so lange wie möglich anzuwenden, um möglichst viel Mehrwert zu produzieren, der Arbeiter daran, die Verausgabung seiner Arbeitskraft auf ein Maß einzuschränken, das es erlaubt, sie in »normaler Güte« (K I² 188/187) zu reproduzieren. Kapitalist und Arbeiter haben aber nicht nur entgegengesetzte Interessen, sie haben auch entgegengesetzte ›Rechte‹. »Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lange als möglich und wo möglich aus Einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die specifische Natur der verkauften Waare eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Waarenaustauschs besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt.« (K I² 241/249)

›Antinomie‹ meint hier den Widerstreit, der dadurch entsteht, dass Kapitalist und Arbeiter dasselbe Gesetz des Warenaustauschs jeweils zu ihren Gunsten auslegen können, weil sich aus diesem Gesetz die Grenzen des Arbeitstags nur in »elastischen Schranken« (K I² 241/249) bestimmen lassen.247 Diese Schranken sind physischer und moralischer Art. 247 Eine Antinomie im rechtlichen Sinn kann bspw. entstehen, wenn verschiedene Bestimmungen desselben Gesetzes sich in dessen Anwendungsbereich überschneiden, so dass sie durch die Rechtsprechung abgegrenzt werden müssen. »Das gilt z.B. für einzelne Grundrechte und ihre gesetzlichen Einschränkungen.« (Creifelds 2011: 66) Antinomisch ist nach Enzensberger (1988: 75) das Verhältnis von Pressefreiheit und Menschenwürde. Übersetze man Kierkegaards Satz, solange die Tagespresse bestehe, sei das Christentum eine Unmöglichkeit, aus der Sprache der Theologie in die säkularisierte der Verfassungen, so besage er, »daß die Pressefreiheit, zu Ende gedacht, mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Die Bild-Zeitung ist der nackteste Ausdruck dieses Zielkonflikts.«

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Zum einen kann der Arbeiter in 24 Stunden nur eine gewisse Zeit seine Arbeitskraft verausgaben, er muss auch Zeit haben, sich wieder zu erholen. Zum anderen hat er Bedürfnisse, die über die Erhaltung seiner bloßen Physis hinausgehen und historisch-gesellschaftlich, nämlich durch den Stand der Kultur, in der er lebt, bedingt sind. In die Wertbestimmung der Ware Arbeitskraft geht daher – im Unterschied zu anderen Waren – »ein historisches und moralisches Element« (K I² 187/185)248 ein. Der Kampf des Arbeiters dafür, vom Kapitalisten den Wert seiner Ware gezahlt zu bekommen, ist deshalb ein Kampf um die Teilhabe am allgemein erreichten Stand der Kultur. Und dieser Kampf ist nicht der des einzelnen Arbeiters, sondern der seiner Klasse. Der Normalarbeitstag ist »das Produkt eines langwierigen, mehr oder minder versteckten Bürgerkriegs zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse« (K I² 300/316). Der Satz: »Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt«, ist vor dem Hintergrund der »Geschichte der kapitalistischen Produktion« zu sehen, in der die Arbeiter um die gesetzliche Begrenzung der Arbeitszeit kämpfen mussten. Ohne revolutionäres Pathos beschreibt die Kapitalkritik die sukzessive Durchsetzung des Normalarbeitstags im Verlauf »langwieriger Klassenkämpfe« (K I² 285/299) als Durchsetzung eines Ziels, welches sowohl im unmittelbaren Interesse der Arbeiter als auch im objektiven Interesse des Kapitals liegt. Indem die Arbeiter gegen das bornierte Interesse der einzelnen Kapitalisten für den Erhalt ihrer Physis kämpfen, kämpfen sie zugleich für das Interesse des gesellschaftlichen Kapitals am Erhalt der Träger der Ware Arbeitskraft. Dass diese Kämpfe auch ›Kämpfe um das Recht‹ sind, liegt in der Natur der Sache. Denn auch wenn der Inhalt des ›Rechts- oder Willensverhältnisses‹ zwischen Kapitalist und Arbeiter durch das ökonomische Verhältnis selbst gegeben ist, so ist doch die rechtliche Form dieses Verhältnisses nicht einfach gegeben. »Sie muß vielmehr hervorgebracht werden«, und hervorgebracht wird sie »im Kampf um die Bestimmung und Durchsetzung des richtigen Rechtsverständnisses«. (Menke 2015: 300). Mit der Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise ist die Etablierung der privatrechtlichen Absicherung der Produktionsverhältnisse notwendig verbunden. Zugleich artikulieren sich mit ihr aber auch sozialrechtliche Ideen und Ansprüche. Eben weil der Kampf des Arbeiters dafür, vom Kapitalisten den Wert seiner Ware gezahlt zu bekommen, ein Kampf um die Teilhabe am allgemein erreichten Stand der Kultur ist, muss er zu einem 248 Moralisch‹ im Sinne der in einer Gesellschaft faktisch akzeptierten Normen und Werte. Schon das historische und moralische Element der Wertbestimmung spricht gegen Honneths (2011a: 587) These, Marx begreife wie die bürgerliche Ökonomie »alles Handeln nur mehr als Ausfluss marktbezogener Nutzenkalküle« und abstrahiere ganz davon, dass die Absichten der Handelnden »durch Normen vermittelt« seien.

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Kampf um das Rechtsverständnis selbst werden.249 Der rechtliche und moralische Fortschritt ist derart kapitalbestimmt, und die Fabrikgesetzgebung ist »eben so sehr ein nothwendiges Produkt der großen Industrie, als Baumwollgarn, Selfactors und der elektrische Telegraph« (K I² 460/504 f.).250 Es ist für das Verständnis der Kapitalkritik entscheidend, zu sehen, dass der von Marx apostrophierte Arbeiter sich in seinem Kampf mit dem Kapitalisten affirmativ auf das Gesetz des Warenaustauschs bezieht und sich nicht auf diesem transzendente normative Prinzipien beruft.251 Bestimmte rechtliche und moralische Vorstellungen wie die, dass der Gebrauch der Arbeitskraft durch den Kapitalisten nicht zu deren Ruinierung führen darf, sind mit dem Gesetz des Warenaustauschs nicht nur verträglich, sondern erst vor seinem Hintergrund plausibel. Der antike Sklave kann nicht derart argumentieren. Es wäre deshalb ein theoretischer Fehler, ihn und seinen Herrn als ›ökonomische Charaktermasken‹ darzustellen. Als solche Charaktermasken fungieren aber im Kapital Arbeiter und Kapitalist. Wenn Marx im zweiten Kapitel des ersten Bandes die Warenbesitzer, die dem Recht nach freie und gleiche Personen sind, als »Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse« (K I² 114/100) darstellt, deutet er bereits den ideologischen Gehalt der Rechtsformen an, ohne ihn hier schon erklären zu können. Erklärt werden kann er Marx zufolge erst im Zuge der systematischen Entwicklung des Kapitalbegriffs, die deutlich macht, dass die vom bürgerlichen Recht als freie und gleiche Personen gefassten Warenbesitzer realiter Funktionsorgane 249 Gegen Menke (2015: 302), der meint, diese Einsicht gegen Marx festhalten zu müssen. Menke irrt zudem, wenn er auf der Grundlage eines weiten Begriffs der Ausbeutung (461 Fn. 252) meint, die sozialen Kämpfe, die in Gestalt widerstreitender rechtlicher Ansprüche ausgefochten werden, seien Kämpfe »für oder gegen Ausbeutung« (296). So stellen sie sich allenfalls dem ideologisch getrübten Bewusstsein der Kämpfenden selbst dar. 250 Dem Kapital Reformen aufzudrängen, die ihm selbst und der Arbeiterschaft helfen, ist »das sozialdemokratische Modell verantwortlicher Opposition«, das unter den Bedingungen einer deregulierten Finanzindustrie an seine Grenzen gelangt ist. Heute »scheint es nichts mehr zu geben, was die breite Masse der Bevölkerung dem Kapital zu dessen und ihrem eigenen Nutzen anbieten bzw. abringen könnte. Alles, was dieses von ihr noch will, ist die Rückgabe ihrer historisch erkämpften sozialen Bürgerrechte an den Markt.« (Streeck 2013: 217 f.). 251 Anders Wildt (1986: 165), der Marx bescheinigt, hier implizit eine Theorie des gerechten Lohns zu vertreten. Richtig ist, dass man die Forderung des Arbeiters als die nach einem ›gerechten Lohn‹ begreifen kann, aber dieser gerechte Lohn stünde eben nicht in Gegensatz zum Gesetz des Warenaustauschs und die Forderung nach ihm enthielte keine Kritik daran, sondern würde im Gegenteil dieses Gesetz affirmieren.

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des kapitalistischen Reproduktionsprozesses sind und ihr rechtlich verbürgter Anspruch auf Autonomie somit ideologisch ist. Anders als manche Marx-Interpreten meinen (s. Einleitung), misst die Kapitaltheorie die bürgerliche Ökonomie nicht an ihren ›immanenten‹ normativen Ansprüchen, um sie kritisieren zu können, sondern kritisiert umgekehrt die normativen rechtlichen Bestimmungen auf der Grundlage der Einsicht in die Struktur des kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozesses. Wenn Marx zu Beginn der Kapitalkritik unterstellt, dass Waren zu Werten getauscht werden, dann ist diese Voraussetzung zwar kompatibel mit der der modernen Naturrechtler. Sie erfolgt aber nicht um dieser Kompatibilität und einer damit möglichen immanenten Kritik willen, sondern weil nur unter dieser Voraussetzung der Mehrwert des industriellen gesellschaftlichen Kapitals erklärbar ist. »Die Kapitalbildung muß möglich sein, auch wenn der Waarenpreis gleich dem Waarenwerth. Sie kann nicht aus der Abweichung der Waarenpreise von den Waarenwerthen erklärt werden.« (K I² 183 Anm. 37/180 Anm. 37) Mehrwert kann nicht durch einen Aufschlag auf den ursprünglichen Wert oder durch die Übervorteilung des Käufers der Ware erklärt werden. Durch einen Preisaufschlag wird kein neuer Wert geschaffen, sondern nur der Wertausdruck im Geld nominell erhöht, und durch Übervorteilung ist die Verwertung des gesellschaftlichen Kapitals nicht zu erklären, da die Kapitalistenklasse insgesamt sich nicht übervorteilen kann. Also muss zu Beginn der Erklärung des Kapitals Äquivalententausch unterstellt werden. Schon vor der kritischen Auflösung des ›Scheins der Konkurrenz‹ legt Marx den ideologischen Gehalt der bürgerlichen Vorstellung der ›Identität‹ von Arbeit und Eigentum offen.252 Fragt man »die Wortführer der politischen Ökonomie«, woher das Geld stammte, das der Kapitalist ursprünglich vorschießen musste, um Arbeitskräfte in seinem Produktionsprozess anwenden zu können, so antworten sie »einstimmig«: »Durch seine eigne Arbeit und die seiner Vorfahren!« Diese Antwort ist zwar mit den Gesetzen der Warenproduktion kompatibel, sie ist aber, wie der Blick in die Geschichte zeigt, ideologischer Art. Sie täuscht darüber hinweg, dass Gewalt und Vertreibung für die Entstehung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse konstitutiv waren. Die falsche Voraussetzung dennoch gemacht, zeigt sich allerdings, dass die bloße Kontinuität des kapitalistischen Reproduktionsprozesses jedes Kapital à la longue 252 »Von allen modernen Oekonomen ist […] die eigne Arbeit als der ursprüngliche Eigenthumstitel ausgesprochen, sei es in mehr ökonomischer oder in mehr juristischer Weise und das Eigenthum an dem Resultat der eignen Ar­ beit als die Grundvoraussetzung der bürgerlichen Gesellschaft.« Diese Voraussetzung ist »selbst ein historisches Product der bürgerlichen Gesellschaft, der Gesellschaft des entwickelten Tauschwerths«. (Ur 49).

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verwandelt in »kapitalisirten Mehrwerth« (K I² 526/595).253 Angenommen, der Mehrwert wird nicht akkumuliert, sondern vom Kapitalisten individuell konsumiert, so ist nach einer gewissen Jahreszahl »die von ihm verzehrte Werthsumme gleich dem ursprünglichen Kapitalwerth«. Selbst wenn das ursprüngliche Kapital »bei seinem Eintritt in den Produktionsprozeß persönlich erarbeitetes Eigentum seines Anwenders« war, so wird es also früher oder später »ohne Aequivalent angeeigneter Werth oder Materiatur, ob in Geldform oder anders, unbezahlter fremder Arbeit«. (K I² 526/595) Wird die Akkumulation in die Betrachtung einbezogen und die kontrafaktische Voraussetzung des ursprünglich auf eigene Arbeit beruhenden Kapitals beibehalten, zeigt sich ein Weiteres. Offenbar schlägt »das auf Waarenproduktion und Waarencirkulation beruhende Gesetz der Aneignung oder Gesetz des Privateigenthums durch seine eigne, innere, unvermeidliche Dialektik in sein direktes Gegentheil um«. (K I² 538/609) Das auf eigener Arbeit beruhende Eigentum schlägt um in Eigentum, das sich durch die Aneignung fremder unbezahlter Arbeit vergrößert. Der Äquivalententausch zwischen Kapitalist und Arbeiter: der Kauf und Verkauf der Arbeitskraft zu ihrem Wert, »hat sich so gedreht, daß nur zum Schein ausgetauscht wird, indem erstens der gegen Arbeitskraft ausgetauschte Kapitaltheil selbst nur ein Theil des ohne Aequivalent angeeigneten fremden Arbeitsproduktes ist, und zweitens von seinem Producenten, dem Arbeiter, nicht nur ersetzt, sondern mit neuem Surplus ersetzt werden muß«. Der Äquivalententausch »zwischen Kapitalist und Arbeiter wird also nur ein dem Cirkulationsproceß angehöriger Schein, bloße Form, die dem Inhalt selbst fremd ist und ihn nur mystificirt. Der beständige Kauf und Verkauf der Arbeitskraft ist die Form. Der Inhalt ist, daß der Kapitalist einen Theil der bereits vergegenständlichten fremden Arbeit, die er sich unaufhörlich ohne Aequivalent aneignet, stets wieder gegen größeres Quantum lebendiger fremder Arbeit umsetzt.« Zunächst erschien das Eigentumsrecht auf eigene Arbeit gegründet, jetzt erscheint es »auf Seite des Kapitalisten, als das Recht fremde unbezahlte Arbeit oder ihr Produkt, auf Seite des Arbeiters, als Unmöglichkeit, sich sein eignes Produkt anzueignen. Die Scheidung zwischen Eigenthum und 253 Das Argument ist systematisch, nicht historisch zu verstehen. Marx kontrastiert nicht die Gerechtigkeit einer ominösen einfachen Warenproduktion der Ungerechtigkeit kapitalistischer Warenproduktion, sondern setzt die einfache Zirkulation ins Verhältnis zum Gesamtprozess. Engels missversteht im Anti-Dühring das Argument doppelt falsch, wenn er es als historisches auffasst und meint, Marx erkläre den Umschlag der Eigentumsgesetze »aus rein ökonomischen Ursachen«, ohne auf Gewalt rekurrieren zu müssen (AD 355/151 f.). Immerhin hat Marx dort, wo er tatsächlich von der Genese kapitalistischer Produktionsverhältnisse handelt, die Rolle der Gewalt eindringlich beschrieben.

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Arbeit wird zur nothwendigen Konsequenz eines Gesetzes, das scheinbar von ihrer Identität ausging.« (K I² 538/609 f.) Der Kapitalist kauft die Arbeitskraft, um ihren Gebrauchswert: mehr Wert produzieren zu können, als sie hat, produktiv zu konsumieren. Er wendet die Arbeitskraft in der Produktionssphäre an. Das Resultat ihrer Anwendung, der Mehrwert, ist das Produkt vergangener unbezahlter Arbeit. »Eigenthum an vergangner unbezahlter Arbeit erscheint jetzt als die einzige Bedingung für gegenwärtige Aneignung unbezahlter lebendiger Arbeit in stets wachsendem Umfang.« (K I² 537/609) Gemäß dem Gesetz des Warenaustauschs werden Waren zu ihrem Wert ge- und verkauft. Da das alleinige Mittel der Aneignung fremder Ware die Veräußerung eigener Ware ist, können die zirkulierenden Waren zuletzt nur das Resultat der Arbeit voneinander unabhängiger Privatproduzenten sein. Das Eigentumsrecht scheint auf eigene Arbeit gegründet und insoweit die Sicht der bürgerlichen Rechtsphilosophie und Ökonomie bestätigt. So stimmen Locke, Kant und Hegel darin überein, dass in der bürgerlichen Gesellschaft Eigentum rechtmäßig nur durch eigene Arbeit oder durch vertraglich gesicherten Tausch zu erwerben ist. Diese naturrechtliche Sicht der Dinge harmoniert mit der ökonomischen etwa eines Adam Smith, der einen von staatlichen Eingriffen und privaten Monopolen freien Markt propagiert, auf dem unabhängige Privatproduzenten ihre Arbeitsprodukte zu Preisen tauschen, die sich auf dem Markt bilden. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist nicht, wie der Mechanismus der Preisbildung von den Theoretikern jeweils erklärt wird, entscheidend ist vielmehr ihre gemeinsame Überzeugung, dass die Preisbildung auf einem von Herrschaft, Macht und Gewalt ›freien‹ Markt und insofern ›anonym‹ geschieht. Die ökonomischen Gesetze, die dem Marktgeschehen zugrunde liegen, gelten für jeden Privaten in gleicher Weise. Darin entsprechen sie denjenigen juridischen Gesetzen, die sich, rechtsphilosophisch betrachtet, die bürgerliche Gesellschaft allein geben kann, nämlich solche, die ausnahmslos für jeden Staatsbürger gelten.254 Indem die These der bürgerlichen Ökonomen und Rechtsphilosophen von der ›Identität‹ von Arbeit und Eigentum auf der Grundlage der Werttheorie diskutiert wird, zeigt sich Marx zufolge ihr ideologischer Gehalt. Zwar teilen die kritisierten Theoretiker nicht die marxsche Werttheorie, mit dieser Theorie wird aber dem bürgerlichen Ideal des freien Marktes keine Gewalt angetan. Die werttheoretische Voraussetzung, dass es sich beim Austausch von Waren um Äquivalententausch handelt, verträgt sich nicht nur mit der bürgerlichen Überzeugung, dass auf einem intakten Markt niemand übervorteilt werde, sondern führt die Marktgerechtigkeit auf die Objektivität des Wertgesetzes zurück. Jetzt lässt 254 Vgl. Habermas (1962: 102).

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sich zeigen: Weder Ökonomen noch Rechtsphilosophen sehen, dass der Warenaustausch seinen Existenzgrund in der Mehrwertproduktion hat, also in der Aneignung des Produkts unbezahlter Mehrarbeit durch den Kapitalisten. Indem sie das Verhältnis von Kapitalist und Arbeiter als das des Äquivalententauschs bestimmen, sitzen sie dem Schein der Zirkulationssphäre auf. Eigentum resultiert nicht aus eigener, sondern aus fremder Arbeit, durch die es sich auch vergrößert. Die »Scheidung zwischen Eigenthum und Arbeit« (K I² 538/610) folgt also nicht aus einer Verletzung des Gesetzes des Warenaustausches, sondern aus diesem Gesetz selbst notwendig. Kapitalistische Warenproduktion setzt mit der Warenform der Arbeitskraft die Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln voraus. Diejenigen, die nur ihre Arbeitskraft besitzen, sind daher gezwungen, diese ein Leben lang immer wieder aufs Neue zu verkaufen. Ihre durch das Recht garantierte »Unabhängigkeit« von den Produktionsmitteleigentümern ist deshalb ein »Schein«, der »durch den beständigen Wechsel der individuellen Lohnherrn und die fictio juris des Kontrakts aufrecht erhalten« (K I² 530/599) wird. Mit der Einsicht in diesen dem Standpunkt der Zirkulationssphäre geschuldeten Schein ist Marx zufolge das Dasein der Lohnarbeiter als freier Rechtspersonen ideologiekritisch entzaubert. Rechtlich sind sie frei so gut wie die Kapitalisten, der Sache nach sind sie unfrei. Damit ist nicht nur ein Urteil über den Kern des bürgerlichen Rechts, die universelle Rechtsfähigkeit des Menschen als solchen, gesprochen, sondern auch über dessen naturrechtliche Grundlagen.255 Insofern die den Lohnarbeitern wie allen anderen Menschen rechtlich garantierte äußere Freiheit als ein positiviertes Naturrecht, nämlich als ein Menschenrecht verstanden wird, scheint jetzt die Vorstellung natürlicher, universeller Menschenrechte als bürgerliche Ideologie erwiesen (dazu, dass Marx’ Rechtskritik zu kurz greift: 3.4.).

3.3. Ideologiekritik der Menschenrechte In den Menschenrechten manifestiert sich ein falsches Bewusstsein der Menschen von den eigenen gesellschaftlichen Verhältnissen. Marx weist 255 Mit der beginnenden Herrschaft der Bourgeoisie, heißt es in der Heiligen Fa­ milie, hören die Menschenrechte auf, »bloß in der Theorie zu existieren«. (HF 130) Anders Lohmann (1991: 253 f.), dem zufolge die Bedeutungen von Recht und Rechten bei Marx »weitgehend schwankend und oftmals unklar« sind. Zumeist seien »sie im Kontext des Basis-Überbau-Theorems diskutiert worden. Darüber hinaus muß man sich fragen, ob Marx von Recht und Vertrag in einem rechtspositivistischen (und rechtsfunktionalistischen) Sinne oder aber im naturrechtlichen Sinn von einem moralisch begründeten Recht spricht.«

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diesem Bewusstsein innerhalb der Totalität des Reproduktionsprozesses der bürgerlichen Gesellschaft einen bestimmten logischen Ort zu: die Zirkulationssphäre, und erklärt die Notwendigkeit dieses falschen Bewusstseins aus der eigentümlichen Stellung und Funktion dieser Sphäre innerhalb des Reproduktionsprozesses. Die Zirkulationssphäre ist selbst eine Totalität, nämlich die – noch abstrakt gefasste – Oberfläche des kapitalistischen Gesamtprozesses, an welcher die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen als solche von Warenbesitzern bzw. Privateigentümern erscheinen. Die Individuen stehen in Ware-Geld-Beziehungen, deren rechtliche Form der Vertrag ist. Diese Totalität ist aber vermittelt durch die Produktionssphäre. Wird diese Vermittlung nicht erkannt, wird die Zirkulationssphäre nicht als das funktionale Element des Gesamtreproduktionsprozesses betrachtet, das sie ist, sondern unmittelbar, so wird ihrem Schein aufgesessen – mit ideologischen Konsequenzen nicht nur in ökonomischer, sondern auch in rechtlicher Hinsicht. Ökonomisch führt solche Absolutsetzung der Zirkulation unter anderem zu der falschen Auffassung, die Preise der Waren würden in ihr bestimmt, rechtlich führt sie dazu, die bürgerliche Gesellschaft insgesamt als »ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte« zu begreifen. Denn: »Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigenthum und Bentham. Freiheit! denn Käufer und Verkäufer einer Waare, z.B. der Arbeits­ kraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahiren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Waarenbesitzer auf einander und tauschen Aequivalent für Aequivalent. Eigenthum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu thun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältniß bringt, ist die ihres Eigennutzes, [...] ihrer Privatinteressen. Und eben weil so jeder nur für sich und keiner für den andren kehrt, vollbringen alle, in Folge einer prästabilirten Harmonie der Dinge, oder unter den Auspicien einer allpfiffigen Vorsehung, nur das Werk ihres wechselseitigen Vortheils, des Gemeinnutzens.« (K I² 191/189 f.)256

256 Marx werde Bentham hier nicht gerecht, so Lohmann (1999: 92 Fn.). Dessen Utilitarismus propagiere nicht egoistisches Handeln, sondern fordere die Verfolgung des größten Glücks der größten Zahl. Bentham sei auch kein Verfechter der Menschenrechte, sondern zähle zu deren schärfsten Kritikern. Beides ist richtig, verfehlt aber, als Einwand verstanden, die Intention der marxschen Bemerkung. Diese will nicht Utilitarismus mit Egoismus identifizieren, sondern polemisch andeuten, dass die utilitaristische Zusammenschließung des ethisch Richtigen mit dem Nützlichen ganz gut zur bürgerlichen Gesellschaft passt – jedenfalls keinen prinzipiellen Einwand gegen sie erwarten lässt. Tugendhat (1993: 327) sieht im Utilitarismus »die Ideologie

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Die Sphäre des Warenaustausches ist ›ein wahres Eden angeborner Menschenrechte‹, weil sich Kapitalist und Arbeiter hier nur als Warenbesitzer und folglich als freie Rechtspersonen gegenübertreten. Ihre Freiheit ist zum einen negativ bestimmt: als Freiheit von der Nötigung durch einen fremden Willen, zum anderen positiv: als freies Verfügenkönnen über die eigene Person und das eigene Eigentum. Da das Verhältnis von Kapitalist und Arbeiter die Rechtsform des Vertrags hat, welcher per definitionem die freie Übereinstimmung zweier freier Willen ist, vollziehen sich Kauf und Verkauf der Arbeitskraft nicht nur entsprechend dem bürgerlichen Recht, sie stehen auch im Einklang mit den vorpolitischen Menschenrechten. Gleichheit herrscht Marx zufolge aber nicht nur in Bezug auf Kapitalist und Arbeiter als Rechtspersonen, sondern auch in Bezug auf dasjenige, was qua Vertrag getauscht wird, denn die Vertragspartner ›tauschen Äquivalent für Äquivalent‹. Nun ist Äquivalententausch im Sinne der marxschen Werttheorie weder eine Norm des Naturrechts noch des bürgerlichen Rechts. Wenn Marx ihn hier anführt, dann nimmt er damit Bezug auf den Zusammenhang von Freiheit, Gleichheit und Privateigentum, wie er im neuzeitlichen Naturrecht hergestellt ist. Diesem zufolge haben alle Menschen in gleicher Weise ein Recht auf die ursprüngliche Aneignung von Teilen der Erde und auf den exklusiven Gebrauch des Angeeigneten. Und sie haben ein Recht auf den Erwerb von Gegenständen, die sich in fremdem Besitz befinden, durch Vertrag. Die zuletzt genannte Form der Erwerbung ist nach der Parzellierung der Erde in Privateigentum, mithin in der bürgerlichen Gesellschaft, die Einzige, die rechtlich möglich ist. Marx’ Bezugnahme auf das Naturrecht geschieht freilich in sehr spezifischer Weise. So bildet nicht etwa Lockes oder Kants Theorie den Referenzpunkt, sondern Hegels Lehre vom Vertrag. Während aber Locke und Kant die Gestaltung des Vertragsinhalts weitgehend den Kontrahierenden überlassen, führt Hegel ein materiales Kriterium an, dass deren privatautonome Gestaltungsfreiheit einschränkt.257 Im des Kapitalismus«, denn er erlaube es, ökonomisches Wachstum »als solches ohne Rücksicht auf Verteilungsfragen moralisch zu rechtfertigen«. 257 Locke kann, da die Vertragsform gegenüber materialen Wertungen neutral ist und Verträge (wie das Geld) unabhängig vom Staat gelten, behaupten: »Tauschgeschäfte« zwischen »einem Schweizer und einem Indianer in den Wäldern Amerikas sind für sie verbindlich« (1690: § 14) Kant verweist auf Adam Smith, wonach der Preis »das öffentliche Urteil über den Wert (valor) einer Sache, in Verhältnis auf die proportionierte Menge desjenigen, was das allgemeine stellvertretende Mittel der gegenseitigen Vertauschung des Flei­ ßes (des Umlaufs) ist« (RL B 126). Das ›öffentliche Urteil‹ fällt der Markt. Da Kants Rechtslehre keine materiale Tauschgerechtigkeit kennt (vgl. Kersting 1984: 296 ff.), steht es den Vertragspartnern frei, einen Preis über oder unter dem gängigen Marktpreis zu vereinbaren.

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›Tauschvertrag‹ behält nämlich jeder »dasselbe Eigentum«, den »Wert« (Rph 159 f.). Der Wert ist dasjenige, »in welchem die Vertragsgegenstände bei aller qualitativen äußeren Verschiedenheit der Sachen einander gleich sind, das Allgemeine derselben«. Er bemisst sich am Bedürfnis, das aber nicht als bloß besonderes zu verstehen ist, sondern als durch die Vergleichbarkeit aller spezifischen Bedürfnisse objektiv bestimmbares »Bedürfnis überhaupt« (Rph 135).258 Hegel bezieht sich in diesem Zusammenhang affirmativ auf das römische Rechtsinstitut der ›laesio enormis‹ (Rph 160) und die traditionelle Lehre von der Leistungsäquivalenz. ›Äquivalenz‹ ist das Kriterium für materiale Tauschgerechtigkeit im Sinne der aristotelisch-thomistischen Tradition und ihrer Lehre vom ›gerechten Preis‹ (iustum pretium), die in den Naturrechtslehren Grotius’, Pufendorfs und Wolffs fortwirkt.259 Es reicht demnach nicht hin, dass die Erwerbung einer Sache durch Vertrag ein herrschafts- und gewaltfreier Akt ist, der Preis von den Vertragspartnern aus freien Stücken vereinbart wird, vielmehr müssen sich diese an einem ›objektiven Wert‹ orientieren. Hegels Vertragslehre ist »eine Synthese naturrechtlicher Ge­ danken materialer Vertragsgerechtigkeit mit dem Prinzip der Privatauto­ nomie« (Landau 1973: 188). Erstrahlt das Verhältnis von Kapitalist und Arbeiter in der Zirkulationssphäre im hellen Licht der Menschenrechte – »es ist hier alles ›scheene‹« (Marx im April 1858 an Engels: MEW 29: 318) –, so verdüstert es sich beim Wechsel in die Sphäre der unmittelbaren Produktion in entscheidender Weise. Die Äquivalenz in der Zirkulationssphäre: gleicher Wert von Arbeitskraft hier und Geld bzw. durch das Geld repräsentierter Konsumtionsmittel dort, gründet in der Nicht-Äquivalenz von vorgeschossenem Kapitalwert für die Arbeitskraft und dem durch die Arbeitskraft in der Produktion produzierten Überschuss über diesen Wert, den Mehrwert. Indem das Recht suggeriert, dass freie und gleiche Privateigentümer kontrahieren, während es faktisch höchst Ungleiche sind, sitzt es dem Schein der Zirkulationssphäre auf.260 Genauer: Es 258 Zu Hegels Vertragsrecht grundlegend: Landau (1973), der zu Recht festhält, dass Hegel »keine klare Analyse des Wertbegriffs« gibt (185). 259 Dazu Wieacker (1967: 295 ff.; 311); Landau (1973: 186 ff.). Die mit der Vertragsfreiheit der Rechtsperson unvereinbaren Ideen von ›aequalitas‹ und ›gerechtem Preis‹ wirken fort bis ins 19. Jahrhundert. Das BGB entscheidet sich »beim gegenseitigen Vertrag grundsätzlich gegen das materielle Äquivalenzprinzip der aristotelischen, thomistischen und vernunftrechtlichen Vertragsethik«. (Wieacker 1967: 482); vgl. Köhler (2016). 260 Vgl. Engels (Tl 248): »Der Arbeiter gibt so viel, und der Kapitalist so wenig, wie es die Natur der Übereinkunft zulässt. Das ist eine sehr sonderbare Sorte von Gerechtigkeit.« »[D]aß der gerechteste Tagelohn unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen unvermeidlich gleichbedeutend ist mit der allerungerechtesten Teilung des vom Arbeiter geschaffenen

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ver­leiht einem ökonomischen Schein einen rechtlichen Ausdruck. Ökonomisch betrachtet ist in dem für eine bestimmte Zeit vertraglich ausgehandelten Arbeitslohn die Differenz von notwendiger und Mehrarbeit, bezahlter und unbezahlter Arbeit ausgelöscht. Es scheint vielmehr so, als würde die gesamte Arbeit bezahlt. Nur weil und insofern das »Geldverhältniß« von Kapitalist und Arbeiter das Umsonstarbeiten des Arbeiters für den Kapitalisten verbirgt, kann deren Verhältnis rechtlich als das von Freien und Gleichen gefasst werden. »Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Werth und Preis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohns oder in den Werth und Preis der Arbeit selbst. Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältniß unsichtbar macht und grade sein Gegentheil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.« (K I² 502/562) Doch das allein ist nicht der springende Punkt. Der kommt Marx zufolge erst dann in den Blick, wenn begriffen ist, dass das Vorhandensein einer Klasse von Produktionsmitteleigentümern und einer Klasse von Menschen, die nur ihre Arbeitskraft besitzen, historisch durch Gewalt entstanden ist und diese Gewalt in der bürgerlichen Gesellschaft in die Form eines Rechtsverhältnisses transformiert ist. Die Gewalt, die für die Entstehung bürgerlicher Eigentums- respektive kapitalistischer Produktionsverhältnisse konstitutiv war und deren Resultat, das Privateigentum an Produktionsmitteln, für sie konstitutiv ist, wird von den Politischen Ökonomen und Philosophen verschwiegen oder als theoretisch irrelevant betrachtet. Für sie waren »Recht und ›Arbeit‹ […] von jeher die einzigen Bereicherungsmittel« (K I² 644/742). Der Klassengegensatz von Kapitalisten und Arbeitern wird deshalb entweder als Faktum genommen oder darauf zurückgeführt, dass die einen früher fleißiger waren als die anderen. Nun sind die Mitglieder der einen Klasse, nämlich die Arbeiter, darauf angewiesen, dass sie ihre Arbeitskraft nicht nur heute oder morgen, sondern ihr Leben lang verkaufen können. Das aber bedeutet, dass die freie Aushandlung ihrer Arbeitsverträge und darüber hinaus ihre Existenz als freie Rechtspersonen eine juristische Fiktion ist, welche verschleiert, dass kapitalistische Produktionsverhältnisse Herrschaftsverhältnisse sind: »In der That gehört der Arbeiter dem Kapital, bevor er sich dem Kapitalisten verkauft.« (K I² 533/603) Produkts, da der größere Teil dieses Produkts in die Tasche des Kapitalisten fließt, während der Arbeiter gerade mit soviel vorliebnehmen muß, wie er benötigt, sich arbeitsfähig zu erhalten und sein Geschlecht fortzupflanzen.« Engels kritisiert hier eine Gerechtigkeitsvorstellung als ungerecht, während er an vielen anderen Stellen die ›Ideen‹ von Gerechtigkeit und Moral kritisiert.

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Während Marx im Kapital die Menschenrechte nur ganz am Rande und nur als Gegenstand ironischer und sarkastischer Bemerkungen thematisiert, hat er sie in seinem Aufsatz Zur Judenfrage, der 1844 in Paris in den gemeinsam mit Arnold Ruge herausgegebenen Deutsch-Französi­ schen Jahrbüchern erschien, einer recht ausführlichen Kritik unterzogen. Dass er dem Thema im späteren Werk eine weit geringere Relevanz zumisst, liegt am veränderten Fokus seines Denkens. 1844 ist die Kritik der Menschenrechte ein Teil der »Kritik der Politik« (KHRE 171/379), das heißt der ›nur‹ politischen Emanzipation des Menschen im Staat. 20 Jahre später erfolgt sie im Rahmen der Ökonomie-Kritik. Marx’ theoretisches Interesse hat sich seit Mitte der 1840er Jahre von der Religion über das Recht und die Politik hin zur Ökonomie verlagert, und er hat in letzterer den Gegenstand ausgemacht, ohne dessen Erkenntnis die moderne bürgerliche Gesellschaft überhaupt nicht zu begreifen ist.261 Im Folgenden sei die frühe Menschenrechtskritik zunächst skizziert und anschließend mit der des Kapitals verglichen. Im Vergleich der Situation der Juden in Deutschland, Frankreich und Nordamerika zeigt sich nach Marx, dass die Frage der Emanzipation der Juden angemessen, das heißt politisch und nicht theologisch, erst dort gestellt werden kann, wo der Staat ganz ohne religiöse Bezüge auskommt, wie in Nordamerika.262 In Deutschland, wo noch kein politischer Staat existiert, kann die ›Judenfrage‹ nur theologisch diskutiert werden. Die Juden befinden sich hier in einem religiösen Gegensatz zum Staat, weil dieser sich selbst als christlicher Staat versteht. In Frankreich existiert der »Schein einer Staatsreligion« fort, denn die besondere Rolle der katholischen Religion ist durch die Formel von der »Religion der Mehrheit« rechtlich anerkannt. (ZJF 145 f./351) Nur in den nordamerikanischen Einzelstaaten ist die Staatlichkeit ganz ohne religiöse Bezüge konstituiert. Dass ausgerechnet das Land des »vollendeten« politischen Staats, Nordamerika, auch »das Land der Religiösität« ist, führt Marx auf einen Mangel des politischen Staates und auf ein Ungenügen der politi­ schen Emanzipation, die in diesen Staat mündete, zurück.263 Die politische Emanzipation von der Religion erfolgt durch das »Medium des Staats«, nicht aber unmittelbar. Sie ist deshalb nicht widerspruchslos, 261 Siehe Marx’ Skizze der Entwicklung seiner wissenschaftlichen Einsichten im Vorwort von Zur Kritik der Politischen Ökonomie (ZKPÖ 99 ff./7 ff.). 262 Die in Frankreich vorherrschende republikanische Idee zielte auf »die Befreiung des Staates von der Kirche«, während die Einwanderer in Amerika umgekehrt die »Befreiung der Kirche vom Staat« intendierten, um »Raum für Religionsausübung in der Gesellschaft zu schaffen« (Walter 2006: 69). 263 »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.« (KHRE 171/378).

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keine »menschliche Emancipation« (ZJF 147/353). Sie ist ›abstrakt‹ und ›beschränkt‹. Abstrakt, weil der Staat die Menschen als solche zu Staatsbürgern erklärt, beschränkt, weil er dies nur bezogen auf seine eigene, die politische Sphäre tut. Die ›Differenz‹ zwischen dem religiösen und politischen Menschen ist die zwischen dem Bourgeois und dem Citoyen, wobei für den Menschen als Citoyen Privateigentum, Geburt, Stand und Bildung keine Rolle spielen, während sie für ihn als Bourgeois den Ausschlag geben. Marx fasst diese Differenz näher als den »Widerspruch« (ZJF 149/355) des Menschen mit sich selbst. Der moderne Staat ist seinem Wesen nach das Gattungsleben des Menschen im Gegensatz zu seinem materiellen Leben. Besonderheit und Allgemeinheit sind in ihm nicht, wie Hegel behauptet, versöhnt. Vielmehr ist er das Anhängsel der bürgerlichen Gesellschaft, zu der er sich wie zu seiner natürlichen Voraussetzung verhält. Erst eine nicht mehr nur politische, sondern menschliche Emanzipation ist ›widerspruchslos‹. Erst mit dieser nimmt der wirkliche, konkrete individuelle Mensch »den abstrakten Staatsbürger in sich zurück[]«, erkennt und organisiert das Individuum seine eigenen Kräfte als gesellschaftliche und trennt daher »die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich« (ZJF 162 f./370). Der Maßstab dieser Kritik ist ein affirmativer Begriff des Menschseins: der von Feuerbach übernommene und normativ verstandene Begriff des Menschen als Gattungswesen, der nicht mehr in Staatsbürger und bürgerliches Individuum zerrissene, sein empirisches Leben als Gattungswesen führende Mensch.264 (Die Problematik der Begriffe ›Gattungswesen‹ und ›Gattungsleben‹ ist aus der Diskussion der Manuskripte bekannt [III,1.3.1.], sie wird am Ende dieser Arbeit, wenn es um die marxsche Utopie des ›Vereins freier Menschen‹ geht, noch einmal aufgegriffen.) Marx kritisiert die »sogenannten Menschenrechte« (ZJF 155/361) vor dem Hintergrund seiner eben skizzierten Kritik der Politik und »unter ihrer authentischen Gestalt […], welche sie bei ihren Entdeckern, den Nordamerikanern und Franzosen besitzen« (ZJF 156/362). Er bezieht sich zum einen auf die klassischen Rechteerklärungen (Bills of Rights) in 264 Maihofer (1992: 100) sieht hier kein Problem. Marx wende sich nicht »gegen das individuelle Interesse des Einzelnen«, sondern argumentiere, dass menschliche Emanzipation im Unterschied zur bloß politischen »in einer Überwindung der für den politischen Staat spezifischen Trennung zwischen Einzelnem und Allgemeinem« bestehe. Dagegen erblicken andere Interpreten in dem Maßstab des Gattungswesens bzw. Gattungslebens zu Recht ein zentrales Problem. Lohmann (1999: 95) sieht darin das utopische »Ideal eines unvermittelt individuellen und gesellschaftlichen Gattungswesen[s]«, das »in die reine Katastrophe« führe, da in ihm »für intersubjektive Verhältnisse kein Platz mehr« sei. Ähnlich Theunissen (1980: 486); ausführlich Hartmann (1970: 146–176).

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den Verfassungen der nordamerikanischen Einzelstaaten, zum anderen auf die französischen Menschen- und Bürgerrechtsdeklarationen. Dabei unterscheidet er zwischen den Staatsbürgerrechten, die als politische Teilnahmerechte nur in der Gemeinschaft ausgeübt werden können (droits du citoyen), und den vorpolitischen Menschenrechten (droits de l’homme). Die Staatsbürgerrechte bedeuten zwar einen großen historischen Fortschritt, sind aber dennoch – und angesichts der Kritik des »vollendeten politischen Staates« nicht überraschend – als unzureichend zu kritisieren. Die politische Revolution hat zwar »die öffentliche Angelegenheit als solche [...] zur allgemeinen Angelegenheit jedes Individuums und die politische Function zu seiner allgemeinen Function« (ZJF 161/368) gemacht, sie verhält sich aber zur bürgerlichen Gesellschaft als zu ihrer Naturbasis und betrachtet den Bourgeois für »den eigentlichen Menschen, für den homme im Unterschied von dem citoyen« (ZJF 162/369). Der Bourgeois ist der Träger der Menschenrechte als solcher. Nach der französischen Verfassung von 1793 sind Gleichheit, Freiheit, Sicherheit und Eigentum die natürlichen und unabdingbaren Rechte des Menschen, wobei Freiheit definiert ist als »das Recht, alles zu thun und zu treiben, was keinem andern schadet. Die Grenze, in welcher sich jeder dem andern unschädlich bewegen kann, ist durch das Gesetz bestimmt, wie die Grenze zweier Felder durch den Zaunpfahl bestimmt ist.« (ZJF 157/364). Marx kritisiert das Menschenrecht der Freiheit als das »des Menschen als isolirter auf sich zurückgezogener Monade« (ZJF 157/364).265 Dieser Mensch ist nicht der Mensch überhaupt, sondern der Mensch der modernen bürgerlichen Gesellschaft, in der von den produzierten Gütern über Grund und Boden bis hin zur Arbeitskraft alles zur Ware geworden ist – der Mensch also als Privateigentümer, der »im andern Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit« findet und mit seinesgleichen auf dem Markt in ein Rechtsverhältnis tritt. Die »praktische Nutzanwendung des Menschenrechtes der Freiheit ist das Menschenrecht des Pri­ vateigentums«, ohne Beziehung auf andere über das eigene Vermögen disponieren zu können. Darin sind alle Menschen gleich. So bilden Freiheit, Eigentum und Gleichheit die »Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft« (ZJF 158/365). Weit davon entfernt, diese Gesellschaft des »egoistischen Menschen« zu transzendieren, verschaffen ihr die Menschenrechte eine naturrechtliche Legitimation. Weil sie aber eine historisch späte Gestalt 265 Ähnlich Heß (1845a: 388) in seiner Kritik der Junghegelianer, die Marx schon 1843 bekannt war: »Die Menschenrechte sind die gleichen Rechte aller Thiermenschen d.h. aller isolirten sogenannten ›unabhängigen‹ ›freien‹ Individuen auf das entäußerte Wesen Aller; der Krieg Aller gegen Alle ist sanktionirt.«

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des Menschen in seine natürliche verkehren, sind sie Ideologie (vgl. DI 251  f./180 f.). Ebenso wie vor ihm bereits Hegel begreift Marx den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft als ein Resultat der Geschichte, weshalb seine Charakteristika unmöglich als ›natürliche‹ zu verstehen sind.266 Die liberale Überzeugung von der – mit Adam Smith zu sprechen – »natürliche[n] Ordnung einer vollkommenen Freiheit und Gerechtigkeit« (Smith 1789: 509267) hat sich in der Kritik der alten sozialen Ordnung herausgebildet, ohne die Elemente der neuen, der modernen bürgerlichen Gesellschaft ebenfalls zu kritisieren. Die hierarchische Struktur und der Dirigismus der alten Ordnung widersprächen der menschlichen Natur, die auf die Artikulierung partikularer Interessen und das Streben nach individuellen Vorteilen angelegt sei.268 Die Vorstellung von einer natürlichen, dem ancien régime überlegenen sozialen Ordnung, die private Laster in öffentliche Vorteile verwandelt, findet sich nicht nur in der bürgerlichen Staatstheorie und Ökonomie, sie liegt auch den Deklarationen der Menschenrechte zugrunde. Ihrem Gehalt nach hat sich die Kritik der Menschenrechte im Kapital gegenüber der in Zur Judenfrage nicht wesentlich verändert, ihr theoretischer Rahmen ist allerdings ein anderer. In beiden Schriften spielt Marx die historisch-gesellschaftliche Bedingtheit der Entstehung der Menschenrechte und ihre Funktionalität für die bürgerliche Gesellschaft gegen die von ihnen beanspruchte unbedingte Geltung aus. Die Vorstellung der Menschenrechte verkehrt eine historisch späte Gestalt des 266 »Die Schöpfung der bürgerlichen Gesellschaft gehört übrigens der modernen Welt an, welche allen Bestimmungen der Idee erst ihr Recht widerfahren läßt.« (Rph 339); vgl. Hegels Kritik des ›Verstandesstaats‹. 267 »[T]he natural system of perfect liberty and justice«. (Smith 1786: 606) Zum deskriptiven und normativen Doppelsinn von ›natural‹ Streminger (1995: 159 ff.); zu dem gleichermaßen analytisch-empirischen wie normativ-kritischen Charakter der smithschen Sozialwissenschaft Medick (1973: 249 ff.). 268 »Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen- sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.« (Smith 1789: 17) Der Mensch orientiert sich Smith zufolge am eigenen Nutzen, ist aber noch nicht der radikale homo oeconomicus der späteren ökonomischen Theorie. Markt und Moral bilden keinen Gegensatz, wenn die ›unsichtbare Hand‹ das egoistische Nutzenstreben in den Dienst des Allgemeinwohls stellt (Smith 1789: 370 f.) und die gesellschaftliche Ordnung stabilisiert, indem sie die reichen Grundherrn zu einer Verteilung der lebensnotwendigen Güter führt, die beinahe der gleicht, die »zustandegekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre« (1790: 315 f.).

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Menschen: den seine subjektiven Zwecke verfolgenden Privateigentümer, in eine ›natürliche‹ – zum Nutzen und Frommen der Angehörigen der bürgerlichen Klasse und der von ihr dominierten Gesellschaft. Musste Marx in der frühen Schrift noch auf den normativen Begriff des Menschen als Gattungswesen zurückgreifen, so bedarf die Menschenrechtskritik im Kapital scheinbar keiner normativen Grundlage. Ihr genügt der Nachweis, dass die Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit und Eigentum, die aus naturrechtlicher Perspektive für die bürgerliche Gesellschaft konstitutiv sein sollen, auch tatsächlich konstitutiv sind, sofern nämlich nur die Sphäre der Zirkulation und nicht der kapitalistische Gesamtprozess betrachtet wird. Ihre Evidenz verdanken diese Vorstellungen mithin einem eingeschränkten Standpunkt der Betrachtung, von dem aus die Dinge ›verkehrt‹ erscheinen. Dass dieser Standpunkt ein eingeschränkter ist, weil er mit der Zirkulationssphäre nur die Oberfläche des kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozesses in ihrer abstrakten Bestimmtheit thematisiert: als die Sphäre, in der sich die Menschen als Warenbesitzer gegenübertreten, ist ein Ergebnis der Kapitaltheorie. Dem eigenen Anspruch nach hat Marx im Kapital aber nicht nur den Mechanismus freigelegt, der bewirkt, dass die Vorstellung der Menschenrechte für die Zirkulationsagenten – also für alle Menschen – intuitiv plausibel ist, er hat auch die Funktionalität des diesen Prinzipien entsprechenden bürgerlichen Rechts für die kapitalistische Produktionsweise aufgezeigt. Aus ideologiekritischer Perspektive ist das bürgerliche Recht durch zwei Funktionen charakterisiert. In der ersten Funktion dient es der Verschleierung kapitalistischer Herrschaft und Ausbeutung. Indem es alle Menschen kraft ihres Menschseins zu freien und gleichen Rechtspersonen bestimmt, täuscht es nämlich darüber hinweg, dass die Klasse der Eigentümer von Produktionsmitteln vermittels ihres Eigentumstitels über die Klasse der Lohnarbeiter herrscht. Diese erhalten nur dann die Erlaubnis zu arbeiten und mithin zu leben, wenn sie Mehrarbeit leisten.269 So ist das Recht Ideologie. In seiner zweiten Funktion garantiert es die gesellschaftliche arbeitsteilige Produktion, indem es die Eigentumsverhältnisse und die ökonomischen Transaktionen zwischen den Eigentümern, sei es der Produktionsmittel, sei es der Arbeitskraft, rational regelt und die Einhaltung der Regeln durch die Staatsgewalt sanktioniert. So ist das Recht von technisch-praktischer Bedeutung für die Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften und seine Rückführung auf überpositive Prinzipien ideologisch. 269 Aus »der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, dass der Mensch, der kein andres Eigenthum besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschafts- und Kulturzuständen der Sklave der andern Menschen sein muss, die sich zu Eigenthümern der gegenständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben. Er kann nur mit ihrer Erlaubniss arbeiten, also nur mit ihrer Erlaubniss leben.« (KGP 9/15).

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3.4. Grenzen der Ideologiekritik Wenn Marx die freie Aushandlung des Arbeitsvertrags zwischen Arbeiter und Kapitalist als ›fictio juris‹ (K I² 530/599) bezeichnet, dann begründet er dies damit, dass der Arbeiter aufgrund seiner Trennung von den Produktionsmitteln zum Verkauf seiner Arbeitskraft gezwungen ist. Der Zwang gründet in den kapitalistischen Produktions- respektive Eigentumsverhältnissen, er ist der »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse« (K I² 663/765). Die durch das bürgerliche Recht dem Arbeiter konzedierte und rechtsphilosophisch begründete Freiheit der Menschen in ihrem äußeren Verhältnis zueinander erweist sich damit als Ideologie, denn der Sache nach hat der Arbeiter nur die freie Wahl zwischen dem lebenslangen, durch die Befristung der Arbeitsverträge nur formell unterbrochenen Verkauf seiner Arbeitskraft ans Kapital und dem Tod durch Verhungern.270 Seine Freiheit ist ersichtlich keine Freiheit, wenn ihm ein Interesse an dem Erhalt seiner physischen Existenz zu unterstellen ist – so Marx. Dieses ideologiekritische Argument verfehlt den bürgerlichen271 Begriff rechtlicher Freiheit, wie er maßgeblich von Kant begründet ist, in doppelter Hinsicht: Sie verfehlt seinen Inhalt und seine normative Dimension. Sie verfehlt seinen Inhalt, denn als Prinzip der Freiheit betrifft das Recht nur das äußere Verhältnis von Personen zueinander, die sich durch ihre freien Handlungen beeinflussen können, und zwar »nicht die Materie der Willkür«, nämlich die Zwecke, die diese Personen verfolgen, sondern nur die »Form im Verhältnis der beiderseitigen Willkür«. Es schränkt die Willkürfreiheit eines jeden auf Bedingungen ein, die garantieren, dass sie »mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann«. (Kant, RL B 45). Diese Bedingungen sind die formalen Kriterien der »Allgemeinheit, Gleichheit und Wechselseitigkeit« (Kersting 1984: 99). Indem das Recht die äußere Freiheit eines jeden in gleicher Weise einschränkt, garantiert es die Koexistenz 270 Wem die Drastik der Ausdrucksweise marxisch oder marxistisch dünkt vgl. Weber (1922: 79): »Entscheidender Antrieb für alles Wirtschaftshandeln ist unter verkehrswirtschaftlichen Bedingungen normalerweise 1. für die Nichtbesitzenden: a) der Zwang des Risikos völliger Unversorgtheit für sich selbst und für diejenigen persönlichen ›Angehörigen‹ (Kinder, Frauen, eventuell Eltern), deren Versorgung der Einzelne typisch übernimmt.« 271 ›Bürgerlich‹ meint nicht ›besitzindividualistisch‹ oder ›liberal‹. Aus dem kantischen Rechtsbegriff lässt sich zwar »kein Prinzip sozialer Gerechtigkeit und sozialer Gleichheit« gewinnen, aber »das Postulat sozialer Gerechtigkeit« ist mit dem Freiheitspathos der Rechtslehre durchaus vereinbar (Kersting 1984: 63 f.). Und indem das Rechtsprinzip als Spezifikation des »Grundgesetzes reiner praktischer Vernunft« fungiert, ist Kants Lehre nicht dem politischen Liberalismus zuzurechnen.

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der Individuen als Freier und Gleicher und schließt die durch positives Recht sanktionierte private Herrschaft von Menschen über Menschen aus. Sklaverei ist deshalb rechtlich nicht möglich, denn sie bedeutet die durch einseitige willkürliche Unterwerfung eines Menschen herbeigeführte Herrschaft über dessen freie Willkür. Lohnarbeit dagegen ist rechtlich möglich, denn der Lohnarbeiter wird von dem Kapitalisten nicht zum Verkauf seiner Arbeitskraft genötigt. Der Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft geht nicht von einem fremden Willen aus. Der Umstand, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln bei den Angehörigen der Kapitalistenklasse konzentriert ist und deshalb die Angehörigen der Arbeiterklasse zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen sind, macht deren rechtliche Freiheit nicht zum Schein. Die rechtliche Freiheit und die darin eingeschlossene rechtliche Gleichheit der Rechtspersonen sind durchaus mit ökonomischer Ungleichheit vereinbar.272 Das ideologiekritische Argument verfehlt zweitens den Anspruch des Begriffs rechtlicher Freiheit auf normative Geltung. Die rechtliche Freiheit des Menschen gründet in dessen Personsein, dieses aber in seinem Vermögen der Autonomie. Der Mensch ist Person, weil er Autor und Adressat der Gesetzgebung reiner praktischer Vernunft ist. Er unterliegt ethisch im Hinblick auf die Bestimmung seiner freien Willkür und rechtlich im Hinblick auf seine Handlungsfreiheit im äußeren Verhältnis zu anderen Menschen Gesetzen reiner Vernunft. Was immer gegen die normative Geltung des Begriffs rechtlicher Freiheit sprechen mag, lässt sich daher nicht gesellschafts- oder ökonomiekritisch, durch den Verweis auf Tatsachen, sondern allein durch die Kritik der vernunftrechtlichen Argumentation selbst ermitteln. Die Generalthese der marxschen Rechtskritik, Rechtsbestimmungen seien nur die juristischen Formen eines durch die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise bestimmten ökonomischen Inhalts, welcher gerecht sei, sofern er der Produktionsweise entspreche, ungerecht, sofern er ihr widerspreche, verfehlt von vornherein die Dimension der normativen Geltung des Rechts, seine vernunftrechtliche Grundlage. Denn mit ihr sind Rechtsprinzipien, die Anspruch auf 272 Die »durchgängige Gleichheit der Menschen in einem Staat, als Untertanen desselben, besteht aber ganz wohl mit der größten Ungleichheit, der Menge, und den Graden ihres Besitztums, es sei an körperlicher oder Geistesüberlegenheit über andere, oder an Glückgütern außer ihnen und an Rechten überhaupt (deren es viele geben kann) respektiv auf andere«. (Kant, GTP A 238) Lockes (1690: § 41) Bemerkung, ein englischer Tagelöhner habe es besser als selbst die »Könige« der verschiedenen Völker Amerikas, gehört in diesen Kontext. Der Vergleich des Lebensstandards armer Menschen in reichen Ländern mit dem reicher Menschen in armen Ländern geistert nicht nur durch die Literatur (vgl. Smith 1789: 3; 15), sondern wird auch heute noch in jeder Debatte über Armut und das Für und Wider ›sozialer Wohltaten‹ bemüht.

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unbedingte und universelle Geltung erheben, schon vor jeder spezifischen Kritik dogmatisch als ideologisch behauptet, eben weil sie diesen Anspruch erheben. Die im Kapital entwickelte Ideologiekritik des Rechts bewegt sich damit noch im Rahmen des alten, in der materialistischen Geschichtsauffassung entwickelten Ideologiebegriffs, auch wenn sie weitgehend auf das Basis-Überbau-Theorem verzichtet und stattdessen auf die Unterscheidung von Gesamtprozess und Oberfläche (Zirkulationssphäre, Konkurrenz) abhebt. Ein Weiteres kommt hinzu: Marx legt zwar den Akzent auf den Schein-Charakter des Daseins der Lohnarbeiter als freier Rechtspersonen, er spricht aber auch vom (männlichen) Lohnarbeiter als »formell freie Person« (K I² 385/418). Nun ist es aber ein Unterschied, ob die Freiheit der Rechtsperson als ›fictio‹ oder als ›formell‹ charakterisiert wird. Als ›fictio‹ ist sie in Wahrheit keine Freiheit. Die vermeintlich freie Person ist im Fall des Arbeiters in Wahrheit ein ›Lohnsklave‹ – nicht eines bestimmten Kapitalisten, aber des Kapitals. Als formelle Freiheit ist die rechtliche Freiheit der Person keine ›fictio‹, sondern eine defiziente Gestalt von Freiheit. Sie ist nur rechtlich-formell, nicht auch ökonomischmateriell.273 Alle Bürger unterliegen »der majestätischen Gleichheit des Gesetzes, das Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen« (France 1894: 71). Die Kritik an der nur formellen Freiheit der Rechtsperson setzt im Unterschied zu dem Nachweis des vermeintlichen Scheincharakters der Freiheit einen normativen Maßstab voraus, den es zufolge der materialistischen Generalthese gar nicht geben kann. Durch den Rekurs auf die soziale Genese der naturrechtlichen Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit und Eigentum und durch den Nachweis ihrer Funktionalität für die kapitalistische Gesellschaft ist ihr ideologischer Gehalt nicht offenzulegen. Marx hat zwar Recht: Moralische und rechtliche Vorstellungen liegen nicht seit jeher in einem Ideenhimmel auf Lager, sondern haben eine Geschichte, die zeigt, dass sie unter bestimmten historischen und gesellschaftlichen Bedingungen entstanden sind. So erklärt sich, dass Aristoteles eine politische Ordnung affirmierte, in der nur wenige Männer als Vollbürger dem politischen Geschäft nachgingen und die materielle Reproduktion zu einem wesentlichen Teil auf der 273 Der einstige Savigny-Schüler Marx verwendet den Ausdruck ›ficito iuris‹, der in der Rechtswissenschaft affirmative Bedeutung hat, in kritisch-polemischer Absicht. Für Savigny (1840: 236) fällt (im Einklang mit Kant) der Begriff des Rechtssubjekts mit dem der natürlichen Person zusammen. Die Rechtsfähigkeit der natürlichen Person wird von ihm dann aber »ausgedehnt auf künstliche, durch bloße Fiction angenommene Subjecte«, so genannte »juristische Personen«. Es sind Personen, die »blos zu juristischen Zwecken angenommen« werden und wie der einzelne Mensch als »Träger von Rechtsverhältnissen« fungieren.

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Arbeit von Sklaven beruhte. Der Philosoph lebte in einer Gesellschaft, in der das technisch-praktische Wissen noch sehr begrenzt und das Niveau der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit noch niedrig war. Die »Würdigung der Sklavenarbeit« durch einen »Denkriese[n] wie Aristoteles« (K I² 111 Anm. 33/96 Anm. 33) ist unter den genannten Bedingungen kein Zufall.274 Kein Zufall auch, dass der »Begriff der menschlichen Gleichheit« nicht in der Antike oder im Mittelalter, sondern erst in der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft politisch wirksam ist und »die Festigkeit eines Volksvorurtheils« (K I² 92/74) gewinnt.275 Die Tabelle der Menschenrechte »proklamierte das Recht eines Menschen, der nicht der Mensch des antiken Gemeinwesens sein kann, so wenig als seine nationalökonomischen und industriellen Verhältnisse die antiken sind« (HF 129). Wenn Marx nachweisen will, dass die Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit und Eigentum erst mit der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft Plausibilität erlangen können, ist das kaum zu kritisieren, und wenn er das durch die Deklarationen der Menschenrechte politisch wirksam gewordene Bild des Menschen kritisiert, dann ist auch das kaum kritikabel. Denn in der Tat wurde in der Folge der Deklarationen der Träger der Menschenrechte weitgehend mit dem über Privateigentum verfügenden, und zwar männlichen Bürger identifiziert, und Vertreter radikaler egalitärer Positionen wurden politisch bekämpft und bisweilen auch physisch vernichtet.276 Eine solche genetische Darstellung der Menschenrechte kann deren soziale Anerkennung und juristische Geltung erklären, berührt aber nicht deren Anspruch auf normative Geltung. Dies gilt auch für den Nachweis der Funktionalität der Menschenrechte für die bürgerliche, kapitalistische Gesellschaft. Der Umstand, dass es für diese 274 Immerhin: Der »größte Denker des Alterthums« träumte von der Überflüssigkeit der Sklaverei, wenn »›die Weberschiffe von selbst webten‹«. (K I² 396/ 430); vgl. Aristoteles (Politik 1253b). 275 Hegel (GdPh I 121): »Wäre die bloße Willkür des Fürsten Gesetz und er wollte Sklaverei einführen, so hätten wir das Bewußtsein, daß dies nicht ginge. Jeder weiß, er kann kein Sklave sein.« 276 Vgl. den Hinweis im Kapital: »Gleich im Beginn des Revolutionssturms wagte die französische Bourgeoisie das eben erst eroberte Assoziationsrecht den Arbeitern wieder zu entziehn. Durch Dekret vom 14. Juni 1791 erklärte sie alle Arbeiterkoalition für ein ›Attentat auf die Freiheit und die Erklärung der Menschenrechte‹«. (K I² 666 f./769) Dass die 1789 verkündeten »droits de l’homme« eher als Rechte des Mannes denn des Menschen politisch wirksam wurden, daran konnte auch die schon 1791 von Olympe de Gouges formulierte »Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne« nichts ändern (vgl. Burmeister 1999). Überhaupt war die Realgeschichte der Etablierung bürgerlicher Freiheit zugleich die von politischer Unterdrückung, Kolonialismus, Rassismus und Völkermord (vgl. Losurdo 2010).

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Gesellschaft funktional ist, wenn sich ihre Mitglieder als freie und gleiche Privateigentümer verstehen, sagt über die Möglichkeit, die normative Geltung der Trias von Freiheit, Gleichheit und Eigentum begründen zu können, gar nichts aus. Die Menschenrechte könnten für die bürgerliche Gesellschaft funktional sein und zu Recht unbedingte Geltung beanspruchen. Die Frage der normativen Geltung der Menschenrechte wird von Marx nicht diskutiert und kann von ihm auch gar nicht diskutiert werden, wenn er sich im Kapital allein mit der ökonomischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft befasst und sich in Zur Judenfrage allein auf die historischen Menschenrechtskataloge bezieht, in denen bestimmte Rechte deklariert, aber eben nicht begründet werden. Einer rein gesellschaftstheoretischen Kritik der Menschenrechte kommt die von diesen Rechten beanspruchte normative Geltung als solche gar nicht in den Blick.277 Um sie in den Blick zu nehmen, bedürfte es der immanenten Kritik ihrer naturrechtlichen Grundlagen. Für den Autor des Kapitals erübrigt sich allerdings die immanente Kritik bürgerlicher Rechtsphilosophie, ist Marx doch bereits 1844 im Rahmen seiner »kritische[n] Revision der Hegel’schen Rechtsphilosophie« zu der Einsicht gelangt, »daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesammtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ›bürgerliche Gesellschaft‹ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Oekonomie zu suchen sei«. (ZKPÖ 100/8) Die Bemerkung ist als Hegel-Kritik, nicht als Lob zu verstehen. Hegel hat zwar die Gesamtheit der materiellen Lebensverhältnisse unter dem Namen ›bürgerliche Gesellschaft‹ berücksichtigt, aber er hat deren Anatomie eben nicht wirklich untersucht. Er nennt »Smith, Say, Ricardo« (Rph 347) und registriert die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft, die ein bis dahin ungekanntes Übermaß an Reichtum anhäuft, dabei aber »nicht reich genug ist, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern« (Rph 390). Aber anders als die Politischen Ökonomen ist er nicht auf dem Weg, die ökonomischen Triebkräfte, die dem zugrunde liegen, auf den Begriff zu bringen. Hegel bestimmt die bürgerliche Gesellschaft zunächst als das »System der Bedürfnisse«, als »die ungeheure Macht, die den Menschen an sich reißt, von ihm fordert, daß er für sie arbeite und daß er alles durch sie sei und vermittels ihrer tue« – kurz: 277 Das übersieht Heinrich (1992: 96 f.), der allein von der Erklärung der Akzeptanz von Normen aus ihrer Plausibilität für die Beteiligten handelt und meint, im Einklang mit Marx damit schon »eine Kritik an der Möglichkeit eines moralischen Diskurses« leisten zu können.

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als »den Verlust der Sittlichkeit«. (Rph 386; 338) Seine Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft ist inhaltlich an den Begriff substantieller Sittlichkeit gebunden und methodisch von den kategorialen Vorgaben der Logik abhängig.278 Hegel ist deshalb weit davon entfernt, die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen.279 Zwar ist sein Begriff der bürgerlichen Gesellschaft nicht ohne die Rezeption der Politischen Ökonomie denkbar,280 doch die Rechtsphilosophie erweist dieser »in neuerer Zeit« entstandenen Wissenschaft ihre Reverenz nur, um sie sogleich als eine der Philosophie subordinierte Verstandeswissenschaft zu charakterisieren. Die »Staatsökonomie« findet zwar »aus der unendlichen Menge von Einzelheiten« die »einfachen Prinzipien der Sache, den in ihr wirksamen und sie regierenden Verstand« he­ raus, aber der Rechtsphilosophie bleibt es vorbehalten, die dem System der Bedürfnisse »immanente Vernunft« aufzuzeigen. Sie erweist, was aus der eingeschränkten Perspektive der Ökonomie als bloßer Marktmechanismus erscheint, von ihrer höheren Warte aus als ein bereits »organisch« gegliedertes Ganzes. (Rph 346 f.; 354) Das organische und mithin vernünftige Element der bürgerlichen Gesellschaft ist das ständische Element, das zugleich über sie hinausweist auf die vernünftige Allgemeinheit des Staates. Denn die Stände sind doppelt bestimmt und erfüllen entsprechend eine doppelte Funktion. Als ›gesellschaftliche‹ Stände, worunter Berufsorganisationen mit freiwilliger Mitgliedschaft zu verstehen sind, organisieren sie die verschiedenen ökonomischen Interessen und wirken so der Atomisierung der bürgerlichen Gesellschaft entgegen. 278 Vgl. etwa Rph 286 f. 279 Auch Honneth (2011), der unter Rekurs auf Hegel den Begriff des ›Marktes‹ dem bloß ökonomischen Denken entwinden und das normative Versprechen der ›kapitalistischen Marktgesellschaft‹ freilegen will, zeigt sich an der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft nicht interessiert, wenn er undifferenziert von ›Markt‹, ›Marktgesellschaft‹, ›kapitalistischer Marktgesellschaft‹, ›Kapitalismus‹ spricht. Differenzierungen, die der marxschen Werttheorie zufolge hier unerlässlich wären, sind nach Honneth offenbar so obsolet wie diese Theorie selbst. Für ihre Kritik benötigt der Vertreter der Kritischen Theorie einen Satz (354). 280 Vgl. Avineri (1972: Kap. 5 u. 7.). Hegel befindet sich »zwar auf dem Niveau der Ökonomie seiner Zeit«, so Priddat (1990: 11), »aber nicht auf dem englischen, sondern auf dem deutschen, wenn bei ihm smithianische Marktökonomie – im System der Bedürfnisse – und cameralistische Polizei und Kor­ poration eine Synthese eingehen«. In Hegels Formulierung vom »Eigentum des freien Willens« als dem »absolut Harten« bleibe »ungeahnt, daß der Markt ein Fluß wird, der nicht die harten, freien, unbeugsamen Willen zum Kampf treibt, sondern sie zur akzeleratorischen Fahrt ins offene Meer der sich ausdifferenzierenden Handlungsmöglichkeiten einlädt« und nicht absehbar sei, wohin uns die Fahrt bringe (318).

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Als ›politische‹ Stände repräsentieren sie diese Interessen in der eigentlich politischen Sphäre des Vernunftstaates, seiner inneren Verfassung. Sie vermitteln die besonderen Interessen der Gesellschaft mit den allgemeinen Interessen des Staates – nicht durch Kompromisse, sondern indem sie durch Beteiligung an der Gesetzgebung »von bestimmten Sachkompetenzen, Funktionen, gesellschaftlichen Positionen und ›Gesinnungen‹ her« (Siep 1992: 264 f.) Perspektiven des allgemeinen Willens aufweisen. Hegels Lehre von den Ständen ist keine Verbeugung vor den preußischen Zuständen seiner Zeit. Sie ist darin ernst zu nehmen, dass sie »aus dem philosophischen Gesichtspunkte« (Rph 471) folgt, wonach vernünftige Allgemeinheit nicht als aus der freien Willkür der vielen Einzelnen hervorgehend zu denken ist.281 Die ständische Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft erfolgt »nach dem Begriffe« (Rph 355). Die Frage nach ihrer Modernität oder Rückwärtsgewandtheit zielt deshalb am philosophischen Kern der Sache vorbei. Denn was als modern oder rückwärtsgewandt zu gelten hat, hängt gewöhnlich von der Perspektive ab.282 Ist die Gliederung der Gesellschaft in Stände aber durch den Begriff gesetzt, so ist sie im Prinzip von jedermann als notwendig einzusehen. Sie ist dann ein Aspekt der »Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen«, wie Hegel 1821 in der Vorrede der Grund­ linien verkündet (Rph 27). Dass ›die‹ Philosophie solche Versöhnung keineswegs gewährt, ist für Marx (und die anderen Linkshegelianer) zwanzig Jahre später ein historisches Faktum. Die politischen und sozialen Verhältnisse wollen sich dem Begriff nicht fügen, und die Disharmonie von gesellschaftlicher Wirklichkeit und Philosophie spricht nicht nur gegen jene, sondern ebenso sehr gegen diese.283 Sie lässt sich nicht mehr überzeugend durch den Rückgriff auf Hegels Unterscheidung von »Wirklichkeit« und bloß »vorübergehendem Dasein« (Rph 29) wegdiskutieren. Wenn Marx jetzt die Rechtsphilosophie einer kritischen Revision unterzieht, dann gibt sich seine Kritik zwar »systemimmanent, aber die aufgezeigten Widersprüche 281 »Die Vielen als Einzelne, was man gerne unter Volk versteht, sind wohl ein Zusammen, aber nur als die Menge – eine formlose Masse, deren Bewegung und Tun eben damit nur elementarisch, vernunftlos, wild und fürchterlich wäre.« (Rph 473). 282 Dazu Boldt (2000: 206 f.). 283 Arnold Ruge schreibt 1842 in den Deutschen Jahrbüchern für Wissenschaft und Kunst: »Wer sich jetzt noch mit der Selbstbilligung begnügt und für seine Sache nicht öffentlich einzustehen wagt, ist kein Philosoph mehr; und so leuchtet es ein, daß die Zeit oder der Standpunkt des Bewußtseins wesentlich verändert worden ist. Die Entwicklung ist nicht mehr abstrakt, die Zeit ist politisch, wenn gleich noch gar Vieles daran fehlt, daß sie es genug wäre.« (762).

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sind erst durch die geschichtliche Bewegung der inzwischen verflossenen Jahre sichtbar geworden« (Koselleck 1967: 389). Marx kann deshalb die gesellschaftliche Realität an Hegels Rechtsbegriff messen und sie zugleich gegen ihn ins Feld führen. Als Journalist stellt er fest, dass das faktische Handeln staatlicher Institutionen weder mit dem offiziellen Selbstverständnis des Staates noch mit dem philosophischen, mithin hegelschen Begriff des Rechts übereinstimmt.284 Der Rheinische Landtag ist seinem Selbstverständnis und dem Rechtsbegriff nach dem Allgemeinwohl verpflichtet, verfolgt aber in seiner Gesetzgebungspraxis partikulare Interessen. Als Kritiker der Rechtsphilosophie findet Marx, dass die den Ständen zugeschriebene Funktion der Vermittlung von besonderen gesellschaftlichen und allgemeinen Staatsinteressen erschlichen ist. Hegel dichtet dem ›Privatstand‹ der Bauern, Handwerker und Gewerbetreibenden, der als Privatstand nur eine soziale, aber keine politische Bedeutung hat, qua Standeslehre eine solche Bedeutung bloß an. Die von Hegel behauptete Einheit von gesellschaftlicher und politischer Bedeutung der Stände erweist sich angesichts des »Fortschritt[s] der Geschichte, der die politischen Stände in sociale verwandelt hat« (KHS 89/283), als illusorisch. Der ursprünglich politische Begriff des Standes hat sich im Zuge der Herausbildung moderner bürgerlicher Verhältnisse verdoppelt in eine zunehmende soziale Bedeutung einerseits und eine abnehmende politische Bedeutung andererseits.285 Die zunehmende soziale Bedeutung des Standesbegriffs tendiert aber zur Auflösung dieses Begriffs. An seine Stelle tritt der Begriff der Klasse, der aus der Analyse der ökonomischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft resultiert. Die Teilung der bürgerlichen Gesellschaft in Klassen kann nicht als vernünftig eingesehen werden. Sie ist das Resultat einer historischen Entwicklung, in der »bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle« (K I² 644/742) spielen, und sie wird in der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise fortwährend reproduziert. Marx’ Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie enthält kein triftiges Argument gegen die Möglichkeit, im Rahmen einer normativen praktischen Philosophie bürgerliche Verhältnisse zu legitimieren. Dies nicht nur wegen ihrer Beschränkung auf das Staatsrecht. Selbst unterstellt, seine These, Rechtsverhältnisse seien nicht aus sich selbst oder aus der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes zu begreifen, wäre gut begründet, so wäre damit doch nur der Anspruch Hegels widerlegt, die Idee des Rechts aus dem Begriff des Rechts zu entwickeln. Nicht aber wäre dargetan, dass eine normative, rechtsphilosophische Rechtfertigung bürgerlicher Verhältnisse prinzipiell nicht möglich ist. Wenn Marx offenbar der Auffassung ist, mit der (partiellen) Kritik der Grundlinien 284 Vgl. Marx, DH; dazu Paul (1974: 125 f.). 285 Vgl. Koselleck (1967: 389).

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die rechtsphilosophische Rechtfertigung bürgerlicher Verhältnisse insgesamt hinreichend kritisiert zu haben, dann zeigt er sich darin noch Hegel verpflichtet, dass er dessen Philosophie mit ›der‹ Philosophie gleichsetzt. Marx’ Ideologiekritik des Rechts hält einer Kritik nicht stand. Sie verfehlt sowohl den Inhalt des von ihr kritisierten Begriffs rechtlicher Freiheit als auch die normative Dimension des Rechts als positivierten Naturrechts. Aus dem Gesagten erhellt: Ideologiekritik, die in den Grenzen des alten Ideologiebegriffs verbleibt, kann sich nicht selbst begründen, sie kann »Erkenntnistheorie und normative Ethik nicht ersetzen« (Schnädelbach 1983a: 343). Sie missversteht sich als »eine nicht-normative, aber normativ bedeutsame Kritikmethode« (Leist 1986: 59) und setzt sich deshalb selbst der Kritik aus. Das hat Konsequenzen für das Verhältnis von Kapitalkritik und (praktischer) Philosophie. Eine tragfähige ›materialistische‹ Kritik von Recht und Moral darf deren Anspruch auf normative Geltung nicht vorweg als ideologisch behaupten. Eine Kritik, die derart verfährt, vertritt einen Reduktionismus (Recht ist ›nichts weiter als‹ der rechtliche Ausdruck ökonomischer Inhalte), der schon deshalb nicht einzusehen ist, weil er, statt seine Thesen zu begründen, dazu auffordert, aus der Philosophie insgesamt sei ›he­ rauszuspringen‹. Eine Kritik, die den Anspruch von Recht und Moral auf normative Geltung ernst nimmt, muss die Begründung dieses Anspruchs immanent kritisieren, und zwar diejenige Form der Begründung, von der zu unterstellen ist, dass sie die stärksten Argumente für die ›Selbständigkeit‹ von Recht und Moral gegenüber dem ›wirklichen Leben‹ enthält. Dies ist nun ohne Zweifel die praktische Philosophie Kants. Kants emphatischer Begriff der Freiheit als Autonomie, sein Begriff der reinen, für sich selbst praktischen Vernunft stellt für eine Theorie, die sich auf ihren Materialismus etwas zugute hält, einen Prüfstein dar, der sich mit den Mitteln einer dogmatischen Ideologiekritik nicht aus dem Weg räumen lässt.286 Kant leitet die Notwendigkeit des Privateigentums aus dem Vernunftbegriff der Freiheit her. Seine Theorie beansprucht die Institution des Privateigentums als in einem nachdrücklichen Sinn vernünftig zu rechtfertigen. Wenn also etwas für Marx’ These, Rechtsverhältnisse – verstanden als Eigentumsverhältnisse – ließen sich nicht aus sich selbst begreifen, sprechen sollte, dann muss diese These durch die immanente Kritik der kantischen Theorie erhärtet werden. Es ist dies ein sachliches Erfordernis, das nicht mit dem Hinweis darauf abzutun ist, 286 In Horkheimers (1933: 114) Urteil »In Kants Formulierung des kategorischen Imperativs kommt die Moralvorstellung des Bürgertums zum reinsten Ausdruck«, kommt eine Moralkritik zum Ausdruck, die sich ihrer Orthodoxie in Sachen Materialismus so sicher ist, dass sie Kants Moralphilosophie gar nicht mehr ernst nehmen kann. Kants These vom »guten Willen« als dem »einzig Guten« gilt ihr als »idealistischer Wahn« (121).

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dass Marx (und Engels) als gelernte Hegelianer die praktische Philosophie Kants keiner ernsthaften Lektüre für würdig befanden und in dessen zweiter Kritik nur ein Exempel philosophischer Ideologieproduktion im politisch und ökonomisch zurückgebliebenen Deutschland zu erblicken vermochten: »Der Zustand Deutschlands am Ende des vorigen Jahrhunderts spiegelt sich vollständig ab in Kant’s Kritik der praktischen Vernunft.« (DI 248/176) Im dritten Band des Kapitals deutet Marx in einer Anmerkung zu Hegels Rechtfertigung des Privateigentums auf ein Problem, das nicht nur den hegelschen, sondern auch den kantischen, wenn nicht jeden Versuch der Rechtfertigung von Privateigentum (an Produktionsmitteln) im Rahmen einer normativen praktischen Philosophie als problematisch erscheinen lässt. Das Vernünftige des Eigentums liegt Hegel zufolge darin, dass »sich die bloße Subjektivität der Persönlichkeit aufhebt«. Die Person sei erst im Eigentum »als Vernunft«. »Die Person muß sich eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben, um als Idee zu sein.« (Rph 102) Marx findet diesen Auftakt der Herleitung des Privateigentums aus dem Begriff des freien Willens äußerst »komisch«: Der Mensch als Person müsse »seinem Willen Wirklichkeit geben als der Seele der äussern Natur, daher sie als sein Privateigenthum in Besitz nehmen«. Wäre dies die Bestimmung des Menschen als Person, »so würde folgen, daß jeder Mensch Grundeigenthümer sein muß, um sich als Person zu verwirklichen. Das freie Privateigenthum an Grund und Boden – ein sehr modernes historisches Produkt – ist nach Hegel nicht ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältniß, sondern ein Verhältniß des Menschen als ›Person‹ zur ›Na­ tur‹.« (K III 668 Anm. 1/628 f. Anm. 26) In der Tat fasst Hegel das Eigentumsrecht zunächst nicht als ein Willensverhältnis zwischen Personen, sondern als ein Verhältnis des Menschen als Person zur Natur, als »absolutes Zueignungsrecht des Menschen auf alle Sachen«. (Rph 106) Dieses absolute Recht der Zueignung ist aber nichts anderes als die dem abstrakten, sich nur auf sich beziehenden Willen immanente Notwendigkeit, sich in die Natur und Geschichte zu entäußern. Hegels Begründung des Privateigentums verleiht diesem metaphysische Dignität.287 Zugleich sieht sie sich außerstande, zu bestimmen, wie viel Eigentum jeder Mensch haben muss, um als Person zu sein. Im Verhältnis zu äußerlichen Dingen ist es zwar »das Vernünftige, daß Ich Eigentum besitze«. Was und wie viel Ich besitze, betrifft aber die Seite des Besonderen und ist »daher eine rechtliche Zufälligkeit«. (Rph 112) Auch in Bezug auf den Akt der Besitznahme äußerer Dinge lässt sich keine Bestimmung des Wieviel geben: »Hier muss das 287 Vgl. die Anmerkung zu § 44, in der »das Eigentumsverhältnisse stiftende Verhalten unmittelbar zum philosophischen« wird (Schnädelbach 1970: 60). Vgl. Marcuse (1941: 170; 176).

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positive Recht seine Feststellungen machen, denn aus dem Begriffe läßt sich nichts weiter herleiten.« (Rph 121) Marx sieht ein doppeltes »Geständniß des Begriffs« (K III 669 Anm. 1/629 Anm. 26). Indem dieser eine der bürgerlichen Gesellschaft angehörige Vorstellung vom Grundeigentum absolut setze, beweise er, dass er vom wirklichen Grundeigentum nichts begreife. Und indem er die Bestimmung des Wieviel des Grundeigentums ans positive Recht delegiere, gestehe er, dass das positive Recht seine Feststellungen den wechselnden Bedürfnissen der gesellschaftlichen, d.h. ökonomischen Entwicklung anpassen könne und müsse.288 Die rechtsphilosophische Herleitung des Eigentums aus dem Begriff des freien Willens will das Eigentum als vernünftig rechtfertigen, indem sie es als Dasein der Freiheit, nämlich des freien Willens begründet. Indem sie das Eigentumsrecht nicht als gesellschaftliches Verhältnis fasst, lässt sie das Problem der materialen Gerechtigkeit der Verteilung des Eigentums gar nicht erst in den Blick kommen. Dass die hegelschen Schwierigkeiten der Rechtfertigung des Privateigentums als vernünftig nicht nur auf die Methode der Entwicklung der Idee aus dem Begriff zurückzuführen sind, wird bei einem Vergleich mit Kants Rechtslehre deutlich, die das Privateigentum289 ebenfalls als vernünftig erweisen will, sich dabei aber nicht auf ›den Begriff‹ verlassen kann. Anders als Hegel bestimmt Kant das Eigentum sogleich als ein Willensverhältnis. Doch ähnlich wie Hegel hat Kant die Schwierigkeit, die apriorische, vernünftige Seite des Eigentums mit seiner empirischen zu vermitteln. Der physische Besitz einer Sache begründet kein Eigentumsrecht. Solches leistet nur ihr ›intelligibler Besitz‹, indem er allen Nicht-Eigentümern die Verbindlichkeit auferlegt, sich des unerlaubten Gebrauchs der Sache zu enthalten.290 Da aber der intelligible Besitz ohne Beziehung auf einen empirischen Gegenstand gegenstandslos wäre, dieser aber nur durch den empirischen Akt einer Person in Besitz genommen werden kann, erweist sich das Problem der Vermittlung der intelligiblen und empirischen Seite des Eigentums als das der rechtlichen Möglichkeit der ursprünglichen Erwerbung eines äußeren Gegenstandes. Die ursprüngliche Erwerbung eines äußeren Gegenstandes, die für sich betrachtet ein Akt »einseitiger Willkür« (RL B 78 f.) ist, muss zugleich auch als ein rechtlicher Akt gedacht werden können. Nur dann ist der Übergang vom 288 Vgl. K III 669 Anm.1/629 Anm. 26. 289 Kant spricht, anders als heute üblich, im Allgemeinen nicht von Eigentum, sondern vom »Äußeren Mein und Dein«. Der Begriff bezeichnet drei verschiedene »äußere Gegenstände meiner Willkür«: die »körperliche Sache außer mir«, die »Willkür eines anderen zu einer bestimmten Tat« und den »Zu­ stand eines anderen in Verhältnis auf mich« (RL § 4). Dagegen bezeichnet der Begriff des Eigentums den äußeren Gegenstand, »welcher der Substanz nach das Seine von jemanden ist« (RL B 96), also die körperliche Sache. 290 Vgl. RL 1. Hauptstück.

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Naturzustand in den Zustand einer rechtlich verfassten Gesellschaft als einer innerhalb des Rechts zu konstruieren, nämlich als Übergang vom »Privatrecht im natürlichen Zustande«, in dem die vernunftrechtlichen Bestimmungen des äußeren Mein und Dein gelten, in den Zustand einer »austeilenden Gerechtigkeit« (RL B 156 f.), in dem sie staatlich ausgeübt werden und damit erst »volle Wirklichkeit«291 haben. Kann der ursprünglichen Inbesitznahme eines Teils der Erdkugel dagegen nicht das Willkürliche und Einseitige genommen werden, muss der rechtliche Zustand als das Resultat einer Transformation von Gewalt und Macht in Recht gedacht werden. Kant zufolge ist dem Akt der ursprünglichen Inbesitznahme die Einseitigkeit genommen, wenn derjenige, der als erster einen Teil des Erdbodens erwirbt, nicht auf einen herrenlosen Gegenstand trifft, sondern auf einen Boden, der im »ursprünglichen Gesamtbesitz« aller Menschen ist, und wenn seine Erwerbung nach einem Gesetz erfolgt, das sich alle Mitbesitzer der Erde ursprünglich selbst gegeben haben. Der erste Erwerber trifft dann in rechtlicher Hinsicht gar nicht auf einen Gegenstand, sondern auf die Gemeinschaft der Mitbesitzer, und seine Erwerbung ist kein einseitiger Willkürakt, sondern ein Akt der freien Willkür, die »in einem a priori vereinigten […] absolut gebietenden [bzw. gesetzgebenden] Willen enthalten ist«. (RL B 85 f.) Der praktische Vernunftbegriff des »ursprünglichen Gesamtbesitzes« aller Menschen an der Erde bezeichnet den »Besitz aller Menschen auf Erden, der vor allem rechtlichem Akt derselben vorhergeht« (RL B 84). Er ist nicht von Zeitbedingungen abhängig, während der Akt der ursprünglichen Inbesitznahme selbst auch im Kontext einer apriorischen Theorie der Rechtsgeltung nur als ein zeitlicher, wenngleich nicht als ein historischer Vorgang gedacht werden muss.292 Die ursprüngliche Erwerbung ist die Art der rechtlichen Erwerbung, die der im bürgerlichen Zustand einzig möglichen, der abgeleiteten Erwerbung durch Vertrag, logisch vorausgeht; sie ist provisorisch rechtlich und führt zu provisorischem Besitz. Der Übergang vom provisorischen zum peremtorischen Besitz ist demnach einer 291 Den Ausdruck verwendet Höffe (1987: 428 ff.), um die vernunftrechtlich begründete Geltung der Bestimmungen des äußeren Mein und Dein vor der Einführung des Staates von ihrer Geltung nach dessen Einführung zu unterscheiden. 292 In der Rechtslehre bilden Zeit und Raum »ein uniformes Substrat; die Geschichte und Geographie sind in ihm nicht verzeichnet« (Brandt 1974: 184). Das erinnert von Ferne daran, dass in Hegels Rechtsphilosophie, die dem apriorischen, also ahistorischen Rechtsbegriff keine Wahrheit zuerkennt, die Philosophie der Geschichte in einem gesonderten Abschnitt situiert ist und die Weltgeschichte infolgedessen nicht »im direkten Zusammenhang mit den Begriffen Person, Moralität, Familie, Sittlichkeit, Staat [erscheint], die ihr erst Sinn verleihen« (Brauer 1982: 22).

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innerhalb des Rechts. Doch das ist unzutreffend. Die erste Inbesitznahme eines bestimmten Teils der Erdkugel bleibt ein einseitiger Akt der privaten Willkür, der nicht aus dem Gesetz des a priori vereinigten Willens hervorgehen kann. Dazu, dass das empirische Subjekt diesen empirischen Platz als den seinen behauptet, hat es »keinen Grund als seine eigene Willkür« (Deggau 1983: 113). Damit erweist sich aber die Pflicht, mit allen anderen in einen bürgerlichen Zustand zu treten, als die, das Resultat einseitiger Willkürakte als rechtmäßig anzuerkennen, und der bürgerlich-rechtliche Zustand ist nur als das Ergebnis der Transformation von historischen Gewalt- und Machtverhältnissen in Recht zu denken. Mit den Worten der Deutschen Ideologie: »Im Privatrecht werden die bestehenden Eigenthumsverhältnisse als Resultate des allgemeinen Willens ausgesprochen.« (DI 118 f./63) Orthodoxe Verteidiger der kantischen Argumentation werden darauf verweisen, es sei nicht zu verlangen, dem Akt der ursprünglichen Erwerbung gänzlich das Einseitige und Willkürliche zu nehmen. Denn der rechtliche, intelligible Besitz könne seinen Gegenstand nicht anders als durch Okkupation gewinnen, und aus seinem Begriff ließen sich natürlich »keine verteilungspolitischen Maximen ableiten« (Kersting 1984: 246). Auch Hegels Hinweis, aus dem Begriff lasse sich nichts über den Umfang der Besitznahme äußerer Dinge herleiten, scheint nur plausibel. Beide Male gilt, dass das, was als bloß empirischer Vorgang respektive Gegenstand gedacht werden kann, sich in seiner spezifischen Bestimmtheit in keiner Weise aus der Vernunft deduzieren lässt. Lässt sich »die Schreibfeder des Herrn Krug«293 unmöglich deduzieren, dann wäre es unsinnig, dergleichen von der Philosophie zu fordern. Freilich: Was im Rahmen von Erkenntnistheorie oder spekulativer Logik zuzugeben ist, ohne deshalb schon gegen beide zu sprechen, kann im Fall der Rechtsphilosophie nicht zugegeben werden, ohne dass dies gegen deren Anspruch auf die Rechtfertigung des Privateigentums als vernünftig spricht. Denn das bloß empirische, nicht aus Vernunftbegriffen herleitbare Element bezeichnet hier historische Gewalt- und Machtverhältnisse, die sich der Vernunft nicht fügen. Anders gesagt: Unter dem Titel der ursprünglichen Erwerbung ragt die reale Geschichte, von der Kants apriorische Rechtslehre abstrahieren muss, in die apriorische Rechtskonstruktion hinein und erweist sich als nicht integrierbar.294 Als nicht integrierbar in das System des Rechts erweist sich weiter das für die bürgerliche Gesellschaft konstitutive Element der freien Lohnarbeit. Der freie Lohnarbeiter ist als Nichteigentümer von Sachen 293 Vgl. Hegel, MV 188 ff. 294 Kants geschichtsphilosophische Versuche intendieren die Vermittlung von Gewalt und Macht mit der Vernunft – im Medium der reflektierenden Urteilskraft und ihrem Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur: vgl. I, 3.

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gezwungen, seine Arbeitskraft auf Zeit zu verkaufen. Da nun die Arbeitskraft nicht vom Leib zu trennen ist, über den Leib aber nicht disponiert werden kann, ohne über die Person selbst zu disponieren; da endlich das »Recht der Menschheit in unserer eigenen Person« (Kant, RL B 43) jedermann verpflichtet, sich nicht zum bloßen Mittel für fremde Zwecke zu machen, sondern für andere immer zugleich Zweck zu sein, so ist zu fragen, wie die freie Lohnarbeit rechtlich möglich sein kann. Zunächst könnte es scheinen, dass diese Frage auf der Grundlage der kantischen Rechtslehre gar nicht gestellt werden kann. Denn Kant hat nicht den modernen, ›doppelt freien‹ Lohnarbeiter (Marx) vor Augen, wenn er den privatrechtlichen Status der Nichteigentümer von Sachen (genauer: Produktionsmitteln) thematisiert, sondern zum einen das Gesinde: die ›Dienerin‹ und den ›Diener‹, zum anderen Tagelöhner und Handwerker.295 Und seine Unterscheidung zwischen ›Gesindevertrag‹ und ›Lohnvertrag‹ scheint von vornherein die Möglichkeit zu verstellen, das Problem der Lohnarbeit angemessen erörtern zu können. Der Gesindevertrag habe die »Hingebung« der Person »in den Besitz des Hausherrn« zum Gegenstand; aus ihm folge, dass »das Gesinde sich zu allem Erlaubten versteht, was das Wohl des Hauswesens betrifft«. Der Lohnvertrag dagegen habe eine »bestellte und spezifisch bestimmte Arbeit« (RL B 167) eines Handwerkers oder Tagelöhners zum Gegenstand, welche deshalb ihre Person nicht in den Besitz des Hausherrn gäben. Aber diese Unterscheidungsmerkmale erweisen sich als akzidentell gegenüber einer wesentlichen Gemeinsamkeit von Gesinde, Handwerker und Tagelöhner, mit der der Sache nach das Problem der Lohnarbeit angesprochen ist. Der Inhalt beider Verträge ist nämlich im Kern derselbe: »In beiden Fällen überläßt der eine dem anderen seine Arbeitskraft zur freien vertraglich festgelegten Verwendung.« (Deggau 1983: 216296) Der Sache nach thematisiert Kant mit dem Gesindevertrag auch die rechtliche Möglichkeit der freien Lohnarbeit, und dass er es unter dem Titel des ›auf dingliche Art persönlichen Rechts‹ tut, deutet auf die Brisanz, die das sozioökonomische Faktum der Lohnarbeit für die Rechtfertigung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse als vernünftiger Verhältnisse hat. Das auf dingliche Art persönliche Recht soll als ›Eherecht‹ die Beziehungen zwischen Mann und Frau, als ›Elternrecht‹ die zwischen Eltern und Kindern, und als ›Hausherrenrecht‹ die zwischen Hausherr und Gesinde regeln. Es ist eine neue Rechtsart, die Kant einführt, weil 295 Zu Kants Zeit hatte sich die freie Lohnarbeit in Preußen noch lange nicht durchgesetzt. »Auch wenn bäuerliche Fronarbeit und Gesindezwangsdienst vom ökonomischen Standpunkt aus unrentabel gewesen sein mögen, blieben sie doch für den Gutsbesitzer in jedem Fall billiger und leichter verfügbar als freie Lohnarbeit.« (Schissler 1978: 71). 296 Anders Ludwig (1988: 146).

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die genannten Beziehungen weder als sachlich-rechtliche noch als persönlich-rechtliche gefasst werden können. Es soll die rechtliche Möglichkeit begründen, den Leib eines Menschen wie eine Sache zu besitzen, den Gebrauch dabei aber so einschränken, dass das Personsein dessen, der besessen wird, nicht negiert ist. »Dieses Recht ist das des Besitzes eines äußeren Gegenstandes als einer Sache und des Gebrauchs desselben als einer Person.« (Kant, RL B 105)297 Kant ist im ›Hausherrenrecht‹ genötigt, materiale Bestimmungen einzuführen, die der Formalität des Rechtsbegriffs widerstreiten.298 Denn der rein formal gefasste Arbeitsvertrag des ›Lohndieners‹ würde es dem Hausherrn paradoxerweise rechtlich erlauben, das Leben dieses Rechtssubjekts zu ruinieren. Kant nennt die zeitliche Befristung des Gesindevertrags als Bedingung seiner rechtlichen Möglichkeit. Diener und Dienerin dürfen ihre Arbeitskraft nur auf Zeit verkaufen, sie dürfen vertraglich nicht auf ihre ganze Freiheit verzichten und damit ihr Personsein drangeben. Die zeitliche Befristung soll sicherstellen, dass der »Gebrauch« des Gesindes durch den Hausherrn kein »Verbrauch« ist (RL B 117). Diese einschränkende Bedingung des Gesindevertrags ist aber nicht haltbar. Weder ist die freie Willkür quantifizierbar, noch ist plausibel, wie diesseits der Grenze der Vernichtung des Trägers der Arbeitskraft zwischen Gebrauch und Verbrauch zu trennen ist, ist doch jeder Gebrauch ein Verbrauch, nämlich eine »Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand u.s.w.« (K I² 77/58). Auch die von Kant angeführte Einschränkung der vertraglichen Verpflichtung des Arbeitskraftverkäufers zu »der Qualität und dem Grade nach bestimmten Arbeiten« (RL B 224), die garantieren soll, dass der Herr nicht über das Leben des Arbeitskraftbesitzers verfügt, ist nicht haltbar. Die allgemeine Forderung nach Bestimmtheit der Arbeit ist solange abstrakt, wie keine weiteren Kriterien angegeben werden. Dies ist aber unmöglich, weil diese Kriterien die Konstitution des jeweiligen Arbeitskraftverkäufers zu berücksichtigen hätten. Die materialen Bestimmungen sollen ein Problem lösen, dass dem Rechtsbegriff selbst entspringt und von dem zugleich gezeigt werden kann, dass ihm realgeschichtlich etwas korrespondiert. Das Problem, das dem Rechtsbegriff selbst entspringt, ist das der Einbeziehung der Nichteigentümer in das System des Rechts.299 Dass es Menschen gibt, 297 Dazu ausführlich Deggau (1983: 165–223). 298 Die »reine praktische Vernunft« legt dem Gebrauch der Willkür »keine andere als formale Gesetze« zum Grunde (RL B 57). 299 Heute wird diese Diskussion in der Regel nicht mehr unter Rekurs auf Kants Vernunftrecht und seinen Autonomiebegriff geführt, sondern in Bezug auf zeitgenössische ›Kantianer‹. Die Kritik an ihnen thematisiert nicht die rechtliche Möglichkeit der Lohnarbeit, sondern Bedingungen, durch welche die freiheitsdienliche Rolle des Privateigentums bewahrt und zugleich der

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die nicht über Eigentum verfügen, welches ihre Subsistenz sichert, muss aus zwei Gründen rechtlich möglich sein. Zum ersten: Indem das Recht von den Motiven und Zwecken der Subjekte absieht, sieht es auch davon ab, ob diese in einem Maß über äußeres Eigentum verfügen wollen, das sie zu ›selbständigen Bürgern‹ qualifiziert, oder ob sie es vorziehen, sich als ›unselbständige Bürger‹ bei Selbständigen zu verdingen.300 Der Staat darf seine Untertanen nicht paternalistisch zu ihrem Glück zwingen, sondern muss garantieren, dass ein jeder »seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen« kann, »welcher ihm selbst gut dünkt« (GTP A 235). Er darf nicht etwa durch eine Bodenaufteilung aus Unselbständigen zwangsweise Selbständige machen. Vielmehr muss er sich da­ rauf beschränken, durch seine Gesetzgebung sicherzustellen, dass das Grundeigentum nicht in einer Weise monopolisierbar ist, die prinzipiell ausschließt, dass sich unselbständige Bürger zu selbständigen Bürgern »erheben« können, »wenn ihr Talent, ihr Fleiß und ihr Glück es ihnen möglich macht« (GTP A 241). Gesetze, die bewirken, dass großes Grundeigentum nur von den Angehörigen einer »willkürlich dazu angeordneten Menschenklasse« (GTP A 247) besessen oder erworben werden kann, sind daher rechtlich nicht möglich.301 Kant vertraut mit der liberalen Sozialphilosophie und Politischen Ökonomie darauf, dass der Konkurrenzmechanismus eines von direkten staatlichen Eingriffen freien Marktes302 nicht nur den selbständigen Bürgern dient, die sich hier rechtliche Status der Nichteigentümer verbessert werde. Tendieren ›Kantianer‹ dazu, den Staat für einen sozialen Ausgleich in die Pflicht zu nehmen, wollen ›Liberale‹ dem befürchteten Paternalismus eines Sozialstaats wehren, indem sie eine Lösung jenseits des tradierten Dualismus von Privatrecht und Öffentlichem Recht präferieren (vgl. etwa Dagan 2021). 300 Die Qualität des aktiven Staatsbürgers hat nach Kant nur, wer »kein Kind, kein Weib« ist und aufgrund irgendeines ihn ernährenden Eigentums »sein eigener Herr (sui iuris)« ist (GTP A 245). Dass die Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Staatsbürger nicht nur scheinbar »der Erklärung des Begriffs von einem Staatsbürger überhaupt« widerspricht, wie Kant selbst einräumt (RL B 197), sondern mit ihr tatsächlich unvereinbar ist, liegt auf der Hand. Denn »die Qualität des Menschen, sein eigener Herr (sui iuris) zu sein«, liegt »schon im Prinzip der angebornen Freiheit« (RL B 45 f.). 301 In Preußen besitzt der Adel bis 1807 rechtlich das Monopol des Besitzes von Landgütern. Indem der Staat Bürgerlichen den Erwerb adliger Rittergüter untersagt, erhält er den Adel im exklusiven Besitz seiner Güter. Diese Exklusivität wird zwar seit 1786 immer häufiger durch königlichen Dispens durchbrochen und durch die sozialökonomische Entwicklung zunehmend unterminiert, aber 1794 durch das »Allgemeine Landrecht« noch einmal bestätigt. Dazu Schissler (1978: 50–104). 302 Vgl. Smith (1789: 582): »Im System der natürlichen Freiheit hat der Souverän lediglich drei Aufgaben zu erfüllen.« Er muss das Land gegen Angriffe anderer Staaten schützen, jeden Bürger vor Ungerechtigkeit oder

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als Verkäufer und Käufer ihrer Waren begegnen, sondern auch den unselbständigen Bürgern (freilich nicht Bürgerinnen!) die Möglichkeit eröffnet, Eigentum zu erwerben. In einem anderen Kontext zitiert er in anekdotischer Form das Schlagwort des »laisser faire«: »Ein französischer Minister berief einige der angesehensten Kaufleute zu sich und verlangte von ihnen Vorschläge, wie dem Handel aufzuhelfen sei […]. Nachdem einer dies, der andere das, in Vorschlag gebracht hatte, sagte ein alter Kaufmann, der so lange geschwiegen hatte: Schafft gute Wege, schlagt gut Geld, gebt ein promptes Wechselrecht u. d.gl., übrigens aber ›laßt uns machen‹.« (SdF A 9 Anm.) Dass es Menschen gibt, die über kein subsistenzsicherndes Eigentum verfügen, muss aber zweitens auch deshalb rechtlich möglich sein, weil Eigentum an äußeren Gegenständen systematisch betrachtet Eigentum an Boden voraussetzt. Kant weist gegen Locke nach, dass Eigentum nicht durch Arbeit zu begründen ist. Der allgemeine und systematisch erste Arbeitsgegenstand, der Boden, verhält sich zu den darauf befindlichen beweglichen und zerstörbaren Gegenständen wie die Substanz zu den Akzidenzien. Eigentum an Fahrnis setzt daher Eigentum an Boden voraus. Eigentum an Boden ist aber nicht durch Arbeit zu begründen, da die Bearbeitung des Bodens dessen erster Erwerbung akzidentell ist. »Bebauung, Beackerung, Entwässerung u. dergl.« sind »kein Objekt eines unmittelbaren Besitzes«. Sie können nur dann zu dem Besitz des Subjekts gehören, wenn der Boden »vorher als das Seine desselben anerkannt ist«. (RL B 88) Setzt demnach Eigentum an äußeren Gegenständen systematisch betrachtet Eigentum an Boden voraus, haben alle, die nach der Aufteilung des Bodens nicht den Status des Grundeigentümers haben, notwendig den des Nichteigentümers. Der Begriff des Rechts muss also nicht nur der Möglichkeit Rechnung tragen, dass Menschen Nichteigentümer von Grund und Boden sein wollen, vielmehr folgt aus ihm, dass es eine Klasse von Menschen, die über kein Grundeigentum verfügen, geben muss. Diesem dem Vernunftrecht immanenten Problem korrespondiert realgeschichtlich das Faktum, dass es in der bürgerlichen Gesellschaft Menschen gibt, die über kein subsistenzsicherndes Eigentum verfügen – nicht, weil sie es nicht wollen, sondern weil sie zur Klasse der Lohnarbeiter zählen. Als Lohnarbeiter dürfen sie Produkte nur dann produzieren, wenn sie dadurch das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital reproduzieren. Wichtiger noch als die »materiellen Resultate« des Verwertungsprozesses des Kapitals, so Marx in den Grundrissen, ist »die Reproduction und Neuproduction des Unterdrückung durch einen Mitbürger in Schutz nehmen und schließlich bestimmte öffentliche Einrichtungen unterhalten, »die ein einzelner oder eine kleine Gruppe aus eigenem Interesse nicht betreiben kann, weil der Gewinn ihre Kosten niemals decken könnte«.

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Verhältnisses von Capital und Arbeit selbst, von Capitalist und Arbei­ ter«. (Gr 367/371) Der letztere ist frei von Produktionsmitteleigentum, aber er ist auch freie Rechtsperson. Hegel und Kant leiten (in je unterschiedlicher Weise) die Notwendigkeit des Privateigentums aus dem (je unterschiedlichen) Vernunftbegriff der Freiheit her. Dieses rechtsphilosophische Unterfangen scheitert in beiden Varianten. Mit Hegel lässt sich das, was ist, weder als vernünftig begreifen noch lässt es sich überhaupt rechtsphilosophisch, auf der Grundlage des Begriffs des freien Willens begreifen. Und mit Kant lässt sich das Privateigentum nicht normativ rechtfertigen. Kants Unternehmen verstrickt sich in Aporien, also in Widersprüche, die nicht einfach auf einem Fehler der Argumentation beruhen, sondern, mit Aristoteles zu sprechen, auf einen Knoten in der Sache verweisen. Es gibt demnach gute Gründe dafür, Marx’ Bemerkung, Rechtsverhältnisse – verstanden als Produktionsmittel-Eigentumsverhältnisse – ließen sich nicht aus sich selbst begreifen, nicht nur auf Hegel, sondern auch auf Kant und darüber hinaus auf jeden Versuch zu beziehen, bürgerliche Eigentumsverhältnisse als in einem emphatischen Sinne vernünftig zu rechtfertigen. Allerdings können diese Gründe nicht beigebracht werden, wenn auf eine immanente Kritik der rechtsphilosophischen Rechtfertigung bürgerlicher Verhältnisse verzichtet wird und die Kritik dieser Verhältnisse auf der Grundlage einer materialistischen Generalthese erfolgt, deren Wahrheit schlicht vorausgesetzt wird. Der Vergleich der marxschen Ideologiekritik des Rechts im Kapi­ tal und der vernunftrechtlichen Begründung des Rechts durch Kant zeigt, dass beide Seiten jeweils von dem absehen, was für die andere Seite wesentlich ist. Marx’ Thema ist die historische und soziale Genese naturrechtlicher Vorstellungen und die Funktionalität des Rechts für die gesellschaftliche Reproduktion unter kapitalistischen Bedingungen. Weil dabei der Anspruch des Rechts auf normative Geltung, seine prätendierte Selbständigkeit und Allgemeinheit als positiviertes Naturrecht, aufgrund der materialistischen Generalthese von vornherein als ideologisch gilt, wird dieser Anspruch theoretisch auch nicht ernst genommen. Dagegen intendiert Kant die apriorische Begründung des Rechts. Um dieser Intention willen muss seine Rechtslehre von den Bedürfnissen der Menschen und von der Funktion der Arbeit für die individuelle und gesellschaftliche Reproduktion absehen. Denn mit dem Rekurs auf die Motive und Zwecke, die zur Verwirklichung von Rechtsinstitutionen führen, könnte sie für das Recht nur noch Gründe der Klugheit oder Nützlichkeit anführen, so wie Hobbes, Locke und Hume. Der emphatische Vernunftanspruch nötigt zu einem formalen Rechtsbegriff. »Reine praktische Vernunft« legt dem Gebrauch der Willkür »keine andere als 335

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formale Gesetze« (RL B 57) zum Grunde.303 Das Recht ist ein »Verhältnis der Verbindlichkeit« (RL B 82) zwischen Personen, das allein durch einen kategorischen Imperativ gestiftet werden kann (vgl. RL B 21). So kann es den ›Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur‹ (Marx) nicht inhaltlich bestimmen durch die Vorgabe des Zwecks der gesellschaftlichen Produktion, sondern nur die Form des Verhältnisses der Personen zueinander vorschreiben, die einen kollisionsfreien Gebrauch ihrer äußeren Handlungsfreiheit in Bezug auf Gegenstände ermöglicht.304 Es schreibt lediglich vor, dass die gesellschaftliche Reproduktion die Gleichverteilung der Freiheit aller nicht beeinträchtigen darf (keine Sklaverei z.B.), lässt aber unbestimmt, welche Zwecke in sie eingehen und wie sie technisch-praktisch organisiert wird. Die für die marxsche und kantische Theorie jeweils charakteristische Abstraktion erweist sich aber als problematisch. Indem Marx Recht (und Moral) aufgrund seiner materialistischen Generalthese dogmatisch als Ideologie bestimmt, muss seine Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise grundlos bleiben, sofern unter Gründen Vernunftgründe verstanden werden, die für jeden einsichtig und verbindlich sind. Als nichtnormative Theorie vermag das Kapital das Recht nicht in einer Weise zu kritisieren, die dessen eigenen Anspruch trifft. Die Einsicht in den strukturellen Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft erweist das Personsein des Arbeitskraftverkäufers nicht als Schein, denn dieser Zwang geht nicht von einem fremden Willen aus, und die Kritik an der nur formellen Freiheit des Lohnarbeiters setzt einen normativen Maßstab voraus, dessen Möglichkeit der marxsche Materialismus leugnet. Und indem Kants formaler Rechtsbegriff von der Funktion der Arbeit für die individuelle und gesellschaftliche Reproduktion abstrahiert, 303 Die bürgerliche Verfassung ist »ein Verhältnis freier Menschen«, die im Ganzen ihrer Verbindung mit anderen »doch unter Zwangsgesetzen stehen: weil die Vernunft selbst es so will, und zwar die reine a priori gesetzgebende Vernunft, die auf keinen empirischen Zweck […] Rücksicht nimmt« (GTP A 234). Die Menschen denken in Bezug auf ihr Glück so verschieden, dass »ihr Wille unter kein gemeinschaftliches Prinzip, folglich auch unter kein äußeres, mit jedermanns Freiheit zusammenstimmendes Gesetz gebracht werden kann« (GTP A 234 f.). 304 Vgl. das »rechtliche Postulat der praktischen Vernunft« (RL § 2): Ein jeder darf äußere Gegenstände beliebig gebrauchen, sofern seine Willkür »formaliter« mit jedermanns äußerer Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmt. Ein rechtliches Besitz- und Erwerbsverbot äußerer Gegenstände kann nicht in den Gegenständen selbst, sondern nur im Rechtsprinzip begründet sein. Da dieses aber nichts hinsichtlich der Gegenstände der Willkür bestimmt, sondern allein auf die Form der Zusammenstimmung der äußeren Handlungsfreiheit von Personen abhebt, ist die res nullius rechtlich ausgeschlossen.

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verstellt er den Einblick in die Heteronomie der bürgerlichen Gesellschaft. Rechtliche Freiheit ist die »Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür, sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann« (RL B 45). Eine dem Rechtsbegriff konforme Gesellschaftskritik ist deshalb nur möglich als Kritik an staatlich sanktionierten Verhältnissen, die dem allgemeinen Rechtsgesetz und damit dem Personsein des Menschen widerstreiten. Sie trifft insbesondere alles Privilegienrecht und jede Form der privaten Herrschaft von Menschen über Menschen. Dagegen kann der Zusammenhang von rechtlicher Freiheit, Herrschaft und Produktionsmitteleigentum auf der Grundlage des formalen Rechtsbegriffs nicht thematisiert werden. Die Frage: »[W]ie es doch mit Recht zugegangen sein mag, daß jemand mehr Land zu eigen bekommen hat, als er mit seinen Händen selbst benutzen konnte […]; und wie es zuging, daß viele Menschen, die sonst insgesamt einen beständigen Besitzstand hätten erwerben können, dadurch dahin gebracht sind, jenem bloß zu dienen, um leben zu können?«, wird von Kant deshalb zwar formuliert, aber nicht »in Anschlag« gebracht. (GTP A 247) Wie es historisch dazu gekommen ist, dass der Besitz von Grund und Boden an wenige Herrschaften fiel, sodass die Mehrheit der Menschen sich fortan nur durch Arbeit für diese Herrschaften selbst erhalten konnte – diese Frage zielt auf die reale Geschichte und damit auf einen Gegenstand, der außerhalb des Geltungsdiskurses der apriorischen Rechtsbegründung bleiben muss. Dass es aber historisch tatsächlich so gekommen ist, ist ein Faktum, dessen Verträglichkeit mit dem Rechtsbegriff das Lehrstück vom Hausherrenrecht als einem auf dingliche Art persönlichen Recht zeigen will. Mehr noch: Man kann jeden in einem »rechtlichen Zustande eines gemeinen Wesens« Lebenden »für glücklich annehmen, wenn er sich nur bewußt ist, daß es nur an ihm selbst […] oder an den Umständen, die er keinem anderen Schuld geben kann, aber nicht an dem unwiderstehlichen Willen anderer liege, daß er nicht zu gleicher Stufe mit anderen hinaufsteigt, die, als seine Mituntertanen, hierin, was das Recht betrifft, vor ihm nichts voraus haben« (GTP A 242). Aber auch die immanente Kritik der kantischen Argumentation reicht an das Prinzip, das der Heteronomie der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegt, nicht heran. Sie kann zwar nachweisen, dass die für die kapitalistische Produktionsweise konstitutive freie Lohnarbeit vernunftrechtlich nicht möglich ist, weil die freie Rechtsperson qua Lohnvertrag einwilligt, sich als bloßes Mittel für einen fremden Zweck gebrauchen zu lassen. Aber das ökonomische Prinzip dieser Produktionsweise und die in ihr gründende strukturelle Gewalt bleibt ihr verborgen. Die Aussage: Die bürgerliche Gesellschaft sei eine Klassengesellschaft, in der die Produktionsmitteleigentümer über die Besitzer der Ware Arbeitskraft herrschen, verfehlt das wesentliche Resultat der marxschen Kapitalkritik. 337

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Zwar herrschen die Kapitalisten über die Lohnarbeiter, sie tun es aber als »personifiziertes Kapital« oder »Triebräder« des gesellschaftlichen Verwertungsprozesses. Als »Personifikation des Kapitals« teilt der einzelne Kapitalist »mit dem Schatzbildner den absoluten Bereicherungstrieb. Was aber bei diesem als individuelle Manie erscheint, ist beim Kapitalisten Wirkung des gesellschaftlichen Mechanismus, worin er nur ein Triebrad ist«. (K I³ 556/618) So ist die Aufteilung des realisierten Mehrwerts in zu verzehrende Revenue und in zu akkumulierendes Kapital zweifellos »sein Willensakt«, aber dieser Wille, kantisch: diese Willkür, unterliegt einem ökonomischen Gesetz. Die »Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf. Sie zwingt ihn, sein Kapital fortwährend auszudehnen, um es zu erhalten, und ausdehnen kann er es nur vermittelst progressiver Akkumulation«. (K I³ 556/618) Diese Kant-Kritik ist zugegebenermaßen anachronistisch, aber deshalb doch nicht falsch. Sie ist anachronistisch, denn sie berücksichtigt nicht, dass der Königsberger Philosoph unmöglich die gesellschaftlichen Verhältnisse kennen konnte, die Marx über ein halbes Jahrhundert später in England antraf, ja dass er noch nicht einmal die gesellschaftliche Erfahrung seines schottischen Zeitgenossen Adam Smith teilte. Kant sah sich noch mit dem Problem der persönlichen Unfreiheit der Gutsuntertanen in den preußischen Staaten konfrontiert, während Smith bei relativ entwickelten persönlichen Freiheitsrechten schon die ökonomische Zersetzung des bäuerlichen Kleineigentums vor Augen hatte. Auf dieses Faktum beruft sich die Wissenschaftsgeschichte, wenn sie die These aufstellt, der kantischen Rechts- und Geschichtsphilosophie und der zur selben Zeit entstehenden anglo-schottischen Politischen Ökonomie lägen aufgrund ihrer jeweils verschiedenen gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen und Erfahrungshintergründe auch je verschiedene ›Erwartungshorizonte‹ zugrunde.305 Kants Rechtslehre richte sich gegen die alten feudalen Verhältnisse, während seiner Geschichtsphilosophie der Erwartungshorizont einer aus dem zerfallenden Feudalismus hervorgehenden kleinbürgerlichen Republik zugrunde liege. Im Unterschied dazu sei Smiths Politische Ökonomie den realen Triebkräften der modernen Gesellschaft auf der Spur und legitimiere die ökonomische Entwicklung einer sukzessiven Enteignung des größten Teils der Bevölkerung sozialethisch durch den Aufweis der Möglichkeiten, welche die sich abzeichnende bürgerliche Ökonomie für den Aufbau einer humanen Existenz biete.306 305 Vgl. Kittsteiner (1980, bes. 190 ff.). Zu dem Begriff des ›Erwartungshorizonts‹ s.a. Koselleck (1976). 306 Smith (1789: 3): »Die Ursachen dieser Verbesserung in den produktiven Kräften der Arbeit untersuche ich im ersten Buch, ebenso die Ordnung, nach

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MARX’ IDEOLOGIEBEGRIFF UND DER IDEOLOGIEBEGRIFF DES KAPITALS

Nun berührt der wissenschaftsgeschichtliche Rekurs auf die Entstehungsbedingungen von Theorien nicht deren Geltungsanspruch. Wird dieser ernst genommen und die kantische Argumentation immanent kritisiert, zeigt sich, dass der emphatische Vernunftanspruch der Rechtslehre zwar zu einem formalen Rechtsbegriff nötigt und mithin dazu, von der Bestimmtheit des materiellen Reproduktionsprozesses der Gesellschaft zu abstrahieren. Weil Kant aber aus Gründen, die in seinem eigenen Rechtsbegriff liegen, genötigt ist, diejenigen, die über kein ihre Subsistenz sicherndes Eigentum verfügen, in das Rechtssystem einzubeziehen, und weil dies der Sache nach bedeutet, das sozioökonomische Faktum der freien Lohnarbeit als rechtlich möglich zu erweisen, zeigt das Scheitern des kantischen Versuchs, dass die freie Lohnarbeit (vernunft-) rechtlich nicht möglich ist. Kant ist deshalb nicht nur aus dem kontingenten historischen Grund zurückgebliebener preußischer Verhältnisse, sondern aus systematischen Gründen der Einblick in die Heteronomie der bürgerlichen Gesellschaft verwehrt. Die Kritik der marxschen und kantischen Argumentation zeigt, dass sich Kapitalkritik und praktische Philosophie nicht ausschließen, sondern wechselseitig ergänzen. Praktische Philosophie, die sich durch die Kapitalkritik nicht belehren lässt, läuft Gefahr, gesellschaftliche Verhältnisse als vernünftig zu rechtfertigen, die es nicht sind, sie wird ideologisch und inkonsistent. Eine Kritik der kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, die ihre eigenen normativen Voraussetzungen negiert, bezahlt dies ebenfalls mit Inkonsistenzen. Sie ist bloße Ideologie oder Weltanschauung. Dem Verhältnis von Kapitaltheorie und praktischer Philosophie wird im Folgenden weiter nachgegangen.307 Die zu erhärtende These lautet: Die Ansprüche von praktischer Philosophie und Kapitalkritik können nur dann eingelöst werden, wenn beide nicht bei sich selbst bleiben, sondern die jeweils andere Seite als konstitutiv für die Einlösung des jeweils eigenen Anspruchs anerkennen. der sich der Ertrag der Arbeit natürlicherweise auf die einzelnen Schichten und nach der sozialen Stellung der Menschen verteilt.« 307 Reiman (1991: 147) meint: »Marxism challenges moral philosophy to reflect on the asserted disinterestedness of moral principles, and moral philosophy challenges Marxism to determine whether – and if so, how – its practical commitments are moral commitments«, ist dabei aber gänzlich desinteressiert an dem kritischen Potential der kantischen Moralphilosophie. Vielmehr wird diese gemeinsam mit dem »Kantianism«, dem »social contractarianism« und dem »utilitarianism« kurzerhand der Ideologie zugeschlagen (161 ff.). Eine marxistische Moraltheorie sei wünschenswert, aber kaum möglich. Denn um dem Ideologieverdacht zu entkommen, müsste sie die Moral auf eine rein rationale Grundlage stellen – ein »apparently moribund project« (167).

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4. Kapitaltheorie und praktische Philosophie Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als ließen sich diejenigen marxschen Bestimmungen der menschlichen Arbeit, die keiner Naturalisierung des Menschen Vorschub leisten, ohne größere Schwierigkeiten teils in kantische Bestimmungen der technisch-praktischen Vernunft übersetzen, teils durch diese ergänzen, um die sachliche Relevanz des Freiheitsthemas im Kapital deutlich zu machen. Der Terminus ›Arbeitsvermögen‹ bezeichnet Marx zufolge die Totalität der physischen und geistigen Fähigkeiten des Menschen. Als Inbegriff menschlicher Subjektivität steht er für die »schöpferische Kraft« (Gr 226/228; vgl. K I² 183/181), die den Menschen zu materieller, wissenschaftlicher und ästhetischer Produktion befähigt, auch wenn sie im Kontext der Kapitaltheorie nur im Hinblick auf erstere thematisch ist. Es scheint naheliegend, mit Rekurs auf Kant das Arbeitsvermögen als das spezifisch menschliche Vermögen der Kausalität aus Freiheit zu fassen, als die Fähigkeit von Individuen, aus sich selbst eine Wirkung in der empirischen Welt zu setzen, deren Ursache eine Idee und kein natürliches Phänomen ist. Und nichts scheint gegen die These zu sprechen, der Aneignung von Natur durch Arbeit lägen hypothetische Imperative zugrunde, praktische Vernunftregeln, die durch einen vorgegebenen Zweck und das theoretische Wissen von seiner Realisierbarkeit bedingt sind. Da nun, wie Kant betont, »niemand einen Zweck haben kann, ohne sich den Gegenstand seiner Willkür selbst zum Zweck zu machen, so ist es ein Akt der Freiheit des handelnden Subjekts, nicht eine Wirkung der Natur, irgend einen Zweck der Handlungen zu haben« (Kant TL A 11). Ist damit bereits deutlich geworden, inwiefern das Freiheitsthema dem marxschen Begriff der Arbeit bzw. des Arbeitsprozesses immanent ist? Keineswegs, denn dem Akt der Zweckbestimmung, von dem hier die Rede ist, liegt »ein kategorischer Imperativ« zugrunde, und nur deshalb ist er ein ›Akt der Freiheit‹ und die daraus resultierende Handlung eine ›freie Handlung‹. Aus kantischer Perspektive gilt nämlich, dass sich in Zwecken, »die der Mensch sich nach sinnlichen Antrieben seiner Natur macht« (TL A 11 f.), und in Handlungen nach hypothetischen Imperativen gar keine positive Freiheit artikuliert. Nur Zwecke, die zugleich Pflicht sind und Handlungen aus Einsicht in das moralisch Geforderte artikulieren Freiheit im emphatischen Sinn. Gegen Marx’ naturalistische Tendenzen mit Kant das Subjekt der Arbeit als Subjekt technisch-praktischer Vernunft zu bestimmen und so den Begriff der Freiheit als konstitutiv für die Kapitalkritik nachzuweisen, scheint nicht möglich. Denn Kant selbst lässt die Aneignung von Natur auf der Grundlage hypothetischer Imperative nicht als Realisierung von Freiheit gelten und reduziert positive Freiheit auf moralische Freiheit, auf Autonomie im emphatischen Sinne. Um nicht in die oben beschriebene 340

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kantische Aporie (I,3.) zu geraten und die sachliche Relevanz des Freiheitsthemas für die Kapitaltheorie deutlich zu machen, soll im Folgenden die durch Rückgriff auf kantische Einsichten schon geleistete Marx-Kritik ergänzt werden durch eine Kant-Kritik, die sich auch auf marxsche Einsichten berufen kann. Zur Erinnerung: Die Kritik der reinen Vernunft erörtert das Freiheitsthema zunächst im kosmologischen Kontext: als Weltproblem, und erst hernach – im Zuge der Auflösung der so genannten dritten Antinomie – als innerweltliche, menschliche Handlungsfreiheit. Ohne die Denkmöglichkeit von Freiheit im kosmologischen Sinne, so Kants Überlegung, ist auch der Gedanke einer praktischen, innerweltlichen Freiheit nicht möglich. Ein alternatives Vorgehen, welches das Weltproblem beiseitelässt und unmittelbar an das Selbstverständnis des Menschen als eines frei Handelnden anknüpft, sei ausgeschlossen, weil dieses Selbstverständnis weder objektivierbar noch täuschungsimmun sei (I,3.). Weder lasse sich Freiheit mit den Mitteln der Einzelwissenschaften »beobachten«, noch sei auszuschließen, dass der sich frei wähnende Mensch tatsächlich unfrei sei und praktische Vernunft nur ihr fremde, neigungsbedingte Interessen »administriere« (GMS B 89). Das erste Argument ist zuzugeben, das zweite ist problematisch, weil es Freiheit im strengen Sinne nur als transzendentale gelten lässt. Die zweite Kritik setzt die in der ersten als denkmöglich erwiesene transzendentale Freiheit voraus, um ihre Wirklichkeit aufzuweisen. Sie geht dabei von dem beinahe jedermann vertrauten Bewusstsein eines unbedingten Sollens in Pflichtsituationen aus, das die apodiktische Gewissheit einschließt, diesem Sollen entsprechen zu können. Mit dem Lehrstück vom Bewusstsein des moralischen Gesetzes als Faktum der Vernunft ist Kant zufolge nachgewiesen, dass »reine Vernunft praktisch sein, d.i. für sich, unabhängig von allem Empirischen, den Willen bestimmen könne« (KpV A 72). Mit dieser Erkenntnis »von einer reinen praktischen Vernunft, und durch dieselbe« (KpV A 162) ist aber auch die radikale Trennung von theoretischer und reiner praktischer Vernunft vollzogen und Freiheit im strengen Sinne auf moralische Freiheit reduziert. Zwar konzediert Kant, dass es das »Phänomen« der Indifferenzfreiheit, sich für oder gegen das moralisch Geforderte entscheiden zu können, gibt. Das Phänomen kann aber als solches erst unter der Voraussetzung thematisch werden, dass Freiheit in der Bedeutung von Autonomie wirklich ist. Nur als ein Element des moralischen Bewusstseins einer unbedingten Nötigung ist die Indifferenzfreiheit philosophisch relevant (I, 3.). Die radikale Trennung von theoretischer und reiner praktischer Vernunft führt zu dem paradoxen Resultat, dass die Natur theoretisch betrachtet nach der Seite der allgemeinen Form ihrer Gesetzmäßigkeit durch die synthetischen Leistungen des spontanen ›Ich denke‹ 341

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konstituiert ist, während sie in praktischer Hinsicht als Inbegriff der Heteronomie gilt. Die nicht minder radikale Trennung zwischen dem Technisch- und dem Moralisch-Praktischen hat zur Folge, dass Freiheit auf moralische Autonomie reduziert ist. Die Erkenntnis der Natur und der für sie kon­stitutive technisch-praktische Eingriff in den Naturzusammenhang sind deshalb für das Freiheitsthema irrelevant. Die dritte Kritik bestätigt diese Irrelevanz, indem die von ihr anvisierte Überbrückung der Kluft zwischen sinnlicher Natur und intelligibler Freiheit in den moralischen Gottesbeweis mündet.

4.1. Freiheit als Bestimmung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses Das Fehlen eines moralunabhängigen Freiheitsbegriffs verstellt ein adä­ quates Verständnis der vom Menschen selbst geschaffenen sogenannten zweiten, gesellschaftlichen Natur und macht es unmöglich, den Begriff des moralischen Endzwecks ohne Übergang in die Religion zu fassen, welcher Übergang wiederum von Kant nirgends konsistent vollzogen wird. Ist Freiheit nur im Medium reiner praktischer Vernunft zu thematisieren, bleibt sie notwendig auf moralische Autonomie reduziert. Aus der Perspektive reiner praktischer Vernunft sind die Vermögen der Zwecksetzung und technisch-praktischen Vernunft des Menschen nur funktionale Äquivalente des tierischen Instinkts, ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier nur ein gradueller. Im »Werte über die bloße Tierheit erhebt ihn [den Menschen] das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet« (KpV A 108).308 Das Erfinden von Technik fungiert deshalb nur als ein beliebiges Beispiel für eine Handlung nach »Prinzipien der Selbstliebe«. Solche Prinzipien »können zwar allgemeine Regeln der Geschicklichkeit (Mittel zu Absichten zu finden) enthalten, alsdenn sind es aber bloß theoretische Prinzipien (z.B. wie derjenige, der gerne Brot essen möchte, sich eine Mühle auszudenken habe)« (KpV A 46 f). Dass ein Wesen, welches fähig ist, »sich eine Mühle auszudenken« und zu Kants Zeiten beginnt, die Kräfte der Natur auf der Grundlage seiner Erkenntnis der Naturgesetze zunehmend in Dienst zu nehmen, Subjekt der Kausalität aus Freiheit ist, ohne dadurch schon Subjekt der Moralität zu sein, kommt Kant nicht in den Sinn. Dass die kopernikanische Wende Freiheit, wenn auch nicht notwendig moralische Freiheit, bereits als Bestimmung des theoretischen Vernunftgebrauchs impliziert, wird von Kant nicht gesehen. Wenn aber, erstens, die allgemeine Form bestimmter 308 Vgl. TL A 93 f.; A 23 f.

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Kausalverhältnisse in der Natur durch die Kategorie Kausalität a priori konstituiert ist, kann das Konstituens: die Kategorie Kausalität, selbst nicht unter das Kausalverhältnis fallen und aus ihm erkannt werden. Die Möglichkeit der Erkenntnis bestimmter Kausalverhältnisse setzt demnach die intellektuelle Selbständigkeit des erkennenden Subjekts gegenüber der Totalität der Gegenstände möglicher Erkenntnis voraus. Diese Selbständigkeit hat der Mensch, insofern ihm die Spontaneität des Verstandes und die Spontaneität der produktiven Einbildungskraft zukommen. Und wenn, zweitens, die Naturerkenntnis ihren »sicheren Gang einer Wissenschaft« (KrV B VII) der Herstellung reproduzierbarer Sachverhalte durch den technisch-praktischen Eingriff in den unmittelbaren Naturzusammenhang verdankt, dann ist die vorausgesetzte Selbständigkeit des Menschen gegenüber der Totalität der Gegenstände möglicher Erkenntnis nicht nur intellektueller, sondern auch technisch-praktischer Art. Der Mensch ist damit als Subjekt der Kausalität aus Freiheit unterstellt. Indem Kant in der ersten Kritik die Wirklichkeit von Erkenntnis unter Hinweis auf die mathematische, auf dem Experiment beruhende Naturwissenschaft voraussetzt, um nach ihren Möglichkeitsbedingungen zu fragen (vgl. KrV B 20), erkennt er der Sache nach an, dass die Antinomie von Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit als innerweltliches Problem faktisch zugunsten der Freiheit entschieden ist.309 Die Erörterung des Freiheitsthemas als Weltproblem erscheint damit als eine metaphysische Übung ohne innerweltliche Relevanz.310 »Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit« Wissenschaft treiben kann, so ließe sich Kants berühmte Bemerkung aus der Grundlegung variieren, »ist eben darum« (GMS B 100) wirklich frei. Frei nicht im Sinne des Vermögens der Autonomie (moralische Freiheit), wie Kant selbst an dieser Stelle erwägt, wohl aber in einem Sinn, der die theoretische und die technisch-praktische Vernunft betrifft. Insofern das Wissenschaft treibende Subjekt theoretischer und technisch-praktischer Vernunft sich als solches im Raum der Vernunft bewegt und notwendig Geltungsansprüche erhebt, ist es nicht aufzulösen in die Welt der natürlichen, sozialen oder psychischen Vorkommnisse, die den Gegenstand seiner Wissenschaft bilden mögen. In diesem Sinne gibt es, wenn es Wissenschaft in der Welt gibt, auch Freiheit. »Also nicht die Fakten der Wissenschaften entscheiden, sondern ›das Faktum der Wissenschaft‹.« (Øfsti 2008: 72 f.) Von dieser Freiheit gilt, was Kant zu Recht von der moralischen 309 »Die Behauptung der Autonomie der Subjektivität gegenüber dem Naturprozeß ist damit genauso gut begründet wie die sichere Geltung der Resultate der exakten Naturwissenschaften und wie die Objektivität des industriellen Reproduktionsprozesses, der die in den Resultaten fixierten partikularen Naturzusammenhänge zu Produktionstechniken organisiert.« (Bulthaup 1973: 102). 310 Zur Konstruktion der Antinomien Kuhne (2007: 95 ff.).

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behauptet: dass es »unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit […] [ihr] begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen« (RL B 112). Der Grund für das Übersehen des Freiheitsthemas im Kontext des theoretischen Vernunftgebrauchs liegt darin, dass Kant in der Analytik der ersten Kritik die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis als Bestimmungen transzendentaler Subjektivität erörtert.311 Seine Transzendentalphilosophie vermag die Subjektivität der empirischen Subjekte nur als Subjektivität überhaupt zu fassen, und ihre Tätigkeit der Erkenntnis nur als ein für sich leeres Erkennen überhaupt. Die Möglichkeit bestimmter Erkenntnis bleibt damit ein Rätsel, das durch die bloße Forderung, es müsse »Erfahrung dazu kommen« (KrV B 165), nicht schon gelöst ist. Kant müsste vielmehr zeigen, inwiefern diese Forderung auf dem Boden der Transzendentalphilosophie als prinzipiell erfüllbar gedacht werden kann. Die Erfahrung, die gefordert ist, ist die unmittelbare Erfahrung, die das empirische Subjekt macht, wenn es den Naturphänomenen »fragend« (KrV B XIII) gegenübertritt. Unmittelbar ist diese Erfahrung insofern, als sie nicht a priori kategorial bestimmt ist. Ihr Subjekt ist nicht Funktionsorgan der transzendentalen Einheit der Apperzeption. Ein solches Verhältnis von empirischem Subjekt und Natur ist aber, wie bereits gesagt (I,3) zufolge der ersten Kritik gar nicht möglich, denn nach ihr gründen die Einheit des empirischen Bewusstseins und die des empirischen Gegenstandes in der kategorialen Synthesis eines an sich unbestimmten Mannigfaltigen der Wahrnehmung. Kant vermag in der ersten Kritik die Möglichkeit bestimmter Erkenntnis nicht darzutun und behilft sich mit dem Dualismus von apodiktisch geltenden apriorischen Formen von Erkenntnis überhaupt und besonderen Erkenntnissen von nur komparativer Allgemeinheit. Er steht vor dem Dilemma, dass er die besonderen Erkenntnisse der Einzelwissenschaften einerseits als Spezifikationen der transzendentalen Einheit der Apperzeption begreifen muss, diesen Erkenntnissen aber andererseits keine strenge Notwendigkeit und Allgemeinheit zugestehen kann, weil sie aus dieser Einheit nicht deduziert werden können.312 Die rein transzendentalphilosophische Lösung des Problems müsste dartun, wie aus dem ersten Prinzip das Prinzipiatum folgt; da aber aus dem Prinzip unmittelbar nur dieses selbst folgt, ist diese Lösung unmöglich. Das erzwingt den Übergang von der reinen Transzendentalphilosophie zur Reflexion auf die gesellschaftliche Praxis der Naturwissenschaften. Mit diesem Übergang geraten zwei Bedingungen der Möglichkeit von (Natur-) Erkenntnis in den Blick, die für den Begriff nichtmoralischer Freiheit entscheidend sind. Kant erwähnt diese Bedingungen zwar, sie 311 Das Argument findet sich bereits in Kuhne (2007: 324 ff.). 312 Dazu Kuhne (2007: 114 ff.).

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kommen aber in seiner Erkenntniskritik nicht zum Tragen. Gemeint sind das spekulative Vermögen des empirischen Subjekts und sein besonderes Geschick im Arrangieren von Versuchsanordnungen. Im Unterschied zur leeren Erkenntnis überhaupt ist bestimmte Erkenntnis die partikularer Sachverhalte der Natur. Die Gesetzmäßigkeiten, denen partikulare Sachverhalte unterliegen, erscheinen nur unter bestimmten, empirisch fassbaren Bedingungen, die nicht durch bloße Beobachtung auszumachen sind. Ihre Identifizierung beruht auf theoretischen Annahmen, auf Spekulation, und, zumindest in der sublunaren Sphäre, auf dem technisch-praktischen Eingriff in den Naturzusammenhang. Es bedarf nicht nur der gegenständlichen Tätigkeit empirischer Subjekte, um die entsprechenden Randbedingungen zu identifizieren, sondern auch eines besonderen Geschicks. Durch diese Tätigkeit wird der partikulare Sachverhalt aus dem Naturzusammenhang isoliert und zu einem reproduzierbaren Sachverhalt objektiviert.313 »Die Vernunft [heißt es in der Vorrede zur zweiten Auflage der ersten Kritik] muß mit ihren Prinzipien [...] in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat sogar Physik die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muß, und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde.« (KrV B XIII f.)

Wird das schiefe Bild korrigiert, tritt der Sachverhalt, auf den es aufmerksam macht, deutlicher hervor und es zeigt sich, inwiefern mit ihm auch das Thema der Freiheit angesprochen ist. Es ist nicht die Vernunft, die in der einen Hand das Prinzip, in der anderen das Experiment hält, sondern der Mensch als ›vernünftiges Wesen‹ (nicht: Vernunftwesen). Indem dieser Randbedingungen gemäß einer Vernunftidee herstellt, leistet er wissenschaftliche Arbeit, für die ebenso wie für die Arbeit in der materiellen Produktion der Zweckbegriff und technisch-praktische Vernunft konstitutiv sind. Nur ein ›vernünftiges Wesen‹ wie der Mensch kann arbeiten, denn nur ein vernünftiges Wesen wie der Mensch ist Subjekt der Kausalität aus Freiheit. Als solches ist er frei in einem positiven, aber nicht-moralischen Sinn. Der strikte Dualismus von bedingter Naturkausalität und unbedingter moralischer Freiheit ist demnach nicht haltbar. Als Aneignung von Natur auf der Grundlage hypothetischer Imperative hat Arbeit zwar unmittelbar keinen moralischen Wert, sie fällt aber deshalb nicht einfach in die Sphäre der Heteronomie. 313 Dazu Bulthaup (1973: 59 ff. u. 77 ff.).

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Kant zufolge ist der materielle Reproduktionsprozess der Gesellschaft, völlig abgesehen von seiner konkreten Gestalt, heteronom. Ob die Menschen in ihm noch weitgehend den Kräften der Natur ausgeliefert sind oder sie diese Kräfte mit Hilfe von Wissenschaft und Technik zunehmend kontrollieren und ihren Zwecken dienstbar machen können, spielt keine Rolle. Diese Sicht der Dinge ist zu korrigieren. Ist Kausalität aus Freiheit die Bedingung der Möglichkeit für menschliches Erkennen und Handeln, dann manifestiert sich in den Resultaten der gesellschaftlichen Arbeit die Freiheit der Menschen von der Natur. Mündet ferner die wissenschaftliche Arbeit der Objektivierung eines Sachverhalts in eine Methode, welche dessen Reproduzierbarkeit regelt, ohne dass es dazu noch der Spekulation und des besonderen Geschicks der einzelnen Wissenschaftler bedarf, so ist damit die Möglichkeit der Akkumulation von Wissen gegeben. Die Methode, die die Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Resultate regelt, ist eine notwendige Bedingung des Fortschritts der Naturwissenschaften. Mit ihr kann über das tradierte naturwissenschaftliche Wissen durch ›instrumentelle Vernunft‹314 verfügt werden. Resultate der Erkenntnis können zu Mitteln der Gewinnung neuer Erkenntnis instrumentalisiert werden. Dabei ist der Prozess der Akkumulation von Wissen nicht auf die einzelne Disziplin beschränkt. Die Resultate der einen Wissenschaft bilden die Voraussetzung für eine zweite, deren Resultate die Voraussetzung für eine dritte usf. Die Akkumulation von Wissen ist eine notwendige Bedingung der Arbeitsteilung der Wissenschaften. Eine andere notwendige Bedingung ist die Kooperation zwischen verschiedenen Wissenschaften, die zur Entstehung neuer Disziplinen führen kann. Die durch Akkumulation von Wissen, Arbeitsteilung und Kooperation bestimmte gesellschaftliche Praxis der Naturwissenschaften macht die wissenschaftliche Arbeit zum Gattungsunternehmen. In der mathematischen Naturwissenschaft ist die allgemeine Subjektivität objektiv geworden, sie existiert in Gestalt der Wissenschaften getrennt von der Subjektivität der empirischen Subjekte als das nach Prinzipien organisierte Wissen der Gattung. Damit ist zwischen Kausalität aus Freiheit als Vermögen des einzelnen Menschen und als Potenz der Gattung zu unterscheiden. Insofern die empirischen Subjekte in ihrer wissenschaftlichen Arbeit auf dieses verfügbare Wissen zurückgreifen, sind sie bloße Funktionsorgane der allgemeinen Subjektivität. Ihre individuelle Subjektivität, ihr Intellekt, ihre produktive Einbildungskraft und freie Willkür kommen dort zum Tragen, wo neue Erkenntnisse gewonnen werden oder Fehler unterlaufen. Mit der Behebung der Fehler respektive mit der Einordnung der neuen Erkenntnisse in das Korpus des bestehenden Systems des Wissens verschwindet der Unterschied von individueller und allgemeiner Subjektivität. 314 Der Begriff entstammt der Kritischen Theorie, vgl. Horkheimer (1947).

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Die Resultate der Naturwissenschaften sind aber nicht nur Voraussetzung des weiteren Fortschreitens der Wissenschaften selbst, sie sind auch eine notwendige Bedingung des arbeitsteilig organisierten materiellen Reproduktionsprozesses der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Sie bewähren sich pragmatisch durch ihre Verwendbarkeit in den Funktionszusammenhängen der Wissenschaft, Technik und materiellen Produktion, die ihrerseits zu einem einzigen Funktionszusammenhang integriert sind. »Die Natur baut keine Maschinen, keine Locomotiven, Eisenbahnen, electric telegraphs, selfacting mules etc.«, heißt es in den Grundrissen. Sie sind »vergegenständlichte Wissenskraft«, Beispiele dafür, dass das »allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur un­ mittelbaren Productivkraft geworden ist, und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprocesses selbst unter die Controlle des general intellect gekommen, und ihm gemäß umgeschaffen sind«. (Gr 582/602) Marx betrachtet die in den Naturwissenschaften objektivierte Erkenntnis im Hinblick auf die Funktion, die ihre »technologische Anwendung« (Gr 577/596), das heißt ihre Transformation in Produktionstechnik, für die kapitalistische Produktionsweise hat und für eine nachkapitalistische haben kann.315 Als vergegenständlichte Kausalität aus Freiheit zeigt sie an, in welchem Maße der Gattung die Befreiung von der ersten Natur gelungen ist und eröffnet die Perspektive der Abschaffung kapitalistischer Herrschaft. Die Differenzierung im Begriff der Freiheit: die Unterscheidung zwischen moralischer und nicht-moralischer Freiheit, zieht eine Differenzierung im Begriff der Heteronomie nach sich. Die heteronomen Bedingungen, die der Realisierung moralischer Zwecke in dieser Welt gegenüberstehen, sind nicht notwendig Bestimmungen von Natur überhaupt. Kant versucht in der dritten Kritik, die Kompatibilität der moralisch bestimmten Willkür mit den empirischen Bedingungen ihrer Realisierbarkeit durch den moralischen Gottesbeweis sicherzustellen. Die Welt, so die im Medium moralisch-teleologischer Urteilskraft und somit im Modus des ›als ob‹ angestellte Überlegung, ist durch Gott als Welturheber und moralischer Gesetzgeber an ihr selbst auf die Realisierung des höchsten Guts angelegt. Kant ist zu diesem moraltheologischen Argument durch die Vorgaben der beiden ersten Kritiken genötigt, insbesondere durch die dort festgeschriebene Reduktion der Freiheit auf moralische Autonomie. Diese Reduktion ist, wie gezeigt, nicht haltbar. Der Mensch, der sich durch die zweckmäßige Verausgabung von Arbeitskraft auf der Grundlage hypothetischer Imperative Teile der Natur 315 »Die Erfindung wird dann ein Geschäft und die Anwendung der Wissenschaft auf die unmittelbare Production selbst ein für sie bestimmender und sie sollicitirender Gesichtspunkt.« (Gr 580/600).

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aneignet, muss als Subjekt der Kausalität aus Freiheit verstanden werden, ohne dadurch schon Subjekt der Moralität zu sein. Artikuliert sich in der zweckmäßigen Aneignung von Natur auf der Grundlage hypothetischer Imperative moralneutrale Freiheit, und erfolgt diese Aneignung im Rahmen gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Kooperation, dann erscheint die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Realisierung moralischer Zwecke in dieser Welt in einem neuen Licht. Zu unterscheiden ist jetzt nämlich zwischen Bedingungen, die Bestimmungen der ersten Natur sind, und solchen, die Bestimmungen der zweiten, gesellschaftlichen Natur sind. Erfolgt die Aneignung der ersten Natur im Rahmen der zweiten, dann droht Moralphilosophie, die davon abstrahiert, ideologisch zu werden und den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu behindern. Statt dass sie Gründe für eine Kritik an den durch die zweite Natur selbst hervorgebrachten heteronomen Existenzbedingungen der Menschen benennt, vertröstet sie diese aufs Jenseits. Kants Lehre vom höchsten Gut und den Postulaten reiner praktischer Vernunft ist eine solche Vertröstung, die Hoffnungslosigkeit erzeugt, wo sie dem Subjekt der Moralität Hoffnung verschaffen will. Die Anmerkung aus der dritten Kritik: »Es ist, als ob sie [die Menschen] in sich eine Stimme wahrnähmen, es müsse anders zugehen« in der Welt, erweckt nur dann einen gegenteiligen Eindruck, wenn sie isoliert genommen wird. Im Zusammenhang gelesen verliert sie jeden Anschein revolutionären Aufbegehrens und wird ihre kantische Pointe deutlich. »Sobald die Menschen über Recht und Unrecht zu reflektieren anfingen«, heißt es bei Kant, »mußte sich das Urteil unvermeidlich einfinden: daß es im Ausgange nimmermehr einerlei sein könne, ob ein Mensch sich redlich oder falsch, billig oder gewalttätig verhalten habe, wenn er gleich bis an sein Lebensende, wenigstes sichtbarlich, für seine Tugenden kein Glück, oder für seine Verbrechen keine Strafe angetroffen habe. Es ist, als ob sie in sich eine Stimme wahrnähmen, es müsse anders zugehen.« Eine solche »Unregelmäßigkeit«, nämlich eine solche Disproportionalität von Tugend und Glück, muss »dem menschlichen Gemüte weit empörender sein […] als der blinde Zufall«. Ihre Entdeckung setzt das Bewusstsein eines unbedingten Sollens voraus und führt doch unweigerlich zu dem Gedanken, dass der gesollte Endzweck in der Natur nicht zu realisieren ist, »weil ein als Pflicht aufgegebener Endzweck in ihnen [den Menschen], und eine Natur ohne allen Endzweck, außer ihnen, in welcher gleichwohl jener Zweck wirklich werden soll, im Widerspruche stehen«. Gegen diesen »Widerspruch«, so Kant weiter, konnten die Menschen seit jeher kein »anderes Prinzip der Möglichkeit der Vereinigung der Natur mit ihrem inneren Sittengesetze erdenken, als eine nach moralischen Gesetzen die Welt beherrschende oberste Ursache«. Über die innere Beschaffenheit dieser »Weltursache» verbreiteten sie »manchen Unsinn« – »jenes moralische Verhältnis in der Weltregierung blieb immer dasselbe«. (KdU B 438 f.) 348

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Der Satz: ›Es müsse anders zugehen in der Welt‹, enthält nicht die Forderung nach praktischer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Er deutet nicht voraus auf den »categorischen Imperativ« des jungen Marx, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (KHRE 177/385). Sein Kontext macht vielmehr deutlich, dass er eine moralische Empörung ausdrückt, die geeignet wäre, das Gemüt verzweifeln zu lassen, könnte es sich nicht bei dem Gedanken beruhigen, dass Gott als moralische Weltursache die Kompatibilität des moralischen Endzwecks mit den empirischen Bedingungen seiner Realisierbarkeit ermöglicht.316 Kants Anmerkung behauptet, der Gedanke einer moralischen Weltursache habe im Kern schon immer menschlichem Nachdenken über das Verhältnis von Tugend und Glück, Moral und Welt zugrunde gelegen und sei mit der »fortgehenden Kultur« des Vernunftvermögens »nur immer mehr entwickelt« (KdU B 438) worden. Was sich beinahe wie eine kritische anthropologische Skizze der Entstehung moraltheologischer Vorstellungen liest: die Menschen suchen angesichts der schreienden Ungerechtigkeit hienieden Trost in der Vorstellung einer moralischen Weltursache, soll dartun, dass der von der moralisch reflektierenden Urteilskraft geführte Gottesweis »nicht etwa ein neu erfundener« (KdU B 438) ist. Die Philosophie findet, aber sie erfindet keine Prinzipien. Als Moralphilosophie bringt sie die Prinzipien, die moralischem Urteilen und Handeln seit jeher zugrunde lagen, nur auf den Begriff. So wie die zweite Kritik mit der imperativischen Formulierung des moralischen Gesetzes begrifflich bestimmt, was den Menschen mehr oder minder diffus bewusst ist, so führt die moralisch reflektierende Urteilskraft erstmals in korrekter Form den – selbstverständlich nur moralischen – Beweis vom Dasein einer moralischen Weltursache, das von ihnen, mit welchem ›Unsinn‹ auch immer assoziiert, seit jeher angenommen wurde. Kant thematisiert die moralische Empörung, die sich in der Forderung ausdrückt, es müsse anders zugehen in der Welt, nicht zufällig im moraltheologischen Kontext. Denn ihr Gegenstand: die offensichtliche Diskrepanz von Tugend und Glück in dieser Welt und der ›Widerspruch‹, in dem der von den Menschen zu realisierende moralische Endzweck zu der von den Menschen nicht geschaffenen, für sich betrachtet endzwecklosen Natur steht, in der er realisiert werden soll, zwinge zum Übergang von der Moral zur Religion. Nun wurde bereits gezeigt (I,2./3.), dass dieser Übergang sowohl in der zweiten wie in der dritten Kritik eine Reihe von Inkonsistenzen aufweist, die seine Notwendigkeit in Frage stellen. Statt die Kompatibilität der moralisch bestimmten Willkür mit den empirischen Bedingungen ihrer Realisierbarkeit durch den moralischen Gottesbeweis aufzuzeigen, könnte es als sinnvoller erscheinen, 316 Vgl. KdU B 429.

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die partikulare Aneignung von Natur insgesamt dem moralischen Endzweck zu subsumieren und die Lehre von dessen Beförderung und Realisierung geschichtsphilosophisch zu wenden. Der arbeitsteilige materielle Reproduktionsprozess der Gesellschaft, dessen Technik die Resultate der Naturwissenschaften zu seiner Voraussetzung hat, rückte dann in die Funktion ein, die das Dasein Gottes im moralischen Gottesbeweis hat. Er wäre eine notwendige Bedingung des höchsten Guts. Anders als das Dasein Gottes wäre aber das Dasein dieser Bedingung nicht zu postulieren und das Postulierte ›für wahr zu halten‹, denn der Reproduktionsprozess existiert ja zweifelsohne. Für wahr gehalten werden müsste nur, dass er in dem Maße als Mittel der Realisierung des Endzwecks taugt, in dem die durch ihn selbst hervorgebrachten, mit dem Endzweck unverträglichen Bedingungen beseitigt werden. Dann führte das moralische Gesetz durch den Begriff des moralischen Endzwecks nicht zur Religion, wie Kant meint, sondern zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, welche unter Voraussetzung des Endzwecks die seiner Realisierung entgegenstehenden gesellschaftlichen Bedingungen identifizierte, analysierte und kritisierte. Nur auf diesem sozusagen materialistischen Weg und nicht durch das Konzept einer ›Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft‹ kann die Säkularisierung der Idee des summum bonum gelingen – so könnte es zumindest scheinen. Doch der Übergang von der Moralphilosophie in eine Theorie der Gesellschaft und Geschichte, der ein moralisches [!] Interesse an der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zugrunde liegt, ist auf diese Weise nicht zu rechtfertigen. Zunächst: Die Realisierung moralischer Zwecke auf der Grundlage nicht kategorischer, sondern hypothetischer Imperative ist offenbar ein Widerspruch in sich. Moralische Freiheit ist das Vermögen des Individuums, seine Willkür unmittelbar durch reine praktische Vernunft bestimmen zu können. Nur derjenige handelt moralisch, dessen Einsicht in das kategorisch Geforderte unmittelbare Triebfeder seines Handelns ist. Nur derjenige realisiert durch sein Handeln moralische Zwecke, der sich diese Zwecke aus Einsicht in ihre moralische Notwendigkeit selbst setzt. Zweitens aber kann der Begriff des höchsten Guts als der Einheit von Tugend und Glückseligkeit nicht ›materialistisch‹ gewendet317 und gesellschaftstheoretisch fruchtbar gemacht werden. Als Idee reiner praktischer Vernunft bezeichnet er einen Zweck, der nicht technisch-praktisch auf der Grundlage menschlichen Wissens, sondern nur moralisch-praktisch und mit göttlicher Hilfe befördert werden kann, weshalb er in die 317 Zu dem eigenwilligen Versuch Blochs, die (moral-) teleologische Argumentation insbesondere der dritten Kritik für seine These von einem »denkbare[n] Natursubjekt« (1959: II 785) fruchtbar zu machen, vgl. H.-E. Schiller (1985: 79 ff.).

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Religionsphilosophie überleitet. Dieser ist – gegen Kant – zu entnehmen, dass die Beförderung des höchsten Guts für den, der nicht glaubt, auch dann ein hoffnungsloses Unterfangen bleibt, wenn sie nicht auf eine jenseitige Welt unsterblicher Seelen verweist, sondern innerweltlich angelegt ist. Im Unterschied zur zweiten Kritik fasst die Religionsschrift den moralischen Endzweck als »Reich der Tugend« und damit als ein in die­ ser Welt, und zwar von einem jeden gemeinsam mit allen anderen zu bewirkendes, »gemeinschaftliches Gut«.318 Es zu befördern ist nicht eine Pflicht »der Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst«. Ein solches Gut zu bewirken liegt nicht in der Macht der Menschen, weder in der Macht der vielen Einzelnen, noch in der vereinigten Macht aller Einzelnen. Denn zum einen vermögen die Menschen Tugend und Glück nicht von sich aus in ein proportionales Verhältnis zu setzen. Zum anderen können sie die für das Reich der Tugend konstitutiven »öffentlichen Tugendgesetze« sich nicht selbst geben. Das Tugendhafte der Handlungen, ihre Moralität, betrifft das Verhältnis ihrer »Gesinnungen«. (RGV B 137 f.) Die Menschen können aber ihre Gesinnungen nicht durchschauen, dies kann nur Gott. Nur Gott als ein »moralischer Weltherrscher« kann öffentliche Tugendgesetze geben »und, wie es in jedem gemeinen Wesen sein muß, jedem, was seine Taten wert sind, zukommen« (RGV B 139) lassen. Aber nur wenn jeder Einzelne im Verein mit allen anderen so handelt, »als ob alles auf ihn ankomme«, darf er hoffen, dass göttliche Weisheit seinen Bemühungen die Vollendung angedeihen lassen werde. Mithin darf niemand nur »seiner moralischen Privatangelegenheit« (RGV B 141) nachgehen und die Errichtung des ethischen Gemeinwesens Gott überlassen. Die Ausdrücke ›öffentliche Tugendgesetze‹ und ›moralische Privatangelegenheit‹ sind in sich widersprechend. Tugendgesetze sind nicht öffentlich, denn sie betreffen nicht die äußere Handlungsfreiheit und somit die intersubjektiv überprüfbaren Handlungen der Menschen, sondern deren innere Freiheit. Und das Moralische ist nicht privat. Wer um des moralischen Gesetzes willen handelt, affirmiert mit der Maxime seines Wollens »die Form des Wollens überhaupt« (GMS B 95), nämlich die Form der Allgemeinheit, die gewährleistet, dass seine Maxime die aller Vernunftwesen sein kann. Durch den praktischen Imperativ: »Hand­ le so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mit­ tel brauchest«, ist der Einzelne auf alle anderen bezogen. Anders als der Ausdruck ›moralische Privatangelegenheit‹ suggeriert, ist das Individuum durch die Anforderungen der Moral nicht auf den engen Kreis seiner privaten Angelegenheiten eingeschränkt, sondern steht in Beziehung auf 318 Kant holt damit »die religiöse Vorstellung vom Reiche Gottes gleichsam vom Himmel auf die Erde herab«. (Wimmer 2004: 388).

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den gesellschaftlichen Zusammenhang aller. Als vernünftige Bestimmung der Willkür ist die Moral zwar nicht aus gesellschaftlichen Verhältnissen herzuleiten, aber als Subjekt der Moralität ist der einzelne Mensch immer als ein in Gesellschaft lebender zu denken. Die Ausdrücke ›öffentliche Tugendgesetze‹ und ›moralische Privatangelegenheit‹ sind im moralphilosophischen Kontext Oxymora. Nach Kant sind sie aber in der Religionsphilosophie, in die notwendig überzugehen sei, keine Oxymora. Der erste Ausdruck sei widerspruchsfrei, wenn Gott als Gesetzgeber zu denken ist. Der zweite aber bezeichne nur, dass es sich bei der Pflicht »des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst« um die Pflicht eines jeden handele, ein gemeinschaftliches Gut gemeinsam mit allen anderen zu befördern. Es bedürfe dieser Pflicht »eigene[r] Art« (RGV B 135), da durch die moralische Vervollkommnung eines jeden allein das Böse nicht zu besiegen sei. Denn selbst unterstellt, die (Welt-) Gesellschaft bestünde nur aus moralisch gesinnten Menschen, so bliebe doch jeder Einzelne gerade dadurch, dass er unter seinesgleichen lebt, den Anfechtungen des Bösen beständig ausgesetzt. Die Religionsschrift führt das Böse zwar nicht auf gesellschaftliche Ursachen zurück, vielmehr habe sich der Mensch, und zwar jeder einzelne, durch eine intelligible Tat den ›Hang zum Bösen‹ selbst zugezogen; wohl aber behauptet sie, dass die sittliche Gesinnung jedes Einzelnen im Allgemeinen nicht hinreicht, das Böse auch in concreto zu besiegen, weil jeder dazu neige, sich aus der Perspektive der anderen zu beurteilen.319 Dem Übergang von der Moralphilosophie in eine kritische Gesellschaftstheorie scheinen der unmittelbare und »innerliche« (nicht-öffentliche) Charakter moralischer Freiheit entgegenzustehen. Dennoch, so die im Folgenden zu erhärtende These, ist er möglich und notwendig.

4.2. Zum Übergang von Moralphilosophie in kritische Gesellschaftstheorie Dass die Moralphilosophie den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess selbst zum Gegenstand machen und somit gesellschaftstheoretisch werden muss, folgt aus ihrer immanenten Kritik. In Anlehnung an ein Wort Horkheimers gilt hier: Moralphilosophie, »die bei sich selbst bleibt« (Horkheimer 1937: 225), wird ideologisch. Kants Moralphilosophie ist in der Tat dort ideologisch, wo sie als Rechtslehre das Privateigentum an Produktionsmitteln und das Dasein des Menschen als Verkäufer seiner Arbeitskraft mit den Weihen reiner praktischer Vernunft versieht, und wo sie in der zweiten Kritik und in der Religionsschrift einen 319 Vgl. RGV B 127 ff.; vgl. Rousseau (1755: 118).

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notwendigen Zusammenhang von Moral und Religion behauptet. Wie gezeigt, gelingt der Übergang vom moralphilosophischen zum gesellschaftstheoretischen Argument allerdings nicht, indem dem gesellschaftlichen Reproduktionsprozess die Funktion zugesprochen wird, die das Dasein Gottes im moralischen Gottesbeweis hat. Gelingen kann er nur durch den Nachweis, dass das Interesse des Individuums als Adressat des moralischen Gesetzes auf die Veränderung des gesellschaftlichen Ganzen zielt, weil der objektive Zweck, der dieses Ganze bestimmt, mit den objektiven Zwecken, die für das Individuum Pflicht sind, unvereinbar ist. Der objektive, jedem Einzelnen vorgegebene Zweck der kapitalistischen Produktionsweise ist die Produktion von akkumulierbarem Mehrwert. Diesen Zweck darf bzw. soll der Einzelne nicht affirmieren, denn er ist mit seinem moralischen Anspruch auf Autonomie unvereinbar. Mit der Erwähnung ›objektiver Zwecke, die zugleich Pflicht sind‹, ist angedeutet, welches der logische Ort in der kantischen Moralphilosophie ist, an dem der Übergang zur kritischen Theorie der Gesellschaft ansetzen muss: Es ist die Metaphysik der Sitten. Die Metaphysik der Sitten ist »ein System der Erkenntnis a priori aus bloßen Begriffen« (RL B 10), in dem die in den Grundlegungsschriften (GMS; KpV) aufgewiesenen apriorischen Prinzipien »auf die besondere Natur des Menschen, die nur durch Erfahrung erkannt wird«, bezogen werden. Rechts- und Tugendlehre beziehen die apriorischen Prinzipien auf die »Anthropologie«, das heißt auf die besonderen Bedingungen menschlicher Existenz, ohne dass dadurch aber die Reinheit der Prinzipien berührt und ihr »Ursprung a priori dadurch zweifelhaft gemacht wird« (RL B 11). Reinheit und apriorischer Ursprung der Prinzipien wären beispielsweise im Recht dahin, wenn der Begriff des äußeren Mein und Dein unter Rekurs auf Erfahrung begründet würde, statt seine Notwendigkeit durch reine praktische Rechtsvernunft darzutun, oder wenn in der Ethik der Begriff des Zwecks, der zugleich Pflicht ist, abhängig wäre von der Verfassung der gesellschaftlichen Realität. Die Grundlegungsschriften handeln von den Prinzipien der Geltung und Verbindlichkeit von Moral. In ihrem Zentrum stehen der Aufweis der Wahrheit und Realität des apriorischen Begriffs der Pflicht und des moralischen Gesetzes, das uns in Gestalt eines Imperativs kategorisch gebietet, wie zu handeln sei. Da das moralische Gesetz ein formales und negatives Prinzip ist, können aus ihm keine positiven Pflichten hergeleitet werden. Die Erörterung moralisch relevanter Situationen in den Beispielen der Grundlegungsschriften ist deshalb notwendig abstrakt. Sie geschieht im Kontext der Prinzipienbegründung und sieht ab vom speziellen Kontext der Prinzipienanwendung, der erst in der Tugendlehre thematisch ist. Daher muss eine Kritik, die Kants Moralphilosophie unter Absehung von seiner Ethik als ›abstrakt‹, ›formal‹, ›innerlich‹, ›rigoros‹, den Menschen ›überfordernd‹ charakterisiert, ihren Gegenstand verfehlen. 353

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Die Unterscheidung von Prinzipienbegründung und -anwendung ist für das Verständnis der kantischen Moralphilosophie zentral.320 Erst durch sie wird die spezifische Anthropozentrik deutlich, die Kants Moralphilosophie auszeichnet und oft genug verkannt wird.321 Ebenso zentral ist das Verhältnis, in dem Recht und Ethik zueinanderstehen. Das Prinzip des Rechts erlegt mir zwar wie das der Ethik eine Verbindlichkeit auf, fordert aber nicht, dass ich »um dieser Verbindlichkeit willen« (RL B 34) meine freie Willkür einschränke. Der Grund für die dem Recht eigentümliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Motiv seiner Befolgung kann nicht in der reinen praktischen Vernunft liegen. Deren ›Grundgesetz‹ fordert, so zu handeln, dass meine Maxime jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Verlangt reine praktische Vernunft mithin, dass das »Prinzip aller Maximen selbst wiederum meine Maxime sei« (RL B 34), so wäre es widersprüchlich zu behaupten, sie erlaube davon abzusehen. Der Standpunkt reiner praktischer Vernunft ist der moralische Standpunkt, und eine Erlaubnis, von diesem Standpunkt abzusehen und gegenüber dem unbedingt Geforderten eine pragmatische Haltung einzunehmen, kann sie nicht erteilen. Deshalb ist ein immanenter Übergang vom moralischen Gesetz der Freiheit zum strikten Recht als der »Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwangs« (RL § E) nicht möglich. Dass »zwischen der Autonomie, dem Geltungsgrund aller moralischen Gesetze, und dem Zwang, der Heteronomie katexochen, keinerlei Ableitungsbeziehung bestehen« (Kersting 1990: 27) kann, bedeutet freilich nicht, dass das strikte, mit der Befugnis zu zwingen verbundene Recht ein moralisches Unding wäre.322 Vielmehr muss mit Kant gesagt werden, dass es moralisch notwendig ist. Die Rechtfertigung seiner moralischen Notwendigkeit ist Teil der Anwendung, nicht der Begründung der apriorischen Prinzipien der Moral. Sie obliegt der transzendentalen praktischen Reflexion,323 welche die in den Grundlegungsschrif­ten 320 Vgl. Recki (2001: 317 ff.). Zum Verhältnis Grundlegungsschriften/Tugendlehre: Esser (2004: 249 ff.); ferner Ricken (1989), Schmucker (1955); für grundsätzlich misslungen hält den Übergang von den Grundlegungsschriften zur Tugendlehre Städtler (2011: 281 ff.). 321 Zum Beispiel von Tierfreunden, die den Vorwurf Schopenhauers (1841: 518) teilen, Kant habe Tierquälerei nicht an sich, sondern nur wegen ihrer negativen Folgen für den Menschen als ethisch verwerflich qualifiziert. Sie plädieren in der Regel dafür, den Gedanken der Autonomie des Menschen zu verwerfen und ›den Tieren‹ bzw. ›der Natur‹ ein Eigenrecht einzuräumen. Gegen diese bequeme Kant-Kritik Schäfer (1993); Baranzke (2005). 322 So aber Klar (2007: 137 ff.). 323 Von »transzendentaler praktischer Reflexion« spricht Wimmer (2004: 373 f.) in Bezug auf die zweite Kritik. Praktisch und nicht theoretisch sei diese

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aufgewiesenen Prinzipien auf die nur durch Erfahrung erkennbaren Existenzbedingungen des Menschen bezieht. Menschen sind Subjekte technisch-praktischer Vernunft und zugleich sind sie Subjekte der Moralität, d.h. Personen. Als solche Doppelwesen finden sie sich auf der begrenzten Fläche der Erdkugel vor, auf der sie sich durch die zweckmäßige Aneignung von Natur selbst erhalten müssen und ihr Personsein nicht lädieren sollen. Weil jeder einzelne auf einen Erdenplatz und auf die Kooperation mit anderen angewiesen ist, können die Menschen sich in ihrer äußeren Handlungsfreiheit nicht nur faktisch wechselseitig einschränken, sie müssen es auch. Sowohl das Angewiesensein jedes Einzelnen auf einen Erdenplatz als auch die Notwendigkeit der Kooperation mit anderen birgt die Möglichkeit von Konflikten, die das Personsein der Beteiligten lädieren. Die Möglichkeit solcher Konflikte ist unleugbar. Sie besteht unabhängig von anthropologischen Spekulationen324 darüber, ob der Mensch von Hause aus eher gut oder eher böse ist, und sie ist unabhängig von der Annahme bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse. Sie ist es, die die Etablierung einer zwangsbewehrten Rechtsordnung moralisch notwendig macht – und zwar vor jeder Erörterung der Frage, ob zu dieser Ordnung das Privateigentum an Produktionsmitteln zählen sollte oder nicht. Der Anlass dieser Regelung besteht also in den prinzipiell konfliktträchtigen Existenzbedingungen der Menschen, die in ihren Handlungen sich selbst und andere immer auch als Zweck an sich betrachten sollen, einander faktisch aber als bloße Sachen behandeln können. Die Voraussetzung der vernunftrechtlichen Regelung ist die Geltung des moralischen Gesetzes und die daraus abgeleitete Selbstzwecklichkeit des Menschen. Der Anspruch des Rechtsgesetzes auf Verbindlichkeit leitet sich aus dem des moralischen Gesetzes her. Zu rechtfertigen ist er nur unter Rekurs auf das moralische Gesetz, dessen wir uns unleugbar bewusst sind.325 Das in der Literatur diskutierte Problem, wie es überhaupt »erlaubt« sein könne, »das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft aus einer Reflexion, weil sie die Erfahrung eines unbedingten Sollens zu ihrem Ausgangspunkt habe. 324 »Ob der Mensch im Stande der Natur fromm wie ein Lamm, oder boshaft wie ein Tyger ist? mag der Anthropolog ausmachen. Den Naturrechtsleh­ rer geht dieses gar nichts an.« (Maimon 1795: 356) Die These C. Schmitts (1932: 58 ff.), allen »Staatstheorien und politischen Ideen« liege »ein anthro­pologisches Glaubensbekenntnis« zugrunde, ist unhaltbar. 325 Das Rechtssubjekt nimmt die Verbindlichkeit rechtlicher Forderungen in einer konkreten Situation als moralische Nötigung wahr, was ohne seine »Empfänglichkeit für Pflichtbegriffe« (TL A 35 ff.) nicht möglich wäre. Endliche Vernunftwesen, die dieser Empfänglichkeit entbehrten, wären keine Subjekte der Moralität und daher auch nicht Subjekte des Rechts. Sie hätten

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außermoralischen Perspektive zu betrachten« und durch diesen »Standpunktwechsel« das Rechtsgesetz als solches in den Blick zu nehmen (Kersting 1984: 126326), besteht nur, wenn nicht zwischen dem Subjekt der Theorie, der transzendentalen praktischen Reflexion, und dem Subjekt, das Gegenstand der Theorie ist, unterschieden wird. Dem Subjekt, das Gegenstand der Theorie ist, also dem Adressaten des kategorischen Imperativs, kann reine praktische Vernunft keine ›Erlaubnis‹ zum Verlassen des moralischen Standpunkts und zum Einnehmen einer außermoralischen Perspektive auf das Grundgesetz erteilen. Die transzendentale praktische Reflexion dagegen bedarf keiner Erlaubnis, sie hat als solche notwendig eine außermoralische Perspektive auf das Grundgesetz. Dabei meint ›außermoralisch‹ jeweils Verschiedenes. In Bezug auf den Adressaten des kategorischen Imperativs meint es dessen moralisch nicht erlaubtes, faktisch aber immer mögliches instrumentelles Verhältnis zum Moralprinzip. Ein jeder soll zwar aus Pflicht seine Pflicht tun, ein jeder kann aber seine Pflicht auch nur aus seinem wohlverstandenen Eigeninteresse tun. In Bezug auf die transzendentale praktische Reflexion bezeichnet ›außermoralisch‹ den Umstand, dass die Reflexion auf die Bestimmungen des Vernunftrechts selbst nicht unter diesen Bestimmungen steht. Die Theorie des Vernunftrechts fällt selbst nicht unter das Vernunftrecht. Der Mensch unterliegt a priori der vernunftrechtlichen Regelung der Sphäre seiner äußeren Handlungsfreiheit. Das Recht schränkt die Freiheit der Willkür eines jeden darauf ein, dass sie mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, und verbietet derart, dass Menschen nur als Mittel für fremde Zwecke gebraucht werden. Als formales und negatives Prinzip lässt das Rechtsgesetz die rechtliche Möglichkeit, das heißt die Rechtmäßigkeit von Handlungen ebenso eindeutig erkennen wie ihre rechtliche Notwendigkeit, das heißt ihren Pflichtcharakter. Rechtmäßig sind Handlungen, die dem Rechtsgesetz nicht widersprechen, Rechtspflicht sind Handlungen, deren praktisches Gegenteil dem Gesetz widerspricht und die daher verboten sind. »Wie beim kategorischen Imperativ ist auch beim Rechtsprinzip der Pflichtcharakter einer Handlung nur über die Gesetzwidrigkeit ihres praktischen Gegenteils erschließbar. Eine Rechtspflicht hat daher immer eine Unrechtsunterlassung zum Gegenstand.« (Kersting 1984: 182) kein Organ für die Unbedingtheit der Forderung und daher kein Bewusstsein von der Würde des Rechtssubjekts. »Damit erweist sich die Rechtslehre in geltungstheoretischer Hinsicht von der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ abhängig.« (Kersting 1984: 125). »[D]as Recht besitzt seine absolute Geltung nur als Derivat des Sittengesetzes.« (Oberer 1997: 181). 326 Vgl. Steigleder (2002: 152 f.).

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Im Unterschied zum Recht betrifft die Ethik nicht die äußere Handlungsfreiheit, sondern die innere Freiheit der Zwecksetzung und Maximenbildung. Sie gebietet Zwecke, die zugleich Pflicht sind. Weil diese aber nicht die Maximen enthalten, nach denen in einer gegebenen Situation konkret zu handeln ist, muss der Handelnde selbst beurteilen, welche Maxime unter den obwaltenden Umständen die dem Zweck angemessene ist. Pflichtenkollisionen sind dabei zwar nicht auszuschließen, sie sind aber durch pragmatische Überlegungen, die hier ohnehin unverzichtbar sind, lösbar. (vgl. TL A 91 Anm.) Da die konkrete Ausführung des ethisch Gebotenen von der Einschätzung der Umstände durch den Handelnden abhängt und keine Selbstaufopferung für das Gute gefordert ist, scheint jeder jederzeit im Rahmen seiner Möglichkeiten zu moralischem Handeln in der Lage, der mit Talenten Gesegnete ebenso wie der Untalentierte, der Reiche wie der Arme, der Gesunde wie der Kranke. Die Ausnahme von dieser Regel bilden scheinbar nur kontingente moralische Dilemmasituationen, in denen die Umstände keine Möglichkeit zu moralischem Handeln lassen.327 Solche Situationen sind aber weder dem Subjekt anzulasten, das in sie gerät, noch der ethischen Theorie, die sie nicht lösen kann. Allein die Irrtumsanfälligkeit des Handelnden scheint demnach die insgesamt hoffnungsfrohe moralische Situation des Individuums etwas einzutrüben. Der Tugendhafte kann irren und in der Ausübung seiner Pflichten »einen Fehler (peccatum) begehn« (TL A 91 Anm.). Das Gute, das er will, kann durch die Verkennung der Situation oder durch die Wahl der falschen Mittel ins Gegenteil verkehrt werden. Sein Wille, hier und jetzt das Wohl anderer Menschen zu befördern, garantiert nicht die Realisierung des Gewollten. Aufgrund der mit der Ausübung der Tugendpflichten verbundenen Irrtumsmöglichkeit sind Rechts- und Tugendpflichten unbeschadet ihrer jeweils unbedingten Geltung von unterschiedlicher Verbindlichkeit. Jene haben eine enge, diese eine weite Verbindlichkeit.328 Das Recht hat deshalb den Vorrang vor der Ethik, es schränkt tugendhaftes Handeln auf die Bedingung der Gesetzeskonformität ein. Die Legalität ist die notwendige Bedingung der Moralität. 327 Befinden sich in einem brennenden Haus zwei Kinder, deren Mutter nur eines retten kann und nun entscheiden muss, welches sie retten will, sind die Handlungsoptionen in dieser Dilemmasituation und die Entscheidung selbst kein Gegenstand moralischer Beurteilung. »Moralisch beurteilen könnte man allenfalls die Maximen derjenigen«, die sich in solchen Situationen befinden. Würde sich die Mutter die Situation zu Nutze machen wollen, um sich eines ungeliebten Kindes zu entledigen, so wäre ihr dies unabhängig von den von ihr »nicht zu verantwortenden Rahmenbedingungen als unmoralisch anzulasten«. (Esser 2004: 265 f.). 328 Vgl. TL A 20 ff; A 55 f. Der unterschiedlichen Verbindlichkeit von Rechtsund Tugendpflichten liegt ein epistemologischer, kein normativer Unterschied zugrunde: Kersting (1984: 195).

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Eine Handlung, die nicht pflichtgemäß ist, kann auch keinen moralischen Wert haben. Nun hat sich gezeigt: Anders als Kant meint, kann das Recht nicht als einschränkende Bedingung tugendhaften Handelns fungieren, denn es kann seinen eigenen Anspruch nicht erfüllen. Das Recht soll das Personsein eines jeden Menschen im Verhältnis der äußeren Handlungsfreiheit zu anderen garantieren. Dabei gebietet seine Formalität, von der Bestimmtheit des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses zu abstrahieren. Dennoch muss Kant aus Gründen, die in seinem eigenen Rechtsbegriff liegen, diejenigen, die über kein subsistenzsicherndes Eigentum verfügen, in das Rechtssystem einbeziehen und damit der Sache nach das sozioökonomische Faktum der freien Lohnarbeit als rechtlich möglich erweisen – was misslingt. Die unter dem Titel des ›Hausherrenrechts‹ eingeführten materialen Bestimmungen widerstreiten der Formalität des Rechtsbegriffs und sind auch für sich betrachtet nicht geeignet, die Lohnarbeit als mit dem Personsein des Menschen vereinbar zu erweisen. Durch den Verkauf seiner von seinem Leib nicht abtrennbaren Arbeitskraft an den Kapitalisten ›verdingt‹ der Arbeiter diesen Leib und damit sich selbst. Er willigt vertraglich ein, seine freie Willkür den Zwecksetzungen des Kapitalisten zu unterstellen und tritt damit zu diesem in ein Verhältnis, in dem beider Willküren nicht »nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden« (RL B 33) können. Denn durch den Vertrag erlangt der Kapitalist das Recht, die fremde Arbeitskraft als bloßes Mittel zur Realisierung seiner Zwecke zu gebrauchen, der Arbeiter aber verpflichtet sich, sich als bloßes Mittel gebrauchen zu lassen. »Der Arbeiter arbeitet unter der Kontrole des Kapitalisten, dem seine Arbeit gehört. Der Kapitalist paßt auf, daß die Arbeit ordentlich von statten geht und die Produktionsmittel zweckmäßig verwandt werden. […] Der Arbeitsproceß ist ein Proceß zwischen Dingen, die der Kapitalist gekauft hat, zwischen ihm gehörigen Dingen. Das Produkt dieses Processes gehört ihm daher ganz eben so sehr als das Produkt des Gährungsprocesses in seinem Weinkeller.« (K I² 199/199 f.) Genauer betrachtet stellt der in den Produktionsmittel-Eigentumsverhältnissen gründende Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft deren Besitzer objektiv vor ein moralisches Dilemma (›objektiv‹, weil es ihm nicht bewusst sein muss, wie gleich zu zeigen ist), das seine freie Rechtssubjektivität paralysiert. Dies wird deutlich, wenn neben dem ›allgemeinen Gesetz der Freiheit‹ als Rechtsprinzip auch dessen subjektives Korrelat betrachtet wird. Kant zufolge schränkt das allgemeine Gesetz der Freiheit als Prinzip des Rechts den Gebrauch der individuellen Willkür objektiv auf die Bedingungen der gleichen äußeren Handlungsfreiheit für alle ein. Seinem subjektiven Korrelat, dem jedem Menschen »kraft seiner Menschheit« zustehenden Recht, fremde Willkür nach Maßgabe des Rechtsgesetzes einzuschränken, entspringt die Pflicht eines jeden gegen 358

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sich selbst: »Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)«; »›mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck‹«. (RL B 43) Kant bestimmt diese Pflicht in der Rechtslehre und in den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten als Rechtspflicht und unterscheidet sie als »rechtliche Ehrbarkeit (honestas iuridica)« von der »Ehrliebe (honestas interna)« als einer Tugendpflicht (RL B 43; TL A 68 f.). Dagegen ordnet er sie noch in den Vorlesungen zur Metaphysik der Sit­ ten von 1793/94 (Nachschrift Vigilantius) der Ethik zu.329 Warum das Recht nicht nur eine Verbindlichkeit aus dem Recht der Menschheit in der Person des jeweils anderen, sondern auch eine »aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person« (RL B 43) enthält, ist nicht unmittelbar plausibel. Eine Verbindlichkeit gegen mich selbst, eine innere Verbindlichkeit, scheint eindeutig in die Ethik zu gehören und eine innere Rechtspflicht daher unmöglich. Eine solche scheint vielmehr in doppelter Hinsicht ein hölzernes Eisen zu sein, denn erstens sind Rechtspflichten äußere Pflichten, ihre Erfüllung setzt keine »innere« Rechtsgesinnung voraus (vgl. RL B 34), zweitens aber sind sie nicht Pflichten der Person gegen sich selbst, sondern gegen andere Personen. Ein Blick in die Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten hilft weiter. Kant zufolge ist das ›honeste vive‹ ein kategorischer Imperativ reiner praktischer Rechtsvernunft, der im Unterschied zum ethischen Imperativ aber nicht die Erfüllung der Pflicht aus Pflicht fordert. Der kategorischen Forderung an den Einzelnen, seinen Status als Rechtssubjekt im äußeren Verhältnis zu anderen zu bewahren, darf dieser auch aus pragmatischen, der reinen Vernunft äußerlichen Gründen entsprechen, wie Kant in den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten (aber leider nicht im publizierten Werk selbst) betont. Das »Recht der Menschheit in unserer eigenen Person« ist demnach kein Bestandteil der Ethik, weil es »nicht verlangt daß die Idee der Pflicht gegen sich selbst zugleich die Triebfeder der Handlungen sey«. Es ist vielmehr »die oberste Bedingung aller Pflichtgesetze weil das Subject sonst aufhören würde ein Subject der Pflichten (Person) zu seyn und zu Sachen gezählt werden müßte«. Die Hochachtung, die dem Recht der Menschheit entgegengebracht wird, gehöre »nicht zur Tugendlehre sondern zur Rechtslehre als bloße Einschränkende Bedingung« (VMdS 390 f.). Ob der Einzelne seine freie Rechtssubjektivität im äußeren Verhältnis zu anderen aus Achtung vor dem Recht der Menschheit in seiner Person oder aus einem wohlverstandenen Eigeninteresse behauptet, ist für die Erfüllung dieser Pflicht gleichgültig. Die Achtung vor dem Recht der Menschheit kann, muss aber nicht als Triebfeder seiner Handlungen fungieren. Wie immer differenziert Kant auch hier nicht zwischen Bestimmungen, die nur für den Theoretiker und solchen, die für das Alltagsbewusstsein sind. Es ist deshalb daran zu erinnern: Das Naturrecht ist zwar »das 329 Dazu ausführlich Ju (1990).

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a priori durch jedes Menschen Vernunft erkennbare Recht« (RL B 139 f.), aber faktisch wird es doch nicht von jedem Menschen als solches erkannt. Dass die innere Rechtspflicht es ihrem Adressaten freistellt, ob er seine juridische Selbsterhaltung aus Pflicht oder aus pragmatischen Gründen behauptet, ist eine Bestimmung der transzendentalen praktischen Reflexion. Dem Alltagsverstand ist sie so wenig bekannt wie die Unterscheidung zwischen juridischer und ethischer honestas-Pflicht. Er hat nur ein undeutliches Bewusstsein, aber keinen Begriff davon, dass er sich anderen nicht zum bloßen Mittel, etwa zum Sklaven machen darf (rechtliche Ehrbarkeit). Und er besitzt nur eine undeutliche Vorstellung davon, dass er sich seinen Neigungen nicht ausliefern soll, indem er etwa durch »sittlich falsche Kriecherei« allen Anspruch auf einen moralischen Wert seiner selbst aufgibt und sich überredet, »dadurch einen geborgten zu erwerben« (TL A 95) (ethische Ehrliebe). Der Zwang zum Verkauf seiner Arbeitskraft stellt deren Träger objektiv vor ein moralisches Dilemma. Macht er sich, um seine Würde zu schützen, den Kapitalisten (im Plural, denn der individuelle Kapitalist ist hier Repräsentant des Kapitals als einer gesellschaftlichen Macht) nicht zum bloßen Mittel der Kapitalverwertung und entscheidet sich für den Hungertod, so macht er sich dadurch dennoch zum bloßen Mittel – dem seiner Selbstzerstörung, und verletzt damit seine Würde. Mithin kann er seine Würde weder durch den Verkauf noch durch den Nichtverkauf seiner Arbeitskraft schützen. Sein Dasein als Nichteigentümer von Produktionsmitteln konfrontiert ihn mit zwei unvereinbaren Pflichten: der zur Selbsterhaltung seiner als homo phaenomenon und der, sich anderen nicht zum bloßen Mittel zu machen. Als homo phaenomenon (als ›Person‹) ist er dem homo noumenon (der ›Menschheit in seiner Person‹) »zur Erhaltung anvertrauet« (TL A 73). Seine noumenale Seite ist von seiner empirischen nicht zu trennen. Ohne empirisches Subjekt überhaupt kein Subjekt der Moralität. Der Arbeitskraftbesitzer, der sich für den Hungertod entscheidet, um seine Würde zu bewahren, »vertilgt« daher »die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt«. Dass er über sich selbst als bloßes Mittel nicht zu einem »ihm beliebigen Zweck« (TL A 73) verfügt, ist für das moralische Dilemma konstitutiv.

4.3. Das Kapitalverhältnis als Gegenstand moralischer Empörung und Kritik Stellt der ökonomische Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft deren Träger objektiv vor ein moralisches Dilemma, so ist zu fragen, inwiefern dieser Zwang auf der Grundlage der kantischen Moralphilosophie zu kritisieren ist. Denn für eine moralisch begründete Kritik an den 360

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kapitalistischen Produktionsverhältnissen reicht es nicht hin, festzustellen, es bestehe ›objektiv‹ ein Dilemma. Eine solche Kritik müsste aus der Perspektive der ersten Person Singular erfolgen können, beispielsweise aus der Perspektive des Besitzers der Ware Arbeitskraft. Dass sie tatsächlich möglich ist, scheint auf den ersten Blick eher zweifelhaft. Zwei Einwände sprechen dagegen. Zunächst dieser: Das Bewusstsein der inneren Rechtspflicht ist wie jedes Pflichtbewusstsein ein unmittelbares. Doch die Einsicht, dass ihn diese Pflicht unter kapitalistischen Bedingungen vor ein moralisches Dilemma stellt, kann dem Besitzer der Arbeitskraft nicht unmittelbar bewusst sein, möglich ist sie nur unter Voraussetzung theoretischen »Weltwissens« (4.3.1.). Zum Zweiten scheinen eine moralische Empörung über die kapitalistischen Produktionsverhältnisse und eine moralische Kritik an ihnen schon deshalb nicht möglich, weil diese Verhältnisse nicht den Handlungen bestimmter Menschen oder Menschengruppen zugerechnet werden können. Der Empörung scheint hier der Gegenstand und der Kritik der Adressat zu fehlen, und es liegt nahe, beides auf eine historisch bedingte Unzulänglichkeit der kantischen Moralphilosophie zurückzuführen (4.3.2.). Die beiden Einwände werden im Folgenden diskutiert und zurückgewiesen. Anschließend wird gezeigt, inwiefern eine moralisch berechtigte Empörung über das Kapital und eine moralisch begründete Kritik an ihm auf der Grundlage der kantischen Einsichten möglich sind (4.3.3.). 4.3.1. ›Weltwissen‹ als Voraussetzung moralischen Urteilens Kant zufolge ist die kategorische Forderung nach rechtlicher Selbstbehauptung jedem unmittelbar bewusst. Ohne dass es dazu theoretischer Einsichten bedarf, weiß sich ein jeder verpflichtet, für andere immer auch Zweck und niemals bloßes Mittel zu sein. Die Einsicht, dass ihn diese Pflicht unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise vor ein moralisches Dilemma stellt, kann dem Besitzer der Arbeitskraft aber nicht unmittelbar bewusst sein, denn sie ist theoretisch vermittelt. Sie setzt die Kritik der vernunftrechtlichen Legitimierung des Privateigentums an Produktionsmitteln und den Begriff des Kapitals voraus. So ergibt sich scheinbar der paradoxe Befund, dass eine im kantischen Sinne moralisch, mithin vernünftig begründete Kritik der Produktionsweise nur unter Voraussetzungen möglich ist, die mit der Moralphilosophie Kants unvereinbar sind. Denn dass diese Kritik nur unter erheblichen theoretischen Anstrengungen möglich ist, scheint der Auskunft der Grundlegung zu widersprechen, wonach in moralischen Fragen ein jeder, auch der »in Ansehung des Weltlaufs« Unerfahrene, zuverlässig urteilen kann. Ein jeder habe das moralische Gesetz »wirklich vor Augen« 361

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und gebrauche es als einen »Kompass« seiner moralischen Orientierung »in allen vorkommenden Fällen«. (GMS B 20 f.) Die genannte Schwierigkeit lässt sich jedoch rasch beheben. Der moralisch Urteilende darf in Ansehung des Weltlaufs insofern unerfahren sein, als sein Urteil nicht dem komplizierten Weltlauf, sondern seiner eigenen Maxime gilt; es bezieht sich nur auf seine Willensbestimmung, nicht auf die Beschaffenheit der Welt.330 Wer es sich beispielsweise zur Maxime gemacht hat, sein Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern, und nun überlegt, ob er ein Depositum nach dem Ableben seines Eigentümers behalten darf, erkennt sofort, dass dies nicht möglich ist. Denn die Maxime: »Daß jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann«, würde sich als Gesetz selbst vernichten, weil sie machen würde, »daß es gar kein Depositum gäbe« (KpV A 49). Die Beurteilung der moralischen Möglichkeit einer Maxime erfolgt hier allein nach dem Kriterium ihrer Gesetzestauglichkeit. Sie gilt der Widerspruchsfreiheit der Maxime als Gesetz, nicht aber der Frage, ob es Deposita geben solle oder ob eine Welt ohne Deposita ein widersprüchlicher Gedanke sei.331 Allerdings erteilt Kant die Auskunft, moralische Urteilskompetenz bedürfe keines besonderen Weltwissens, weil die Beurteilung der Maxime und nicht der Welt gelte, in den Grundlegungsschriften, mithin im Kontext der Prinzipienbegründung. In der Tugendlehre, im Kontext der Prinzipienanwendung, relativiert er sie. Weil die Tugendpflichten dem Subjekt im Hinblick auf ihre konkrete Ausübung einen weiten Spielraum lassen, muss der Handelnde in der gegebenen Situation beurteilen, wie und in welchem Maß er seine Tugendpflicht erfüllt. Weil die Realisierung objektiver Zwecke »immer empirische Bedingungen an sich hat« (VATL 394; vgl. TL A 91 Anm.), muss er über die Art und Weise der Ausführung des moralisch Geforderten nach »pragmatischen« (TL A 91 Anm.) Regeln entscheiden. Konkretes tugendhaftes Handeln verlangt also sehr wohl eine gewisse Weltkenntnis, und es ist sogar Pflicht, sich diese anzueignen. Die Tugendpflicht der Selbstvervollkommnung schreibt einem jeden vor, »seine 330 »Dem kategorischen Gebote der Sittlichkeit Genüge zu leisten, ist in jedes Gewalt zu aller Zeit, der empirisch-bedingten Vorschrift der Glückseligkeit nur selten, und bei weitem nicht, auch nur in Ansehung einer einzigen Absicht, für jedermann möglich. Die Ursache ist, weil es bei dem ersteren nur auf die Maxime ankommt, die echt und rein sein muß, bei der letzteren aber auch auf die Kräfte und das physische Vermögen, einen begehrten Gegenstand wirklich zu machen.« (KpV A 64 f.). 331 So aber Hegel: »[D]ie Fähigkeit einer Handlung, als allgemeine Maxime vorgestellt zu werden, […] enthält für sich kein weiteres Prinzip als jenen Mangel des Widerspruchs und die formelle Identität. – Daß kein Eigentum stattfindet, enthält für sich ebensowenig einen Widerspruch, als daß […] überhaupt keine Menschen leben.« (Rph 253).

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Unwissenheit durch Belehrung zu ergänzen und seine Irrtümer zu verbessern« (TL A 15). Wer sich aus seiner Unwissenheit befreit, stärkt damit seine Fähigkeit, den Anforderungen der Moral in seinem Handeln gerecht zu werden. Er vermag Pflichtsituationen besser einzuschätzen und läuft weniger Gefahr, die falschen Mittel zu wählen. Die Pflicht zur Kultivierung der moralischen Urteilsfähigkeit zielt darauf, die den jeweils gegebenen Umständen angemessene Handlungsmaxime bilden zu können, das heißt sich in moralisch-praktischer Hinsicht in »ein vernünftiges Verhältnis« (Esser 2004: 322) zu den gegebenen Bedingungen des Handelns zu setzen. Verlangt die Pflichterfüllung also eine gewisse Weltkenntnis, so gilt dies ebenso für die Einschätzung der moralischen Relevanz einer konkreten Situation. Der Pflichterfüllung in einer konkreten Situation ist deren Erkenntnis als Pflichtsituation vorausgesetzt. Wer nicht weiß, dass er sich in einer Pflichtsituation befindet, vermag auch nicht seine Pflicht zu erfüllen. Für Kant scheint die Frage, wie Menschen erkennen, ob eine Situation moralisch relevant ist, unproblematisch, denn er ist ihr an keiner Stelle nachgegangen. Es scheint, als sei auf dem Boden der kantischen Bestimmungen nicht grundsätzlich auszuschließen, dass es sich einer zum Prinzip macht, aus Pflicht zu handeln, und nur deshalb nicht dazu kommt, weil er nicht in der Lage ist, Pflichtsituationen als solche zu erkennen. Einem solchen im Gedankenexperiment erwogenen Menschen mangelte es an Urteilskraft. Ob es solche Menschen tatsächlich gibt, ist allerdings keine Frage, die auf ein systematisches Problem der Moralphilosophie verweist. »Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.« (KrV B 172 Anm.) Systematisch entscheidend für die Beantwortung der Frage, wie eine Situation als Pflichtsituation zu erkennen ist, ist dagegen das Folgende. Die Einsicht in die moralische Relevanz einer Situation kann nicht aus ihrer moralisch neutralen Beschreibung resultieren, da in dieser »der Gegenstand der moralischen Beurteilung nicht anzutreffen ist«. Der Gegenstand der moralischen Beurteilung ist dem Subjekt nämlich nicht einfach gegeben, »sondern entsteht erst, wenn ein Geschehen als Handlungszusammenhang beschrieben wird, in dem freie Handlungen für möglich gehalten werden«. (Esser 2004: 271) Der Beschreibung eines Naturgeschehens, etwa eines Vulkanausbruchs, ist kein Hinweis auf einen Gegenstand moralischer Beurteilung zu entnehmen. Der Beschreibung eines politischen Geschehens dagegen schon. Denn anders als dort ist hier die freie Willkür des Menschen für das Geschehen konstitutiv. Moralisch relevant können nur Situationen sein, die »als durch einen Willen möglich (oder notwendig) vorgestellt« (KdU B XIII332) werden. 332 Vgl. R 318 f.: »Practisch wird etwas überhaupt betrachtet, so fern es nach den Gesetzen der freyen Willkühr erwogen wird. Geschieht es nach den

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Moralische Empörung über gesellschaftliche Verhältnisse und moralische Kritik an ihnen ist demnach auf dem Boden der kantischen Moralphilosophie möglich. Auch auf der Grundlage der Tugendlehre und somit außerhalb eines moraltheologischen Kontextes ist eine moralische Empörung, die sich in der Forderung artikuliert: es müsse anders zugehen in der Welt, denkbar. Freilich nur als Empörung über bestimmte Verhältnisse, die als von bestimmten Menschen oder Menschengruppen gewollte und von ihnen hergestellte identifizierbar sind. 4.3.2. Eine historisch bedingte Unzulänglichkeit der kantischen Moralphilosophie? Gegenstand moralischer Empörung sind zuerst die Handlungen von Menschen und die dahinter vermuteten Maximen bzw. der vermutete ›Charakter‹ dieser Menschen (vgl. RGV B 5 f.) und erst dann deren Auswirkungen. Gegenstand der Empörung ist etwa der Souverän, der seinen Untertan »in den Krieg, wie auf eine Jagd, und zu einer Feldschlacht, wie auf eine Lustpartie« führt. Er behandelt den Menschen wie sein Eigentum und setzt sich darüber hinweg, dass dieser als Staatsbürger »immer als mitgesetzgebendes Glied betrachtet werden muß (nicht bloß als Mittel, sondern auch zugleich als Zweck an sich selbst), und der also zum Kriegführen nicht allein überhaupt, sondern auch zu jeder besondern Kriegserklärung, vermittels seiner Repräsentanten, seine freie Beistimmung geben muß« (RL B 249). Moralische Empörung provoziert auch der Gesetzgeber, der die Großgrundbesitzer privilegiert und damit verhindert, dass sich das Gros der Untertanen durch Talent und Fleiß und Glück »zu gleichen Umständen« (GTP A 240 ff.) erheben kann; desgleichen der Fürst, der seinen Untertan unter Androhung des Todes zwingen will, »ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann« (KpV A 54333) abzulegen. Moralischer Kritik setzen sich schließlich auch Staatenlenker aus, die durch ihr Handeln für andere Menschen moralisch dilemmatische Situationen herbeiführen, die verhindern, dass diese Menschen noch moralisch handeln können. Jedes der angeführten Geschehnisse verweist eindeutig auf ein fremdes Wollen. Es ist daher moralisch transparent und stellt die Urteilskraft vor keine unüberwindlichen Schwierigkeiten. Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass im Rahmen der Tugendlehre gesellschaftliche Verhältnisse Gegenstand moralischer Kritik und Empörung sind, wenn sie als von Regeln der guten Willkühr, so ist es moralisch, daher practisch und moralisch möglich oder nothwendig.« 333 Der Untertan ist moralisch verpflichtet, dem Ansinnen des Fürsten zu widerstehen und ihm den Gehorsam zu verweigern.

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bestimmten Menschen oder Kollektiven gewollte und von ihnen hergestellte identifizierbar sind. Diese Bedingung ist allerdings im Fall der kapitalistischen Produktionsweise nicht erfüllt. Eine moralische Kritik und Empörung, die der Produktionsweise als solcher gilt und nicht nur punktuellen und temporären Phänomenen, die mit ihr in Zusammenhang stehen und, isoliert von diesem Zusammenhang, allein in dem Wollen und Handeln bestimmter Menschen oder Menschengruppen zu gründen scheinen, scheint daher ausgeschlossen. Es scheint, dass der Kritik der Adressat und der Empörung der Gegenstand fehlt. Der Kritik scheint der Adressat zu fehlen, denn der Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft (ebenso wie der zur Verwertung des Werts) geht nicht von einer bestimmten fremden Willkür aus, sondern ist ein anonymer ökonomischer Zwang. Ihn zu personifizieren und auf bestimmte Personen oder Personengruppen zurückzuführen, ginge an der Sache vorbei. Der Empörung scheint der Gegenstand zu fehlen, denn dass der gesellschaftlichen Reproduktion ein ökonomisches Prinzip zugrunde liegt, welches die Möglichkeit zu moralischem Handeln in der bürgerlichen Gesellschaft systematisch torpediert, indem es die Individuen zu Funktionsorganen des anonymen gesellschaftlichen Verwertungsprozesses bestimmt, liegt außerhalb des kantischen Problemhorizonts. Kant ist natürlich bewusst, dass die bürgerliche Gesellschaft kein Reich der Zwecke ist. Immerhin ist sie schon in ihren Anfängen als eine Sphäre beschrieben worden, in der alles seinen Preis hat und verrechenbar ist.334 Er ahnt aber noch nichts von dem strukturellen Zwang der Kapitalverwertung. Er betrachtet die gesellschaftliche Arbeitsteilung und die Produktion für den anonymen Markt als Motoren des technisch-praktischen Fortschritts, ohne den »die Gewerbe noch in der größten Barbarei« (GMS B VI) lägen, ist aber weit davon entfernt, die Eigengesetzlichkeit des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses zu erkennen, geschweige denn ihre moralphilosophische Relevanz zu bedenken. Es liegt nahe, Kant hier eine historisch bedingte Erkenntnisschranke zu attestieren, zumal sich der Philosoph auch außerhalb seiner Moralphilosophie kaum für Ökonomie interessiert. Und sicher trifft die These von der Erkenntnisschranke auf den Autor Kant zu, ohne dass damit aber schon ein Urteil über seine Theorie gesprochen sein muss. Den Unterschied von Autor und Theorie zieht ein, wer von der Erkenntnisschranke Kants auf den Mangel seiner Ethik schließt. Nach Adorno ist Kants Ethik als Lehre von der richtigen Gesinnung des Individuums durch Politik als Lehre vom kollektiv richtigen Handeln zu ersetzen.335 334 »The Value or Worth of a man, is as of all other things, his price: that is to say, so much as would be given for the use of his power«, zitiert Marx (ÖM VI 2118) unter dem Stichwort ›Arbeitsvermögen‹ Thomas Hobbes (1651: 67). 335 »[W]as Moral heute vielleicht überhaupt noch heißen darf, das geht über an die Frage nach der Einrichtung der Welt – man könnte sagen: die Frage

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Ist nämlich dem Einzelnen ein richtiges Leben nicht mehr möglich, weil die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft als Ganzes verkehrt ist (»Es gibt kein richtiges Leben im falschen« [Adorno 1951: 43]), scheinen die an ihn adressierten moralischen Forderungen bestenfalls veraltet. »Ein nicht bornierter Begriff von Praxis« scheint sich dann nur noch auf die Verhältnisse der Gesellschaft beziehen zu können, »welche die Praxis eines jeden Einzelnen weithin zur Irrelevanz verurteilen.« Kants moralphilosophische Schriften seien »dem Stand von Aufklärung im achtzehn­ten Jahrhundert gemäß«. Sie seien insofern »individualistisch«, als sie im Individuum das »Substrat richtigen […] Handelns« erblickten. »Kants Beispiele kommen allesamt aus der Privat- und der geschäftlichen Sphäre; der Begriff der Gesinnungsethik, deren Subjekt der individuierte Einzelne sein muß, wird davon bedingt. In Hegel meldet erstmals die Erfahrung sich an, daß das Verhalten des Individuums, sei es noch so reinen Willens, nicht heranreicht an eine Realität, die dem Individuum die Bedingungen seines Handeln vorschreibt und einschränkt.« (Adorno 1969: 764336) Wie bei Marx und Engels blamiert sich bei Adorno die Idee moralischer Freiheit an einer gesellschaftlichen Realität, von deren ökonomischen Gesetzen sie nichts weiß, aber anders als jene meinen, soll sie doch nicht gänzlich verworfen werden. Denn mit der politischen Erweiterung des Praxisbegriffs drohe, wie bei Hegel zu beobachten, die »Repression des Einzelnen durchs Allgemeine« (Adorno 1969: 764). Eine solche ›kritische‹ oder ›materialistische‹ Lesart, die unter Rückgriff auf Stereotypen der Kant-Auslegung (›Gesinnungsethik‹) und unter Ausblendung der Geltungsfrage die Idee der Autonomie historisiert, muss sich fragen lassen, mit welchem Recht sie noch an der Idee einer freien Gesellschaft festhalten kann. Vor allem gerät ihr aber der philosophisch entscheidende Grund für Kants moralphilosophisches Absehen von der Ökonomie gar nicht in den Blick. Kant zufolge wird die Ökonomie durch technisch-praktische Vernunft, durch das zweckrationale Handeln der Einzelnen konstituiert und kann deshalb aus diesem Handeln erklärt werden. Sie ist Gegenstand einer Erfahrungswissenschaft, deren Erkenntnisse prinzipiell nicht gegen die Vernunftbestimmungen nach dem richtigen Leben wäre die Frage nach der richtigen Politik, wenn eine solche richtige Politik selber heute im Bereich des zu Verwirklichenden gelegen wäre.« (Adorno 1963: 262). 336 Nach Lukács (1923: 304) ist »die formale, auf das individuelle Bewußtsein zugeschnittene Ethik Kants« ein Ausdruck verdinglichten philosophischen Bewusstseins, das den Form-Inhalt-Dualismus nicht überwinden kann. Nach Bloch (1959: III 1141 f.) verabsolutiert Kant, indem er die »formalste, aber auch radikalste Leittafel des moralischen Kollektivs im kategorischen Imperativ« gibt, »in facto damit nur eine vorübergehende Ideologie der französischen Bourgeoisgesellschaft«. Hegels Kritik der kantischen Moralphilosophie zeigt deutliche Spuren.

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von normativer Ethik und apriorischer Rechtslehre in Stellung gebracht werden können. Die »Staatswirtschaft« gehört nicht zur praktischen Philosophie, denn sie enthält nur »Regeln der Geschicklichkeit, die mithin nur technisch-praktisch sind«, »um eine Wirkung hervorzubringen, die nach Naturbegriffen der Ursachen und Wirkungen möglich ist« (KdU B XIV f.). Aus der Perspektive der Moralphilosophie bildet sie nur einen Teilbereich der Sphäre der äußeren Handlungsfreiheit, die insgesamt durch apriorische Rechtsprinzipien formal bestimmt ist. Dabei gründen Recht und Ethik im selben »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« (KpV § 7), das endlichen Vernunftwesen als kategorischer Imperativ entgegentritt. »Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralischen Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imperativ, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d.i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann.« (RL B 48337) Die ethische Gesetzgebung »geht auf alles, was Pflicht ist, überhaupt« und macht auch die rechtlichen Pflichten »zu indirekt-ethischen« (RL B 15; B 18). Indem das Recht die äußere Handlungsfreiheit eines jeden auf die Bedingung der Koexistenz aller als freier Rechtssubjekte einschränkt, garantiert es, dass jeder seinen individuellen Vorteil in der Konkurrenz mit anderen suchen kann, sofern er nur deren juridische Selbsterhaltung nicht tangiert, also die rechtlich geforderte strikte Gleichverteilung der äußeren Handlungsfreiheit aller beachtet. Weil so ein jeder durch rechtskonformes Handeln das Personsein der anderen schon aus pragmatischen, der Pflichtgesinnung äußerlichen Gründen wahren kann, können ökonomisch motiviertes Handeln im Rahmen des rechtlich Erlaubten und moralisch motiviertes Handeln durch ein und dieselbe Handlung realisiert werden, wie schon das Beispiel des Krämers in der Grundlegung illustriert. Dass der »seinen unerfahrnen Käufer nicht überteure« (GMS B 9), ist eine Forderung der Ethik und des Rechts. Letzteres verlangt vom Krämer aber nicht, dass er aus Pflicht, sondern nur, dass er pflichtgemäß handelt. Den unwissenden Kunden zu überteuern ist eine Unrechtshandlung, die zu unterlassen die Pflicht des Krämers ist, welche Motive auch immer ihn zur Erfüllung dieser Pflicht bewegen.338 Da trifft es sich, dass der Krämer ein geschäftliches Interesse daran haben muss, niemanden zu überteuern. Sein guter Ruf ist schließlich sein ›Kapital‹. Er handelt nicht 337 Ohne Freiheit und darauf gegründetes moralisches Gesetz wäre »alles, was geschieht oder geschehen kann, bloßer Mechanism der Natur […] und der Rechtsbegriff ein sachleerer Gedanke«. (ZeF B 76). 338 Vgl. RL B 45 f.: Der vorgetäuschte Marktpreis bewegt den Kunden zum Kauf der Ware, den er in Kenntnis des korrekten Marktpreises unterlassen hätte.

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aus Furcht vor rechtlichen Sanktionen, sondern aus wohlverstandenem Eigeninteresse gesetzeskonform. Er wahrt das Personsein seines ›unerfahrnen‹ Kunden auf eine Weise, die das Kriterium der Legalität, nicht der Moralität erfüllt. Sein Handeln ist rechtlich richtig, aber ethisch, im Hinblick auf seinen Beweggrund betrachtet, verfehlt. Es verhindert das Böse in der Welt, ohne das Gute in ihr zu vermehren. Trägt das Handeln der Einzelnen aufgrund seiner Rechtsförmigkeit dem ›angeborenen Recht der Freiheit‹ eines jeden und damit der Forderung reiner praktischer Vernunft bereits äußerlich Rechnung, dann kann dem Antagonismus der individuellen Zwecke in der Gesellschaft kein objektives, vom subjektiven Wollen der Einzelnen unabhängiges ökonomisches Prinzip zugrunde liegen, das die Möglichkeit moralischen Handelns systematisch torpediert. Sein Grund kann nur in der Verfassung der Individuen als solcher liegen. Kant versteht den gesellschaftlichen Antagonismus nicht ökonomisch, sondern anthropologisch. »Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen; d.i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welche dieser Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. Der Mensch hat eine Neigung, sich zu vergesell­ schaften; weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d.i. die Entwickelung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang, sich zu vereinzelnen (isolieren); weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seiner Seits zum Widerstande gegen andere geneigt ist.« (AG A 392)

Die Vorstellung, die Individuen würden einander niemals übervorteilen und jederzeit über das rein rechtlich Geforderte hinausgehen und sich fragen, »ob jemand bei der Ware, die er zu seinem eigenen Handel von mir kauft, auch seinen Vorteil finden möge, oder nicht« (RL B 33), die Vorstellung also, jeder ökonomisch Handelnde sei eigentlich ein moralisch Handelnder, der seine Pflicht, das Glück anderer im Rahmen des rechtlich Erlaubten zu fördern, erfüllt, wäre aus kantischer Sicht verrückt, weil sie die Menschen gegen alle Erfahrung mit Heiligen verwechselt. Die kantische Sicht auf die bürgerliche Ökonomie ist allerdings, historisch bedingt, noch naiv. Weit davon entfernt, erkennen zu können, dass die Autonomie des gesellschaftlichen Verwertungsprozesses für die Individuen Heteronomie bedeutet, löst Kant ökonomische Bestimmungen einer bestimmten, sich gerade abzeichnenden Produktionsweise in anthropologische Bestimmungen auf. Der Unterschied zwischen antagonistischen Zwecken, deren Möglichkeit mit der Willkürfreiheit der Menschen gegeben ist, und solchen, die durch die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen des Handelns der Menschen konstituiert werden, bleibt unbeachtet. 368

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Angenommen, das Reich der Zwecke, das »durch unser Tun und Lassen wirklich werden kann« (GMS B 80 Anm.339) und soll, wäre wirklich, so spräche mit Kant nichts dagegen, dass es in ihm auch Krämer gäbe, die ihre Waren gegen Geld verkauften. In diesem Reich hätte »alles entweder einen Preis, oder eine Würde« (GMS B 77). Das, was einen Preis hätte, könnte durch etwas anderes als Äquivalent ersetzt werden, das über allen Preis Erhabene dagegen wäre ohne Äquivalent, es hätte eine Würde. Anders als in der real existierenden bürgerlichen Gesellschaft wäre im Reich der Zwecke das Handeln des Krämers in Pflichtsituationen freilich immer maßgeblich von moralischen Erwägungen bestimmt. Der Krämer würde niemals aus egoistischen, sondern immer aus moralischen Motiven gegenüber seinem Kunden ehrlich sein. So wie er würden alle Bürger verfahren, ohne damit ihre bürgerliche Existenz im Geringsten zu gefährden. Denn niemand liefe Gefahr, dass sein moralisches Handeln von einem anderen ausgenutzt werden könnte. Alle Bürger würden sich als Käufer und Verkäufer von Waren gegenübertreten, ohne sich aber wechselseitig zu instrumentalisieren. Sie würden miteinander so kooperieren, dass ihre subjektiven Zwecke »ein Ganzes aller Zwecke […] in systematischer Verknüpfung« (GMS B 74) bildeten. Sie würden sich nicht ausschließen, sondern ergänzen. Das Reich der Zwecke wäre eine Gesellschaft von Waren- und Geldbesitzern, aber ohne antagonistische Zwecke und ohne Konkurrenz. Es wäre eine bürgerliche Gesellschaft, auf die paradoxerweise das Merkmal zuträfe, das Marx und Engels 1848 für den Kommunismus reservieren: In ihr wäre »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller« (MKP 482). Indem die Sphäre der äußeren Handlungsfreiheit durch das Recht formaliter bestimmt ist, tut jeder, der rechtmäßig handelt, der Forderung reiner praktischer Vernunft nach Achtung der Selbstzwecklichkeit der anderen zumindest äußerlich genüge, und wenn er es nicht auch innerlich tut, ist das der Defizienz seiner inneren moralischen Verfassung zuzuschreiben und nicht durch objektive gesellschaftliche Bedingungen seines Handelns zu entschuldigen. Dass er aber der unbedingten Forderung zumindest äußerlich nachkommt und das Recht affirmiert, ist nur klug. Denn schließlich ist es sein wohlverstandenes Eigeninteresse, selbst auch als Person und nicht als Sache behandelt zu werden. Auf die Tugendhaftigkeit von Menschen ist eben kein Verlass. Doch selbst wenn dem anders wäre, bedürfte es notwendig des Rechts, da ein Handeln nach Tugendpflichten einen gesellschaftlichen Zusammenhang zur Bedingung hat, in dem die Verwendung der gegenständlichen Mittel von Zweckrealisierungen überhaupt allgemein geregelt ist. Würde ein jeder jederzeit 339 Weil seine Beförderung allein auf der gesetzlich bestimmten moralischen Freiheit beruht, kann das Reich der Zwecke auch ein »Reich der Sitten« (KpV A 147) genannt werden.

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das Glück anderer (und seine eigene Vollkommenheit) fördern wollen, so würde sich zwar die Willkür eines jeden affirmativ auf die aller anderen beziehen. Aber diese Übereinstimmung der Individuen beträfe doch nur die Maximen ihres Wollens und hätte die Seite der Unbestimmtheit. Denn welcher Mittel sich ein jeder zur Förderung fremden Glücks bediente, bliebe seiner irrtumsanfälligen Beurteilung der konkreten Situation überlassen, und welcher Mittel er sich dabei bedienen könnte, wäre – weil rechtlich unbestimmt – abhängig von seiner tatsächlichen Verfügungsmacht über diese Mittel. Nicht nur könnte einer das ethisch Richtige irrtümlicherweise mit den falschen Mitteln erreichen wollen, er könnte es auch durch Mittel realisieren wollen, die ein anderer zum selben Zeitpunkt für seine gute Tat beansprucht. Kantaffirmativ betrachtet, ermöglicht das Recht die Verfolgung individueller, sei es neigungsbedingter subjektiver, sei es ethisch gebotener, objektiver Zwecke, indem es die gegenständlichen Mittel der Zweckverfolgung als Privateigentum bestimmt. Weil die Gegenständlichkeit dieser Mittel daher rührt, dass sie ein Stück durch Arbeit modifizierte Natur sind, kreist die Rechtfertigung des Privateigentums im Kern um die rechtliche Möglichkeit der privaten Aneignung eines Teils der Natur. Weil nun zweitens die Auseinandersetzung der Menschen mit der Natur außer ihnen nicht die isolierter Robinsons ist, sondern in einem gesellschaftlich organisierten Produktionsprozess erfolgt, thematisiert das Recht mit der Möglichkeit der privaten Aneignung eines Teils der Natur gesellschaftliche Produktionsverhältnisse. Weil aber drittens die recht­ liche Aneignung eines Teils der Natur nicht durch dessen Bearbeitung, sondern allein durch die Inbesitznahme des Produktionsmittels Boden erfolgen kann, handelt das Recht nicht von Privateigentum und gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen überhaupt, sondern wesentlich von Produktionsmittel-Eigentumsverhältnissen. Weil schließlich viertens nicht alle Menschen Grundbesitzer sein können (möglicherweise auch nicht sein wollen), die Nichtbesitzer von Grundeigentum aber nur durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft an die Besitzer subsistieren können, regelt das Recht auch den Verkauf der Arbeitskraft. Kantkritisch betrachtet stellen sich die Dinge anders dar. Dass der Einzelne, der jederzeit seine Pflicht tun soll, in einer gegebenen Situation seine Pflicht auch tun will, aber nicht tun kann, weil das ökonomische Prinzip der Gesellschaft ihn in moralisch dilemmatische Situationen zwingt, hat Kant nicht gesehen und nicht sehen können. Weil die Rechtslehre von der Bestimmtheit des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses abstrahiert, enthält sie auch keine direkten Einsichten in die Heteronomie der bürgerlichen Gesellschaft. Weil sie aber in ihrer Rechtfertigung des Privateigentums (an Produktionsmitteln) genötigt ist, die Nicht-Eigentümer an Produktionsmitteln in das Rechtssystem zu integrieren und dabei notwendig scheitert, sind ihr indirekt, nämlich auf dem Wege ihrer 370

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immanenten Kritik, Gründe für eine Kritik an der bürgerlichen Produktionsweise zu entnehmen. Diese Gründe sind moralischer Natur. Sie setzen die Lehre von der Selbstzwecklichkeit des Menschen voraus. Unter ihrer Voraussetzung zeigt sich, dass der in den gesellschaftlichen Eigentumsverhältnissen begründete strukturelle Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft deren Besitzer in eine moralisch dilemmatische Situation stellt. Weil weder der Verkauf noch der Nicht-Verkauf der Arbeitskraft moralisch möglich ist, muss der an seinem Überleben Interessierte, kantisch gesprochen, dem ›Prinzip der Selbstliebe‹ den Vorrang einräumen vor dem moralischen Gesetz. Moralität ist für ihn angesichts der gesellschaftlichen Heteronomie nicht mehr als ein »schöner Zug« (Brecht 1928: 465). Ein ›schöner Zug‹ ist sie allerdings auch für den Kapitalisten, soweit er als ein ›Triebrad‹ des gesellschaftlichen Verwertungsprozesses fungiert. Als ›personifiziertes Kapital‹ (Marx) hat er keine Wahl: Er muss den Besitzer der Arbeitskraft (und sich selbst) ausschließlich als Mittel zum Zweck und darf ihn nicht ›zugleich‹ auch als Zweck an sich betrachten. Sein Interesse muss allein der profitablen Anwendung der Arbeitskraft gelten, deren Besitzer erscheint ihm daher wesentlich als ein Kostenfaktor. »Als Fanatiker der Verwerthung des Werths zwingt er rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen« (K I² 543/618), damit zur Ausweitung des Arbeitstags, zur Ausdehnung der Mehrarbeitszeit gegenüber der notwendigen Arbeitszeit und zur Intensivierung der Arbeit. Idealiter soll der Arbeiter seine Lebenszeit uneingeschränkt in den Dienst des Kapitals stellen. Konsumiert er »seine disponible Zeit für sich selbst«, so Marx in Anspielung auf eine Formulierung Linguets, »so bestiehlt er den Kapitalisten« (K I² 240/247).340 Damit ist keineswegs behauptet, der Kapitalist habe von Hause aus ein Faible für Hungerlöhne und elende Arbeitsbedingungen, wohl aber, dass sich alle seine Maximen und Handlungen an dem ihm gesellschaftlich vorgegebenen Verwertungszweck orientieren müssen. Der Gedanke einer ›humanen Arbeitswelt‹ (im Sinne gewerkschaftlicher Forderungen) kann ihm dann sympathisch sein, wenn seine Umsetzung sich ökonomisch rechnet (dasselbe gilt für die Idee einer ökologisch nachhaltigen Produktion). Die Kapitaltheorie entlastet den Kapitalisten moralisch auch dort, wo ihr deutlich die moralische Empörung ihres Verfassers anzumerken ist. Doch dessen Empörung gilt den Verhältnissen, nicht dem Verhalten der Akteure in den Verhältnissen. Anders als der Arbeiter, der keine Produktionsmittel besitzt, hat der einzelne Kapitalist (der hier immer als Eigentümer der Produktionsmittel genommen wird) allerdings die Möglichkeit, sein Unternehmen zu 340 Vgl. ebd. Anm.: »›Si le manouvrier libre prend un instant de repos, l’économie sordide qui le suit des yeux avec inquiétude, prétend qu’il la vole.‹ (N. Linguet).«

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verkaufen und als Rentier zu leben. Ihm droht weder der Hungertod noch der Verlust seiner bürgerlichen Existenz. Der »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse« (K I² 663/765), die dem Kapital immanente strukturelle Gewalt nötigt ihn nicht zum Verkauf seiner Arbeitskraft und dadurch in ein moralisches Dilemma. Während der einzelne Arbeiter dem Kapital (als gesellschaftlichem Verhältnis) gehört, »bevor er sich dem Kapitalisten verkauft« (K I² 533/603), gehört der einzelne Produktionsmitteleigentümer dem Kapital erst, wenn er sich dazu entschließt, als Kapitalist zu fungieren. Als Funktionsorgan des Kapitals ist er auf ein instrumentelles Verhältnis zur Moral festgelegt. Seine »Anständigkeit« ist, nach dem Wort von Karl Kraus, »immer etwas, das der Begründung durch ökonomische Rücksichten bedarf« (Kraus 1909: 88). Freilich ist er auch als Rentier von solchen Rücksichten nur in dem Maße befreit, wie es ihm gelingt, sein ›Geld für sich arbeiten zu lassen‹, und noch seine ›ethisch korrekte‹ Geldanlage dient der Aufrechterhaltung des Kapitalverhältnisses. Am Rande: Kraus’ sarkastische Bemerkung gilt dem Mainstream der Wirtschaftsethik als normativ bedeutsame Einsicht ihrer Disziplin: »Es ist weder moralisch geboten noch ökonomisch sinnvoll, dass wirtschaftliche Akteure supererogatorische Leistungen erbringen, die keine angemessene Marktkapitalisierung nach sich ziehen.« (Heidbrink (2008: 170) Aus ihrem affirmativen, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse bestätigenden Charakter macht die Wirtschaftsethik keinen Hehl. Als ›angewandte Ökonomik‹ kündigt sie sich schon in ihrer »Aufgabenbestimmung« als ein Unternehmen an, das den gesellschaftlich hergestellten Sachzwängen seinen theoretischen Segen erteilen möchte. Sie befasst sich nämlich »mit der Frage, welche moralischen Normen und Ideale unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft (von den Unternehmen) zur Geltung gebracht werden können«. (Homann/BlomeDrees 1992: 14) In ihrer neoaristotelischen Variante, die auch die Frage nach dem guten Leben gelten lässt, meint sie, die unsichtbare Hand des Marktes müsse »durch Ethik unterstützt werden«, wobei diese sich »an der Natur der Sache der Wirtschaft orientieren« müsse. (Koslows­ ki 1989: 378) Allein in ihrer diskursethischen Variante setzt sie sich ansatzweise in ein kritisches Verhältnis zur bürgerlichen Ökonomie, wenn sie betont, »ohne Reflexionsstopp vor irgendwelchen empirischen oder normativen Bedingungen der Marktwirtschaft« (Ulrich 1998: 124) verfahren zu wollen. Zumindest im Hinblick auf den affirmativen Mainstream spricht viel für die Vermutung Luhmanns (1993: 134), dass die Wirtschaftsethik »wie auch die Staatsräson oder die englische Küche« zu der Art von Erscheinungen gehöre, »die in der Form eines Geheimnisses auftreten, weil sie geheimhalten müssen, daß sie gar nicht existieren«.

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4.3.3. Der Gegenstand moralischer Empörung Ist der kategorische Imperativ in der kapitalistischen Gesellschaft »moralisch unbefolgbar« (Bloch 1954: 458341), weil und insofern die Subjekte als ›ökonomische Charaktermasken‹ (Marx) fungieren und derart in gesellschaftlich hergestellte moralische Dilemmasituationen gestellt sind, so spricht dies nicht gegen den kategorischen Imperativ, sondern gegen das ökonomische Prinzip der Gesellschaft. Auch wenn der moralischen Kritik der kapitalistischen Produktionsweise der Adressat fehlt, weil sie als ein den Einzelnen vorausgesetztes überindividuelles Ganzes, das dennoch durch die Einzelnen auch hervorgebracht wird, nicht auf das Wollen und Handeln bestimmter Menschen oder Menschengruppen zurückgeführt werden kann, so ist doch die Empörung über die Auswirkungen dieser Produktionsweise moralisch berechtigt und die Kritik an ihr moralisch begründet. Die Empörung ist moralisch berechtigt, denn sie hat einen moralischen Grund. Erkennt nämlich der Adressat des unbedingten Sollens, dass die Bedingungen, unter denen er zu handeln gezwungen ist, sein moralisches Handeln systematisch torpedieren, und erkennt er weiter, dass diese Bedingungen nicht naturgegeben und unveränderbar sind, sondern gesellschaftlich hergestellt und veränderbar, dann muss das seine Empörung über und seine Kritik an diesen Verhältnissen provozieren. Seine Erkenntnis muss allerdings weit über die von Kant in der Tugendlehre angeführte notwendige Erfahrung in Dingen des Weltlaufs hinausgehen. Wenn Kant in der Anwendungsschrift im Unterschied zu den Grundlegungsschriften betont, dass konkretes moralisches Handeln eine gewisse Weltkenntnis voraussetzt und es sogar Pflicht sei, diese zu erwerben, das heißt ›seine Unwissenheit durch Belehrung zu ergänzen und seine Irrtümer zu verbessern‹, dann hat er ein von ›jedermann‹ zu erlangendes Erfahrungswissen vor Augen. Ein solches Erfahrungswissen reicht aber an die kapitalistische Produktionsweise nicht heran. Durch Erfahrung allein kann sich der Einzelne die gesellschaftlichen Bedingungen, in die er Subjekt der Moralität gestellt ist, nicht transparent machen. Anders als Kant noch meinen konnte, ist die moderne, zu seinen Zeiten sich am (englischen) Horizont gerade abzeichnende bürgerliche Ökonomie nicht dadurch charakterisiert, dass in ihr unabhängige Privatproduzenten für den Markt produzieren. Wäre dem so, so wäre die der 341 Unter Bezug auf dessen Zweckformel meint Bloch (ebd.), der kategorische Imperativ richte »die Ausbeutergesellschaft geradezu unwiderruflich«. Horkheimer/Adorno (1944/47: 108) konstatieren: »Der Bürger, der aus dem kantischen Motiv der Achtung vor der bloßen Form des Gesetzes allein einen Gewinn sich entgehen ließe, wäre nicht aufgeklärt, sondern abergläubisch – ein Narr.«

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Erfahrung zugängliche gegenständliche Tätigkeit in den Einzelproduktionen dem gleichfalls erfahrbaren Austausch ihrer Produkte auf dem Markt vorausgesetzt. Das Ganze der Ökonomie wäre zwar kein Gegenstand wirklicher Erfahrung, könnte aber noch in Analogie zu Gegenständen wirklicher Erfahrung vorgestellt werden. Der marxschen Einsicht nach sind aber in der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise die Einzelproduktionen durch den ungegenständlichen Prozess des sich selbst verwertenden Werts ›gesetzt‹. Weil ihre gegenständliche Produktion und Distribution in einem ungegenständlichen gesellschaftlichen Prozess gründet, kann das Ganze der Ökonomie nicht mehr in Analogie zu einem rein gegenständlichen Prozess vorgestellt werden. Das verändert die Situation des Subjekts der Moralität in entscheidender Weise. Ein adäquates Bewusstsein seiner selbst kann es nur über die Erkenntnis der gesellschaftlichen Totalität und seiner Funktion in dieser erlangen. Erkennt also der Adressat des unbedingten Sollens (der sich selbst nicht als solcher bezeichnen muss), dass er gesellschaftlich hergestellten moralischen Dilemmasituationen ausgesetzt ist, muss das seine Empörung und Kritik provozieren. Er ist dann motiviert, für die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse einzutreten. Das Interesse, das er an der Moral nimmt, ist eines an der Veränderung des gesellschaftlichen Ganzen. Als »moralisches Interesse« (im Singular) ist es »ein sinnenfreies Interesse der bloßen praktischen Vernunft« (KpV A 141), das von seinen auf Neigungen und Bedürfnissen gründenden Interessen (im Plural) unterschieden ist, mit ihnen aber nicht notwendig unvereinbar sein muss. Die sinnlich bedingten Interessen können das sinnenfreie Interesse auch unterstützen. Die Einsicht, dass der objektive ökonomische Zweck, der das gesellschaftliche Ganze bestimmt, mit den objektiven Zwecken, die für das Individuum Pflicht sind, unvereinbar ist, ist die Einsicht in die moralische Notwendigkeit der praktischen Abschaffung des ökonomischen Zwecks. Die moralisch begründete Forderung lautet dann, dass an die Stelle des jedem Einzelnen objektiv vorgegebenen Zwecks der gesellschaftlichen Produktion ein von den Einzelnen gemeinsam bestimmter Zweck ihrer gesellschaftlichen Produktion treten solle. Die Empörung über die Verhältnisse und die damit einhergehende Kritik an ihnen darf, sofern sie einen moralischen Grund hat, nicht psychologisch gedeutet und inhaltlich als subjektive Nörgelei qualifiziert werden, deren Antrieb womöglich der Neid auf diejenigen ist, denen es materiell wesentlich besser geht. Die Kritik an den Verhältnissen ist vielmehr selbst eine moralische, und das heißt mit Kant eben: vernünftige. Reine praktische Vernunft und das Gefühl der Empörung schließen sich nicht aus. Es zählt nicht zu den geringsten Einsichten Kants, dass für das moralische Bewusstsein des Menschen dessen Sinnlichkeit konstitutiv 374

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ist.342 Das Bewusstsein der Pflicht ist das einer moralischen Nötigung. Es besteht nicht in der rein intellektuell bestimmten Einsicht in die Geltung des moralischen Gesetzes, die etwa einem im Gedankenexperiment erdachten reinen Vernunftwesen (einem Engel) zugesprochen werden müsste, sondern ist die Empfindung einer Verbindlichkeit, die nur ein Vernunftwesen haben kann, welches wie der Mensch auch ein Sinnenwesen ist. Dem Bewusstsein der Verbindlichkeit liegt »die Empfänglichkeit für Lust oder Unlust, bloß aus dem Bewusstsein der Übereinstimmung oder des Widerstreits unserer Handlung mit dem Pflichtgesetze« zugrunde. Ohne die ästhetisch bestimmte, mithin die Sinnlichkeit des Menschen betreffende »Empfänglichkeit des Gemüts für Pflichtbegriffe überhaupt« kann »es auch keine Pflicht geben« (TL A 35 f.). Weil die Geltung des moralischen Gesetzes von allen Gefühlen unabhängig und ihnen vorgängig in reiner praktischer Vernunft gründet, für das moralische Bewusstsein des Menschen aber dessen »ästhetische[r] Zustand« (TL A 36) konstitutiv ist, müssen im konkreten Fall vermeintlich moralische Gefühle nicht unmittelbar für bare Münze genommen, sondern können auf ihre moralische Qualität hin überprüft werden. Zwar kann sich niemand darüber täuschen, dass er jetzt Schuld empfindet oder empört ist, wohl aber über die moralische Qualität dieser Gefühle. Obwohl das Haben von Gefühlen aufgrund ihrer Unmittelbarkeit als Empfindungen täuschungsimmun ist, können »sie doch ganz und gar auf Irrtum und Täuschung beruhen«. Dass etwa in einer Notsituation eine Person einer anderen helfen sollte und wollte, aber objektiv nicht helfen konnte, kann bei ihr ein Schuldgefühl auslösen. Dieses Gefühl ist nachvollziehbar und spricht für die Sensibilität der betroffenen Person, es ist aber kein moralisches. Ihm in der Theorie »eine moralische Qualität oder gar eine moralische Funktion« (Esser 2004: 331 f.) zuzuschreiben, wäre zynisch. Ähnlich verhält es sich mit der Empörung über ökonomische Phänomene, die mit kapitalistischen Verhältnissen notwendig einhergehen, also systemisch begründet sind, gleichwohl aber als durch bestimmte Individuen oder Gruppen von Individuen verschuldet gelten. Die immer wieder auftretende, medial verstärkte oder inszenierte Empörung über Unternehmer, die ›Mitarbeiter freisetzen‹, und Manager börsennotierter Unternehmen, deren ›shareholder‹-Denken auf das gesellschaftliche Ganze keine Rücksichten nehme, ist, anders als die Empörten und deren Kritiker meinen, keine moralische Empörung, denn sie hat keinen moralischen Grund. Sie macht bestimmte Menschen für etwas moralisch verantwortlich, für das sie nur in einem eingeschränkten, nämlich 342 »Wohl kein Philosoph vor Kant hat so deutlich gesagt, daß der Mensch – gerade weil er sich als vernünftiges Wesen versteht – die Sinnlichkeit braucht.« (Recki 2001: 330).

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positiv-rechtlichen Sinn verantwortlich sind. In Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise tragen weder der Eigentümerkapitalist als solcher noch das Management von Aktiengesellschaften als solches die moralische Verantwortung dafür, dass der primäre Zweck ihres Tuns in der Erhöhung der Profitabilität ihrer Unternehmen liegt. Er liegt nicht in der Schaffung von Arbeitsplätzen und auch nicht in der Herstellung qualitativ guter Produkte, vielmehr ist beides nur Mittel zum Zweck. Weil dieser Zweck gesellschaftlich vorgegeben ist als ein von den ökonomischen Akteuren zu affirmierender Sachzwang, ist die vermeintlich moralische Kritik an ihrem zweckmäßigen Handeln eine Art gesellschaftlich unbewusste Heuchelei. Eine unmittelbare gesellschaftliche Verantwortung haben Unternehmer und Manager nicht, eine mittelbare haben sie nur zufolge der Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft, wonach gerade aus dem möglichst ungebremsten Profitstreben der Privaten der Vorteil für die Gesellschaft entspringen soll.343 Anders als im Beispiel des vermeintlich moralischen Schuldgefühls ist die vermeintlich moralische Empörung über ökonomische Akteure nicht psychologisch, sondern gesellschaftstheoretisch zu erklären. Indem die Empörung über systemisch begründete Phänomene dem Handeln bestimmter Individuen gilt, erweist sie sich selbst als gesellschaftlich produziert. Sie ist die Empörung derer, die die Lehre von der (freien) Marktwirtschaft für eine zutreffende Beschreibung der kapitalistischen Realität halten. Plausibel ist diese Lehre nur so lange, wie die – mit Marx zu sprechen – Sphäre der Konkurrenz, also die Oberfläche des kapitalistischen Gesamtprozesses, für das Ganze genommen wird. Natürlich: ›Realistisch‹ betrachtet scheint mit der These, ein adäquates Bewusstsein seiner selbst könne das Subjekt der Moralität nur durch die Erkenntnis der gesellschaftlichen Totalität und seiner Funktion in dieser erlangen, ein Punkt erreicht, der zeigt, zu welch verstiegenen Konzepten menschlicher Subjektivität ›Kantianer‹ neigen. Denn ›realistisch‹ betrachtet handelt es sich bei diesem Bewusstsein um eine philosophische Chimäre. ›Realistisch‹ betrachtet haben die Menschen »in Bezug auf eine Vielzahl verschiedener Dinge oft überhaupt keine bestimmten Überzeugungen; sie wissen oft nicht, was sie wollen oder warum sie etwas taten; und selbst wenn sie wissen oder beanspruchen zu wissen, was sie wollen, können sie oft keine zusammenhängende Erklärung dafür geben, warum sie genau das wollen, was zu wollen sie beanspruchen; sie haben oft keine Ahnung, welche Anteile ihres Systems von Überzeugungen und Wünschen […] ›ethische Prinzipien‹ sind und welche (bloß empirische) 343 In einer »free economy«, so Friedman (1962: 136), »there is one and only one social responsibility of business – to use its resources and engage in activities designed to increase its profits so long as it stays within the rules of the game, which is to say, engages in open and free competition«.

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›Interessen‹«. Nach Geuss ist das »nichts, was man im Prinzip beheben könnte, sondern ein dem menschlichen Leben durchgängig ›inhärenter‹ Zug.« »Unbestimmtheit« sei nun einmal ein »allgemeines Charakteristikum der menschlichen Lebensform«, und »wir sind auf dem Holzweg, wenn wir der Einsicht in diese Unbestimmtheit ausweichen wollen.« (Geuss 2008: 13) Geuss’ Kritik zielt auf die zeitgenössische politische Theorie, in der sich ein unguter »starker Kantischer Einschlag« (Geuss 2008: 11) bemerkbar mache. Indem sie aber die »Annahmen« dieser Theorie (etwa Rawls’) als kantianisch gelten lässt, präsentiert sie indirekt Kants Philosophie selbst als das Modell einer »idealen Theorie« mit idealen Subjekten. Ihre Kritik des »kantianischen Liberalismus«: dieser denke über »unsere Intuitionen zur Gerechtigkeit« nach und vergesse darüber das Faktum, dass es in der Politik »im Wesentlichen um Macht« (Geuss 2008: 131) gehe, zielt so indirekt auch auf Kants praktische Philosophie. Tatsächlich unterstellt diese aber kein ideales, sich selbst transparentes Subjekt, und dass es in der Politik faktisch um Macht geht, ist ihr vollkommen klar. Ihr Ausgangspunkt ist das moralische Alltagsbewusstsein, das der Einzelne durch Erziehung erworben hat und das kulturell und gesellschaftlich geprägt ist. Dass der Einzelne sich selbst etwas vormachen kann, ist ihr bewusst, dass ihm auch durch andere etwas vorgemacht werden kann – durch Indoktrination, Propaganda und alle möglichen Techniken der Manipulation und Abrichtung von Menschen –, ist aus ihrer Perspektive gar nicht zu bezweifeln.344 Die moralische Urteilskraft, die sie dem Einzelnen in Pflichtsituationen attestiert, ist historisch entstanden und kann auch wieder historisch zum Verschwinden gebracht werden. Die aus einer Position des ›Realismus‹ erwartbare Kritik an dem angeführten ›adäquaten Bewusstsein‹ ist unzutreffend. Dieses Bewusstsein ist in gestuften Varianten möglich, und der Umstand, dass es sich nicht in der Terminologie der Kapitaltheorie artikuliert, macht es nicht schon zu ›falschem‹ Bewusstsein. So ist beispielsweise die Empörung über die desaströsen Folgen, die der weltweite Kapitalismus für die natürlichen Lebensgrundlagen von Milliarden Menschen hat, moralischer Natur, sofern sie sich aus dem Bewusstsein speist, dass die herrschende Wirtschaftsordnung dem Anspruch der Einzelnen auf ein menschenwürdiges Leben widerstreitet. Im Übrigen gilt für die Erkenntnis des Subjekts der Moralität, dass es gesellschaftlich hergestellten moralischen Dilemmasituationen ausgesetzt ist, was für jede moralische Einsicht zutrifft: Sie 344 »Man muß, sagen sie [die Politiker], die Menschen so nehmen, wie sie sind, nicht wie der Welt unkundige Pedanten oder gutmütige Phantasten träumen, daß sie sein sollten. Das wie sie sind aber sollte heißen: wozu wir sie durch ungerechten Zwang, durch verräterische, der Regierung an die Hand gegebene, Anschläge gemacht haben.« (Kant, SdF A 133).

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motiviert zugleich auch zu handeln – hier dazu, die dilemmatische Situation durch die Beseitigung ihrer gesellschaftlichen Ursachen zu überwinden. Aber das bloße Vorhandensein von Einsicht und Motivation garantiert wie immer nicht, dass der Einzelne sich tatsächlich zu einem entsprechenden Handeln bestimmt. Zumal im Hinblick auf die Veränderungsmöglichkeit der bestehenden Produktionsverhältnisse muss der Einzelne resignieren. Diese Verhältnisse treten ihm, der in ihnen ein ›vereinzelter Einzelner‹ ist, als zweite Natur und das heißt als ›alternativlos‹ entgegen. Eine Arbeiterklasse, die als ›Klasse für sich‹ die Vereinzelung aufheben und als revolutionäres Subjekt fungieren könnte, ist eine marxistische Illusion. Die antikapitalistischen Protestbewegungen, die sich angesichts akuter Krisen bilden, sind temporäre Erscheinungen oder werden zum festen Bestand der sogenannten alternativen Szene. Eine auf das ökonomische Ganze als solches zielende Kritik erscheint beinahe so abstrus, wie eine Kritik der ersten Natur zu Recht erscheinen müsste. Die Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft, in der es um die Würde des Menschen besser bestellt wäre als im real existierenden Kapitalismus, gilt gemeinhin als historisch widerlegt. Die moralisch begründete Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft wird vom Mainstream der Ökonomie und Sozialwissenschaften als sachfremd und im schlechten Sinne ›philosophisch‹ zurückgewiesen.345 Schon die linkssozialdemokratische »Vorstellung, dass ›die Märkte‹ sich an die Menschen anpassen sollen statt umgekehrt«, gilt heute »als geradezu verrückt, und wenn man die Realität nimmt, wie sie ist, dann ist sie das auch« (Streeck 2013: 223). Dem Experten-Bescheid, dem zufolge Forderungen nach einer Umgestaltung der Ökonomie, die der postulierten Rationalität der Märkte widerstreitet, als irrational zu beurteilen seien, trägt ein politisches Handeln Rechnung, dessen oberstes Gebot es ist, die ›Märkte‹ nicht zu irritieren. So hat schon der Gedanke, eine andere als die kapitalistische Ökonomie sei möglich, kaum eine Chance gehört zu werden, von seiner Umsetzung in politisches Handeln ganz 345 Die Soziologie ist spätestens seit Webers (1922: 60) Unterscheidung von formaler und materialer Rationalität auf eine ›realistische‹, die ›Marktwirtschaft‹ affirmierende Sicht eingeschworen. In ihrer systemtheoretischen Gestalt erklärt sie die philosophische Voraussetzung radikaler Gesellschaftskritik: den emphatischen Vernunftbegriff, zu einem Museumsstück alteuropäischen Denkens: »Der auf die Idee der Subjektivität zurückgehende Gedanke der Autonomie des individuellen Menschen« ist nach Nassehi (2021: 37) »nicht so selbstbezüglich, wie es scheint.« In Gestalt der Vernunft werde die Autonomie des Subjekts »stets mit einer Autonomiequelle versehen, was schon in sich wie ein performativer Widerspruch klingt«. Radikale Gesellschaftskritik beruht demnach auf der irrigen Annahme, es gäbe »eine gute Gesellschaft hinter der Gesellschaft« (Luhmann zit. n. Nassehi ebd. 347 Fn. 12).

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zu schweigen. Angesichts dieser Situation ist es dem Einzelnen nicht zu verdenken, wenn er seine ursprüngliche Einsicht am Ende selbst anzweifelt und als praktisch widerlegt ansieht. Er hat dann eben »die Erfahrung gemacht«, dass der kapitalistische »Weltlauf so übel nicht ist, als er aussah; denn seine Wirklichkeit ist die Wirklichkeit des Allgemeinen« (Hegel, PhG: 290).

5. Die Darstellung im Kapital Zu sagen, das Kapital bezwecke qua Theorie die Erkenntnis der bürgerlichen Produktionsweise (und eben nicht deren Kritik), reicht nicht hin. Oder vielmehr: Es reichte nur dann hin, wenn unter ›Theorie‹ eine Wissensform verstanden werden müsste, auf die allein die Einzelwissenschaften und besonders die Naturwissenschaften Anspruch erheben dürften. Wer davon überzeugt ist und zudem meint, Wissenschaft sei »die einzige Weise, die Realität zu begreifen«, der muss eine »Philosophie, die beansprucht, sich einen eigenen, von dem der Wissenschaft verschiedenen Kanon zu geben«, als »Erbauungsphilosophie, d.h. (kaum verschleierte) Religion« (Colletti 1974: 39) auffassen. Colletti, der diese Auffassung teilt, ist nicht entgangen, dass sie diejenigen, die sie teilen und zugleich an der marxschen Theorie festhalten, in die Bredouille bringt. Colletti verdeutlicht dies an den für das Verständnis der Kapitaltheorie zentralen Themen der Dialektik und des Realitätsbegriffs. Szientistische MarxInterpreten müssen einerseits darauf bestehen, dass das Prinzip vom zu vermeidenden Widerspruch für die Wissenschaft konstitutiv ist und – anders als die Vertreter des ›dialektischen Materialismus‹ im Anschluss an Engels und Lenin glauben – die Realität keine dialektischen Widersprüche verträgt. Andererseits können sie aber nicht leugnen, dass die kapi­ talistische Realität Marx zufolge dialektisch widersprüchlich strukturiert ist. »Der Kapitalismus ist für Marx nicht widersprüchlich, weil er eine Realität ist, sondern vielmehr weil er eine verkehrte, auf dem Kopf stehende Realität ist (Entfremdung, Fetischismus).« (Colletti 1974: 39) Colletti zufolge hat Marx »zwei Gesichter«. Als Wissenschaftler will er vollenden, was Smith und Ricardo begonnen haben: die Ökonomie als Wissenschaft, als Philosoph oder Kritiker der Politischen Ökonomie verflicht er »die Analyse Smith’ und Ricardos mit einer Theorie der Entfremdung […], von der die Ökonomen nichts wissen«. Als Wissenschaftler bezieht er die »Analyse auf eine Realität […], die positiv vorausgesetzt wird«, als Philosoph handelt er von einer Realität, die »verkehrt« ist. Sie »ist nicht die Realität sic et simpliciter, sondern die Realisierung der Entfremdung«, sie »ist keine positive Realität, sondern eine, die umgestürzt und verneint werden muß«. (Colletti 1974: 29 f.) 379

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Colletti verdeutlicht, was jedem Leser des Kapitals auffallen muss: dass es sich hier nicht einfach um eine Variante der Ökonomie als Einzelwissenschaft handelt. Die Kapitaltheorie ist offenbar ihrem Typus nach unterschieden von den Theorien, die sie als ›Kritik der politischen Ökonomie‹ selbst thematisiert. Darauf deutet ausdrücklich die 1857 verfasste Einleitung zu den Grundrissen, wenn sie »Production, Distribution, Austausch, Consumtion« als »Glieder einer Totalität«, »Unterschiede innerhalb einer Einheit« oder »verschiedne[] Momente« eines »organischen Ganzen« fasst – mit der Produktion als dem Übergreifenden. Sie »greift über, sowohl über sich in der gegensätzlichen Bestimmung der Production, als über die andren Momente. Von ihr beginnt der Process immer wieder von neuem.« (EKPÖ 35/34) Marx bestimmt hier die materielle gesellschaftliche Produktion als den genuinen Gegenstand der ökonomischen Theorie. Wenn er diesem Gegenstand aber ungeachtet seiner hegelkritischen Anmerkungen im selben Text unter Rückgriff auf Hegels spekulative Grundfigur die Struktur einer sich selbst spezifizierenden Einheit zuschreibt, dann setzt er sich damit von den Politischen Ökonomen und ihren bloß »verständige[n] Abstraction[en]« (EKPÖ 23/20) ab und spricht der ›Kritik der politischen Ökonomie‹ gegenüber den einzelwissenschaftlich geprägten ökonomischen Theorien eine überlegene Position zu. Ihrem Selbstverständnis nach besitzt erst die ›Kritik der politischen Ökonomie‹ einen angemessenen Begriff von dem allgemeinen Gegenstand der Ökonomie, der materiellen gesellschaftlichen Produktion, und ein angemessenes methodisches Rüstzeug zu seiner theoretischen Erklärung. Dass dieses Rüstzeug starke Bezüge zur hegelschen Philosophie aufweist, ist nicht zuletzt der Darstellung des Kapitals, das heißt der Art und Weise, in der hier die Argumentation entwickelt, die Argumente präsentiert werden, zu entnehmen. Bereits der Ausdruck ›Darstellung‹ verweist auf Hegel, für den es in der Philosophie anders als in anderen Wissenschaften nicht auf bloße Resultate ankommt, sondern auf die systematische Entwicklung, eben die Darstellung des Wahren. »Das leichteste ist, was Gehalt und Gediegenheit hat, zu beurteilen, schwerer, es zu fassen, das schwerste, was beides vereinigt, seine Darstellung hervorzubringen.« (PhG 13) Das Thema ›Theorie‹ führt demnach auf das der ›Darstellung‹, dieses aber auf die Frage nach dem Verhältnis des Kapitals zur Philosophie Hegels. Dass das marxsche Hauptwerk die Herkunft seines Autors aus der Hegelschule nicht verbergen kann, ist bislang noch fast jedem Interpreten aufgefallen. Schon Engels meinte auf die »Parallele« zwischen Logik und Kapital hinweisen zu müssen. »Vergleichen Sie einmal«, schreibt er am 1. November 1891 an Conrad Schmidt, »die Entwicklung bei Marx von der Ware zum Kapital mit der bei Hegel vom Sein zum Wesen, und Sie haben eine ganz gute Parallele, hier die konkrete Entwicklung, wie sie sich aus den Tatsachen ergibt, dort die 380

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abstrakte Konstruktion, worin höchst geniale Gedanken.« (MEW 38: 204) Ob es tatsächlich eine in der Sache begründete Nähe der Kapitaltheorie zu Hegels Philosophie gibt respektive überhaupt geben kann, ist umstritten. Das Verhältnis beider wird ähnlich kontrovers diskutiert wie das des Kapitals zu Moral bzw. Ethik, und wie bei diesem Thema haben sich auch bei jenem im Laufe der Zeit anscheinend nur die Gesichtspunkte, Akzente und methodischen Vorannahmen, die in der Diskussion bemüht werden, vervielfältigt und die Zahl der widerstreitenden Positionen vergrößert.346 Schon Marx bemerkt im Nachwort zur zweiten Auflage, die »im ›Kapital‹ angewandte Methode« sei »wenig verstanden worden, wie schon die einander widersprechenden Auffassungen derselben beweisen« (K I² 704/25). Die Rezensenten attestierten dem Werk wahlweise, die Ökonomie hegelisch, metaphysisch, analytisch oder deduktiv zu behandeln.347 Hatte Lenin behauptet, man könne »das ›Kapital‹ von Marx und besonders das I. Kapitel nicht vollständig begreifen, wenn man nicht die ganze Logik von Hegel durchstudiert und begriffen« habe, und geschlossen: »Folglich hat nach einem halben Jahrhundert keiner von den Marxisten Marx begriffen!!« (Lenin 1929: 170), so ist bis heute ein Teil der Marx-Interpreten der Auffassung, wenn das Kapital überhaupt begreifbar sein solle, dann müsse es ganz ohne Rückgriff auf Hegel begreifbar sein. Die notorische Zerstrittenheit der Kapital-Interpreten in dieser Frage ist nicht verwunderlich.348 Die Art, in der sie zu den hegelaffinen Passagen Stellung nehmen, ist unvermeidlich durch eingestandene oder uneingestandene philosophische oder wissenschaftstheoretische Positionen 346 Glückliche Zeiten für den Marxismus, als zentrale Fragen durch den Hinweis auf Marx-Passagen beantwortet schienen. Zur ›dialektischen Methode‹ bemerkt Vranicki (1972: 170 Fn. 6): »Im übrigen hat Marx im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapital seinen grundlegenden Standpunkt […] sehr klar bestimmt.« 347 Die Aufzählung wäre heute zu ergänzen durch verschiedene ›heterodoxe Lesarten‹ des Kapitals, die das Thema Hegel nicht berühren oder es, wie etwa Jameson (2011), bei vagen Hinweisen auf eine Verwandtschaft zwischen der Darstellung im Kapital und der hegelschen Dialektik belassen (bspw. 17 f.). Jamesons Überlegungen zur Darstellung der kapitalistischen Totalität beschränken sich auf den ersten Band, dem sie eine »specific proto-narrative form« (3) attestieren. 348 Für die angelsächsische Debatte nennen Burns und Fraser (2000: 17 ff.) neben dem »analytical marxism« eine traditionelle »materialist approbiation school«, die einer Transformation der hegelschen in eine materialistische Dialektik das Wort redet, und der »›new dialectics‹ school of thought«, welche den dialektischen Materialismus Engels’ verwirft und Marx’ Dialektik im Rekurs auf Hegel erläutern will, wobei umstritten ist, inwiefern Hegels Philosophie überhaupt idealistisch ist.

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präformiert. Autoren, die der Philosophie Hegels gültige Einsichten zusprechen, können den bloßen Umstand, dass es solche Passagen im Ka­ pital gibt, nicht schon als kritikwürdig erachten.349 Umgekehrt können Interpreten, die aus wissenschaftstheoretischen Erwägungen Hegels Philosophie grundsätzlich ablehnen, solche Passagen nur kritisieren. Zu ihnen zählen Vertreter des Analytischen Marxismus (s. Einleitung) und der analytischen350 Wissenschaftstheorie. Wer, in welcher Weise auch immer, die Relevanz Hegels für das Kapital behauptet, »mystifiziert« demnach Marx’ »wissenschaftliche Darstellung«.351 Dieselbe Kritik erfolgt von Seiten derer, die ohne Rückgriff auf bestimmte wissenschaftstheoretische Konzepte »zwischen der rationalen Dialektik von Marx und der durch und durch irrationalen von Hegel« unterscheiden und meinen, das Kapital sei »ohne jeglichen Rekurs auf Hegels ›Logik‹« zu begreifen (Wolf 2008: 27). Damit nicht genug. Als eine Pointe des theoretischen Streits über das Verhältnis Marx/Hegel darf gelten, dass nicht nur Autoren unterschiedlicher philosophischer oder wissenschaftstheoretischer Herkunft uneins sind, sondern auch solche, die sich auf dieselben Prämissen beziehen. So wird auf der Grundlage einer analytisch angelegten Wissenschaftstheorie Marx’ Theorie als »irrational« kritisiert, weil sie hegelisch-dialektisch ist, und als rational affirmiert, weil sie dies nicht ist.352 Die Uneinigkeit resultiert nämlich nicht in jedem Fall aus divergierenden Vorannahmen, auch nicht aus unterschiedlichen Interpretationen bestimmter hegelaffiner Passagen, sie beginnt nicht selten bereits mit der Antwort auf die Frage, ob eine Passage überhaupt hegelaffin ist. Konfrontiert mit ganz offensichtlichen Hegel-Bezügen, begeht mancher Marx-Ausleger einen palmströmschen Fehlschluss. Er sieht darin eine »unmögliche Tatsache«: »Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf.« (Morgenstern 1909: 119 f.) 349 Dies gilt in unterschiedlicher Weise etwa für Reichelt (1970), Brentel (1989), Arndt (2020). 350 ›Analytisch‹ im Sinne von dialektikkritisch. 351 Elbe u.a. (2008). Elbe sieht sich auf dem sicheren Boden eines »wissenschaftlich etablierten Vernunfttypus«, den er nicht »legitimieren« müsse. Begründungen dürfe man von denen erwarten, die »logische zugunsten logisch widersprüchlicher Aussagen« (190) aufgeben wollten. Wie bei Popper (1940) wird Dialektik hier mit Unsinn assoziiert. 352 Mit Bezug auf den Kritischen Rationalismus etwa Becker (1972), Elbe (2008). Nach Steinvorth (1977: 26; 97) ist Marx’ Methode »ein Verfahren, empirische Aussagen über einen Untersuchungsgegenstand in ein System logischer Ableitbarkeit zu bringen, um eine Voraussage über die Bedingungen des Untergangs des Untersuchungsgegenstands machen zu können«. Sie erfülle demnach »Poppers und Hempels Wissenschaftlichkeitskriterien«.

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5.1. Marx und der ›rationelle Kern‹ der hegelschen Dialektik Die wenigen Bemerkungen, in denen sich Marx direkt über das Verhältnis von Kapitaltheorie und hegelscher Philosophie äußert, enthalten zwar manchen Hinweis, aber keine befriedigende Antwort auf die Frage, was unter dialektischer Methode oder dialektischer Darstellung im Kapital zu verstehen ist. (1) Geradezu berühmt ist Marx’ Hinweis, er habe sich in der Erstauflage des Kapitals, zu einer Zeit, als Hegel als »toter Hund« behandelt worden sei, zu ihm bekannt: »Ich bekannte mich daher offen als Schüler jenes großen Denkers und kokettirte sogar hier und da im Kapitel über die Werththeorie mit der ihm eigenthümlichen Ausdrucksweise«. Die Dialektik erleide bei Hegel eine »Mystifikation«, sie stehe »auf dem Kopf«, man müsse sie »umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken«. (K I² 709/27) Das Wort vom ›Kokettieren‹ ist irreführend, weil es den augenfälligen und keineswegs auf ein Kapitel beschränkten Rückgriff auf hegelsche Denkfiguren als bloße Reverenz hinstellt, die der Schüler dem ›großen Denker‹ erweise. Die Rede von der ›Mystifikation‹ der Dialektik und dem ›rationellen Kern‹, den es freizulegen gelte, ist an dieser Stelle nicht mehr als eine steile These. Schon während seiner Arbeit an den Grundrissen hatte sich Marx in einem Brief an Engels ähnlich geäußert: »In der Methode des Bearbeitens hat es mir großen Dienst geleistet, daß ich by mere accident […] Hegels ›Logik‹ wieder durchgeblättert hatte. Wenn je wieder Zeit für solche Arbeiten kommt, hätte ich große Lust, in 2 oder 3 Druckbogen das Rationelle an der Methode, die H[egel] entdeckt, aber zugleich mystifiziert hat, dem gemeinen Menschenverstand zugänglich zu machen.« (16. Januar 1858: MEW 29: 259 f.) Beide Äußerungen belassen es bei vagen Andeutungen einer sachlichen Relevanz Hegels für die Kapitaltheorie, die von der Sekundärliteratur je nach Interpretationsansatz ganz unterschiedlich gewertet werden. Hegel-Marxisten, die »eine strukturelle Identität von Marxschem Kapitalbegriff und Hegelschem Begriff des Geistes« vertreten, deuten das lässige Wort vom ›Durchblättern‹ der Lo­ gik als Hinweis auf ein für das marxsche Vorhaben entscheidend wichtiges »zweites Hegelstudium«. (Reichelt 1970: 76; 80353) Interpreten, die Marx einen pragmatisch orientierten Rückgriff auf hegelsche Denkfiguren zu dem Zweck der systematischen Organisierung des ökonomischen Materials attestieren, bestreiten dies. Ihnen zufolge fand »keine 353 Lèfebvre (1940: 65) schließt aus solchen Briefstellen, dass erst jetzt, 1858, die Kritik der politischen Ökonomie »den Empirismus hinter sich gelassen, das Niveau wissenschaftlicher Strenge erreicht – und damit dialektische Gestalt angenommen« habe.

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bedeutende Hegelrezeption« statt, »kein Weltgeist demaskierte sich […] als Kapital« (Schrader 1980: 136). (2) Wo Marx in Schriften, die der Selbstverständigung dienen, sein Vorgehen von dem Hegels abgrenzt, werden die Dinge kaum klarer. »Es wird später nöthig sein«, heißt es in den Grundrissen, »die idealistische Manier der Darstellung zu corrigiren, die den Schein hervorbringt als handle es sich nur um Begriffsbestimmungen und die Dialektik dieser Begriffe. Also vor allem die Phrase: das Product (oder Thätigkeit) wird Waare; die Waare Tauschwerth; der Tauschwerth Geld.« (Gr 85/85 f.) Handelte es sich bei der Abfolge der ökonomischen Bestimmungen »nur um Begriffsbestimmungen und die Dialektik dieser Begriffe«, wäre die Kapitaltheorie im hegelschen Sinne die theoretische Rechtfertigung der kapitalistischen Produktionsweise. Ihre vernünftige Erkenntnis der bürgerlichen Ökonomie wäre zugleich deren Erkenntnis als vernünftige Ökonomie.354 Die Geschichte wäre dann soweit als vernünftig zu begreifen, wie sie als Entfaltung der Elemente der kapitalistischen Produktionsweise aufgefasst werden könnte. Das Kapital würde »zur Incarnation einer ewigen Idee« (Ur 91) und zum immanenten telos des historischen Prozesses.355 Gegen diese idealistische Subreption besteht Marx darauf, dass die Darstellung den Unterschied zwischen der Genese und der Struktur der Produktionsweise zu berücksichtigen habe. Die systematische Abfolge der ökonomischen Bestimmungen in der Theorie der entwickelten Produktionsweise darf nicht in die Geschichte ihrer Entstehung zurückprojiziert werden. Denn zum einen haben ökonomische Bestimmungen wie Wert, Ware, Geld, Kapital, Zins auch eine vom Kapitalzusammenhang unabhängige, nur historische Bedeutung, zum anderen ist die unmittelbare Gewalt, die historisch zur Entstehung der modernen Lohnarbeit führte, selbst keine ökonomische Bestimmung. Sie ist zwar eine »ökonomische Potenz« (K I² 674/779), wie es im Kapital heißt, aber keine ökonomische »Kategorie«. Die Existenz des doppelt freien Lohnarbeiters »ist das Resultat eines langwierigen historischen Processes in der ökonomischen Gestaltung der Gesellschaft. Es zeigt sich an diesem Punkt bestimmt, wie die dialektische Form der Darstellung nur richtig ist, wenn sie ihre Grenzen kennt. Aus der Betrachtung der einfachen Cirkulation ergibt sich uns der allgemeine Begriff des Capitals, weil innerhalb der 354 »Etwas vernünftig betrachten heißt, nicht an den Gegenstand von außen her eine Vernunft hinzubringen und ihn dadurch bearbeiten, sondern der Gegenstand ist für sich selbst vernünftig.« (Rph 85). 355 Vgl. Horkheimers (1940/42) frühe Intuition: »Der Eintritt von Verhältnissen, die aus dem Begriff abzulesen sind, legt dem Idealisten das Gefühl der Befriedigung, dem historischen Materialisten eher das der Empörung nah.« (308) »Solang die Weltgeschichte ihren logischen Gang geht, erfüllt sie ihre menschliche Bestimmung nicht.« (319).

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bürgerlichen Productionsweise die einfache Cirkulation selbst nur als Voraussetzung des Capitals und es voraussetzend existirt. Das Ergeben derselben macht das Capital nicht zur Incarnation einer ewigen Idee.« (Ur 91) Die »neuen Productivkräfte und Productionsverhältnisse« entwickeln sich nicht »aus dem Schooß der sich selbst setzenden Idee; sondern innerhalb und gegensätzlich gegen vorhandne Entwicklung der Production und überlieferte, traditionelle Eigenthumsverhältnisse«. Während »im vollendeten bürgerlichen System, jedes ökonomische Verhältniß das andre in der bürgerlich-ökonomischen Form voraussezt und so jedes Gesezte zugleich Voraussetzung ist«, ist dies in Bezug auf das historisch erst sich ausbildende System nicht der Fall (Gr 201/203). Mit anderen Worten: Das ›vollendete System‹ fügt sich der ›kategorialen‹ Darstellung, seine historische Entstehung nicht. Diese klare Unterscheidung zwischen der Darstellung der Genese und der Struktur des Kapitals ernstgenommen, bedeutete die kategoriale Darstellung des vollendeten Systems immer noch dessen theoretische Rechtfertigung. Die Unterscheidung ist deshalb in dieser Weise nicht haltbar. Nicht nur die Darstellung der Genese, auch die der Struktur darf sich nicht in Begriffsdialektik erschöpfen. Marx zieht aber auch diese Unterscheidung sofort wieder ein, indem er das Kapital als »organisches System« bezeichnet. »Dieß organische System selbst als Totalität hat seine Voraussetzungen, und seine Entwicklung zur Totalität besteht eben [darin], alle Elemente der Gesellschaft sich unterzuordnen, oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus zu schaffen. Es wird so historisch zur Totalität.« (Gr 201/203)356 Wenn das Kapital ›sich‹ historisch zur Totalität entwickelt, ist es der Grund seiner selbst, nämlich der Grund, dessen historische Folge das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital ist. (3) Die ›idealistische Manier‹ bzw. ›dialektische Form‹ der Darstellung ist ›nur richtig‹, wenn ihre ›Grenzen‹ berücksichtigt werden. Sie ist dann ein Verfahren, das der systematischen Entwicklung der ›ökonomischen Kategorien‹ dient. Marx hat dieses Verfahren schon in den Ma­ nuskripten, zu einer Zeit, als er über keine eigene Werttheorie verfügte und philosophisch unter dem Eindruck Feuerbachs stand, postuliert und gewissermaßen versuchsweise praktiziert. Er versichert hier zwar, seine Resultate verdankten sich nicht der »Spekulation«, sie seien »durch eine ganz empirische, auf ein gewissenhaftes kritisches Studium der Nationalökonomie gegründete Analyse gewonnen worden«, tatsächlich aber resultieren sie aus einer Art Kategoriendeduktion, die sich in der Nationalökonomie nicht findet und ihre Orientierung an Hegel nicht verbergen 356 Vgl. Ur 68, wo Marx das Übergehen der englischen Agrikultur von der Subsistenzwirtschaft zur Produktion für den Markt im 16. Jahrhundert als »ein Beispiel des historischen Rückgangs der einfachen Cirkulation in das Capital, den Tauschwerth als die Production beherrschende Form« bezeichnet.

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kann. Die Nationalökonomie gehe »vom Factum des Privateigenthums aus«, ohne es zu »erklären«. Sie fasse »den materiellen Prozeß«, den das Privateigentum »in der Wirklichkeit durchmacht, in allgemeine, abstrakte Formeln, die ihr dann als Gesetze gelten«. Sie zeige aber nicht, wie diese Gesetze »aus dem Wesen des Privateigenthums hervorgehn.« Kurz: »Sie begreift diese Gesetze nicht«. Um den der Nationalökonomie unbekannten »wesentlichen Zusammenhang« zu begreifen, sei es notwendig, dass »aus dem Begriff der entfremdeten, entäusserten Arbeit« und dem des »Privateigenthums« »alle nationalökonomischen Categorien entwickelt« und als »bestimmte[r] und entwickelte[r] Ausdruck dieser ersten Grundlagen« erwiesen werden. (ÖPM 234 f./510 f.; 245/521)357 Marx charakterisiert hier die Nationalökonomie wie weiland Hegel die »Staatsökonomie« – als eine Wissenschaft, die »aus der unendlichen Menge von Einzelheiten […] die einfachen Prinzipien der Sache« (Rph 347) herausfindet. Hegels Lob der neuen Wissenschaft erfolgt in dem Bewusstsein ihrer eingeschränkten Perspektive und Geltung. Als ›Verstandeswissenschaft‹ ist sie auf das Herausfinden der Gesetze des Marktgeschehens festgelegt, während es der Vernunftwissenschaft Philosophie vorbehalten ist, das ›vernünftige‹ (nämlich ständische) Element, das in der bürgerlichen Gesellschaft enthalten ist und über sie hinausweist, zu erkennen. Marx reklamiert gegenüber der Nationalökonomie eine ähnlich überlegene Position, allerdings im Hinblick auf ihren ureigenen Gegenstandsbereich, die Ökonomie. Erst die von ihm teils postulierte, teils ausgeführte Entwicklung der ökonomischen ›Kategorien‹ soll die Verhältnisse begreifbar machen. Ähnliche Bemerkungen finden sich in den Theorien über den Mehr­ wert und im Kapital. Bei Adam Smith fänden sich zwei einander widersprechende »Auffassungsweisen«. Einerseits verfolge er »den innren Zusammenhang der ökonomischen Categorien«, andererseits bringe er die ökonomischen Phänomene »unter schematisirende[] Begriffsbestimmungen« bzw. »Verstandesbegriffe« (ÖM III 816 f.).358 Ricardo unterstelle bereits im ersten Kapitel »Arbeitslohn, Capital, Profit, allgemeine 357 Fleischer (1970: 41) spricht richtig von einer »augenfällig ›Hegelischen‹ Manier« der Manuskripte, »den Werdegang des Kapitalismus als eine ›Entwicklung‹ aus seinen Prinzipien darzustellen«. Nach Quante (2009: 329) zieht Marx im Kapital Hegels Logik »als Mittel zur Darstellung« der Entfremdung des Menschen heran: Weil Hegels Philosophie zufolge der Manu­ skripte der »Endpunkt der Selbstentfremdung des Menschen im Denken« sei, entspreche »seine Logik auch den Grundstrukturen des Kapitalismus, weil dieser die Spitze der Entfremdung des Menschen in der sozialen Praxis darstellt«. 358 Vgl. dazu Hegels Kritik des »tabellarischen Verstandes«, dessen Tätigkeit ein bloßes »Schematisieren« ist, wogegen »das wissenschaftliche Erkennen« es erfordere, »sich dem Leben des Gegenstandes zu übergeben oder, was

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Profitrate [...], die verschiednen Formen des Capitals« (ÖM III 819). Der Begriff des Kapitals sei aber nicht vorauszusetzen, sondern zu entwickeln. »Die Wissenschaft besteht eben darin, zu entwickeln, wie das Wertgesetz sich durchsetzt. Wollte man also von vornherein alle dem Gesetz scheinbar widersprechenden Phänomene ›erklären‹, so müßte man die Wissenschaft vor der Wissenschaft liefern«, so Marx am 11. Juli 1868 an Ludwig Kugelmann. Es sei »grade der Fehler Ricardos, daß er in seinem ersten Kapitel über den Wert alle möglichen Kategorien, die erst entwickelt werden sollen, als gegeben voraussetzt, um ihr Adäquatsein mit dem Wertgesetz nachzuweisen« (MEW 32: 553).359 Marx’ Kritik an Smith und Ricardo erinnert an Hegels Kant-Kritik: dieser habe die Kategorien »empirisch« aufgenommen und nicht »deduziert« (GdPh III 346). Sie macht deutlich, was in der theoretischen Darstellung zu vermeiden ist, lässt aber im Dunkeln, was unter ›Kategorien‹ und ihrer ›Entwicklung‹ zu verstehen ist, schließlich kann beides nicht im hegelschen Sinne gemeint sein. Hegels Bemerkung, »daß das Wissen nur als Wissenschaft oder als System wirklich ist und dargestellt werden kann«, kann Marx unterschreiben, die darin enthaltene metaphysische Implikation: »daß die Substanz wesentlich Subjekt ist« (PhG 27 f.), kann er aber kaum übernehmen. (4) Explizit erkenntnistheoretische Überlegungen zur Kapitaltheorie und zum Status ihrer tragenden Begriffe, denen auch das Verhältnis zur hegelschen Philosophie zu entnehmen wäre, hat Marx nicht angestellt.360 Zwar orientiert er sich, wie gesehen, ganz offensichtlich an Hegels Kategorien-Verständnis und an dessen Philosophie des objektiven Geistes, wenn er die Bestimmungen der Politischen Ökonomie als »Kategorien« und »objective Gedankenformen« der kapitalistischen Warenproduktion bezeichnet. Als »gang und gäbe Denkformen« (K I² 504/564) seien sie zugleich »Daseinsformen« (EKPÖ 41/40) der kapitalistischen Gesellschaft. Eine Rechtfertigung für dieses Anknüpfen an Hegel bleibt Marx aber nicht nur im Kapital schuldig, und die motiv- oder ideengeschichtlich informierte Auskunft: vom gelernten Hegelianer Marx seien nun einmal explizit erkenntnistheoretische Überlegungen nicht zu erwarten, vermag die fehlende Rechtfertigung nicht zu ersetzen. dasselbe ist, die innere Notwendigkeit desselben vor sich zu haben und auszusprechen«. (PhG 52). 359 Vgl. K I² 488/546. 360 Verf. kritisiert sich hier selbst: Kuhne (1995) meint, die marxsche Kapitalanalyse wisse sich abhängig von dem Stand »der erkenntnistheoretischen Reflexion der Reflexion« (103), und attestiert Marx »Einsichten« in die Notwendigkeit einer nicht-idealistischen Darstellung des Kapitals (104). Die damalige Arbeit unterscheidet nicht zwischen Marx’ expliziten Auffassungen und dem in der Kapitalkritik der Sache nach erreichten Stand.

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Die verstreuten methodischen Überlegungen bieten zuletzt ein verwirrendes Bild. Neben hegelkritischen Passagen finden sich immer wieder stark an Hegel erinnernde Reflexionen, und noch die kritischen Passagen verwenden oftmals in affirmativer Weise hegelsche Termini. So kritisiert Marx im Methodenkapitel der Einleitung zu den Grundrissen »das philosophische Bewußtsein«. Diesem erscheine »die Bewegung der Categorien als der wirkliche Productionsakt – der leider nur einen Anstoß von Aussen erhält – dessen Resultat die Welt ist«. Dies sei »soweit richtig, als die konkrete Totalität als Gedankentotalität, als ein Gedankenconkretum, in fact ein Product des Denkens, des Begreifens ist; keineswegs aber des ausser oder über der Anschauung und Vorstellung denkenden und sich selbst gebärenden Begriffs, sondern der Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffe. Das Ganze wie es im Kopfe als Gedankenganzes erscheint«, so der materialistische, realistische Bescheid, sei »ein Product des denkenden Kopfes, der sich die Welt in der ihm einzig möglichen Weise« aneigne. »Das reale Subject« bleibe aber »nach wie vor ausserhalb des Kopfes in seiner Selbstständigkeit bestehn; solange sich der Kopf nämlich nur spekulativ verhält, nur theoretisch. Auch bei der theoretischen Methode daher muß das Subject, die Gesellschaft, als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben.« (EKPÖ 37/36) Die Passage kritisiert erkennbar Hegels Auffassung des Begriffs,361 affirmiert dabei aber Termini, die nur innerhalb dieser Auffassung einen Sinn ergeben. Nur wenn mit ›Begriff‹ der spekulative Begriff gemeint ist, ein sich selbst bestimmendes Allgemeines, kann sinnvollerweise von ›Bewegung der Kategorien‹ und ›konkreter Totalität‹ gesprochen werden. ›Bewegung der Kategorien‹ gehört in die Philosophie als Wissenschaft vom Absoluten, nicht in irgendeine andere Disziplin. Hegel zufolge sind der gewöhnliche Satz bzw. das gewöhnliche Urteil mit ihrer Unterscheidung von Subjekt und Prädikat unfähig, eine Erkenntnis des Absoluten auszudrücken. In dem Satz »Gott ist das Sein« beispielsweise ist »das Prädikat das Sein«. Es entsteht der Eindruck, einem Besonderen werde eine allgemeine Eigenschaft zugesprochen. Das aber ist nicht der Fall. »Sein soll hier nicht Prädikat, sondern das Wesen sein.« Dadurch scheint nun aber Gott nicht mehr »das feste Subjekt« zu sein, als das er aufgrund der Satzstruktur erscheint. Vielmehr erscheinen nun ›Gott‹ und ›Sein‹ als durcheinander ersetzbare Ausdrücke. Nach Hegel muss zwischen dem gewöhnlichen vorstellenden Denken und dem philosophischen Begreifen unterschieden werden. Für Letzteres bezeichnet der Begriff nicht eine allgemeine Eigenschaft, die Gegenständen beigelegt wird, vielmehr ist »der 361 ›Anstoß‹ spielt auf Fichtes Umbildung der kantischen Transzendentalphilosophie in einen ›Produktions-Idealismus‹ an (vgl. Kuhne 2007: 44). Nach Colletti (1969: 107) beweist die Passage einen kantischen Einfluss, »ob er [Marx] sich dessen bewusst war oder nicht«.

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Begriff das eigene Selbst des Gegenstandes […], das sich als sein Werden darstellt« (PhG 57). Seine Bewegung kann sich der Phänomenologie zufolge nur im »spekulativen Satz« angemessen artikulieren. »Der Satz soll ausdrücken, was das Wahre ist, aber wesentlich ist es Subjekt [absolute Subjektivität]; als dieses ist es nur die dialektische Bewegung, dieser sich selbst erzeugende, fortleitende und in sich zurückgehende Gang.« (PhG 61) ›Konkrete Totalität‹ unterstellt, dass ein Allgemeines, der zunächst abstrakte Begriff, ›sich‹ in die Totalität seiner Bestimmungen ›besondert‹. Die Begriffspaare Allgemeines und Besonderes, Ganzes und Teil entsprechen hier einander, während sie sich beim traditionellen diskursiven Begriff invers zueinander verhalten. Der durch Inhalt und Umfang bestimmte Allgemeinbegriff ist etwa Kant zufolge nicht die Vorstellung eines Ganzen, sondern nur das identische Merkmal ansonsten verschiedener Vorstellungen, mithin ist er nur Allgemeinvorstellung, insofern er zugleich Teilvorstellung ist.362 Seine Allgemeinheit ist notwendig abstrakt und nicht konkret. Ohne die Voraussetzung des spekulativen Begriffs und seiner Dialektik ist ›Kategorie‹ (sofern nicht in einem anderen, etwa aristotelischen oder kantischen Sinn verwendet) nur ein unspezifischer Ausdruck für Begriff überhaupt und ist der Begriff einer Totalität immer Begriff von dieser Totalität – damit aber aus der Perspektive Hegels nur ein Abstraktum, eben ein bloß Vorgestelltes.363 Dass Marx Hegels Auffassung des Begriffs kritisiert und zugleich Termini bestätigt, die nur im Kontext dieser Auffassung einen Sinn ergeben, führt – mit Hegel zu sprechen – zu einer »Vermischung der spekulativen und der räsonierenden Weise« (PhG 60). In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich zu sehen, in welcher Weise sich Marx bei der WertformDarstellung in der Erstausgabe des Kapitals ganz bewusst in affirmativer wie kritischer Weise auf Hegel bezieht, ohne die Möglichkeit einer solchen Bezugnahme aber zu Ende zu denken. Er bezieht sich hier zunächst affirmativ auf Hegel, wenn er auf eine Parallele zwischen seiner Darstellung der Wertform und Hegels Entwicklung der Urteils- und Schlussformen hinweist. »Es ist kaum verwunderlich, daß die Oekonomen, ganz unter dem Einfluß stofflicher Interessen, den Formgehalt des relativen Werthausdrucks übersehn haben, wenn vor Hegel die Logiker von Profession sogar den Forminhalt der Urtheils- und Schlußparadigmen übersahen.« (K I1 32 Anm. 20) Dass erst Hegel ›den Forminhalt der Urteils- und Schlussparadigmen‹ thematisierte, muss zweifellos als Hegel-Lob verstanden werden. 362 Vgl. Kuhne (2007: 129 f.). 363 »Die Idee selbst ist nicht zu nehmen als eine Idee von irgendetwas, sowenig als der Begriff bloß als bestimmter Begriff.« (Enz I 368) Hegel ändert die Semantik des Terminus ›Idee‹: An die Stelle der »Idee von« tritt »die (absolute) Idee als …«, nämlich »in der Form der Bestimmung der Natur und des Geistes«. (Nuzzo 1995: 115).

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Marx bezieht sich (im Anhang zur Wertform) dann aber auch kritisch auf Hegels Lehre von den Urteils- und Schlussformen, wenn er in einer Bemerkung über die »Zweite Eigenthümlichkeit der Aequivalentform« an einem Beispiel illustrieren will, inwiefern es sich bei dieser Eigentümlichkeit erstens um eine Mystifikation handelt, die zweitens einen Grund in der Sache hat. »Innerhalb des Werthverhältnisses und des darin einbegriffenen Werthausdrucks« gelte »das abstrakt Allgemeine nicht als Eigenschaft des Konkreten, Sinnlich-Wirklichen, sondern umgekehrt das Sinnlich-Konkrete als bloße Erscheinungs- oder bestimmte Verwirklichungsform des Abstrakt-Allgemeinen«. Diese den Wertausdruck charakterisierende »Verkehrung« erschwere sein Verständnis. »Sage ich: Römisches Recht und deutsches Recht sind beide Rechte, so ist das selbstverständlich. Sage ich dagegen: Das Recht, dieses Abstraktum, verwirk­ licht sich im römischen Recht und im deutschen Recht, diesen konkreten Rechten, so wird der Zusammenhang mystisch.« (K I1 634) Innerhalb des Wertverhältnisses ›20 Ellen Leinwand = 1 Rock oder 20 Ellen Leinwand sind 1 Rock wert‹ besitzt die im Rock vergegenständlichte Schneiderarbeit nicht die allgemeine Eigenschaft, menschliche Arbeit zu sein, sondern menschliche Arbeit zu sein gilt ›umgekehrt‹ als ihr Wesen, Schneiderarbeit als dessen Erscheinungsform. Die genannte Verkehrung mystifiziert den ›selbstverständlichen‹ Sachverhalt, dass Einzelnem, Konkretem abstraktallgemeine Eigenschaften zugesprochen werden können. Diese Mystifizierung hat allerdings nach Marx einen Grund in der Sache, denn sie findet statt ›innerhalb des Wertverhältnisses und des darin einbegriffenen Wertausdrucks‹, also nur innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise. Irritieren muss hier, wie sich Marx auf Hegels Urteils- und Schlusslehre sowohl affirmativ als auch kritisch bezieht. Er lobt Hegel dafür, dass er ›den Forminhalt der Urteils- und Schlussparadigmen‹ thematisiert und sieht sich im Hinblick auf seine Wertform-Lehre gegenüber den Ökonomen in der überlegenen Position, die er Hegel gegenüber den ›Logikern von Profession‹ zuschreibt. Zugleich kritisiert er Hegels Thematisierung des ›Forminhalts‹, wenn er die ›Mystifikation‹ und ›Verkehrung‹ innerhalb des Wertausdrucks durch das Beispiel illustriert. Er erklärt hier die traditionelle Auffassung von Begriff und Urteil für ›selbstverständlich‹ und verwirft die spekulative als Mystifikation. Der traditionellen Auffassung nach bezeichnet das Prädikat (hier: ›beide Rechte‹) eine allgemeine Eigenschaft ansonsten verschiedener konkreter Subjekte (hier: ›römisches und deutsches Recht‹). Dabei ist die diskursive Allgemeinheit des Begriffs mit dem spekulativen Gedanken des Abstrakt-Allgemeinen (›das Recht‹) als eines sich in Konkretem (den konkreten Rechten) verwirklichenden Subjekts unvereinbar.364 Marx kritisiert damit, was er eben 364 Schon in den beiden Formulierungen des noch abstrakten ›positiven Urteils‹: »Das Einzelne ist allgemein« und »Das Allgemeine ist einzeln«, ist die

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noch gepriesen hat: die Berücksichtigung des Forminhalts durch Hegel.365 Sein Beispiel verfängt nur, wenn er mit den ›Logikern von Profession‹ den diskursiven Begriff gegen Hegels spekulative Auffassung des Begriffs ins Feld führt. Es wird hier noch einmal deutlich, dass sich Marx über die für das Ka­ pital in Anspruch genommene dialektische Methode keine hinreichende Klarheit verschafft hat.366 Damit wird aber auch ein Zweites deutlich: Das Rätselraten darüber, was Marx mit dem ›Rationellen‹ der hegelschen Dialektik gemeint haben könnte, ist durch die Untersuchung des Kapitals nicht in einem positiven Sinne zu beenden. Die Hoffnung, ›das Rationelle‹ der Dialektik Hegels, von dem Marx 1858 spricht367 und auf das er im Nachwort der zweiten Auflage des Kapitals zurückkommt, müsse seiner dialektischen Darstellung der Wertformen zu entnehmen sein, wird enttäuscht.368 Was nach Marx an Hegels Dialektik rational ist, ist weder dem Wertform-Abschnitt noch dem Kapital insgesamt zu entnehmen. Das Wesen und die Funktion, die die Anleihen bei Hegel für die Darstellung im Kapital haben, werden durch die Darstellung selbst nicht hinreichend transparent. Sie müssen mit und gegen Marx allererst heraus präpariert werden. Die Auskunft des ›Hegel-Marxismus‹, Marx »adaptiere« Hegels Dialektik »als die einzig treffliche Methode der Vergewisserung eines eigentümlichen, antagonistischen, selbstbezüglichen und selbstreproduktiven Gegenstandsbereiches« und ziehe zugleich »gerade darin die ›Grenzen‹ dialektischer Darstellung« (Brentel 1989: 382), kann nicht überzeugen, denn sie verbleibt ganz innerhalb der Grenzen der Überlegungen, die Marx selbst zum Thema angestellt hat. Es zeigt Allgemeinheit nicht als diskursive Allgemeinheit aufzufassen: Düsing (1976: 257). 365 Rosenthal (1998: 195) bezeichnet Marx’ Beispiel als »thoroughly equivocal«, überbewertet aber den Umstand, dass es in späteren Kapital-Ausgaben fehlt. 366 Althusser (1968: 261) dramatisiert und heroisiert: »Marx’ immer von neuem unternommene Anstrengung, die objektiven Schranken der herrschenden Theorie zu durchbrechen und eine Möglichkeit zu schaffen, die Frage zu denken, die durch seine wissenschaftliche Entdeckung an die Philosophie gestellt war, ist ebenso wie sein Scheitern und seine Rückfälle ein Teil des theoretischen Dramas, das er in absoluter Einsamkeit durchlebt hat.« 367 Vgl. Brief an Engels vom 16. Januar 1858: MEW 29: 259 f. 368 Vgl. Kittsteiner (1980: 67). Kittsteiner spricht in Bezug auf die WertformPassagen der Erstausgabe von einer »zweiten ›entmystifizierenden‹ Auseinandersetzung mit Hegel«, in der Marx anders als in der ersten, mit feuerbachschen Mitteln betriebenen, »jetzt die ›Tätigkeit des Begriffs‹ und seine Objektivierung insofern ernst« nehme, »als er sie mit der Formwerdung eines im Begriff des ›Werts‹ ausgedrückten gesellschaftlichen Verhältnisses vergleicht« (ebd. 75).

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sich, dass die Metapher des ›Umstülpens‹ der hegelschen Dialektik verfehlt ist. Wer sie ernst nimmt, kokettiert »mit der Paradoxie, daß jedwede ›Umstülpung‹ der Hegelschen Dialektik, will sie keine ›Aufhebung‹ im Hegelschen Sinne sein, nur von einer externen Perspektive aus und mit Bezug auf die diskursive Immanenz der spekulativen Logik gewaltsam erfolgen kann, so daß das Resultat der durch die Umstülpungsmetapher bezeichneten Transformation jedenfalls nicht mehr der ›rationelle Kern‹ der Hegelschen Dialektik ist« (Kocyba 1979: 27).369 Wer die Paradoxie vermeiden und Marx’ methodischen Bezug auf Hegel zugleich rechtfertigen will, muss zeigen, dass sich Marx’ These von der Freilegung des rationellen Kerns der hegelschen Dialektik qua Umstülpung einer falschen Hegelinterpretation verdankt. »Was Marx als Konsequenz dessen auffasst, dass seine Methode der Grundlage nach das gerade Gegenteil der hegelschen sei«, erweist sich Arndt (2020: 222) zufolge »bei näherer Betrachtung als Übereinstimmung mit Hegels Bestimmung des Begriffs in der endlichen Realität.« Arndt interpretiert Marx’ Hegelkritik »von Hegel aus gesehen« (218). Dessen Philosophie sei ihrem Wesen nach nicht affirmativ, wie Marx meint, sondern kritisch, und zwar »durchaus auch in dem von Marx gemeinten Sinne« (210). Ihr »normative[r] Bezugspunkt« (223) sei die absolute Idee. Weil Marx die Differenz von Logik und Realphilosophie tendenziell einebne, könne er die normative, nämlich kritische Bedeutung der absoluten Idee nicht erkennen. Marx identifiziere die dialektische Methode Hegels mit der absoluten, in der Logik entfalteten Methode, und unterstelle Hegel, er beziehe diese unmittelbar auf die Realität. Auf der Grundlage dieser falschen Interpretation fordere er dann gegen Hegel, die Dialektik sei zu begrenzen, der »reale Unterschied« von Begriff und Realität sei nicht aufzuheben. Damit renne er offene Türen ein. Denn eben dies gelte nach Hegel ausdrücklich für die Dialektik »innerhalb der (endlichen) Realität« (222). Nur in der absoluten Methode der Logik beziehe sich der Begriff im reinen Denken allein auf sich selbst, nicht in der realphilosophischen. Aus dieser Differenz entspringe der kritische Charakter der hegelschen Philosophie. Die »vernünftige Ansicht« werde »in ihr zur normativen Einspruchsinstanz, welche das Bestehende als vernunftwidrig kritisiert, wenn es ›der Idee nicht gemäß ist‹« (217). Ihre Kritik enthalte »ein Sollen, weil die Idee selbst, als ebenso sehr theoretische wie praktische, in der Realität Geltung fordert«. Sie beziehe sich nicht auf die grundsätzliche Differenz von Begriff und Realität, sondern bewerte diese Differenz »hinsichtlich des geschichtlichen Bildungsstandes 369 Althusser (1975: 64) begreift die Metapher als die »einer echten materialistischen Transformation der Figuren der Dialektik«, deren »neue[] Kategorien« schon »im ›Kapital‹ und bei Lenin wirksam«, wenngleich nicht immer als neue kenntlich seien.

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des Geistes« daraufhin, »ob sie hinter dem objektiv Möglichen zurückbleibt oder nicht« (218). Arndt bestätigt damit den schon erörterten ›theoretizistischen‹ Charakter der Kritik, deren Sollen eben kein moralisches ist (II,2.2.). Natürlich: Der hegelsche Philosoph kann konstatieren, dass beispielsweise ein Staat, in dem heute noch Sklaverei besteht, hinter ›dem objektiv Möglichen‹ zurückgeblieben ist. Lässt er sich angesichts dessen zu der Aussage hinreißen: »Das Vernünftige soll gelten« (Arndt zitiert aus der Mitschrift der Vorlesung zur Philosophie des Rechts vom Wintersemester 1821/22 [Rph 21/22 234]), so ist dies nicht als moralisch begründete Forderung nach Abschaffung der Sklaverei zu verstehen. Vielmehr ist es die quasi buchhalterische Feststellung, dass die Einbildung der Vernunft in die Realität in einem Teil dieser Realität (einem Staat) hinter dem in anderen Teilen erreichten Stand zurückgeblieben ist. Arndt rückt Hegel damit ganz nah an den Marx der Kapitaltheorie heran. Denn schließlich bewertet auch Marx die gesellschaftliche Realität im Hinblick darauf, ob sie nicht ›hinter dem objektiv Möglichen zurückbleibt‹ (sie bleibt es erheblich), und intendiert keine moralische Kritik der Gesellschaft, sondern die Aufdeckung ihres ökonomischen Bewegungsgesetzes. ›Von Hegel aus gesehen‹ ist die Kritik, wonach Marx die Differenz von Logik und Realphilosophie bei Hegel tendenziell einebne, nachvollziehbar.370 Und hegelaffirmativ lässt sich seine Methode auch als kritisch in dem skizzierten Sinn bezeichnen. Die These aber, sie sei es ›auch in dem von Marx gemeinten Sinne‹, vermag nicht zu überzeugen. Arndt sieht richtig, dass für Marx’ Hegelkritik die Frage des ›realen Unterschieds‹ von Begriff und Realität zentral ist. Er übersieht aber, dass von Marx aus gesehen Hegels Anerkennung der Differenz nur eine scheinbare ist. Ihre wirkliche Anerkennung schließt Marx zufolge den Bruch mit der Methode Hegels, das heißt mit der absoluten Idee ein. Die Differenz wirklich anerkennen heißt die Philosophie des Absoluten verabschieden. Von Marx aus gesehen affirmiert Hegels Philosophie des Absoluten die bestehenden Verhältnisse, indem sie diese mystifiziert: »Die Wirklichkeit wird nicht als sie selbst, sondern als eine andere Wirklichkeit ausgesprochen.« (KHS 8/206) Das Argument, welches nach Arndt sowohl den kritischen Charakter der hegelschen Methode als auch die Anerkennung des realen 370 Wenngleich es dabei wohl eher um die Betonung von Nuancen geht. Marx’ Feststellung: »Bloß der Hegel’sche ›Begriff‹ bringt es fertig, sich ohne äußern Stoff zu objektiviren« (K I131), lässt sich durchaus als ironischer Kommentar zu Hegel lesen. Zeigt Hegel zufolge doch die Logik »die Erhebung der Idee zu der Stufe, von der aus sie die Schöpferin der Natur wird und zur Form einer konkreten Unmittelbarkeit überschreitet, deren Begriff aber auch diese Gestalt wieder zerbricht, um zu sich selbst, als konkreter Geist, zu werden«. Und die realphilosophischen Wissenschaften haben »das Logische oder den Begriff zum inneren Bildner«. (WdL II 265).

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Unterschieds dartun soll, verfängt nicht. Die Hegel angemessene Würdigung der Differenz von Logik und Realphilosophie, von absoluter Idee und objektivem Geist widerlegt aus marxscher Perspektive nicht den Vorwurf der Mystifikation, sondern bestätigt ihn nur. Der Hinweis, die »Zuwendung zur Realität« sei »der absoluten Methode selbst eingeschrieben«, sei sie doch der »Trieb, durch sich selbst in allem sich selbst zu finden und zu erkennen« (Arndt 2020: 220; Hegel, WdL II 552), und zwar theoretisch wie praktisch, bedeutet so gesehen nichts anderes, als dass die Wirklichkeit von Staat und Geschichte nicht als sie selbst betrachtet wird, sondern als bloße Erscheinungsweise der Idee. Wenn Hegel betont, das Spekulative (also das Vernünftige) sei »als mystisch zu bezeichnen«, insofern es die dem Verstandesdenken unüberwindbaren Gegensätze als aufgehoben in sich enthalte »und eben damit sich als konkret und als Totalität« (Enz I 178) erweise, dann kann Marx darin nur noch das unfreiwillige Eingeständnis der ›mystischen Form‹ der hegelschen Dialektik sehen. ›Mystisch‹ ist jetzt mit ›ideologisch‹ zu übersetzen. Die im Folgenden zu erhärtende These lautet: Das theoretische und notwendig affirmative Moment der Darstellung im Kapital wird durch die Darstellung selbst unterlaufen, indem diese eine doppelte Struktur hat. Die dargestellte Struktur des Kapitals (des Gegenstandes der Theorie) und die Struktur der Darstellung (der Theorie) sind in ihr unterschieden. Die dargestellte Struktur des Kapitals ist idealistisch, die Struktur der Darstellung ist nicht-idealistisch.371 Die Ausdrücke ›idealistisch‹ und ›nicht-idealistisch‹ sind hier nicht in ihrer gewöhnlichen und diffusen Alltagsbedeutung gemeint, sondern beziehen sich affirmativ bzw. negativ auf Hegels Philosophie. Die dargestellte Struktur des Kapitals ist demnach idealistisch, weil und insofern sie Strukturen der ›idealistischen‹ hegelschen Philosophie ähnlich ist, und die Struktur der Darstellung ist nicht-idealistisch, weil und insofern sie eine solche Ähnlichkeit nicht besitzt.372

5.2. Die dargestellte Struktur des Kapitals ist idealistisch Konstitutiv für den Zugang zum Gegenstand der Kapitaltheorie ist die Kritik der Politischen Ökonomie, deren Bestimmungen Marx als »objective Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch 371 Vgl. Kuhne (1995). 372 Marx spricht von der »idealistischen Manier der Darstellung« (Gr 85/85). Dazu weiter unten.

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bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der [kapitalistischen] Waarenproduktion« (K I² 106 f./90) begreift. Indem Marx von ›objectiven Gedankenformen‹ spricht, begreift er die tragenden Begriffe der Politischen Ökonomie, wie gesagt (III,2), als Bestimmungen der Totalität des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses und die Politische Ökonomie selbst als das theoretische Selbstbewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft, als die Instanz, in der diese Gesellschaft ein – wenn auch ideologisches – Wissen von sich als einer sich durch Produktion, Distribution und Konsumtion von Waren reproduzierenden Einheit besitzt. Darüber hinaus deutet der Ausdruck aber bereits an, dass Marx dem kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozess eine dem hegelschen Geist analoge idealistische Struktur zuschreibt, ihn als ein Ganzes begreift, das seine wesentlichen Voraussetzungen aus sich selbst ›setzt‹. ›Objektive Gedankenformen‹ bezeichnet also zum einen die ökonomischen Bestimmungen als solche einer Totalität, zum anderen deutet der Terminus bereits auf die Struktur dieser Totalität. Marx charakterisiert die Struktur dieser Totalität auf den unterschiedlich abstrakten Niveaus der Darstellung in verschiedener Weise, indem er das gesellschaftliche Kapital als ein sich selbst bestimmendes Allgemeines bzw. ein sich selbst reproduzierendes Ganzes zunehmend differenzierter fasst. (1) Nachdem im ersten Band des Kapitals die Betrachtung des Verwertungsprozesses vom Einzelkapital auf das gesellschaftliche Kapital ausgedehnt worden ist, heißt es: »Der kapitalistische Produktionsprozeß, im Zusammenhang betrachtet oder als Reproduktionsprozeß, produziert also nicht nur Ware, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis selbst.« (K I² 534/604) Die gesellschaftliche Totalität des kapitalistischen Reproduktionsprozesses betrachtet, erweist sich das Kapitalverhältnis als ein sich selbst produzierendes und reproduzierendes. Die Frage nach dem Grund des Kapitals führt auf die Lohnarbeit, die Frage nach dem Grund der Lohnarbeit führt wieder zurück auf das Kapital. Es ergibt sich »ein zirkuläres Begründungsverhältnis, in dem der Grund des Grundes das zu Begründende ist« (Bulthaup 1973: 51). »Das Kapital setzt die Lohnarbeit, die Lohnarbeit setzt das Kapital voraus. Sie bedingen sich wechselseitig, sie bringen sich wechselseitig hervor.« (K I² 534 Anm. 20/604 Anm. 20). (2) Im zweiten Band wird die Zirkulation nicht mehr nur abstrakt als bloßer Formwechsel des Warenwerts bestimmt, der abwechselnd die Gestalt von Ware und Geld annimmt, sondern als ein Moment des Kreislaufs des individuellen Kapitals. Der Wert, der seine Gestalt wechselt und darin mit sich identisch bleibt, ist jetzt als Wert des individuellen Kapitals bestimmt, als Kapitalwert. Die Analyse seiner Formbewegung im Reproduktionsprozess der Einzelkapitale erweist diese als abhängig von einer Totalität, die sie auch hervorbringen. Weil kein Einzelkapital 395

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ökonomisch und technisch in sich subsistiert und alle Einzelkapitale qua Austausch notwendig auf die Totalität des gesellschaftlichen Kapitals verwiesen sind, ist das gesellschaftliche Kapital nicht nur die abstrakte Bezeichnung der allgemeinen Form der Einzelkapitale, sondern der Prozess, der deren Produktion ermöglicht, indem er sie zu einem Moment seiner Reproduktion integriert. Die Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals fassen die Schemata als »eine Bewegung innerhalb des Produk­ tenwerths selbst, worin das Gesammtkapital resultirt« (K II 370/393). Indem sie die verschiedenen Bestandteile c+v+m des Jahresproduktenwerts auf zwei verschiedene Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion (Produktions- und Konsumtionsmittel) abbilden, sind sie die statische Fassung des Prozesses der kapitalistischen Gesamtreproduktion. Wieder erweist sich das Kapitalverhältnis als ein sich selbst produzierendes und reproduzierendes Ganzes, das nun aber als Einheit materieller Bedingungen und ökonomischer Formbestimmungen konkretisiert ist. (3) Im dritten Band wird die Darstellung dieser idealistischen Struktur weiter konkretisiert. Die Analyse der gegenständlichen Bedingungen der Verwertung der Einzelkapitale der verschiedenen Zweige der gesellschaftlichen Produktion resultiert hier in den Begriff der Durchschnittsprofitrate und des Produktionspreises, in denen sich die affirmative Beziehung der Einzelkapitale als technisch voneinander abhängiger Produktionen ökonomisch ausdrückt. Indem die Kapitale mit verschiedener technischer Zusammensetzung gemäß ihrer Wertgröße am Gesamt-Mehrwert teilhaben, unterscheiden sie sich nur noch quantitativ. Als verschieden große Quanta derselben Substanz des gesellschaftlichen Kapitals sind sie herabgesetzt zu Momenten von dessen Reproduktionsprozess. Der unmittelbare Zweck ihrer Produktion: die Produktion von Mehrwert ungeachtet seiner Naturalform, ist vermittelt durch den gesellschaftlichen Zweck der Produktion von akkumulierbarem Mehrwert, nämlich von Gegenständen, in denen das industrielle Kapital seinen realisierten Mehrwert produktiv akkumulieren kann (Produktionsmittel). Damit ist begrifflich eingeholt, was zu Beginn von Kapital I nur metaphorisch bezeichnet werden konnte: der Wert als »automatisches« bzw. »übergreifende[s] Subjekt« eines Prozesses, »worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Waare, seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwerth von sich selbst als ursprünglichem Werth abstößt, sich selbst verwerthet«; oder als »sich selbst bewegende Substanz, für welche Waare und Geld beide bloße Formen« (K I² 172/169). Jetzt ist einsichtig: Die Subjektivität, die Tätigkeit der Selbstverwertung, hat den Charakter einer sich selbst bewegenden Substanz, ist substantiell, weil und insofern sie die Entelechie des materiellen gesellschaftlichen Produktionsprozesses ist. Diese grobe Auflistung der unterschiedlich abstrakten Niveaus der Darstellung der idealistischen Struktur des Kapitals als eines sich selbst 396

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bestimmenden Allgemeinen lässt den Abschnitt über die Wertform außen vor. Dies scheint nur konsequent: Die Analyse der Wertform gilt der Frage, wie der Wert, von dem zuvor gezeigt wurde, dass er als tertium comparationis des Äquivalententauschs vorausgesetzt werden muss, in der Tauschrelation der Waren enthalten ist. Die Analyse der Wertform schließt an die Analyse des Warenwerts an. Von Mehrwert und Kapital ist hier noch nicht die Rede. Bekannt sind allein die Bestimmungen der Ware (Gebrauchswert und Wert zu sein) und der Doppelcharakter der in ihr vergegenständlichten Arbeit (als konkrete, gebrauchswertbildende und abstrakte, wertbildende). Es wäre daher eigentlich nicht zu erwarten, dass Marx die idealistische Struktur, die er dem Kapital meint zusprechen zu müssen, bereits vor der Einführung von Kapitalbestimmungen thematisiert. Überraschenderweise tut er aber genau dies, besonders deutlich in der Erstausgabe. Indem die Leinwand »die andre Waare sich als Werth gleichsetzt«, heißt es dort, »bezieht sie sich auf sich selbst als Werth. Indem sie sich auf sich selbst als Werth bezieht, unterscheidet sie sich zugleich von sich selbst als Gebrauchswerth. Indem sie ihre Werth­ grösse [...] im Rocke ausdrückt, giebt sie ihrem Werthsein eine von ihrem unmittelbaren Dasein unterschiedne Werthform. Indem sie sich so als ein in sich selbst Differenzirtes darstellt, stellt sie sich erst wirklich als Waare dar – nützliches Ding, das zugleich Werth ist.« (K I1 29)373 Zufolge der Warenanalyse ist die Ware Gebrauchswert und Wert. Zufolge der Wertformanalyse stellt sie diesen ihren Doppelcharakter im Austauschverhältnis mit einer anderen Ware selbst dar. »Der in der Waare eingehüllte innere Gegensatz von Gebrauchswerth und Werth wird also dargestellt durch einen äußeren Gegensatz, d.h. durch das Verhältniß zweier Waaren.« (K I² 93/75) Die Ware, die ihren Wert »aktiv« ausdrückt oder darstellt in der Naturalform einer anderen Ware, befindet sich in relativer Wertform, die Ware, deren Naturalform »passiv« als Material des Wertausdrucks dient, in Äquivalentform. Relative Wertform und Äquivalentform sind »sich wechselseitig bedingende« und »zugleich einander […] entgegengesetzte Extreme, d.h. Pole desselben Werth­ausdrucks« (K I² 81/63). Die Ware ist jetzt nicht länger nur als »das einfachste ökonomische Konkretum« (RAW 369)374 thematisch, das vom Theoretiker analysiert und von dem ausgesagt wird, sondern als tätiges Subjekt, das durch seine Beziehung auf andere Ware sich als Gebrauchswert von sich selbst als Wert unterscheidet. In einer Anmerkung spielt Marx ironisch auf die philosophische Theorie an, nach deren 373 Weniger hegelisch: K I² 85/67. 374 Im Sinne des ersten Absatzes des Kapitals: »Der Reichthum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ›ungeheure Waarensammlung‹, die einzelne Waare als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Waare.« (K I² 69/ 49).

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Vorbild er die Ware als Subjekt modelliert: Hegels Theorie der Subjektivität. »In gewisser Art geht’s dem Menschen wie der Waare. Da er weder mit einem Spiegel auf die Welt kommt, noch als Fichtescher Philosoph: Ich bin Ich, bespiegelt sich der Mensch zuerst in einem andren Menschen. Erst durch die Beziehung auf den Menschen Paul als seinesgleichen, bezieht sich der Mensch Peter auf sich selbst als Mensch.« (K I² 85/67)375 Hegel zufolge verfehlt Fichtes Erklärung des (Selbst-) Bewusstseins dessen notwendig antinomische Struktur. Dass Sich-Setzen (Selbstaffirmation) und Entgegensetzen (Negation) des Ich zwei einander entgegengesetzte Handlungen sein sollen, die nur Bestand haben, weil und insofern die Handlung des Entgegensetzens die des Teilbarsetzens einschließt, zeige Fichte als einen der Totalität nicht mächtigen, in der Endlichkeit verharrenden Denker. Ich sei spekulativ als Identität von Identität und Nicht-Identität zu denken. Selbstbeziehung und Fremdbeziehung des Ich seien als ›Momente‹ einer identischen Beziehung zu fassen. Seine Struktur sei die eines Allgemeinen, das sich auf sich bezieht, sich von sich unterscheidet und darin mit sich identisch begreift. Dies ist aber Hegel zufolge die Struktur von Subjektivität in einem »logischen«, nicht nur bewusstseinstheoretischen Sinn. Diese Struktur ist keineswegs auf Sachverhalte wie ›Ich‹, ›Bewusstsein‹ oder ›Selbstbewusstsein‹ beschränkt, sondern ist die Struktur eines jeden Gegenstandes, ›wie er in Wahrheit‹ (Horstmann 1990: 44376) ist. Indem die Ware den durch den Theoretiker an ihr festgestellten Gegensatz von Gebrauchswert und Wert durch ihr Verhältnis zu einer anderen Ware selbst äußerlich darstellt, zeigt sich dieser Gegensatz nicht mehr nur als eine Bestimmung des Theoretikers, sondern als eine Bestimmung der Ware selbst. Aus dem Begriff der Ware ist unversehens die Ware als Begriff geworden. Die Ware ist unvermittelt in Analogie zum hegelschen Begriff gefasst, nämlich als ein zunächst allgemeiner und einfacher Gegenstand, dessen Sichbestimmen immer zugleich »Sichbestimmen als« und »Sichbestimmen zu« ist (Fulda 1978: 130). Die Ware ist nicht länger als ein gegebenes einzelnes Ding, als austauschbares Arbeitsprodukt thematisch, an dem bestimmte Eigenschaften festzustellen und nach verschiedenen Hinsichten zu unterscheiden sind. Ihre entgegengesetzten Bestimmungen können nicht »Insoferns, Seiten und Rück­ sichten« (Hegel, WdL II 50) zugeordnet werden, um den Widerspruch von ihr abzuhalten. Vielmehr ist sie »ein unmittelbarer Widerspruch«, 375 Vgl. PhG 146: »Es ist für das Selbstbewußtsein ein anderes Selbstbewußtsein; es ist außer sich gekommen. Dies hat die gedoppelte Bedeutung: erst­ lich, es hat sich selbst verloren, denn es findet sich als ein anderes Wesen; zweitens, es hat damit das Andere aufgehoben, denn es sieht auch nicht das Andere als Wesen, sondern sich selbst im Anderen.« 376 Vgl. WdL II 255 ff.

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nämlich »unmittelbare Einheit von Gebrauchswerth und Tauschwerth, also zweier Entgegengesetzten« (K I1 51). Es kann nicht mehr gesagt werden, dass die Ware »in einer gesellschaftlich-unspezifischen Hinsicht Gebrauchswert, d.h. ein Stück bearbeiteter Natur ist, und in einer gesellschaftlich-spezifischen Hinsicht Wert, d.h. die Vergegenständlichung der abstrakt-menschlichen und in dieser Form gesellschaftlich-allgemeinen Arbeit ist« (Wolf 1985: 187377). Vielmehr ist die Ware in derselben Beziehung – mit Marx: im selben Wertausdruck – Gebrauchswert und Wert (bzw. Tauschwert), außerhalb dieser Beziehung aber ist sie keine Ware, sondern ein in bestimmter Zeit hergestelltes Arbeitsprodukt mit einem bestimmten Gebrauchswert. Die Ware ist nicht mehr thematisch als ein Ding mit gegenständlichen und gesellschaftlichen Eigenschaften, sondern als Einheit von Selbstbeziehung und Fremdbeziehung, das heißt als ein »Verhältnis von Verhältnissen zueinander« (Horstmann 1990: 76). Diese Verwandlung der Ware in ein Subjekt, die Modellierung ihrer Wertform oder ihres Wertausdrucks als Subjektivitätsstruktur, muss irritieren. Zwar kritisiert Marx wiederholt »den Standpunkt des Oekonomen, der nur handgreifliche Dinge kennt oder Ideen – Verhältnisse existiren nicht für ihn«, aber diese Kritik bezieht sich nicht darauf, wie die Ware, sondern wie »die blos allgemeine Form des Capitals als sich erhaltender und verwerthender Werth« (ÖM I 133/142) dem Ökonomen erscheint. Das Kapital kann »nur als Bewegung u. nicht als ruhiges Ding begriffen werden. Diejenigen, die die Verselbstständigung des Werths als eine Abstraktion betrachten, vergessen dass die Bewegung des industriellen Kapitals diese Abstraktion in actu ist.« (K II 646/109) Es liegt nahe, Marx hier mit den (feuerbachschen) Waffen seiner eigenen Hegel-Kritik zu schlagen und ihm eine ›Mystifizierung‹ der Ware vorzuwerfen. Sein Hinweis: »Man sieht, alles was uns die Analyse des Waarenwerths vorher sagte, sagt die Leinwand selbst, sobald sie in Umgang mit andrer Waare, dem Rock, tritt« (K I² 85/66), hilft nicht weiter. Denn indem er auf Hegels Unterscheidung zwischen der der Sache äußerlichen Reflexion des endlichen Subjekts einerseits und dessen bloßem ›Zusehen‹ der Selbstbestimmung der Sache andererseits anspielt, bemüht er abermals Bestimmungen, die in einer Philosophie des Absoluten 377 Wolf möchte freilich nicht den Widerspruch von der Ware abhalten, sondern seine Auffassung dieses Widerspruchs gegen dessen ›Mystifizierung‹ durch Marx-Interpreten zur Geltung bringen. Wolf unterscheidet zwischen dem »dialektischen Widerspruch im Kapital« und Hegels »mystisch-irrationaler« Auffassung des Widerspruchs. Dabei knüpft er unkritisch an Überlegungen an, die Marx in der Kritik des Hegelschen Staatsrechts (1843) unter dem Eindruck Feuerbachs und Bakunins (zu Bakunin: Lauth 1955: 439 ff.) gegen Hegels »System der Vermittlung« (KHS 97/292) in der Rechtsphilosophie anstellt.

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ihren Ort haben mögen, von denen zunächst aber gar nicht einzusehen ist, mit welchem Recht sie in der Kapitaltheorie eingeführt werden könnten. Der Akzent liegt hier auf dem ›zunächst‹. Der Vorwurf einer Mystifizierung würde den bloßen Umstand, dass Marx auf hegelsche Denkfiguren zurückgreift, schon als Indiz für den Irrationalismus seiner Theorie nehmen. Ihn zu erheben, wäre aber vorschnell, denn tatsächlich kann gezeigt werden, dass die Einführung solcher Denkfiguren im WertformAbschnitt zu rechtfertigen ist. Dies erheischt allerdings die nähere Untersuchung dessen, was im Kapital unter ›Darstellung‹ zu verstehen ist.

5.3. Die Struktur der Darstellung des Kapitals ist nicht-idealistisch Gerade weil die Nähe zu Hegels Begriff der Darstellung nicht zu übersehen ist, ist der Unterschied festzuhalten. In der idealistischen Entwicklung des Begriffs ist »das Vorwärtsgehen ein Rückgang in den Grund, zu dem Ursprünglichen und Wahrhaften [...], von dem das, womit der Anfang gemacht wurde, abhängt und in der Tat hervorgebracht wird.« Das »Ganze der Wissenschaft« ist derart »ein Kreislauf in sich selbst«. (WdL I 70 f.) Sein Kreislaufcharakter besagt, dass die rationale Darstellung der Wissenschaft keine heterogenen Voraussetzungen kennt, weil sich in ihr sämtliche Voraussetzungen als gesetzt erweisen. Dass es sich bei dieser Wissenschaft nur um die Philosophie als Wissenschaft des Absoluten handeln kann, versteht sich, denn nur die Selbstreflexion des Absoluten ist frei von externen Voraussetzungen. Dabei gilt der in der Logik begründete Kreislaufcharakter der Wissenschaft auch für die Realphilosophie (II,2.3.). So ist die Methode der Rechtsphilosophie »aus der Logik vorausgesetzt« (Rph 84), wie beispielsweise der »Übergang der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft in den Staat« zeigt. Die Entwicklung der unmittelbaren Sittlichkeit durch die Entzweiung der bürgerlichen Gesellschaft hindurch erweist diese bürgerliche Gesellschaft als defizient. Sie kann durch Rechtspflege, Polizei und Korporation die Momente der Allgemeinheit und Besonderheit nicht versöhnen. Die Allgemeinheit bleibt schicksalhaft, die Besonderheit eigensüchtig. Diese Defizienz macht das Übergehen in den Staat notwendig. »Der Zweck der Korporation als beschränkter und endlicher hat seine Wahrheit […] in dem an und für sich allgemeinen Zwecke und dessen absoluter Wirklichkeit; die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft geht daher in den Staat über.« (Rph 397) Ihr Übergehen in den Staat ist ein Rückgehen in den Grund. Die entgegengesetzten Bewegungen sind in Wahrheit nur zwei Seiten ein und derselben Bewegung, weil »im Gange des wissenschaftlichen Begriffs der Staat als Resultat erscheint, indem 400

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er sich als wahrhafter Grund ergibt«. Der Staat erweist sich derart als die »Unmittelbarkeit« eines Wirklichen, das heißt eines durch den Begriff selbst Gesetzten und insofern Notwendigen. Die Darstellung ist ein Kreisgang, in dem aus dem rekursiv erschlossenen Grund der Rechtsbestimmungen diese progressiv hervorgehen. Dieser logisch in sich subsistierende Schluss sei der einzig »wissenschaftliche Beweis des Begriffs des Staates« (Rph 397). Die ›logische Methode‹ präformiert hier offenbar die Darstellung der Sache. Wenn Hegel die Funktionen des Staates aus der bürgerlichen Gesellschaft ableitet, nicht aber den Vernunftstaat selbst, dann liegt der Grund hierfür nicht in der Analyse der Sache, sondern in der Methode, die der Darstellung der Sache vorausliegt. Die Methode stellt sicher, dass das Resultat der Darstellung die Ansprüche erfüllt, die an einen metaphysischen, »wahrhaften Grund«, von dem der Anfang »abhängt und in der Tat hervorgebracht wird«, gestellt werden. Sie stellt sicher, dass der Staat »objektiver Geist« ist und das Verhältnis der Individuen zu ihm somit nicht in ihrem Belieben liegt. »Indem er objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist.« (Rph 399) Nun ist die von Hegel in der Logik beanspruchte Methode bekanntlich kein Verfahren, das von der Betrachtung der logischen Denkbestimmungen unabhängig wäre, sondern »ist das Bewußtsein über die Form der inneren Selbstbewegung ihres Inhalts«. Form und Inhalt fallen in ihr nicht auseinander, weil ihre Erzeugung der Formbestimmtheiten der Kategorien in eins die eines logischen Inhalts ist.378 Das »System der Begriffe« vollendet sich derart »in unaufhaltsamem, reinem, von außen nichts he­reinnehmendem Gange«. (WdL I 49) Dem Anspruch nach ist dieser Gang ein sich selbst begründender, kontinuierlicher logischer Prozess, in dem die Denkbestimmungen »an und für sich selbst« betrachtet werden und daher das bloß »vorstellende«, auf ein Substrat bezogene Denken keine Funktion hat.379 Eine Funktion hat ›die Vorstellung‹ nicht in der Logik, sondern in der Realphilosophie. Sie dient hier dazu, spezifische Inhalte in die begriffliche Betrachtung einzuführen und Resultate der Einzelwissenschaften, die die philosophische Wissenschaft voraussetzen darf, und solche der Philosophie, die sie thematisieren muss, einzubeziehen.380 Hegels Unterscheidung von ›reinem‹ und ›vorstellendem‹ Denken, von logischer und realphilosophischer Darstellung, setzt die Geltung 378 Verständlich wird dies erst, »wenn man die Methode als Subjektivität denkt, die ihre eigenen inhaltlichen Bestimmungen und deren Beziehung erzeugt und in ihnen sich selbst begreift«. (Düsing 1976: 313 f.). 379 Die »vormalige[] Metaphysik« suchte »mit den reinen Denkformen die besonderen, zunächst aus der Vorstellung genommenen Substrate, die Seele, die Welt, Gott, zu fassen«. (WdL I 61). 380 Vgl. Nuzzo (1997: 70).

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der Logik und mithin die der absoluten Methode voraus. Da die Methode nichts anderes ist als das Selbstbewusstsein des logischen Prozesses der Kategorienentwicklung, kann dieser Prozess nicht verworfen und die Methode gleichwohl in Anspruch genommen werden. Die Lo­ gik kann nicht als solche kritisiert und zugleich die dialektische Methode als solche affirmiert werden. Die Affirmation der Logik hätte aber unannehmbare begriffliche Implikationen und affirmative Konsequenzen. Die begrifflichen Implikationen wären die der Philosophie als einer Vernunftwissenschaft des Absoluten, als deren Teilgebiet sich die Kapitalkritik verstehen müsste. Ihre affirmative Konsequenz läge darin, dass in ihr das vernünftige Erkennen des Gegenstandes sein Erkennen als vernünftiger Gegenstand wäre. Beides ist weder Marx’ – also des Autors – Sache, noch kann es der Sache nach für die Kapitalkritik gelten. Es ist deshalb abwegig, die Darstellung des Kapitals an dem methodischen Ideal einer immanenten Begriffsentwicklung à la Hegel zu messen.381 Wenn die Rede von der »dialektischen Methode« (K I² 709/27) in Bezug auf die Darstellung des Kapitals überhaupt einen Sinn ergeben soll, dann muss der Rekurs auf sie einhergehen mit einer Veränderung der Bedeutung, die ihr in der hegelschen Philosophie zukommt. Diese veränderte Bedeutung soll im Folgenden aufgezeigt werden. Es geht darum, die oben vorgestellte These, wonach die dargestellte Struktur des Kapitals idealistisch ist, die Struktur der Darstellung dagegen nicht, zu erhärten. Die Argumentation gliedert sich in zwei Schritte. Zunächst ist zu zeigen, dass die begriffliche Struktur der Darstellung rekursiv ist und damit dem von Hegel vorgegebenen Ideal eines ›Kreisgangs‹ nicht entspricht (5.3.1.). Dann ist zu zeigen, dass die begriffliche Darstellung notwendig auf ein nicht deduzierbares, sondern nur zitierbares Material angewiesen ist. Das Zitieren von Material in der begrifflichen Darstellung ist ein ästhetisches Mittel, das für die Darstellung konstitutiv ist (5.3.2.) 5.3.1. Die Rekursivität der Darstellung Die dargestellte Struktur des Kapitals ist idealistisch – eine sich selbst bestimmende Ganzheit. Die Struktur der Darstellung ist nicht idealistisch, denn die ihr zugrunde liegende Reflexion ist rekursiv. Sie geht auf die 381 So moniert Backhaus (1969: 131), »daß in der Entwicklung des Werts ein Bruch aufweisbar« sei. »Der Übergang vom zweiten zum dritten Abschnitt des ersten Kapitels [K I] ist als notwendiger Übergang nicht mehr einsichtig.« Die Werttheorie sei aber dann »adäquat interpretiert, wenn die Ware so gefaßt wird, daß sie sich im Prozeß eines ›immanenten über-sich-Hinausgehens‹ als Geld setzt« (133). Nach Reichelt (1983: 44; 46) erscheint in den Grundrissen die Dialektik »sehr viel geschmeidiger« als im Kapital, das »den Eindruck resignierter Wissenschaftlichkeit« erwecke.

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notwendigen Bedingungen des ›sich selbst verwertenden Werts‹, nicht auf den zureichenden Grund. Während das Kapital in Analogie zu einem absoluten Subjekt dargestellt ist, das seine wesentlichen Voraussetzungen aus sich selbst setzt, ist für die Theorie des Kapitals der nicht aufzuhebende Unterschied von Subjekt der Theorie und realem Subjekt (hypokeimenon) konstitutiv. Dass dem so ist, folgt direkt aus der rekursiven Struktur der begrifflichen Darstellung und muss nicht durch Verweis auf hegelkritische Anmerkungen von Marx beglaubigt werden. Die Struktur der Darstellung ist zunächst zu charakterisieren als Abfolge von Bestimmungen, deren Gesamtheit den allgemeinen Begriff des Kapitals ausmacht. Die Abfolge ist insofern systematisch und nicht historisch. Objektive Geltung beanspruchen die Bestimmungen nur als Bestimmungsstücke des Kapitalbegriffs, nicht aber, insofern sie isoliert betrachtet werden. So ergeben etwa die ersten drei Kapitel für sich betrachtet keinen objektiven Begriff von Ware, Wert und Geld. Sie bilden vielmehr den Anfang der systematischen Entwicklung des Wertbegriffs. Der Austausch der Arbeitsprodukte zu Werten, also gemäß des Quantums der in ihnen inkarnierten Wertsubstanz Arbeit überhaupt, bildet die erste Bestimmung des ›Wertgesetzes‹, dessen Bedeutung sich im Verlauf der Darstellung verändert. Als Gesetz des Warenaustauschs zunächst behauptet, wird es als Prinzip der gesellschaftlichen Reproduktion begründet. Notwendige Bedingung des Begriffs des Durchschnittsprofits ist der des Mehrwerts. Die Preistheorie setzt die Theorie der Wert- und Mehrwertproduktion systematisch voraus. Auf deren Grundlage ergeben sich die besonderen Profitraten. Wirklichkeit hat die Mehrwertproduktion nur in den unmittelbaren Produktionsprozessen der Einzelkapitale. Nur diese exploitieren Arbeitskraft direkt. Der Begriff des Mehrwerts wird deshalb zunächst am Modell des Einzelkapitals entwickelt. Im Begriff des Mehrwerts ist das Kapital als Herrschaftsverhältnis offengelegt. Der Profit des Einzelkapitals ist zunächst nur »ein andrer Name« (Marx am 30. April 1868 an Engels: MEW 32: 71) für den Mehrwert. Dessen »organisches Verhältniß« (ÖM V 1629) zur exploitierten Arbeitskraft ist aber verschleiert, insofern der Profit nicht nur auf das variable, sondern auf das gesamte vorgeschossene Kapital bezogen ist (vgl. K III 64/58). Die Darstellung dieser formellen Verwandlung des Mehrwerts des Einzelkapitals in Profit und der Mehrwertrate in Profitrate geht notwendig der der Durchschnittsprofitrate voraus. Denn ohne den Begriff des Mehrwerts, in welchem das Kapital als Herrschaftsverhältnis bestimmt ist, kein Begriff des Profits des Einzelkapitals. Ohne diesen aber kein Begriff des allgemeinen Profits und seiner Rate. Der Ausgleich der besonderen Raten zur allgemeinen mystifiziert das der gesellschaftlichen Mehrarbeit zugrundeliegende Ausbeutungsverhältnis. Im Durchschnittsprofit, mit dem die Kapitale der besonderen Zweige an dem allgemein produzierten Mehrwert teilhaben, ist deren »functionelles 403

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Verhältniß zur Production dieses Gesammtmehrwerths« (ÖM V 1630) verschwunden. Die Theorie der Grundrente schließlich bezieht am Ende der systematischen Entwicklung des Wertbegriffs ein, wovon gleich zu Beginn abstrahiert wurde: die Naturbasis der Produktion. Insofern die Revenueform Rente Teil des Mehrwerts des gesellschaftlichen Kapitals ist, ist sie werttheoretisch bestimmt; insofern sie durch den Eigentumstitel am Boden konstituiert ist, ist sie nicht vollständig in Wertbestimmungen aufzulösen, sondern gründet in Eigentumsverhältnissen, in denen die gewaltsame ursprüngliche Besitznahme des Bodens in die Form eines Rechtsverhältnisses gebracht ist. Damit ist einsichtig: Die systematische Entwicklung des Wertbegriffs führt rekursiv die notwendigen Bedingungen der Verwertung des gesellschaftlichen industriellen Kapitals ein, erschließt aber keinen Grund, aus dem diese progressiv hervorgehen. Sie ist kein hegelscher ›Rückgang in den Grund‹. Das ›Ganze der Wissenschaft‹ ist kein hegelscher ›Kreislauf in sich selbst‹, wohl aber erscheint der Gegenstand der Wissenschaft als ein solcher. Indem das Kapital die Bedingungen seiner Reproduktion selbst produziert, erscheint es als eine geschichtslose, quasi natürliche Produktionsweise sui generis. Die Entwicklung des Wertbegriffs sprengt diesen realen Schein, indem sie das Prinzip der gesellschaftlichen Reproduktion, das Wertgesetz, sowohl auf seine systematischen Voraussetzungen bezieht: die Totalität des Systems kapitalistischer Produktion, als auch auf seine historischen Voraussetzungen: die Entstehung des modernen Privateigentums an Produktionsmitteln und die damit einhergehende gewaltsame Trennung der unmittelbaren Produzenten von ihren Produktionsmitteln. Die radikale Trennung von systematischen und historischen Voraussetzungen wäre sachlich falsch, denn sie würde den Status der Kapitalbestimmungen als quasi natürlicher, ahistorischer bestätigen. Nun ist aber weder die Warenform der Arbeitskraft noch die von Grund und Boden eine überhistorische, substantielle Bestimmtheit.382 Weil die Entwicklung des Wertbegriffs keine hegelsche Begriffsdialektik ist, die sich in dem Medium einer reinen Reflexion vollzieht, ist die Darstellung nicht kontinuierlich und homogen, sondern Einheit von Kontinuität und Diskontinuität. Die Übergänge in ihr folgen nicht einer den ›ökonomischen Kategorien‹ immanenten logischen Bewegung, und Widersprüche, auf die die systematische Entwicklung führt, werden durch die Einführung wesentlich neuer Bestimmungen gelöst. Diese Bestimmungen sind wesentlich neu insofern, als sie aus dem Widerspruch selbst nicht folgen, zu dessen Lösung sie eingeführt werden. ›Brüche‹ in der Darstellung sind daher nicht vermeidbare Inkonsistenzen oder 382 Zur historischen Herausbildung der eigengesetzlichen Ökonomie mit den »fiktiven Waren: Arbeit, Boden, Geld«: Polanyi (1957).

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Verstöße gegen eine vorgängige logische Methode,383 sondern der Rekursivität der Darstellungsstruktur geschuldet, die von der Struktur des Dargestellten differiert. Was damit gemeint ist, sei im Folgenden anhand der Einführung des Wertbegriffs zu Beginn des Kapitals (1) und anhand der Einführung des Begriffs der Ware Arbeitskraft (2) erläutert. (1) Die Einführung des Wertbegriffs: Der Beginn des Kapitals verdeutlicht bereits den Unterschied zu Hegel. ›Das Erste‹ der Darstellung ist nicht der abstrakte Begriff der Ware, aus dessen immanenter Analyse seine Wahrheit, der Begriff des Kapitals entwickelt wird. Die ›Unmittelbarkeit‹ des Anfangs ist nicht die des hegelschen Begriffs. Die oben (als Problem) angesprochene Modellierung der Ware als Subjekt bildet nicht den Beginn der Darstellung. Auch die an Hegelianismen reichere Erstausgabe hebt nicht an mit der Ware als dem »unmittelbare[n] Widerspruch« (K I1 51), der sich entwickeln müsse. Das Kapital thematisiert die Ware zunächst so, wie sie jedem Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft bekannt ist – als das »einfachste ökonomische Konkretum«. Die Argumentation geht vom Phänomen aus, das sie auf den Begriff bringen will, nicht vom Begriff.384 Weil es um die Ware als Phänomen und nicht um die Ware als Begriff (III,5.2.) geht, eignet ihr auch nicht die entelechie des Begriffs.385 Folglich kann sie »sich« nicht »im Prozeß eines ›immanenten über-sichHinausgehens‹ als Geld setz[en]« (Backhaus 1969: 133).386 »De prime abord gehe ich nicht aus von ›Begriffen‹ [...]. Wovon ich ausgehe, ist die einfachste gesellschaftliche Form, worin sich das Arbeitsprodukt in der jetzigen Gesellschaft darstellt, und dies ist die ›Ware‹. Sie analysiere ich, und zwar zunächst in der Form, worin sie erscheint.« (RAW 368 f.)387 383 Der Begriff des Kapitals wird nicht »nach dem Schema der hegelschen Wesenslogik in der Struktur der Einholung von Voraussetzungen erklärt«, wie Bubner (1974: 87) meint. Eine begriffliche Darstellung kann ihre Voraussetzungen in unterschiedlicher Weise einholen, wie etwa der Vergleich von Fichtes erster Wissenschaftslehre mit Hegels Logik zeigt. 384 Anders Angehrn (1977: 32 f.). 385 Vgl. WdL II 555. 386 Nach Lenin (1929: 168 f.) schließt »die einfache Wertform« bereits »alle Hauptwidersprüche des Kapitalismus in sich« ein. Nach Krahl (1970: 142) ist das Kapital »die Selbstbewegung des Begriffs der Ware als des progredierenden Widerspruchs zwischen Gebrauchswert und Tauschwert«. Nach A. Schmidt (1971: 59) gleicht die Ware »einer Leibnizschen Monade«. Nach Godelier (1972: 177) enthält das »Wesen des Dings ›Ware‹ […] den ›Sinn‹ des ganzen kapitalistischen Systems«. Nach Colletti (1974: 33) sind »alle kapitalistischen Widersprüche […] die Entwicklung des der Ware innewohnenden Widerspruchs von Gebrauchswert und Wert«. 387 Marx zielt hier nicht auf den hegelschen ›Begriff‹, sondern auf den »eines deutschen Ökonomieprofessors« (RAW 364). Entscheidend ist aber nicht die Frage, von welcher Art Begriff Marx nicht ausgeht, sondern dass er

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Die Darstellung geht phänomenologisch aus von den empirisch gegebenen Austauschverhältnissen der Arbeitsprodukte und führt den Wert als tertium comparationis des Tauschs ein. Der Wertbegriff resultiert aus der Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit des Austauschs sachlich verschiedener Arbeitsprodukte in objektiv bestimmten, also nicht zufälligen Relationen. Zunächst scheint es, eine Ware habe mannigfache Tauschwerte. Tauschwert scheint demnach etwas Relatives und Zufälliges zu sein, ein objektiver Warenwert unmöglich. »Eine gewisse Waare, ein Quarter Weizen z.B. tauscht sich mit x Stiefelwichse, oder mit y Seide, oder mit z Gold u.s.w., kurz mit andern Waaren in den verschiedensten Proportionen. Mannigfache Tauschwerthe also hat der Weizen statt eines einzigen. Aber da [kursiv d. Verf.] x Stiefelwichse, ebenso y Seide, ebenso z Gold u.s.w. der Tauschwerth von einem Quarter Weizen ist, müssen [kursiv d. Verf.] x Stiefelwichse, y Seide, z Gold u.s.w. durcheinander ersetzbare oder einander gleich große Tauschwerthe sein. Es folgt daher erstens: Die gültigen Tauschwerthe derselben Ware drücken ein Gleiches aus. Zweitens aber: Der Tauschwerth kann überhaupt nur die Ausdrucksweise, die ›Erscheinungsform‹ eines von ihm unterscheidbaren Gehalts sein.« (K I³ 69/51)

Marx konstatiert zunächst die Mannigfaltigkeit der Tauschwerte des Weizens. Der mit ›Aber da‹ beginnende Satz scheint dann das Gegenteil festzustellen, nämlich den Tauschwert als Erscheinungsform eines objektiv den Waren inhärierenden Werts. Doch handelt es sich nicht um eine Feststellung, sondern um eine spekulative Voraussetzung. Sachlich verschiedene Gegenstände sind nur dann in objektiv quantitativ bestimmten Relationen austauschbar, wenn die Verschiedenen in einem Dritten identisch sind. Der Vergleich von Verschiedenen, darin stimmt Marx mit Aristoteles überein, unterstellt die Vergleichbarkeit der Verschiedenen als deren objektive Bestimmtheit, wenn der Vergleich nicht rein subjektiv und den Gegenständen äußerlich sein soll.388 Marx schließt von der quantitativ bestimmten Relation der sachlich verschiedenen Arbeitsprodukte auf das tertium comparationis, in dem die Arbeitsprodukte ›wesensgleich‹ (vgl. K I² 91/73) sind. Tertium comparationis des Austauschs betont, Ausgangspunkt sei die Form, worin die Ware ›erscheint‹. Die Form, worin sie erscheint, ist die ihrer Austauschbarkeit. 388 Aristoteles (Nik. Ethik 1133b 18) wird erst in der Wertformanalyse zitiert. Das Problem der Vergleichbarkeit von Verschiedenem stellt sich aber bereits im ersten Unterabschnitt. Weder Aristoteles noch Marx sind der Ansicht, »daß es Tausch nicht geben könne ohne Gleichheit der Getauschten«, wie Lange (1978: 10) meint. Vielmehr unterscheiden beide zwischen Tausch, der ein fundamentum in re hat, und solchem, bei dem dies nicht der Fall. Dass reine Gebrauchswerte, weil an sich inkommensurabel, nicht äquivalent getauscht werden können, sieht Ruben (1977: 46) durch den Händewechsel [!] von Schuhen und Brötchen widerlegt.

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ist der Wert. Der Wert einer Ware ist bestimmt durch das in ihr inkorporierte Quantum der wertbildenden Substanz Arbeit überhaupt. Wert und Wertsubstanz sind zunächst noch nicht unterscheidbar.389 Im Begriff der Wertsubstanz Arbeit überhaupt ist offenbar von aller Besonderheit der konkreten Arbeiten abstrahiert. Darüber, wie diese Abstraktion zu verstehen ist und welchen begrifflichen Status demzufolge ›Arbeit überhaupt‹ hat, besteht bereits Uneinigkeit. Zwei Beispiele: Nach Habermas analysiert Marx die Ware »mit Hilfe des Hegelschen Begriffs der Abstraktion«. Nach Wolf gibt er »gedanklich in seinem Kopf wieder, was tatsächlich in der von ihm analysierten gesellschaftlichen Wirklichkeit der Fall ist.« Nach Habermas bereitet Marx’ Vorgehen »uns heute Schwierigkeiten, weil wir die nicht-rekonstruierten Grundbegriffe der Hegelschen Logik nicht unbesehen verwenden können« (Habermas 1981: I 477). Nach Wolf ist Marx’ Vorgehen »aufgrund dessen berechtigt, was in der von ihm analysierten Austauschbeziehung sich abspielt« (Wolf 2008: 156 f.) Nach Habermas verbietet sich vor dem Hintergrund des linguistic turns der unmittelbare Rückgriff auf Hegel. Nach Wolf greift Marx gar nicht auf Hegel zurück, sondern bedient sich der »Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten«, die »von allen Philosophen und Wissenschaftlern angewandt wird«, wenn auch nicht immer in konsequenter Weise (Wolf 2008: 35; 37)390. Beide Autoren können bzw. könnten sich auf marxsche Formulierungen berufen, Habermas auf unbestreitbare Hegelianismen, Wolf auf verschiedene Anmerkungen zur Rolle der Abstraktion in der Politischen Ökonomie und ihrer Kritik.391 Obwohl beide Autoren im Hinblick auf die Abhängigkeit des Kapi­ tals von der hegelschen Philosophie einander entgegengesetzte Positionen vertreten, hat ihre Argumentation im Hinblick auf den begrifflichen Status von ›Arbeit überhaupt‹ (und den aller tragenden Begriffe der Kapitalkritik) dieselbe Konsequenz: er bleibt eine Leerstelle. Habermas zufolge kann er nicht bestimmt werden, solange seine hegelianischen Voraussetzungen nicht mit den Mitteln der analytischen Sprachphilosophie rekonstruiert sind. Wolf zufolge erklärt er sich zwar vollständig aus dem richtigen Verständnis der von Marx praktizierten Methode, seine Beschreibung dieser Methode vermag aber nicht zu überzeugen. »Wenn Marx im Nachvollzug der Gleichsetzung und der mit ihr einhergehenden Abstraktion auf das ›Dritte‹ stößt, das den als Gebrauchswerten 389 Weshalb Marx im Wertform-Anhang der Erstausgabe auch von »Arbeitssubstanz« (K I1 643) spricht. 390 Dass diese Methode »von allen« angewandt wird, ist eine leere Behauptung, solange die Termini ›Abstraktes‹, ›aufsteigen‹, ›Konkretes‹ im Hinblick auf die verschiedenen Philosophen unbestimmt bleiben. Würden sie bestimmt, entfiele sofort der Grund für die Behauptung. 391 Vgl. bspw. K I² 66/12; ÖM III 759.

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voneinander verschiedenen Arbeitsprodukten ›gemeinsam‹ ist«, dann sei das »die notwendige Bedingung für das, was der Wert ist«. Die »hinrei­ chende Bedingung« bestehe »darin, dass die als Gebrauchswerte voneinander verschiedenen Arbeitsprodukte in der Eigenschaft ein Arbeitsprodukt zu sein, aufeinander bezogen sind und dadurch in dieser Eigenschaft als gesellschaftlich allgemeine gelten«. (Wolf 2008: 153) Tatsächlich findet kein ›Nachvollzug der Gleichsetzung‹ sachlich verschiedener Arbeitsprodukte statt, in dem Marx ›auf den Wert stößt‹. Wie eben gezeigt, erweckt Marx zwar den Eindruck, die zu konstatierende faktische Gleichsetzung verschiedenartiger Gebrauchswerte im gesellschaftlichen Austausch erlaube bereits die Feststellung, dass es sich bei ihnen nicht nur um bloße Gebrauchswerte handele. Marx stößt hier aber nicht auf ihr Wertsein, er setzt es vielmehr voraus. Er stößt nicht darauf als auf etwas Existierendes, sondern unterstellt es als notwendige Bedingung objektiv bestimmten Äquivalententauschs. Dass den sachlich verschiedenen Arbeitsprodukten ihre Vergleichbarkeit als objektive Bestimmtheit: als ihr Wertsein, zukommt, ist zu Beginn des Kapitals vorausgesetzt, nicht begründet. Der Begriff des Werts oder der Wertsubstanz Arbeit überhaupt resultiert zu Beginn des Kapi­ tals nicht aus einer wie auch immer gearteten Abstraktion, sondern aus der Reflexion auf die notwendigen Bedingungen objektiv bestimmten Äquivalententauschs. Diese Reflexion ist vermittelt durch die Kritik der politischen Ökonomie. Mit dem Begriff der Wertsubstanz Arbeit überhaupt zitiert Marx eine Bestimmung der Politischen Ökonomie Adam Smiths in die Darstellung. »Es war ein ungeheurer Fortschritt von Ad. Smith jede Bestimmtheit der Reichthumzeugenden Thätigkeit fortzuwerfen – Arbeit schlechthin, weder Manufactur-, noch commercielle, noch Agriculturarbeit, aber sowohl die eine wie die andre. Mit der abstrakten Allgemeinheit der Reichthumschaffenden Thätigkeit nun auch die Allgemeinheit des als Reichthum bestimmten Gegenstandes, [...] wieder Arbeit überhaupt, aber als vergangne, vergegenständlichte Arbeit.« (EKPÖ 39/38) ›Wertsubstanz Arbeit überhaupt‹ bezeichnet zu Beginn des Kapitals eine spekulative Voraussetzung der Erklärung des Kapitals. Nun muss nicht jeder spekulativen Voraussetzung ein Sachverhalt korrespondieren. Es könnte scheinen, so Marx weiter, als ob Smith damit nur den »abstrakte[n] Ausdruck für die einfachste und urälteste Beziehung gefunden, worin die Menschen – sei es in welcher Gesellschaftsform immer – als producirend auftreten«. Das sei einerseits richtig, andererseits aber nicht. »Die Gleichgültigkeit gegen die bestimmte Arbeit entspricht einer Gesellschaftsform, worin die Individuen mit Leichtigkeit aus einer Arbeit in die andre übergehn und die bestimmte Art der Arbeit ihnen zufällig, daher gleichgültig ist. Die Arbeit ist hier nicht nur in der Categorie, sondern in der Wirklichkeit als Mittel zum Schaffen des Reichthums überhaupt 408

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geworden, und hat aufgehört als Bestimmung mit den Individuen in einer Besonderheit verwachsen zu sein.« (EKPÖ 39/38 f.) Als spekulative Voraussetzung der Erklärung des Kapitals bezeichnet der Begriff der Wertsubstanz Arbeit »ein blosses Gespenst – die Arbeit, die nichts als eine Abstraction ist und für sich genommen überhaupt nicht existirt« (K III 843/823). Als dieses Abstraktum kann er keine objektive Geltung beanspruchen.392 Die Feststellung, das ›gemeinsame Dritte‹ sei ein Gedachtes, ist daher durchaus richtig, wenn sie sich nicht schon als Einwand versteht. Denn wenn der Wert als ein Erschlossenes auch ein Gedachtes ist, dem in der unmittelbaren Erfahrung kein Gegenstand korrespondiert, so muss er deshalb nicht ein Ausgedachtes sein. Dass er mehr ist als ein nur Ausgedachtes, kann sich aber erst im Resultat der Argumentation erweisen. Von dort ist zu fragen, ob der so eingeführte Wertbegriff das theoretische Problem lösen hilft, zu dessen Lösung er eingeführt wurde. Marx hat schon früh, in der Kritik von Proudhons hegelianisierender politischer Ökonomie, die Realität der Abstraktion Arbeit überhaupt unter Verweis auf die Industrie behauptet. »Die Zeit ist alles, der Mensch ist nichts mehr, er ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit. [...] Die Quantität allein entscheidet alles: Stunde gegen Stunde, Tag gegen Tag; aber diese Gleichmachung der Arbeit ist keineswegs das Werk von Herrn Proudhons ewiger Gerechtigkeit. Sie ist ganz einfach ein Ergebnis der modernen Industrie.« (EP 255/85)393 Im Kapital thematisiert er die reale Reduktion der Arbeit auf die Anwendung einfacher Arbeitskraft in den Kapiteln über die ›Methoden der Produktion des relativen Mehrwerts‹, wo er die notwendigen gegenständlichen Bedingungen der Kapitalverwertung abhandelt und zeigt, wie in einem historischen Prozess durch die Umgestaltung der materiellen Voraussetzungen der Produktion diese zunehmend unabhängig wird von den besonderen Fähigkeiten der einzelnen Arbeitskräfte. Deren Austauschbarkeit vor der Produktionstechnik verwandelt die Arbeit in die Anwendung abstrakter Arbeitskraft. »Arbeit sans phrase« (EKPÖ 39/39) in der Bedeutung der Austauschbarkeit der Arbeitskräfte vor der Maschinerie und der Gleichgültigkeit des Kapitals gegen die besondere Geschicklichkeit und lebensgeschichtlich erworbene Erfahrung der Arbeitskräfte wird historisch wahr mit der großen Industrie. Die in der Warenanalyse vorausgesetzte Wertsubstanz Arbeit überhaupt ist mit der Darstellung der gegenständlichen Bedingungen der 392 Wenn Reichelt (1970: 155) kritisiert, dass der Anfang des Kapitals »die Form der Versicherung« habe, kritisiert er am Anfang, dass er Anfang ist und nicht schon die durchgeführte Darstellung. 393 Marx, zu dieser Zeit ökonomisch noch Ricardianer, stützt sich auf Erkenntnisse der Politischen Ökonomie über arbeitsteilige manufakturelle Produktionsprozesse.

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Produktion des relativen Mehrwerts begründet als Austauschbarkeit der Arbeitskräfte vor dem Produktionsprozess des Kapitals. Nun ist aber die Abstraktheit der Arbeit, die allein in der technischen Gestalt der Produktion gründet, ebenso wenig kapitalspezifisch wie die Maschinerie als solche. Sie bestimmt die Arbeit nicht zur wertbildenden Substanz, sondern zur Anwendung von einfacher Durchschnittsarbeitskraft.394 Diese ist eine notwendige Bedingung der wertbildenden Arbeit, aber nicht mit ihr identisch.395 Verausgabung von Arbeitskraft in der Zeit ist nur dann wertbildend, wenn die Arbeitskraft selbst Wert ist. Genauer: Erst wenn die Arbeitskraft eine Ware ist, auf die bezogen der Unterschied von Wert und Gebrauchswert reduziert ist auf den quantitativen Unterschied ihrer gesellschaftlich notwendigen Reproduktionskosten und ihrer profitablen Anwendung durchs Kapital, erst dann hat die Wertschöpfung im Wert des für die Arbeitskraft ausgelegten variablen Kapitals ein Maß. Der Begriff der Ware Arbeitskraft ist aber in der Warenanalyse noch nicht eingeführt.396 Das historische Verdienst Smiths sieht Marx darin, dass er ›Arbeit überhaupt‹ als das Prinzip entdeckt hat, das der Produktion des Reichtums in der modernen bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegt. Allerdings deutet Smith mehr auf dieses Prinzip, als dass er es zufriedenstellend begründet.397 Im Kapital erfordert diese Begründung den Gang durch die drei Bände. Unmittelbar betrachtet hat der zu Beginn eingeführte Begriff des Werts bzw. der Arbeit überhaupt, keine objektive, sondern nur regulative Geltung. Zu Beginn des Kapitals ist die gegenteilige Behauptung: es gebe keine objektiv bestimmten Austauschrelationen, noch nicht widerlegt. Der zu beobachtenden faktischen Gleichsetzung von sachlich Verschiedenem im gesellschaftlichen Austausch muss 394 Vgl. K I² 77/59; ZKPÖ 110/18. 395 Vgl. ÖM IV 1322. 396 Im strengen systematischen Sinne gilt: Kein Wert ohne Mehrwert. »Es könnte scheinen, terminus ad quem der ersten drei Kapitel des Kapitals sei die Begründung eines objektiven Begriffs von Ware, Wert und Geld.« Tatsächlich enthalten die ersten Kapitel »keine vollständige Wert- und Geldtheorie, sondern bilden den Anfang der Begründung des sich selbst verwertenden Werts, oder des Mehrwerts des industriellen Kapitals«. (Kuhne 1995: 20). Dieser Sachverhalt wird ignoriert, wenn gefragt wird, inwiefern die marxsche Werttheorie als ›monetär‹ oder ›prämonetär‹ zu verstehen sei (vgl. III,6.4.1). 397 Die Bestimmungen der vormarxschen Politischen Ökonomie haben nicht nur eine Bedeutung, weil und insofern sie durch die Kritik der politischen Ökonomie in einen systematischen Zusammenhang gebracht sind, sondern haben daneben auch ihr historisches Recht: vgl. K III 725/792; ÖM III 816; ÖM IV 1330. Smiths für die entwickelte kapitalistische Produktionsweise falscher Bestimmung von Ware und Wert gesteht Marx in den Grundrissen ein historisches Recht zu: Gr 101 f./102.

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nicht notwendig ein objektiver Wert zugrunde liegen. Sie kann ebenso »›Nothbehelf für das praktische Bedürfniß‹« (Aristoteles nach Marx: K I² 91/74) sein, und ›Wert‹ kann eine bloße Bezeichnung der mannigfachen und zufälligen Austauschverhältnisse des Arbeitsprodukts darstellen (Bailey nach Marx: vgl. ÖM IV 1319).398 (2) Die Einführung des Begriffs der Ware Arbeitskraft: Dass Waren in objektiv bestimmten Relationen äquivalent getauscht werden, ist als spekulative Voraussetzung in den Schluss auf das tertium comparationis des Austauschs eingegangen. Diese Voraussetzung muss begründet werden, wenn die Theorie des Kapitals nicht auf einer bloßen Behauptung basieren soll. Die Beziehung der Wertsubstanz Arbeit überhaupt auf ihren Grund ist in der Wertformanalyse paradox dargestellt als Inkarnation des Abstraktums im partikularen Gegenstand. Die Darstellung der Wertform scheint damit das positivistische Verdikt zu bestätigen, Dialektik sei eine »irrationale Methode« (Becker 1972: 48; 64 ff.). Fungiert die Leinwand als allgemeines Äquivalent, gilt »ihre Körperform […] als die sichtbare Inkarnation, die allgemeine gesellschaftliche Verpuppung aller menschlichen Arbeit« (K I² 98/81).399 Das, was der Sache nach notwendig abstrakt ist, weil erschlossen, wird als Ding dargestellt. Das Wertsein der Arbeitsprodukte ist erschlossen als notwendige Bedingung objektiven Äquivalententauschs. Der Begriff der Wertsubstanz ist bislang eine Abstraktion, ohne Korrelat in der Erfahrung. Behauptet ist jetzt aber, dass ihm in der Erfahrung etwas korrespondiert. Das Abstraktum ist ein Negatives gegen die Totalität der verschiedenartigen Naturalformen. Als solches kann es nicht in einer besonderen Naturalform erscheinen. Die Wertsubstanz ist als Negatives gegen die Totalität der konkreten Arbeiten Begriff der intensionalen Totalität dieser Arbeiten, welcher bezeichnet, worin sie gleich sind. Die allgemeine Wertform stellt die Totalität der wechselseitigen Tauschrelationen der Gegenstände 398 Die objektive Geltung des Wertbegriffs bzw. des Begriffs der Arbeit überhaupt ist nicht durch Verweis auf bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse darzutun, sollen diese durch den Begriff doch allererst begreifbar werden. Nach Wolf (2008: 158) bezeichnet Marx’ Formulierung, dass die »Dinge nur noch darstellen, dass in ihrer Produktion menschliche Arbeitskraft verausgabt wurde«, eine »Geltung erzeugende Beziehung«, die sich »nur durch die gesellschaftliche Beziehung ergeben« könne. Nur in dieser könne »der Gegenstand in seiner Eigenschaft, ein Arbeitsprodukt zu sein, die von ihr selbst verschiedene, gesellschaftliche Bedeutung erhalten, ein gesellschaftlich Allgemeines zu sein«. 399 »Der Begriff des Reichthums ist so zu sagen in einem besondren Gegenstand realisirt, individualisirt.« (Gr 145/147). Vgl. ZKPÖ 215/130 f.: »Da die bürgerliche Produktion aber den Reichthum als Fetisch in der Form eines einzelnen Dings krystallisiren muß, sind Gold und Silber seine entsprechende Inkarnation.«

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dar als »zahllose[] Gleichungen« (K I² 98/81), worin eine besondere Naturalform der Totalität aller anderen gleichgesetzt wird. Sie ist Begriff der extensionalen Totalität der quantitativ bestimmten Tauschrelationen partikularer Gegenstände. Weder die extensionale Totalität der Relationen partikularer Gegenstände noch die intensionale der Arbeit überhaupt können erscheinen. Der Irrwitz der Inkarnation zeigt an, dass die Vermittlung von Sub­ stanz und Form des Werts aus den Bestimmungen der einfachen Zirkulation nicht zu konstruieren ist. Der Grund des aus den gegebenen Tauschrelationen erschlossenen Wertbegriffs liegt nicht in diesen Relationen selbst,400 noch ist der Wertbegriff causa sui. Sein Grund liegt im kapitalistischen Verwertungsprozess. Die Bestimmungen von Ware und Geld werden rekursiv zurückgeführt auf die Produktion des Mehrwerts, aus dessen Erscheinen als Profit in der Zirkulation sie erschlossen sind. Die systematisch zentrale Passage ist in einer Fußnote versteckt: »Die Kapitalbildung muß möglich sein, auch wenn der Waarenpreis gleich dem Waarenwerth. Sie kann nicht aus der Abweichung der Waarenpreise von den Waarenwerthen erklärt werden.« (K I² 182 Anm. 37/180 Anm. 37) Soweit Mehrwert aus der Zirkulation entspringt, basiert er nicht auf Äquivalententausch, sondern auf Umverteilung vorhandener Werte. Umverteilung erklärt den Mehrwert in seiner historischen, vorkapitalistischen Form: als Profit des Handelskapitals, nicht aber den des industriellen Kapitals. Die Annahme von nichtäquivalentem Austausch kann den industriellen Mehrwert nicht erklären. Es gibt aber den Mehrwert – allgemeiner: den Profit des industriellen Kapitals. Also muss Äquivalententausch unterstellt werden. Die Erklärung des industriellen Mehrwerts aus nichtäquivalentem Tausch ist prinzipiell unmöglich; die auf der Basis des Äquivalententauschs führt auf einen Widerspruch, dessen Lösung die Sphäre der einfachen Zirkulation transzendiert. Mit der ersten Erklärung ist die Kapitaltheorie am Ende, kaum dass sie begonnen hat. Die zweite führt auf den Widerspruch, wonach Kapital in der Zirkulation und zugleich nicht in ihr entspringen muss. Gelöst wird dieser Widerspruch durch die Einführung einer wesentlich neuen Bestimmung, nämlich des Begriffs der Ware Arbeitskraft. Zu betonen, dass es sich um die Einführung eines Begriffs handelt und bei diesem Begriff um eine wesentlich neue Bestimmung, ist angeraten, denn das Gros der Interpreten wird beidem nicht gerecht. Zwar ist richtig: Nach Marx wird die Ware Arbeitskraft vom Geldbesitzer und künftigen Kapitalisten auf dem Markt »vorgefunden« (Fischer 1978: 124) – aber der Geldbesitzer findet eben nur die Arbeitskraft als Ware und nicht den Begriff der Ware Arbeitskraft vor, und allein um diesen und seine 400 Dies gegen Sohn-Rethel (1971: 112), dem zufolge »der Ursprung der Warenabstraktion« »rein relationaler Natur« ist.

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Einführung geht es an dieser Stelle. Richtig ist auch, dass Marx anders als die Politischen Ökonomen vor ihm zwischen Arbeit und Arbeitskraft bzw. Arbeitsvermögen unterscheidet,401 aber auch dies beantwortet nicht die Frage, wie deren Begriff eingeführt wird und welche Geltung er in dem Kontext, in dem er eingeführt wird, hat.402 Der Begriff der Ware Arbeitskraft ist eine wesentlich neue Bestimmung insofern, als er nicht, wie es in den Grundrissen hegelisch heißt, dem Geld in seiner »vollendeten Bestimmung« als »allgemeine Form des Reich­ thums« und »materieller Repräsentant des allgemeinen Reichthums« entspringt, das »nun nach allen Seiten als ein Widerspruch [erscheint], der sich selbst auflöst; zu seiner eignen Auflösung treibt« (Gr 157/160). Auch der Widerspruch, wonach Kapital in der Zirkulation und zugleich nicht in ihr entspringen muss, ›treibt‹ keineswegs zu ›seiner eignen Auflösung‹. Vielmehr wird der Begriff der Ware Arbeitskraft erschlossen als tertium comparationis von Zirkulations- und Produktionssphäre. Der Schluss auf die Ware Arbeitskraft transzendiert die Sphäre der einfachen Zirkulation. Er setzt die Zirkulation als Totalität der Ware-Geld-Beziehungen herab zu einer partikularen Sphäre des kapitalistischen Gesamtproduktionsprozesses, indem er die zwei Seiten des Widerspruchs auf ihren Grund: die produktive Konsumtion der lebendigen Arbeit durch das Kapital bezieht. »Dieser ganze Verlauf, die Verwandlung seines [des Kapitalisten] Geldes in Kapital, geht in der Cirkulationssphäre vor und geht nicht in ihr vor. Durch die Vermittlung der Cirkulation, weil be­ dingt durch den Kauf der Arbeitskraft auf dem Waarenmarkt. Nicht in der Cirkulation, denn sie leitet nur den Verwerthungsproceß ein, der sich in der Produktionssphäre zuträgt.« (K I² 207/209) Im Gesamtreproduktionsprozess des industriellen Kapitals sind Zirkulation und Produktion durch die Ware Arbeitskraft aufeinander bezogen. Wie jede andere Ware wird sie in der Zirkulation gehandelt. Dies aber nur zu dem Zweck des 401 Vgl. Heinrich (2006: 258 f.). Nach Heinrich (ebd. 177) wird »die Existenz der Arbeitskraft als einer Ware« bei der »dialektischen Entwicklung« »zunächst nur vorausgesetzt. Die historischen Prozesse, die zu dieser Voraussetzung« führten, würden in den historischen Abschnitten des Kapitals betrachtet, seien also nicht Bestandteil der dialektischen Darstellung. Nach Narski (1969: 69) lässt sich »nur im empirischen Bereich« die Antwort darauf finden, »was eigentlich die Ware ist, deren Gebrauchswert neue Werte erzeugt«. Gefordert sei »die Erforschung der empirischen Fakten«. 402 Die Problematik verfehlt vollends, wer den Widerspruch, wonach Kapital »zugleich in ihr [der Zirkulation] und nicht in ihr entspringen muß«, als eine »Problemantinomie« auffasst. Der von Narski (1969) eingeführte Terminus soll Antinomien bezeichnen, die nur »didaktische« bzw. »darstellungstheoretische« Funktion besitzen. Er ist attraktiv für Interpreten, die Marx vom Verdacht des Hegelianismus freisprechen möchten: Kocyba (1979: 95; 152 f.); Elbe (2008: 201).

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Verkaufs an den Kapitalisten und ihrer produktiven Konsumtion im unmittelbaren Produktionsprozess. 5.3.2. Die ästhetische Dimension der Darstellung Wie gesehen, impliziert die rekursive Struktur der systematischen Darstellung den Unterschied von Theorie-Subjekt und realem Subjekt als einen nicht aufzuhebenden. Das Merkmal der Rekursivität unterscheidet sie vom hegelschen ›Kreisgang‹, das der Systematizität grenzt sie von der seit Engels kursierenden Auffassung einer logischen Entwicklung als ›Widerspiegelung‹ der historischen ab. Die Darstellung ist aber auch nicht als deduktiv apriorisches System im fichteschen Sinne misszuverstehen. Die rekursiv eingeführten notwendigen Bedingungen der Verwertung des Werts sind alle historisch. Systematische Bedeutung haben sie aufgrund ihres logischen Orts innerhalb des Begriffs des Kapitals, unabhängig davon haben sie aber auch eine spezifisch historische Bedeutung. Dass die Darstellung nicht kontinuierlich und homogen, sondern Einheit von Kontinuität und Diskontinuität ist, und ›Brüche‹ in ihr daher nicht vermeidbare Inkonsistenzen oder Verstöße gegen eine vorgängige Methode, ist, wie gezeigt, der Rekursivität der Darstellungsstruktur geschuldet, die von der Struktur des Dargestellten differiert. Durch die Abgrenzung vom idealistischen Systemdenken, sei es hegelscher oder eher fichtescher Art, ist die Darstellung im Kapital aber nur unzureichend charakterisiert. Es gilt nämlich zu begreifen, dass im Kapital das Systematische der Darstellung keineswegs ausschließt, dass diese auch rhapsodischen Charakter besitzt, ohne dass dies ihren Geltungsanspruch tangieren würde. Der rhapsodische Charakter der Darstellung rührt daher, dass sie keine rein diskursive Darstellung ist, sondern abhängig ist von nicht-diskursiven, ästhetischen Mitteln. Die Charakterisierung von Kapitalist und Arbeiter als »dramatis personae« (K I² 191/191), »ökonomische Charaktermasken« bzw. »Personifikationen ökonomischer Verhältnisse« (K I² 114/100) ist ein solches Mittel. Ein anderes ästhetisches Mittel ist das Zitieren von Material in der diskursiven Darstellung. Dieses Material hat verschiedenen Charakter. Es handelt sich zum einen um die ökonomischen Kategorien ›Wert‹ (›Tauschwert‹), ›Arbeit überhaupt‹, die nicht auseinander deduziert, sondern in der Darstellung zitiert werden,403 zum anderen um 403 Zur Vermeidung von Missverständnissen: Die These, der Begriff des Werts (der Wertsubstanz Arbeit überhaupt) sei »erschlossen« als eine notwendige Bedingung objektiv bestimmten Äquivalententauschs, charakterisiert die Einführung des Wertbegriffs im Hinblick auf seine Geltung. Unmittelbar hat er nur regulative Geltung. Die These, der Begriff werde in der Darstellung ›zitiert‹, richtet sich gegen die hegelianisierende Auffassung, die Darstellung

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›logisches Material‹,404 nämlich um logische Strukturen des Absoluten im Sinne von Hegels Wissenschaft der Logik, die auf die Darstellung ökonomischer Sachverhalte übertragen werden, bevor sie in der Darstellung der Ökonomie selbst gerechtfertigt werden können. Drittens handelt es sich um historiographisches Material, um historische Fakten und Ereignisse, um Statistiken, Auszüge aus den Berichten der Fabrikinspektoren (›blue books‹), aus Wahlreden und Predigten usw. Dass dieses heterogene Material Eingang in das Kapital gefunden hat, ist auch motiv- und ideengeschichtlich angelegten oder der ›wissenschaftlichen Weltanschauung‹ des Historischen Materialismus verpflichteten Interpreten nicht entgangen. Sie vermögen darin aber kaum mehr zu sehen als eine ›Illustration‹ oder eine ›Erhärtung‹ des begrifflich Dargestellten. Nun ist das Material als Illustration bloßes Beiwerk der Argumentation, soll es diese aber erhärten, so ist es für sie konstitutiv. Die beiden Thesen schließen sich also wechselseitig aus. Dennoch werden sie bisweilen auch verbunden. Schon Engels war der skurrilen Auffassung, Marx’ Methode der »logische[n] Entwicklung« halte sich nicht »im rein abstrakten Gebiet«, sondern bedürfe im Gegenteil »der historischen Illustration, der fortwährenden Berührung mit der Wirklichkeit« (KM 477). Wenn die historische Illustration die abstrakte Überlegung allererst zu einer sachhaltigen Überlegung werden lässt, dann ist zu fragen, in welchem Geisterreich der produktiven Einbildungskraft sich die abstrakte Überlegung unabhängig von der Illustration herumtreibt. Georg Lohmann argumentiert anders. Ihm zufolge enthalten diese Passagen keine bloßen Beschreibungen von historischen Ereignisfolgen, sondern »eine argumentativ-erzählende Geschichtsschreibung«. Diese erzähle »die Geschichte der mit spezifischen Ereignissen der Kapitalkonstitution verknüpften normativen Ansprüche der Beteiligten, die in ihren Lebensformen ›verkörpert‹ sind«. Indem sie den Kampf wechselseitig sich widersprechender Ansprüche »aus der Perspektive der Selbstinterpretation der Beteiligten« retrospektiv darstelle, entwickele sie »die nur faktisch-historisch auffindbaren Gründe für ein Urteil über das Kapital«. (Lohmann 1991: 78 f.)405 Lohmann entwickelt diese Auffasim Kapital habe die Form einer immanenten Deduktion der ökonomischen Kategorien. 404 Der Ausdruck findet sich in Engels’ Rezension von Zur Kritik der Politi­ schen Ökonomie, wo er aber eine andere Bedeutung hat: Die Methode Hegels sei trotz ihrer idealistischen Form »von allem vorliegenden logischen Material[] das einzige Stück« gewesen, »an das [von Marx] wenigstens angeknüpft werden konnte« (KM 473). 405 Nach Çidam (2012: 201) stellt Marx das Kapital in den historiographischen Passagen »als eine natürliche Sittlichkeit« dar. Der Ausdruck erinnert nicht zufällig an Hegel, denn Çidam zufolge ist dessen Dialektik der Anerkennung der immanente Maßstab der Kapitalkritik, weshalb diese nur durch

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sung vor dem Hintergrund seiner allgemeinen These, wonach Marx im Kapital eine immanente Kritik des normativen Selbstverständnisses der kapitalistischen Gesellschaft bezwecke, deren normativer Maßstab aber letztlich nur durch deren Übersteigung gerechtfertigt werden könne. Die Kapitalkritik sei deshalb eine »immanent ansetzende, transzendierende Kritik«, und die Funktion der historiographischen Passagen bestehe darin, eine transzendierende und historisch situierte Kritik zu leisten (Lohmann 1991: 79; 69). Diese These ist falsch, wie bereits gezeigt (Einleitung 1). Lohmanns Interpretation der historiographischen Passagen ist daher verfehlt, seine grundlegende Intuition aber, diese Passagen seien konstitutiv für die Kapitalkritik, ist richtig. Die Notwendigkeit der historiographischen Passagen resultiert aus einem doppelten Unvermögen der rein diskursiven Darstellung: Weder kann sie den Gegenstand theoretisch angemessen darstellen, noch kann sie ihn als einen präsentieren, der aus der Perspektive reiner praktischer Vernunft der Kritik verfällt. Dies gilt für den Einsatz ästhetischer Mittel insgesamt. Diese ästhetischen Mittel sind für die Darstellung konstitutiv. Die Darstellung im Kapital hat notwendig auch eine nicht-begriffliche, ästhetische Dimension.406 Ohne den Einsatz ästhetischer Mittel wäre sie ihrem Gegenstand weder angemessen noch könnte sie ihn als zu kritisierenden präsentieren. Die Funktion der ästhetischen Mittel sei im Folgenden an drei zentralen Passagen des Kapitals erläutert: Dem Übergang von der Waren- zur Wertformanalyse (1), dem Kapitel über den Arbeitstag‹ (2) und dem über die so genannte ursprüngliche Akkumulation (3). Gemeinsam ist diesen Passagen, dass die Darstellung jeweils auf das ästhetische Mittel des Zitierens von Material angewiesen ist. Dabei ist das Material aber jeweils verschiedener Art. Der Übergang von der Waren- zur Wertformanalyse zitiert eine im hegelschen Sinne logische Struktur, die Kapitel ›Der Arbeitstag‹ und ›Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation‹ zitieren historiographisches Material. (1) Der Übergang von der Waren- zur Wertformanalyse: Wie oben (5.2.) gezeigt, ist die Ware im Wertform-Abschnitt nicht länger als Ding, sondern als Subjekt thematisch. Marx entwickelt die Wertform nicht aus den zuvor thematisierten Bestimmungen, sondern führt sie dogmatisch ein als Subjektivitätsstruktur. Relative Wertform und Äquivalentform sind als ›Momente‹ einer identischen Beziehung, nämlich desselben eine Parallellektüre der Phänomenologie angemessen zu interpretieren sei. Çidam imputiert der Kapitalkritik das »Vernunftkonzept« Hegels, um dieses dann am Ende als »metaphysisch« begründet zu kritisieren (248). 406 Bies und Mengaldo (2020: 11) bemerken ein zunehmendes Interesse an den »konkreten stilistischen, rhetorischen und poetologischen Charakteristika« des Kapitals.

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Wertausdrucks, bestimmt. Dies muss ebenso irritieren wie der methodische Hinweis, die Leinwand selbst sage in der Beziehung zum Rock alles, »was uns die Analyse des Waarenwerths vorher sagte« (K I² 85/66). Eine dritte, bislang nicht erwähnte Irritation provoziert Marx’ Fazit der Waren- und Wertformanalyse. Demnach war das »entscheidend Wichtige«, »den inneren nothwendigen Zusammenhang zwischen Werthform, Werthsubstanz und Werthgrösse zu entdecken, d.h. ideell ausgedrückt, zu beweisen, dass die Werthform aus dem Werthbegriff entspringt.« (K I1 43) »Unsere Analyse bewies, daß die Werthform oder der Werthausdruck der Waare aus der Natur des Waarenwerths entspringt, nicht umgekehrt Werth und Werthgröße aus ihrer Ausdrucksweise als Tauschwerth.« (K I² 92/75) Dieses Fazit scheint geradezu widersinnig, hat doch die Betrachtung der marxschen Argumentation gezeigt, dass sie keine Begründung des »inneren nothwendigen Zusammenhangs« von Sub­ stanz und Form enthält.407 Substanz und Form des Werts können al­ lein aufgrund der Warenbestimmungen nicht in einen Begründungszusammenhang gestellt werden. Substanz- und Formbegriff bezeichnen notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen objektiv bestimmten Äquivalententauschs. Die unterschiedliche Thematisierung der Ware zunächst als Ding und dann als Subjekt, die unterschiedlichen Perspektiven auf die Ware, wie sie zunächst ›für uns‹ ist und wie sie dann sich selbst darstellt, stehen bislang unvermittelt nebeneinander. Zwar ist richtig: »Waaren sind Sa­ chen. Was sie sind, müssen sie […] in ihren eignen sachlichen Beziehungen zeigen.« Sie müssen ihr Wertsein im Wertverhältnis zu einer anderen Ware sinnlich ausdrücken, wenn der Wert und seine Substanz, die Arbeit überhaupt, nicht »ein Gedankending« sein sollen. (K I1 30) Philosophisch gewendet: Das Wesen muss erscheinen, es kann nicht als bloße Bestimmungslosigkeit Geltung beanspruchen. Der Zusammenhang von Wesen und Erscheinung ist aber als ein notwendiger zu begründen. Marx erweckt den Anschein, als habe die Darstellung der Wertform dies geleistet. Im Begriff der Arbeit überhaupt sei die allgemeine Bestimmtheit der Arbeitsprodukte, ihre Bestimmtheit als Werte und mithin ihre »Wesensgleichheit« (K I² 91/73), nur »negativ dargestellt als Arbeit, worin von allen konkreten Formen und nützlichen Eigenschaften der wirklichen Arbeiten abstrahirt wird« (K I² 98/81). In der (allgemeinen) Wertform dagegen sei »die im Waarenwerth vergegenständlichte Arbeit nicht nur negativ dargestellt [...]. Ihre eigne positive Natur tritt ausdrücklich hervor. Sie ist die Reduktion aller wirklichen Arbeiten auf den ihnen gemeinsamen Charakter menschlicher Arbeit, auf die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft.« (K I² 98/81 [kursiv d. Verf.]) Alle Waren drückten das 407 Keineswegs enthält sie bereits »eine großartige Synthese der Wertsubstanz und Wertform« (Rubin 1928: 79).

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in ihnen inkarnierte Quantum Arbeit überhaupt aus in der Naturalform derselben Äquivalentware. Indem jede Ware sich auf dasselbe Äquivalent beziehe, beziehe sich jede Ware vermittels dieser Beziehung auf alle anderen. Die Reflexionsbewegung der Waren in allgemeiner relativer Wertform konstituiere so ein in sich geschlossenes System von objektiv bestimmten Tauschrelationen – die »Waarenwelt« (K I² 98/81). Der Begriff der Wertsubstanz Arbeit überhaupt kann nicht als bloße Abstraktion und Bestimmungslosigkeit objektive Geltung beanspruchen. Unmittelbar hat er nur regulative Geltung. Seine objektive Geltung ist nur einzusehen, wenn gezeigt werden kann, wie der Wert die Austauschrelationen bestimmt. Der Wertbegriff muss mit den Austauschrelationen vermittelt werden, aus denen er als notwendige Bedingung objektiv bestimmten Äquivalententauschs erschlossen wurde. Damit ist die erkenntnistheoretische Frage der Adäquanz von Begriff und Gegenstand gestellt. Der Begriff der Arbeit überhaupt und die empirisch gegebenen Austauschverhältnisse der Arbeitsprodukte stehen zueinander im Verhältnis von Begrifflich-Allgemeinem und empirisch bestimmtem Besonderem. Die Bemerkung in der Erstauflage, der »innere nothwendige Zusammenhang« von Substanz und Form des Werts sei dargetan, »ideell ausgedrückt« sei bewiesen, dass »die Wertform aus dem Wertbegriff entspringt« (K I1 43), insinuiert einen Zusammenhang von Allgemeinem und Besonderem, wie er im hegelschen, nicht aber im marxschen Kontext möglich ist. Hegels Lehre, wonach die Unbestimmtheit des Allgemeinen, in dem von aller Besonderheit abstrahiert ist, seine Bestimmtheit ausmacht, der Gedanke des Allgemeinen logisch notwendig den Gedanken seiner Besonderung impliziert, ist eine Pointe der spekulativen Philosophie. Dass Marx auf Hegels spekulative Fassung des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem anspielt, ist nicht als ein bloßes ›Kokettieren mit hegelscher Ausdrucksweise‹ abzutun, das in den weiteren Auflagen fehle. Vielmehr verweisen beide Formulierungen: die vom ›inneren notwendigen Zusammenhang‹ und die, wonach ›ideell ausgedrückt‹ die Wertform aus dem Wertbegriff entspringt, auf das schon erörterte ambivalente und ungeklärte Verhältnis zur hegelschen Philosophie (5.1.).408 Wie oben gezeigt, will Marx die bürgerliche Produktionsweise ›begreifbar‹ machen, indem er leistet, was die Politischen Ökonomen nicht geleistet haben: die Darstellung des ›innren Zusammenhangs der ökonomischen Kategorien‹. Marx kritisiert die ›Architektonik‹ der Politischen 408 Die Auskunft von Heinrich (2008: 264), die Wertform entspringe »nicht aus dem Wertbegriff, sondern aus dem, was der Wertbegriff in wissenschaftlicher Weise zum Ausdruck bringt, nämlich die ›Natur des Warenwerts‹«, erklärt nichts, weil sie die marxsche Ambivalenz gegenüber Hegel nur wiederholt.

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Ökonomie mit quasi hegelschen Argumenten, ohne die Voraussetzungen, die diese Argumente in Hegels Logik haben, subjektiv übernehmen zu wollen oder der Sache nach übernehmen zu können. Er will sie nicht übernehmen, weil er sich als Materialist und das Kapital als ›materialistische Wissenschaft‹ versteht,409 er kann sie nicht übernehmen, weil das Kapital als Theorie der bürgerlichen Produktionsweise, die zugleich Kritik dieser Produktionsweise ist, mit den affirmativen Konsequenzen der spekulativen Philosophie unverträglich ist. Dem Kapital kann nicht Hegels Begriffsauffassung zugrunde liegen. Es kann darum den notwendigen Zusammenhang der Begriffe nicht wie dieser entfalten. Das Prinzip der »bestimmten Negation«, das nach Hegel »das System der Begriffe« (WdL I 49) generiert,410 kann es nicht in Anspruch nehmen. Der Begriff des Werts oder der Wertsubstanz Arbeit überhaupt ist zu Beginn des Ka­ pitals zwar kein diskursiver, durch Inhalt und Umfang bestimmter und von den empirisch gegebenen Austauschverhältnissen ›abgezogener‹ Begriff. Er ist aber auch kein spekulativer Begriff im hegelschen Sinne. Vielmehr ist er einer der Urteilskraft, die auf die notwendigen Bedingungen objektiv bestimmten Äquivalententauschs reflektiert (vgl. II,2.1.). Der Übergang von der Wertsubstanz zur Wertform erfolgt dadurch, dass der Ware eine logische Struktur zugesprochen wird, die aus dem bislang Entwickelten nicht zu rechtfertigen ist (gemessen an dem methodischen Ideal des ›immanenten über-sich-Hinausgehens‹ [Backhaus] der Bestimmungen handelt es sich also um einen ›Bruch‹). Die Wertform als Struktur von Subjektivität im oben skizzierten Sinn wird insofern dogmatisch behauptet. Ihre Entwicklung resultiert in einen widersprüchlichen Begriff des (Gold-) Geldes. Geld ist zugleich partikulare Naturalform und Daseinsweise des Abstraktums Wert (vgl. K I² 98/81). Die Beziehung der Waren in relativer Wertform auf das Gold setzt die Prinzipien der Logik: den Satz der Identität, den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch und den vom ausgeschlossenen Dritten außer Kraft. Geld ist zugleich und in derselben Hinsicht Ding und Nicht-Ding, nämlich gesellschaftliches Verhältnis. Inwiefern diese »Verrücktheit«411 bloß eine der Darstellung ist oder in der darzustellenden Sache begründet, ist aufgrund der Waren- und der Wertformanalyse nicht auszumachen. Natürlich ist zunächst zuzugeben, dass allein die Erwägung, die Verrücktheit 409 Vgl. Marx’ Brief an Kugelmann vom 6. März 1868 (MEW 32: 538 f.): »Er [Dühring] weiß sehr wohl, daß meine Entwicklungsmethode nicht die Hegelsche ist, da ich Materialist, Hegel Idealist.« 410 Dies nicht nur in der Logik und Realphilosophie, sondern auch in der Phä­ nomenologie: dazu Röttges (1976: 54 ff.). 411 »Diese Verrücktheit, die ein bestimmtes gesellschaftliches Productionsver­ hältniß, das sich in Dingen darstellt, als dingliche Natureigenschaft dieser Sachen selbst nimmt, schlägt uns ins Gesicht, wenn wir das erste beste Handbuch der Oekonomie aufschlagen.« (RS 73).

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der Darstellung könnte in der darzustellenden Sache begründet sein, Bedenken hervorrufen muss. Wäre die Verrücktheit in der Sache begründet, müsste diese selbst als eine verrückte gelten. Liefe das nicht zwangsläufig auf die Annahme hinaus, »die kapitalistische Wirklichkeit sei an sich ›falsch‹«? Andererseits ist auch nicht unmittelbar plausibel, wieso diese Annahme im Kontext des Kapitals »grotesk« (Elbe 2015: 368 f.412) sein soll. Muss die kapitalistische Wirklichkeit nicht in irgendeinem, freilich noch genau zu bestimmenden Sinn ›falsch‹ sein, wenn sie Gegenstand der Kritik sein soll und ihre praktische Abschaffung zu fordern ist? Das Resultat der Wertformanalyse ist logisch inkonsistent. Der Irrwitz der Inkarnierung der Wertsubstanz in einer Naturalform ist aber weder eine ›Mystifikation‹ durch Marx, noch ist die These, Geld sei zugleich und in derselben Hinsicht Ding und Nicht-Ding, nämlich gesellschaftliches Verhältnis, eine Mystifizierung der marxschen Argumentation. Der vernünftige Sinn der von Marx dogmatisch behaupteten Struktur der Wertform kann vom terminus ad quem der Darstellung des Kapitals einsichtig gemacht werden. Mit der Aussage, Geld sei im Wertform-Abschnitt zugleich und in derselben Hinsicht als Ding und Nicht-Ding bestimmt, wird nicht behauptet, Marx wolle »das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten für seine Theorie außer Geltung setzen« (Kocyba 1979: 73).413 Vielmehr wird damit in Bezug auf das Geld und die allgemeine Äquivalentform nur ausgesprochen, was schon für den Rock und die einfache Wertform gilt. Über das Äquivalentsein des Rocks heißt es hier, es sei »so zu sagen nur eine Reflexionsbestimmung der Leinwand«, obwohl es gerade »umgekehrt« scheine (K I1 34). »Da aber Eigenschaften eines Dings nicht aus seinem Verhältniß zu andern Dingen entspringen, sich vielmehr in solchem Verhältniß nur bethätigen, scheint auch der Rock seine Aequivalentform […] ebenso sehr von Natur zu besitzen als seine Eigenschaft schwer zu sein oder warm zu halten.« (K I² 89 f./72) Das »quid pro quo« (K I² 88/71), die Verkehrung der Naturalform der Ware zur Wertform näher betrachtet, hat eine vierfache Gestalt. Marx spricht von den vier »Eigenthümlichkeiten der Aequivalentform«: »Gebrauchswerth wird zur Erscheinungsform seines Gegentheils, des Werths«; »Konkrete Arbeit wird zur Erscheinungsform ihres Gegentheils, abstrakt menschlicher Arbeit«; »Privatarbeit wird zur Form ihres Gegentheils, zu Arbeit in unmittelbar gesellschaftlicher Form«; »Der 412 Elbe (2015: 368) sieht in Formulierungen wie »Geld ist zugleich und in derselben Hinsicht Ding und Nicht-Ding, nämlich gesellschaftliches Verhältnis« das Skandalon einer Interpretation, die Marx eine »irrationalistische[] hegelianische[] Sozialontologie« unterstelle. 413 Vgl. Wilde (1991: 290), dessen Verteidigung der Dialektik gegen Popper es allerdings bei dem vagen Hinweis belässt: Marx »clearly felt, that it (the principle of noncontradiction) had limited usefulness when studying a system in motion«.

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Fetischismus der Waarenform ist frappanter in der Aequivalentform als in der relativen Werthform.« (K I1 632 ff.)414 Die Beziehung der Waren in relativer Wertform auf das Gold setzt insofern die Prinzipien der Logik außer Kraft, als sie eine antinomische Form oder Struktur hervorbringt, innerhalb derer dem Goldgeld scheinbar (dass dieser Schein real ist, weil gesellschaftlich hervorgebracht, führt Marx im Fetisch-Kapitel weiter aus) unmittelbar und dinglich eine rein gesellschaftliche Eigenschaft zukommt. Diese Struktur zu leugnen oder durch die Unterscheidung nach »Insoferns, Seiten und Rücksichten« (Hegel) im Interesse einer ›rationalen‹ Darstellung aufzulösen, verfehlte die Pointe der Wertformanalyse. Die ›verrückte‹ Form deutet nämlich voraus auf die noch darzustellende, das heißt zu begründende ›Verrücktheit‹ der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Das in der Wertform-Darstellung enthaltene Quidproquo weist voraus auf das der Konkurrenz, in der die Resultate gesellschaftlicher Mehrwertproduktion notwendig ›verkehrt‹ erscheinen als gegebene Voraussetzun­ gen, und die spezifisch kapitalistischen Formbestimmtheiten der gegenständlichen Arbeitsbedingungen als untrennbar von deren stofflichem Dasein.415 Beide Male verschwindet die »vermittelnde Bewegung« spurlos »in ihrem eignen Resultat« (K I² 121/107).416 Beide Male beruht das verkehrte Bewusstsein darauf, dass von einem eingeschränkten Standpunkt – dem innerhalb des Wertausdrucks der Waren (bzw. innerhalb der Warenwelt) und dem innerhalb der Konkurrenz – nicht die »vermittelnde Bewegung« erkannt wird, sondern nur ihre Resultate betrachtet werden können. Die Darstellung der ›verrückten‹ Form hat die Funktion, den der Ware als Elementarform kapitalistischen Reichtums417 anhaftenden Fetischcharakter zu bezeichnen, bevor dieser aus dem Verwertungsprozess des gesellschaftlichen industriellen Kapitals erklärt werden kann. Der Fetischismus, die »Versubjectivirung der Sachen, die Versachlichung der Subjekte« (ÖM IV 1494), ist allein aufgrund der Bestimmungen der Ware nicht zu erklären. Er gründet im Prozess des gesellschaftlichen industriellen Kapitals, dessen Begriff den des Mehrwerts, in dem das Kapital als Herrschaftsverhältnis offengelegt ist, voraussetzt. Erst mit dem Begriff des gesellschaftlichen industriellen Kapitals ist auch systematisch aufeinander zu beziehen, was in den Kapiteln über Ware und Geld noch unvermittelt nebeneinander gehalten ist: die stofflichen und 414 Der Wertform-Anhang der Erstausgabe zählt im Unterschied zu den folgenden Ausgaben nicht drei, sondern vier Eigentümlichkeiten der Äquivalentform, weil er »den Fetischismus der Waarenform« nicht gesondert abhandelt. 415 Vgl. K III 846 f./832 f. 416 Vgl. K III 834-894/822–883. 417 Vgl. den ersten Satz des ersten Bandes des Kapitals.

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die ökonomischen Bestimmungen – im Fall der Ware die Seite ihrer Naturalform einerseits und die ihrer Wertform andererseits. Anders gesagt: Die idealistische Struktur des Kapitals, der Sachverhalt der Autonomie des gesellschaftlichen Verwertungsprozesses und der Heteronomie der diesen Prozess auch hervorbringenden empirischen Subjekte, wird in der Darstellung bereits dort angedeutet, wo es noch nicht explizit um das Kapital, sondern um die Ware geht. Die Struktur der Ware deutet derart voraus auf die des Kapitals, und sie muss vorausdeuten, wenn sie als Elementarform kapitalistischen Reichtums schon kenntlich sein soll. Sie ›deutet voraus auf die Struktur des Kapitals‹ heißt nicht: Sie enthält im Kern die Kapitalbestimmungen. Marx’ Bemerkung, es sei »schon in der Waare eingeschlossen, und noch mehr in der Waare als Product des Capitals, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Productionsbestimmungen und die Versubjektivirung der materiellen Basen der Production, welche die ganze capitalistische Productionsweise charakterisirt« (K III 897 f./887), ist streng genommen falsch, weil sie die Darstellung als teleologisch beschreibt. Sie führt damit genauso in die Irre, wie die von Marx und Kapital-Interpreten bisweilen bemühte Keimzellen-Metaphorik. Diese wäre nur dann angezeigt, wenn die Darstellung eine ›Entwicklung aus dem Begriff‹ wäre und nicht zwischen der (nicht-idealistischen) Struktur der Darstellung und der (idealistischen) Struktur des Dargestellten unterschieden werden müsste.418 Dass sich Marx darüber hinreichend klar war, muss bezweifelt werden. (2) Der Arbeitstag: Der Kampf um die Regulierung des Arbeitstags steht im Zentrum der Auseinandersetzungen zwischen der Arbeiterbevölkerung und den Kapitalisten in den neu entstandenen Industriezweigen. Er bildet deshalb einen Schwerpunkt der historiographischen Passagen des Kapitals. Sie führen eindringlich vor Augen, wie der gesetzlich noch ungehemmte »Verwertungstrieb« des Kapitals mit der Wucht einer Naturkatastrophe jede »Schranke von Sitte und Natur, Alter und Geschlecht« zertrümmerte. »Selbst die Begriffe von Tag und Nacht, bäuerlich einfach in den alten Statuten, verschwammen so sehr, daß ein englischer Richter noch 1860 wahrhaft talmudistischen Scharfsinn 418 Dies übersehen Autoren, die meinen, Marx leite aus der Ware als ›Keimzelle‹ den ganzen Kapitalismus ab. Ritsert (1973: 13 ff.; 99 f.) kritisiert zu Recht, dass die Keimzellen-Metapher in der Marx-Literatur oft Argumente ersetze. Sie scheint zur Verbildlichung dialektischer Entwicklung wie geschaffen: Marx nennt die einfache Wertform den »Keim der Geldform« (K I² 102/85), sie sei »gewissermassen die Zellenform oder, wie Hegel sagen würde, das An sich des Geldes« (K I1 28 Anm. 16). Bereits Hegel befindet: »Bei philosophischer Betrachtung ist auch der Anfang der Begriff; aber er ist der Inhalt selbst, die absolute Sache, die Substanz, wie es z.B. der Keim ist, aus dem sich der ganze Baum entwickelt.« (PhR 66).

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aufbieten mußte, um ›urtheilskräftig‹ zu erklären, was Tag und Nacht sei.« (K I² 280/294) Aus der Perspektive der Kapitalisten repräsentieren Produktionsmittel, die keine Mehrarbeit ›einsaugen‹, nutzlosen Kapitalvorschuss. Idealiter sollten sie daher 24 Stunden lang jeden Tag des Jahres Arbeit einsaugen, so lange, wie dies technisch überhaupt möglich ist. Diesem Verwertungsinteresse haben die Arbeitskräfte: Männer, Frauen und Kinder, als einzelne nichts entgegenzusetzen, und das »Kapital, das so ›gute Gründe‹ hat, die Leiden der es umgebenden Arbeitergeneration zu läugnen, wird in seiner praktischen Bewegung durch die Aussicht auf zukünftige Verfaulung der Menschheit und schließlich doch unaufhaltsame Entvölkerung so wenig und so viel bestimmt als durch den möglichen Fall der Erde in die Sonne«. Weil das Interesse des einzelnen Kapitalisten nur den Verwertungstrieb des Kapitals repräsentiert, hängt die Lage der Arbeitskräfte im Großen und Ganzen nicht von dessen gutem oder bösem Willen ab. Als gesellschaftliche Macht kann das Kapital nur »durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen« (K I² 273/285) werden, durch eine gesetzliche Regelung des Arbeitstages. Diese wird in einem langwierigen Kampf der Arbeiterklasse allmählich errungen. Die Schilderung des Kampfes um den Normalarbeitstag bedient sich spezifischer ästhetischer Mittel. Das ›Wir‹ der entsprechenden Passagen ist nicht sprachlicher Ausdruck der kollektiven Einheit des Selbstbewusstseins,419 denn diese Passagen enthalten keine Urteile und Schlüsse, denen jedermann aus theoretischen Gründen notwendig zustimmen muss. Vielmehr ist das ›Wir‹ das eines auktorialen Erzählers, der darunter sich und seine Adressaten befasst. Dieser Erzähler macht kommentierend und wertend mit dem historischen Material bekannt. Die Perspektive wechselnd, führt er dem Leser vor, wie die sich verändernde gesellschaftliche Realität von Kapitalisten, Lohnarbeitern und anderen Bevölkerungsgruppen wahrgenommen wird, und wie sie »dem verständigen Beobachter« erscheint. Beispiele aus dem achten Kapitel des ersten Bandes: »Plötzlich aber erhebt sich die Stimme des Arbeiters, die im Sturm und Drang des Produktionsprocesses verstummt war.« (240/247 f.) »Laßt uns nun hören, wie das Kapital selbst dieß Vierundzwanzig-Stundensystem auffaßt. Die Uebertreibungen des Systems, seinen Mißbrauch zur ›grausamen und unglaublichen‹ Verlängerung des Arbeitstags, übergeht es natürlich mit Stillschweigen. Es spricht nur von dem System in seiner ›normalen‹ Form./ Die Herrn Naylor und Vickers, Stahlfabrikanten, die zwischen 600 und 700 Personen anwenden, und darunter nur 10% unter 18 Jahren, und hiervon wieder nur 20 Knaben zum Nachtpersonal, äußern sich wie folgt [Zitat aus dem ›Fourth Report‹ der ›Children’s 419 Vgl. Kant, KrV A 117 Anm.

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employment commssion‹ von 1865]: ›Die Knaben leiden durchaus nicht von der Hitze. Die Temperatur ist wahrscheinlich 86° bis 90° … [usw.]‹.« (264/275) »Wir hörten, wie die Ueberarbeit mit den Bäckern in London aufräumt, und dennoch ist der Londoner Arbeitsmarkt stets überfüllt mit deutschen und andren Todeskandidaten für die Bäckerei.« (270/282) »Was die Erfahrung dem Kapitalisten im Allgemeinen zeigt, ist eine beständige Uebervölkerung, d.h. Uebervölkerung im Verhältniß zum augenblicklichen Verwertungsbedürfniß des Kapitals, obgleich sie aus verkümmerten, schnell hinlebenden, sich rasch verdrängenden, so zu sagen unreif gepflückten Menschengenerationen ihren Strom bildet. Allerdings zeigt die Erfahrung dem verständigen Beobachter auf der andren Seite, wie rasch und tief die kapitalistische Produktion [...] die Volkskraft an der Lebenswurzel ergriffen hat.« (272/284 f.)

In der Tat zeigen viele Passagen Marx als einen »der großen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts« (Hartley 2020: 100), dessen Technik des Zitierens vorausweist auf die literarische Moderne. »Wie in modernistischen Collage- und Montagetechniken zerschneidet, arrangiert und verfugt er strategisch ausgewählte Auszüge aus Fabrikberichten und Werken der politischen Ökonomie, um eine künstlerisch organisierte Polyphonie von Arbeitern, Reformisten und Kapitalisten zu erschaffen, deren Worte er zu einer vernichtenden Anklage gegen das Kapital arrangiert, ohne es jemals (oder zumindest sehr selten) offen zu verurteilen.« (101) Hartleys zutreffende Beobachtung verleitet ihn allerdings zu weitreichenden Schlüssen, denen man nicht folgen muss. Marx inszeniere durch die Vielzahl gegensätzlicher Stimmen eine, mit dem späten Althusser zu sprechen, »Selbstkritik des Realen« (101). Er vermeide so, dass die Kritik der politischen Ökonomie in den bürgerlichen, auf Empfindung beruhenden »moralischen Reformismus« abgleite, der sich in den »Blue Books« finde, oder den »Zynismus« der Politischen Ökonomie adaptiere, die sich frei von den sozialethischen Ambitionen eines Adam Smith zunehmend auf die nüchterne Analyse ökonomischer Phänomene konzentriere. Marx’ »Poetik der Kritik« nutze »die Stärken jeder Position« und entgehe »zugleich ihren ideologischen Beschränkungen« (96). Die These von der poetischen Inszenierung der ›Selbstkritik des Realen‹ harmoniert mit Marx’ demonstrativem Anti-Moralismus. Allerdings kann sie den Eindruck, in solcher Inszenierung artikuliere sich der moralische Impetus des Autors der Kapitaltheorie, nicht korrigieren. Wenn im Kapital die Auszüge aus historischen Quellen oft genug als Mittel der Polemik fungieren, durch die etwas belegt und in eins damit kritisiert wird, und diese Kritik durch den Kommentar des Erzählers noch einmal verstärkt wird; wenn der Erzähler über weite Strecken sarkastisch mit ideologischen Einlassungen der Fürsprecher des Kapitals bekannt macht, dann manifestiert sich darin nicht eine inszenierte Selbstkritik des Realen, die gekonnt die Skylla der Empfindung und die Charybdis 424

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des Zynismus vermeidet, sondern ein Verfahren des polemischen Zitierens, in dem der Erzähler indirekt Partei ergreift für das »leidende Subjekt« (Kant). So etwa, wenn er zunächst durch ein Zitat belegt, wie sich ein Teil der Fabrikanten über die ungleichen rechtlichen Bedingungen für die Anwendung der Arbeitskräfte im Land beklagt, und dann den Kommentar einschiebt: »Und gleiche Exploitation der Arbeitskraft ist das erste Menschenrecht des Kapitals.« (K I² 294/309) Zu Recht verweist Mengaldo (2020: 80) darauf, dass sich Marx hier einer Technik bedient, die als das »strafende Zitat« bezeichnet werden kann – einer Technik, in der Walter Benjamin gemeinsam mit dem »rettenden Zitat« das »polemische Grundverfahren« der karl-krausschen Fackel erkannte. Nüchtern betrachtet, das heißt abstrahiert von Benjamins Spekulationen über Kraus’ vermeintlich theologische Sprachauffassung, lässt sich seine auf die Fackel zielende Bemerkung, wonach sich das Zitat »als die Mater der Gerechtigkeit« (Benjamin 1931: 362 f.)420 erweise, auf viele der erzählenden Passagen des Kapitals übertragen. Diese präsentieren die gesellschaftlichen Verhältnisse als zu kritisierende. Dass der Maßstab ihrer Kritik ein moralischer ist, kann mit Marx und den verschiedenen Marxismen natürlich nicht eingeräumt werden. Die Versuche, solche Passagen unter Ausblendung der begrifflichen Struktur der Darstellung zu interpretieren, tendieren nicht zufällig dazu, von der akribischen Untersuchung der in der Darstellung verwendeten ästhetischen Mittel zur Ästhetisierung der Darstellung selbst überzugehen. »Im Kapital wird viel erzählt«, so Mengaldo (2020: 85). »Aber nicht nur: In gewisser Weise liest sich das ganze Kapital wie ein großer Bildungsroman, der Roman des Kapitalismus.« Hartley (2020) möchte zwar »in die arkanen Debatten über die mögliche Hegel’sche Provenienz von Marx’ Darstellungsweise« nicht eintreten, meint aber feststellen zu können, »dass die Einheit der Ordnung der Darstellung in einer konzeptuellen Mimesis der systematischen Totalität des Kapitalismus besteht« (102). ›Metareflexionen‹ auf die im Kapital eingesetzten ästhetischen Mittel sind nicht am Wahrheitsanspruch der Theorie interessiert, sondern am Theoretiker als Erzähler. Sie sind daher eine spezifisch bornierte Gestalt der Kapital-Rezeption. Zwar trifft es zu, dass im Kapitel über die so genannte ursprüngliche Akkumulation »eine bei Marx sonst seltene geballte Empörung zu Tage« kommt. Aber der Hinweis, es handele sich dabei um das »Pathos der Indignation« (Mengaldo 2020: 90), das Marx 1843/44 für die Kritik der »deutschen Zustände[]« reklamiert, die »unter dem Niveau der Geschichte« und daher »unter aller Kritik« (KHRE 172/380) stehen, geht an der Funktion, die diese Passagen in 420 Benjamins Einschätzung, wonach Marx im Kapital die »Liquidierung des epischen Elements« (1939/40: 1241) in Kauf genommen habe, ist dagegen nicht haltbar.

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der Kapitaltheorie haben, vorbei (dazu gleich mehr). Auch die Auskunft, Marx habe schon immer »Kritik konsequent mit spezifischen Gefühlen, Affekten und Dispositionen verbunden«, allerdings im Kapital in anderer Weise als in den Frühschriften (Hartley 2020: 95), zeigt sich am Erkenntnisanspruch der Kapitaltheorie gänzlich desinteressiert.421 (3) Das Kapitel ›Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation‹: Die so genannte ursprüngliche Akkumulation betrifft die ›Vorgeschichte‹ des Kapitals. »Das Kapitalverhältniß setzt die Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Eigenthum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus. Sobald die kapitalistische Produktion einmal auf eignen Füßen steht, erhält sie nicht nur jene Scheidung, sondern reproducirt sie auf stets wachsender Stufenleiter. Der Prozeß, der das Kapitalverhältniß schafft, kann also nichts andres sein als der Scheidungsproceß des Arbeiters vom Eigenthum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Proceß, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsmittel in Kapital verwandelt, andrerseits die unmittelbaren Producenten in Lohnarbeiter. Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsproceß von Producent und Produktionsmittel. Er erscheint als ›ursprünglich‹, weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet.« (K I² 645/742)422

Die Vorgeschichte des Kapitals umfasst die Verwandlung der »feudalen« in die »kapitalistische Produktionsweise«. Ihre Grundlage ist die Enteignung der Bauern von Grund und Boden, entscheidend in ihr sind alle »Umwälzungen«, die dazu führen, dass »große Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln geschieden und als 421 Eine Interpretation geisteswissenschaftlicher ›Texte‹, die deren Erkenntnisanspruch ignoriert und allein auf die »tropologischen Strategien« ihrer Autoren zielt, versucht White (1973) in seiner Metahistory zu begründen. Die zentrale These ist dabei, dass der Historiker in einem »poetischen Akt«, der in seinem Bewusstsein einen »präkognitiven und vorkritischen Wert« habe und den formalen Analysen vorangehe, den Untersuchungsgegenstand hervorbringe. Zugleich lege er »die begriffliche Strategie« zu dessen Erklärung fest (50). Marx’ Geschichtsdenken kombiniere die »tropologischen Strategien der Metonymie und der Synekdoche zu einer Anschauung der geschichtlichen Welt« (370). Whites Versuch, das Gesagte am Beispiel der Wertform-Darstellung zu verdeutlichen, sitzt einem Missverständnis auf. Er versteht sie als »tropologische Beschreibung der Art und Weise, wie der Begriff ›Wert‹ von den Menschen auf den einzelnen Stufen ihrer gesellschaftlichen Entwicklung verstanden wurde« (376). 422 Marx (K I² 644/741) verweist auf Smiths Rede von der vorhergehenden, »previous accumulation« (1786: 276 f.). Smith erklärt dort die Arbeitsteilung zur Bedingung der Akkumulation und die Akkumulation zur Bedingung der Arbeitsteilung; vgl. ÖM II 580.

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vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert werden«. Die Trennung der unmittelbaren Produzenten von ihrem Produktionsmittel Boden nimmt »in verschiedenen Ländern verschiedene Färbung« an und durchläuft »die verschiedenen Phasen in verschiedener Reihenfolge und in verschiedenen Geschichtsepochen«. Im Kapital wird sie am Beispiel Englands dargestellt, weil sie hier »klassische Form« (K I² 646/744) besitzt. In England werden auch die »verschiednen Momente der ursprünglichen Akkumulation […] Ende des 17. Jahrhunderts systematisch zusammengefaßt im Kolonialsystem, Staatsschuldensystem, modernen Steuersystem und Protektionssystem«. (K I² 674/779) Diese ›verschiednen Momente‹ des historischen Übergangs von feudalen zu kapitalistischen Verhältnissen können zwar identifiziert, aber das Kapital kann nicht aus ihnen deduziert werden. Die ›Momente‹ der ursprünglichen Akkumulation sind keine im strengen hegelschen Sinn: keine in einem übergreifenden, in sich notwendigen Prozess ›aufgehobenen‹ Bestimmungen, sondern Entstehungsbedingungen des Kapitals. Als solche sind sie erst retrospektiv erkennbar und haben die Seite der Kontingenz. Ihr Auftreten und ihre Wirkungen können zwar beschrieben, ihr Zusammenhang aber nicht als in sich notwendiger begründet werden. Sie fügen sich nicht zum zureichenden Grund. Das Mittel der Darstellung der so genannten ursprünglichen Akkumulation ist deshalb nicht das einer begrifflichen Entwicklung, es ist ästhetischer Art. Historische Ereignisse, politische Debatten, philosophische und ökonomische Schriften, alte Chroniken, Gesetze usw. werden in der Darstellung zitiert. Wie im Kapitel ›Der Arbeitstag‹ ist auch hier das ›Wir‹ oder ›Ich‹ der entsprechenden Passagen nicht sprachlicher Ausdruck der kollektiven Einheit des Selbstbewusstseins, sondern das eines auktorialen Erzählers, der kommentierend und wertend mit dem historischen Material bekannt macht und dem Leser vorführt, wie die gesellschaftlichen Umbrüche von den verschiedenen Bevölkerungs- und Interessengruppen wahrgenommen werden: »Ich gebe aus dem massenhaften Material, das mir vorliegt, einige wenige Stellen, weil dadurch lebhaft die Zustände veranschaulicht werden« (K I² 653/753). »Hören wir noch einen Augenblick einen Vertheidiger der enclosures und Gegner des Dr. Price.« (K I² 655/755) Obwohl das Kapitel ›Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation‹ von der ›Vorgeschichte‹ des Kapitals handelt, hat es in der systematischen Entwicklung des Wertbegriffs eine entscheidende Funktion. Zwar ist zwischen den Bedingungen der Entstehung des Kapitals und den Bedingungen seiner Selbsterhaltung zu unterscheiden.423 Diese Unterschei423 In der hegelianisierenden Sprache der Grundrisse: »Die Bedingungen und Voraussetzungen des Werdens, des Entstehns des Capitals unterstellen eben, daß es noch nicht ist, sondern erst wird; sie verschwinden also mit dem

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dung aber nur als die zwischen der »Genese und der Struktur« (Anderson 1974: 546) des Kapitals aufzufassen, griffe zu kurz. Mit ihr wäre noch nichts darüber gesagt, ob, und wenn ja: in welcher Weise das Verhältnis von Genese und Struktur des Kapitals selbst theoretisch relevant ist. Die strikte Unterscheidung zwischen der Darstellung der Entstehung des Kapitals und der seiner Struktur, zwischen historischer und systematischer Darstellung, wäre nur dann angezeigt, wenn beide in keinem sachlich notwendigen Zusammenhang stünden. Nun scheint es in der Tat eines, etwa das Handelskapital als historisch dem industriellen Kapital vorausgehende Kapitalform zu untersuchen, und ein anderes, es systematisch als eine verselbständigte Funktion aus dem Reproduktionsprozess des gesellschaftlichen industriellen Kapitals abzuleiten. Denn im »Gang der wissenschaftlichen Analyse scheint die Bildung der allge­ meinen Profitrate von den productiven Capitalien und ihrer Conkurrenz auszugehn und erst später durch die Dazwischenkunft des mercantilen Capitals berichtigt, respektive ergänzt und modificirt zu werden«. Dagegen verhält es sich im »Gang der historischen Entwicklung« geradezu umgekehrt. Hier ist es »das commercielle Capital das zuerst die Preisse der Waaren mehr oder minder durch ihre Werthe bestimmt und es ist die Sphäre des Reproductionsprocesses,424 worin zuerst eine allgemeine Profitrate sich bildet. Der mercantile Profit bestimmt ursprünglich den industriellen Profit.« (K III 360 f./298) So gesehen würde die historische Darstellung des Kaufmannskapitals nichts zu seiner systematischen Bestimmung als verselbständigte Funktion des industriellen Kapitals beitragen, und seine systematische Bestimmung wäre für das Verständnis seiner historischen Form überflüssig. Dem ist aber nicht so. Der Kapitaltheorie zufolge sind beide Weisen unverzichtbar, und beide müssen nicht nur unterschieden, sondern auch in Beziehung zueinander gesetzt werden.425 Aus drei Gründen. Zum einen ermöglicht erst das Resultat der systematischen Darstellung des kapitalistischen Produktionsprozesses, historische Formen des Kapitals als solche zu bestimmen. Erst jetzt lässt sich sagen: »Das Mittelalter hatte zwei verschiedne Formen des Kapitals überliefert, die in den verschiedensten ökonomischen Gesellschaftsformationen reifen und, vor der Aera der kapitalistischen Produktionsweise, als Kapital quand même gelten – das Wucherkapital und das Kaufmannskapital.« (K I² 673/778) Das wirklichen Capital, mit dem Capital das selbst, von seiner Wirklichkeit ausgehend, die Bedingungen seiner Verwirklichung sezt.« (Gr 368/372). 424 Es muss mit Engels heißen: »die Sphäre der den Reproduktionsprozeß vermittelnden Zirkulation« (K III E 282). 425 Anders Hartmann (1970: 431): Die ursprüngliche Akkumulation sei eine bloß historische Voraussetzung »für die Existenz von Kapital«. Sie dürfe deshalb »auf die Deutung des Kapitals« keinen Einfluss haben. Marx »verquicke ein genetisches Moment mit einem Geltungsgrund«.

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Verständnis der kapitalistischen Ökonomie liefert derart den Schlüssel zum Verständnis vorkapitalistischer Weisen gesellschaftlicher Reproduktion, aber keineswegs »in der Art der Oekonomen, die alle historischen Unterschiede verwischen und in allen Gesellschaftsformen die bürgerlichen sehen« (EKPÖ 40/39). Zweitens würde die radikale Trennung von historischer und systematischer Darstellung den Charakter des Kapitals als einer historisch kontingenten Form gesellschaftlicher Produktion verleugnen. Sagte man, historisch betrachtet sei das Kapital Resultat einer Entwicklung, deren Bedingungen allesamt die Seite der Kontingenz haben, weshalb diese Entwicklung selbst in sich nicht notwendig war, systematisch betrachtet dagegen sei es eine sich selbst erhaltende Struktur, so säße man dem Schein auf, den das Kapital selbst erzeugt. Indem es nämlich die Bedingungen seiner Reproduktion selbst produziert, erscheint es als alternativlose, quasi natürliche Art der gesellschaftlichen Produktion. Indem der kapitalistische Produktionsprozess das Kapitalverhältnis selbst produziert und reproduziert: »auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der andren den Lohnarbeiter« (K I² 534/604426), erscheint insbesondere der gesellschaftliche Gegensatz von Kapital und Lohnarbeit als quasi natürlicher. Drittens schließlich würde die radikale Trennung von historischer und systematischer Darstellung den Charakter des Kapitals als einer historisch kontingenten Form anonymer ökonomisch-gesellschaftlicher Herrschaft verleugnen. Es könnte demnach scheinen, als füge sich das Kapitalverhältnis dem Schema der bestimmten Negation. Notwendige Bedingungen des Kapitalverhältnisses seien die Arbeitskraft als Vermögen, ein Mehrprodukt zu produzieren, und die Trennung der Träger dieses Vermögens von den gegenständlichen Bedingungen seiner Realisierung. Arbeitskraft und Produktionsmittel seien absolut getrennt, gerade dadurch aber notwendig aufeinander bezogen, denn für sich betrachtet bezeichneten beide je ein nihil negativum. Ein Vermögen zu arbeiten, das sich nicht entäußern kann, ist kein Vermögen zu arbeiten, und kapitalisierte Produktionsmittel, die keine Mehrarbeit »einsaugen« können, sind kein Kapital, sondern »nur daseiende und daher todte Gegenständlichkeit« (Gr 218/219). Die Notwendigkeit ihrer Beziehung scheint daher in ihrer Negativität begründet und die Beziehung selbst symmetrisch. »Jedes reproducirt sich selbst, indem es sein Andres, seine Negation reproducirt. Der Capitalist producirt die Arbeit als fremde; die Arbeit producirt das Product als fremdes. Der Capitalist producirt den Arbeiter und der Arbeiter den Capitalisten etc.« (Gr 367/371) Die Symmetrie 426 »Das Kapital setzt die Lohnarbeit, die Lohnarbeit setzt das Kapital voraus. Sie bedingen sich wechselseitig, sie bringen sich wechselseitig hervor.« Ebd. Anm. 20.

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des Verhältnisses von Kapital und Lohnarbeit wäre aber nur dann dessen Wahrheit, wenn die Warenform die substantielle Bestimmung des Arbeitsvermögens wäre. Nur dann fügte sich die Vermittlung von Wertabstraktion und daseiendem, in der Leiblichkeit des Menschen existierendem Arbeitsvermögen dem formellen Schema der bestimmten Negation. Das Arbeitsvermögen wäre wesentlich Nicht-Kapital. Dies ist es aber nicht qua Arbeitsvermögen, sondern nur unter bestimmten, historisch kontingenten Voraussetzungen. Im Kapitalverhältnis ist die Warenform der Arbeitskraft durch die Produktion selbst gesetzte Voraussetzung der Produktion. Historisch dagegen ist die Warenform der Arbeitskraft akzidentell. Die Bestimmung der Arbeitskraft zur Ware durch die Verwandlung ihres Trägers in den doppelt freien Arbeiter, der »als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Waare verfügt« und zugleich »frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nöthigen Sachen« (K I² 185/183), erfolgte ursprünglich durch unmittelbare Gewalt. Die Schilderung dieser Gewalt bedient sich der aus dem Kapitel über den Arbeitstag schon bekannten ästhetischen Mittel. Wieder ist es ein auktorialer Erzähler, der kommentierend und wertend mit dem historischen Material bekannt macht. Beispiele aus dem 24. Kapitel des ersten Bandes: »Im 19. Jahrhundert verlor sich natürlich selbst die Erinnerung des Zusammenhangs zwischen Ackerbauer und Gemeindeeigenthum. Von späterer Zeit gar nicht zu reden.« (K I² 656/756) »Der Raub der Kirchengüter, die fraudulente Veräußerung der Staatsdomänen, der Diebstahl des Gemeindeeigenthums, die usurpatorische und mit rücksichtslosem Terrorismus vollzogne Verwandlung von feudalem und Claneigenthum in modernes Privateigenthum, es waren ebenso viele idyllische Methoden der ursprünglichen Akkumulation.« (K I² 660/760 f.) »Die grausamen Gesetze gegen Koalition fielen 1825 vor der drohenden Haltung des Proletariats. Das Parlament gab sie nur widerwillig auf, dasselbe Parlament, welches Jahrhunderte durch mit der cynischsten Unverschämtheit als permanente Koalition der Kapitalisten gegen die Arbeiter funktionirt hatte.« (K I² 666/769) In der dem Kapitalverhältnis zeitlich vorhergehenden Akkumulation wirkt unmittelbare Gewalt selbst als »ökonomische Potenz« (K I² 674/779). Sie ist konstitutiv für die historische Bestimmung des Arbeitsvermögens zur Ware. Im Kapitalverhältnis selbst tritt an ihre Stelle der »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse«. Die Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln ist in der bürgerlichen Gesellschaft in die Form des Rechts gebracht. Außerökonomische Gewalt wird nur ausnahmsweise angewandt. »Für den gewöhnlichen Gang der Dinge kann der Arbeiter den ›Naturgesetzen der Produktion‹ überlassen bleiben, d.h. seiner aus den Produktionsbedingungen selbst entspringenden […] Abhängigkeit vom Kapital.« (K I² 663/765) 430

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Die für die Entstehung kapitalistischer Produktionsverhältnisse konstitutive Gewalt wird nach Marx von den Naturrechtstheoretikern und Politischen Philosophen verschwiegen. Statt sie zu benennen, erzähle etwa Adam Smith die Geschichte von der ursprünglichen Akkumulation. In einem Land, in dem jeder »seine Bedürfnisse durch persönlichen Einsatz, so, wie sie gerade auftreten«, befriedigt, so Smith, sei die Ansammlung von Kapital nicht erforderlich: »Ist er hungrig, so geht er in den Wald, um zu jagen.« Sei die Arbeitsteilung aber »überall einmal eingeführt«, könne der einzelne seinen täglichen Bedarf nur noch teilweise unmittelbar selbst decken, teilweise müsse er ihn durch den Kauf von Gütern befriedigen. Um diese kaufen zu können, müsse er allerdings selbst Güter verkaufen. »Der Kauf kann erst dann erfolgen, nachdem das eigene Produkt nicht nur gefertigt, sondern auch verkauft ist. Er muß daher einen Vorrat an verschiedenen Gütern anlegen, der ihn mit Rohstoffen und Werkzeugen für seine Arbeit versorgt und von dem er zumindest solange leben kann, bis das Gut hergestellt und abgesetzt ist.« Er müsse »also bereits Kapital gebildet« haben, »ehe er für eine so lange Zeit seine ganze Kraft in einem solchen speziellen Erwerb einsetzen kann./ Da nun, natur- oder sachbedingt, Kapital vor der Arbeitsteilung angehäuft sein muß, kann die Arbeit nur dann, nach und nach, weiter aufgeteilt werden, wenn vorher entsprechend Kapital gebildet worden ist.« (Smith 1789: 227) Marx kommentiert ironisch, die ursprüngliche Akkumulation spiele »in der politischen Oekonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie«. Der Ursprung der »Sünde« werde »erklärt, indem er als Anekdote der Vergangenheit erzählt wird. In einer längst verfloßnen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige Elite und auf der andren faulenzende Lumpen. So kam es, daß die ersten Reichthum akkumulirten und die letzteren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut«. (In der Tat ist etwa bei Locke nachzulesen, dass Gott die Welt »dem Fleißigen und Verständigen« zur Nutznießung gab, nicht aber dem »Streitsüchtigen für seine Launen und Begierden« [1690: 220].) »Und von diesem Sündenfall datirt die Armuth der großen Masse, die immer noch, aller Arbeit zum Trotz, nichts zu verkaufen hat als sich selbst, und der Reichthum der Wenigen, der fortwährend wächst, obgleich sie längst aufgehört haben zu arbeiten.« In der Realgeschichte »spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle. In der sanften politischen Oekonomie herrschte von jeher die Idylle. Recht und ›Arbeit‹ waren von jeher die einzigen Bereicherungsmittel.« (K I² 644/741) Bürgerliche Ökonomie und politische Philosophie unterschlagen die Gewalt, die für die Entstehung des Privateigentums an den Produktionsmitteln konstitutiv war. Nur deshalb können sie die Arbeit zur alleinigen Quelle von Wert erklären.427 »Nur soweit der Mensch sich 427 Vgl. Locke (1690: § 40).

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von vornherein als Eigenthümer zur Natur, der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und -Gegenstände, verhält«, so Marx, »wird seine Arbeit Quelle von Gebrauchswerthen, also auch von Reichthum.« Daher haben die Bürger »sehr gute Gründe, der Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft anzudichten; denn grade aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, dass der Mensch, der kein andres Eigenthum besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschafts- und Kulturzuständen der Sklave der andern Menschen sein muss, die sich zu Eigenthümern der gegenständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben. Er kann nur mit ihrer Erlaubniss arbeiten, also nur mit ihrer Erlaubniss leben.« (KGP 9/15) ›Übernatürliche Schöpfungskraft‹ ist die Schöpfungskraft übernatürlicher Wesen. Die Arbeitskraft ist dagegen Schöpfungsvermögen vernunftbegabter natürlicher Wesen und als solches selbst naturbedingt. Die Bestimmung der Arbeit als einzige Quelle von Reichtum und Eigentum blendet deren notwendige gegenständliche Bedingung aus. Sie abstrahiert damit auch von der historischen, immer gewaltsamen Verteilung dieser Bedingung unter Herrschaften. Insofern die Politische Ökonomie den gesellschaftlichen Reichtum, die Staatstheorie das Privateigentum auf die Arbeit zurückführen, sind sie nach Marx Wissenschaft; insofern sie dabei von der allgemeinen gegenständlichen Voraussetzung der Arbeit, vom Boden abstrahieren, sind sie Ideologie im strengen Sinne: Rechtfertigung bürgerlicher Produktions- und Eigentumsverhältnisse. Das Kapital charakterisiert den Gegenstand der Theorie als das, was er ist, und zugleich präsentiert es ihn als etwas, das nicht sein soll. Es macht ihn dem endlichen Subjekt, das Autor und Adressat des moralischen Gesetzes ist, kenntlich als etwas, das moralisch zu kritisieren ist. Als kriti­ sche Theorie der bürgerlichen Ökonomie impliziert das Kapital die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft als zwei nicht auf einander oder auf ein Drittes zurückführbare Perspektiven des endlichen Vernunftwesens auf sich und die Welt. Auch darin ist es mit der Philosophie Hegels unvereinbar. Dabei ist es die ästhetische Dimension der Darstellung, sind es die genannten ästhetischen Mittel, die den Gegenstand als einen moralisch zu kritisierenden kenntlich machen. Aus der Perspektive reiner praktischer Vernunft verweisen die Charakterisierung der ökonomischen Akteure als dramatis personae oder Personifikationen ökonomischer Verhältnisse und die historiographischen Passagen auf den moralischen Grund der Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise. Dass Marx selbst nicht so gedacht hat, versteht sich. Marx hat seinen historischen Schilderungen zwar auch die Funktion zuerkannt, die Gewalt und das Elend zu dokumentieren, die mit der Herausbildung und Etablierung der 432

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kapitalistischen Produktionsweise verbunden waren.428 Er hat sie aber nicht als Anzeige des moralisch begründeten Anspruchs der Kapitalkritik gesehen. Moralische Kritik der ökonomischen Verhältnisse ist nicht die Aufgabe des Wissenschaftlers. Ricardo ist ausdrücklich für seine wissenschaftliche Redlichkeit zu loben, wenn er die »Fabrikationskosten von Hüten und die Unterhaltskosten des Menschen in ein und dieselbe Reihe« stellt. Er bildet damit nur den realen »Zynismus« der kapitalistischen Verhältnisse theoretisch ab. »Der Zynismus liegt in der Sache und nicht in den Worten, welche die Sache bezeichnen.« (EP 253/82 f.)429 Mit der Durchsetzung der Produktionsweise erscheinen die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten zunehmend als irreversible Sachzwänge. Die Politische Ökonomie darf diese Heteronomie nicht beschönigen. Adam Smith konnte die bürgerliche Ökonomie, die er analysierte, noch sozial­ ethisch rechtfertigen. Er handelte von einer sich allererst abzeichnenden Ökonomie, deren Herausbildung zwar große soziale Verwerfungen mit sich brachte, von der aber noch angenommen werden konnte, dass ihre Etablierung den Wohlstand aller mehren würde. Mit der wachsenden wissenschaftlichen Einsicht in die bereits (in England) etablierte Produktionsweise verbietet sich nach Marx eine solche Rechtfertigung. Die Wissenschaft kann die Verhältnisse jetzt nur noch auf den Begriff bringen, indem sie selbst ›zynisch‹ wird.430 Ricardo vertritt im Vergleich zu Smith einen avancierten Stand der Wissenschaft. Freilich wäre es seine Aufgabe gewesen zu zeigen, wie aus 428 Nach Hartley (2020) etabliert Marx im Kapital eine Methode, »die die gleichgültige Unpersönlichkeit des Kapitals formal zu reproduzieren und seinen strukturellen Zynismus dennoch zurückzuweisen vermag«. Die Darstellung der Personen als Charaktermasken erfülle die erste, die erzählerischen Passagen, »die die Probleme von Empfindung und Zynismus dramatisch in Szene setzen« (97), erfüllten die zweite Anforderung. Ob Marx dergleichen intendierte, sei dahingestellt. Der Sache nach gerät eine solche Methode dort an ihre Grenzen, wo die Kapitaltheorie selbst zeigt, dass die von Hartley behaupteten »zwei große[n] Obsessionen im ersten Band«, »die Reduzierung der Arbeiter auf den Status von ›Sklaven‹ und die schreckliche Versehrtheit ihrer Körper« (100), die Geschichte des Kapitals betreffen, aber kein notwendiges Element der etablierten Produktionsweise und der in ihr »gelebte[n] Erfahrung« (106) sind. 429 Ähnlich ÖM III 768 f. 430 Schon in den Manuskripten heißt es: »Nicht nur wächst der Cynismus der Nationalökonomie relativ von Smith über Say bis zu Ricardo, Mill etc; insofern die Consequenzen der Industrie den leztern entwickelter und widerspruchsvoller vor die Augen treten; sondern auch positiv gehn sie immer und mit Bewußtsein weiter in der Entfremdung gegen d[en] Menschen als ihr Vorgänger, aber nur, weil ihre Wissenschaft sich consequenter und wahrer entwickelt.« (ÖPM 258/531).

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der Möglichkeit mehrwertbildender Arbeit ihre Wirklichkeit wird. Die »blose Möglichkeit dieser Surplusarbeit (also das Vorhandensein jenes nothwendigen Minimums der Productivität der Arbeit)« schafft »noch nicht ihre Wirklichkeit […] Dazu muß der Arbeiter erst gezwungen werden [...] und diesen Zwang übt das Capital aus. Dieß fehlt bei Ric., daher auch der ganze Kampf um die Bestimmung des normalen Arbeitstags.« (ÖM III 1030) Anders als Ricardo räumt Marx der Schilderung des Kampfes um den Normalarbeitstag im ersten Band viel Platz ein. Er tut dies aber nicht, um den moralisch begründeten Anspruch der Kapitalkritik deutlich zu machen. Vielmehr vertritt er dem eigenen Selbstverständnis nach auch in diesen historiographischen Passagen die ›einzig wissenschaftliche‹, weil ›materialistische‹ Sicht der Dinge. Ihr zufolge ist der Fortschritt in der gesetzlichen Regulierung des Arbeitstags immanent aus der historisch neuen, kapitalistischen Produktionsweise zu erklären, keineswegs aber ist seine moralische Notwendigkeit durch Rekurs auf Ideen zu begründen. Ideen sind ein integrales Funktionselement des gesellschaftlichen Lebens der Menschen, ihrer gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion, und ihr Anspruch auf Selbständigkeit gegenüber dieser materiell bedingten und bestimmten Totalität, ihr Anspruch auf normative Geltung ist ideologisch. Das zeigt sich Marx zufolge schlagend an den bürgerlichen Ideen par excellence: den im bürgerlichen Recht positivierten Menschenrechten. Ihre Qualifizierung als ›unveräußerliche‹ Rechte muss vor dem Hintergrund des materialistischen Ideologiebegriffs geradezu als lächerliche Anmaßung erscheinen. Als Ideologeme kaschieren die Menschenrechte bürgerliche Herrschaft, indem sie die Menschen, die ein Leben lang gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, zu freien Rechtspersonen erklären. Zwar gelten in der bürgerlichen Gesellschaft die Menschenrechte, aber jeder materiale, das wirkliche Leben der Arbeiter verbessernde Fortschritt muss erkämpft werden – nicht im Namen abstrakter und vermeintlich universell gültiger Ideen, sondern auf der Basis handfester Interessen. Die Verbesserung der Lebensverhältnisse ist ein Fortschritt in der Geschichte, aber kein Fortschritt »der« Geschichte, die, mit der Heiligen Familie zu sprechen, ein »ätherisches, von der materiellen Masse getrenntes Subjekt« ist, das sich »nicht an die empirischen Menschen, sondern an das ›Innerste der Seele‹« (HF 85) adressiert. Er entwickelt sich vielmehr »allmälig aus den Verhältnissen heraus« und drückt nur die »Naturgesetze der modernen Produktionsweise« (K I² 285/299) aus. Noch sein Subjekt, die Arbeiterklasse, erwächst »instinktiv« (K I² 302/319) aus den Verhältnissen. Deren Mitglieder wollen ihre miserablen Lebensumstände verbessern und lernen allmählich, dass sie dies nur kollektiv erreichen können. Die Charakterisierung des schrittweise erfolgenden Fortschritts in der gesetzlichen Regulierung des Arbeitstags als ›naturwüchsig‹ und 434

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›instinktiv‹ betont zum einen, dass dieser Fortschritt immanent aus der neuen Produktionsweise, den in ihr vorhandenen Interessen und gegebenen Kräfteverhältnissen zwischen Lohnarbeit und Kapital zu erklären ist. Zum anderen macht sie deutlich, dass zu Beginn dieser Produktionsweise, »mit der Geburt der großen Industrie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts«, zu der Zeit, als das Kapital »seine Orgien feierte« (K I² 280/294), auf Seiten des Gesetzgebers noch kein hinreichendes Bewusstsein von ihren funktionalen Erfordernissen existierte. Auch dieses Bewusstsein bildet sich erst allmählich aus den Verhältnissen heraus, um dann auf sie zurückzuwirken, ohne damit mehr zu sein als ihr integrales Element. »Die Fabrikgesetzgebung, diese erste bewußte und planmäßige Rückwirkung der Gesellschaft auf die naturwüchsige Gestalt ihres Produktionsprocesses, ist, wie man gesehn, eben so sehr ein nothwendiges Produkt der großen Industrie, als Baumwollgarn, Selfactors und der elektrische Telegraph.« (K I² 460/504 f.) Der materiale humane Fortschritt, der hier zumindest zeitweise erreicht wird, ist nicht zu leugnen. »An die Stelle des prunkvollen Katalogs der ›unveräußerlichen Menschenrechte‹ tritt die bescheidne Magna Charta eines gesetzlich beschränkten Arbeitstags, die ›endlich klar macht, wann die Zeit, die der Arbeiter verkauft, endet, und wann die ihm selbst gehörige Zeit beginnt‹. Quantum mutatus ab illo!« (K I² 302 f./320). Ebenso wenig zu leugnen ist freilich, dass sich dieser Fortschritt streng innerhalb der Grenzen der Produktionsweise vollzieht. Weil er nicht über sie hinausweist, verstehen sich am Ende selbst die Politischen Ökonomen dazu, »die Einsicht in die Nothwendigkeit eines gesetzlich geregelten Arbeitstags als charakteristische Neuerrungenschaft ihrer ›Wissenschaft‹« (K I² 297/313) zu proklamieren. Als Fortschritt innerhalb der Produktionsweise ist er aber niemals sicher, sondern ständig durch Reaktionen des Kapitals gefährdet. Einerseits liegt die sukzessive Durchsetzung des Normalarbeitstags sowohl im unmittelbaren Interesse der Arbeiter als auch im objektiven Interesse des Kapitals. Indem die Arbeiter nämlich gegen das bornierte Interesse der einzelnen Kapitalisten für die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen kämpfen, kämpfen sie zugleich für das Interesse des gesellschaftlichen Kapitals am Erhalt der Träger der Ware Arbeitskraft. Andererseits wird mit der zwangsgesetzlichen Regelung der Arbeitszeit die Maschine zum systematischen Mittel des Kapitals, in derselben Zeit mehr Arbeit zu ›erpressen‹. So wird die Verkürzung der Arbeitszeit durch die Intensivierung der Arbeit konterkariert und die Lage der Arbeiter wieder verschlechtert. »Obgleich daher die Fabrikinspektoren die günstigen Resultate der Fabrikgesetze von 1844 und 1850 unermüdlich und mit vollem Recht lobpreisen, gestehn sie doch, daß die Verkürzung des Arbeitstags bereits eine die Gesundheit der Arbeiter, also die Arbeitskraft selbst zerstörende Intensität der Arbeit hervorgerufen habe.« (K I² 405/439) Der 435

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Fortschritt innerhalb der Grenzen des Kapitals ruft Reaktionen des Kapitals hervor, die ihn konterkarieren und Gegenreaktionen der Arbeiterklasse provozieren. Statt hehrer moralischer Ideen, so ist diesen Passagen zu entnehmen, zählen in der Geschichte die in der gegebenen Produktionsweise anzutreffenden Interessen und die Fähigkeit, diese gegen konkurrierende Interessen durchzusetzen. Unter der Bedingung der Verelendung großer Teile der Arbeiterbevölkerung, wie sie Marx am englischen Beispiel für die Zeit der sich entwickelnden großen Industrie schildert, scheint die These, wonach sich aus den Verhältnissen ein Klassenbewusstsein der Arbeitskraftbesitzer bildet, durchaus plausibel. Denn mit der zunehmenden Einsicht in seine Lage wird dem Einzelnen deutlich, dass sein individuelles Interesse mit den Interessen der anderen Arbeitskraftbesitzer zusammenfällt und sie ihr gemeinsames Interesse, wenn überhaupt, nur gemeinsam durchsetzen können. Unter der weiteren Bedingung, dass die durch den Klassenkampf erzielten materialen Fortschritte für die Arbeiterbevölkerung immer wieder durch Reaktionen des Kapitals konterkariert werden, so dass innerhalb der Produktionsweise kein nachhaltiger Fortschritt erreichbar scheint, ist es ferner plausibel, dass das zunächst reformistische Klassenbewusstsein revolutionär wird. Der einzelne Arbeiter würde aus der Erfahrung der Vergeblichkeit des Kampfes für Reformen entweder selbst die revolutionäre Konsequenz ziehen, oder aber die Arbeiterpartei würde ihm die praktische Notwendigkeit dieser Konsequenz ohne größere Anstrengungen vermitteln. Dieser ›materialistischen‹ Sicht zufolge entsteht also aus den Verhältnissen selbst ein Klassenbewusstsein, das diese Verhältnisse zunächst im Namen von Interessen kritisiert und zuletzt auf deren Abschaffung zielt.431 Man sieht: Die in den historiographischen Passagen enthaltene Theorie der Bildung von Klassenbewusstsein fügt sich der seit Mitte der 1840er Jahre entwickelten Geschichtsauffassung. Ihr sind deshalb ebenso wenig wie dieser gute, das heißt von allen prinzipiell einsehbare Gründe einer Kapitalkritik zu entnehmen. Allgemeine, nicht partikulare Gründe liefen aus ihrer Perspektive auf einen unzulässigen Idealismus hinaus. Die Arbeiterklasse unterscheidet sich von allen »früheren Klassen, die sich die Herrschaft eroberten« nicht dadurch, dass sie im Unterschied zu diesen »nur noch auf den menschlichen Titel provociren kann«, wie es noch in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie 431 Moores (1978) allerdings im Wesentlichen auf Deutschland konzentrierte Untersuchung stützt diese Sicht nicht: »Wir kennen zu viele wirksame gesellschaftliche und psychologische Mechanismen, die Menschen nicht nur davon abhalten können, moralische Empörung angesichts ihrer Situation zu äußern, sondern auch manchmal sogar zu empfinden. Es gibt keine Garantie, daß Ausbeutung oder einfach schlichtes menschliches Elend irgendwie ihr eigenes Gegengift absondern werden.« (602).

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(KHRE 182/390) heißt,432 sondern dadurch, dass sie »im Interesse der ungeheuren Mehrzahl« (MKP 472) handelt. Das Interesse der Mehrzahl, selbst der ›ungeheuren‹ Mehrzahl der Menschen an der Abschaffung kapitalistischer Ausbeutung und Herrschaft ist aber ein partikulares Interesse, aus dem sich kein universell gültiger Zweck des Handelns begründen lässt. Problematisch ist ferner die für die Bildung von Klassenbewusstsein in Anspruch genommene Voraussetzung: das materielle Elend der Arbeiterbevölkerung. Die Verelendung großer Teile der Arbeiterbevölkerung während der Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise ist ein historisches Faktum und weltweit betrachtet bis heute eine ihrer ständigen Begleiterscheinungen. Sie ist aber keineswegs eine kapitalistische Notwendigkeit. Die Kapitaltheorie enthält, wie gesagt, keine absolute Verelendungstheorie. Wenn die Theorie des Kapitals gar nicht ausschließt, was ebenfalls ein historisches Faktum ist, dass nämlich die Lebenssituation der Arbeiterbevölkerung sich in kapitalistischen Gesellschaften dramatisch verbessern kann, dann entfällt mit dem Elend auch die Bedingung der quasi naturwüchsigen Bildung von Klassenbewusstsein bei dem einzelnen Arbeiter. Seine eigenen Erfahrungen sprechen dann nicht notwendig gegen die Produktionsweise, und die Theoretiker der revolutionären Arbeiterpartei können ihm die Einsicht in die Notwendigkeit von deren Abschaffung nicht mehr vermitteln: er hört ihnen nicht mehr zu.433 Weil aus seiner Sicht keine rationalen, das heißt auf seinem Eigeninteresse beruhenden Gründe gegen die Produktionsweise sprechen, spricht alles dafür, dass er seine Interessen in dieser Produk432 Marx sieht in dieser frühen Schrift nur hinsichtlich Deutschlands die materielle Not des Proletariats als Voraussetzung seiner Rolle als Subjekt der allgemein menschlichen Emanzipation. Maßstab der Emanzipation ist dabei der von Feuerbach übernommene Begriff des Menschen als Gattungswesen. Der »völlige Verlust des Menschen« in Gestalt des Proletariats sei die Voraussetzung seiner »völlige[n] Wiedergewinnung« (KHRE 182/390). In den späteren Schriften wird die materielle Not des Proletariats nicht nur im Hinblick auf Deutschland, sondern allgemein zur Voraussetzung seiner emanzipativen Rolle. 433 Nach Luxemburg (1899: 375/7) ist der Sozialismus entweder »eine historische Notwendigkeit«, nämlich »das Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft«: der wachsenden ökonomischen Anarchie, die notwendig zum Zusammenbruch führt, der zunehmenden Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, die Ansätze für eine neue gesellschaftliche Ordnung schafft, und der zunehmenden »Klassenerkenntnis des Proletariats« als des aktiven Elements »der bevorstehenden Umwälzung«. Oder er ist keine historische Notwendigkeit. Dann ist das Klassenbewusstsein nicht länger der »einfache Reflex« der Verhältnisse, sondern »ein bloßes Ideal« und der Sozialismus eine »Utopie«.

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tionsweise verfolgt. Das revolutionäre Klassenbewusstsein wird unter diesen Bedingungen von einem empirisch fassbaren Phänomen zu einer theoretischen Konstruktion, von der nicht mehr zu zeigen ist, wie sich aus ihr Forderungen nach Veränderung der Produktionsweise begründen lassen sollen. Erweisen sich diese doch im Lichte der realen Interessen als abstrakt und idealistisch.434 Das revolutionäre Klassenbewusstsein wird, anders gesagt, zu einer Idee, die sich vor den realen Interessen der Arbeitskraftbesitzer ›blamiert‹.435 »Eine verwirklichte sozialistische Ordnung wäre auch heute für alle Proletarier besser als der Kapitalismus«, notiert Horkheimer Anfang der 1930er Jahre, »aber der Unterschied zwischen den gegenwärtigen Lebensbedingungen des ordentlich bezahlten Arbeiters und seiner persönlichen Existenz im Sozialismus erscheint ihm ungewisser und verschwommener als die Gefahr von Entlassung, Elend, Zuchthaus, Tod, die er bei der Teilnahme an der revolutionären Erhebung, ja unter Umständen schon an einem Streik wirklich erwarten muß.« (Horkheimer 1934: 375)

6. Kapitaltheorie und Geschichtsphilosophie In der von ihm selbst nicht publizierten Einleitung zur Kritik der po­ litischen Ökonomie hat Marx »Punkte« notiert, die »nicht vergessen werden dürfen«, wenn es um das Thema »Produktion. Produktionsmittel und Produktionsverhältnisse. Produktionsverhältnisse und Verkehrsverhältnisse. Staats- und Bewußtseinsformen im Verhältnis zu den Produktions- und Verkehrsverhältnissen. Rechtsverhältnisse, Familienverhältnisse« geht. Es handelt sich um selbsterteilte Arbeitsaufträge, die aufgrund der diversen ›Planänderungen‹,436 die das marxsche Projekt erfuhr, allesamt nicht ausgeführt wurden. Punkt zwei hält fest, es sei das »Verhältniß der bisherigen idealen Geschichtsschreibung zur realen« zu untersuchen. Die in diesem Zusammenhang genannten Stichworte: die »s.g. Culturgeschichten, die alle Religions- und Staatengeschichte«, die »verschiednen Arten der bisherigen Geschichtsschreibung. S.g. Objektive. Subjektive (Moralische u.a.). Philosophische« deuten auf ein umfangsreiches Vorhaben. (EKPÖ 43/43) Die folgenden Überlegungen knüpfen an Marx’ Unterscheidung zwischen idealer und realer Geschichtsschrei434 »Eine Auffassung, welche der Theorie eine selbständige Existenz außerhalb der realen Bewegung zusprechen wollte, wäre selbstverständlich weder materialistisch noch auch nur hegelisch-dialektisch, sie wäre einfache idealistische Metaphysik.« (Korsch 1930: 77). 435 »Die ›Idee‹ blamierte sich immer, soweit sie von dem ›Interesse‹ unterschieden war«, so Marx und Engels 1845 (HF 85). 436 Vgl. Rosdolsky (1968).

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bung an. Sie dient ihnen als Leitfaden, an dem die Implikationen der Kapitaltheorie für einen Begriff der Geschichte verdeutlicht werden sollen. Es werden also nicht alle der von Marx genannten Stichworte aufgegriffen, vielmehr geht es allein um die Frage, welche Konsequenzen aus der Kapitaltheorie für eine Theorie, um nicht zu sagen: Philosophie der Geschichte folgen. Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten wird man annehmen müssen, dass die Unterscheidung zwischen idealer und realer philosophischer Geschichtsschreibung aus der Perspektive der historisch-materialistischen Auffassung erfolgt. Die ideale Geschichtsschreibung unterscheidet sich demnach von der realen dadurch, dass sie von der ›wirklichen‹ Grundlage der Geschichte entweder abstrahiert oder diese mystifiziert. Man wird vermuten dürfen, dass diese auf den ersten Blick vielleicht plausibel anmutende Unterscheidung beider Arten der Geschichtsschreibung sich in dem Moment als untauglich herausstellen wird, wo tatsächlich versucht wird, den historischen Prozess auf der Basis einer dezidiert realen Geschichtsschreibung zu begreifen. Immerhin konnte schon gezeigt werden, dass Marx’ Auffassung des historischen Fortschritts im Kontext der Kapitaltheorie (Kapital und Vorarbeiten) keineswegs eindeutig ist. Zur Erinnerung: Im Einklang mit dem materialistischen Programm der Deutschen Ideologie versteht Marx Fortschritt als einen kumulativen, nicht teleologisch bestimmten Prozess. Unter Rekurs auf Motive der Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte fasst er ihn aber auch als teleologischen Prozess. Für die erste Auffassung ist der Begriff des Gattungswissens, für die zweite der des menschlichen Gattungswesens zentral. Für jene ist Geschichte strukturell die »der sich entwickelnden & von jeder neuen Generation übernommenen Produktivkräfte & damit die Geschichte der Entwicklung der Kräfte der Individuen selbst« (DI 103 f./72).437 Für diese besteht sie in der zielstrebigen Entwicklung des menschlichen Gattungswesens, wobei der »Communismus« das »für die nächste geschichtliche Entwicklung nothwendige [!] Moment der menschlichen Emancipation und Wiedergewinnung [!]« (ÖPM 275/545) ist.438 Die materialistische Auffassung der Geschichte besitzt eine norma437 Die zweite Satzhälfte erscheint im Licht der Einsichten des Kapitals als missverständlich: III,1.3. 438 Dass in den Manuskripten der »Topos einer Rückkehr zum verlorenen Ur­ sprung« anklingt, der seinerseits den Gedanken nahelegt, »die Entfremdung habe diesen ›Sinn in der Entwicklung der Menschheit‹, daß zuerst ein Opfer darzubringen sei, damit der Mensch in seine Herrlichkeit eingehe«, sieht Fleischer (1970). Er möchte dem aber »nicht so viel theoretische Verbindlichkeit« (50 f.) beimessen, zumal Marx später dergleichen rigoros kritisiert habe. Nach Kittsteiner (1980: 81) haben die Manuskripte Hegels »mystische[m] Bewegungsprinzip der ›Dialektik der Negativität‹ nichts

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tive, nämlich evaluative Dimension nur insofern, als ohne sie die Rede von ›Fortschritt‹ keinen Sinn ergäbe. Ohne die positive Bewertung der thematisierten historischen Entwicklung ließe sich nicht von ›Fortschritt‹ sprechen. Die positive Bewertung der wachsenden Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit enthält aber nicht schon den Maßstab einer gesollten, ›höheren‹ Gesellschaftsform. Anders als die Manuskripte ist die Deutsche Ideologie (bzw. die in ihr propagierte materialistische Methode) mit einem teleologischen Begriff der Geschichte unvereinbar. Wie diese begreift sie aber die kapitalistische Gesellschaft als einen historisch vorübergehenden Zustand. Ihre Antizipation des nachkapitalistischen Zustands basiert dem Anspruch nach nicht auf einem normativ gewendeten Wesensbegriff des Menschen, sondern folgt aus der empirischen Analyse der ›wirklichen Bewegung‹. Das marxsche Selbstverständnis und der sachliche Gehalt der Kapitaltheorie kommen auf dem Feld der Geschichtstheorie so wenig zur Deckung wie auf den bislang thematisierten Feldern auch. Marx erweckt zwar den Eindruck eines radikalen Bruchs mit der Geschichtsphilosophie, tatsächlich bricht er aber nur mit der der klassischen deutschen Philosophie, während er positiv an die französische und britische Tradition anknüpft. Aber die Art, in der er an diese Tradition anknüpft und ›materialistisch‹ über sie hinausgeht, ist mit der Kapitaltheorie unvereinbar. Die Unterscheidung von realer und idealer Geschichtsschreibung ist in der von Marx intendierten Weise nicht haltbar (6.1.). Indem Marx dem historischen Prozess einen Sinn zuschreibt, argumentiert er sogar wieder teleologisch (6.2.). Es ist daher abschließend zu fragen, was von der in Aussicht gestellten ›höheren‹ Gesellschaftsform zu halten ist. Handelt es sich bei der von Marx als ›freie Assoziation der Produzenten‹ bezeichneten Gesellschaft um eine gefährliche Utopie, wie manche meinen? (6.3.)

6.1. Kapitaltheorie und materialistische Geschichtsauffassung Von einem radikalen Bruch mit der philosophischen Geschichtsschreibung kann bei Marx nur dann gesprochen werden, wenn mit Philosophie die klassische deutsche Philosophie, besonders die Hegels und der Hegelianer gemeint ist. Ihnen wird vorgeworfen, sie würden der Geschichte eine teleologische Struktur andichten und interessierten sich kaum für deren wirkliche Triebkräfte. Schon die Manuskripte kritisieren, Hegel entgegenzusetzen als eine ebenso mystische Geschichte der Entfremdung der Arbeit und der Rücknahme dieser Entfremdung. Das eine ist Geschichtsphilosophie so gut wie das andere.«

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habe zwar die »Selbsterzeugung d[es] Menschen« durch Arbeit erkannt, die Arbeit aber als »abstrakt geistige« mystifiziert (ÖPM 292/574). Und wenig später setzen Marx und Engels den »deutschen Ideologen« (meint: Philosophen) die Erkenntnis entgegen, »die Produktion des materiellen Lebens selbst« sei die »erste geschichtliche Tat« und zugleich »eine Grundbedingung aller Geschichte, die noch heute, wie vor Jahrtausenden, täglich und stündlich erfüllt werden muß«. Bei »den voraussetzungslosen Deutschen«, heißt es polemisch, müssen wir »damit anfangen, daß wir die erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz, also auch aller Geschichte, constatiren, nämlich die Voraussetzung, daß die Menschen im Stande sein müssen zu leben, um ›Geschichte machen‹ zu können« (DI 26/28). In einem milderen Licht erscheinen »die Franzosen & Engländer«. Sie haben »immerhin die ersten Versuche gemacht, der Geschichtsschreibung eine materialistische Basis zu geben, indem sie zuerst Geschichten der bürgerlichen Gesellschaft, des Handels & der Industrie schrieben« (DI 27/28). Von ihnen leiten Marx und Engels ihre methodologische Forderung her, wonach »die ›Geschichte der Menschheit‹ stets im Zusammenhange mit der Geschichte der Industrie & des Austausches studirt und bearbeitet werden« (DI 29/30) müsse. In der Tat: Dass die Arbeit die bleibende Grundlage der menschlichen Geschichte ist, dass sie sowohl Herrschaft und Ausbeutung wie auch Fortschritt ermöglicht und dass die Menschen auf ihrer Grundlage ihre Geschichte zwar selbst machen, aber nicht über sie verfügen – all das sind keine Epoche machenden Einsichten von Marx. Auf den erstgenannten Sachverhalt werden Philosophen und Theologen bereits im Hochmittelalter und noch im Rahmen heilsgeschichtlichen Denkens aufmerksam. In Thomas von Aquins Bestimmung des Menschen als ›animal sociale‹ ist die Gesellschaft mit ihrem konstitutiven Moment der Arbeit als ein eigenständiges Thema von Philosophie und Theologie bereits anerkannt. Zwar war Arbeit »schon nach der Benediktinerregel ›Ora et labora‹ Pflicht, aber vornehmlich als aszetisches Mittel zur Deifikation des Menschen«. Die mönchische Lebensweise, die Jahrhunderte hindurch als Ideal gegolten hatte, »muß sich nun umgekehrt gegenüber den Zwecken der weltlichen Gesellschaft legitimieren«. (Mensching 1992: 251; 231 f.)439 Bereits vor dem Übergang von der theologischen Heilsgeschichte zur säkularen Geschichtsphilosophie geraten die weltlichen Dinge und dort besonders die Arbeit zunehmend in den Blick der Theoretiker. Dies nicht zufällig, hat doch dieser Übergang seine realgeschichtliche Grundlage in den sich allmählich herausbildenden frühbürgerlichen Verhältnissen, der 439 Mensching zeigt, »wie die ideologische Rechtfertigung der bürgerlichen Gesellschaft und Eigentumsordnung« im 18. und 19. Jahrhundert »sich, ohne dies zu wissen, auf ein Resultat der hochscholastischen Metaphysik« stützt (ebd. 217).

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Entstehung von Geldwirtschaft, Handelskapital und den Erfolgen der profanen Wissenschaften. Der zweite Sachverhalt, der Zusammenhang von Arbeit, Herrschaft, Mehrprodukt und historischem Fortschritt, tritt in den Fokus neuzeitlichen Denkens.440 Die Dynamisierung der anfangs, bei den Physiokraten, noch statischen Auffassung der Ökonomie durch ihre Historisierung, und die Einbeziehung zentraler ökonomischer Einsichten in die Geschichtsphilosophie führen dazu, dass der historische Prozess als eine Abfolge von Stadien beschrieben werden konnte, die durch die unterschiedliche Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit, der Eigentumsverhältnisse, der Arbeitsteilung und den unterschiedlichen Stand von Wissenschaft und Technik charakterisiert sind. Zentrale Bedeutung hat dabei der aus der Ökonomie stammende Begriff des surplus (Mehrprodukt). Gesellschaften, die sich durch den Stoffwechsel mit der Natur nicht nur einfach reproduzieren, sondern ein über die Notwendigkeiten ihrer Selbsterhaltung hinausgehendes Mehrprodukt erarbeiten, schaffen damit die materielle Bedingung für einen kulturellen Fortschritt. Die Produktion eines gesellschaftlichen Mehrprodukts erweist sich somit als Möglichkeitsbedingung eines gerichteten Prozesses, in dessen Verlauf mehr und andere Güter produziert werden und die technischen Fähigkeiten und wissenschaftlichen Erkenntnisse zunehmen. Geschichte kann demnach, so scheint es, durch die Analyse der in ihr wirksamen Triebkräfte als ein gerichteter, kontinuierlicher und sich sogar beschleunigender Prozess begriffen werden, ohne dass ihr dabei ein Endziel unterstellt werden müsste. Durch die Übertragung des ursprünglich aus der Ökonomie stammenden Modells der erweiterten Reproduktion auf die Geschichtstheorie zeichnet sich schon zu Beginn der Geschichtsphilosophie die Möglichkeit einer nicht teleologisch argumentierenden Theorie der Geschichte ab. »In der Stadientheorie werden Gründe angegeben, die ausdrücklich nicht teleologisch konstruiert sind: Es werden weder Handlungszwecke der beteiligten Individuen unterstellt«, so Rohbeck (2000: 41441), »noch gibt es in diesem Kontext Hinweise auf eine über440 Zu nennen sind hier bspw. Turgot, Condorcet, Ferguson, Millar und natürlich Adam Smith. »Der ökonomistische Zug frühliberalen Denkens tritt vor allem bei den Vertretern der schottischen Schule in Erscheinung, die die Frage nach dem ›mode of subsistence‹ des Menschen auf eine Marx gelegentlich vorwegnehmende Weise stellen.« Kondylis (1981: 425). 441 Rohbecks »Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie« stützt sich mit guten Gründen auf das schon von der Philosophie der Aufklärung in Anschlag gebrachte Modell der erweiterten Reproduktion. Die technischen Mittel enthielten »ein kreatives Überschußpotential«, das »den Horizont der Hand­lungsmöglichkeiten« erweitere und neue Zwecke ermögliche. Zugleich enthielten sie einen nicht intendierten spezifisch »kulturellen Über­ schuß«. Sie seien nicht wertneutral, sondern verkörperten Gebrauchszwecke

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individuelle Instanz, die dabei auf ein allgemeines Ziel hin hätte einwirken können.« Die Einsicht in den dritten Sachverhalt: die Menschen machen zwar ihre Geschichte, verfügen aber nicht über sie, ergibt sich aus der Analyse des zweiten. Nicht von ungefähr vergleicht Turgot die Geschichte mit einer riesigen Armee, in der ein jeder seine Aufgabe erfüllt, »ohne zu wissen, wie es endet« (Turgot 1751/3: 176). Die Geschichte wird von den Menschen gemacht, insofern nur sie zu zweckrationalem Handeln fähig sind, und sie wird von ihnen nicht gemacht, insofern das Ganze der Geschichte nicht als intendiertes Resultat des Handelns der Vielen begreifbar ist, sondern nur als dessen nicht intendierte Folge.442 Die Hinwendung der Philosophie zur Geschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist durch das Bewusstsein des Scheiterns jener Staatstheorien und Gesellschaftsutopien (Machiavelli, Morus, Bacon, Campanella, Hobbes) vermittelt, »in denen sich der Mensch als Konstrukteur und Täter seiner Geschichte zu bewähren gedachte« (Kittsteiner 1980: 142). Die Zuversicht, dass sich durch die partikularen Fortschritte auf den verschiedensten Gebieten neue Möglichkeiten der technischen und politischen Selbstbehauptung ergeben werden, weicht dem Bewusstsein von dem Fortschritt und der Geschichte als einem sich beschleunigenden Prozess, den die eigentlichen Subjekte nicht steuern können. Die geschichtliche Zeit wird jetzt als dynamischer Prozess erfahren, und das veränderte Zeitbewusstsein findet seinen Ausdruck in neuen Kollektivsingularen. Koselleck hat skizziert, wie der Kollektivsingular ›der Fortschritt‹ in drei sich überschneidenden Phasen entstanden und zum Leitbegriff geworden ist. »Zunächst wird das Subjekt des Fortschritts universalisiert«. Es bezieht sich nicht mehr auf partikulare Bereiche wie Wissenschaft, Technik, Kunst, sondern auf »den Fortschritt der Menschheit«. Aus den Geschichten der einzelnen Fortschritte wird so der Fortschritt der Geschichte. Im Zuge dieser Universalisierung vertauschen, zweitens, Subjekt und Objekt ihre Rolle. Im Ausdruck »›Fortschritt der Geschichte‹ übernimmt der Fortschritt den führenden Part, er wird selbst zum geschichtlichen und damit verbundene Wertentscheidungen. Insofern hätten sie »zweifellos eine normative Dimension«. Sie trügen aber auch dazu bei, »daß sich neue Bedürfnisse, Ziele und verallgemeinerte Wertvorstellungen herausbilden«. So sei »der Umgang mit ihnen sinnbildend«. (19 f.) Rohbeck konzentriert sich auf die Technik und erwähnt die Ökonomie am Rande. Das ist angesichts dessen, was Marx über den Zusammenhang beider Sphären zu sagen hat, kaum zu rechtfertigen. Wenn der technische Fortschritt und seine Folgen das empirische Substrat der Universalgeschichte ausmachen sollen: »Was wiederum treibt diesen ›Fortschritt‹ voran?« (Kittsteiner 1980: 96 f.). 442 Deshalb ist Vico mit seiner Lehre von der ›Vorsehung‹ in der menschlichen Geschichte »der erste wirkliche Geschichtsphilosoph der Neuzeit gewesen« (Horkheimer 1930: 252).

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Agens«. Zuletzt verselbständigt sich der Ausdruck ›der Fortschritt‹: Er »wird zum ›Fortschritt schlechthin‹, zum Subjekt seiner selbst«. (Koselleck 1980: 173 f.) Marx findet die genannten Einsichten vor und knüpft an sie an, aber nur soweit, wie sie ihm nicht ideologisch kontaminiert scheinen. Dass die Menschen ihre Geschichte machen, aber nicht über sie verfügen443 und dass der ungeplant sich vollziehende und immer weiter beschleunigende Fortschritt untrennbar mit der Entstehung und Etablierung der modernen bürgerlichen Gesellschaft verbunden ist, erscheint aus materialistischer Perspektive als richtiges Urteil über die jüngere Vergangenheit und bürgerliche Gegenwart. Allerdings haben ›die Franzosen und Engländer‹ noch nicht erkannt (und aufgrund historischer Beschränkung auch nicht erkennen können), dass die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, unter denen die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit ›treibhausmäßig‹ gedieh, zu einer Fessel weiteren Fortschritts geworden sind. Damit entfällt zum einen der Grund für ihre Rechtfertigung, und zum anderen scheint ihre Kritik und die Forderung nach Abschaffung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse in der Bewegung der Sache selbst gegründet. Die materialistische Kritik an der idealen Geschichtsschreibung der klassischen deutschen Philosophie genauer betrachtet, lautet: Sie abstrahiere von der wirklichen Basis des historischen Prozesses oder mystifiziere diesen. Tatsächlich herrscht an Belegen dafür, dass Marx dieser Auffassung ist, kein Mangel. Kant figuriert in der Deutschen Ideologie als »beschönigender Wortführer« der »deutschen Bürger«. Ihm sei ebenso wenig wie diesen bewusst gewesen, dass den »theoretischen Gedanken der [französischen] Bourgeois materielle Interessen und ein durch die materiellen Produktionsverhältnisse bedingter und bestimmter Wille zugrunde« lag. Er »trennte daher diesen theoretischen Ausdruck von den Interessen, die er ausdrückt, machte die materiell motivirten Bestimmungen des Willens der französischen Bourgeois zu reinen Selbstbestimmungen des ›freien Willens‹, des Willens an und für sich, des menschlichen Willens, und verwandelte ihn so in rein ideologische Begriffsbestimmungen und moralische Postulate« (DI 249 f./178). Im Zentrum der Kritik steht aber natürlich Hegel. Bereits vor der Ausarbeitung seines eigenen materialistischen Programms, noch unter dem unmittelbaren Eindruck Feuerbachs, zeiht Marx Hegel eines »unkritische[n] Positivismus« (ÖPM 285/573). Anders als Kant, der bewusstlos materiell motivierte in reine Willensbestimmungen auflöse, abstrahiere Hegel nicht von der »gewöhnlichen Empirie«, sondern mystifiziere diese. »Die Wirklichkeit wird nicht als sie selbst, sondern als eine andere Wirklichkeit ausgesprochen. 443 Vgl. den Hinweis auf Vico: K I² 364 Anm. 89/393 Anm. 89; vgl. BLB 96 f./115.

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Die gewöhnliche Empirie hat nicht ihren eignen Geist, sondern einen fremden zum Geist, wogegen die wirkliche Idee nicht eine aus ihr selbst entwickelte Wirklichkeit, sondern die gewöhnliche Empirie zum Dasein hat.« (KHS 8/206) Hegels Interesse gelte nicht der »eigenthümliche[n] Logik des eigenthümlichen Gegenstandes« (KHS 101/296). »Das einzige Interesse ist ›die Idee‹ schlechthin, die ›logische Idee‹ in jedem Element, sei es des Staates, sei es der Natur, wiederzufinden.« (KHS 12 f./210 f.) Und in der Deutschen Ideologie heißt es wenig später: »Die Hegelsche Geschichtsphilosophie ist die letzte, auf ihren ›reinsten Ausdruck‹ gebrachte Konsequenz dieser gesammten Deutschen Geschichtschreibung, in der es sich nicht um wirkliche, nicht einmal um politische Interessen, sondern um reine Gedanken handelt.« (DI 48 f./39) Abstraktionen à la Kant und Mystifikationen à la Hegel sind demnach konstitutiv für die teleologisch argumentierende Geschichtsphilosophie. Denn ›empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekulation‹ lassen sich keine ›Bestimmung‹, kein ›Zweck‹ und damit auch kein Sinn der menschlichen Geschichte nachweisen. »Die Geschichte ist nichts als die Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen, von denen Jede die ihr von allen vorhergegangenen übermachten Materiale, Kapitalien, Produktionskräfte exploitirt.« Diesen Sachverhalt »verdreht« die Philosophie so, »daß die spätere Geschichte zum Zweck der früheren gemacht wird«, sie macht die Geschichte selbst zu einem Subjekt mit »aparten Zwecke[n]«. (DI 40/45) Einerseits lassen sich Kants regulative Idee einer ›Naturabsicht‹ (›die Natur hat gewollt‹) und Hegels ›Vernunft in der Geschichte‹ (›List der Vernunft‹) nicht empirisch dingfest machen. Andererseits spielt das, was sich empirisch eruieren lässt, geschichtsphilosophisch keine eigenständige Rolle: Die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit, die Veränderung der Produktions- und Eigentumsverhältnisse, die Entwicklung von Wissenschaft und Technik, die Herausbildung einer neuen Art von Ökonomie usw. Dass die ideale philosophische Geschichtsschreibung von dem absieht und sogar absehen muss, was zufolge Marx die wirkliche Grundlage des historischen Prozesses ausmacht, spricht sie selbst aus. »Nicht alles, was geschieht«, so Schelling, »ist darum ein Objekt der Geschichte«. »[D]as einzig wahre Objekt der Historie [kann] nur das allmähliche Entstehen der weltbürgerlichen Verfassung seyn, denn eben diese ist der einzige Grund einer Geschichte. […] Alles übrige aber, was sonst gewöhnlich in die Historie aufgenommen wird, Fortgang der Künste, der Wissenschaften u.s.w. gehört eigentlich gar nicht in die Historie κατ‘ ἐξοχήν, oder dient doch in derselben bloß entweder als Document oder als Mittelglied, weil auch die Entdeckungen in Künsten und Wissenschaften hauptsächlich dadurch, daß sie die Mittel sich wechselseitig zu schaden vervielfältigen und erhöhen, und eine Menge anderer 445

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vorher unbekannter Uebel herbeiführen, dazu dienen den Fortschritt der Menschheit zur Errichtung einer allgemeinen Rechtsverfassung zu beschleunigen.« (Schelling 1800: 656; 659 f.)

Schellings Auskunft, Universalgeschichte sei nur möglich in Bezug auf die den Menschen als Vernunftwesen aufgegebene Realisierung einer universellen rechtlichen Verfassung, nicht aber in Bezug auf partikulare Zwecke, kann den Materialisten nicht überzeugen, ist sie doch von einem Vernunftbegriff abhängig, den dieser nicht teilt. Vor allem aber ignoriert sie, was geradezu augenfällig ist: dass es die partikularen Zwecksetzungen der Vielen sind, die unter veränderten wissenschaftlich-technischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Vokabel ›Weltgeschichte‹ allererst einen Gegenstand anschaffen. »Weltgeschichte existirte nicht immer; die Geschichte als Weltgeschichte Resultat.« (EKPÖ 44/44) Der Begriff der Weltgeschichte bezeichnet kein ahistorisch Gegebenes, sondern bildet sich in dem Maße heraus, wie sein Gegenstand realgeschichtlich Gestalt annimmt, wie die lokalen Entwicklungen ursprünglich mehr oder weniger isolierter menschlicher Kollektive durch die Entstehung von Welthandel und weltweiter Arbeitsteilung ökonomisch zu einem Ganzen integriert werden.444 »[J]e mehr die ursprüngliche Abgeschlossenheit der einzelnen Nationalitäten durch die ausgebildete Produktionsweise, Verkehr & dadurch naturwüchsig hervorgebrachte Theilung der Arbeit zwischen verschiednen Nationen vernichtet wird, desto mehr wird die Geschichte zur Weltgeschichte, sodaß z.B. wenn in England eine Maschine erfunden wird, die in Indien & China zahllose Arbeiter außer Brot setzt & die ganze Existenzform dieser Reiche umwälzt, diese Erfindung zu einem weltgeschichtlichen Faktum wird.« (DI 40 f./45 f.) Vor dem Hintergrund der materialistischen Geschichtsauffassung versteht es sich von selbst, dass der Begriff der idealen philosophischen Geschichtsschreibung ein kritischer und polemischer ist und Marx selbst keine geschichtsphilosophischen Intentionen unterstellt werden dürfen. Tatsächlich hat er dergleichen ausdrücklich zurückgewiesen. In seinem Brief an die Redaktion der Otetschestwennyje Sapiski verwahrt er sich 1877 ausdrücklich gegen die Annahme, er habe im Kapitel über ›Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation‹ geschichtsphilosophisch argumentiert. »[M]eine historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges verwandeln, der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist, was immer die geschichtlichen Umstände 444 »Den im Begriffe ›Geschichte‹ gemeinten Gegenstand, also den Prozeß der Geschichte selbst, hat es nicht immer gegeben.« Zunächst entsprangen »aus einem geschichtsneutralen Zeitbrei« lokale und regionale Geschichten, und erst heute entspricht der ›Universalgeschichte‹ ein Sachverhalt. (Anders 1980: 272 f.).

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sein mögen, in denen sie sich befinden, heißt mir zugleich zu viel Ehre und zu viel Schimpf antun.« Marx greift hier implizit auf ein Argument zurück, dass er schon in der Deutschen Ideologie gegen ›die‹ Philosophie angeführt hat. Der Schlüssel für die Erklärung historischer Entwicklungen sei nur zu finden, wenn »man jede dieser Entwicklungen für sich studiert und sie dann miteinander vergleicht«. Man werde aber »niemals dahin gelangen mit dem Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein« (BOS 111 f.).445 Es soll also auch 1877 noch gelten, was dreißig Jahre zuvor schon feststand: Wer Wissenschaft treiben will, der darf nicht philosophisch argumentieren, sondern muss »sich als ein gewöhnlicher Mensch an das Studium der Wirklichkeit geben, wozu auch literarisch ein ungeheures, den Philosophen natürlich unbekanntes Material vorliegt« (DI 291/218).446 Marx sieht in seiner ›Skizze‹ der so genannten ursprünglichen Akkumulation keinen Universalschlüssel, daher auch keinen Schlüssel für die Entwicklung, die Russland bevorstehe. Nur so viel sei richtig: »Wenn« Russland dahin strebe, »eine kapitalistische Nation nach westeuropäischem Vorbild zu werden«, so werde es »vorher einen guten Teil seiner Bauern in Proletarier« verwandeln müssen, und »einmal hineingezogen in den Wirbel der kapitalistischen Wirtschaft, wird es die unerbittlichen Gesetze dieses Systems zu ertragen haben, genauso wie die andern profanen Völker. Das ist alles.« (BOS 111) Das ist nicht nur nicht alles, es ist auch irreführend. Abgesehen von der unscharfen Formulierung »kapitalistische Nation nach westeuropäischem Vorbild«, in der sich das spezifisch ökonomische mit dem politisch-rechtlichen Element vermischt (ein Land kann eine kapitalistische Produktionsweise haben und den westeuropäischen, nämlich politischen Begriff der Nation zugunsten etwa eines völkischen ablehnen), erweckt Marx den Eindruck, es stehe einer Nation frei, ob sie kapitalistisch werden wolle oder nicht. Zumindest für Russland sieht er, Tschernyschewski zustimmend, diese Möglichkeit. Russland könne »sich alle Früchte« des kapitalistischen Regimes aneignen, ohne seine »Qualen« durchzumachen, »indem es seine eignen geschichtlich gegebnen Voraussetzungen weiter entwickelt« (BOS 107 f.). Angesichts der tatsächlichen historischen Entwicklung ist Marx’ Auskunft nicht sehr plausibel. Realgeschichtlich hat sich keine Nation, ob groß oder klein, auf Dauer dem »Wirbel der kapitalistischen Wirtschaft« 445 Vgl. DI 136/27. 446 Das Studium der Wirklichkeit zeige beispielsweise, dass »im alten Rom« die Expropriation der ursprünglich freien Bauern und die ihr korrespondierende Bildung von Großgrundbesitz und großen Geldkapitalien nicht zur Entstehung einer Lohnarbeiterklasse und zu kapitalistischer Produktion führte, sondern sich eine auf Sklavenarbeit beruhende Produktionsweise etablierte.

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entziehen können, alle wurden über kurz oder lang in ihn hineingezogen. Die Auskunft ist aber vor allem unvereinbar mit der Kapitaltheorie. Die kapitalistische Produktionsweise, bemerkt Marx in seiner Untersuchung der Kreisläufe von Geldkapital, produktivem Kapital und Warenkapital, ist historisch »bedingt […] durch unterhalb ihrer Entwicklungsstufe liegende Produktionsweise. Ihre Tendenz alle Produktion möglichst in Waarenproduktion umzuwandeln durch Hereinziehn derselben in ihren Cirkulationsprocess u. die entwickelte Waarenproduktion selbst ist kapitalistische Waarenproduktion. Das Eingreifen des industriellen Kapitals in den Weltmarkt bewirkt überall diese Umwandlung u. fördert sie at all events. (Also auch die Verwandlung des unmittelbaren Producenten in Lohnarbeiter).« (K II 651/114)447 Wenn Marx wenige Seiten zuvor das Kapital als ›automatisches Subjekt‹448 charakterisiert, scheinen Zweifel angebracht, ob der Unterschied von idealer (philosophischer) und realer (materialistischer) Geschichtsschreibung auf die kurze Formel zu bringen ist, wonach diese von der wirklichen Geschichte handelt, während jene die wirkliche Geschichte verdreht und mystifiziert. Das Kapital, so Marx gegen die Auffassung bürgerlicher Ökonomen, ist »ein Kreislaufsprocess durch verschiedne Formen, der selbst wieder den Kreislaufsprocess in 3 verschiednen Formen einschliesst. Es kann daher nur als Bewegung u. nicht als ruhiges Ding begriffen werden. Diejenigen, die die Verselbstständigung des Werths als eine Abstraktion betrachten, vergessen dass die Bewegung des industriellen Kapitals diese Abstraktion in actu ist.« Die nicht »dinglichen«, ungegenständlichen Bewegungen des Kapitals werden durch die Tätigkeit der einzelnen Kapitalisten »vermittelt«; sie »drücken sich mit Bezug auf den industriellen Kapitalisten aus, dass er als Waaren- u. Arbeitkäufer [Arbeitskraftkäufer], Waarenverkäufer, u. produktiver Kapitalist funktionirt«. Ob seine Kalkulationen zutreffen und seine Pläne sich realisieren lassen, kann er angesichts der Autonomie des gesellschaftlichen Verwertungsprozesses nur hoffen. »Je akuter u. häufiger 447 Marx hat wiederholt darauf hingewiesen, welche Folgen es für große Teile der Bevölkerung von Ländern mit vorkapitalistischer Produktionsweise hat, wenn sie »hineingezogen werden in einen durch die kapitalistische Produktionsweise beherrschten Weltmarkt, der den Verkauf ihrer Produkte ins Ausland zum vorwiegenden Interesse entwickelt«. Den »barbarischen Greueln der Sklaverei, Leibeigenschaft u.s.w. [wird] der civilisirte Greuel der Ueberarbeit aufgepfropft«. Mit dem Übergang von der auf den Selbstbedarf ausgerichteten Produktion zu einer exportorientierten verlor die »Negerarbeit« in den amerikanischen Südstaaten ihren »gemäßigt patriarchalischen Charakter« und die »Ueberarbeitung des Negers, hier und da die Konsumtion seines Lebens in sieben Arbeitsjahren, [ward] Faktor eines berechneten und berechnenden Systems«. (K I² 242/250). 448 Der Ausdruck selbst findet sich in K I² 172/169.

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die Werthrevolutionen werden, desto spekulativer wird die automatische Werthbewegung, desto gefährlicher für individuelle industrielle Kapitale.« (K II 646/109) Aus der Perspektive der materialistischen Geschichtsauffassung muss die genannte Charakterisierung des Kapitals als eine Verdrehung und Mystifizierung der Wirklichkeit erscheinen, wie sie Marx seit den frühen 1840er Jahren der Philosophie vorhält. Dass sich die Passage kritisch gegen die bürgerliche Ökonomie richtet, entbehrt zudem nicht der Ironie, galten doch Marx die Ökonomen im Unterschied zu den Philosophen zunächst als Wissenschaftler, die die bürgerliche Wirklichkeit erklären und nicht ideologisch verdrehen. Das Handeln der industriellen Kapitalisten, die ›gewöhnliche Empirie‹ also, soll gründen in dem empirisch nicht feststellbaren Prozess des gegenüber diesen Akteuren verselbständigten Werts. Mit den Worten der marxschen Hegelkritik ließe sich sagen: »Das wirkliche Verhältniß ist«: Die Kapitalisten kaufen auf dem Markt Produktionsmittel und Arbeitskräfte, um Waren produzieren zu lassen, die sie auf dem Markt mit Profit verkaufen wollen. »Diese Thatsache, dieß wirkliche Verhältniß wird von der Spekulation als Er­ scheinung, als Phänomen ausgesprochen.« Das heißt aber: »Die Wirklichkeit wird nicht als sie selbst, sondern als eine andere Wirklichkeit ausgesprochen.« Die wesentliche Vermittlung vollzieht sich »hinter der Gardine« (KHS 8/206). Nun hat Marx gute Gründe, das Kapital in der zitierten Weise zu charakterisieren. Seine Analysen der bürgerlichen Ökonomie haben, um im Bild zu bleiben, die Gardine weggezogen und den bislang verborgenen Prozess theoretisch sichtbar gemacht. Die Ergebnisse der Kapitaltheorie blamieren so zu einem guten Teil das materialistische Programm der frühen Jahre. Sie zeigen aber ebenso, dass sich das Interesse am »inte­ resselose[n] Denken« (K I² 183 Anm. 37/180 Anm. 37), das Interesse an der Erklärung der Sache gegenüber dem an der Einlösung des vorab formulierten Programms, durchgesetzt hat. Entgegen den bereits diskutierten demonstrativen Bekenntnissen des Autors des Kapitals zur materialistischen Auffassung zeigt sich, wie der »Vorrang des Objekts« (Adorno 1966: 193449) den Theoretiker zu spekulativen Bestimmungen nötigt, die den methodisch vorgegebenen Rahmen sprengen. Gegenstand des Kapitals ist zwar nicht die Geschichte, sondern die kapitalistische Produktionsweise. Da die systematische Untersuchung der Produktionsweise deren historische Genese aber nicht ausblenden darf (III,5.3.2.), die Genese des Kapitals aber zusammenfällt mit dem 449 ›Vorrang des Objekts‹ heißt nach Adorno, der Gegenstand der Wissenschaft hat notwendig die Seite der Unabhängigkeit gegen seine systematische Bestimmung in der Wissenschaft.

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Entstehen der materiellen Grundlagen der Universalgeschichte, sind der Kapitaltheorie mit und gegen Marx Einsichten zu entnehmen, die eine Theorie oder Philosophie der Geschichte nicht ignorieren darf. Die Behauptung, die Genese des Kapitals falle zusammen mit dem Entstehen der materiellen Grundlagen der Universalgeschichte, stammt aus der Deutschen Ideologie. Sie wird durch die avancierte Kapitaltheorie nicht zurückgenommen. Und dennoch ist der Blick, den die Kapitaltheorie auf die Geschichte eröffnet, von dem der frühen Schrift unterschieden. Es ist eben eines, die Genese des Kapitals aufgrund der vorliegenden Daten und Zeugnisse zu beschreiben, und ein anderes, sie im Bewusstsein der Differenz von Genese und Struktur des Kapitals zu konstruieren. Die Differenz von Genese und Struktur des Kapitals kommt erst in der Kapitaltheorie zum Tragen. Jetzt ist deutlich, dass der etablierte Gesamtreproduktionsprozess eine idealistische Struktur hat. Als ›automatisches Subjekt‹ ist das Kapital gegenüber seinen Entstehungsbedingungen verselbständigt. Es kann daher nicht aus diesen Bedingungen empirisch erklärt werden. Und auch die Geschichte seines Werdens lässt sich nicht einfach mit den Mitteln empirischer Forschung schreiben, sie muss vielmehr wesentlich konstruiert werden. Das Prinzip der Konstruktion ist der Begriff des Kapitals. Nur unter seiner Voraussetzung, mithin unter der Voraussetzung, dass der systematische Zusammenhang der ›Kategorien‹ der bürgerlichen Ökonomie erkannt ist, können überhaupt historische Bedingungen der Entstehung dieser Ökonomie identifiziert werden. Mit Marx bekannter Analogie: Die »Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Höhres in den untergeordnetren Thierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist.« (EKPÖ 40/39) Dass es eines ›Schlüssels‹ bedarf, um die Genesis des Kapitals zu konstruieren, zeigt, dass diese Geschichte nicht einfach vorliegt und als Vorliegende zu konstatieren ist. Mit der wachsenden Einsicht in die Struktur der kapitalistischen Produktionsweise verändert sich auch der theoretische Zugriff auf die Geschichte. Einen Schlüssel, nämlich ein Konstruktionsprinzip der Geschichte, hatte Marx in der Deutschen Ideologie ausgeschlossen. Deren Direktive für die positive Wissenschaft lautete: Es sei auszugehen »von den wirklichen Voraussetzungen«, nämlich von den Menschen »in ihrem wirklichen empirisch anschaulichen Entwicklungsprozeß unter bestimmten Bedingungen«. Diese Voraussetzungen seien »keinen Augenblick« zu verlassen. Versprochen wurde: »Sobald dieser thätige Lebensprozeß dargestellt wird, hört die Geschichte auf, eine Sammlung todter Fakta zu sein, wie bei den selbst noch abstrakten Empirikern, oder eine eingebildete Aktion eingebildeter Subjekte, wie bei den Idealisten.« (DI 136/27). Indem Marx einräumt, es bedürfe eines Konstruktionsprinzips, um die Geschichte des Werdens des Kapitals darzustellen, bricht er mit der methodologischen Forderung der Deutschen Ideologie und rehabilitiert 450

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eine Einsicht der von ihm bekämpften Geschichtsphilosophie (ob er sie in vollem Bewusstsein und in letzter Konsequenz rehabilitiert, wird weiter unten zu erörtern sein). Selbstverständlich ist von den »wirklichen Voraussetzungen« auszugehen, aber diese präsentieren sich dem betrachtenden Subjekt immer schon im Lichte von begrifflichen Unterscheidungen, die selbst nicht zu diesen Voraussetzungen zählen. Geschichte liegt nicht einfach vor als vom erkennenden Subjekt unabhängige objektive Einheit der vergangenen Geschehnisse. Ihre Auffassung als einheitliches Ganzes, als strukturierter Gegenstand, ist Resultat einer theoretischen Konstruktion.450 Schon »der gewöhnliche und mittelmäßige Geschichtsschreiber«, so Hegel, »bringt seine Kategorien mit und sieht durch sie das Vorhandene; bei allem insbesondere, was wissenschaftlich sein soll, darf die Vernunft nicht schlafen und muß Nachdenken angewandt werden« (PhGsch 23). Was der Gegenstand Geschichte unabhängig von seiner Konstruktion sein soll, ist nach der kopernikanischen Wende Kants nicht zu sagen. Marx unterscheidet im Kapital und den Vorarbeiten grob die »his­ torische Genesisperiode« des Kapitals von der Periode seiner »Realisierung« im eigenen Produktionsprozess. »Der Proceß des Werdens des Capitals zum Capital oder seiner Entwicklung vor dem capitalistischen Productionsproceß selbst und seiner Realisirung in diesem Proceß gehören hier zwei historisch verschiednen Perioden. In der leztren ist es un­ terstellt, sein Dasein als sich selbst bethätigendes vorausgesezt. In der erstern ist es Niederschlag des Auflösungsprocesses einer andren Gesellschaftsform.« (ÖM IV 1492)451 Die Genesisperiode des Kapitals hebt im 16. Jahrhundert an. »Obgleich die kapitalistische Produktion schon im 14. und 15. Jahrhundert sporadisch ihren Sitz in den Ländern am Mittelmeer aufschlug, datirt die kapitalistische Aera erst vom 16. Jahrhundert.« (K I² 645/743) Die Voraussetzungen der Entstehung des Kapitals sind »Waarenproduktion, Waarencirkulation und entwickelte Waarencirkulation, Handel«. Sie deuten bereits auf seine weltgeschichtliche Dimension. »Von der Schöpfung des modernen Welthandels und Weltmarkts im 16. Jahrhundert datirt die moderne Lebensgeschichte des Kapitals.« (K I² 165/161) Sie »eröffnen« die moderne Lebensgeschichte des Kapitals, sind aber nicht dessen adäquate Gestalt. Diese ist erst mit der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital in der Epoche der 450 Das spricht gegen Engels’ rustikale Alternative: Sich entweder, wie die Philosophen, »Zusammenhänge im Kopf auszudenken«, oder diese Zusammenhänge, wie Marx, »in den Thatsachen zu entdecken« (LF 161/306). 451 »Die Bedingungen und Voraussetzungen des Werdens, des Entstehns des Capitals unterstellen eben, daß es noch nicht ist, sondern erst wird; sie verschwinden also mit dem wirklichen Capital, mit dem Capital das selbst, von seiner Wirklichkeit ausgehend, die Bedingungen seiner Verwirklichung sezt.« (Gr 368/372).

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großen Industrie gegeben. Erst jetzt produziert das Kapital die gegenständlichen Bedingungen seiner Verwertung selbst und ist seine Produktion zugleich Reproduktion seiner als gesellschaftliches Verhältnis. Das allgemeine Wissen der Gattung ist jetzt in der Produktionstechnik objektiviert, die den Arbeitern als Kapital entgegentritt. Die Produktionsverhältnisse haben einen quasi-natürlichen, irreversiblen Charakter angenommen. Genau dies meint ›adäquate Gestalt‹. Der Ausdruck besagt nicht, dass die große Industrie das einzig angemessene technische Korrelat des Kapitals ist (das widerspräche dem ökonomischen Zwang der Einführung immer effizienterer Produktionstechnik), sondern dass es die historisch erste adäquate Gestalt ist. Aus der Perspektive der Kapitaltheorie sind die ›empirischen Tatsachen‹, welche die Deutsche Ideologie anführt, um die Entstehung von Kapital, Weltmarkt und Weltgeschichte zu erklären, gar nicht zu bezweifeln. Auch die Betonung, es gehe um die ›wirklichen‹ Vergesellschaftungsprozesse der Menschen und nicht um Resultate der philosophischen Einbildungskraft (Beispiel par excellence: der hegelsche ›sogenannte Weltgeist‹ [ DI 42/37]), steht nicht zur Kritik. Zu kritisieren ist vielmehr das Verfahren der genetischen Erklärung selbst. Indem dieses dem Unterschied von Genese und Struktur nicht Rechnung trägt, verfehlt es sowohl die Genese wie die Struktur. Indem es vorgibt, Kapital und Weltmarkt aus ihren empirischen Entstehungsbedingungen zu erklären, erweckt es den Anschein, beide Begriffe seien empirischer Art. Aus der Perspektive der materialistischen Geschichtsauffassung ist der Weltmarkt ›eine empirische Tatsache‹, weil er im Unterschied zum Weltgeist auf handfesten ökonomischen und technischen Voraussetzungen basiert. Und während den Weltgeist nur Hegelianer kennen, ist der Weltmarkt jedermann bekannt. Freilich wäre hier mit Hegel zwischen Kennen und Erkennen zu unterscheiden. Denn auch wenn jedem bewusst ist, dass ökonomische oder technische Veränderungen in einem Teil der Welt Auswirkungen auf den Rest der Welt haben können und das eigene Leben über die diversen anonymen Märkte in einen Weltzusammenhang eingebunden ist, hat er diesen Zusammenhang doch damit noch nicht begriffen. Der Begriff des kapitalistischen Weltmarkts ist aber ebenso wenig wie der Begriff des Kapitals ein empirischer. Der kapitalistische Weltmarkt und »die innere Organisation der capitalistischen Productionsweise« (K III 853/839) sind keine Gegenstände möglicher Erfahrung und auch nicht in Analogie zu Gegenständen möglicher Erfahrung konstruierbar. Letzteres suggeriert die Deutsche Ideologie, wenn sie die große Industrie zu einem Weltmarkt und Weltgeschichte erzeugenden Subjekt stilisiert: Sie universalisiere die Konkurrenz, stelle die Kommunikationsmittel und den modernen Weltmarkt her, zwinge alle Individuen zu äußerster Anspannung und Energie, subsumiere die Naturwissenschaft unter das Kapital, löse alle naturwüchsigen Verhältnisse in Geldverhältnisse auf und mache alle Nationen 452

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und Individuen »von der ganzen Welt abhängig« (DI 87 f./60). Die von Marx hier wie später im Manifest aneinandergereihten Behauptungen verweisen allesamt auf Phänomene, die einer empirischen Untersuchung zugänglich sind.452 Allerdings führt ihre empirische Untersuchung allein nicht auf den Begriff des kapitalistischen Weltmarkts. Mit anderen Worten: Vor dem Erkenntnisstand des Kapitals ist die frühe Rede vom Weltmarkt als einer empirischen Tatsache zu kritisieren. Sie kann aus dem antispekulativen Furor der Deutschen Ideologie erklärt werden, ist aber angesichts der marxschen Ausführungen über das Kapital als ›übergreifendes‹, ›automatisches Subjekt‹ oder ›sich selbst bewegende Substanz‹ zu kritisieren.

6.2. Geschichte und ›Vorgeschichte‹ Indem Marx den Begriff des Kapitals als Konstruktionsprinzip der Geschichte des Werdens des Kapitals bestimmt, rehabilitiert er, wie gesagt, die Einsicht der Geschichtsphilosophie, wonach Geschichte Resultat einer theoretischen Konstruktion453 ist. Er bricht damit im Kapital und den Vorarbeiten mit dem in der Deutschen Ideologie formulierten und skizzenhaft ausgeführten Programm einer realen Geschichtsschreibung. Freilich: Die provokante These, wonach die »selbstständige Philosophie […] mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium« verliere und an ihre Stelle »höchstens eine Zusammenfassung der allgemeinsten Resultate« trete könne, »die sich aus der Betrachtung der historischen Entwicklung der Menschen abstrahieren« (DI 136/27) lassen, ist damit nicht gänzlich widerrufen. Nur ihr zweiter Teil hat sich als materialistische Illusion erwiesen, ihr erster Teil scheint nach wie vor zu gelten. Zumindest dann, wenn ›selbständige Philosophie‹ das von Marx (und Engels) inkriminierte philosophische Vorgehen der teleologischen Bestimmung der Geschichte meint. Denn auch eine Auffassung der Geschichte, die sich auf dem Erkenntnisstand des Kapitals bewegt und sich ihres konstruktiven Charakters bewusst ist, scheint weit entfernt von der kritisierten Geschichtsphilosophie. Weder dichtet sie der Geschichte ein telos an, noch macht sie die Geschichte zu einem aparten Subjekt. Sie identifiziert vielmehr die materiellen Bedingungen, die retrospektiv 452 Wer wie die Philosophen diese Untersuchung scheut, macht sich schnell lächerlich: vgl. die Polemik gegen »Sankt Sancho« (Max Stirner) und den »thatlose[n] Kleinbürger, dem die Eisenbahnen vom Himmel gefallen sind u. der eben deßwegen glaubt, sie selbst erfunden zu haben« (DI 357/284). 453 ›Konstruktion‹ in einem weiten Sinn, der auch noch die Geschichtsphilosophie Hegels, der sich bekanntlich gegen das Konstruieren in der Philosophie ausspricht, trifft.

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betrachtet notwendig waren zur Herausbildung des modernen industriellen Kapitals. Statt der Geschichte im Ganzen spekulativ einen Sinn zu imputieren, zeigt sie, wie eine bestimmte Konstellation von heterogenen und historisch kontingenten Bedingungen dazu führte, dass sich in Westeuropa die moderne kapitalistische Ökonomie entwickelte. Nun fungiert der Begriff des Kapitals aber nicht nur als Schlüssel zur Erklärung des Genesisprozesses der kapitalistischen Produktionsweise, er deutet auch in die Zukunft. In Bezug auf die nachkapitalistische Zukunft hat sich Marx aber über sein Teleologie-Verbot hinweggesetzt. Indem gezeigt werden kann, dass mit der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise die materiellen Bedingungen für eine ›höhere Gesellschaftsform‹ vorhanden sind, bekommt deren Begriff auch einen utopischen (nicht utopistischen!) Gehalt. So enthält die Kapitaltheorie zum einen die Skizze einer theoretischen Erklärung des in den vergangenen 250 Jahren zunehmend ökonomisch erzwungenen technisch-praktischen Fortschritts, der in Westeuropa seinen Ausgang nahm und in eine weltweite Arbeitsteilung und einen Weltmarkt resultierte, zum anderen deutet sie auf eine nachkapitalistische, ›höhere‹ Form der Gesellschaft. Marx will zwar keine Rezepte »für die Garküche der Zukunft« (K I² 704/25) schreiben (»Da ich niemals ein ›sozialistisches System‹ aufgestellt habe«: RAW 357), er hat sich aber in Bezug auf die künftige Gesellschaft auch keinem Bilderverbot454 unterworfen – weder im theoretischen Hauptwerk noch in den eher politisch eingreifenden Schriften. Er kommt gar nicht umhin, Charakteristika der ›höheren‹ Gesellschaftsform zumindest anzudeuten. Die Darstellung der auf der Konkurrenz der Einzelkapitale basierenden gesellschaftlichen Produktion als einer historisch vorübergehenden evoziert geradezu zwangsläufig das Gegenbild einer durch die vereinigten Produzenten geplanten gesellschaftlichen Produktion. Marx bemüht dieses Gegenbild auch in seinem berühmten Brief vom 11. Juli 1868 an Freund Kugelmann in Hannover: »Daß jede Nation verrecken würde, die, ich will nicht sagen für ein Jahr, sondern für ein paar Wochen die Arbeit einstellte, weiß jedes 454 Vgl. Adorno (1964: 627): »Das Verbot, das die dialektische Theorie von Hegel wie von Marx gegen die ausgepinselte Utopie erließ, wittert den Verrat an ihr.« (Vgl. 2 Mose 20,4: »Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen.«) Adorno (1964a: 70 f.) relativiert: Zwar stecke die Utopie wesentlich »in der bestimmten Negation dessen, was bloß ist«. Aber: »Wenn es wahr ist, daß ein Leben in Freiheit und Glück heute möglich wäre, dann wäre die eine der theoretischen Gestalten der Utopie […], daß man konkret sagen würde, was bei dem gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte der Menschheit möglich wäre.« Wenn »dieses Bild« nicht auch »handgreiflich« erscheine, wisse man gar nicht, »wozu die ganze Apparatur [das Wie einer sozialistischen Gesellschaft] in Bewegung gebracht wird«. Er selbst sei dafür allerdings »nicht zuständig«.

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Kind. Ebenso weiß es, daß die den verschiednen Bedürfnismassen entsprechenden Massen von Produkten verschiedne und quantitativ bestimmte Massen der gesellschaftlichen Gesamtarbeit erheischen. Daß diese Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen durchaus nicht durch die bestimmte Form der gesellschaftlichen Produktion aufgehoben, sondern nur ihre Erschei­ nungsweise ändern kann, ist self-evident. Naturgesetze können überhaupt nicht aufgehoben werden. Was sich in historisch verschiednen Zuständen ändern kann, ist nur die Form, worin jene Gesetze sich durchsetzen. Und die Form, worin sich diese proportionelle Verteilung der Arbeit durchsetzt in einem Gesellschaftszustand, worin der Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit sich als Privataustausch der individuellen Arbeitsprodukte geltend macht, ist eben der Tauschwert dieser Produkte./ Die Wissenschaft besteht eben darin, zu entwickeln, wie das Wertgesetz sich durchsetzt. […]/ Der Witz der bürgerlichen Gesellschaft besteht ja eben darin, daß a priori keine bewußte gesellschaftliche Reglung der Produktion stattfindet. Das Vernünftige und Naturnotwendige setzt sich nur als blindwirkender Durchschnitt durch.« (MEW 32: 552 f.)

Der Arbeitsprozess, in dem die Menschen den Naturstoff ihren Bedürfnissen gemäß formen, ist »ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens« (K I² 198/198). Da der Mensch von Hause aus kein ›Robinson‹ ist, sondern ein zoon politikon (Aristoteles; vgl. EKPÖ 22/20.), ist er gesellschaftlich organisierter Arbeitsprozess, in dem die gesellschaftliche Arbeit und ihre Produkte in bestimmten Proportionen verteilt sind. Diese Verteilung ist die conditio sine qua non der materiellen Reproduktion der Gesellschaft, die zugleich die Reproduktion der Differenz dieser Gesellschaft zu ihrer naturalen Basis bedeutet. Sie ist die Grundlage aller Geschichte, die daher mehr ist als ein Naturgeschehen. ›Der Witz der bürgerlichen Gesellschaft‹, das Fehlen einer bewussten gesellschaftlichen Regelung der Produktion, deutet auf den der nachbürgerlichen: Was in jener fehlt, soll in dieser stattfinden. Marx (und Engels) deutet an verschiedenen Stellen in diese Richtung. In einem »Verein freier Menschen« stünde der materielle Produktionsprozess unter »deren bewußter planmäßiger Kontrolle«. Sie würden »mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben«. Die Verhältnisse ihres »praktischen Werkeltagslebens« stellten ihnen »tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zu einander und zur Natur« dar. (K I² 109 f./92 ff.)455 ›Verein freier Menschen‹ meint eine Gesellschaft, die 455 Engels bezeichnet schon 1844 die »Konkurrenz« als »bewußtlosen Zustand[] der Menschheit«. »Wüßten die Produzenten als solche, wie viel die Konsumenten bedürften, organisirten sie die Produktion, vertheilten sie sie unter sich, so wäre die Schwankung der Konkurrenz und ihre Neigung zur

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als bewusste und planmäßige Assoziation verfasst ist. Die »associirten Produzenten« (der ›vergesellschaftete Mensch‹, ›das freie gesellschaftliche Individuum‹) regeln den Stoffwechsel mit der Natur »rationell«, so dass sie ihn »mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adaequatesten Bedingungen vollziehn« (K III 838/ 828) können. Die Merkmale des materiellen Produktionsprozesses der ›höheren Gesellschaftsform‹: planmäßig, transparent, vernünftig, rationell, menschenwürdig, ergeben sich als Gegenbegriffe zu den Merkmalen der kapitalistischen. Anders gesagt: Die ›Anarchie‹ der kapitalistischen Konkurrenz, der Fetischcharakter der Waren-, Wertund Kapitalformen, die Produktion von akkumulierbarem Mehrwert als Zweck der gesellschaftlichen Produktion und die Herabsetzung der Arbeitskräfte zu bloßen Mitteln der Realisierung dieses Zwecks, sind nur dann Kennzeichnen einer Produktionsweise von »transitorische[r] Noth­ wendigkeit« (K I² 543/618), wenn sie auf die nachfolgende, höhere Produktionsweise nicht mehr zutreffen. Mit der Überwindung der bürgerlichen Ökonomie soll demnach an die Stelle der ›naturwüchsigen‹, ungeplanten Entwicklung eine geplante treten. Die Entgegensetzung von kapitalistischer Konkurrenz (›Anarchie‹) und nachkapitalistischem Plan ist aber nicht das einzige Charakteristikum, durch das ein wenn auch abstraktes Bild der neuen Gesellschaftsform entsteht. Marx deutet darüber hinaus an, dass die neue Gesellschaft eine gestufte Entwicklung nehmen wird. In der Kritik des Gothaer Programms unterscheidet er zwei Phasen der kommunistischen Gesellschaft.456 In der ersten, aus der alten Gesellschaft hervorgehenden Phase erhält der Arbeiter nach Abzug seiner Arbeit für den gemeinschaftlichen Fonds von der Gesellschaft einen Schein, »dass er so und so viel Arbeit geliefert«, und erhält entsprechend Produkte aus dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds. »Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück.« Das hier herrschende Prinzip der ArKrisis unmöglich. Produzirt mit Bewußtsein, als Menschen, nicht als zersplitterte Atome ohne Gattungsbewußtsein.« (UKN 484/514 f.) Den Ausdruck ›Verein freier Menschen‹ gebraucht Marx bereits 1842 in einem Zeitungsartikel. Er meint dort eine »Vereinigung sittlicher Menschen«, die »sich wechselseitig erziehen« und kontrastiert mit einem bloßen »Haufen Erwachsener, welche die Bestimmung haben, von oben erzogen zu werden« (DLA 181/95). Der Deutschen Ideologie zufolge ist es ein Merkmal »der wirklichen Gemeinschaft«, dass »die Individuen in & durch ihre Association zugleich ihre Freiheit« erlangen (DI 96/74). 456 Lange vor der Erarbeitung einer eigenständigen ökonomischen Theorie spricht Marx in den Manuskripten von einer Entwicklung, die vom »rohen« Kommunismus über demokratische und »despotisch-kommunistische« Formen der Vergesellschaftung bis zum Hervortreten des »sozialistischen« Menschen führe (ÖPM 261 ff./534 ff.).

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beitsleistung (›Jedem nach seiner Leistung‹457) ist indifferent gegen die individuell unterschiedliche Begabung und Leistungsfähigkeit der Menschen. Es unterwirft die verschiedenen Individuen demselben Maßstab. »Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht.« In einer zweiten, höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft gilt dagegen das Prinzip »Jeder nach seinen Fähigkeiten, Jedem nach seinen Bedürfnissen!«. (KGP 14 f./20 f.) Es kann allerdings erst dann zum Zuge kommen, wenn die Individuen nicht mehr an eine bestimmte Funktion im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung gebunden sind, der Gegensatz zwischen geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden und die Arbeit selbst zum ersten Lebensbedürfnis geworden ist.458 Das Urteil der bürgerlichen Geschichtsphilosophie: Die Menschen machen ihre Geschichte, verfügen aber nicht über sie, trifft demnach nur für die Vergangenheit zu, für die Zukunft dagegen muss es nicht zutreffen. Es trifft dann nicht mehr zu, wenn die objektiv mögliche höhere Gesellschaftsform tatsächlich von den Menschen realisiert wird. Marx reklamiert für sich offenbar einen theoretischen Standpunkt, von dem aus die vergangene historische Geschichte der Menschheit als eine progressive Abfolge verschiedener Produktionsweisen konstruierbar ist und sich für den Fall der Realisierung einer nachkapitalistischen Gesellschaft zumindest grob eine zweiphasige progressive Entwicklung voraussagen lässt. Es ist ein Standpunkt, von dessen Höhe aus wissenschaftlich »die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« von ihrer eigentlichen Geschichte unterschieden werden kann. In Bezug auf die Vergangenheit können in »großen Umrissen […] asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden«. Dabei sind die bürgerlichen Produktionsverhältnisse »die letzte antagonistische Form«. (ZKPÖ 101/9) In Bezug auf die Zukunft ist eine nichtantagonistische Gesellschaftsform real möglich, deren Entwicklung immer mehr im Dienste der Entwicklung der Individuen steht.459 Die Geschichte soll sich von der Vorgeschichte dadurch unterscheiden, dass die Menschen sie nicht nur machen, sondern auch über sie verfügen. 457 Die bekannte Formulierung »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung« findet sich wörtlich »erst in Artikel 12 der Verfassung der UdSSR von 1936, der sogenannten ›Stalin-Verfassung‹« (Koenen (2017: 1065 Fn. 18). 458 »Das Recht auf Faulheit«, für das Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue (1883) eintrat, würde in der ersten Phase des Kommunismus niemand in Anspruch nehmen dürfen, und in der zweiten Phase niemand in Anspruch nehmen wollen. 459 Schon die Manuskripte hielten fest: Damit »das Bedürfniß des ›Menschen als Menschen‹ zum Bedürfniß werde, dazu ist die ganze Geschichte die Vorbereitungsgeschichte \ Entwicklungsgeschichte« (ÖPM 272/543 f.).

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Der scharfe Kritiker der klassischen deutschen Philosophie scheint deren grundlegende Position, wonach Geschichte teleologisch zu konstruieren sei, für die nachkapitalistische Epoche zu übernehmen. Zugleich scheint er sich über die Einsicht der Philosophen, wonach die Menschen ihre Geschichte prinzipiell nicht unmittelbar selbst machen können, hinwegzusetzen. Marx scheint eine Geschichtsauffassung zu vertreten, deren Anspruch den der Philosophen noch übersteigt. Während die Philosophen nur durch die Konstruktion überempirischer Handlungssubjekte (›Naturabsicht‹, ›Weltgeist‹) der Geschichte eine teleologische Struktur und einen Sinn einschreiben können, scheint es nach Marx prinzipiell möglich, dass die Menschen als vereinigte Produzenten an deren Stelle treten und wie ein Subjekt selbstbewusst handelnd einen humanen Sinn im historischen Prozess realisieren. Die nachkapitalistische höhere Gesellschaft ist nicht das Ende der Geschichte, sondern der Anfang des in eigener Regie betriebenen Fortschritts der Menschheit, der auf die totale Entwicklung der Individuen zielt. Marx hat sich nicht darauf beschränkt, die materiellen Bedingungen und Bedingungsverhältnisse zu identifizieren, die retrospektiv betrachtet zur Herausbildung des modernen industriellen Kapitals notwendig waren; er hat sich nicht damit begnügt, am Modellfall England zu skizzieren, wie eine bestimmte Konstellation von heterogenen und historisch kontingenten Bedingungen (ökonomische, rechtliche, technische, unmittelbare Gewalt) dazu führte, dass sich die moderne kapitalistische Ökonomie entwickelte. Er hat dieser sich immer weiter ausdehnenden und beschleunigenden Entwicklung der kapitalistischen Vergesellschaftung der Menschheit auch einen Sinn zugeschrieben. Die Menschen würden derart gezwungen, die materiellen Bedingungen für eine höhere Gesellschaftsform zu schaffen, in der sie nicht mehr fremden Mächten, auch nicht der Macht des Weltmarkts, ausgeliefert seien. Indem Marx die Sinn-Frage stellt und in der angedeuteten Weise beantwortet, argumentiert er contre cœur philosophisch, genauer: geschichtsphilosophisch.460 Er begreift Geschichte nicht nur als gerichteten Prozess, als Fortschritt, sondern den Fortschritt als teleologisch ›gesollte‹ Emanzipation und Hervorbringung menschlicher Autonomie.461 Einen Sinn erhält der reale 460 Dass Marx damit nicht eine »Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie« (Löwith 1949: 48) unterstellt werden soll, dürfte klar sein, sei aber dennoch ausdrücklich betont. Ohnehin verfehlt die Herleitung der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie aus der theologischen Heilsgeschichte deren eigentlichen Charakter: Koselleck (1959: 6); Marquard (1973: 62; 67; 177 Fn. 38); Rohbeck (2000: 167 f. Fn. 18). 461 Kants Definition der Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« macht »die Geschichtsphilosophie« von ihren Anfängen bei Voltaire »bis zu ihren materialistisch-dialektischen Erben zur Definition der Geschichte«: Marquard (1973: 67).

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Prozess weltweiter Vergesellschaftung der Menschen, in dessen Zen­trum die Steigerung der Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit liegt, indem er im Lichte der Utopie der ›höheren Gesellschaftsform‹ und der mit ihr gegebenen Möglichkeit der vollen (›totalen‹) Entwicklung der Individuen beurteilt wird. Das Wort ›Utopie‹ darf hier sozusagen marxkonform verwendet werden, ist doch nicht von einer bloß ausgedachten und gewünschten Gesellschaftsform die Rede, sondern von einer, deren reale Möglichkeit mit der bereits bestehenden gegeben ist. Die Sinngebung der Geschichte der Entstehung und Etablierung der bürgerlichen Produktionsweise ist zugleich deren Rechtfertigung. Dass das Kapital die Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit erzwingt, ist nach Marx nicht zu kritisieren, denn so entstehen die materiellen Bedingungen, die »allein die reale Basis einer höheren Gesellschaftsform bilden können, deren Grundprincip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist« (K I² 543/618). Dass dem erzwungenen technisch-praktischen Fortschritt der Gattung die Mehrzahl der Individuen zum Opfer fallen, ist nicht kritikabel, denn anders lassen sich die Voraussetzungen nicht herstellen, die es ermöglichen, »die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« (ZKPÖ 101/9) – also die bisherige Geschichte der Menschheit – abzuschließen und in ihre eigentliche Geschichte einzutreten. Die kapitalistische Produktion »is a greater spendthrift than any other mode of production, of men, of living labour, a spendthrift not only of flesh and blood, but of brains and nerves. It is, in fact, only by the greatest waste of individual development that the development of general men is secured in those epochs of history preceding the socialist constitution of mankind.« (K III 124 f./99) Es gehört zu den »civilisatorischen Seiten des Capitals, daß es diese Surplusarbeit in einer Weise und unter Bedingungen erzwingt, die der Entwicklung der Productivkräfte, der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Schöpfung der Elemente für eine höhre Neubildung vortheilhafter sind als in der frühren Form der Sklaverei, Leibeigenschaft u.s.w.« (K III 837/827) Aus der Perspektive der materialistischen Wissenschaft erscheint die Kritik daran, dass der zunehmend ökonomisch erzwungene technischpraktische Fortschritt der Menschheit Opfer fordert, als eine »erbauliche[] Betrachtung« (ÖM III 768).462 Mehr als erbaulich wäre diese 462 Bloch (1963/4: 119) differenziert »im Begriff Fortschritt« zwischen dialektisch »ohne weiteres« notwendigen Rückschlägen und Verlusten (Bsp.: vermehrtes Elend während der industriellen Revolution) und nicht notwendigen, ›toten Rückschlägen‹: »Hitler zum entsetzlichsten Beispiel war keineswegs die Negation, die der Sozialismus zu seinem Sieg brauchte.« Wie stellt sich aus sozialistischer Perspektive das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft dar? Bloch äußert sich widersprüchlich. Dem Prinzip Hoffnung zufolge hört der Revolutionär auf, »sein Ich so wichtig zu nehmen, er hat[] Klassenbewusstsein«. Die »Gewißheit des Klassenbewußtseins,

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Betrachtung nur, wenn eine alternative Entwicklung möglich gewesen wäre. Die im Gedankenexperiment erwogene Alternative zur tatsächlichen historischen Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit ist aber nicht eine, in der die Mehrzahl der Individuen nicht dem Fortschritt geopfert werden, sondern eine, in der kein Fortschritt stattfindet.463 Die folgende Passage aus den Theorien über den Mehrwert verdeutlicht Marx’ Auffassung und deutet zugleich auf deren paradoxe Abhängigkeit von mit ihr unverträglichen normativen Ideen. »Ricardo betrachtet mit Recht, für seine Zeit, die capitalistische Productionsweise als die vortheilhafteste für die Production überhaupt; als die vortheilhafteste zur Erzeugung des Reichthums. Er will die Pro­ duction der Production halber und dieß ist Recht. Wollte man behaupten, wie es sentimentale Gegner Ricardo’s gethan haben, daß die Production nicht als solche der Zweck sei, so vergißt man daß Production um der Production halber nichts heißt als Entwicklung der menschlichen Productivkräfte, also Entwicklung des Reichthums der menschlichen Natur als Selbstzweck. Stellt man, wie Sismondi, das Wohl des Einzelnen diesem Zweck gegenüber, so behauptet man, daß die Entwicklung der Gattung aufgehalten werden muß, um das Wohl des Einzelnen zu sichern. […] Daß diese Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch, obgleich sie sich zunächst [!] auf Kosten der Mehrzahl der Menschenindividuen und ganzer Menschenklassen macht, schließlich [!] diesen Antagonismus durchbricht und zusammenfällt mit der Entwicklung des einzelnen Individuums, daß also die höhre Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Proceß erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden, wird nicht verstanden.« (ÖM III 768)464 individuelle Fortdauer in sich aufhebend, ist in der Tat ein Novum gegen den Tod«. (1959: 1379 f.) Die Naturrechts-Schrift warnt, Personen dürften nicht »zu bloßen Rezipienten« des Klassenbewusstseins »herabgesetzt« werden (1961: 273). Einen anderen Ton schlägt Horkheimer (1933a: 86) an, der von der »dem Materialismus einwohnende[n] Trauer« angesichts der Vergangenheit spricht. »Das vergangene Unrecht ist nicht wiedergutzumachen. Die Leiden der verflossenen Geschlechter finden keinen Ausgleich.« 463 Schon für Turgot (1751/3: 176 f.) ist ausgemacht: Nicht Vernunft und Gerechtigkeit, sondern die »Leidenschaften« haben den Fortschritt bewirkt. »Hätte man mehr auf Vernunft und Gerechtigkeit gehört, so wäre alles unverändert geblieben, wie es etwa in China der Fall ist.« Hayek (1988: 79) meint 230 Jahre später: »Wollte man auf der Gerechtigkeit jeder zukünftigen Veränderung bestehen, so hieße das nachgerade, den Stillstand der [kulturellen] Evolution zu fordern.« 464 Marx’ Sympathie gilt denjenigen Theoretikern der bürgerlichen Gesellschaft, die gegen ›erbauliche Betrachtungen‹ und ›sentimentale‹ Anwandlungen gefeit sind. Wenn Mandeville, »ein ehrlicher Mann und heller Kopf«, behauptet, »der sicherste Reichthum« einer freien Nation bestehe »aus einer

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Ricardo gebührt wissenschaftliche Anerkennung, weil und insofern er das kapitalistische Prinzip der Produktion um der Produktion willen aufdeckt und die Verhältnisse nicht beschönigt. Aber der für die Beurteilung Ricardos in Anschlag gebrachte Maßstab ist nicht der des Historischen Materialisten, der, wie in der Deutschen Ideologie gefordert, nur Voraussetzungen gelten lässt, die im Gegenstandsbereich der Wissenschaft selbst liegen und andere Voraussetzungen als philosophisch und damit ideologisch verwirft. Wäre er es, hätte sich Marx darauf beschränken müssen, das mit der bürgerlichen Produktionsweise in Gestalt von Naturwissenschaft und Technik explosionsartig anwachsende Potenzial der Gattung gegenüber der ersten Natur zu konstatieren und zu feiern, dass die Bourgeoisie »in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen [hat] als alle vergangenen Generationen zusammen« (MKP 467). Der Maßstab für die Beurteilung Ricardos genügt nicht den Kriterien der positiven materialistischen Wissenschaft. Es handelt sich vielmehr um den aus den Manuskripten schon bekannten und erörterten Begriff des »Reichthums der menschlichen Natur als Selbstzweck«. Marx registriert eben nicht nur ›naturwissenschaftlich treu‹ den historischen Fortschritt der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit samt seiner Opfer, sondern bewertet und rechtfertigt diesen als notwendig für die Erreichung einer höheren Gesellschaftsform. Dass das Kapital die Menschheit rücksichtslos zur Revolutionierung der Produktion zwingt, ist nicht nur ein historisches Faktum, sondern »seine historische Bestimmung« (Gr 241/244), wie es in den Grundrissen heißt. Das Lob Ricardos erfolgt von einer Position, die sich überlegen weiß, weil sie anders als der Fachökonom nicht nur ökonomische Phänomene erklären will, sondern die Produktionsweise als ein Ganzes begreift, als eine Totalität, die »transitorische[] Nothwendigkeit« (K I² 543/618)465 besitzt. ›Ricardo betrachtet mit Recht, für seine Zeit, die kapitalistische Produktionsweise als die Menge arbeitsamer Armen«, dann ist er für diesen Befund nicht moralisch zu kritisieren. Die Kritik kann nur eine sachliche sein: Mandeville begreife noch nicht den Zusammenhang von Kapitalakkumulation und Vermehrung der ›Armen‹, nämlich der Lohnarbeiter (K I² 563/643; vgl. Mandeville 1724: 319). Marx’ Blick auf die Opfer der Geschichte ist dem Hegels verwandt. Schon in den Manuskripten heißt es lapidar: »Der Tod erscheint als ein harter Sieg der Gattung über das bestimmte Individuum und ihrer Einheit zu widersprechen; aber das bestimmte Individuum ist nur ein bestimm­ tes Gattungswesen, als solches sterblich.« (ÖPM 268/539). 465 Marx stimmt einem russischen Rezensenten zu, wonach der »wissenschaftliche Werth« des Kapitals »in der Aufklärung der besondren Gesetze welche Entstehung, Existenz, Entwicklung, Tod eines gegebenen gesellschaftlichen Organismus und seinen Ersatz durch einen andren, höheren regeln«, liege (K I² 706/27).

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vortheilhafteste für die Produktion überhaupt.‹ Indem Ricardos Sicht als richtig ›für seine Zeit‹ qualifiziert wird, wird sie auch als bornierte Sicht qualifiziert. Marx erweckt den Eindruck, Ricardos Sicht sei borniert, weil dieser trivialerweise noch nicht den Stand der ökonomischen Entwicklung kennen konnte, den er selbst Jahrzehnte später vor Augen hat. Tatsächlich gründet Ricardos bornierte Sicht aber nicht in einem historisch bedingten mangelhaften ökonomischen Wissen, sondern darin, dass sie die des Fachökonomen ist. Dem Vertreter der positiven Wissenschaft Politische Ökonomie bleibt der transitorische Charakter der kapitalistischen Produktionsweise notwendig verborgen. Mit anderen Worten: Überlegen weiß sich die marxsche Position hier nicht aufgrund tieferer ökonomischer Einsichten, sondern aufgrund einer philosophischen Spekulation. Marx rechtfertigt die Opfer des zunehmend ökonomisch erzwungenen technisch-praktischen Fortschritts nicht moralisch, sondern unter Rückgriff auf die von Feuerbach geborgte spekulative und normative Idee des ›Reichtums der menschlichen Natur als Selbstzweck‹. Diese Rechtfertigung ist paradox, gilt doch im Kapital und seinen Vorarbeiten ansonsten der Satz aus der Heiligen Familie, wonach »die ›Idee‹« sich immer »blamierte«, »soweit sie von dem ›Interesse‹ unterschieden war« (HF 85). Dass die Aufopferung der Mehrheit der Individuen für die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft nicht in deren Interesse war und ist, weder in ihrem unmittelbaren noch in ihrem wohlverstandenen, liegt auf der Hand, und dass die Rechtfertigung dieser Aufopferung eine Idee voraussetzt, die diesen Interessen transzendent ist, ebenso. Marx greift hier unvermittelt auf eine normative Idee zurück. Wie schon bei der Unterscheidung zwischen den Reichen der Notwendigkeit und der Freiheit führt er eine normative Bestimmung ein, die er methodisch gesehen nicht einführen dürfte. Indem Marx dem Prozess der Entstehung und Etablierung des Kapitals einen Sinn zuschreibt, überschreitet er die Grenzen einer konstruierenden, aber nicht-teleologischen Geschichtsschreibung und ergänzt sie durch die beiden konstitutiven Elemente einer jeden ›idealen‹ philosophischen Geschichtsschreibung: das Ziel und den Sinn der Geschichte. Das Ziel, das der Geschichte einen Sinn gibt, ist kein ›letzter Zweck‹ oder ›Endzweck‹, sondern der ›Selbstzweck‹ des ›Reichtums der menschlichen Natur‹. Anvisiert ist eine Gesellschaftsform, in der die Entwicklung des gesellschaftlichen Ganzen unmittelbar zusammenfällt mit der allseitigen Entwicklung der Individuen, weil diese, mit den Manuskripten zu sprechen, in ihrer gesellschaftlichen Tätigkeit ihre Wesenskräfte bestätigen. Das ist teleologisch gedacht. Wie bei Feuerbach wird unterstellt, im Wesen des Menschen sei das Prinzip seiner Entwicklung schon gegeben, seine ›Bestimmung als‹ und seine ›Bestimmung zu‹ fielen zusammen. Der Mensch sei darauf angelegt, sich die Welt universell anzueignen, das 462

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heißt sich selbst zu universalisieren. Marx kommt in der Kapitaltheorie von dem in den Manuskripten skizzierten »anthropogenetischen Programm« (Fleischer 1969: 19; 1970: 46) nicht los. Dass dem Autor des Kapitals dieser Sachverhalt klar gewesen ist, ist zu bezweifeln. Auch das Gros der Interpreten hat ihn verfehlt. Die Funktion und die Gestalt des Rekurses auf Feuerbach ist in der Kapitaltheorie eine andere als in den Manuskripten. In den Manuskrip­ ten dient der Rückgriff auf Feuerbachs Theorem vom menschlichen Gattungswesen der Befreiung von Hegels ›idealistischem‹ System und nimmt die Gestalt einer eigenständigen Geschichtsphilosophie im Gewand einer Theorie der Entfremdung und Wiedergewinnung des menschlichen Wesens an. In der Kapitaltheorie ist der Rekurs auf den Begriff des Gattungswesens Ausdruck einer theoretischen Verlegenheit. Marx spricht von der nachkapitalistischen Gesellschaftsform als einer höheren, gegenüber allen bisherigen Formen der Gesellschaft normativ ausgezeichneten. Normative Kriterien für ihre Bestimmung lassen sich aber aus der Untersuchung des kapitalistischen Produktionsprozesses nicht erlangen. Marx übernimmt sie aus seiner frühen, von ihm schon vor langer Zeit kritisierten Schrift.

6.3. Eine gefährliche Utopie? Vorgeschichte und Geschichte sind dadurch unterschieden, dass jene nur in einem eingeschränkten Sinn von den Menschen gemacht wurde, diese dagegen im vollen Sinn von ihnen gemacht werden kann. Mit anderen Worten: In dem Augenblick, in dem es dem Proletariat gelingt, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse umzustürzen, wird es geschichtsmächtig. Prinzipiell ist dann der Weg frei für eine bewusst geplante Entwicklung der Gesellschaft und mithin für eine Fortschrittsgeschichte, der selbstbewusst ein humaner Sinn eingeschrieben wird. Schon zuvor, schon vor dieser Tat des Proletariats, stellt sich aber im Lichte der realen Möglichkeit, in die eigentliche Geschichte der Menschheit einzutreten, die bisherige Geschichte gleichfalls als sinnvoller Prozess dar, wurden in ihr doch die materiellen Bedingungen geschaffen, die es ermöglichen, aus ihr herauszutreten.466 Ohne das Vorhandensein dieser Bedingungen 466 Bloch (1963/4: 144) dehnt den Sinn ins Kosmologische aus: »Hätte also die Welt nur Mechanismus und seine ‚Entropie‘ im Grund, so wäre die Geschichte, wie wenn Fische in einem Bottich sich beißen oder auch ein Liebesspiel aufführen, und draußen tritt aus der Tür bereits die Köchin mit dem dazu disparaten, jedoch alles beendenden Messer. Der durchaus bereits im Beginn befindliche Sinn der menschlichen Geschichte ist die Herstellung des Reichs der Freiheit; doch eben ohne positiv-möglichen, möglich-positiven

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wären alle Versuche der Herbeiführung einer klassenlosen Gesellschaft »Donquichoterie« (Gr 92/93). Der Sinn der bisherigen Geschichte wird ihr retrospektiv in dem historischen Moment zugeschrieben, in dem es möglich scheint, die künftige Geschichte prospektiv sinnvoll zu gestalten. Indem Marx der Geschichte einen Sinn zuschreibt, argumentiert er wieder geschichtsphilosophisch; indem er aber die Geschichte mit der Abschaffung bürgerlicher Produktionsverhältnisse in die Verfügbarkeit der Menschen gestellt sieht, scheint er von allen guten geschichtsphilosophischen Geistern verlassen. Es scheint, als setze er die Arbeiter (bzw. die assoziierten Produzenten) in die Funktion Gottes als Schöpfers der Geschichte ein. ›Schöpfer‹ in dem Sinne, dass das Proletariat, welches sich aus der großen Mehrheit der Menschen zusammensetzt (später dann alle Menschen als vereinigte Produzenten), wie ein Subjekt bewusst und planvoll handelt und dadurch die künftige Geschichte als Ganzes hervorbringt. Die historische Entwicklung soll nicht mehr »naturwüchsig« vor sich gehen, sondern »einem Gesammtplan frei vereinigter Individuen subordinirt« (DI 104/72) sein. Marx ist offenbar der Auffassung, dass die dem Individuum zukommende Fähigkeit zu zweckrationalem Handeln unter nachkapitalistischen Bedingungen ebenso der Menschheit bzw. der Gesellschaft zukommen könne (dass die Menschheit nur im Singular, die Gesellschaft dagegen auch im Plural: als eine unter vielen, gedacht werden kann, wird in seiner Relevanz für Marx’ Geschichtstheorie weiter unten diskutiert). Da ›Menschheit‹ im Kontext der materialistischen Geschichtsauffassung keine normative Bedeutung hat, sondern die Bezeichnung für die Gesamtheit der Individuen ist, müsste die Gesamtheit der Individuen in der Weise eines einzigen Individuums handeln können, als ein Kollektivsubjekt. Als ein Kollektivsubjekt scheint Marx auch den ›Verein freier Menschen‹ zu fassen, wenn er zu Beginn des Kapitals bemerkt, in ihm wiederholten sich »alle Bestimmungen« der Arbeit, die zuvor am Modell des »Robinson auf seiner Insel« genannt worden waren – »nur gesellschaftlich statt individuell«. So wie Robinson seine produktiven Tätigkeiten als verschiedene Weisen menschlicher Arbeit wisse und als »guter Engländer« darüber Buch führe, welche Gebrauchsgegenstände er besitze, welche Verrichtungen zu ihrer Produktion notwendig seien und wie viel Arbeitszeit ihm »bestimmte Quanta dieser verschiednen Produkte im Durchschnitt kosten«, so müsse auch der Verein freier Menschen Buch führen, um die Produktion im Interesse aller planvoll gestalten zu können. (K I² 106 ff./90 ff.) Frei nach Hobbes ließe sich sagen: Der Verein freier Menschen ist »nichts anderes als ein Sinn in der umgebenden Kosmologie, in die alles historische Geschehen letzthin einmündet, ist der Fortschritt dieses Geschehens, wenigstens bei strengem und totalitätshaltigem Blick, so gut wie nicht wahr, wie nicht wirklich gewesen.«

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künstlicher Mensch, wenn auch von größerer Gestalt und Stärke als der natürliche« (Hobbes 1651: 5). Diese Charakterisierung des Vereins freier Menschen ist keineswegs harmlos. Es könnte scheinen, als vertrete Marx hier »eine leere und irreführende Utopie«, die sich obendrein im 20. Jahrhundert als »lebensgefährlich« erwiesen hat. »Was geschieht denn, wenn an die Stelle der Kantischen Naturabsicht oder der Hegelschen Vernunft in der Geschichte, die das Chaos der zahllosen Teilrationalitäten des Handelns der Menschen hinter deren Rücken dann doch noch zu einem rationalen Gesamtplan zusammenfügt, wirkliche Menschen treten?« Die Antwort liegt nach Schnädelbach auf der Hand: »Sie müßten an dieser Stelle handeln wie ein singuläres Handlungssubjekt, das zudem alle externen Handlungsbedingungen unter seine Kontrolle gebracht hat; nur dann könnte das geschichtliche Handeln dem Maßstab der elementaren Handlungsrationalität entsprechen. Die politische Konsequenz ist der Totalitarismus.« (Schnädelbach 2004: 287) Das zentrale Argument gegen die These von der Geschichtsmächtigkeit der Menschen nach der Abschaffung der Herrschaft des Kapitals ist analog dem gegen die Idee einer gemeinschaftlich geplanten, unmittelbar gesellschaftlichen Produktion. Beide Male werde unzulässigerweise die Handlungsrationalität von Individuen auf Ganzheiten übertragen. Politisch erfordere die Realisierung dieser Utopie eine totalitäre Ordnung, ökonomisch führe sie ins Desaster. In Bezug auf die Geschichte werde nicht gesehen, dass der Grund für das nur ausnahmsweise Übereinstimmen von Handlungsabsicht und Handlungserfolg »nicht die Irrationalität des Handelns selber [sei], sondern die Tatsache, daß wir viele sind und daß es deswegen viele sind, die in diesem Bereich rational zu handeln versuchen«. Geschichtliches Geschehen sei »stets das Resultat von Interaktion, Kooperation und Kommunikation zahlreicher Handelnder, und selbst wenn alle Beteiligten jeder für sich rational handeln, kann der Handlungssinn des Gesamtergebnisses immer nur im nachhinein ermittelt werden«. (Schnädelbach 2004: 287) In Bezug auf die Ökonomie werde nicht gesehen, dass auf »dem Markt (wie in anderen Institutionen unserer erweiterten Ordnung467) […] unbeabsichtigte Folgen von vorrangiger Bedeutung [sind]: Die Verteilung wirtschaftlicher Mittel wird durch einen unpersönlichen Prozeß bewirkt, in dem Einzelpersonen, die ihre jeweiligen eigenen (oft sehr vagen) Ziele verfolgen, buchstäblich nicht wissen und nicht wissen können, was das Nettoergebnis ihres Zusammenwirkens sein wird.« Weil die »Koordination individueller Tätigkeiten durch den Markt ebenso wie andere Moraltradi467 Die »erweiterte Ordnung menschlichen Zusammenwirkens« trägt meist den »etwas irreführenden Namen Kapitalismus«. Dass von ihr der »Fortbestand unserer Zivilisation« abhängt, will Hayek beweisen (1988: 2).

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tionen und Institutionen aus natürlichen, spontanen und selbstordnenden Prozessen der Anpassung an eine größere Zahl von Fakten, als irgendein einzelner sie wahrnehmen oder sich auch nur vorstellen kann«, resultiere, seien sozialistische Forderungen nach einer bewussten und gerechten Gestaltung dieser Prozesse »offensichtlich die Frucht eines naiven Anthropomorphismus«. Die in Anschlag gebrachte »bessere ›soziale‹ Moral«, die neuen Regeln also, stellten »einen Rückfall in die Moral der primitiven Mikro-Ordnung vor«. Sie könnten »schwerlich das Leben und Gesundheit der Milliarden von Menschen erhalten, die die Makro-Ordnung [d.i. der Kapitalismus] ernährt«. (Hayek 1988: 75; 77; 79) Diese Kritik sollte nicht einfach unter Hinweis auf die politische Gesinnung des Kritikers ignoriert werden.468 In ihr muss sich auch nicht ein verbreiteter antikommunistischer Affekt melden, der dadurch ausgelöst wird, dass ›geplante gesellschaftliche Produktion‹ bei Vielen mit realsozialistischer Planwirtschaft und Ein-Parteienherrschaft, leeren Regalen und stumpfsinniger Propaganda assoziiert ist. Zunächst sei betont: Da das Kapital nicht von der Geschichte handelt, sondern von der Struktur und – kursorisch – der Genese der kapitalistischen Produktionsweise, und darüber hinaus andeutungsweise von der realen Möglichkeit einer höheren Gesellschaftsform, und da seine tragenden Teile mit der materialistischen Geschichtsauffassung unvereinbar sind, kann sich die These von der Gestaltbarkeit der Geschichte durch das Kollektivsubjekt Menschheit nur in einem eingeschränkten Sinn auf die Kapitaltheorie stützen. Statt vom Machen der nachkapitalistischen Geschichte als ganzer ist im Kapital von der bewussten und planmäßigen Kontrolle der materiellen Reproduktion der Gesellschaft die Rede. Statt von den Gesetzmäßigkeiten der Kapitalverwertung beherrscht zu werden, sollen die unmittelbaren Produzenten ihre gesellschaftliche Produktion gemeinsam kontrollieren. An die Stelle der Autonomie des Kapitals, die für die empirischen Subjekte Heteronomie bedeutet, soll das gemeinsame Wollen der Subjekte treten. Darin liegt eine Präzisierung. ›Die Gesellschaft‹ ist nicht die aller lebenden Menschen, sondern die ehedem bürgerliche, 468 Krätke (2004: 233 ff.) ignoriert nicht, sondern würdigt zunächst Hayeks Kritik der neoklassischen Auffassung des Marktes: Anders als diese nehme er den Marktprozess als einen »Konkurrenzkampf mit offenem, unsicherem Ausgang« ernst. Seine Analyse sei dennoch nicht stimmig: Erstens sei die zu Recht thematisierte »Beschränktheit des gesellschaftlichen Verstandes in Marktökonomien« selbst »gesellschaftlich bedingt«. Zweitens sei die Behauptung falsch, nur der Markt sei »imstande, die nicht vermittelbaren, lokalen Formen des stillschweigenden […] Wissens zu mobilisieren«. Drittens sei falsch, »alle Informationen außer den in Marktpreisen enthaltenen und über Marktpreise vermittelbaren seien irrelevant«. Die Kritik trifft zu, der Gedanke einer gemeinsam geplanten unmittelbar gesellschaftlichen Produktion wird durch sie aber nicht plausibler.

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jetzt von der politischen Herrschaft der Kapitaleigner befreite, technisch und ökonomisch, historisch und kulturell mehr oder minder spezifisch geprägte partikulare Gesellschaft. Weil die moderne Menschheit in einer Pluralität staatlich verfasster, in vielfacher Hinsicht unterschiedlich geprägter Gesellschaften existiert, kann die revolutionäre Veränderung der Verhältnisse nur das Werk des – freilich idealerweise internationalistisch gesinnten – Proletariats der jeweiligen Gesellschaften sein.469 Nicht die Geschichte soll also »gemacht« werden, sondern die materielle Reproduktion der Gesellschaft, die eine unter vielen ist, soll durch die vereinten Produzenten geplant und kontrolliert werden. Diese Präzisierung entlastet die marxsche Utopie von dem Vorwurf, sie sehe in der nachkapitalistischen arbeitenden Menschheit den Schöpfer ihrer eigenen Geschichte. Freilich ist damit nicht viel gewonnen. Denn wenn die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft nur das Werk des Proletariats dieser Gesellschaft sein kann, muss sie dann nicht zumindest in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern zeitgleich erfolgen, um zu verhindern, dass ein bloß lokal existierender Kommunismus unter die Räder des kapitalistischen Weltmarktes gerät? So sieht es die Deutsche Ideologie: »Der Communismus ist empirisch nur als die That der herrschenden Völker ›auf einmal‹ u. gleichzeitig möglich.« Dazu vorausgesetzt seien »die universelle[] Entwicklung der Productivkräfte« und ein damit einhergehender »universeller Verkehr der Menschen«, wodurch »einerseits das Phänomen der ›Eigenthumslosen‹ Masse in Allen Völkern gleichzeitig erzeugt (die allgemeine Conkurrenz)« und »jedes derselben von den Umwälzungen der andern abhängig« werde, bis »endlich weltgeschicht­ liche, empirisch universelle Individuen an die Stelle der lokalen« träten. (DI 38/35). Indem Marx meint, mit Grund zwischen Vorgeschichte und eigentlicher Geschichte unterscheiden zu können, betritt er das Feld der Geschichtsphilosophie und ihrer Problematik. In der Tat wirft der als Kollektivsubjekt antizipierte Verein freier Menschen470 Fragen auf. Für den Einzelnen fallen die Intention und das Re469 Gegen einen sozialdemokratischen »Internationalismus«, der sich in der Phrase von der »Völkerverbrüderung« erschöpft, statt die »internationa­ len Funktionen der deutschen Arbeiterklasse« zu beschreiben, heißt es in der Kritik des Gothaer Programms: »Es versteht sich ganz von selbst, dass um überhaupt kämpfen zu können, die Arbeiterklasse sich bei sich zu Haus organisiren muss als Klasse und dass das Inland der unmittelbare Schauplatz ihres Kampfes. Insofern ist ihr Klassenkampf, nicht dem Inhalt, sondern wie das kommunistische Manifest sagt ›der Form nach‹ national./ Aber der ›Rahmen des heutigen nationalen Staats‹ […] steht selbst wieder, ökonomisch, politisch, im ›Rahmen des Weltmarkts‹, politisch ›im Rahmen des Staatensystems‹.« (KGP 17/23 f.). 470 Dazu Giessler Furlan (2018), der das Thema von Marx bis zum ›Computersozialismus‹ und ›Commonismus‹ verfolgt.

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sultat seiner Handlung zusammen, wenn deren Planung fehlerfrei ist und die plangemäße Ausführung nicht durch unvorhersehbare Ereignisse durchkreuzt wird. Zumindest in Bezug auf eine einzelne Handlung oder eine überschaubare Kette einzelner Handlungen schreibt sich das Individuum deshalb zu Recht die Fähigkeit zu, dass es deren Bedingungen erkennen und kontrollieren und deren Folgen für sich vorhersehen kann. In Bezug auf die Realisierung seines ›Lebensplans‹ wird es sich diese Kompetenz allerdings nicht anmaßen. Noch viel weniger scheint sie aber auf den Verein freier Menschen übertragbar. Davon abgesehen, könnte das Gesamt seiner Mitglieder nur dann wie Ein Subjekt handeln, wenn der Zweck und der Plan zu seiner Erreichung von allen ›verabredet‹ (Kant) und die Einheit des Wollens und Handelns aller hergestellt würde. Diese Einheit wäre dann gesichert, wenn ein jedes den gemeinsam verabredeten Zweck und den Plan zu dessen Realisierung für sich dauerhaft als verbindlich betrachtete. Freilich wäre die Einheit des Wollens aller, die der Zweck und der Plan ermöglichen sollen, schon für die Zwecksetzung und die Planerstellung vorausgesetzt. Es stellt sich daher die Frage, ob, und wenn ja, wie ein solcher einheitlicher Wille aller hergestellt werden kann. Marx’ Bemerkungen zur bewussten Machbarkeit der Geschichte bzw. gesellschaftlichen Entwicklung verstehen sich nicht von selbst. Sollte die Kritik daran zutreffen, wäre die kapitalistische Produktionsweise damit zwar nicht als alternativlos dargetan, wohl aber wäre klar, dass sich auf der Grundlage der von Marx entwickelten Vorstellungen keine Gesellschaftsform herstellen ließe, die den Namen ›Verein freier Menschen‹ zu Recht verdiente. Marx hat die These von der Geschichtsmächtigkeit der Menschen nicht erfunden. Sie ist ein Produkt des neuzeitlichen Denkens, das allerdings erst in dem Augenblick geschichtsphilosophisch wurde, als es sich darüber aufgeklärt hatte, dass diese These nicht haltbar ist, die Menschen nicht zu rationalen Machern der Geschichte taugen. »Wenn die Utopie, in welcher der Zufall ausgelöscht ist, sich nicht verwirklichen läßt, muß eine Geschichtsphilosophie entstehen, die hinter der erfahrenen Wirrnis von Leben und Tod eine verborgene gütige Absicht zu erkennen meint.« (Horkheimer 1930: 252)471 Marx wähnt sich allerdings im Besitz guter Gründe für seine These, von der im Übrigen nicht nur orthodoxe Marxisten472 überzeugt waren und sind. Zwölf Jahre nach den ›letzten Tagen der 471 Ausführlich Kittsteiner (1980), 2. Kapitel. 472 »Die wissenschaftliche Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit des Geschichtsprozesses beinhaltet die Erkenntnis der historischen Mission der Arbeiterklasse als des Schöpfers einer neuen, der sozialistischen Gesellschaft. Sie bildet das feste Fundament für den dieser Klasse eigenen Geschichtsoptimismus und verleiht ihr die unerschütterliche Überzeugung ihres Sieges im Weltmaßstab«, heißt es 1975 im Philosophischen Wörterbuch des VEB Bibliographisches Institut Leipzig (458).

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Menschheit‹473 (K. Kraus) pflichtet Horkheimer Vico bei, »die Möglichkeit des Rückfalls in die Barbarei [ist] niemals völlig ausgeschlossen«. Er fügt aber hinzu: Nur in dem Maße walte »über den menschlichen Ereignissen das Fatum, als die Gesellschaft es nicht vermag, ihre Angelegenheiten in ihrem eigenen Interesse selbstbewußt zu regeln. Wo die Geschichtsphilosophie noch den Gedanken an einen dunklen, aber selbständig und eigenmächtig wirkenden Sinn der Geschichte« enthalte, sei »ihr entgegenzuhalten, daß es gerade soviel Sinn und Vernunft auf der Welt gibt, als die Menschen in ihr verwirklichen.« (Horkheimer 1930: 268) Das scheint ganz im marxschen Sinne gedacht. Beherrschen die Menschen gemeinsam den materiellen Produktionsprozess, statt von ihm beherrscht zu werden, können sie den historischen Fortschritt in die eigenen Hände nehmen und müssen nicht länger darauf vertrauen, er werde sich hinter ihrem Rücken als nicht intendierte Folge ihres Tuns irgendwie ergeben. Anders als Marx (und Engels, vom orthodoxen Marxismus zu schweigen) betont Horkheimer allerdings, dass die Revolution nicht als Vollstreckerin einer objektiven, »naturgemäße[n] Entwicklungsphase[]« der »modernen Gesellschaft« (K I² 67/16) denkbar sei, sondern nur als ein bewusstes und spontanes Brechen mit der historischen Tendenz zur Bildung eines geschlossenen Systems ökonomischer und technischer Rationalität. »Die sozialistische Gesellschaftsordnung wird von der Weltgeschichte nicht verhindert, sie ist historisch möglich; verwirklicht wird sie aber nicht von einer der Geschichte immanenten Logik, sondern von den an der Theorie geschulten, zum Bessern entschlossenen Menschen, oder überhaupt nicht.« (Horkheimer 1934: 344)474 Horkheimers Wort vom ›eigenen Interesse der Gesellschaft‹ verwandelt die Gesellschaft sprachlich in ein handelndes Subjekt. Wenn sie 473 Im ersten Weltkrieg schlachteten sich die europäischen Arbeiter gegenseitig ab. Die Zuversicht, die der militärisch interessierte Engels 1890 äußert, erscheint im Rückblick (wofür Engels nichts kann) als naiv, ihr sprachlicher Ausdruck befremdlich. »Das europäische und amerikanische Proletariat«, schreibt Engels, halte heute »Heerschau über seine zum ersten Mal mobil gemachten Streitkräfte, mobil gemacht als Ein Heer, unter Einer Fahne und für Ein nächstes Ziel [den achtstündigen Normalarbeitstag]«. Dies zeige, »daß heute die Proletarier aller Länder in der That vereinigt sind«. (VMKP 258/586). 474 Der frühe Horkheimer versteht seine Kritik an mechanistischen Vorstellungen des Übergangs zur sozialistischen Gesellschaft noch als Marx-Interpretation. Tatsächlich reißt aber schon hier »das Band, das bei Marx die Kritik der politischen Ökonomie mit der Theorie der Revolution verbindet«. Die Dialektik der Aufklärung überführt dann die Kritik der politischen Ökonomie tendenziell in die der »instrumentellen Vernunft« (Wellmer 1969: 137 f.); ausführlich Gangl (1987). Benjamins (1939/40: 1232) verwandte Kritik am mechanistischen Fortschrittsdenken macht vor Marx nicht halt: »Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber

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damit nicht zu einer aparten Person mystifiziert werden soll, die eigene Zwecke setzt und sich zu deren Realisierung der Individuen als Mittel bedient, muss mit dem ›eigenen Interesse‹ der Gesellschaft das gemeinsame Interesse ihrer Mitglieder gemeint sein. Indes bleibt das ›gemeinsame Interesse‹ so lange eine Leerformel, wie nicht gezeigt wird, worin es besteht und wie es sich gegen etwaige ihm widerstreitende partikulare Interessen konstituieren und realisieren kann. Anders als Horkheimer (und die Kritische Theorie475) haben Marx und Engels angedeutet, wie Sinn und Vernunft in der Welt verwirklicht werden können. Die entsprechenden Überlegungen sind verteilt über verschiedene Schriften und haben sich seit dem Elend der Philosophie (1847) nicht entscheidend verändert (ausgenommen die Passage zu den Reichen der Notwendigkeit und Freiheit in K III; dazu unten mehr), auch wenn die Akzente aus praktisch-politischen Gründen bisweilen unterschiedlich gesetzt werden. Sie lassen sich in drei Punkte gliedern: (1) Eine Alternative zur kapitalistischen Produktionsweise ist real möglich; (2) das Kapital schafft selbst die Klasse, die zu seinem »Totengräber« (MKP 474) wird; (3) der Übergang von der kapitalistischen zur kommunistischen Gesellschaft ist ein politischer Prozess in Gestalt der Diktatur des Proletariats. (1) Eine Alternative zur kapitalistischen Produktionsweise ist real möglich: Zufolge der Kapitaltheorie liegt Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise ein objektiver, dem subjektiven Wollen der Individuen vorausliegender und es präformierender Zweck zugrunde: die Produktion von akkumulierbarem Mehrwert. Da diese Zweckbestimmung der Produktivkraft der Arbeit, insbesondere der vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse./ Das Vertrauen auf die quantitative Akkumulation liegt sowohl dem sturen Fortschrittsglauben wie dem Vertrauen auf die ›Massenbasis‹ zugrunde.« 475 Unterstellte der frühe Horkheimer Marx die Utopie einer freien Gesellschaft, kommt er 1969 zu einem anderen Ergebnis: Im Unterschied zu »gestern« sei sich die Kritische Theorie »heute« darüber im Klaren: »Das, was Karl Marx sich als Sozialismus vorgestellt hat, ist in der Tat die verwaltete Welt.« (1969/72: 348). Die Dialektik der Aufklärung deutet Marx’ ›Verein freier Menschen‹ noch als Versöhnung »zwischen Natur und Selbst« (114) und somit als eine Idee, die vor dem Hintergrund ihrer Generalthese, fortschreitende Naturbeherrschung bedeute »unaufhaltsame Regression« (59), als »irrational und vernünftig zugleich« (114) zu qualifizieren ist. Spätere Überlegungen Adornos zur Utopie einer freien Gesellschaft nehmen auf die ästhetische Sphäre Bezug, auf die Dekadenz, die ahnt, »daß extreme Individuation Platzhalter von Menschheit sei« (1964: 626), und auf das »authentische Kunstwerk«, dem ohne sein Zutun der »kritische Begriff von Gesellschaft« inhäriert, der »unvereinbar ist mit dem, was die Gesellschaft sich selbst dünken muß, um so fortzufahren, wie sie ist« (1970: 350).

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Produktionstechnik, äußerlich ist und allein auf den Produktionsverhältnissen beruht, diese aber nicht naturgegeben sind, sind alternative Produktionsverhältnisse und ist ein alternativer Zweck der gesellschaftlichen Produktion möglich. »Es bedarf keines besondren Scharfsinns um zu begreifen, daß, ausgehend f.i. von der aus der Auflösung der Leibeigenschaft hervorgegangenen freien Arbeit oder Lohnarbeit, die Maschinen im Gegensatz zur lebendigen Arbeit, als ihr fremdes Eigentum und feindliche Macht gegenüber allein entstehn können; d.h. daß sie ihr als Capital gegenübertreten müssen«, so Marx in den Grundrissen. »Ebenso leicht ist aber einzusehn, daß die Maschinen nicht aufhören werden Agenten der gesellschaftlichen Produktion zu sein, sobald sie z.B. Eigenthum der associirten Arbeiter werden.« (Gr 699/723) Sind die Maschinen Eigentum der assoziierten Produzenten, arbeiten diese also »mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln« und verausgaben »ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft« (K I² 109/92), dann bestimmen sie auch den Zweck der gesellschaftlichen Produktion. Im Unterschied zur kapitalistischen Warenproduktion ist ihre Produktion unmittelbar gesellschaftlich. Weil die Produzenten keine Privateigentümer von Produktionsmitteln sind, treten sie nicht erst durch den Austausch ihrer Güter in gesellschaftlichen Kontakt und betätigen sich ihre Güter nicht erst im Austausch als Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, sondern unmittelbar. Der Zweck dieser unmittelbar gesellschaftlichen Produktion ist nicht mehr akkumulierbarer Mehrwert, sondern die Versorgung der Menschen mit Gebrauchswerten. Freilich haben die assoziierten Produzenten nach Marx nicht nur ein Interesse daran, das unter dem Kapital entwickelte hohe Niveau der Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit zu halten, sondern auch weiter zu erhöhen. Sie wollen nicht nur die in gesellschaftliches Eigentum überführte moderne Produktionstechnik bewahren, sondern durch bessere ersetzen. Während aber unter kapitalistischen Bedingungen Produktivkraftsteigerung mittels neuer Technik um der Erhöhung des relativen Mehrwerts willen erfolgen muss, erfolgt sie in der nachkapitalistischen Gesellschaft um der Ermöglichung und Ausdehnung des Reichs der Freiheit willen. Während der einzelne Kapitalist neue Produktionstechnik einführt, damit sie vermehrt Surplusarbeit einsaugt, setzen die vereinigten Produzenten auf sie, um sich selbst immer weiter von der eigentlichen materiellen Produktion emanzipieren zu können, also um tendenziell immer weniger Zeit für sie aufwenden zu müssen und immer mehr Zeit für ihre freie individuelle Entwicklung zur Verfügung zu haben. (2) Das Kapital schafft selbst die Klasse, die zu seinem ›Totengräber‹ wird: Die kapitalistische Entwicklung verwandelt die Masse der Menschen in Arbeiter. »Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese 471

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Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituirt sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie vertheidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf.« (EP 332/180 f.)476 Die Organisation der Arbeiter wird »damit zur politischen Partei« (MKP 471). Der kapitalistische Produktionsprozess schafft selbst die Klasse und ihr gemeinsames Interesse, aber nicht schon das diesem adäquate Bewusstsein. Das ist die Aufgabe der Partei (bzw. der Internationalen Arbeiter-Assoziation oder ihres Generalrats), die daher mehr ist als das geschäftsführende Organ der Klasse, sondern ihr sich als »autonom« (Hartmann 1970: 503) begreifender Kopf. Mit den Worten von Friedrich Engels: »Für den schließlichen Sieg der im Manifest aufgestellten Sätze verließ sich Marx einzig und allein auf die intellektuelle Entwicklung der Arbeiterklasse, wie sie aus der [durch die Internationale Arbeiter-Assoziation] vereinigten Aktion und der Diskussion nothwendig hervorgehn mußte.« Denn: »Die Ereignisse und Wechselfälle im Kampf gegen das Kapital, die Niederlagen noch mehr als die Erfolge, konnten nicht umhin, den Kämpfenden die Unzulänglichkeit ihrer bisherigen Allerweltsheilmittel klar zu legen und ihre Köpfe empfänglicher zu machen für eine gründliche Einsicht in die wahren Bedingungen der Arbeiter-Emanzipation.« (VMKP 257/584 f.) (3) Der Übergang von der kapitalistischen zur kommunistischen Ge­ sellschaft ist ein politischer Prozess unter der Form der Diktatur des Proletariats: »Der erste Schritt in der Arbeiterrevolution [ist] die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie.« (MKP 481) ›Demokratie‹ meint hier die Herrschaft der Masse der Arbeiterbevölkerung über die Mitglieder der Kapitalistenklasse und sonstige Gegner der Arbeiterklasse. Zu den ersten Maßnahmen des Proletariats zählen »despotische Eingriffe in das Eigentumsrecht«, die Einführung eines »gleiche[n] Arbeitszwang[s] für alle«, die »Vermehrung von Nationalfabriken«, die »Errichtung industrieller Armeen«,477 die »Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form«. So sollen »nach und nach« die Klassenunterschiede verschwinden und sich schließlich »alle Produktion in den Händen der assoziierten Produzenten« konzentrieren. Parallel dazu soll die öffentliche Gewalt ihren 476 Auf diese Passage geht die Rede von der ›Klasse an sich‹ und der ›Klasse für sich‹ zurück, die sich wortwörtlich bei Marx nicht findet. 477 Der Ausdruck steht für eine Kommandowirtschaft. Auf eine andere Gemeinsamkeit von Arbeitsorganisation und Militär verweist Marx in den 60er Jahren in einem Brief an Engels: »Unsere Theorie von der Bestimmung der Arbeitsorganisation durch das Produktionsmittel, bewährt sie sich irgendwo glänzender als in der Menschenabschlachtungsindustrie?« (7. Juli 1866: MEW 31: 234).

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»politischen Charakter« verlieren, denn »politische Gewalt im eigentlichen [!] Sinne ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer andern«. Mit dem Klassengegensatz und der Klassenherrschaft wird auch die politische Gewalt aufgehoben. »An die Stelle der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.« (MKP 481 f.) Von den genannten Punkten ist der erste kaum zu bestreiten, die anderen werfen Fragen auf, die Marx und Engels teilweise selbst angesprochen, aber nicht befriedigend beantwortet haben. Die unter (2) skizzierte materialistische Erklärung der Entstehung von Klassenbewusstsein wurde bereits kritisiert (III,5.3.2.). Allein durch den Rekurs auf die durch den ökonomischen Prozess selbst geformten faktischen Interessen der Arbeiter lassen sich keine allgemein verbindlichen Gründe für den revolutionären Umsturz der Verhältnisse aufweisen. Ohne allgemeine, von einem jeden prinzipiell einsehbare Gründe bleibt es bei partikularen Interessen. Da eine allgemeine Verelendung der Arbeiter durch die Kapitaltheorie nicht gestützt wird, lässt sie sich auch nicht als Entstehungsgrund revolutionären Bewusstseins anführen. Da mit der Kapitaltheorie aber sehr wohl eine Verbesserung der Lebensumstände der Arbeiter vereinbar ist, muss davon ausgegangen werden, dass denjenigen, die eine solche Verbesserung für möglich halten, die Verfolgung ihrer Interessen in der bestehenden Produktionsweise als der allein rationale Weg erscheinen muss. Das revolutionäre Klassenbewusstsein droht sich zu einer bloßen Idee zu verflüchtigen. Nicht weniger problematisch ist die in (3) angedeutete Auffassung des Übergangs von der kapitalistischen zur kommunistischen Gesellschaft. Der Übergang soll ein politischer Prozess sein, der in die Auflösung jeder Form von politischer Herrschaft resultiert – in die Gesellschaft freier Menschen. Da es sich aber bei dieser Gesellschaft nicht um eine Gelehrtenrepublik handelt, deren Mitglieder von den Notwendigkeiten der materiellen Produktion freigestellt sind, um ungestört ihren wissenschaftlichen Interessen nachgehen zu können, muss diese Produktion von ihnen geplant und realisiert werden. Es ist nun aber nicht zu sehen, wie dies ohne das Element politischer Herrschaft und öffentlicher Gewalt möglich sein soll. Im Folgenden sei gezeigt, wie auf der Grundlage des von Marx (und Engels) in Anschlag gebrachten ›materialistischen‹ Begriffs politischer Herrschaft die als real möglich vorgestellte Utopie einer Gesellschaft, ›worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist‹, tatsächlich unmöglich ist.

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6.3.1. Die politische Übergangsperiode der Diktatur des Proletariats Mit der Abschaffung der kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse ist der Verein freier Menschen nicht schon hergestellt. Die Expropriation »der Expropriateurs« (K I² 682/791) führt nicht im Nu zur Entstehung eines von einem jeden geteilten ›gesellschaftlichen Interesses‹. Nicht jedes Mitglied der nachkapitalistischen Gesellschaft wird sich sofort dazu verstehen, gemeinsam mit allen anderen einen Plan zu erstellen und zu realisieren. Und nicht alle, die sich dazu verstehen, werden nur das Gemeininteresse verfolgen. Ferner werden nicht alle, die auf das Gemeininteresse abzielen, in gleicher Weise kompetent sein, und nicht alle gleich Kompetenten werden notwendig übereinstimmen. Damit ein Plan gemeinsam erstellt und realisiert werden kann, bedarf es offenbar der Institutionen, der Regeln und der Organe, die die Regeln durchsetzen – es bedarf also neben der Gesellschaft noch einer Instanz, die in Teilen als funktionales Äquivalent des bürgerlichen Staates fungiert. Marx nennt diese Instanz bisweilen ›Staat‹, scheut aber eigentlich davor zurück. Denn ›Staat‹ meint die politische Gewalt und diese Klassenherrschaft. Es ist daher wohl mehr als ein Lapsus, wenn Marx in der Kritik des Gothaer Programms fragt: »[W]elche Umwandlung wird das Staatswesen in einer kommunistischen Gesellschaft untergehn?« Engels ersetzt 1891 ›untergehn‹ durch ›erleiden‹ und wirft damit die Frage auf, worauf Marx und er hinaus wollen: Erleidet der Staat eine Veränderung oder geht er unter? Die Art, in der Marx unmittelbar fortfährt, reproduziert die Verwirrung. »In andern Worten, welche gesellschaftliche Funktionen bleiben dort übrig, die jetzigen Staatsfunktionen analog sind?« Offenbar soll nicht der Staat in veränderter Form bestehen bleiben, sondern einige seiner Funktionen sollen von der Gesellschaft übernommen werden. Die Frage sei »nur wissenschaftlich zu beantworten«. Statt der wissenschaftlichen Antwort liefert Marx selbst aber nur die Formel von der ›Diktatur des Proletariats‹ und spricht in diesem Zusammenhang von dem ›Staatswesen‹ der ›kommunistischen Gesellschaft‹, welche auf die Diktatur des Proletariats folgen werde. »Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Uebergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats./ Das [Gothaer] Programm nun hat es weder mit letztrer zu thun, noch mit dem zukünftigen Staatswesen der kommunistischen Gesellschaft.« (KGP 21 f./28)478 Wenige Tage bevor Marx seine Kritik des Gothaer Programms niederschreibt, schlägt 478 1850 spricht Marx von der »Klassendictatur des Proletariats« als notwendigem »Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede über­ haupt« (KF 192/89).

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Engels in einem Brief an Bebel vor, »das ganze Gerede vom Staat fallen[zu]lassen«. Vom »freien Volksstaat zu sprechen« sei »purer Unsinn«, denn »solange das Proletariat den Staat noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald von Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zu bestehen. Wir [Marx und Engels] würden daher vorschlagen, überall [im Programmentwurf] statt Staat ›Gemeinwesen‹ zu setzen, ein gutes altes deutsches Wort, das das französische ›Kommune‹ sehr gut vertreten kann.« (18./28. März 1875; MEW 19: 6 f.) Marx’ Ausführungen sind unklar und überspielen die ganze Tragweite des Problems. Engels äußert sich öfter und ausführlicher und findet dabei weltanschaulich äußerst brauchbare Formulierungen:479 »Das Pro­ letariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigenthum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat.« Der Staat war bislang der der herrschenden Klasse. »Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft – ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ›abgeschafft‹, er stirbt ab.« (AD³ 535/261 f.) In dem Maße, in dem die gesellschaftliche Produktion planmäßig betrieben werde, »schläft auch die politische [!] Autorität des Staates ein. Die Menschen, endlich Herren ihrer eigenen Art der Vergesellschaftung, werden damit zugleich Herren der Natur, Herren ihrer selbst – frei.« (UW 625/228) Die ›Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft‹ (Engels) erfolgt nicht im Namen eines jeden Mitglieds der Gesellschaft, sondern im Namen einer allererst zu realisierenden klassenlosen Gesellschaft. ›Gesellschaft‹ fungiert hier als normativer Begriff. Es ist die Gesellschaft, die nicht existiert, aber existieren soll, weil sie im Interesse der Masse der (Arbeiter-) Bevölkerung ist (vgl. EP 332 f./180 f.) Weil die Staatsmacht nicht im Namen eines jeden einzelnen Mitglieds der alten Gesellschaft übernommen wird – zumindest die Besitzer der 479 Für eine motivgeschichtliche Rezeption mag es reizvoll sein, die Einlassungen Engels’ allein auf sein Konto zu verbuchen und aus den vielen Arbeiten des Theoretikers, Journalisten, Pamphletisten, Briefeschreibers und Politikers Marx eine alternative Auffassung zu destillieren. Ein solches Vorgehen ist natürlich immer möglich (vgl. etwa Purschke 2022). Ob sich im marxschen Denken allerdings gute Argumente finden, mit denen Engels’ Ausführungen überzeugend begegnet werden könnte, ist mehr als zweifelhaft.

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Produktionsmittel dürften nicht damit einverstanden sein –, bedarf es zunächst der Diktatur des Proletariats, um die unmittelbar gesellschaftliche Produktion nach einem Plan auch gegen erwartbaren Widerstand durchzusetzen. In dem Maße, wie dies gelinge, sterbe der Staat ab bzw. schlafe seine politische Autorität ein. Politische Herrschaft werde abgelöst durch die ›Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen‹. Zu Recht bezeichnet der Anarchist Errico Malatesta 1897 Engels’ Wort als »ein bloßes Wortspiel«. Denn: »Wer Herrschaft über Dinge hat, hat Herrschaft über Menschen; wer die Produktion beherrscht, beherrscht den Produzenten; wer über den Verbrauch bestimmt, bestimmt über den Verbraucher.« (zit. nach Fabbri 1951: 27)480 Wer Herrschaft über Dinge ausübt, der übt Herrschaft über diejenigen aus, die von diesen Dingen abhängig sind. In der auf gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Kooperation beruhenden nachkapitalistischen Gesellschaft sind die Einzelproduktionen technisch voneinander abhängig. Es ist evident, dass die Gesellschaft als das Gesamt ihrer Mitglieder den funktionalen Zusammenhang der Einzelproduktionen nicht direkt verwalten und leiten kann. Marx’ Behauptung, die Maschinen würden nicht aufhören, »Agenten der gesellschaftlichen Produktion zu sein, sobald sie z.B. Eigenthum der associirten Arbeiter werden«, ist keineswegs »leicht einzusehn« (Gr 699/723). Denn was ist unter dem ›Eigentum der assoziierten Arbeiter‹ zu verstehen? Der Terminus meint entweder Eigentum der in einer Fabrik assoziierten Arbeiter oder der zu einer kommunistischen Gesellschaft assoziierten Arbeiter. Zwar betrachtet Marx die »Cooperativfabriken«, in denen »die Arbeiter als Association ihr eigner Capitalist sind, d.h. die Productionsmittel zur Verwerthung ihrer eignen Arbeit verwenden«, als »Uebergangsformen aus der capitalistischen Productionsweise in die associirte« (K III 504/456), gleichwohl ist die ›freie Assoziation der Produzenten‹ oder der ›Verein freier Menschen‹ nicht auf eine Fabrik, eine Produktionseinheit, sondern auf die Gesellschaft zu beziehen. Das Eigentum der assoziierten Arbeiter ist »unmittelbares Gesellschaftseigenthum«. Es ist das »Eigenthum der Producenten, aber nicht mehr als das Privateigenthum vereinzelter Producenten, sondern das Eigenthum ihrer als associirter«. (K III 502/453) Das ›unmittelbare Gesellschaftseigentum‹ der Produzenten ist derart »individuelle[s] Eigentum« (K I² 683/791; vgl. III, 6.3.2.). Gesellschaftliche Allgemeinheit und individuelle Besonderheit scheinen miteinander versöhnt. Es liegt aber auf der Hand, dass die Gesellschaft als solche die Maschine nicht direkt 480 Malatesta fährt fort: »Die Frage ist folgende: Entweder werden die Dinge entsprechend den freien Vereinbarungen der Betroffenen verwaltet – dann bedeutet das Anarchie; oder sie werden entsprechend den Gesetzen der Verwaltenden verwaltet – dann bedeutet das Regierung, Staat und dieser wird unweigerlich zur Gewaltherrschaft.«

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verwalten und den Produktionsprozess, in dem sie eingesetzt ist, leiten kann. Dazu bedarf es bestimmter Menschen oder Gruppen von Menschen, die aber, indem sie Dinge verwalten und Produktionsprozesse leiten, auch über die Menschen in diesen Prozessen ›herrschen‹.481 Gewiss, Marx und Engels argumentieren in Bezug auf die ›Übergangsperiode‹ nicht als reine Theoretiker, sondern verfolgen immer auch politische Zwecke. Es gilt die Staatsgläubigkeit der Sozialdemokraten ebenso wie die voluntaristischen Strategien der Staatsabschaffung auf Seiten der Anarchisten zurückzuweisen.482 Richtig ist auch, dass die Internationale Arbeiterassoziation als revolutionäre politische Organisation nicht »das Ebenbild des neuen Jerusalems« (SI 43) sein kann. Dennoch ist die Frage, welche die Anarchisten im »Zirkular der Sechzehn« stellen, nicht einfach unter Hinweis auf Notwendigkeiten des politischen Kampfes lächerlich zu machen, sondern als Prinzipienfrage ernst zu nehmen: »Wie will man es erreichen, daß eine gleiche und freie Gesellschaft aus einer autoritären Organisation hervorgeht?« (SI 43)483 Genau diese Frage nach dem Verhältnis zwischen der Organisationsform der revolutionären Bewegung und dem Ziel der Revolution stellt sich im Hinblick auf das Konzept der ›Diktatur des Proletariats‹, und es ist kein Zufall, dass Marx und Engels ihr als Theoretiker nicht die Bedeutung beigemessen haben, die sie verdient.484 481 Brie (1990) beantwortet die Frage »Wer ist Eigentümer im Sozialismus?« völlig unkritisch gegenüber Marx’ einschlägigen Behauptungen. Im Zentrum der »lange[n] historische[n] Epoche sozialistischer Entwicklung« stehe der Widerspruch »zwischen durchzusetzender Herrschaft der Produzenten über den gesellschaftlichen Produktionsprozeß und noch nicht zuende aufgehobener Unterordnung unter ihn als Arbeitskraft«. Er sei »vor allem ein Selbstwiderspruch der Arbeiterklasse« (123), für die gelte: »Immer von neuem muß der Kampf geführt werden, die Produktion in stets höherem Maße in ein Mittel der Entwicklung der Produzenten selbst zu verwandeln.« (121). Warum? 482 Vgl. Engels (1891), VKGP 521 f. 483 Das Zirkular fährt fort: »Das ist unmöglich. Die Internationale, Keim der künftigen menschlichen Gesellschaft, muß von jetzt an das getreue Ebenbild unserer Prinzipien von Freiheit und Föderation werden.« 484 Dass der »Totalitarismus« ein »interessiertes Gerücht über Marx« bzw. das »marxsche Denken« ist, trifft zu. Im Folgenden geht es nicht um dieses Gerücht und auch nicht primär um das marxsche Denken, sondern um die Kapitaltheorie, die als Kapitalkritik von der Utopie einer ›höheren‹ Gesellschaftsform nicht zu trennen ist. Dass Marx die »institutionelle Basis kommunistischer Freiheit nicht expliziert« (Wallat 2009: 281) hat, ist keineswegs nur für den ein Problem, der das marxsche Denken als Weltanschauung missversteht und nicht selbst weiterdenken möchte. Das Problem berührt die Kapitaltheorie direkt, denn die transitorische Notwendigkeit, die sie der kapitalistischen Produktionsweise im Hinblick auf eine durch sie

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Der Kritik des Gothaer Programms zufolge bildet die Diktatur des Proletariats die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft, welche »in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig noch behaftet […] mit den Muttermalen« der alten kapitalistischen Gesellschaft, aus der sie »hervorgeht«. (KGP 13/20) In ihrer zweiten Phase entwickele sich die kommunistische Gesellschaft dann »auf ihrer eignen Grundlage«. »Demgemäss« gelte für die erste Phase, dass der einzelne Produzent, nach gewissen Abzügen, von der Gesellschaft »exakt« zurückerhalte, was er ihr gebe. »Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum. […] Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Producenten ist der von ihm gelieferte Theil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Antheil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein dass er so und so viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds) und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrath von Consumtionsmitteln so viel heraus als gleich viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück.« Die Verteilung der Konsumtionsmittel unter die einzelnen Produzenten erfolge nach demselben »Princip, das den Waarentausch regelt, soweit er Austausch Gleichwerthiger ist«. (KGP 13 f./20) Allerdings werden nicht Waren vermittelt durch das Geld getauscht, sondern für die individuelle Konsumtion bestimmte Güter gegen Arbeitsscheine ausgeteilt. An die Stelle des Wertgesetzes treten ›nach und nach‹485 der Plan der gesellschaftlichen Produktion und ein striktes Arbeitsschein-Regime. »Die Gesellschaft vertheilt Arbeitskraft u. Produktionsmittel in die verschiednen Geschäftszweige. Die Producenten erhalten papierne Anweisungen, wofür sie den gesellschaftlichen Consumtionsvorräthen ein ihrer Arbeitszeit entsprechendes Quantum entziehn. Diese Anweisungen sind kein Geld. Sie cirkuliren nicht.« (K II 347/358)486 Gegenüber dem Warentausch bestehe der Fortschritt da­ rin, dass nicht nur »im Durchschnitt« (KGP 14/20), sondern in jedem ermöglichte ›höhere‹ zuschreibt, entfiele, wenn die höhere: der Verein freier Menschen, gar nicht möglich wäre. 485 Da das Arbeitszeit-Regime die erste Phase des Kommunismus nicht von Beginn an prägen muss, ist es legitim, wenn in Bezug auf sie auch noch von »Waren, […] Geld, Geldlohn« gesprochen wird (Hofmann 1979: 159 f.). Die Gesellschaft ist nicht mehr kapitalistisch und noch nicht kommunistisch. So wie Waren, Geld und Geldlohn partiell schon vor der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise existierten, können sie auch noch in dem Übergangsstadium existieren. In dem Maße freilich, wie die gesellschaftliche Produktion sich in eine gemeinschaftlich geplante und kontrollierte transformiert, kann nach Marx von alldem immer weniger die Rede sein (dazu auch w.u.). 486 Dass sie tatsächlich nicht zirkulieren, müsste durch ihre Personalisierung und durch strikte Kontrolle sichergestellt werden.

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einzelnen Fall die Äquivalenz gewahrt bleibe. Überwunden werden müsse das Prinzip aber dennoch, weil es gleichgültig sei gegenüber der individuellen Verschiedenheit der Arbeiter und ihrer Bedürfnisse. Marx’ Beanspruchung des den ›Warentausch regelnden Äquivalenzprinzips‹ für die Verteilung der Konsumtionsmittel unter die einzelnen Produzenten hat ihm den Vorwurf eingetragen, er vergesse hier seine eigene ›monetäre‹ Werttheorie und sitze der ›nicht-monetären‹ Wertauffassung Engels’ auf.487 Engels hatte im Anti-Dühring behauptet, »[s]obald die Gesellschaft sich in den Besitz der Produktionsmittel« setze, werde die Arbeit eines jeden »von vornherein und direkt gesellschaftliche Arbeit. Die in einem Produkt steckende Menge gesellschaftlicher Arbeit braucht dann nicht erst auf einem Umweg festgestellt zu werden«. Die Gesellschaft könne jetzt »einfach berechnen, wieviel Arbeitsstunden in einer Dampfmaschine, einem Hektoliter Weizen der letzten Ernte« enthalten seien. Es könne »ihr also nicht einfallen, die in den Produkten niedergelegten Arbeitsquanta, die sie alsdann direkt und absolut kennt, noch fernerhin in einem nur relativen, schwankenden, unzulänglichen, früher als Nothbehelf unvermeidlichen Maß, in einem dritten Produkt auszudrücken und nicht in ihrem natürlichen, adäquaten, absoluten Maß, der Zeit.« Sie schreibe daher den Produkten auch keine Werte zu. »Sie wird den Produktionsplan einzurichten haben nach den Produktionsmitteln, wozu besonders auch die Arbeitskräfte gehören. Die Nutzeffekte der verschiednen Gebrauchsgegenstände, abgewogen unter einander und gegenüber den zu ihrer Herstellung nötigen Arbeitsmengen, werden den Plan schließlich bestimmen. Die Leute machen Alles sehr einfach ab ohne Dazwischenkunft des vielberühmten ›Werths‹.« (AD 468 f./288) Indem Engels das Geld in seiner Funktion als Wertmaß als einen ›Notbehelf‹ bezeichnet und behauptet, in der warenproduzierenden Gesellschaft werde die in den Arbeitsprodukten steckende gesellschaftliche Arbeit auf einem ›Umweg‹ festgestellt, in der nachkapitalistischen Gesellschaft dagegen direkt, meint er Heinrich zufolge offenbar, die Wertgröße einer Ware sei bereits vor ihrem Austausch durch die zu ihrer Herstellung verausgabte Menge konkreter Arbeit bestimmt. Engels’ Auffassung entspreche damit der »substanzialistischen, prämonetären Interpretation der Werttheorie, die im theoretischen Feld der politischen Ökonomie 487 Die Thematik ist von Backhaus (1975) wieder zur Diskussion gestellt worden. Backhaus zufolge ist Marx’ Werttheorie »als Kritik prämonetärer Werttheorien konzipiert – sie ist auf der Darstellungsebene der einfachen Zirkulation essentiell Geldtheorie.« Die marxistische Werttheorie verkenne dies völlig. Wie die subjektive Wertlehre entwerfe sie »Lehrsätze für eine wirkliche oder fiktive Naturaltauschwirtschaft«. Ihre Grundbegriffe seien einer »geldtheoretischen Fortbestimmung« nicht bedürftig, ihre Methodologie ignoriere die »dialektische Form der Begriffsentwicklung« bei Marx (122 f.).

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wurzelt«, während die marxsche »gerade nicht davon ausgeht, daß die Werte Eigenschaften einzelner Waren sind, die bereits vor dem Tausch fertig bestimmt sind«. Marx habe dargetan, dass die einzelnen konkreten Arbeiten nicht unmittelbar vergleichbar seien, vielmehr werde ihre Gleichheit als abstrakte Arbeit erst »auf dem Markt vermittels des Geldes hergestellt«. Wenn Marx daher für die erste Phase des Kommunismus auf das Äquivalenzprinzip rekurriere, gehe er wie Engels davon aus, dass in der kapitalistischen Gesellschaft der Markt nur »die bereits feststehenden Werte der einzelnen Waren nachträglich« realisiere. (Heinrich 2006: 389 f.) Nicht die Äquivalenz des Warenaustauschs, sondern nur die vermittelnde Instanz des Marktes solle mit Beginn der neuen Gesellschaft aufgehoben werden.488 Ob die skizzierte Kritik an Marx zutrifft oder nicht, hängt davon ab, wie sein Wort von der ›Äquivalenz‹ hier zu verstehen ist. Sicher, Marx sagt explizit, es sei das Prinzip gemeint, ›das den Warentausch regelt, soweit er Austausch gleichwertiger ist‹. Er fügt allerdings hinzu, anders als im Warentausch werde die Äquivalenz nicht nur ›im Durchschnitt‹, sondern in jedem einzelnen Fall gewahrt. Marx deutet damit selbst auf den Umstand, den vergessen zu haben ihm die Kritik anlastet: Dass im Warenaustausch die Werte der einzelnen Waren keineswegs vor dem Austausch »fertig bestimmt sind« (Heinrich489). ›Im Durchschnitt‹ meint: Die Äquivalenz im Austausch ist nicht vorab dadurch gesichert, dass die Produktion der Waren jeweils unter den technisch bestimmten gesellschaftlichen Durchschnittsbedingungen erfolgte. ›Gesellschaftlich notwendige Arbeit‹ in diesem Sinne meint konkrete Arbeit. Ob ›gesellschaftlich notwendige Arbeit‹ im Sinne wertbildender Arbeit in der Warenproduktion verausgabt worden ist, hängt aber davon ab, ob die Waren ein gesellschaftliches Bedürfnis befriedigen. Dieses Bedürfnis wird im ersten Band unter den dort noch geltenden Abstraktionen als zahlungsfähige Nachfrage oder als Größe des ›Marktmagens‹ beschrieben. Im dritten, Fragment gebliebenem Band ist angedeutet, dass es im Produktionsbedürfnis des gesellschaftlichen industriellen Kapitals gründet, also in dessen ›Streben‹ nach Selbsterhaltung durch erweiterte Akkumulation. Obwohl Marx mit dem Wort von der Äquivalenz keineswegs in eine nicht-monetäre Werttheorie zurückfällt, ist seine Formulierung dennoch irreführend. Sie zitiert gewissenermaßen den Beginn des Kapitals. Dessen Argumentation setzt ein mit dem Warenaustausch und der Bestimmung von Wert, Tauschwert, Geld und Preis, ohne dass damit aber Theoreme präsentiert würden, die für sich genommen schon Geltung beanspruchen 488 Backhaus (1978: 62): »Die Substituierung der Wertrechnung durch eine Arbeitszeitrechnung ist nur die Kehrseite einer Substituierung von Geld durch Arbeitszertifikate oder ›Stundenzettel‹.« 489 Diese Bemerkung wird von Heinrich übergangen.

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dürften. Die Unterstellung, die ersten Kapitel enthielten eine monetäre Werttheorie, ist daher strenggenommen falsch. Terminus ad quem des Ka­ pitals ist nicht die Erklärung von Wert und Geld, sondern von Mehrwert bzw. Profit, und die Pointe besteht in dem Nachweis, dass Wert und Geld überhaupt nur im Rahmen einer Theorie des Kapitals bestimmt werden können. Im Resultat der Kapitaltheorie erweist sich deren Beginn als notwendig abstrakt. Die Waren werden nicht zu ihren Werten getauscht, und ihr Preis ist nicht der in der Bestimmtheit des Geldes gesetzte Tauschwert. Tatsächlich werden sie zu Marktpreisen getauscht, die um den Produktionspreis oszillieren. Der Produktionspreis drückt aber eine affirmative Beziehung der ökonomisch konkurrierenden Einzelkapitale aufeinander aus: ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Mehrwert gemäß ihrer Größe. Er erscheint an der Oberfläche des Gesamtreproduktionsprozesses ›begriffslos‹ als gegebener längerfristiger Durchschnitt der Marktpreise. Seine theoretische Erklärung erfolgt nicht aus dem unmittelbaren Produktionsprozess und nicht aus der Zirkulationssphäre, die als ›einfache Zirkulation‹ immer nur die abstrakte Bestimmung der Oberfläche ist, sondern aus dem Mechanismus der Mehrwertproduktion des gesellschaftlichen industriellen Kapitals. Erst mit dem Produktionspreis ist die Ware explizit als Produkt des kapitalistischen Produktionsprozesses bestimmt. Marx’ Wort von der Äquivalenz führt in die Irre, weil sie bezogen auf die kapitalistische Produktionsweise einer abstrakten, in der Darstellung noch zu entwickelnden Bestimmung unmittelbare Geltung zuzusprechen scheint und damit zugleich dem notorischen Missverständnis der Kapital-Rezeption Vorschub leistet, Markt und Geld, die historisch auch vor der kapitalistischen Produktionsweise existierten, reichten hin, um die Gleichheit der Produkte herzustellen. Marx selbst hat betont, dass aus der Zirkulationssphäre allein kein objektives Wertmaß begründet werden kann. Solange das Produkt erst »durch den Handel« Ware wird und es »nicht die producirte Waare« ist, »deren Bewegung den Handel bildet«, sind die quantitativen Austauschverhältnisse noch zufällig. »Das selbstständige Kaufmannsvermögen – als herrschende Form des Capitals – ist die Verselbstständigung des Circulationsprocesses gegen seine Extreme und diese Extreme sind die austauschenden Producenten selbst. Diese Extreme bleiben selbstständig gegen den Proceß, der Proceß gegen sie.« Die durch das Kaufmannskapital gestiftete Verbindung zwischen den Einzelproduktionen ist diesen äußerlich. Es kann »Productionssphären der verschiedensten Organisation vermitteln, die ihrer innern Struktur nach noch hauptsächlich auf Production des Gebrauchswerths gerichtet sind«. Der relativen Selbständigkeit von Zirkulations- und Produktionssphäre gegeneinander korrespondiert die relative Selbständigkeit der verschiedenen Produzenten untereinander. Beides erscheint retrospektiv als ein Aspekt der Geschichte des Werdens des Kapitals. Im gewordenen Kapital beruht dagegen der Produktionsprozess 481

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»ganz auf der Circulation und die Circulation ist […] blos die Realisirung des als Waare producirten Products.« (K III 401/340) Beide Sphären sind integriert zum gesellschaftlichen Gesamtreproduktionsprozess des Kapitals. Damit erweist sich aber die Gegenüberstellung: In der Produktion werden Werte produziert, in der Zirkulation (auf dem Markt) müssen sie realisiert werden, als Abstraktion. Richtig bleibt, dass kapitalistische Vergesellschaftung ex post erfolgt. Erst im Nachhinein erweist sich, ob gesellschaftlich notwendige Arbeit in der Produktion verausgabt wurde. Abstrakt ist die Gegenüberstellung von Produktion und Markt insofern, als sie mit dem Markt die Oberfläche des Gesamtprozesses als Vermittlungsinstanz begreift und davon absieht, dass diese Instanz selbst vermittelt ist durch den Mechanismus der gesellschaftlichen Mehrwertproduktion. So wie mit der Produktionspreistheorie die Ware explizit als Produkt des Kapitals bestimmt ist und nicht mehr mit Produkten zu verwechseln ist, die erst durch den Handel zu Waren werden, so ist mit ihr auch die kapitalistische Produktionsweise selbst nicht mehr mit ›Marktwirtschaft‹ zu verwechseln.490 Das Wort von der Äquivalenz des Arbeits-Quantums, das der Einzelne der Gesellschaft in einer Form gibt, und des Arbeits-Quantums, das er von ihr in anderer Form zurückerhält, bedeutet nicht, dass die einzelnen konkreten Arbeiten unmittelbar und objektiv vergleichbar sind und ihre Äquivalenz messbar ist. Um den Unterschied zum Warenaustausch deutlich zu machen, ist nicht nur zu betonen, dass die Waren dort nur mittelbar: auf dem Markt vermittels des Geldes, vergleichbar sind, sondern auch, dass ihr Vergleich ein fundamentum in re hat. Der Vergleich verschiedener Arbeitsprodukte als Waren unterstellt die Vergleichbarkeit dieser Produkte als deren objektive Bestimmtheit, wenn er nicht einfach in der Einschätzung der Warenbesitzer gründen und den Produkten äußerlich sein soll. Die Vergleichbarkeit der Waren gründet in ihrem Wert, dieser in der wertbildenden Tätigkeit der zur Ware bestimmten Arbeitskraft. Da der Ort des Vergleichs nicht die einfache Zirkulation, sondern die Sphäre der Konkurrenz ist, in der die Marktpreise um den Produktionspreis oszillieren, und die Übereinstimmung der Produktionspreise mit den Werten nur für die Totalität gilt, ist der Wert der einzelnen Ware auch via Markt und Geld nicht festzustellen, sondern nur ihr Marktpreis. ›Wert‹ und ›Wertsubstanz‹ sind Totalitätsbegriffe. Sie bezeichnen das der ›Warenwelt‹ objektiv Gemeinsame. Dergleichen kann es in der ›Produktenwelt‹ einer nichtkapitalistischen Produktion nicht geben. Wenn dem aber so ist, dann kann das Wort von der Äquivalenz bezogen auf die gemeinschaftlich gesellschaftliche Produktion nur eine pragmatische Bedeutung haben. 490 Wenn das begriffen ist, scheint der Gedanke eines Marktsozialismus nicht mehr als der Gottseibeiuns, für den ihn rechtgläubige Marxisten und Marxologen halten: dazu Krätke (2003: 73 ff.).

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In der gemeinschaftlich gesellschaftlichen Produktion sind die Arbeiten der Einzelnen unmittelbar gesellschaftliche Arbeiten. Sie müssen sich nicht über den Austausch als Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit nachträglich erweisen, denn sie wurden unmittelbar als solcher Teil verausgabt. Statt einer naturwüchsig sich entwickelnden Arbeitsteilung findet »eine Organisation der Arbeit statt, die den Antheil des Einzelnen an der gemeinschaftlichen Consumtion zur Folge hat« (Gr 103/104). Der Vergleich der Arbeiten bzw. Arbeitsprodukte hat hier kein fundamentum in re. Die Arbeiten sind nicht zugleich wertbildend und gebrauchswertproduzierend, ihre Produkte nicht zugleich Wert und Gebrauchswert. Was unmittelbar gemessen wird, ist die Arbeitszeit, welche die Gesellschaft für die Produktion der von ihr gewollten Produkte unter den von ihr bewusst hergestellten Bedingungen der Produktion aufwenden muss, und der individuelle Anteil eines jeden an den Konsumtionsmitteln. Marx bemüht wiederholt die Analogie von individueller und gesellschaftlicher Produktion. Dem ersten Band zufolge finden sich im Verein freier Menschen sämtliche Bestimmungen der Arbeit Robinsons – »nur gesellschaftlich, statt individuell«. »Nur zur Parallele mit der Waarenproduktion491 setzen wir voraus, der Antheil jedes Producenten an den Lebensmitteln sei bestimmt durch seine Arbeitszeit. Die Arbeitszeit würde also eine doppelte Rolle spielen. Ihre gesellschaftlich planmäßige Vertheilung regelt die richtige Proportion der verschiednen Arbeitsfunktionen zu den verschiedenen Bedürfnissen. Andrerseits dient die Arbeitszeit zugleich als Maß des individuellen Antheils des Producenten an der Gemeinarbeit und daher auch an dem individuell verzehrbaren Theil des Gemeinprodukts.« (K I² 109/92 f.) »Wie bei einem einzelnen Individuum«, so die Grundrisse, »hängt die Allseitigkeit ihrer [d. Gesellschaft] Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Thätigkeit von Zeitersparung ab. Oekonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Oekonomie auf. Ebenso muß die Gesellschaft ihre Zeit zweckmäßig eintheilen, um eine ihren Gesammtbedürfnissen gemässe Production zu erzielen.« Die »planmässige Vertheilung der Arbeitszeit auf die verschiednen Zweige der Production« bleibe hier nicht nur »erstes ökonomisches Gesetz«, es werde »sogar in viel höherem Grade Gesetz«. (Gr 103 f./105) Die Diktatur des Proletariats verstehen Marx und Engels als politische Herrschaft der Arbeiterklasse. Die Dimension des Politischen ist hier von entscheidender Bedeutung. Ohne die durch die politische Gewalt 491 Die Einschränkung muss gemacht werden, denn in der zweiten Phase des Kommunismus oder eben im eigentlichen Verein freier Menschen entfällt das Arbeitsschein-Regime. Jeder entnimmt dann dem Vorrat an Konsumtionsmitteln das, dessen er bedürftig ist. Die Arbeitszeit spielt nicht länger eine doppelte, sondern nur noch eine einfache Rolle: s.w.u.

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ausgeübte Repression und Kontrolle sind die Eigentumsverhältnisse nicht zu verändern, ist der gleiche Arbeitszwang für alle nicht durchzusetzen und das Arbeitsschein-Regime nicht aufrecht zu erhalten. Allerdings stellt sich die Frage, wie aus der ersten Phase, in der die »gesamte Gesellschaft […] ein Büro und eine Fabrik« (Lenin 1918: 488492) ist, wo die Individuen unter dem Kommando der herrschenden Arbeiterklasse (weil diese als solche aber nicht unmittelbar kommandieren kann: der Partei, des Zen­ tralkomitees, des Politbüros oder des einen großen ›Steuermanns‹493) diszipliniert ihre Arbeit verrichten, der Übergang zur zweiten Phase und eine Weiterentwicklung in dieser möglich sein soll. Wie kann aus der Gesellschaft, die noch ›in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig‹ von der bürgerlichen geprägt ist und daher der politischen Gewalt nicht entbehren kann, eine Gesellschaft freier Menschen werden? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit an die Stelle des Arbeitsleistungsprinzips (›Jedem nach seiner Leistung‹) das Prinzip ›Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!‹ treten kann? Marx nennt drei: Die »knechtende Unterordnung der Individuen unter die Theilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit« muss verschwunden sein; die Arbeit muss »nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfniss geworden« sein; schließlich müssen »mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Productivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichthums voller fliessen«. Marx lässt keinen Zweifel: »Erst dann«, wenn diese Bedingungen erfüllt sind, ist von einer kommunistischen Gesellschaft zu sprechen, die sich auf ihrer »eignen Grundlage« entwickelt. (KGP 15/20 f.) Lenin, der sich auf diese Ausführungen affirmativ bezieht, resümiert: »Zum vollständigen Absterben des Staates bedarf es des vollständigen 492 Lenin trifft Buchstaben und Geist der marx-engelsschen Ausführungen, wenn er in Staat und Revolution »›Fabrik‹disziplin‹« einfordert: »Rechnungsführung und Kontrolle – das ist das Wichtigste, was zum ›Ingangsetzen‹, zum richtigen Funktionieren der kommunistischen Gesellschaft in ihrer ersten Phase erforderlich ist.« Freilich sei diese nicht »unser Endziel, sie ist nur eine Stufe, die notwendig ist zur radikalen Reinigung der Gesellschaft von den Niederträchtigkeiten und Gemeinheiten der kapitalistischen Ausbeutung« (487 f.). Den »wankelmütigen Intellektuellen« erscheine die Fabrik als »Schreckgespenst« (Lenin 1904: 395), tatsächlich habe sie aber schon im Kapitalismus auch positive Seiten: Sie vereinige, diszipliniere und organisiere das Proletariat. 493 Bloch behauptet 1935: »Der Wunsch nach einem Führer dürfte der älteste sein« (128). Der »alte Führertraum« stelle sich in der Praxis »nicht als so dumm dar. Die revolutionäre Klasse und ganz sicher die revolutionär noch Unentschiedenen wünschen ein Gesicht an der Spitze, das sie hinreißt. Einen Steuermann, dem sie vertrauen und dessen Kurs sie vertrauen; die Arbeit auf dem Schiff geht dann leichter« (146).

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Kommunismus.« Wann dessen Bedingungen erfüllt sein würden, lasse sich nicht prognostizieren. Zwar stehe außer Frage, dass »die Expro­ priation der Kapitalisten unausbleiblich eine gewaltige Entwicklung der Produktivkräfte der menschlichen Gesellschaft zur Folge haben« werde, wie rasch sich diese vollziehen und zur Aufhebung der alten Arbeitsteilung und des Gegensatzes von geistiger und körperlicher Arbeit führen werde, bleibe aber notwendig offen. »Wir sind daher auch nur berechtigt, von dem unvermeidlichen Absterben des Staates zu sprechen. Dabei betonen wir, daß dieser Prozeß von langer Dauer ist und vom Entwicklungstempo der höheren Phase des Kommunismus abhängt, wobei wir die Frage der Fristen oder der konkreten Formen des Absterbens vollkommen offenlassen, denn Unterlagen zur Entscheidung dieser Fragen gibt es nicht.« (Lenin 1918: 482 f.) Näheres Hinsehen zeigt, dass sowohl das Prinzip der entwickelten kommunistischen Gesellschaft ›Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen‹ als auch die für seine Etablierung genannten Bedingungen fragwürdig sind. Marx selbst erläutert das Prinzip nicht. Was heißt ›Jeder nach seinen Fähigkeiten‹? Eine hoch entwickelte, auf gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Kooperation beruhende Produktion unterstellt, kann es nicht heißen, es sei in das Belieben eines jeden Einzelnen gestellt, wo und wie lange er arbeitet. Es kann nur bedeuten, dass die Individuen aufgrund ihrer ›allseitigen Entwicklung‹ prinzipiell in verschiedenen Bereichen der gesellschaftlichen Produktion tätig sein können, also zumindest im Prinzip nicht auf eine bestimmte Tätigkeit beschränkt und durch diese Beschränkung voneinander isoliert sind. Der Versuch, ›Jeder nach seinen Fähigkeiten‹ vor dem Hintergrund der Kapitaltheorie zu interpretieren, müsste die bereits diskutierte und kritisierte materialistische Utopie von Arbeit als Selbstverwirklichung erneut thematisieren – er kann daher unterbleiben. Hier sei nur daran erinnert und auf die politischen Konsequenzen aufmerksam gemacht: Marx entwickelt im Kapital und in Schriften zur Selbstverständigung teilweise eine Vorstellung von gesellschaftlicher Arbeit, die nicht haltbar und mit dem über das ›Reich der Notwendigkeit‹ und ›das wahre Reich der Freiheit‹ Gesagten unvereinbar ist (III,1.4.2.). Sie läuft auf die These vom ›gesellschaftlichen Individuum‹ hinaus, dessen Arbeit Selbstverwirklichung und dessen Selbstverwirklichung Verallgemeinerung ist. In dieser These haben Feuerbachs Gattungsmetaphysik und Hegels Geistphilosophie deutliche Spuren hinterlassen. In ihrer philosophisch weniger belasteten Variante besagt sie, unter nachkapitalistischen Bedingungen würden in der materiellen Produktion nicht nur Güter hergestellt, sondern auch die in ihr tätigen Menschen gebildet (nicht: abgerichtet). Im Verein mit Unterricht und Gymnastik werde sogar die Fabrikarbeit »zur Produktion vollseitig entwickelter Menschen« führen und die »Zusammensetzung des kombinirten Arbeitspersonals aus Individuen beiderlei Geschlechts und 485

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der verschiedensten Altersstufen, obgleich in ihrer […] kapitalistischen Form […] Pestquelle des Verderbs und der Sklaverei, [müsse] unter entsprechenden Verhältnissen umgekehrt zur Quelle humaner Entwicklung umschlagen«. (K I² 463/508; 468/514) Marx zufolge ist das apostrophierte ›vollseitig entwickelte‹ (›allseitig entwickelte‹, ›totale‹) Individuum das in der gesellschaftlichen Produktion universell einsetzbare. Unter veränderten Produktionsverhältnissen und den Bedingungen einer weitgehend verwissenschaftlichten Produktion werde auch die Arbeit in der materiellen Produktion zur ›travail attractif‹ und die Arbeit überhaupt zum ›ersten Lebensbedürfnis‹. Die mit Nachdruck vorgebrachten und bisweilen in einer überschwänglichen philosophischen Sprache494 gehaltenen Überlegungen können nicht verbergen, dass diese technisch-praktische Utopie unhaltbar ist: Die Sphäre der materiellen Produktion bleibt »immer ein Reich der Nothwendigkeit«. (K III 838/828) Der Versuch, diese Utopie zu verwirklichen, muss brutale politische Folgen haben. Dies ist nicht etwa an der Realgeschichte zu belegen, sondern liegt in der Konsequenz des marxschen Arguments. Der allmähliche Übergang zum Kommunismus ist ein Prozess, in dem politische Repression die bewusste Gestaltung und Kontrolle der gesellschaftlichen Produktion solange sicherstellt, bis die Arbeit »selbst das erste Lebensbedürfniss geworden« (Marx, KGP 15/20) ist bzw. – mit Lenin – die Menschen sich »so an das Befolgen der Grundregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens gewöhnt haben«, dass »sie freiwillig nach ihren Fähig­ keiten arbeiten« (Lenin 1918: 483). Die These Lenins ist, wie Hartmann zu Recht betont, »ideologisch: es kann nie damit gerechnet werden, daß ›alle gelernt haben werden‹«. (Hartmann 1970: 534 f.) Hinzuzufügen ist: Selbst wenn einmal alle gelernt haben sollten, wäre doch nicht sichergestellt, dass ein jeder das Gelernte nicht irgendwann als Irrtum ansähe, durch anderes ersetzte und womöglich andere davon überzeugte. Die politische Zwangsmaschinerie kann daher »nicht aufhören, sie kann nicht einmal stetig abnehmen, sie muß ganz intakt sein, damit nicht aus einem, der nichts gelernt hat [oder vom Gelernten abgerückt ist] wieder mehrere werden« (Hartmann 1970: 535). Marx’ These impliziert dieselben brutalen politischen Konsequenzen, die hier aber durch das emphatische Theorem des menschlichen Gattungswesens bzw. der Arbeit als Selbstverwirklichung überdeckt werden. Der Übergang zum Kommunismus ist als politischer Prozess unter der Form der Diktatur des Proletariats, in dem ›nach und nach‹ mit den Klassenunterschieden auch die 494 Lenin (1918: 483) übersetzt Marx’ Ausdrucksweise in eine nüchterne Prosa, die zu wenig Illusionen über die gesellschaftliche Produktion im fortgeschrittenen Kommunismus Anlass gibt. Dass die Produktivkraft weiter gesteigert werden kann, gilt als ausgemacht – der Rest ist ein Prozess allmählicher Gewöhnung an gesellschaftliche Notwendigkeiten.

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politische Gewalt verschwinden und an die Stelle der bürgerlichen Gesellschaft eine freie Assoziation der Produzenten, ein politikfreier Verein freier Menschen treten werde,495 nicht möglich. Ihrer Intention entgegen zeigen Marx’ Überlegungen das »Nichtankommen« (Hartmann 1970: 537) des Kommunismus. Paradox formuliert wäre der von Marx anvisierte Kommunismus nur möglich, wenn er ohne menschliches Tun im Nu eintreten würde. So gesehen trifft auf ihn zu, was Kant über die »Staatsschöpfungen« in den Utopien Platons, Morus’, Harringtons und Allais’ bemerkt: Es sei mit ihnen »wie mit der Weltschöpfung zugegangen: kein Mensch war zugegen, noch konnte er bei einer solchen gegenwärtig sein, weil er sonst sein eigener Schöpfer hätte sein müssen« (SdF A 158 f. Anm.). Einen solchen Kommunismus »als dereinst, so spät es auch sei, als vollendet zu hoffen«, ist vielleicht ein »süßer Traum«, aber »sich ihm zu näheren« (Kant496) nicht einmal konsistent denkbar. Problematisch ist auch die für die zweite Phase des Kommunismus und damit für das Absterben des Staates notwendige Bedingung rasch fortschreitender Produktivkraftentwicklung. Ihre Erfüllbarkeit ist für Marx generell kein Thema, steht doch außer Frage, dass die bürgerlichen Produktionsverhältnisse zur Fessel der Produktivkräfte werden müssen bzw. schon geworden sind. Abschaffung dieser Verhältnisse bedeutet mithin deren Entfesselung. Nun können zwar mit ›der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte‹ wachsen und infolgedessen ›alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen‹, sie müssen es aber nicht. Die Allseitigkeit individueller Entwicklung ernst genommen, würde diese nicht nur Fähigkeiten umfassen, die der gesellschaftlichen Produktion zugutekämen, sondern auch solche, die von deren Standpunkt als nutzlos erscheinen. Die Virtuosität eines Menschen im Violinspiel etwa ist für die Gestaltung des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur uninteressant, gleichgültig ob sich dieser unter kapitalistischen oder nachkapitalistischen Bedingungen vollzieht. Und die für den gesellschaftlichen Stoffwechsel wichtigen menschlichen Fähigkeiten werden die Individuen nur dann entwickeln und in den Dienst der Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit stellen wollen, wenn sie selbst ein Interesse daran haben und das System der gesellschaftlichen Arbeit so organisiert ist, dass sie dieses Interesse realisieren können. Warum aber sollten zunehmend gebildete Menschen ihr Interesse ausgerechnet auf die Erhöhung der gesellschaftlichen 495 Vgl. MKP 481 f. 496 Kant erklärt in der betreffenden Passage nicht die Annäherung an die genannten utopischen »Staatsprodukte« zur Pflicht des »Staatsoberhaupts«, sondern wendet sich, wie schon in der ersten Kritik, gegen die gängige Meinung, Ideen des Staates oder der Verfassung seien »erträumte[] Vollkommenheiten, die nur im Gehirn des müßigen Denkers ihren Sitz haben« könnten (KrV B 372 f.).

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Produktivkraft richten? Sie sollten es, um den Übergang in die zweite Phase des Kommunismus sicherzustellen. Weil auf diese Einsicht kein Verlass ist, muss durch politische Maßnahmen auf die Herausbildung einer entsprechenden Haltung der Einzelnen hingewirkt werden. Politische Repression, Propaganda und ›Erziehung‹ sind unabdingbar. Denn so viel ist klar: Wenn es nicht gelingt, ›alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen‹ zu lassen, dann kann sich nicht jeder ›nach seinen Bedürfnissen‹ aus den ›gesellschaftlichen Konsumtionsvorräten‹ bedienen. Ihm müssten dann weiterhin durch ein Arbeitsschein-Regime ›papierene Anweisungen‹ auf Konsumtionsmittel ausgestellt werden. Politische Repression und strikte Kontrolle wären weiter unerlässlich. Ein hoher Grad der Produktivkraft, so schon die Deutsche Ideologie, ist »eine absolut nothwendige praktische Voraussetzung« für die Überwindung bürgerlicher Verhältnisse, »weil ohne sie nur d. Man­ gel \ Nothdurft verallgemeinert, also mit der Nothdurft auch der Streit um das Nothwendige wieder beginnen u. die ganze alte Scheisse sich herstellen müßte« (DI 38/34 f.). Anders gesagt: Nur wenn die gesellschaftliche Produktion den Menschen eine »Überfülle« von Gebrauchswerten garantiert, sind Verteilungskämpfe irrational. Das Problem der Verteilung ist dann »entpolitisiert« (Lübbe 1962: 52),497 weil auf ein technischpraktisches reduziert. Politische Repression ist demnach praktisch notwendig, um eine kommunistische Überflussgesellschaft herbeizuführen, ohne welche die Abschaffung der Repression nicht möglich scheint. Gleichwohl ist die sich von den Früh- bis zu den Spätschriften (Ausnahme: die Bemerkungen über die Reiche der Notwendigkeit und Freiheit in K III) durchziehende Utopie nicht, wie oftmals unterstellt, ein ›kommunistisches Schlaraffenland‹, in dem der Stoffwechsel mit der Natur von einer vollautomatisierten Produktionstechnik ausgeführt wird, für deren Kontrolle die Menschen einen verschwindend geringen Teil ihrer Zeit aufwenden müssen, sich im übrigen aber als kritische Kritiker, Fischer, Jäger oder was auch immer betätigen können. Die Utopie besteht vielmehr in einer von den Individuen gemeinschaftlich betriebenen gesellschaftliche Produktion, in der die Selbstverwirklichung der Einzelnen mit ihrer Verallgemeinerung einhergeht, gesellschaftliche Allgemeinheit und individuelle Besonderheit versöhnt sind. Es liegt in der Konsequenz dieser Vorstellung (ohne dass Marx dies explizit sagt), dass die Produktion von Gebrauchswerten für die individuelle Konsumtion in dem Maße, wie sich die Gesellschaft der zweiten Phase des Kommunismus annähert, an Bedeutung verliert. Indem für immer mehr Menschen die Arbeit ›selbst das erste 497 Ungenauer als bei Lübbe heißt es bei Adorno (1966: 218), Freiheit sei »ungeschmälert herzustellen einzig unter gesellschaftlichen Bedingungen entfesselter Güterfülle«.

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Lebensbedürfnis‹ (s.o.) wird und die gemeinschaftlich betriebene gesellschaftliche Produktion zum Ort ihrer Selbstverwirklichung, entfällt die aus den entwickelten kapitalistischen Ländern bekannte ›sinnstiftende‹ Funktion des Konsums für die Einzelnen.498 Weil die Fetischisierung des Konsums zu einer Gesellschaft gehört, in der die Arbeit eine ›sinnentleerte‹ Tätigkeit ist, muss sie mit der Verwandlung der Arbeit in Selbstbetätigung und Selbstbejahung verschwinden. Mit anderen Worten: Das Bedürfnisprinzip tritt in dem Moment ganz an die Stelle des Leistungsprinzips, in dem die Arbeit selbst zum ersten Bedürfnis geworden ist. Wenig überraschend, offenbaren Marx’ knappe Bemerkungen zur ›politischen Übergangsperiode‹ in Gestalt der Diktatur des Proletariats einen Politikbegriff, der frei ist von ›Fiktionen und Normativitäten‹499 (dazu gleich mehr: III, 6.3.2.). In Anbetracht seiner bereits diskutierten Philosophie-Kritik und seiner Charakterisierung der materialistischen als der ›einzig wissenschaftlichen Methode‹ wird man auch kaum eine normative Theorie der Politik erwarten. Eher schon eine Auffassung, die sich viel auf ihren Realismus zugutehält, wenn sie Politik historisch erklärt und auf eine instrumentelle Funktion reduziert.500 Marx und Engels zufolge ist der Staat entweder ein Instrument der (bürgerlichen501) 498 Mandel (1968: 256) verbindet die marxsche Utopie des allseitig entwickelten Individuums mit einer Art Kritik des Konsumismus: Die Waren für den individuellen Konsum sind Ramsch, auf sie zu verzichten dürfte nicht so schwer fallen. Die »Vergesellschaftung der Produktionsmittel unter Bedingung der Selbstverwaltung der Produzenten« ermögliche es, »die vorhandenen Produktivkräfte dazu zu benützen, an Stelle eines wachsenden Berges unbrauchbarer oder schlechter Waren eine ununterbrochen wachsende Zahl allseitig entwickelter Persönlichkeiten zu erzeugen«. 499 Die Formulierung stammt von Schmitt (1932: 28), der damit seinen »Begriff des Politischen« negativ charakterisiert. Dass Schmitt Marx’ Aversion gegen »Normativitäten« teilt, ist (neben dem »Freund-Feind-Gegensatz«, den Schmitt selbst in »Marx’ Antithese von Bourgeois und Proletarier« erkennen will: 73) sicher ein Grund für die Attraktivität, die sein Denken bisweilen auf gelernte Marxisten-Leninisten ausübt. 500 Bobbio (1983: 181): »Marx’ doctrine belongs without a shadow of a doubt to the category of realistic doctrines«, welche den Staat und die politische Sphäre im Allgemeinen in der Tradition Machiavellis »pragmatically as relations of power and dominion« betrachten. Sternberger (1978: 274 f.) attestiert Marx eine »kategoriale Blindheit gegen das Politische«. Es sei für ihn »eine Sache zweiter Ordnung«, zu rechtfertigen allein als »Hebel« für den Umsturz. Nach Althusser (1979: 44) sagt Marx »fast nichts« über Staat und Politik. »Geblendet durch die bürgerliche Vorstellung« beider, habe er »diese nur in negativer Form (Kritik ihres juristischen Charakters) zu reproduzieren vermocht[]«. Vgl. auch Giddens (1984: 313 ff.). 501 Marx und Engels sprechen auch in Bezug auf vorbürgerliche Epochen von ›Klassenstaat‹ und ›Klassenherrschaft‹; vgl. etwa Engels (LF 156 f./301).

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Klassenherrschaft oder er dient, wenn vom revolutionären Proletariat übernommen, als »Hebel« (Marx: BF 205/342) für die radikale Veränderung der Produktionsverhältnisse, als Instrument, dessen man sich »in der Revolution bedient, um seine Gegner gewaltsam niederzuhalten« (Engels: BaB 7). Indem die materialistische Wissenschaft die Abhängigkeit des Staates von der Gesellschaft und ihrer Klassenstruktur dartut und die Vorstellung, dass »das Gesetz auf dem Willen & zwar auf dem von seiner realen Basis losgerissenen dem freien Willen beruhe« (DI 117/62), als Illusion erweist, erlaubt sie dem revolutionären Proletariat, sofern es sich auf der Höhe ihrer Erkenntnisse befindet, einen illusionsfreien Gebrauch staatlicher Macht. Sie enthält freilich keine fertige Antwort auf die Frage, welche ehemaligen Funktionen des bürgerlichen Staats in der ersten Phase des Kommunismus als gesellschaftliche Funktionen erhalten bleiben sollen. Wenn Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms behauptet, diese Frage sei ›nur wissenschaftlich‹ zu klären, verwischt er die Grenzen zwischen Theorie und Praxis.502 Die materialistische Wissenschaft (der Historische Materialismus) vermag zu zeigen, dass die objektiven Bedingungen einer höheren, kommunistischen Gesellschaft gegeben sind, sie kann aber nicht dartun, wie der Übergang von der alten in die neue Gesellschaft praktisch zu bewerkstelligen ist. Die hierzu notwendigen Entscheidungen und Planungen können theoretisch nicht vorweggenommen werden, sie sind abhängig von den konkreten ökonomisch-technischen Möglichkeiten und der aktuellen Situation im Klassenkampf. Die Frage nach den zu erhaltenden Staatsfunktionen kann daher auch nicht ›wissenschaftlich‹ im Sinne der Einzelwissenschaften geklärt werden. Sie kann nur pragmatisch entschieden werden, und die Entscheidung selbst ist politischer Art. Welche Staatsfunktionen zur Aufrechterhaltung bzw. zum Ausbau der gesellschaftlichen Produktion unverzichtbar sind und welche für die Bekämpfung politischer Gegner, kann nur entschieden werden, wenn politisch geklärt ist, welche Ziele unter den gegebenen begrenzten Möglichkeiten Priorität haben sollen. Immerhin: In einem Brief an Nieuwenhuis befindet Marx am 22. Februar 1881: »Die ›Frage‹ des bevorstehenden Züricher Kongresses [welche gesetzgeberischen Maßnahmen die Sozialisten im Falle der Machtübernahme auf politischem und ökonomischem Gebiet treffen müssten], die Sie mir mitteilen, scheint mir ein Fehlgriff. Was in einem bestimmten, gegebnen Zeitmoment der Zukunft zu tun ist, unmittelbar zu tun ist, hängt 502 In anderer, nämlich geschichtsphilosophischer Weise konfundiert Lukács (1923) Theorie und Praxis, wenn er Fragen der Organisation des politischen Kampfes unmittelbar auf »die geschichtliche Totalität«, auf »die Funktion im Geschichtsprozesse« (476) bezieht. »[D]ie Organisation ist die Form der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis. Und wie in jedem dialektischen Verhältnis erlangen auch hier die Glieder der dialektischen Beziehung erst in und durch ihre Vermittlung Konkretion und Wirklichkeit.« (475).

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natürlich ganz und gar von den gegebnen historischen Umständen ab, worin zu handeln ist.« (MEW 35: 160) Marx verwischt in seinen revolutionstheoretischen Überlegungen die Grenze zwischen Theorie und Praxis nicht zufällig. Wenn es auch der »letzte Endzweck« der Kapitaltheorie ist, »das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen« (K I² 67/15 f.), so liegt ihr doch ein spezifisches aufklärerisches Interesse zugrunde. Ihr Adressat ist nicht – zumindest nicht in erster Linie – die interessierte Öffentlichkeit, sondern die Arbeiterklasse. Sie möchte das Proletariat über seine Stellung und Funktion in der bürgerlichen Produktionsweise und damit zugleich über seine ›objektiven‹ Interessen aufklären. »Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.« (HF 38) Die Passage aus der Heiligen Familie (1845) formuliert prägnant den emanzipatorischen Anspruch auch der späteren Kapitalkritik. Wenn nun für die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft gelten soll, dass sie »in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoos sie herkommt« (KGP 13/20), dann darf vielleicht diesem oder jenem Proletarier, aber nicht dem Proletariat als Ganzem ein adä­ quates Klassenbewusstsein unterstellt werden. Dieses Klassenbewusstsein herzustellen ist dann die Aufgabe der kommunistischen Partei (wodurch die Diktatur des Proletariats auf die der Partei hinausläuft, welche zumindest historisch zur Diktatur des Zentralkomitees, des Politbüros und schließlich zu der seines Vorsitzenden tendierte). Nun bezieht sich das theoretische Wissen, das bei der Partei konzentriert ist, auf die Vergangenheit, auf die alte Produktionsweise, nicht auf die politische Übergangsphase zum entwickelten Kommunismus. Durch Rückgriff auf dieses Wissen kann die Partei das Proletariat nur darüber aufklären, ›was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen‹ ist. Sie kann die Mitglieder des Proletariats zur Einsicht in ihre ›objektive‹ historische Funktion: die Herstellung einer klassenlosen Gesellschaft, anleiten. Sie kann dadurch aber keine Entscheidungen legitimieren, die die Gestaltung der Übergangsphase selbst betreffen. Legitimiert sie diese Entscheidungen dennoch unter Berufung auf ›die Wissenschaft‹, dann kann es sich bei dieser nicht um die Kapitaltheorie handeln, sondern allenfalls um die zur Wissenschaft erklärte ›Weltanschauung der Arbeiterklasse‹. Indem Marx die Grenze zwischen Theorie und Praxis in der skizzierten Weise verwischt, leistet er einer Entwicklung Vorschub, die dazu geführt hat, die Kapitaltheorie als integralen Teil einer umfassenderen »Legitimationswissenschaft« (Negt 1969) zu begreifen. In seiner dritten These ›ad Feuerbach‹ hatte Marx gegen die materialistische Milieutheorie Robert Owens festgehalten, gesellschaftliche 491

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Veränderung sei nicht von ›Erziehern‹ zu erwarten, die direkt die ›Umstände‹ verändern und dadurch mittelbar auch die Menschen. Vielmehr würden die Umstände von den Menschen verändert und die Erzieher müssten selbst erzogen werden. Solle die Veränderung der Umstände durch die Menschen und die Selbstveränderung der Menschen als Einheit verstanden werden, so könne sie »nur als revolutionaire Praxis gefaßt« (TüF 20/6) werden. Bedingung einer erfolgreichen revolutionären Praxis ist zufolge der Deutschen Ideologie »eine massenhafte Veränderung der Menschen«, welche »nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen« könne. Ausschlaggebend für das Gelingen der revolutionären Praxis ist demnach – das Gelingen der revolutionären Praxis. Die Revolution ist mithin »nicht nur nöthig […], weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse [das Proletariat] nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen & zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden«. (DI 44 f./70) Man wird nicht sagen können, dass diese Ausführungen taugliche Elemente einer Theorie der Revolution bilden. Der »antiphilosophische Marx«, so Adorno (1969), geht »im Hinblick auf Praxis generell – nicht in politischen Einzelfragen – kaum über das Philosophem hinaus, die Emanzipation des Proletariats könne nur dessen eigene Sache sein« (781). Tatsächlich sind Marx’ Äußerungen zu Theorie und Praxis später auf Slogans wie den von der ›Einheit von Theorie und Praxis‹ reduziert worden, in deren Namen eine Parteiführung nach Gutdünken so oder anders entscheiden und handeln konnte. In den Slogans war das Bewusstsein der Genese der marxschen Bestimmungen503 und der theoretischen Probleme, die Marx durch sie meinte lösen zu können, verschwunden. Ihr Gebrauch reduzierte sich auf die sture Behauptung der Überlegenheit marxistischer Prinzipien. 6.3.2. Der politikfreie Verein freier Menschen Im Kommunismus sind mit den Klassen auch die Klasseninteressen der Individuen verschwunden. Andererseits hat jedes Individuum ganz unabhängig von der Institution des Privateigentums an Produktionsmitteln auch weiterhin eine Willkürfreiheit und individuelle Interessen. Ist die Gesellschaft nicht mehr die vom Staat getrennte Sphäre ökonomisch konkurrierender Privatleute, weil weder die politische Institution des Staates noch die ökonomische des Marktes existieren – wie ist sie dann strukturiert, wie das Verhältnis von gesellschaftlicher Allgemeinheit und 503 Zu Recht betont A. Schmidt (1974: 271), die »meisten Begriffe des dialektischen Materialismus« seien »gleichsam im Handgemenge entstanden«.

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individueller Besonderheit bestimmt? Diese Fragen zielen nicht darauf, was »in einem gegebnen Zeitmoment der Zukunft […] unmittelbar zu tun ist«, mithin stellen sie sich nicht »in Nebelland«, betreffen kein »Phantomproblem« (Marx an Nieuwenhuis 22. Februar 1881; MEW 35: 160), sondern zielen auf den Begriff der anvisierten Gesellschaft selbst. Wer diese Fragen stellt, beweist damit nicht, dass er den Charakter der Kapitaltheorie als Kritik der bürgerlichen Produktionsweise nicht begriffen hat.504 Im Gegenteil: Wer ihren kritischen Charakter ernst nimmt, möchte wissen, was unter der ›höheren Gesellschaftsform‹ zu verstehen ist, die den Kapitalismus ablösen soll. Und wer die These ernst nimmt, diese Gesellschaftsform sei keine Utopie im hergebrachten Sinn, keine bloß ausgedachte Gesellschaft, sondern eine reale Möglichkeit, der möchte wissen, wie in ihr das Verhältnis der Menschen zueinander und zur Natur bestimmt wäre. Verlangt wird keine ›Auspinselung‹ der Zukunftsgesellschaft,505 sondern Auskunft darüber, was deren Prinzip der ›volle[n] und freie[n] Entwicklung jedes Individuums‹ näher besagt. Was ist das für eine Art von Freiheit, die der Einzelne in dieser Gesellschaft hätte? Die Frage erscheint nur so lange als harmlos, wie sie mit der nach den Überzeugungen und Intentionen des Autors des Kapi­ tals verwechselt wird. Dass »für Marx das Ziel menschlicher Emanzipation die Befreiung des Einzelnen« gewesen sei, »als deren Mittel zudem niemals die autoritäre Staatsgewalt zu fungieren vermag« (Wallat 2009: 281506), ist kaum zu bestreiten, stellt doch das Kommunistische Manifest für die nach-bürgerliche Zeit eine »Assoziation« in Aussicht, »worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (MKP 482). Von theoretischem Interesse ist aber nicht das Faktum, dass Marx gemeinsam mit Engels dieses Prinzip eines emphatischen »kommunistischen Individualismus« (Marcuse 1941: 259)507 proklamiert hat, sondern inwiefern er es auf dem Boden seiner 504 Vgl. Wallat (2009: 281). 505 Als solche wollen sie traditionell Marxisten verstehen und damit ad absurdum führen. So verfährt auch Bloch (1930: 31 f.), wenn er der Prosaskizze, in der ein mit dem Proletariat Sympathisierender einen Kommunisten fragt, »welche Gesellschaft da zum Durchbruch will«, den Titel »Störende Grille« gibt. Die Antwort des Kommunisten ist bemerkenswert einfältig: Die kommende Gesellschaft werde ohne Ausbeuter sein. Sollte sie dennoch schlimmer sein als die alte, dann liege das wirklich »im Genossen« und »nicht in Verhältnissen, die die Menschen noch schiefer machen als sie sind«. Wie sind denn die Menschen, abgesehen von den Verhältnissen, in denen sie leben? 506 Wallat (2012: 49 Fn. 31) möchte allerdings »Aspekte im Denken und Handeln von Marx und Engels«, die »gleichsam bolschewistisches Potential« haben, schwerer gewichten. 507 Avineri (1968: 92): »For Marx, socialism is about to overcome the traditional gap between individualism and collectivism.« Elster (1985: 524): Marx’

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Theorie proklamieren kann und was es für die Struktur der künftigen Gesellschaft bedeutet. Die Frage nach dem Grund der Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise führt auf die nach der Bestimmtheit des Verhältnisses von gesellschaftlicher Allgemeinheit und individueller Besonderheit in der höheren Gesellschaftsform. Nicht zufällig hat Marx das Verhältnis beider immer wieder erörtert – ist doch die ›Versöhnung‹ dieser Extreme die Utopie seiner wie jeder radikalen emanzipatorischen Gesellschaftskritik.508 In Zur Judenfrage entwickelt er die Perspektive einer »menschlichen Emanzipation«, welche das Individuum befähigt, »in seinem empirischen Leben« Gattungswesen zu sein. ( ZJF 162 f./370) In den Manuskripten erteilt er (sich selbst) die methodische Anweisung, es sei »zu vermeiden, die ›Gesellschaft‹ wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren« und behauptet: »Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen.« (ÖPM 267/538) Dieses sei allerdings erst nach der »positive[n] Aufhebung des Privateigentums«, im Kommunismus, dem Einzelnen nicht mehr entfremdet. In der Deutschen Ideologie befindet er, die Realisierung des »Kommunismus« setze »weltgeschicht­ liche, empirisch universelle Individuen« voraus. Empirisch universell, denn ihre Universalität beruhe nicht auf ihrem Charakter als geistige Wesen – das wäre deutsche Philosophie und mithin Ideologie –, sondern sei ein Resultat der universellen Entwicklung der Produktivkräfte und des Verkehrs der Menschen. (DI 37 ff./34 ff.) Im Kapital endlich steht der »Verein freier Menschen« für eine Gesellschaft, in der die Menschen »mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben« (K I² 109/92). Natürlich ist in der kapitalistischen Produktionsweise wie in jeder anderen auch das Handeln der Individuen durch Willen und Bewusstsein vermittelt, ihre Handlungsziele sind aber durch einen ökonomischen Prozess präformiert, den sie nicht gemeinsam beherrschen, sondern von dem sie beherrscht werden. Dass etwa »der Kapitalist als Träger des ökonomischen, technischen usw. Fortschritts, nicht handelt, sondern gehandelt wird, daß seine ›Tätigkeit‹ sich in der richtigen Beobachtung und Kalkulation der objektiven Auswirkung der gesellschaftlichen Naturgesetze erschöpft«, ist aus der Perspektive seines emphatischen Begriffs gesellschaftlicher Praxis für den »Marxismus eine Selbstverständlichkeit« (Lukács 1923: 313509). In der kapitalistischen Produktionsweise Utopie ist »a society in which full self-realization will go together with full community«. 508 Vgl. Adorno (1965a). 509 Bei aller notwendigen Kritik an Geschichte und Klassenbewusstsein bleibt es ein Verdienst Lukács’, die philosophische Dimension der marxschen

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hat die gesellschaftliche Allgemeinheit für die Individuen objektiv einen repressiven Charakter. Dagegen wäre die Allgemeinheit des Vereins freier Menschen frei von Repression. Das Verhältnis von gesellschaftlicher Allgemeinheit und individueller Besonderheit wäre Marx zufolge ein von Grund auf anderes. Wie ist es also bestimmt? ›Verein freier Menschen‹ bezeichnet die klassenlose und politikfreie Gesellschaft, die Utopie einer höheren Gesellschaftsform, in der mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln die materielle Grundlage des Klassengegensatzes beseitigt ist. Auch die Veränderung des Bewusstseins der Menschen, die länger dauern mag als die der Produktionsverhältnisse, ist in ihr vollzogen. Politische Repression ist daher obsolet. Es gibt keine Menschen mehr, die als »Hüter der Traditionen des Kapitalismus« (Lenin 1918: 489) auffallen oder gar daran arbeiten, die alten Verhältnisse wiederherzustellen. Die gesellschaftliche Produktion garantiert den Menschen eine Überfülle von Gebrauchswerten, deren Verteilung daher nicht mehr eine politische, sondern nur noch eine technisch-praktische Frage ist. Sie wird nicht durch politischen Streit, sondern durch technisch-praktisches Sachwissen entschieden. Die Dimension des Politischen hat aufgehört zu existieren, sie gehört der Vergangenheit an. Unverkennbar deuten diese Züge des anvisierten Kommunismus zurück auf wissenschaftlich-technokratische Utopien. Die lobende Erwähnung Saint-Simons durch Engels ist nicht bloß eine Verneigung vor einem großen Geist der Vergangenheit. Dass Saint-Simon bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts »die Politik für die Wissenschaft von der Produktion« erklärt und »das gänzliche Aufgehn der Politik in der Oekonomie« vorausgesagt habe, ist ihm nach Engels hoch anzurechnen. »Wenn hierin die Erkenntniß, daß die ökonomische Lage die Basis der politischen Einrichtungen ist, nur erst im Keime sich zeigt, so ist doch die Ueberführung der politischen Regierung über Menschen in eine Verwaltung von Dingen und eine Leitung von Produktionsprozessen, also die neuerdings mit so viel Lärm breitgetretene ›Abschaffung des Staates‹ hier schon klar ausgesprochen.« (UW 594/195)510 Näheres Hinsehen zeigt allerdings, dass die These von der politikfreien Gesellschaft, in der die Herrschaft von Menschen über Menschen durch die gemeinsame Verwaltung von Sachen abgelöst ist, nicht haltbar ist. Kapitaltheorie und die zentrale Bedeutung, die der Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Totalität in ihr hat, wieder in Erinnerung gebracht zu haben. Dass er damit auch den ›Hegel-Marxismus‹ inspiriert hat, der bisweilen meinte, aus der ›Dialektik‹ des Wertbegriffs sämtliche Phänomene moderner Gesellschaften ›ableiten‹ zu können, steht auf einem anderen Blatt (vgl. Kallscheuer 1986: 267 ff.). Die Alternative zur hegelianisierenden Marx-Lektüre kann sicher nicht in einer positivistischen Lesart bestehen. 510 Saint-Simon (1817: 203): »Die Politik ist also […] die Wissenschaft von der Produktion, d.h. die Wissenschaft, deren Gegenstand die für alle Arten von Produktion günstigste gesellschaftliche Ordnung ist.«

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Sie verdankt sich einem ideologiekritisch verkürzten Politikbegriff. Mit der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln verändert sich Marx zufolge der Charakter der gesellschaftlichen Arbeit radikal: sie ist jetzt unmittelbar gesellschaftlich. »Alle unmittelbar gesellschaftliche oder gemeinschaftliche Arbeit auf größrem Maßstab bedarf mehr oder minder einer Direktion, welche die Harmonie der individuellen Thätigkeiten vermittelt und die allgemeinen Funktionen vollzieht, die aus der Bewegung des produktiven Gesammtkörpers im Unterschied von der Bewegung seiner selbstständigen Organe entspringen. Ein einzelner Violinspieler dirigirt sich selbst, ein Orchester bedarf des Musikdirektors.« Die Funktionen »der Leitung, Ueberwachung und Vermittlung« (K I² 327/350) übt in der kapitalistischen Ökonomie der fungierende Kapitalist aus, allerdings nur bezogen auf seine partikulare Produktion. ›Unmittelbar gesellschaftliche Arbeit‹ findet hier nur in den Einzelproduktionen oder einem Verbund von Einzelproduktionen statt, nicht im gesellschaftlichen Maßstab. Daher kann auch nur in Bezug auf diese von Kooperation gesprochen werden. ›Kooperation‹ meint die »Form der Arbeit Vieler, die in demselben Produktionsproceß oder in verschiednen, aber zusammenhängenden Produktionsprocessen, planmäßig neben und mit einander arbeiten« (K I² 323/344). Da der arbeitsteilige Produktionsprozess der kapitalistischen Gesellschaft durch ökonomisch konkurrierende Produzenten betrieben wird, ist er kein kooperativer in diesem strikten Sinne. Die durch die technische Abhängigkeit der Kapitale verschiedener Produktionszweige erzwungene technische Kooperation zwischen ihnen ist mit Marx’ emphatischer Auffassung nicht zu verwechseln. Soll nach der Abschaffung des Kapitalverhältnisses die gesellschaftliche Produktion kooperativ gestaltet werden, müssen die Funktionen der Leitung, Überwachung und Vermittlung bewusst wahrgenommen werden – von wem? Von einer ›Direktion‹, die so wenig mit der Gesamtheit der Mitglieder der Gesellschaft identisch sein kann wie ein Dirigent mit dem Orchester.511 Der Blick in die Geschichte zeigt, dass die »Anwendung der Kooperation auf großem Maßstab in der antiken Welt, dem Mittelalter« auf »unmittelbaren Herrschafts- und Knechtschafts-Verhältnissen« (K I² 331/354) beruhte. Die Utopie des Vereins freier Menschen verheißt aber einen gesellschaftlichen Arbeitsprozess, in dem die Kooperierenden keinem fremden Willen unterworfen sind: Sie verausgaben ›ihre vielen indi511 Dass einmal »alle gelernt haben werden, selbständig die gesellschaftliche Produktion zu leiten, und sie in der Tat leiten werden«, meint Lenin (1918), der unter »Leitung« »die Rechnungsführung und die Kontrolle über Müßiggänger, Herrensöhnchen, Gauner und ähnliche ›Hüter der Traditionen des Kapitalismus‹« versteht. Sie werde einmal »vom ganzen Volk durchgeführt[]« werden (489).

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viduellen Arbeitskräfte selbstbewußt [!] als eine gesellschaftliche Arbeitskraft‹.512 Wie ist dies möglich? Die Formel von der ›freien Assoziation‹ enthält keine Antwort. Die Freiheit der assoziierten Produzenten ist zunächst eine Freiheit von etwas: Die einzelnen Produzenten sind frei von Privateigentum an Produktionsmitteln, frei von persönlicher Herrschaft, frei von der anonymen Herrschaft des Kapitals, schließlich frei von der politischen Herrschaft einer bestimmten Klasse. Sodann ist ihre Freiheit eine zu etwas: Die einzelnen Produzenten bestimmen gemeinsam den gesellschaftlichen Zweck der Produktion und die Bedingungen, unter denen sie diesen realisieren. Sie gestalten den gesellschaftlichen Produktionsprozess nach der Maßgabe, ihn mit möglichst geringem Kraftaufwand und »unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adaequatesten Bedingungen« (K III 838/828) betreiben zu können. Dies tun sie Marx zufolge als Eigentümer, wenngleich nicht als Privateigentümer. Ihr Eigentum ist ›individuelles Eigentum‹, »aber auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Aera: der Kooperation freier Arbeiter und ihrem Gemeineigenthum an der Erde und den durch die Arbeit selbst producirten Produktionsmitteln« (K I² 683/791; vgl. K III 504/456). Individuelles Eigentum, das kein Privateigentum ist, erscheint dem bürgerlichen Denken als ein hölzernes Eisen. Marx zufolge ist es diejenige Eigentumsform, welche die Individuen nicht voneinander isoliert und ›dumm‹ macht, sondern zusammenführt und ihre allseitige Entwicklung in der gemeinschaftlich betriebenen gesellschaftlichen Produktion ermöglicht.513 ›Individuelles Eigentum‹ bezeichnet die frühe und sich durchhaltende marxsche Vision von Verhältnissen, in denen gesellschaftliche Produktion und persönliche Freiheit unmittelbar zusammenfallen.514 Der Begriff bezeichnet 512 Adler (1924) veranschaulicht seine These, das Leben des vergesellschafteten Individuums bedürfe zwar einer gesellschaftlichen Zwangs-, nicht aber einer staatlichen Herrschaftsordnung, am marxschen Beispiel des Orchesters. Dieses stehe unter einer »strengen Zwangsordnung«, obgleich kein Musiker »dies als einen Zwang empfindet« (199). Die Freiheit des Einzelnen und die rechtlich verfasste Zwangsordnung der solidarischen Gemeinschaft seien »ein und dasselbe« (204). Adlers Versuch, unter Rekurs auf kantische Motive die sozialistische Zwangsordnung als Freiheitsordnung, als ›Reich der Freiheit‹ zu rechtfertigen, beantworten keine der Fragen, die sich angesichts der Ausführungen von Marx und Engels stellen. 513 Aus dieser Perspektive ist es keine »gelinde Demagogie, so zu tun, als könne das Produktivvermögen nicht nur umverteilt, sondern auch in anderer Art und Weise genutzt werden, als es gegenwärtig der Fall ist« (Plumpe (2019: 635). 514 Im Manifest heißt es: »Was den Kommunismus auszeichnet, ist nicht die Abschaffung des Eigentums überhaupt, sondern die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums.« Eigentum überhaupt ist Marx (und Engels) zufolge

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kein Rechtsinstitut, sondern enthält, wie Marcuse richtig gesehen hat, »die Vision einer neuen Lebensform« (Marcuse 1968: 232). Es ist die Lebensform von sich allseitig entwickelnden Individuen, die nicht mehr der gesellschaftlichen Arbeitsteilung unterworfen sind, sondern diese gemeinsam meistern und es genießen, ihre Fähigkeiten in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses in einer Weise zu erproben, die der Entwicklung der Fähigkeiten der Ko-Produzenten förderlich ist.515 Aus der so charakterisierten Freiheit der assoziierten Produzenten lässt sich kein Hinweis auf die Struktur oder Verfassung des Vereins gewinnen.516 Folgt man Marx und Engels, deutet die Frage nach der Freiheit oder Unfreiheit der Mitglieder des Vereins freier Menschen im gesellschaftlichen Produktionsprozess freilich nur auf ein Scheinproblem. In kooperativen Produktionsprozessen sei die Unterordnung des Einzelnen unter einen fremden Willen eine sachliche Notwendigkeit. Die Überordnung des fremden Willens sei deshalb kein Fall politischer Herrschaft und nicht kritikabel. Engels hat dies in einem Artikel gegen sozialistische Kritiker des ›Autoritätsprinzips‹ drastisch herausgestellt. Auch unter der Voraussetzung ›kollektiven Eigentums‹ der Arbeiter an den Produktionsmitteln bedürfe die industrielle Produktion der Ingenieure, der Mechaniker, der Arbeiter, deren spezifische Arbeiten und Arbeitszeiten aufeinander abgestimmt werden müssten. Sei dies einmal geschehen, so sei dieser Organisation der Arbeit »jedermann ohne jede Ausnahme« unterworfen. Weiter müsse festgelegt werden, wer bei auftretenden Problemen zu entscheiden habe, und dieser seiner Entscheidung müsse sich »der Wille eines jeden« unterordnen. Kurzum:

»die Erzeugung und Aneignung der Produkte« auf der Grundlage bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse (MKP 475). 515 Wird dies nicht gesehen, wird der Begriff des individuellen Eigentums verfehlt. So von Engels, wenn er die Polemik Dührings (»Herr Marx bleibt getrost in der Nebelwelt seines zugleich individuellen und gesellschaftlichen Eigentums und überläßt es seinen Adepten, sich das tiefsinnige dialektische Rätsel selber zu lösen«) durch die Unterscheidung von Produktions- und Konsumtionsmitteln entkräften will: »Für Jeden, der Deutsch versteht«, sei klar, »daß das gesellschaftliche Eigenthum sich auf die Erde und die andern Produktionsmittel erstreckt und das individuelle Eigenthum auf die übrigen Produkte, also auf die Verbrauchsgegenstände.« (AD 327/121 f.). 516 Nach Hartmann (1970: 510) »gelangt Marx schon auf Grund des Fehlens einer über Anthropologie und Ökonomie hinausgehenden Theorie […] zu einer letztlich negativen Beurteilung des Staats überhaupt«. Damit sei »das Problem der Strukturlosigkeit« der anvisierten kommunistischen Gesellschaft aufgeworfen.

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»Wenigstens was die Arbeitsstunden betrifft, kann man über die Tore dieser Fabriken schreiben: Laßt alle Autonomie fahren, die ihr eintre­ tet! Wenn der Mensch mit Hilfe der Wissenschaft und des Erfindergenies sich die Naturkräfte unterworfen hat, so rächen diese sich an ihm, indem sie ihn, in dem Maße, wie er sie in seinen Dienst stellt, einem wahren Despotismus unterwerfen, der von aller sozialen Organisation unabhängig ist. Die Autorität in der Großindustrie abschaffen wollen, bedeutet die Industrie selber abschaffen wollen; die Dampfspinnerei vernichten, um zum Spinnrad zurückzukehren.« (VA 306 f.)

Dass die Naturkräfte sich für ihre Unterwerfung durch den Menschen ›rächen‹, indem sie ihren Herrn ihrerseits einem ›wahren Despotismus‹ unterwerfen, scheint die Generalthese der Dialektik der Aufklärung vorwegzunehmen, wonach die Herrschaft der Menschen über die Natur notwendig die von Menschen über Menschen und die jedes Einzelnen über sich selbst, seine eigene Natur, nach sich zieht. Anders äußert sich Engels in der Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissen­ schaft: »In dem Maß wie die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion schwindet«, so heißt es hier, »schläft auch die politische Autorität des Staates ein. Die Menschen, endlich Herren ihrer eigenen Art der Vergesellschaftung, werden damit zugleich Herren der Natur, Herren ihrer selbst – frei.« (UW 625/228) Beide Passagen zusammengenommen besagen: Geplante gesellschaftliche Produktion auf der Grundlage der großen Industrie macht die Menschen zu Herren ihrer selbst, mithin frei, und unterwirft sie zugleich einem ›wahren Despotismus‹ technischer Sachzwänge, der durch eine hierarchische Arbeitsorganisation exekutiert wird. Die Freiheit der Einzelnen bestünde demnach, ›wenigstens was die Arbeitsstunden betrifft‹, in der Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Unterordnung unter den fremden Willen, der jeweils die Arbeitsorganisation repräsentiert.517 Diese Einsicht wäre freilich nicht gleich verteilt. Denn wie für das Gebiet der Wissenschaft muss auch für das der gesellschaftlichen Produktion auf dem hohen technischen Niveau des Vereins freier Menschen unterstellt werden, dass nicht jeder in gleicher Weise kompetent sein könnte für alle Sektoren und Detailfragen. Die Kompetenz würde in abgestufter Weise vorhanden sein, und die Kompetenz für das Ganze 517 Auf Engels und die später regierenden Partei-Marxisten trifft zu, was Horkheimer/Adorno (1944/47: 64) der »bürgerlichen Aufklärung« vorhalten: Sie sind »vor der Verwechslung der Freiheit mit dem Betrieb der Selbsterhaltung nie gefeit«. Zehn Jahre zuvor hatte Horkheimer (1936a: 48) noch wie Engels argumentiert: In der »heute möglichen höheren Gesellschafsform« ordneten die Menschen »sich in der Tat einer Autorität unter, aber diese selbst besorgt nur ihre eigenen zum Beschluss erhobenen Pläne«. Da hier der »Befehl von aussen […] nur der Ausdruck des eigenen Interesses« sei, habe die Autorität ihren bürgerlichen Charakter verloren.

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der gesellschaftlichen Produktion würde sich bei einer wissenschaftlichtechnokratischen Elite konzentrieren.518 Deren Mitglieder rückten damit in die Funktion von ›Philosophenkönigen‹ ein. Weil allein ihr vereinter Sachverstand das Ganze des funktionalen Zusammenhangs der gesellschaftlichen Produktion überblicken könnte, käme ihnen auch die Autorität der Leitung zu. Diejenigen, die nicht Teil dieser Elite wären, müssten sich dagegen in der Tugend der ›Besonnenheit‹ üben. Ein jeder würde ›das Seinige tun‹,519 nämlich durch sein gewissenhaftes Arbeiten die ihm von der Leitung zugedachte Funktion innerhalb des Ganzen erfüllen und damit dieses Ganze affirmieren. Der Mehrheit der Menschen bliebe die Genugtuung, als Funktionsorgane des gesellschaftlichen Produktionsprozesses ihren Teil zu dessen reibungslosem Funktionieren beizutragen. Die Verhältnisse ihres »praktischen Werkeltagslebens« stellten ihnen keineswegs »tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zu einander und zur Natur« (K I² 110/94)520 dar. Die von Marx für die höhere Gesellschaftsform behauptete Transparenz der gesellschaftlichen Produktion wäre für sie nicht gegeben. Transparent wäre allenfalls die hierarchische Gliederung der Institutionen, die die Produktion steuern. Wo bleibt in diesem Modell des Vereins freier Menschen die Freiheit der Menschen? Wo ist in ihm das ›wahre Reich der Freiheit‹ zu verorten, in dem die Individuen nicht als Funktionsorgane des 518 Hilferding (1910: 24) meint, in der sozialistischen Gesellschaft würden »die kommunalen, Landes- oder Nationalkommissäre«, gestützt auf die Produktions- und Konsumtionsstatistik, »in bewußter Voraussicht das ganze Wirtschaftsleben nach den Bedürfnissen ihrer in ihnen bewußt vertretenen und durch sie bewußt geleiteten Gemeinschaften gestalten.« Die Beziehungen der Individuen, »soweit sie das Wirtschaftsleben betreffen«, wären »von der gesellschaftlichen Ordnung bestimmte, ihrem Privatwollen entrückte gesellschaftliche Beziehungen«. Für die Parteiführung der SED der 1970er und -80er Jahre hält Wiards (2001: 243) fest: Ihr Selbstbild »entsprach dem Bild eines Ingenieurs, der, den gesellschaftlichen Interessenkonflikten enthoben, subjektive und objektive gesellschaftliche Parameter in einem handhabbaren Verhältnis halten sollte«. 519 Vgl. Platon, Politeia 430c ff. Ebd. 432a: »So daß wir also vollkommen richtig sagen können, diese Einmütigkeit sei Besonnenheit, nämlich des von Natur Besseren und Schlechteren Zusammenstimmung darüber, welches von beiden herrschen soll, in der Stadt.« Nach Kant (ZeF B 69 f.) ist, dass »Philosophen Könige würden«, weder »zu erwarten« noch »zu wünschen; weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt«. 520 Marx’ »durchgängiges Assoziieren von freier Entwicklung der Individuen und ›Durchsichtigkeit‹ der sozialen Beziehungen« ist Althusser (1979: 49 f.) nicht geheuer: die kommunistische, staatsfreie Gesellschaft bedeute nicht das Ende der Politik.

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Produktionsprozesses den Stoffwechsel mit der Natur bewerkstelligen müssen, sondern in selbstzweckhafter Tätigkeit ihre freie Subjektivität entfalten können (nicht müssen!521)? Die Frage nach dem Ort des Reichs der Freiheit im Verein freier Menschen klingt merkwürdig. Warum sollte innerhalb des Vereins freier Menschen noch einmal das Reich der Freiheit unterschieden werden – und von was? Läge es nicht näher, den Verein freier Menschen mit dem Reich der Freiheit zu identifizieren? So merkwürdig die Frage klingt, sie stellt sich zwingend. Denn Marx hat zwei verschiedene Utopien skizziert, die einander ausschließen und von denen jede für sich betrachtet inkonsistent ist.522 Sie wurden bereits diskutiert und kritisiert im Hinblick auf das ihnen zugrundeliegende Verständnis von Naturnotwendigkeit und Freiheit (III,1.4.2.). Sie sind jetzt, wo mit der Struktur und Verfassung des Vereins freier Menschen Freiheit nicht mehr nur im Kontext von Naturbeherrschung thematisch sein kann, wieder heranzuziehen. Der eine utopische Entwurf wurde anhand von Passagen aus den Grundrissen vorgestellt. Ihm zufolge wird im Zuge der Verwissenschaftlichung der materiellen Produktion auch in dieser Sphäre ›wirklich freies Arbeiten‹ möglich. Sofern die kapitalistischen Produktionsverhältnisse beseitigt sind, steht der Selbstverwirklichung des Individuums in der gesellschaftlichen Arbeit prinzipiell nichts mehr im Wege. Das Individuum ist dann ›gesellschaftliches Individuum‹, seine Selbstverwirklichung Verallgemeinerung. Seine Arbeit ist ›travail attractif‹, ›materiell schöpferische und sich vergegenständlichende Wissenschaft‹. Mit ihr ist an die Stelle eines unmittelbaren Naturbedürfnisses ein geschichtlich erzeugtes Bedürfnis getreten. Der zweite utopische Entwurf findet sich im dritten Band des Kapitals, wo Marx zwischen der durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmten Arbeit und der selbstzweckhaften Kraftentwicklung unterscheidet. Jene findet im Reich der Notwendigkeit statt, diese im Reich der Freiheit. Die Freiheit im Reich der Notwendigkeit kann Marx zufolge nur darin bestehen, dass »die associirten Producenten diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, ihn unter ihre gemeinschaftliche Controlle bringen, statt von ihm als einer blinden Macht controllirt zu werden«. Erst jenseits dieser Sphäre beginnt »das 521 »Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen«, wäre im Reich der Freiheit für den Einzelnen immer eine Option. Adorno (1951: 177) behauptet nicht, die gesellschaftliche Utopie erfülle sich für das Individuum dann, wenn es sich in dem wohligen Zustand befindet, der dem des verdauenden Viehs auf der grünen Weide entspricht. Er deutet vielmehr auf einen Aspekt der ›emanzipierten Gesellschaft‹, der Marx nicht zufällig entgangen ist, sieht er doch in der selbstzweckhaften und daher genussvollen Tätigkeit (III,1.4.2.) das Sinn verbürgende Element des Lebens. 522 Gegen Geuss (1998: 124).

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wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Nothwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann«. (K III 838/828) Die eminente Differenz beider Reiche ist unaufhebbar. Die Relevanz beider Entwürfe für die Frage nach der Struktur und Verfassung des Vereins freier Menschen liegt auf der Hand. Vor dem Hintergrund des ersten Entwurfs scheint es nur konsequent, wenn die Kritik des Gothaer Programms für das Eintreten der zweiten Phase der kommunistischen Gesellschaft und damit für ihre Transformation in einen Verein freier Menschen als eine notwendige Bedingung anführt, die Arbeit müsse »nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfniss« (KGP 15/21) geworden sein. Ist dies aber mit dem zweiten Entwurf auszuschließen, dann verbleibt die Gesellschaft in der ersten Phase. Die politische Repression ist dann als Diktatur der Partei auf Dauer gestellt und der Verein freier Menschen bleibt eine Utopie. Dass sich vor dem Hintergrund des zweiten Entwurfs die Möglichkeit eines Vereins freier Menschen nicht plausibel machen lässt, liegt nicht an deren bloß skizzenhafter Gestalt. Sicher, Marx hat das Verhältnis der beiden Reiche nicht näher bestimmt und es bei Andeutungen belassen.523 Entscheidend ist aber etwas anderes. Sein ideologiekritisch verkürzter, instrumenteller Politikbegriff lässt ihn verkennen, dass auch eine im emphatischen Sinne freie Gesellschaft notwendig eine politische Dimension besäße. Für Marx ist sie kein Thema, weil die ›Verwaltung von Sachen‹ nicht nur für die Emanzipation der Menschen von unmittelbarer Naturabhängigkeit stehen soll, sondern auch für ihre Emanzipation von politischer Herrschaft überhaupt.524 Tatsächlich wird aber die Verwaltung von Sachen zwangsläufig zur Verwaltung von Menschen als Quasi-Sachen und damit zu einer Form politischer repressiver Herrschaft, wenn 523 Wellmer (1969: 123) fragt zu Recht, wie das Verhältnis beider Reiche zu denken sei. »Das Reich der Freiheit kann ja nicht wirklich sein, wenn es nicht auch in der Basis wirklich ist, d.h. mit dem Reich der Notwendigkeit in der Organisation des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses vermittelt ist.« Horkheimer/Adorno (1944/47: 64 f.) verfehlen Marx’ Zwei-ReicheLehre grundsätzlich: Sie sei ein »Zugeständnis an den reaktionären common sense«. Das »Verhältnis der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit [bliebe] bloß quantitativ, mechanisch, und Natur, als ganz fremd gesetzt […], würde totalitär und absorbierte die Freiheit samt dem Sozialismus«. 524 Marcuses (1969) Kritik der Herrschaft macht vor der von Marx so genannten »zweiten Phase der kommunistischen Gesellschaft«, in der »jeder nach seinen Bedürfnissen leben soll«, nicht halt. Die entscheidende Frage laute, wie das Individuum seine Bedürfnisse befriedigen könne, »ohne sich selbst zu verletzen, ohne durch seine Wünsche und Befriedigungen seine Abhängigkeit von einem ausbeuterischen Apparat zu reproduzieren« (244 f.). Marcuse visiert, »diesseits aller ›Werte‹, ein triebpsychologisches Fundament für Solidarität unter den Menschen« an »als Vorbedingung von Befreiung« (250).

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die Mehrheit der Individuen bloße Objekte einer planenden und dirigierenden Technokratie sind. Wie auf dieser Grundlage die selbstzweckhafte menschliche Kraftentwicklung in einem Reich der Freiheit möglich sein soll, bleibt ein Rätsel. Auf dem Wege technokratischer Planung kann sie nicht herbeigeführt werden. Es wäre dies der paradoxe Versuch, die freie Selbstentfaltung der Subjektivität der Individuen durch die Behandlung dieser Individuen als kontrollierbare Objekte in einem von ihnen unabhängigen, von anderen ersonnenen und geleiteten Prozess sicherzustellen. So entstünde kein Reich der Freiheit, sondern allenfalls eines der Freizeit. Dessen Planung und Realisierung obläge einer kommunistischen Freizeit- respektive Bewusstseins- oder Kulturindustrie.525 Richtig ist: Das Reich der Freiheit, das selbst nicht planvoll realisiert werden kann, ist abhängig vom rationell zu regelnden Reich der Notwendigkeit. Die Arbeit der Vielen muss gesellschaftlich geplant, geleitet und kontrolliert werden, wenn diese sie selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben wollen (diese Vorstellung ist allerdings zu kritisieren: s. u.). Die selbstzweckhafte Kraftentwicklung jedes Einzelnen muss frei davon sein. Die strikte Entgegensetzung gesellschaftlich zu planen/nicht zu planen gilt allerdings nur für die Tätigkeiten in beiden Reichen, nicht für deren Voraussetzungen. Natürlich kann das Reich der Freiheit nur aufblühen, wenn die subjektiven und objektiven Bedingungen dafür vorhanden sind. Marx selbst nennt als ›Grundbedingung‹ die Verkürzung der Arbeitszeit. Aber auch ohne die Vermittlung von Wissen, das nicht unmittelbar nützlich ist für die materielle Produktion, ohne Bildung also und ohne die Bereitstellung der gegenständlichen Bedingungen für selbstzweckhafte Tätigkeit, wird sich kein Reich der Freiheit entfalten können. Die Entscheidung darüber, was für Bedingungen für das Reich der Freiheit hergestellt werden sollen und in welchem Maße, ist eminent politischer Natur. Dies zeigt sich schon an der von Marx apostrophierten ›Grundbedingung‹. Ohne Verkürzung der Arbeitszeit kein Reich der Freiheit. Die objektive Voraussetzung dafür ist eine hohe Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit. In welchem Maße die Arbeitszeit im Rahmen des technisch-praktisch Möglichen verkürzt 525 Darin, dass die Freizeit die Menschen nicht gänzlich erfassen könne, wird nach Adorno (1969a: 655) »eine Chance von Mündigkeit sichtbar«, welche »einmal zu ihrem Teil helfen könnte, daß Freizeit in Freiheit umschlägt«. Nach Adorno setzt dies aber andere Produktionsverhältnisse voraus. Keynes kommt ohne den Begriff ›Produktionsverhältnisse‹ aus, wenn er 1930 für das Jahr 2030 prognostiziert, eine materiell grundversorgte Menschheit werde »die Liebe zum Geld als Besitz« als »eine jener halbverbrecherischen, halbkrankhaften Neigungen« (270) erkennen. Die Menschen würden ihre durch die Technik ermöglichte, ausgedehnte freie Zeit dann »nicht-wirtschaftlichen Zwecken widmen«. Seine Sorge ist allerdings, dass sie sie mangels Übung nicht der »Kunst des Lebens« (272) widmen.

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werden soll, ist aber keine Frage, die sich ›objektiv‹, rein sachlich durch Experten beantworten ließe. Die Entscheidung darüber können nur die assoziierten Produzenten auf der Grundlage ihrer Interessen treffen, deren Übereinstimmung nicht von vornherein garantiert ist, sondern erst hergestellt werden muss. Die Sphäre, in der der Streit darüber stattfindet, kommt in der Zwei-Reiche-Lehre nicht vor – es ist die politische Sphäre. Das fundamentale Problem, von dessen Lösung die Möglichkeit des Vereins freier Menschen abhängt, kann in Anlehnung an das berühmte »problème fondamental« Rousseaus (1762: 280) so formuliert werden: Wie findet man eine Form des Zusammenschlusses, welche die Person und das Interesse jedes Mitglieds mit der ganzen gemeinschaftlichen Stärke verteidigt, und durch die gleichwohl jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht? In Frage steht mithin das Verhältnis von Allgemeinheit und Individualität, Notwendigkeit und Freiheit. Wie ist eine ›Versöhnung‹, oder nüchterner und ohne religionsphilosophische Konnotation:526 ein Ausgleich zwischen den Entgegengesetzten möglich? Und nicht nur die Formulierung des Problems, auch die seiner Lösung müsste Anleihen bei Rousseau machen. Wenn gesellschaftliche Kooperation eines leitenden Willens bedarf, der aber den Produzenten nicht als fremder, sie beherrschender Wille gegenübertreten soll, dann ist dies nur möglich, wenn es sich bei den Maßgaben dieses Willens nicht um Einschränkungen der eigenen Freiheit handelt, sondern um die Formen, in denen sich die recht verstandene Freiheit eines jeden in der Sphäre der Produktion und Distribution artikuliert. Wird Freiheit nicht auf ihre Schwundform als Willkürfreiheit reduziert, können Freiheit und Gesetz, Individualität und Allgemeinheit versöhnt werden, so die Einsicht Rousseaus, die Kant teilt, auch wenn er sie ganz anders ausbuchstabiert. Diese Einsicht hat sich Marx schon früh durch seine Philosophie- und Ideologiekritik versperrt. Ihr zufolge ist die gegenüber der Gesellschaft institutionell verselbständigte politische Sphäre mit der wahrhaften Emanzipation des Menschen unvereinbar. Die politische Emanzipation zerreiße den Menschen in das egoistische Individuum, das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, und den am Gemeinwesen interessierten Staatsbürger, ein konstruiertes Ideal. Das gelte auch für den Contrat So­ cial. Rousseau habe »die Abstraction des politischen Menschen« (ZJF 162/370) richtig geschildert und gefolgert, der Bourgeois müsse qua Erziehung tendenziell zum Staatsbürger geläutert werden. In der Tat ist Rousseaus Republik nur möglich, wenn die volonté générale, der Gemeinwille, im Individuum affektiv verankert ist.527 Anders als in der libe526 Vgl. Hegel (PhR II: 329 ff.). 527 »[D]ie Liebe zum Vaterland, welche hundertmal lebhafter und köstlicher ist als die Liebe zu einem Frauenzimmer, kann bloß durch die Empfindung begriffen werden« (Rousseau 1755a: 241).

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ralen Theorie lockescher Provenienz soll der Staat nicht die Konkurrenzgesellschaft durch seine Regeln garantieren, sondern die Individuen so weit versittlichen, dass sie sich als Glieder des einen ›politischen Körpers« fühlen. »Wer den Mut hat, einem Volke eine Rechtsordnung zu geben, muß sich fähig fühlen, sozusagen die menschliche Natur zu ändern«, zitiert Marx Rousseau. »Il faut qu’il ôte à l’homme ses forces propres pour lui en donner qui lui soient étrangères et dont il ne puisse faire usage sans le secours d’autrui.« (ZJF 162/370) Indem Rousseau den Bourgeois dem Citoyen annähern will, erweist er sich in Marx’ Augen noch als bürgerlicher Theoretiker, der Gesellschaft und Staat vermitteln will, statt die Grundlage ihres Gegensatzes, das Privateigentum an Produktionsmitteln, zu beseitigen.528 Mit dem Bourgeois soll auch der Citoyen verschwinden, mit der bürgerlichen Gesellschaft auch der Staat, das heißt die politische Gewalt, die per se ein Instrument der Klassenherrschaft ist. Auch die späteren Schriften kritisieren den Staat nicht etwa nur deshalb, weil er mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen ein ökonomisch begründetes Herrschaftsverhältnis institutionell absichert, sondern auch, weil in ihm die gesellschaftliche Allgemeinheit und Macht eine von den Individuen getrennte (ihnen ›entfremdete‹) Gestalt hat, das Leben der Individuen sich überhaupt in zwei verschiedenen Sphären abspielt und kein unmittelbar gesellschaftliches ist (III,6.3.1./2.). Die philosophische Rechtfertigung politischer Herrschaft gilt damit vor aller Kritik im Detail als ideologisches Unterfangen. Und dass die Politische Philosophie mit der Politischen Ökonomie methodisch vom Individuum ausgeht, ist nach Marx kein Zufall. Der später so genannte ›Methodologische Individualismus‹529 erweist sich ihm zufolge schon in seiner Entstehungsphase als ein Produkt spezifisch bürgerlicher Wissenschaft, mithin als Ideologie. »Der einzelne und vereinzelte Jäger und Fischer, womit Smith und Ricardo530 beginnen, gehört zu den phantasielosen Einbildungen des 18t Jhh. Robinsonaden, die keineswegs, wie Kulturhistoriker sich einbilden, blos einen Rückschlag gegen Ueberverfeinerung und Rückkehr zu einem mißverstandnen Naturleben ausdrücken. So wenig wie Rousseau’s Contract social, der die von Natur independenten Subjecte durch Vertrag in Verhältniß und Verbindung bringt, auf solchem Naturalismus beruht. Dieß Schein und nur der ästhetische Schein der kleinen und gros528 Bei allen entschieden antiliberalen Tendenzen seiner ökonomischen Auffassungen (Ablehnung der Lohnarbeit, der entwickelten gesellschaftlichen Arbeitsteilung, Befürwortung direkter staatlicher Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen) möchte Rousseau doch das Privateigentum an Produktionsmitteln nicht abgeschafft sehen: Es sei »das heiligste aller Rechte der Bürger« (1755a: 249). Ausführlich Fetscher (1960). 529 Den Ausdruck prägte Schumpeter (1908). 530 Vgl. Smith (1789: 16 ff.); Ricardo (1821: 9 ff.; 21 ff.).

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sen Robinsonaden. Es ist vielmehr die Vorwegnahme der ›bürgerlichen Gesellschaft‹, die seit dem 16t Jhh. sich vorbereitete und im 18t Riesenschritte zu ihrer Reife machte. In dieser Gesellschaft der freien Concurrenz erscheint der einzelne losgelöst von den Naturbanden u.s.w., die ihn in frühren Geschichtsepochen zum Zubehör eines bestimmten, begrenzten menschlichen Conglomerats machen.« (EKPÖ 21/19)

Mit anderen Worten: Die Epoche, die den »Standpunkt […] des vereinzelten Einzelnen« erzeugt, »ist grade die der bisher entwickelsten gesellschaftlichen [...] Verhältnisse. Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein ζῷον πολιτικόν, nicht nur ein geselliges Thier, sondern ein Thier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann. Die Production des vereinzelten Einzelnen ausserhalb der Gesellschaft […] ist ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und zusammen sprechende Individuen.« (EKPÖ 22/20)531 Die Vorstellung, dass die theoretische Rechtfertigung politischer Herrschaft und die theoretische Erklärung der Marktökonomie bei den Individuen anzusetzen habe, bildet sich Marx zufolge in dem Maße heraus, wie realgeschichtlich die hierarchisch strukturierte feudale Ordnung der mittelalterlichen Gesellschaft zerfällt und das in sie fest eingebundene Individuum freigesetzt wird. Es hat jetzt das »Recht, innerhalb gewisser Bedingungen ungestört der Zufälligkeit sich erfreuen zu dürfen« (DI 100/75). Es ist frei von persönlicher Herrschaft, aber abhängig von einem Marktgeschehen, das es nicht kontrollieren kann. In der Tat kann zu Beginn der Neuzeit der Gedanke einer den Individuen objektiv vorgegebenen, in Gott gründenden politischen Ordnung nicht mehr überzeugen. Wenn sich politische Herrschaft mithin nicht mehr von selbst versteht, so dass nur nach ihrer besten Form zu fragen wäre, scheint es naheliegend, sie im Ausgang von den Individuen und vor ihnen als den kleinsten Elementen des politischen Ganzen zu rechtfertigen. Desgleichen scheint es plausibel, auch mit der Erklärung des zunehmend freien Marktgeschehens bei ihnen anzusetzen, wird dieses doch offenbar durch deren Handlungen hervorgebracht. In beiden Fällen sind die Individuen dabei so zu nehmen, ›wie sie wirklich sind‹ – nicht als ›politische Lebewesen‹, sondern als ihre Interessen verfolgende, auf die Maximierung ihres Nutzens zielende Wesen. Marx zufolge verwandeln die Politischen Philosophen und Ökonomen allerdings ein spätes Resultat der Geschichte, das Individuum der 531 Eine Marx verwandte Ideologiekritik der Naturzustandstheorien stammt von Rousseau (1755: 60) selbst: »Die Philosophen […] fühlten alle die Notwendigkeit, bis auf den Naturzustand zurückzukehren. [...] Schließlich redeten alle unablässig von Bedürfnissen, von Habsucht, von Unterdrückung, von Begierden und Stolz und übertrugen somit Begriffe, die sie in der Gesellschaft erlangt hatten, auf den Zustand der Natur. Vom wilden Menschen sprachen sie; den gesitteten beschrieben sie.«

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bürgerlichen Gesellschaft, in etwas Unmittelbares und Natürliches. Der Bewohner des von den Vertragstheoretikern konstruierten Naturzustands ist demnach der verkappte Bourgeois. Seine Charakteristika und die seiner Situation sind nicht solche des Menschen überhaupt, sondern des modernen Privateigentümers, der in die ökonomische Konkurrenz mit seinesgleichen gestellt und zu einem Kampf ums bürgerliche Dasein gezwungen ist. Und die Ökonomen verfehlen die Pointe der bürgerlichen Ökonomie, wenn sie bei den egoistischen Individuen ansetzen. »Der Witz besteht nicht darin, daß indem jeder sein Privatinteresse verfolgt, die Gesammtheit der Privatinteressen, also das allgemeine Interesse erreicht wird. Vielmehr könnte aus dieser abstrakten Phrase gefolgert werden, daß jeder wechselseitig die Geltendmachung des Interesses der andern hemmt, und statt einer allgemeinen Affirmation vielmehr eine allgemeine Negation aus diesem bellum omnium contra omnes resultirt. Die Pointe liegt vielmehr darin, daß das Privatinteresse selbst schon ein gesellschaftlich bestimmtes Interesse ist und nur innerhalb der von der Gesellschaft gesetzten Bedingungen und mit den von ihr gegebnen Mitteln erreicht werden kann, also an die Reproduction dieser Mittel gebunden ist. Es ist das Interesse der Privaten; aber dessen Inhalt, wie Form und Mittel der Verwirklichung durch von allen unabhängige gesellschaftliche Bedingungen gegeben./ Die wechselseitige und allseitige Abhängigkeit der gegen einander gleichgültigen Individuen bildet ihren gesellschaftlichen Zusammenhang.« (Gr 89 f./90)

Solche Passagen haben nicht wenige Theoretiker dazu inspiriert, die Philosophie des Gesellschaftsvertrags als ›Politische Theorie des Besitzindividualismus‹ (Macpherson 1962532) zu interpretieren. In der Tat: Aus Marx’ ideologiekritischer Perspektive erschöpfen sich die Theorien etwa Hobbes’, Lockes, Rousseaus und Kants in der Rechtfertigung bürgerlicher (bzw. kleinbürgerlicher) Eigentumsverhältnisse. Dass zumindest Rousseau und Kant zu einem Begriff politischer und rechtlicher Freiheit vorgedrungen sind, der ungeachtet seiner ideologischen Gehalte auch Einsichten enthält, die im Hinblick auf den Verein freier Menschen in Anschlag gebracht werden müssten, bleibt außer Betracht. Stattdessen gilt die Differenzierung des Freiheitsbegriffs in politische und rechtliche Freiheit selbst schon als ideologisch. Die politische und rechtliche Dimension bleibt fest mit partikularer Herrschaft verbunden und ist daher inkompatibel mit der anvisierten klassenlosen Gesellschaft. Marx’ 532 Ebd., 125: »Das Paradox des Hobbesschen Individualismus, der mit gleichen, rationalen Individuen beginnt, ist kein Widerspruch seines Denkgebäudes, sondern einer der Marktgesellschaft. […] Die Entscheidungen aller Menschen bestimmen den Markt, die jedes einzelnen wird von ihm bestimmt. Hobbes erfaßte sowohl die Freiheit als auch den Zwangscharakter der Eigentumsmarktgesellschaft.«

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ideologiekritischer Zugriff auf die neuzeitliche Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags kann deren normatives Anliegen nicht mehr ernst nehmen. Dass der Gedanke, die Ordnung des Zusammenlebens der Menschen sei vor dem Individuum zu rechtfertigen, seiner Genese nach ein ›bürgerlicher‹ ist und dennoch mehr enthält als das Interesse an der Legitimierung bürgerlicher Verhältnisse, kommt Marx nicht in den Sinn. Der Gedanke ist allerdings auch erst bei Kant in aller Deutlichkeit als normativer herausgearbeitet. Kant zeigt, dass die Errichtung einer rechtlich-politischen Ordnung nicht etwa aus pragmatischen Gründen angeraten ist – unter Verweis auf die Erfahrung, die die Menschen bislang mit sich machen mussten. Die Errichtung einer solchen Ordnung ist vielmehr eine moralische Notwendigkeit, ihre Rechtfertigung kommt ganz ohne anthropologische Erwägungen aus. Ob der Mensch von Hause aus gut, böse oder gefährlich ist, ist nicht die Frage. Für den Nachweis der moralischen Notwendigkeit einer rechtlichen und politischen Ordnung reicht das Faktum, dass den Menschen in Gestalt der Erdkugel nur ein begrenzter Handlungsraum zur Verfügung steht, so dass sie durch ihre Handlungen aufeinander einwirken und dabei ihr Personsein lädieren können. »Es ist nicht etwa die Erfahrung« von der Bösartigkeit der Menschen, welche »den öffentlich gesetzlichen Zwang notwendig macht«. Vielmehr mögen sie »so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will«, so liege es »doch a priori in der Vernunftidee« eines nicht-rechtlichen Zustandes, dass vereinzelte Menschen »niemals gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht, zu tun, was ihm recht und gut dünkt«. (RL B 192 f.) Das Argument findet sich zu Beginn des Abschnitts über das Öffentliche Recht, dem der ungleich größere Abschnitt über das Privatrecht vorangeht. Dass es aber auch unabhängig von diesem Gültigkeit hat, zeigt gerade eine Passage aus dem Privatrecht. »Alle Menschen«, heißt es dort, »sind ursprünglich (d.i. vor allem rechtlichem Akt der Willkür) im rechtmäßigen Besitz des Bodens, d.i. sie haben ein Recht, da zu sein, wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat. Dieser Besitz (possessio), der vom Sitz (sedes), als einem willkürlichen, mithin erworbenen, dauernden Besitz unterschieden ist, ist ein gemeinsamer Besitz, wegen der Einheit aller Plätze auf der Erdfläche, als Kugelfläche; weil, wenn sie eine unendliche Ebene wäre, die Menschen sich darauf so zerstreuen könnten, daß sie in gar keine Gemeinschaft mit einander kämen, diese also nicht eine notwendige Folge von ihrem Dasein auf Erden wäre.« Nach Kant ist der Begriff des ›ursprünglichen Gesamtbesitzes‹ »ein praktischer Vernunftbegriff, der a priori das Prinzip enthält, nach welchem allein die Menschen den Platz auf Erden nach Rechtsgesetzen gebrauchen können« (RL B 83 f.). Er enthalte »a priori den Grund der Möglichkeit eines Privatbesitzes« (RL B 66). Dass Kants Versuch der Rechtfertigung des Privateigentums 508

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der Kritik nicht standhält, ist oben gezeigt worden (III,3.4). Diese Kritik lässt aber den Begriff des ursprünglichen Gesamtbesitzes als solchen unberührt. Denn da ein jeder Mensch, als Autor und Adressat des moralischen Gesetzes, ein Recht hat, ›da zu sein‹, sind in der Tat alle Menschen ursprünglich im Gesamtbesitz des Bodens. Dass dieser Boden nur unter der Bedingung seiner Parzellierung in Privatgrundeigentum zu gebrauchen sei, steht auf einem anderen Blatt.533 Zurück zu Marx. Auch die von Kapital und Privateigentum an Produktionsmitteln befreite Menschheit wäre – Marx entgegen – die Dimension der Politik und mithin politische Herrschaft nicht los. Letztere hätte entweder die repressive Form der Klassenherrschaft; die Herrschenden wären nicht mehr die Bourgeois im marxschen Sinne, sondern die Angehörigen der »etatistischen Klasse«.534 Von einer, im Vergleich zur bürgerlich-kapitalistischen, ›höheren‹ Gesellschaftsform könnte kaum die Rede sein. Oder aber die nachkapitalistische Gesellschaft verdiente zu Recht den Namen ›Verein freier Menschen‹, unterschiede sich dann aber eklatant vom marxschen Modell. Denn wenn es dem Mitglied des Vereins nicht wie dem Verkäufer der Arbeitskraft in der bürgerlichen Gesellschaft ergehen soll, der in der gesellschaftlichen Produktion als bloßes Mittel für die Realisierung fremder Zwecke fungiert und bloßes Objekt in einem von anderen (den Kapitalisten als ›für sich seiendem Kapital‹) bestimmten und kontrollierten Prozess ist, dann muss es gemeinsam mit allen anderen den gesellschaftlichen Prozess mitgestalten können. Es muss darüber mitbestimmen können, was und wie auf der Grundlage der gegebenen technischen Möglichkeiten gesellschaftlich produziert wird und in welchem Maß die Arbeitszeit reduziert wird. Diese 533 Kant notiert immerhin: »Ferner: kann man auf einem Boden, davon kein Teil das Seine von jemanden ist, doch eine Sache als die seine haben? Ja, wie in der Mongolei jeder sein Gepäcke, was er hat, liegen lassen, oder sein Pferd, was ihm entlaufen ist, als das Seine in seinen Besitz bringen kann, wie der ganze Boden dem Volk, der Gebrauch desselben also jedem einzelnen zusteht.« (RL B 89). 534 Stojanović (1969: 42) spricht mit Blick auf die Verhältnisse im ehemaligen realsozialistischen Lager von »Etatismus«, dem Verschmelzen von Staatsund Parteiapparat. »Die Besonderheit der etatistischen Klasse besteht neben anderem auch darin, daß ihre wirtschaftliche Macht aus der politischen kommt, während es bei der Bourgeoisie umgekehrt der Fall ist. Man muß gestehen, daß der Marxismus für diesen politischen Determinismus nicht genügend Gespür hatte.« Vgl. Marković (1967). Merleau-Ponty (1955: 266) zufolge besteht die »proletarische Geschichtsphilosophie darin, das Wunder zu fordern, die Diktatur solle die Waffen der Bourgeoisie anwenden, ohne doch so etwas wie eine Bourgeoisie zu werden«. »Diktatur des Proletariats« steht für das Problem, »wie schwierig es ist, einen Mittelweg zwischen der Sozialdemokratie und der Diktatur der Partei zu finden« (264).

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Mitbestimmung eines jeden Vereinsmitglieds wäre nicht einfach Teil der gemeinsamen Verwaltung von Sachen. Die »öffentlichen Funktionen« würden nicht, wie Engels schreibt, »ihren politischen Charakter verlieren und sich in einfache administrative Funktionen verwandeln […], die die wahren sozialen Interessen hüten« (VA 308).535 Die Mitbestimmung wäre vielmehr der komplizierte politische Prozess, durch den der Verein freier Menschen hergestellt – und immer wieder aufs Neue hergestellt würde. Erst in einer Gesellschaft, in der dieser Prozess institutionell verankert und der daher politisch konstituiert wäre, könnte auf der Basis eines Reichs der Notwendigkeit ein Reich aufblühen.536 Und in dem Reich der Notwendigkeit könnte von jedem Einzelnen legitimerweise verlangt werden, dass er sich den technischen Erfordernissen der gesellschaftlichen Produktion unterordnet. Denn die Zwecke dieser Produktion und die Organisation des Produktionsprozesses wären weder durch den anonymen Zwang der Kapitalverwertung noch durch den Willen einer etatistischen Klasse präformiert, sondern durch den Gemeinwillen. Der politisch verfasste Verein freier Menschen verfügte zweifellos über eine effiziente Verwaltung und ein Rechtssystem. Über eine effiziente Verwaltung: Zwar bestimmen die einzelnen Produzenten den gesellschaftlichen Zweck der Produktion und die Bedingungen, unter denen sie diesen realisieren. Sie tun dies aber nur formaliter als Träger der volonté générale des Vereins, nicht materialiter. Die Anwendungsbestimmungen und -bedingungen dessen, was allgemein gewollt wird, müssen arbeitsteilig erarbeitet und umgesetzt werden. Das bürokratische Element, das sich schon in Robinsons regelmäßiger Buchführung zart andeutete als unverzichtbar für eine geplante Produktion, ist eine tragende Säule der gesellschaftlichen Produktion des Vereins.537 Nach »Aufhebung der capitalistischen Productionsweise, aber mit Beibehaltung gesellschaftlicher Production«, bleibt »die Werthbestimmung vorherrschend, in dem Sinn, daß die Regelung der Arbeitszeit und die Vertheilung der gesellschaftli­ chen Arbeit unter die verschiednen Productionszweige, endlich die Buchführung hierüber wesentlicher denn je wird«. (K III 871/859) Was aber bei dem ›guten Engländer‹ nur rational ist, birgt für den Verein eine fort535 Warum sollte das Hüten der wahren sozialen Interessen ›einfach‹ sein, fragt zu Recht Plamenatz (1975: 311). 536 Die »Explikation dessen, was ›gemeinschaftliche Kontrolle‹ [des gesellschaftlichen Produktionsprozesses] heißen müßte, wäre die Explikation dessen, was in dem politischen Raum einer befreiten Öffentlichkeit geschehen würde, wenn die ›vereinigten Individuen‹ in zwangloser Diskussion die Dialektik zwischen dem, was sie technisch können, und dem, was sie praktisch wollen, austrügen«. (Wellmer 1969: 124 f.). 537 »Eine rational durchsichtige, wahrhaft freie Gesellschaft könnte so wenig der Verwaltung entraten wie der Arbeitsteilung überhaupt.« (Adorno 1965a: 17).

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währende Gefahr. Während Robinson immer das Subjekt der Buchführung bleibt, drohen die Mitglieder des Vereins unter die Herrschaft einer ihnen gegenüber sich verselbständigenden Bürokratie zu geraten.538 Über ein Rechtssystem: Soll das Individuum den Akten der Verwaltung nicht einfach ausgeliefert und vor (a priori nicht auszuschließenden) Übergriffen anderer geschützt sein, muss es den Status einer Rechtsperson haben. Es muss Verwaltungsakte rechtlich überprüfen lassen können und sein Personsein muss durch strafbewehrte Gesetze garantiert werden.539 Soll die arbeitsteilig und kooperativ organisierte gesellschaftliche Produktion funktionieren, bedarf es ihrer rechtlichen Regelung. Die Abläufe innerhalb und zwischen den Einzelproduktionen müssen rechtlich bindend vereinbart werden und die Einhaltung des Vereinbarten muss institutionell garantiert und durchgesetzt werden. Ihre Einhaltung kann nicht allein vom guten Willen der Beteiligten abhängig gemacht werden. Genauso wenig kann es den Einzelnen obliegen, Streitfälle selbst zu entscheiden. Zufolge der Kapitaltheorie hat das Privatrecht in der bürgerlichen Gesellschaft insofern eine rationale (und nicht nur ideologische) Funktion, als es die Möglichkeit gesellschaftlicher Arbeitsteilung unter der Bedingung ökonomisch konkurrierender, aber technisch voneinander abhängiger Einzelproduktionen garantiert. Indem es die Eigentumsverhältnisse und die ökonomischen Transaktionen zwischen den Eigentümern, sei es der Produktionsmittel, sei es der Arbeitskraft, rational regelt und die Einhaltung der Regeln durch die Staatsgewalt sanktioniert, ist es von technisch-praktischer Bedeutung (III,3.3.). Mit dem Wegfall der ›Anarchie‹ der Konkurrenz und der Etablierung der Kooperation im gesellschaftlichen Maßstab entfällt das Privatrecht, nicht aber die funktionale Notwendigkeit des Rechts überhaupt. Zwar gibt es nicht 538 Vgl. Webers (1922: 1060) frühen Hinweis, die »Ausschaltung des Privatkapitalismus« bedeute »keineswegs ein Zerbrechen des stählernen Gehäuses der modernen gewerblichen Arbeit«, sondern dass »die Leitung der verstaatlichten oder in irgendeine ›Gemeinwirtschaft‹ übernommenen Betriebe bürokratisch würde.« Die »Lebensformen« der dort Arbeitenden wären »durchaus nicht irgendwie fühlbar andere als in den großen privatkapitalistischen Betrieben«. Sie wären jedoch unfreier, weil jeder Machtkampf gegen eine allein herrschende staatliche Bürokratie »aussichtslos ist«. 539 Paschukanis’ (1929) These, Kommunismus impliziere »ein Absterben der juristischen Form als solcher« (36), Gerichtsurteile und Strafen würden dann durch Maßnahmen »medizinisch-pädagogischer Natur« (170) ersetzt, folgt konsequent aus seiner marxistischen Rechtskritik, welche die Idee des Rechtssubjekts als ideologischen Reflex der warenproduzierenden Gesellschaft betrachtet. Anders als bürgerliche Philosophie und Jurisprudenz beantworte der Marxismus eben die Frage, »kraft welcher Ursachen sich der Mensch als zoologisches Individuum in ein juristisches Subjekt verwandelt hat« (89).

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mehr das systemisch bedingte Motiv, die Zusage zum Erbringen oder dem Erwerb einer Leistung in dem Moment zu widerrufen, in dem sich eine profitablere Gelegenheit bietet. Dass sich aber im Nachhinein Streit über getroffene Vereinbarungen ergeben kann, ist auch dann nicht prinzipiell auszuschließen, wenn den Vereinsmitgliedern jedes Partikularinteresse fremd wäre und jedes in seinem ›Werkeltagsleben‹ das reibungslose Funktionieren der gesellschaftlichen Produktion im Auge hätte. Auszuschließen wäre dergleichen nur in einer strikten Kommandowirtschaft, nicht aber in einem Verein freier Menschen. Die politische und rechtliche Verfasstheit des Vereins freier Menschen ist aber nicht nur ein funktionales Erfordernis, sie ist vernunftrechtlich geboten. Marx ist nicht aufgefallen, dass mit der Rede von den der ›menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen‹ der Arbeit im Reich der Notwendigkeit ein Feld betreten ist, das außerhalb der Kompetenz der positiven materialistischen Wissenschaft und der Einzelwissenschaften liegt (und auf die Gattungsmetaphysik zurückdeutet: III,1.4.2.). Der materialistischen Wissenschaft muss die Würde des Menschen als ideologische Vorstellung gelten, den Einzelwissenschaften kommt sie nicht in den Blick. Weil sich ihr Blick auf den Menschen nicht prinzipiell von dem auf andere Lebewesen unterscheidet, ähneln ihre Auskünfte bezüglich den der ›menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten‹ Arbeitsbedingungen ihren Informationen zur artgerechten Haltung von Tieren. Sie informieren über die Standards, die erfüllt sein müssen, wenn Menschen durch ihre Arbeit nicht physisch oder psychisch erkranken sollen (Aspekte der Arbeitsdauer, der Hygiene, der sozialen Umgangsformen am Arbeitsplatz). Aber gegen ein Reich der Notwendigkeit, in dem die Menschen allein als Mittel und nicht auch als Zwecke an sich betrachtet würden, hätten sie nichts einzuwenden, solange ihre angemahnten Standards eingehalten würden und die Menschen obendrein glaubhaft bekundeten, sie fühlten sich wohl.540 ›Wissenschaftlich‹ betrachtet, das heißt »die Menschengattung als eine[] Tierklasse« (Kant ZeF B 58) genommen, spricht nichts dagegen, dass eine technokratische Elite ›von oben herab‹ die gesellschaftliche Produktion auf der Grundlage der neuesten Erkenntnisse allein nach ›sachlichen‹ Gesichtspunkten organisiert und leitet. Da ›würdigste Bedingungen‹ nicht ein Synonym für ›artgerechte Bedingungen‹ sein kann, wenn die Rede von der selbstzweckhaften Kraftentwicklung im Reich der Freiheit nicht ad absurdum geführt werden soll, muss die Kapitalkritik gegen ihren Verfasser verteidigt und eingeräumt 540 Jonas (1979: 346) verfehlt daher das Würde-Thema, wenn er meint, die im arbeitsteilig organisierten Reich der Notwendigkeit Arbeitenden würden zwar den »Preis der Spezialisierung« zahlen müssen, aber weder »die Tatsache als solche« noch »den Preis der Enge dafür als unwürdig empfinden«.

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werden, dass der Mensch »nicht so ganz Tier [ist], um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleichgültig zu sein, und diese bloß zum Werkzeuge der Befriedigung seines Bedürfnisses, als Sinnenwesens, zu gebrauchen« (Kant KpV A 108). Menschen wird die Würde nicht aufgrund von Merkmalen zugesprochen, die sich im Objektbereich der Einzelwissenschaften dingfest machen lassen.541 Sie besitzen sie aufgrund ihrer unbedingten, freien Subjektivität, die sie – in praktischer Hinsicht, wie mit Kant gesagt werden muss – zu daseienden Selbstzwecken macht. Das positive Recht, das ihrer Selbstzwecklichkeit Rechnung trüge und das Personsein eines jeden in seinem äußeren Verhältnis zu allen anderen schützte, wäre positiviertes Vernunftrecht. Eine ›rationelle‹ Organisation und Leitung der Produktion, in der mit den Sachen zugleich auch die Mehrheit der Menschen verwaltet und damit versachlicht wird, wäre mit ihm unvereinbar. Mit anderen Worten: Nur wenn die Würde der Individuen im Reich der Notwendigkeit gewahrt wäre, bestünde Anlass zu der Hoffnung, dass auf seiner Grundlage ein Reich der Freiheit erblühen könnte. Es zeigt sich somit, dass zwischen dem Grund der Kapitalkritik aus der Perspektive des marxschen Denkens und dem der Sache nach allein tragfähigen Grund unterschieden werden muss. Die reale Möglichkeit einer Gesellschaft, die zu Recht den Namen ›Verein freier Menschen‹ tragen könnte, ist nicht widerlegt, wohl aber ist ihre Charakterisierung als politikfreie Gesellschaft und sind die Überlegungen zu ihrer Herstellung auf dem Wege der Diktatur des Proletariats als unhaltbar erwiesen.

7. Die Kapitalkritik und ihr Grund 7.1. Der von Marx affirmierte und negierte vermeintliche Grund der Kapitalkritik Wird zwischen dem marxschen Denken und der marxschen Theorie unterschieden und Marx’ Deutung des eigenen Vorgehens nicht einfach für das letzte Wort in der Sache genommen, tritt der ahistorische, normative Maßstab hervor, der seinem gesellschaftstheoretischen Denken seit den Frühschriften zugrunde liegt. Es ist der Begriff des Menschen als eines universellen und ›darum‹ freien Wesens, dem es prinzipiell unangemessen ist, wenn es zum Mittel gemacht wird und ihm die Resultate 541 Hoffmann (2003: 119): »›Würde‹ ist negierte Objektivität und affirmierte Ding- wie Werttranszendenz. ›Objektiv‹ gesehen hindert nichts, einen Menschen nach seinem ›Wert‹ (z.B. als Arbeitskraft) zu schätzen und im übrigen als Sache zu behandeln.«

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seiner gesellschaftlichen Tätigkeit als fremde Mächte gegenübertreten, als institutionell verselbständigte Bereiche mit je eigener Gesetzmäßigkeit (ökonomisch, rechtlich, politisch, moralisch). Marx entfaltet diesen Begriff im Anschluss an Feuerbach und rekurriert auf ihn auch nach der Verabschiedung von dessen Gattungsmetaphysik. Auch in den späteren Schriften, in denen er nur noch historische Voraussetzungen gelten lassen will und die allseitige Entwicklung der Individuen nicht mehr als Verwirklichung ihres Gattungswesens, sondern als ihre zunehmende Teilhabe am Gattungswissen versteht, greift er paradoxerweise auf den normativen Begriff des Menschen zurück. Marx bringt ihn 1844 in Anschlag, wenn er behauptet, das Privateigentum (an Produktionsmitteln) isoliere die Menschen voneinander, mache den Einzelnen zur »Monade« (ZJF 157/364542); wenn er 1845/6 den Weltmarkt als ein den Menschen »fremdes Band« (DI 100/75) charakterisiert und den bürgerlichen Staat als das »Surrogat« einer Gemeinschaft bezeichnet, in der die Individuen »in & durch ihre Association zugleich ihre Freiheit« erlangen (DI 95 f./74); wenn er im Kapital eine solche Gemeinschaft einen »Verein freier Menschen« nennt, in dem »die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zu einander und zur Natur darstellen« (K I² 109 f./92 ff.). Spezifische Ausprägungen des normativen Begriffs des Menschen sind seit den Mill-Exzerpten und den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten die normativen Bestimmungen der Arbeit (als Gattungsakt: Mill-Exzerpte; Manuskripte; als wirklich freie Arbeit: Grundrisse, Kapital), der zugleich individuellen und kollektiven Freiheit, des zugleich individuellen und kollektiven Eigentums und des wahren gesellschaftlichen Reichtums. In der kommunistischen Gesellschaft harmonieren die individuelle Existenz und das Gattungswesen des Menschen, ist die Arbeit des Einzelnen freie Lebensäußerung, Betätigung und Bestätigung seines zugleich individuellen und gesellschaftlichen Lebens, sein »wah­ res, thätiges Eigenthum« (AJM 466/463),543 bezeichnet ›Reichtum‹ nicht 542 »Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist.« (ZJF 158 f./366). »Das Privateigenthum hat uns so dumm und einseitig gemacht, daß ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben, also als Capital für uns existirt, oder von uns […] gebraucht wird. Obgleich das Privateigenthum alle […] unmittelbaren Verwirklichungen des Besitzes selbst wieder nur als Lebensmittel faßt und das Leben, zu dessen Mittel sie dienen, ist das Leben des Privateigenthums.« (ÖPM 268 f./540). 543 Der Terminus deckt sich inhaltlich mit dem des »auf der Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Aera« wieder hergestellten »individuellen Eigentums« in K I² 683/791.

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länger das Gesamt der durch Arbeit hergestellten »notwendigen und angenehmen Dinge[] des Lebens«, wie bei Adam Smith (1789: 3), sondern »die entwickelte Productivkraft aller Individuen« (Gr 584/604). Individuelle Besonderheit und gesellschaftliche Allgemeinheit greifen unmittelbar ineinander. In der kommunistischen Fünfheit von Arbeit, Freiheit, Leben, Eigentum, Reichtum erinnert außer den Namen nichts mehr an die bürgerlichen Vorstellungen.544 Weil Marx an keiner Stelle die normative Dimension seines Denkens auch als solche thematisiert hat, muss, wie schon öfter betont, bezweifelt werden, dass er sich ihrer überhaupt bewusst war. Die Texte vermitteln den Eindruck, das normative Element bringe sich, vom Autor unbemerkt, quasi hinter seinem Rücken zur Geltung. Wird es ernst genommen, muss von einem Bruch zwischen den Frühschriften und der Deutschen Ideologie gesprochen werden. Denn Gattungsmetaphysik und teleologische Geschichtsphilosophie sind mit der positiven materialistischen Wissenschaft unvereinbar. Wird es ignoriert oder verleugnet, kann (wie von Marx und Engels praktiziert) wahlweise die Differenz zwischen den Frühschriften und der Deutschen Ideologie hervorgehoben werden (Gegenstand der späteren Schrift ist nicht der Mensch, sondern sind die Menschen in ihrem wirklichen Lebensprozess), oder es kann die ihnen gemeinsame ›materialistische Anschauung‹ betont werden (Gegenstand sind nicht philosophische Ideen, sondern die durch Arbeit hervorgebrachten gesellschaftlichen Verhältnisse) (III,1.4.1./2.). Im Folgenden sei der Begriff der Freiheit näher betrachtet. An ihm lassen sich die fatalen Konsequenzen, welche die Bewusstlosigkeit des marxschen Denkens gegenüber dem normativen Element zeitigt, am besten darlegen. Marx zufolge bringt die ›wahre‹ oder ›wirkliche‹ Freiheit der Individuen diese nicht in einen Gegensatz zueinander und zur Gesellschaft. In der anvisierten freien Gesellschaft beziehen sich die Individuen nicht als Privateigentümer und Konkurrenten aufeinander und sind nicht ökonomischer Macht und politischer Repression ausgesetzt. Vielmehr verwirklichen sie ihre individuelle Freiheit in ihrer gesellschaftlichen Arbeit, die sie gemeinsam planen und kontrollieren. Marx’ Freiheitsbegriff ist weder individualistisch noch kollektivistisch. Kollektivistische Vorstellungen tut Marx als »Casernen-Communismus« (KIAA 544/425) ab. Die Freiheitsauffassungen des politischen und ökonomischen Liberalismus verfallen seiner Ideologiekritik. Sie führen Marx zufolge dazu, dass das Individuum in einem Gegensatz zur Gesellschaft steht, dass der individuellen Besonderheit die gesellschaftliche Allgemeinheit abstrakt bzw. verselbständigt gegenübersteht. Die Versuche bürgerlicher Theoretiker, beides zu vermitteln, sind vorab zum Scheitern verurteilt, auch wenn sie, wie Rousseau und Hegel, neben der ökonomischen und 544 Vgl. etwa Locke (1690).

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politisch-rechtlichen auch die soziale Dimension der Freiheit erkennen. Ist es doch das Signum bürgerlicher Theorie, dass sie die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft leisten will, ohne den gesellschaftlichen Grund ihrer Entgegensetzung aufzuheben: das Privateigentum an Produktionsmitteln, den Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital. Während in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise den Individuen die Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit in ›verkehrter‹ Gestalt, als Produktivkraft des Kapitals gegenübertritt, würden die frei vereinigten Produzenten sie zum Zwecke der Steigerung der persönlichen Freiheit der Einzelnen und der kollektiven Freiheit aller bewusst in Regie nehmen. Befreit von den Fesseln des Privateigentums an Produktionsmitteln, korrespondierte der rasanten Steigerung der Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit die nicht weniger rasante Entwicklung der Anlagen und Fähigkeiten der Individuen. Marx bleibt diesem Freiheitsbegriff, in dem Individuelles und Gesellschaftliches unvermittelt in eins gesetzt ist, von den Frühschriften über die Deutsche Ideologie bis zum Kapital im Wesentlichen treu. Daher hält sich auch der Gedanke der in der antizipierten kommunistischen Gesellschaft von den Einzelnen bewusst gemeinsam betriebenen und kontrollierten Produktion durch, wenngleich er in den Manuskripten weniger explizit ist als in den späteren Schriften. Dort erscheint er nur als die Konsequenz, die sich aus der gattungsmetaphysisch und geschichtsphilosophisch begründeten Notwendigkeit der Aufhebung von Entfremdung und Selbstentfremdung ergibt. In den späteren Schriften soll er aus der Untersuchung des ›wirklichen Lebens‹ der Menschen resultieren. Die Modifikationen, die der marxsche Freiheitsbegriff seit den Frühschriften erfährt, berühren nicht seinen inhaltlichen Kern. Die Überzeugung, wonach wirkliche Freiheit die unmittelbare Einheit von individueller und kollektiver Freiheit in der gemeinschaftlich betriebenen gesellschaftlichen Produktion bedeute, wird nicht zurückgenommen, aber in verschiedener Weise erläutert und gestützt. In den Manuskripten liegt der Akzent darauf, was Arbeit ist (die spezifisch menschliche Form der Lebens- bzw. Wesensäußerung) (1), in der von der Deutschen Ideologie propagierten positiven materialistischen Wissenschaft liegt der Fokus darauf, wie durch Arbeit ein gesellschaftlicher Zusammenhang gestiftet wird, welche Bedingungen historisch zu konstatieren sind (2). Im Kapital wird betont, die kapitalistische Produktionsweise selbst schaffe die materiellen Bedingungen für eine höhere Gesellschaftsform und damit für das ›total entwickelte Individuum‹. Eine Ausnahme bildet im dritten Band des Ka­ pitals die Passage über die Reiche der Notwendigkeit und Freiheit (3). (1) Laut den Manuskripten und Mill-Exzerpten gründet Freiheit im gegenständlichen Gattungswesen des Menschen und manifestiert sich in dessen spezifisch gegenständlicher Lebensäußerung, der güterproduzierenden Arbeit. In der nicht-entfremdeten Gesellschaft ›betätigt‹ der 516

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Einzelne qua Arbeit seine Wesenskräfte, die ihm und anderen Individuen durch ihr gegenständliches Resultat ›bestätigt‹ werden. Diese Betätigung und Bestätigung individueller Wesenskräfte ist zugleich ein gesellschaftlicher Prozess. Unter der Bedingung des Privateigentums ist aber die Produktion »keine Production des Menschen für den Menschen als Menschen, d.h. keine gesellschaftliche Production«. Weil jeder nur aus egoistischen Motiven für den Austausch produziert, ›bestätigt‹ der Austausch auch nur diesen egoistischen »Charakter, den jeder von uns zu seinem eignen Product also zu der Production des andern hat«. So stiftet der Eigennutz der Individuen ungewollt den gesellschaftlichen Zusammenhang. Soll dagegen »das menschliche Wesen […] das Band unserer Productionen für einander« (AJM 462 f./459 f.) sein, so muss die ›unsichtbare Hand‹, die Adam Smith zufolge die individuellen Egoismen zum Wohle des gesellschaftlichen Ganzen einspannt, durch die sichtbare Hand gemeinsamer Planung und Kontrolle ersetzt werden. Als Modelle gelten in den Frühschriften paradoxerweise das Verhältnis von Mann und Frau bzw. das zweier Produzenten. Paradigmatisch für das wahrhaft menschliche Leben in einer technisch hochentwickelten und in der Arbeitsteilung hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaft sollen Verhältnisse sein, die ›unmittelbarer‹ und überschaubarer nicht sein könnten. Denn natürlich wäre es ein grobes Missverständnis, würde man die genannten Modelle als Hinweis auf die geringe Größe der freien Gesellschaft begreifen. Die künftige Gesellschaft geht aus der alten hervor, hat demnach etwa deren Größe. Und dass sie in Bezug auf den Entwicklungsstand ihrer Produktionstechnik und die Komplexität ihrer Arbeitsteilung das unter kapitalistischen Bedingungen erreichte Niveau tendenziell überschreitet, ist Marx zufolge selbstverständlich.545 (2) Die Deutsche Ideologie verwirft die gattungsmetaphysische Begründung des Freiheitsbegriffs, lässt dessen Inhalt aber unberührt. Frei im emphatischen Sinn ist das Individuum, das in der gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Produktion seine Anlagen allseitig entwickeln kann. In der Rede von der ›allseitigen‹ und ›freien‹ Entwicklung der Individuen546 klingt die Formel vom Menschen als einem universellen und ›darum‹ freien Wesen noch nach. Sie soll jetzt aber nicht Resultat philosophischer Überlegungen sein, sondern auf der empirischen Untersuchung des wirklichen Lebens der Menschen beruhen. Statt von Selbstbestätigung (bzw. Selbstverwirklichung) ist daher auch nur noch von Selbstbetätigung die Rede. Im Zentrum der positiven materialistischen Wissenschaft steht die Analyse der gesellschaftlichen Arbeitsteilung 545 Entsprechend steht später im Kapital ›Verein‹ nicht für eine kleine Gemeinschaft, in der jeder alles überschaut, sondern für die ›freie Assoziation der Produzenten‹. 546 Vgl. DI 496 f./424; vgl. 110 ff./67 ff. u. pass.

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unter den Bedingungen des Privateigentums an Produktionsmitteln, welche zeigt, dass die materiellen Bedingungen für eine freie Gesellschaft vorhanden sind. In der bürgerlichen Gesellschaft tritt den Individuen die Produktivkraft ihrer gesellschaftlichen Arbeit als Kraft des Privateigentums gegenüber. Dieser Skandal ist im Kommunismus, in dem die gesellschaftliche Produktion von den Einzelnen gemeinsam geplant und kontrolliert wird, behoben. »Das Bestehende, was der Kommunismus schafft, ist eben die wirkliche Basis zur Unmöglichmachung alles von den Individuen unabhängig Bestehenden, sofern dies Bestehende dennoch nichts als ein Produkt des bisherigen Verkehrs der Individuen selbst ist.« (DI 101/70 f.) Die Individuen sind nicht mehr Bedingungen subsumiert, die »dem Zufall überlassen« sind und sich gegen sie verselbständigt haben. Wahrhaft persönliche Freiheit ist daher erst hier möglich. Bedeutete in der bürgerlichen Gesellschaft »persönliche Freiheit« das »Recht, innerhalb gewisser Bedingungen ungestört der Zufälligkeit sich erfreuen zu dürfen«, besteht sie in der künftigen Gesellschaft darin, in der Gemeinschaft mit anderen »seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden« (DI 100; 95/74 f.).547 Der Einzelne ist nicht deshalb frei, weil er im Rahmen des geltenden Rechts nach Gutdünken über sein Privateigentum verfügen, sondern weil er sich in der gemeinsam mit anderen betriebenen gesellschaftlichen Produktion allseitig entwickeln kann. Wie für die frühen Schriften fallen für die Deutsche Ideologie im Kommunismus gesellschaftliche Produktion und persönliche Freiheit unmittelbar zusammen. Die Realisierbarkeit dieser Utopie wird jetzt aber unter Anführung von Klasseninteressen einerseits und objektiven Gesetzmäßigkeiten andererseits gerechtfertigt. Zum einen liege die Errichtung einer planmäßigen gesellschaftlichen Produktion im Interesse des Proletariats, weil nur in ihr die Proletarier nicht mehr vom gesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossen seien und eine allseitige Entwicklung eines jeden möglich sei. Der Ausschluss des Proletariats vom gesellschaftlichen Reichtum mache es zu einer Klasse, deren Interesse und kollektives Handeln auf die Abschaffung der Klassengesellschaft überhaupt ziele. Zum anderen verweist Marx auf Gesetzmäßigkeiten oder Tendenzen, die der Geschichte immanent seien. Die These vom ›Widerspruch‹ zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen548 markiert diesen objektivistischen Strang seines Denkens. 547 »In der Vorstellung sind […] die Individuen unter der Bourgeoisieherrschaft freier als früher, weil ihnen ihre Lebensbedingungen zufällig sind; in der Wirklichkeit sind sie natürlich unfreier, weil mehr unter sachliche Gewalt subsumirt.« (DI 97/76). 548 »Alle Kollisionen der Geschichte haben also nach unsrer Auffassung ihren Ursprung in dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften & der Verkehrsform.« (DI 90/73).

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Beide Alternativen sind wenig überzeugend. Das Interesse der Arbeiterklasse an einer klassenlosen Gesellschaft bleibt solange eine bloße Idee des Theoretikers, wie es ihm nicht gelingt, gute Gründe für ein kollektives Handeln der Arbeiterklasse anzuführen, denen sich der einzelne Arbeiter vernünftigerweise nicht verschließen kann. Im Rahmen der anti-teleologischen, anti-normativistischen materialistischen Theorie sind allerdings nur noch Klugheitsgründe denkbar. Das einzig noch zulässige Sollen ist ein prudentielles. Das Argument, nur auf diesem Wege könne der Einzelne Armut und Elend sicher entgehen, taugt aber nicht, wenn der Kapitaltheorie zufolge Armut und Elend nicht notwendig mit dem Kapital assoziiert sind. Das weitere Argument, das den emphatischen Begriff des Reichtums bemüht, verfängt ebenfalls nicht. Warum sollte der Einzelne ein Interesse daran haben, dass sich alle Individuen allseitig entwickeln können (unterstellt, er kann mit der ›allseitigen Entwicklung‹ überhaupt etwas anfangen)? Auch die objektivistische Sicht der Dinge überzeugt nicht. Ihr zufolge sind die Gründe für eine nach einem Gesamtplan betriebene gesellschaftliche Produktion nicht mehr als der subjektive Reflex der Einsicht in die Ursachen ihres historisch notwendigen Zustandekommens. Die universelle und ›darum‹ freie Entwicklung der Menschen erweist sich als eine Funktion der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Es zeigt sich nämlich, »daß die gegenwärtigen Individuen das Privateigenthum aufheben müssen, weil die Produktivkräfte & die Verkehrsformen sich so weit entwickelt haben«, dass sie unter seiner Herrschaft »zu Destruktivkräften geworden sind«, und dass sie es nur aufheben können, indem sie sich zu »totalen« Individuen entwickeln; nur als »allseitig« entwickelte können sich die Individuen die »allseitig« entwickelte gesellschaftliche Produktivkraft ihrer Arbeit aneignen, das heißt »zur freien Bethätigung ihres Lebens« machen. (DI 497/424) (3) Dem Kapital zufolge ist das im emphatischen Sinne freie Individuum das universell im gemeinsam geplanten Produktionsprozess einsetzbare, totale Individuum. Der ironisierende Romantizismus vom Einzelnen, der sich zu verschiedenen Tageszeiten dem Fischen, Jagen und Kritisieren widmet, ist ganz unironisch durch eine Gesellschaftsutopie ersetzt, in der die Freiheit des Individuums in seiner universellen Fungibilität für die gemeinschaftlich betriebene gesellschaftliche Produktion besteht. Eigentumstheoretisch formuliert, tritt an die Stelle des von der bürgerlichen Theorie behaupteten (notwendigen) Zusammenhangs von persönlicher Freiheit, Arbeit und Privateigentum der von persönlicher Freiheit, unmittelbar gesellschaftlicher Arbeit und individuellem Eigentum »auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Aera: der Kooperation freier Arbeiter und ihrem Gemeineigenthum an der Erde und den durch die Arbeit selbst producirten Produktionsmitteln« (K I² 683/791). 519

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Daran, dass die Herstellung einer solchen Gesellschaft im Interesse des Proletariats ist und mit objektiven Tendenzen der bürgerlichen Produktionsweise harmoniert, lässt auch das Kapital keinen Zweifel, fasst letztere im Vergleich zur Deutschen Ideologie aber konkreter. Die kapitalistische Produktionsweise tendiere zu immer größeren Produktionszusammenhängen, die Planung und Kontrolle erforderten und derart den Übergang zur höheren Gesellschaftsform schon vorbereiteten. Die Aktiengesellschaften, in denen die Funktion der Leitung der Produktion vom Kapitaleigentum getrennt ist, angestellte Manager statt Kapitaleigentümer fungieren, seien »die Aufhebung des Capitals als Privateigenthum innerhalb der Grenzen der capitalistischen Productionsweise selbst«. Es sei »dieß Resultat der capitalistischen Production, in ihrer höchsten Entwicklung, ein nothwendiger Durchgangspunkt zur Rückverwandlung des Capitals in Eigenthum der Producenten, aber nicht mehr als das Privateigenthum vereinzelter Producenten, sondern das Eigenthum ihrer als associirter, als unmittelbares Gesellschaftseigenthum«. (K III 502/452 f.)549 (4) Eine Ausnahme bildet die Passage aus dem dritten Band des Kapi­ tals über die Reiche der Notwendigkeit und Freiheit. Indem Marx hier einen eminenten Unterschied zwischen beiden Reichen behauptet, deutet er zumindest an, dass individuelle und kollektive Freiheit unter keinen gesellschaftlichen Bedingungen unmittelbar zusammenfallen können. Marx’ normativer Begriff des Menschen als eines universellen und ›darum‹ freien Wesens richtet sich gegen jede institutionelle Verselbständigung der von den Individuen gesellschaftlich hervorgebrachten Verhältnisse. Solche Verselbständigung ist das Kennzeichen der bürgerlichen Moderne. In ihr sind die Individuen in ökonomischer Hinsicht Funktionsorgane des Kapitals, politisch unterliegen sie staatlichen Gesetzen, 549 Engels weist 1894 darauf hin, dass sich, »[s]eit Marx obiges schrieb«, die Dinge weiterentwickelt hätten. Die dramatisch steigende Produktivkraft der Arbeit habe zu »chronische[r] Ueberproduktion« und fallenden Profiten geführt, die Folge seien Kartellbildungen und schließlich die Konzentration der Produktion ganzer Geschäftsbereiche »zu Einer großen Aktiengesellschaft mit einheitlicher Leitung«. Diese partielle Ersetzung der Konkurrenz durch das Monopol arbeite »der künftigen Expropriation durch die Gesammtgesellschaft, die Nation, aufs erfreulichste« vor (K III E 429/453 f.). In seiner Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs von 1891 unterscheidet Engels zwischen »kapitalistischer Produktion als Gesellschaftsform, als ökonomische Phase« und kapitalistischer Privatproduktion »als eine innerhalb dieser Phase so oder so vorkommende Erscheinung«. Kapitalistische Privatproduktion sei »Produktion durch den einzelnen Unternehmer, und die wird ja schon mehr und mehr die Ausnahme«. In den »Trusts« höre »nicht nur die Privatproduktion auf, sondern auch die Planlosigkeit«. (KEP 46/231 f.).

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vor denen zwar formell alle gleich sind, die aber insgesamt der Aufrechterhaltung von Eigentumsverhältnissen dienen, in denen die Mehrheit nur mit der Erlaubnis der Minderheit »arbeiten, also nur mit ihrer Erlaubniss leben« (KGP 9/15) kann. Ihr gesellschaftliches Leben ist abhängig von Umständen, die sie nicht durchschauen und kontrollieren können, zumal die Reproduktion der einzelnen Gesellschaft in den Weltmarkt integriert ist, in dem der von den Individuen jeden Tag aufs Neue gestiftete universelle Zusammenhang zwischen ihnen sich auch als selbständig gegenüber ihnen erweist, als eine ›zweite Natur‹. Marx zufolge ist die anvisierte nachkapitalistische Gesellschaft frei von der Intransparenz und der ökonomischen Gewalt, wie sie für die bestehende Produktionsweise konstitutiv sind. Denn sobald die »Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprocesses, d.h. des materiellen Produktionsprocesses […] als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht«, stellen »die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zu einander und zur Natur« (K I² 110/94) dar. Der von den Menschen qua Arbeit hervorgebrachte gesellschaftliche Zusammenhang ist nicht etwa ›nur‹ ein vernünftiger, sondern ein ihnen ›durchsichtig vernünftiger‹. Gemeint ist natürlich nicht, eine gesellschaftliche Produktion überhaupt sei vernünftig, weil und insofern sie für jeden transparent sei. Schließlich ist auch eine für jedermann durchsichtige Sklavenhaltergesellschaft vorstellbar. Gemeint ist vielmehr, dass die gemeinsam betriebene gesellschaftliche Produktion, in der und durch die individuelle und kollektive Freiheit, individuelles und kollektives Eigentum sich gegenseitig stützen und steigern, das Prädikat ›durchsichtig vernünftig‹ verdient. ›Durchsichtig vernünftig‹ ist eine analytische Bestimmung der nach einem Gesamtplan gemeinsam betriebenen, daher unmittelbar gesellschaftlichen Produktion freier Menschen. In dieser treten den Individuen die gesellschaftlich produzierten Bedingungen ihrer Produktion, ihre »Existenzbedingungen« (DI 100/75), nicht mehr zufällig gegenüber. Sie tun dies so wenig, wie dem Robinson die von ihm selbst geplanten und hergestellten Bedingungen seines individuellen Werkeltags. So wie Robinson die Resultate seiner Arbeit als sein Werk betrachtet, würden die Mitglieder im Verein freier Menschen die Resultate ihrer Arbeit als ihr gemeinsam gewolltes und bewirktes Werk betrachten. Mit anderen Worten: ›Durchsichtig vernünftig‹ sind die Verhältnisse im Kommunismus, weil und insofern sie den Kriterien individueller Handlungsrationalität genügen.550 Marx treibt in Bezug auf die Utopie des 550 Daher der verbreitete Vorwurf, Marx übertrage ein »handlungstheoretische[s] Denkmuster« auf die Gesellschaft (Suchanek 2005: 199). Er sehe richtig, »dass institutionell bedingte Strukturen gesellschaftlicher

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Kommunismus seit seinen frühen Schriften einen von Feuerbach inspirierten Kultus der Unmittelbarkeit, der den Leser, der sich auf der Höhe der reifen Kapitaltheorie befindet, ratlos zurücklassen muss. Er vermag nicht einzusehen, wie in der künftigen gesellschaftlichen Produktion Individualität und gesellschaftliche Allgemeinheit zusammenfallen sollen. Mit der radikal emanzipatorisch anmutenden Formel ›durchsichtig vernünftig‹ setzt sich Marx von der bürgerlichen Geschichtsphilosophie und Politischen Ökonomie ab, deren Lehrstücke von der ›List der Vernunft‹ und der ›unsichtbaren Hand‹ des Marktes er als Ideologeme betrachtet. Beide Male wird die Genese einer Ordnung erklärt, die sich ungeplant und unkontrolliert ›hinter dem Rücken‹ der Einzelnen vollzieht, und beide Male wird diese Ordnung affirmiert – als vernünftig (Hegels Geschichtsphilosophie als Theodizee) oder im Interesse des gesellschaftlichen Gesamtwohls (Smiths Lehre vom Reichtum der Nationen) gerechtfertigt. Marx’ Kritik der bürgerlichen Positionen kann hier allerdings nicht überzeugen, beruht sie doch auf einem Maßstab, der nicht begründet ist und überdies in die Irre führt. Der emphatische Begriff unmittelbar individueller und kollektiver Freiheit macht blind dafür, dass die Abschaffung kapitalistischer Produktionsverhältnisse nicht die Abschaffung von ›Entfremdung‹ bedeutet. Misst man die arbeitsteilig organisierte und auf hohem technischem Niveau basierende kommunistische Produktion an dem Modell ›der Produktion des Menschen für den Menschen als Menschen‹ (Mill-Exzerpte) bzw. der nach einem ›Gesamtplan‹ (Deutsche Ideologie) betriebenen Produktion, so zeigt sich, dass auch sie Merkmale der Entfremdung trüge, welche die Manuskripte der auf Privateigentum (an Produktionsmitteln) beruhenden Gesellschaftsform vorbehalten. Auch in der kommunistischen Gesellschaft wäre der einzelne Arbeiter von dem Produkt und den Bedingungen seiner Arbeit getrennt, denn beide gehörten unmittelbar der Gesamtheit der assoziierten Produzenten und dem einzelnen Arbeiter nur als deren Mitglied. Er würde auch nicht ein Produkt selbständig herstellen. Als Glied einer Fertigungskette, die als ganze technisch von der Totalität des gesellschaftlichen Produktionszusammenhangs abhängig wäre, würde er nicht selbstbestimmt produzieren, sich nicht spontan dazu verstehen, durch seine Arbeit und ihr Produkt das Bedürfnis eines anderen zu befriedigen. Er würde vielmehr im Rahmen eines Plans in einem bestimmten Sektor der gesellschaftlichen Produktion arbeiten. Interaktionen« in der modernen Gesellschaft »Entfremdung« stiften. Wesentlich hierfür sei der »Umstand ihrer Kontingenz«. Sie erschienen »grundsätzlich als gesellschaftlich gestaltbar, jedoch dem Einzelnen als willkürlich und ihm oktroyiert«. Aufhebung der Entfremdung bedeute daher für Marx »Aufhebung des kontingenten Charakters gesellschaftlicher Institutionen« (ebd.).

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Dort würden ihm die materiellen Bedingungen seiner Arbeit als ein von seinem subjektiven Wollen unabhängiger, fertiger Komplex gegenübertreten. Die Voraussetzungen dieser Bedingungen wären für ihn teils unüberschaubar, weil sie sich in der Totalität der arbeitsteiligen gesellschaftlichen Produktion verlören, teils nicht zu verstehen, weil er nicht über die dazu erforderlichen spezifischen naturwissenschaftlichen und technischen Kenntnisse verfügte. Wie in der bürgerlichen Gesellschaft wäre auch in der kommunistischen die Arbeit für den Einzelnen nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Zwar wäre der außer ihr liegende Zweck für ihn nicht Gelderwerb respektive Subsistenzsicherung, sondern die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur, der seinerseits auf die Versorgung der Menschen mit Gebrauchswerten abzweckt. Seine Arbeit wäre aber darum immer noch, hier ist Marx’ Einsicht aus dem dritten Band des Kapitals zu zitieren, »durch Noth und äussere Zweckmässigkeit bestimmt«, so wie »in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Productionsweisen«. (K III 838/828) Zwar wäre die Arbeit keine Lohnarbeit; die Menschen hätten den Stoffwechsel mit der Natur ›rationell‹ geregelt, so dass sie ihn »mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adaequatesten Bedingungen vollziehn« (K III 838/ 828) könnten. Sie würden sich daher in ihrer Arbeit nicht notwendigerweise ›unglücklich‹ fühlen und sie, sobald die Pflicht zu ihr entfällt, ›als eine Pest‹ fliehen. Aber der Einzelne würde in seiner Arbeit auch nicht sein ›Gattungswesen‹ bestätigen, seine Arbeit wäre nicht Selbstverwirklichung. Kurzum: Die Errichtung eines Vereins freier Menschen in dem von Marx skizzierten Sinne ist illusorisch – eine abstrakte Utopie. Der Kommunismus ist als die »vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichthums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen« (Manuskripte) nicht möglich. Und er ist auch nicht möglich als die »wirkliche[] Gemeinschaft«, in der die Individuen »in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit« erlangen (Deutsche Ideologie). Die Begriffe des ›gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen‹ und der ›wirklichen Gemeinschaft‹ sind nur verschiedene Ausprägungen eines paradoxen Freiheitsbegriffs, in dem individuelle und gesellschaftliche Freiheit kurzgeschlossen sind zum ›kommunistischen Individualismus‹.551 Dessen Realisierung erfordert nicht weniger als den ›neuen Menschen‹.552 Marx’ 551 Dazu Bluhm (2005). 552 Die Verwendung dieses Ausdrucks durch Marx ist, soweit ich sehe, nur für eine Rede aus dem Jahr 1856 belegbar, allerdings nicht in dem hier gemeinten Sinn: »Wir wissen, daß die neuen Kräfte [Produktivkräfte] der Gesellschaft, um richtig zur Wirkung zu kommen, nur neuer Menschen bedürfen,

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Überlegungen zur künftigen Gesellschaft bilden sich viel auf ihren Realismus ein, wenn sie betonen, die materiellen Bedingungen für die künftige Gesellschaft seien im Schoße der alten bereits entstanden. Zugleich zählen sie aber zu den notwendigen Bedingungen der künftigen Gesellschaft das radikal veränderte Individuum. Marx hat dies immer wieder betont. Laut den Manuskripten handelt es sich um »den reichen all und tiefsinnigen Menschen« (ÖPM 271/542), laut den Grundrissen um »die reiche[] Individualität, die ebenso allseitig in ihrer Production als Consumtion ist und deren Arbeit daher auch nicht mehr als Arbeit, sondern als volle Entwicklung der Thätigkeit selbst erscheint, in der die Naturnothwendigkeit in ihrer unmittelbaren Form verschwunden ist« (Gr 241/244), und laut dem ersten Band des Kapitals um das »total entwickelte Individuum, für welches verschiedne gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Bethätigungsweisen sind« (K I² 466/512). Seit den Frühschriften unterscheidet Marx die ›gewordne Gesellschaft‹ respektive den ›gewordnen Menschen‹ von der ›werdenden Gesellschaft‹ respektive dem ›werdenden Menschen‹.553 Dabei herrscht auch in den späteren Schriften kein Mangel an Emphase: Der unmittelbare Produktionsprozess, heißt es in den Grundrissen, sei »zugleich Disciplin, mit Bezug auf den werdenden Menschen betrachtet, wie Ausübung, Experimentalwissenschaft, materiell schöpferische und sich vergegenständlichende Wissenschaft mit Bezug auf den gewordnen Menschen« (Gr 589/607).554 ›Gewordener Mensch‹ respektive ›gewordene Gesellschaft‹ indizieren die gelungene Emanzipation von Entstehungsbedingungen. Marx die ihrer Meister werden – und das sind die Arbeiter.« (PP 4) Indem Marx die ›neuen Menschen‹ hier aus Agitationsgründen mit den Arbeitern identifiziert, sind sie schon vorhanden. Seinen Überlegungen zur kommunistischen Gesellschaft zufolge müssen sie aber erst noch entstehen. Der Ausdruck ›Neuer Mensch‹ hat seinen festen Platz in der Legitimationswissenschaft des Marxismus-Leninismus. Marx-Kritikern dient er als ein Beleg für ihre These, das Proletariat sei »das auserwählte Volk des historischen Materialismus« (Löwith 1949: 41) (zur biblischen Herkunft: 1 Kor 15,45 ff.) Da Marx-Interpreten gut beraten sind, das hermeneutische Wohlwollen ihrer Leser nicht zu sehr zu strapazieren, sei angemerkt: ›Neuer Mensch‹ wird hier weder in affirmativer noch in denunziatorischer Absicht benutzt. Der Ausdruck bezeichnet schlicht, was Marx wiederholt in anderen Worten ausgedrückt hat (s.u.). 553 Vgl. etwa ÖPM 271/542. 554 Bedingung einer erfolgreichen revolutionären Praxis ist zufolge der Deut­ schen Ideologie »eine massenhafte Veränderung der Menschen« (DI 44/70). »Das jetzige Geschlecht«, so die Klassenkämpfe in Frankreich, »gleicht den Juden, die Moses durch die Wüste führt. Es hat nicht nur eine neue Welt zu erobern, es muß untergehen, um den Menschen Platz zu machen, die einer neuen Welt gewachsen sind.« (KF 182/79). Wir sagen den Arbeitern, so Marx

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überträgt damit eine Argumentationsfigur, die in Bezug auf die Genese und Struktur der kapitalistischen Produktionsweise gerechtfertigt ist, umstandslos auf die anvisierte freie Gesellschaft. Im Hinblick auf das Kapital unterscheidet Marx zwischen den Bedingungen seiner Entstehung und den Bedingungen des entstandenen Kapitals. Jene finde das Kapital (gemeint sind die historischen Formen: das Geld- und Handelskapital) vor, diese produziere es (das entwickelte Kapitalverhältnis) selbst. Historisch findet etwa das Geldkapital die im Zuge der zerfallenden Feudalgesellschaft freigesetzten Arbeitskräfte vor, in der kapitalistischen Produktion produziert es zwar nicht die Arbeiter, wohl aber die Warenform ihrer Arbeitskraft selbst. Historisch tritt das Kapital in der Produktion zunächst als die im Kapitalisten personifizierte Macht auf, welche die Arbeitsbedingungen rigoros so gestaltet, dass sie dem Zweck der Auspressung von Mehrarbeit am dienlichsten sind, muss dabei aber immer auf die in der Leiblichkeit des Menschen liegende ›organische Schranke‹ der Produktion Rücksicht nehmen. Es erscheint derart als neue, aber reversible Organisationsform der Produktion. Dagegen ist mit der nicht mehr nur formellen, sondern reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital dessen Emanzipation von Entstehungsbedingungen erreicht. In der maschinellen Produktion der großen Industrie ist das Kapital unabhängig von der organischen Schranke der Produktion. In der Produktion von Produktionsmitteln stellt es Gegenstände her, in denen es den realisierten Mehrwert produktiv akkumulieren kann. Seine Produktion von Produktionsmitteln ist Produktion von Produktivität. Im Dasein der Maschinen als fixes Kapital scheint die ökonomische Zweckbestimmung der Auspressung von mehr Mehrarbeit direkt eingelassen in die Naturalform. Das Kapital ist nicht länger nur Organisationsform der Einzelproduktionen, sondern die durch die Produktion von Produktivität sich selbst erhaltende Substanz des gesellschaftlichen Produktionsprozesses. Analog soll für die kommunistische Gesellschaft gelten, dass sie sich von ihren Entstehungsbedingungen dann emanzipiert hat, wenn ›Kommunismus‹ nicht mehr nur eine organisatorisch veränderte Gesellschaft, eine Gesellschaft mit anderen Produktionsverhältnissen und mithin einem anderen Zweck der Produktion bedeutet – sondern was? Die Selbsterhaltung des Kapitals ist ein invisible-hand-Prozess, dem die Einzelnen unterworfen sind und dessen möglichst reibungsloses Gelingen in ihrem unmittelbaren Interesse ist. Die Reproduktion der gegenüber ihren Entstehungsbedingungen selbständig gewordenen kommunistischen Gesellschaft ist dagegen ein geplanter und kontrollierter Prozess. ›Plan‹ und ›Kontrolle‹ deuten auf die organisatorische Struktur der Gesellschaft 1853: »Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um Euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen.« (EKP 372/412).

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und damit, wie gesehen, zumindest in der ersten Phase der nachkapitalistischen Entwicklung auf politische Herrschaft und Repression. Das ›Mehr‹, das zur kommunistischen Gesellschaft hinzutreten muss, damit diese sich frei von politischer Repression planmäßig und kontrolliert reproduzieren kann, betrifft keine gesellschaftlichen Institutionen, sondern die Verfassung der Individuen selbst. Erst wenn jedes Individuum den Zweck der gesellschaftlichen Produktion nicht nur äußerlich durch sein Tun affirmiert, sondern wenn ihm die Beförderung dieses Zwecks durch seine Arbeit »selbst das erste Lebensbedürfniss geworden« (KGP 15/21), steht der Kommunismus auf eigenen Füßen.555 Erst dann ist aus der Gesellschaft, die noch »in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig« von der bürgerlichen geprägt ist und daher der politischen Gewalt nicht entbehren kann, eine Gesellschaft freier Menschen geworden, die »sich auf ihrer eignen Grundlage« (KGP 13/20) entwickelt. Die Individuen sind dann als solche unmittelbar gesellschaftliche Wesen. Die bewusste Herbeiführung des Kommunismus bedeutet mithin die planmäßige und kontrollierte – wie soll man sagen? – Erzeugung oder Produktion des neuen Menschen. Im Rückblick erscheint es wenig überraschend, dass Marxisten die Transformation des alten in den neuen Menschen in unterschiedlicher Weise vordachten und/oder propagierten. Herbert Marcuse meint 1938, die Individuen seien »in der Schule des Kapitalismus zu Menschen geworden«. Sofern ihre »Unfreiheit schon in den Bedürfnissen steckt und nicht erst in ihrer Befriedigung, sind sie zunächst zu befreien.« Das sei »kein Akt der Erziehung […], sondern ein ökonomischer und politischer Vorgang«. Das ›sondern‹ ist nur plausibel, weil Marcuse unterstellt, der ›ökonomische und politische Vorgang‹ werde von einer ›Allgemeinheit‹ gesteuert, welche die Individuen nicht unterdrückt und keine ihnen gegenüber verselbständigten Interessen hat. Zehn Jahr zuvor hatte der ›Volkskommissar für Erziehungswesen, Kunst und Schulexperimente‹ Anatoli Lunatscharski auf einem Kongress erklärt, »das sowjetische Erziehungssystem sei auf dem besten Wege ›zur Herstellung des neuen Menschen, welche parallel zur Produktion neuer Ausrüstungen in der Wirtschaft zu organisieren ist‹. Bucharin sprach an gleicher Stelle davon, es gelte ›in kürzester Frist eine ausreichende Stückzahl von aktiven Arbeitern zu produzieren, qualifizierte, speziell geschulte Maschinen, die man sofort einsetzen‹ könnte.« (Koenen 2017: 899) Daneben hatte 555 Demirovic (2018: 356 ff.) zitiert Marx korrekt (›das erste Lebensbedürfnis‹), um dann aber von Verhältnissen zu sprechen, in denen die Individuen »Formen der Arbeit praktizieren, in denen die Arbeit eines [!] ihrer Lebensbedürfnisse ist«. Marx’ Überlegungen in den Grundrissen zur Arbeit als Selbstverwirklichung zieht Demirovic unkritisch denen in K III vor: »Auch die Arbeit als der Prozess der Aneignung der Natur soll schließlich nicht mehr durch Naturzwänge bestimmt sein.«

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es in Sowjetrussland und der Sowjetunion Tendenzen gegeben, das ›Herstellen‹ und ›Produzieren‹ des neuen Menschen im Sinne einer Biopolitik wörtlich zu nehmen. »Das leben, selbst das rein physiologische, wird zu einem kollektiv-experimentellen werden«, schwärmt Trotzki 1924. Der »erstarrte homo sapiens« werde »radikal umgearbeitet und – unter seinen eigenen händen – zum objekt kompliziertester methoden der künstlichen auslese und des psychophysischen trainings werden«. Der Mensch werde sich zum Ziel setzen, »einen höheren gesellschaftlich-biologischen typus, und wenn man will – den übermenschen zu schaffen«. (Trotzki 1924: 214 f.) Natürlich sind diese szientistischen Omnipotenz-Vorstellungen weder der marxschen Theorie noch dem marxschen Denken anzulasten; sie erweisen ihre Urheber als Kinder ihrer Zeit (und sind vielleicht heute im Silicon Valley, in der Volksrepublik China oder anderswo Quelle der Inspiration).556 Auf das Konto des marxschen Denkens geht aber das naive Zutrauen in die Möglichkeit der bewussten Herbeiführung des neuen Menschen (und nur von dieser ist hier die Rede, dagegen wird nicht behauptet, der ›alte Adam‹ sei nun einmal, wie er sei). Dieses Zutrauen kontrastiert augenfällig mit der scharfsinnigen Kritik, die Marx an anderen Utopien und an den ideologischen Überhöhungen der bürgerlichen Gesellschaft durch bürgerliche Theoretiker übt. ›Bewusste Herbeiführung des neuen Menschen‹ meint im marxschen Kontext nicht die wissenschaftlichtechnische Modellierung des natürlichen Substrats der Menschen, sondern ihre Erziehung, Bildung und Ausbildung zu Arbeitskräften, die in einer weitgehend verwissenschaftlichten Produktion möglichst universell 556 Zu Recht verweist Hagemeister (2005: 66 f.) darauf, dass sie heute »in den Visionen einer Hypermoderne« wiederkehren. »Der ›rote Held‹ überlebt nun nicht mehr ›eingeschreint in dem großen Herzen der Arbeiterklasse‹ […], sondern eingescannt in den Großcomputer und als geklonter Replikant.« Dass die Arbeiterbewegung stets durch weltanschauliche Strömungen der Zeit (nicht nur durch den Marxismus als Weltanschauung) geprägt war: etwa durch den Darwinismus und Vorstellungen über ›sozialistische Eugenik‹ und ›proletarische Rassenhygiene‹, zeigt ausführlich Mocek (2002). Die extremste der wissenschaftlich-technischen Allmachtsphantasien ist die von der Abschaffung des Todes. Das Thema ist auch Adorno vertraut, der es aber nicht unter dem Aspekt der Machbarkeit anspricht, sondern im Kontext der Frage nach der Möglichkeit ›metaphysischer Erfahrung‹ angesichts eines Lebens ›unterm Bann‹. Die »Frage nach der Abschaffung des Todes« sei der »neuralgische Punkt« utopischen Bewusstseins. Für dieses habe »die Möglichkeit, daß die Menschen nicht mehr sterben müssen, nicht etwas Schreckliches«, sondern sei das, »was man eigentlich will«. (Adorno 1964a: 65 f.) »Mit der Theologie«, so die Negative Dialek­ tik (1966: 207), komme der Materialismus »dort überein, wo er am materialistischsten ist. Seine Sehnsucht wäre die Auferstehung des Fleisches.«

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einsetzbar sind. Weil Marx unter dem bleibenden Eindruck der ›materialistischen‹ Freiheitsauffassung Feuerbachs steht (der Mensch ›verhält sich zu sich als einem universellen, darum freien Wesen‹), gilt ihm die universelle Fungibilität der Individuen unter nachkapitalistischen Produktionsverhältnissen nicht als Schreckbild. Sie steht vielmehr für die Aneignung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit durch die Individuen. Dass diese ihre gesellschaftlich hergestellte Fungibilität am Ende selbst als ihre Befreiung von einer ansonsten drohenden bornierten Existenz betrachten und in der gemeinschaftlich gesellschaftlichen Arbeit ihr ›erstes Lebensbedürfnis‹ sehen werden, gilt Marx als ausgemacht, sofern nur die anderen Bedingungen der zweiten Phase der kommunistischen Gesellschaft erfüllt sind (mit der hier immer wieder zu zitierenden bemerkenswerten Ausnahme der Passage über die Reiche der Notwendigkeit und Freiheit in Kapital III). Dabei darf nicht vergessen werden: Die Herbeiführung des neuen Menschen obliegt der Diktatur des Proletariats, fällt also in die Phase politischer Repression. Dass unter dieser Bedingung Erziehung, Bildung und Ausbildung mit politischem Zwang und gesellschaftlicher Selektion verbunden sein werden, ist ein naheliegender Gedanke. Tatsächlich kommt Marx gar nicht umhin, den neuen Menschen als real möglich zu propagieren, wenn er an seinem Freiheitsbegriff festhalten will. In Anlehnung an seine bekannte hegelkritische Bemerkung ließe sich sagen: Die »Lüge« seines Freiheitsbegriffs ist die seines »Princips« (ÖPM 299/581). Der Kommunismus ist ›eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist‹. Die Freiheit der Individuen und die des Kollektivs setzen sich wechselseitig voraus. Der Verein freier Menschen bedingt die freie Entfaltung der Fähigkeiten eines jeden Mitglieds, und diese bedingt die kollektive Freiheit aller, die Freiheit des Vereins. Die Freiheit des Vereins erfordert freie Individuen, und die Individuen sind nur ›in und durch‹ den Verein frei. Die Freiheit, um die es sich hier handelt, manifestiert sich in der wechselseitigen Steigerung individueller und kollektiver Fähigkeiten. In erster Linie solcher, die direkt (Produktionstechnik) oder indirekt (Naturwissenschaften) dem materiellen Produktionsprozess zugutekommen, aber auch solcher, die die ästhetische Produktion und Rezeption betreffen.557 Diejenige Freiheit, die ausdrücklich nicht gemeint ist, ist die politisch-rechtliche Freiheit des Individuums. Eine politische Sphäre, die die Bildung eines allgemeinen gesellschaftlichen Willens in557 »Das Thier formirt nur nach dem Maaß und dem Bedürfniß der species, der es angehört, während der Mensch nach dem Maaß jeder species zu produciren weiß und überall das inhärente Maaß dem Gegenstand anzulegen weiß; der Mensch formirt daher auch nach den Gesetzen der Schönheit.« (ÖPM 241/517).

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stitutionell absichert und damit den freien Streit der Vereinsmitglieder darüber ermöglicht, nach welchen Prinzipien der gesellschaftliche Produktionsprozess gestaltet und gesteuert werden soll, wie und in welchem Umfang die Potenzen jedes Individuums zu selbstzweckhafter Tätigkeit zu fördern sind,558 ist nicht vorgesehen (III,6.3). Gegen diesen Befund wird eine Marx-Rezeption, die zwischen marxschem Denken und marxscher Theorie nicht unterscheidet, die sporadischen Bemerkungen über kommunistische Staatlichkeit und politikfreie öffentliche Gewalt in der kommunistischen Zukunft anführen. Diese Bemerkungen sind aber teils unklar (wie Marx’ Rede vom ›zukünftigen Staatswesen der kommunistischen Gesellschaft‹) und sie bestätigen durchweg den restriktiven, instrumentellen Politikbegriff, der das Thema der politisch-rechtlichen Freiheit der Individuen zum Verschwinden bringt (mit der ›Produktion in den Händen der assoziierten Individuen‹ verliere die ›öffentliche Gewalt den politischen Charakter‹ [III, 6.3.]). Sie können Marx’ (und Engels’) Insistieren auf einem unmittelbar gesellschaftlichen Leben der Einzelnen in der anvisierten freien Gesellschaft nicht relativieren oder gar widerlegen. Für Marx’ (und Engels’) Kritik der bürgerlichen Verhältnisse ist der Begriff gemeinschaftlicher, soll heißen: zugleich individueller und kollektiver Freiheit konstitutiv. Dagegen ist die Vermittlung von individuellen Interessen und allgemeinem Interesse, besonderem und allgemeinem Willen kein Thema. Für die zweite Phase der kommunistischen Gesellschaft ist der gelungene Ausgleich von Individualität und Allgemeinheit einfach als gelungen unterstellt. Hergestellt werden soll er in der ersten, repressiven Phase, von der gezeigt wurde, dass sie unmöglich leisten kann, was sie leisten soll. Die Diktatur des Proletariats stellt nicht das Erreichen der wahrhaft freien Gesellschaft sicher, sondern deren Nichterreichen (III,6.3.1.). Die Überlegungen zu dem von Marx tatsächlich verwendeten, aber nicht thematisierten, sondern vielmehr explizit negierten normativen Maßstab seines Denkens enthalten einige Pointen. Die erste Pointe besteht darin, dass dem betonten Anti-Normativismus des marxschen Denkens entgegen dessen Kritik der bürgerlichen Verhältnisse und dessen Utopie einer nachbürgerlichen Gesellschaft sehr wohl eine normative Idee zugrunde liegt, nämlich ein Freiheitsbegriff, der freilich kein moralischer ist, sondern die Autonomie des Einzelnen ganz in der gemeinschaftlich mit anderen betriebenen gesellschaftlichen Produktion verortet, in der die Entfaltung seiner Fähigkeiten zugleich die Möglichkeit der anderen zur Entfaltung ihrer steigert. Man könnte daher meinen, in dem Begriff gemeinschaftlicher Freiheit gründe die normative Dimension des Kapitals, 558 »Die freie Entwicklung der Individualitäten« erfordert deren »künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung.« (Gr 582/601).

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die sich schon bei flüchtiger Lektüre zeigt. Es ist aber die zweite Pointe dieser Untersuchung, dass der von Marx bemühte Freiheitsbegriff als normative Grundlage der Kapitalkritik untauglich ist. Zum einen ist er nicht begründet und so wenig begründbar wie der von Feuerbach sich herleitende Begriff des Gattungswesens. Zum anderen ist er unverträglich mit der propagierten positiven materialistischen Wissenschaft. Davon abgesehen erweist er sich bei näherem Hinsehen als abstrakte Idee. In ihm sind die entscheidenden Differenzierungen im Begriff menschlicher Freiheit: technisch-praktische, politisch-rechtliche, moralische Freiheit, untergegangen. Freiheit im politisch-rechtlichen und moralischen Sinn gilt als bürgerliche Ideologie. Von technisch-praktischer Freiheit kann sinnvoll nicht die Rede sein, wenn ihr Gegenbegriff, die moralischpraktische Freiheit, nicht mitgedacht werden kann. Gemessen an diesem Freiheitsbegriff verfällt jede institutionelle Verselbständigung menschlicher Verhältnisse gegen die sie hervorbringenden Individuen der Kritik. Das betrifft den Bereich der materiellen gesellschaftlichen Produktion genauso wie die politische und rechtliche Sphäre. Anders als Marx meint, ist aber die Objektivierung von Kausalität aus Freiheit, nämlich die Produktion eines gesellschaftlichen Mehrprodukts in einer technisch hochentwickelten Gesellschaft, ohne so genannte Entfremdung nicht zu haben. ›Entfremdung‹, das ist die dritte Pointe, ist nicht per se ein kritischer Begriff.559 Die von Marx für den Kommunismus als conditio sine qua non bestimmte Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit über das unter kapitalistischen Bedingungen erreichte Maß hinaus bedeutete nicht nur ein weiteres Anwachsen des Potentials der Gattung gegenüber der Natur, sondern unweigerlich auch eine Entfremdung dieses Potentials gegenüber den Indi559 Konservative Autoren sehen das in der Regel eher als Marxisten: »Der Mensch wird nur, was er ist, durch die ausdifferenzierende Objektivierung seiner Möglichkeiten, denen gegenüber er selbst sogar in ein dienendes Verhältnis tritt. Ohne solche ›Entfremdung‹ gäbe es, wie Hegel gezeigt hat, keine Bildung und keine Kultur.« (Spaemann 1981: 137). Die zeitgenössische Kritische Theorie verzichtet nicht durchweg auf Entfremdungskritik, weiß sich dabei aber aufgrund ihres phänomenorientierten Ansatzes Marx überlegen. Jaeggi (2005: 60) »rekonstruiert« den Entfremdungsbegriff auf dem Wege der »immanenten Kritik« einer »geteilten Lebensform«. Denn: »Entfremdungskritik unter heutigen Bedingungen darf nicht, muss aber auch nicht in einem starken Sinn ›essentialistisch‹ […] begründet sein.« (50) Die »begrenzte Reichweite« solchen Vorgehens gilt als Ausweis wissenschaftlicher Seriosität (vgl. Vorwort Honneth). Sicher: Wem »das Individuum (sein Befinden und seine Wünsche)« als »letzter Bezugspunkt der Entfremdungsdiagnose« (58 f.) gilt, welche bei Phänomenen wie der »kichernden Feministin« oder dem »ehrgeizigen Junglektor« ansetzt, der muss den Vorwurf des ›Objektivismus‹ nicht fürchten.

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viduen, ihren Fähigkeiten und Kräften. Dass die »Wissenschaft als das allgemeine geistige Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung« in ihrer Anwendung auf den materiellen Produktionsprozess als Produktivkraft des Kapitals erscheint, ist ein Kennzeichen der kapitalistischen Produktionsweise, dass sie aber als »getrennt von dem Wissen und Können der einzelnen Arbeiter« (RS 121) erscheint, sicher nicht. Das Gattungswissen erscheint nicht nur dem einzelnen Arbeiter, sondern prinzipiell jedem Individuum als etwas, an dem es nur unvollständig partizipieren kann. Längst vorbei die Zeiten, als Bibliothekare jedes Buch kennen konnten, weil sie keines lasen.560 Und ferner: Dass eine wahrhaft freie Gesellschaft keine Klassengesellschaft sein kann, ist sicher richtig, dass sie darum aber eine Gesellschaft ist, in welcher an die Stelle der politischen Herrschaft über Menschen die gemeinsame Verwaltung von Sachen tritt, ist eine Illusion, die einem falschen Freiheits- und Politikbegriff entspringt. Beide Formen der Entfremdung, das durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt unmittelbar bedingte Auseinandertreten von Gattungswissen und individuellem Wissen und die institutionelle Ausdifferenzierung der Gesellschaft in den Bereich der Produktion und Distribution von Gütern (nicht: Waren) einerseits und den politisch-rechtlichen andererseits, würden auch die freie Gesellschaft prägen. Eine bemerkenswerte Ausnahme in Marx’ Gedanken zum Thema Freiheit bildet die Passage über die Reiche der Notwendigkeit und Freiheit (K III). Marx deutet hier (ob absichtlich oder nicht, sei dahingestellt) zumindest an, dass der Begriff gemeinschaftlicher Freiheit nicht haltbar ist. Denn wenn die Arbeit im Reich der Notwendigkeit durch ›Not und äußere Zweckmäßigkeit‹ bestimmt ist und die ›menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt‹, nur jenseits dieser Sphäre möglich ist, können individuelle und kollektive Freiheit unter keinen gesellschaftlichen Bedingungen unmittelbar zusammenfallen. Die wahrhaft freie Tätigkeit des Menschen ist dann jenseits der arbeitsteilig organisierten Produktion der Gesellschaft angesiedelt. Nur hier kann der Einzelne seine menschlichen Kräfte betätigen, ohne dass diese Betätigung nur ein Mittel zu einem außer ihr liegenden Zweck ist. Marx deutet damit eine emphatische Auffassung von Freiheit an: Das Subjekt, welches diese Freiheit in seiner selbstzweckhaften Tätigkeit realisiert, kann nicht zugleich Funktionsorgan der gesellschaftlichen Reproduktion sein. Freilich vermag Marx die selbstzweckhafte Tätigkeit nur durch den Rekurs auf den normativen Begriff des Menschen aus den Manuskripten positiv zu charakterisieren.

560 »›Herr General‹, sagt er ›Sie wollen wissen, wieso ich jedes Buch kenne? Das kann ich Ihnen nun allerdings sagen: Weil ich keines lese!‹« (Musil 1930/54: 462).

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7.2. Der Grund der Kapitalkritik Kant hat gesehen, dass die Geschichte, die doch das Werk der Menschen und nicht der Natur ist, von ihnen aus prinzipiellen Gründen nicht ›nach einem gemeinsamen Plane‹ absichtsvoll gemacht werden kann. Seine geschichtsphilosophischen Überlegungen rekurrieren auf die regulative Idee einer ›Naturabsicht‹ und bewegen sich im Modus des ›als ob‹ (I,3.). Kants Einsicht und sein Vorgehen scheinen unvereinbar mit Marx’ und Engels’ Auffassung, wonach zwischen der Vorgeschichte und Geschichte der Menschen zu unterscheiden sei, weil die eigentliche Geschichte erst dann beginne, wenn die Menschen ihr Geschick bewusst in die eigenen Hände nähmen. In der Tat ist ihnen mit Kant zu widersprechen, wenn sie ein Kollektivsubjekt Menschheit für möglich halten, das Geschichte nach dem Modell der Handlungsrationalität einzelner Subjekte ins Werk zu setzen vermag.561 Diese Kritik an Marx und Engels trifft aber weder die Kapitaltheorie noch die vernünftig begründete Kritik an ihrem Gegenstand. Sie trifft nicht die Kapitaltheorie, denn deren Gegenstand ist nicht die Geschichte als solche oder die materielle Reproduktion von Gesellschaften überhaupt, sondern die kapitalistische Produktionsweise. Sie trifft auch nicht die Kritik dieser Produktionsweise, denn kritisiert wird diese nicht deshalb, weil sie die »Standards singulärer Handlungsrationalität« (Schnädelbach 2004: 287) verfehlt, sondern weil sie mit dem vernünftigen Anspruch der Einzelnen auf Autonomie unvereinbar ist. Die Einsicht, dass der objektive ökonomische Zweck, der das gesellschaftliche Ganze bestimmt, mit den objektiven Zwecken, die für das Individuum Pflicht sind, unvereinbar ist, ist die in die moralische Notwendigkeit der praktischen Abschaffung des ökonomischen Zwecks. Die moralisch begründete Forderung lautet dann, dass an die Stelle des jedem Einzelnen objektiv vorgegebenen Zwecks der gesellschaftlichen Produktion ein von den Einzelnen gemeinsam bestimmter Zweck treten solle. Die Forderung zielt auf eine Veränderung der Produktionsverhältnisse, lässt aber offen, wie genau diese auszusehen hat. Gefordert wird nicht der Übergang in eine ›Planwirtschaft‹. Das Kapital hat verschiedene Dimensionen, die in der Darstellung nur analytisch voneinander zu unterscheiden sind. Als Theorie der 561 Nach der Deutschen Ideologie verläuft die bisherige Geschichte der Menschen »naturwüchsig«, sie ist »nicht einem Gesammtplan frei vereinigter Individuen subordinirt« (DI 104/72). Dagegen behandle der »Kommunismus« »alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen«, entkleide sie ihrer Naturwüchsigkeit und unterwerfe sie »der Macht der vereinigten Individuen« (101/70). Engels spricht 1882 vom »Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Nothwendigkeit in das Reich der Freiheit« (UW 623/226).

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kapitalistischen Produktionsweise entwickelt es deren allgemeine Bestimmungen (den allgemeinen Begriff); als Ideologiekritik der Ökonomie zeigt es, dass die Vorstellungen der im kapitalistischen Alltag befangenen Menschen von ihrer eigenen Produktionsweise notwendig verkehrt sind; als Kritik der Produktionsweise deutet es darauf, dass diese aus vernünftigen, das heißt moralischen Gründen überwunden werden muss. Das Kapital ist demnach Kapitalkritik in einem zweifachen Sinn: Als Ideologiekritik der Ökonomie ist es wesentlich eine Kritik falscher Vorstellungen, die ein Fundament in der Sache haben. Damit ist es aber noch keine Kritik der Sache selbst. Die Vorstellungen vom Kapital als Quelle des Profits und von der Arbeit als Quelle des Arbeitslohns beispielsweise sind verkehrt. Ihre theoretische Erklärung und mithin die Erklärung ihrer Verkehrtheit aus der ›Mechanik‹ des gesellschaftlichen Produktionsprozesses impliziert aber so wenig eine Kritik an diesem Produktionsprozess, wie die Erklärung der Vorstellung vom allmorgendlichen Sonnenaufgang aus der Himmelsmechanik eine Kritik an dieser. Um zugleich eine Kritik der Sache selbst zu sein, muss die Kapitaltheorie auf einen normativen Maßstab rekurrieren, den sie selbst nicht begründen kann (im Folgenden meint ›Kapitalkritik‹ die Kritik der Produktionsweise). Gegen Marx und das Gros der Marxisten und Marxologen562 konnte gezeigt werden, dass der moralische Begriff der Freiheit, Freiheit als Autonomie im kantischen Sinne, für die Kapitaltheorie als Kapitalkri­ tik konstitutiv ist. Die Erhärtung dieser These erfolgte grob gesagt auf zwei Wegen. Auf dem ersten wurde gezeigt, dass der kantische Begriff der Autonomie als normative Grundlage der Kapitalkritik tauglich ist. Auch wenn der moralischen Kritik der kapitalistischen Produktionsweise der Adressat fehlt, weil diese als eine Totalität nicht auf das Wollen und Handeln bestimmter Menschen oder Menschengruppen zurückgeführt werden kann, so ist doch die Empörung über die Auswirkungen dieser Produktionsweise moralisch berechtigt und die Kritik an ihr moralisch begründet. Nur auf den ersten Blick folgt aus der Strukturanalogie von Kapital und Objektivem Geist (vgl. III, 2.; III, 4.3.3), dass für jenes gelten muss, was Hegel für diesen behauptet, und eine moralische Kritik des Kapitals genauso sinnlos ist wie eine moralische Kritik der Geschichte.563 Erkennt nämlich der Adressat des unbedingten Sol562 Zu den wenigen Ausnahmen zählt Zunke (2011). 563 Nach Hegel bewegt sich die Weltgeschichte »auf einem höheren Boden, als der ist, auf dem die Moralität ihre eigentliche Stätte hat, welche die Privatgesinnung, das Gewissen der Individuen, ihr eigentümlicher Wille und ihre Handlungsweise ist«. Was der an und für sich seiende Endzweck des Geistes fordere und vollbringe, liege »über den Verpflichtungen und der Imputationsfähigkeit und Zumutung, welche auf die Individualität in Rücksicht ihrer Sittlichkeit fällt«. (PhGsch 90 f.).

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lens, dass die Bedingungen, unter denen er zu handeln gezwungen ist, sein moralisches Handeln systematisch torpedieren, und erkennt er weiter, dass diese Bedingungen nicht naturgegeben und unveränderbar sind, sondern gesellschaftlich hergestellt und veränderbar, dann muss das seine Empörung über und seine Kritik an diesen Verhältnissen provozieren. Es kann nicht das vernünftig bestimmte Interesse der Menschen sein, sich einem ihnen fremden Zweck der gesellschaftlichen Produktion zu unterwerfen. Dies ist unvereinbar mit ihrem moralisch, also vernünftig begründeten Anspruch auf Würde, und es bedroht obendrein die weitere Existenz der Gattung. Auf dem zweiten Weg wurde dargetan, dass die Darstellung des Ka­ pitals in der Tat mit der These kompatibel ist. Voraussetzung für die Beschreitung dieses Wegs war, die Theorie qua Theorie ernst zu nehmen. So konnte gezeigt werden: Der Gegenstand der Theorie wird im Kapital als das charakterisiert, was er ist, und zugleich als etwas präsentiert, das nicht sein soll. Die Darstellung macht den Gegenstand der Theorie dem endlichen Subjekt, das Autor und Adressat des moralischen Gesetzes ist, kenntlich als etwas, das moralisch zu kritisieren ist. Als kritische Theorie der bürgerlichen Ökonomie impliziert das Kapital die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft als zwei nicht aufeinander oder auf ein Drittes zurückführbare Perspektiven des endlichen Vernunftwesens auf sich und die Welt. Dabei sind es die genannten ästhetischen Mittel, die den Gegenstand als einen moralisch zu kritisierenden kenntlich machen. Aus der Perspektive reiner praktischer Vernunft verweisen die Charakterisierung der ökonomischen Akteure als Personifikationen ökonomischer Verhältnisse und die historiographischen Passagen auf den moralischen Grund der Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise. Der moralische Grund der Kritik ist der Kapitaltheorie indirekt zu entnehmen. Zufolge dieser Theorie sind die Menschen in der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise nicht mehr den Kräften der Natur ausgeliefert, sondern zunehmend in der Lage, diese bewusst für ihre Zwecke zu nutzen. Durch den damit erreichten Stand der Produktivkraft der Arbeit ist die Freiheit von unmittelbarem Naturzwang realisiert. Doch die Produktivkraft der Arbeit ist im kapitalistischen Produktionsverhältnis die des Kapitals. Die Wirklichkeit der Freiheit von der ersten Natur ist hier verkehrt in die Abhängigkeit von der zweiten, gesellschaftlichen Natur. Die gesellschaftliche Reproduktion unterliegt einer eigenen Gesetzmäßigkeit, sie ist autonom. Ihre Autonomie bedeutet für die empirischen Subjekte Heteronomie.564 564 Gängige Politiker-Formulierungen wie die von den ›alternativlosen‹ Entscheidungen illustrieren dies jeden Tag aufs Neue. Einschlägig ist das Wort von Kanzlerin Merkel (2011): »[W]ir werden Wege finden, wie die

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Damit sind zwei zentrale Begriffe der praktischen Philosophie Kants genannt: ›Autonomie‹ und ›Heteronomie‹. Und in der Tat wäre die Kapitalkritik ohne Rekurs auf diese Begriffe nicht begründet.565 Sind die lebendigen Subjekte Funktionsorgane eines allgemeinen, ›übergreifenden Subjekts‹ namens Kapital, sind sie also wesentlich Mittel zum Zweck der Kapitalverwertung, dann ist das nur zu kritisieren unter der Voraussetzung, dass es eine Norm gibt, welche vorschreibt, dass Menschen niemals nur als Mittel, sondern immer zugleich auch als Zwecke an sich selbst zu betrachten sind, wie es in einer Variante des kategorischen Imperativs in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten heißt.566 Es ist also nur zu kritisieren unter der Voraussetzung der Selbstzwecklichkeit des Menschen. Die Kapitalkritik muss den kantischen Begriff der Selbstzwecklichkeit des Menschen implizit voraussetzen. Er ist eine notwendige Bedingung ihrer Möglichkeit, denn nur unter seiner Voraussetzung sind die Individuen als Subjekte nicht nur theoretischer oder instrumenteller, sondern auch reiner praktischer Vernunft bezeichnet. Als Subjekte reiner praktischer Vernunft sind sie nicht nur fähig, ihre Handlungen als gegebenen Zwecken angemessen zu begründen, sondern können auch beurteilen, ob die Grundsätze ihres Handelns von der Gemeinschaft der Subjekte praktischer Vernunft gutgeheißen werden können bzw. müssen. Sie sind für praktische Gründe empfänglich, die ein Sollen ausdrücken und durch kein vorgängiges Wollen bedingt sind, und sie können unterscheiden zwischen ihren zweckrationalen Interessen in der bestehenden Produktionsweise und ihrem moralischen, das heißt vernünftig bestimmten Interesse an der Abschaffung dieser Produktionsweise, welches Interesse mit dem der Menschheit zusammenfällt. Als Subjekte reiner praktischer Vernunft haben sie eine Würde und sind zu der Einsicht fähig, dass die kapitalistische Verfassung der gesellschaftlichen Produktion mit dieser Würde unvereinbar ist. Die Kritik des Kapitals erfolgt aus der Perspektive reiner praktischer Vernunft, einer Perspektive, die mit den Mitteln der Kapitaltheorie selbst nicht begründet werden kann, von ihr aber auch nicht ausgeschlossen wird. Aus dieser Perspektive und vor dem Hintergrund der Kapitaltheorie betrachtet lassen sich vier Aspekte der moralischen Kritik an der parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird, dass sie trotzdem auch marktkonform ist.« 565 Forst (2013: 116 f.) sieht die Bedeutung des Autonomiebegriffs für die Kapitalkritik, will ihn aber nicht kantisch als Grund der Würde des Menschen verstehen, sondern im Sinne »gesellschaftlicher Autonomie als kollektiver Autonomie«. »Mehr als gegenseitige Instrumentalisierung und direkte Ausbeutung« kritisiere Marx den »Mangel an Transparenz und Kontrolle«. 566 Vgl. GMS B 66 f.; vgl. KpV A 155 f. Nach Petry (1916: 20 f.) setzt Marx’ Lehre vom Fetischismus »Kants Lehre vom Primat der praktischen Vernunft« voraus. Vgl. auch Lutz-Bachmann (1988: 174).

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kapitalistischen Produktionsweise unterscheiden. Sie kritisiert erstens, dass die Menschen, sofern sie nur ihre Arbeitskraft besitzen, gezwungen sind, Mehrwert zu produzieren, was nichts anderes bedeutet, als dass sie gezwungen sind, sich von den Kapitalisten ausbeuten zu lassen (1). Sie kritisiert zweitens, dass die Menschen als Arbeiter und Kapitalisten bloße Funktionsorgane der Kapitalverwertung sind (2). Sie kritisiert drittens, dass die kapitalistische Produktionsweise ihre eigenen Voraussetzungen, nämlich den Arbeiter und die natürlichen Grundlagen der Produktion, ruiniert (3). Und sie kritisiert schließlich viertens, dass die kapitalistische Form der gesellschaftlichen Produktion unvereinbar ist mit der gemeinsamen gesellschaftlichen Zwecksetzung und Kontrolle dieser Produktion (4). (1) Im Zentrum steht die Kritik an der Mehrwertproduktion, die auf der Ausbeutung derjenigen beruht, die ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen müssen. Entscheidend ist nun, was unter ›Ausbeutung‹ zu verstehen ist. In der Regel wird mit dem Terminus die Verelendung der Arbeiter und ihrer Familien assoziiert. Marx-Kritiker behaupten dann im Umkehrschluss, dass dort, wo keine Verelendung stattfinde, auch keine Ausbeutung vorliege. Wäre dem so, hätte Marx eine Theorie absoluter Verelendung vertreten, also behauptet, die Lage der Arbeiter würde sich aufgrund immer geringerer Lohneinkommen immer weiter verschlechtern. Eine solche Theorie findet sich zwar in den frühen ökonomischen Schriften, nicht aber im Kapital.567 Ausbeutung bedeutet nicht notwendig, dass diejenigen, die ausgebeutet werden, ihre Grundbedürfnisse nicht mehr oder gerade noch so befriedigen können, und steigender Lebensstandard der Arbeiter ist nicht gleichbedeutend mit der tendenziellen Aufhebung der Ausbeutung. Erhöhte Exploitation ist mit erhöhtem Lebensstandard vereinbar. Sinken infolge steigender Produktivkraft der Arbeit sowohl Wert als auch Preis der Arbeitskraft, aber aufgrund von Lohnkämpfen der Preis nicht so stark wie der Wert, so erhält der Arbeiter bei gesunkenem Nominallohn mehr Lebensmittel als vorher. Sein Reallohn oder seine Kaufkraft wären gestiegen. Zugleich hätte sich durch den sinkenden Preis der Arbeitskraft die Mehrwertrate erhöht.568 Der Arbeiterklasse wäre es temporär gelungen, 567 Im Manuskript Arbeitslohn von 1847 heißt es: »Im Laufe der Entwicklung fällt also der Arbeitslohn doppelt: Erstens: relativ im Verhältnis zur Entwicklung des allgemeinen Reichtums. Zweitens: absolut, indem die Quantität Waren, die der Arbeiter im Austausch erhält, immer geringer wird.« (Al 544). 568 Vgl. K I² 486 ff./543 ff. Die Ausdrücke ›Lebensstandard‹ und ›Kaufkraft‹ haben einen ideologischen Gehalt. Weil sie der Betrachtung der ›Oberfläche‹ des Gesamtprozesses entstammen, ist in ihnen jede Beziehung auf die Mehrwert-Produktion, die Ausbeutung der Arbeitskraft, ausgelöscht. »Der Werth des Arbeitslohns ist zu schätzen nicht nach der Quantität Lebensmittel, die der Arbeiter erhält, sondern nach der Quantität Arbeit, die diese Lebensmittel kosten«, also »nach dem proportionellen Antheil den der Arbeiter vom Gesammtproduct oder rather vom Gesammtwerth dieses Products

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das der Wertbestimmung der Arbeitskraft immanente »historische[] und moralische[] Element« (K I² 187/185) zu ihren Gunsten zu beeinflussen. »So wenig aber bessere Kleidung, Nahrung, Behandlung und ein größeres Peculium das Abhängigkeitsverhältniß und die Exploitation des Sklaven aufheben, so wenig die des Lohnarbeiters.« (K I² 565/646) Der Kampf um höhere Löhne ist mithin kein Kampf gegen Ausbeutung und der Kampf um den sogenannten ›gerechten Lohn‹ ist reine Ideologie. Ausbeutung in kapitalistischer Form gründet im Verhältnis von Kapital und Arbeit und ist nur mit diesem Verhältnis selbst abzuschaffen. Näher betrachtet ist der Begriff der Ausbeutung ein Bestimmungsstück der Mehrwerttheorie, die keine empirische Theorie ist. Der Begriff des Mehrwerts resultiert nicht aus empirischen Untersuchungen, etwa aus der Begehung von Fabriken oder der Auswertung von Statistiken, sondern ist das Ergebnis der systematischen Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Kapitalverwertung unter der Voraussetzung von Äquivalententausch. Im Unterschied zum Begriff des Mehrwerts, der einen ökonomischen Sachverhalt bezeichnet und insofern ein affirmativer Begriff ist, ist der Begriff der Ausbeutung kritisch: er bezeichnet etwas als etwas, das nicht sein soll.569 Darüber, dass dem Kapital zufolge Ausbeutung nicht sein soll, kann kaum ein Zweifel bestehen. ›Ausbeutung‹ hat in Bezug auf Menschen, anders als etwa in Bezug auf Goldminen, einen moralisch-normativen Gehalt.570 Wer sich für die Ausbeutung einer Goldmine ausspricht, zieht damit in der Regel (wenn keine ökologischen Bedenken dagegensprechen) nicht moralische Kritik auf sich, wer sich für die Ausbeutung einer bestimmten Gruppe von Menschen ausspricht, schon. ›Ausbeutung‹ in Beziehung auf die Arbeiterklasse als einen Ausdruck ohne normativen Gehalt zu verwenden oder zu verstehen, ist dem allgemeinen Sprachgebrauch entgegen und ergibt wenig Sinn. Wenn Marx das Kapital metaphorisch ins Reich der Vampire und Werwölfe versetzt, wenn er ihm sarkastisch das Menschenrecht auf ›gleiche Exploitation der Arbeitskraft‹ zuspricht und das aus dem Verwertungsprozess resultierende Elend der Arbeiterbevölkerung eindringlich beschreibt, dann kann dies nur als Ausdruck moralischer Empörung und Kritik verstanden werden.571 Folgt man den Interpreten, die das Kapital im Namen des dialektischen Materialismus und/oder der Wissenschaft von moralischen und erhält. Es ist möglich, daß in Gebrauchswerthen geschätzt (Quantität von Waare oder Geld) sein Arbeitslohn steigt (bei steigender Productivität) und doch dem Werth nach fällt und umgekehrt.« (ÖM III 1042). 569 Vgl. Marcuse (1936a: 37). 570 Nutzinger (1984: 124) nennt den Ausdruck »wertgeladen«, verfehlt aber die Werttheorie völlig, indem er sie in die Nähe »einer Theorie des ›gerechten Lohnes‹« rückt (125 f.). 571 Im ersten Band wird dem Kapital bescheinigt: ein »Werwolfsheißhunger für Mehrarbeit« (I² 249/258), die »Aussaugung der Arbeitskraft« (I² 249/258),

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philosophischen Erwägungen freihalten möchten, geht das Empörungsvokabular dort ganz auf das Konto seines Verfassers und hat mit dessen Wissenschaft nichts zu tun. Der Leser muss dies berücksichtigen und in Abzug bringen, will er die Wissenschaft von der kapitalistischen Produktionsweise in Reinkultur rezipieren. Vor dem Hintergrund des bislang Gesagten stellen sich die Dinge anders dar. Das Empörungsvokabular ist ein Indiz dafür, dass es sich beim Kapital nicht um eine ökonomische Theorie im Sinne Ricardos handelt. Die Empörung ist nicht eine subjektive, dem wissenschaftlichen Gehalt äußerliche Zutat, sondern integraler Bestandteil der Darstellung. Die Darstellung trägt damit dem Umstand Rechnung, dass die Kapitaltheorie nur aus der Perspektive reiner praktischer Vernunft als Kapitalkritik fungieren kann. Sie kann diese nicht theoretische, sondern moralisch-praktische Perspektive selbst nicht begründen, aber anzeigen. Nur weil Mehrwertproduktion gleichbedeutend ist mit Ausbeutung der Arbeiter, ist sie zu kritisieren. Wäre die Produktion von Mehrwert nur ein von Marx ›naturwissenschaftlich treu‹ konstatierter Sachverhalt, hätte er nicht von ›Ausbeutung‹ sprechen dürfen, sondern von der profitablen Anwendung der Arbeitskraft durch den Kapitalisten. Die Anwendung der Arbeitskraft durch den Kapitalisten ist aber dem Kapital zufolge Ausbeutung, weil die Träger dieser Arbeitskraft, die Arbeiter, in der materiellen Produktion bloßes Mittel für die Realisierung eines abstrakten Zwecks sind, der vernünftigerweise nicht der ihre sein kann, nämlich des Zwecks der Kapitalverwertung. Die Vernunft, die hier ins Feld geführt wird, ist reine praktische Vernunft, das Vermögen moralisch zu urteilen und zu handeln. (2) Kritisiert wird ferner, dass die Individuen auch als Kapitalisten bloße Funktionsorgane der Kapitalverwertung sind. Als ›für sich seiendes Kapital‹ müssen sie sich selbst und die Arbeiter zu Mitteln der Kapitalverwertung machen. Wie den Arbeitern die Notwendigkeit zum Verkauf ihrer Arbeitskraft als ein Sachzwang gegenübertritt, so den Kapitalisten die Verwertung ihres Kapitals durch die profitable Anwendung dieser Arbeitskraft. Im entwickelten Kapitalismus sind tendenziell alle Individuen ein »Vampyrdurst nach lebendigem Arbeitsblut« (I² 261/271); es sei »rücksichtlos gegen Gesundheit und Leben des Arbeiters« (I² 273/285), »gleiche Exploitation der Arbeitskraft« sei sein »erstes Menschenrecht« (I² 294/309), die Besitzer der Arbeitskraft seien sein »Exploitationsmaterial« und »Ausbeutungsfeld« (I² 385/417); Erfindungen, geeignet, Menschen die Mühsal der Arbeit zu erleichtern, fungierten unter seiner Herrschaft oftmals »bloß als Kriegsmittel […] wider Arbeiteremeuten« (I² 420/459). Der Kampf der industriellen Kapitalisten gegen empörende feudale Vorrechte und das Zunftwesen konnte ursprünglich als einer für die Freiheit erscheinen, retrospektiv erweise er sich als Kampf für die »freie[] Ausbeutung des Menschen durch den Menschen« (I³ 669/743).

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der Heteronomie des Wertgesetzes ausgeliefert. Gleichwohl gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen Kapitalisten und Arbeitern. Anders als die Eigentümer von Produktionsmitteln können die Eigentümer der Ware Arbeitskraft ihr Eigentum nicht von ihrer physischen Existenz abtrennen. Da nun in der bürgerlichen Gesellschaft die Selbsterhaltung der Individuen über den Kauf und Verkauf von Waren vermittelt ist, die Arbeiter aber nur über ihre Ware Arbeitskraft verfügen, ist der Verkauf dieser ihrer Ware direkt erzwungen durch die Naturnotwendigkeit ihrer Reproduktion als bedürftige Wesen. Die Kritik an der Ausbeutung der Arbeiter ist insofern ein »Spezialfall der allgemeineren Mediatisierungskritik«, und nur diese, »nicht die Ausbeutungsthese, betrifft auch die Bourgeois«. (Lange 1978: 38 Fn. 79)572 Allerdings zielt ›die Ausbeutungsthese‹ auf den Kern des Kapitalverhältnisses, die Mehrwertproduktion, während die ›allgemeinere Mediatisierungskritik‹ für sich betrachtet auf eine Entfremdungskritik hinausläuft, die ganz ohne den Begriff des Kapitals auskommt, wie die frühen Schriften Marxens zeigen.573 (3) Die ökonomischen ›Sachzwänge‹, denen die Menschen als gesellschaftlich Vereinzelte unterliegen, tendieren dazu, die Voraussetzungen jeder gesellschaftlichen Produktion, den Arbeiter (dessen Arbeitskraft nicht notwendig Ware sein muss) und die natürlichen Grundlagen, zu ruinieren. »Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die 572 Lange versteht das Mediatisierungsverbot allerdings nicht kantisch, als gründend in reiner praktischer Vernunft, sondern leitet es mit von Magnis (1975) aus dem normativen Begriff des Menschen als Gattungswesen her. Indem er das Zum-Mittel-gemacht-Werden aller Menschen damit erklärt, sie alle würden im Kapitalismus »von durch sie nicht kontrollierbaren Marktprozessen abhängig werden« (37), verharmlost er Marx’ Begriff der kapitalistischen Gesellschaft zu einer Marktgesellschaft im Sinne Adam Smiths. Eine ähnliche Verharmlosung findet sich dort, wo behauptet wird, die Ausbeutungsthese sei unabhängig von der Werttheorie, weil sie allein besage, dass nicht die Gesellschaft, sondern die Menschen, »die das Entscheidungsmonopol an der Anwendung der Produktionsmittel« innehaben, »die Kontrolle über Bestimmung und Verteilung des Mehrprodukts« ausüben« (Kolakowski 1976: 377). Nach Popper (1945: 215) ist »die Werttheorie ein völlig überflüssiger Teil der Theorie der Ausbeutung; und dies gilt unabhängig von der Frage, ob sie wahr ist oder nicht.« Nach Walzer (2009: 590) ist Ausbeutung falsch, »ganz gleich, ob die Arbeitswerttheorie zutrifft oder nicht«. 573 Vgl. die frühe Intuition in der Heiligen Familie: »Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz.« (HF 37).

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Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprocesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichthums untergräbt: Die Erde und den Arbeiter.« (K I² 477/529 f.) Marx zeigt im Kapitel über den ›Arbeitstag‹, dass und wie die selbstzerstörerische Tendenz des Kapitals historisch den Staat auf den Plan gerufen hat, der als ›ideeller Gesamtkapitalist‹574 das allgemeine Interesse des gesellschaftlichen Kapitals an dem Fortbestand der Arbeiterklasse gegen den Widerstand besonderer Kapitalfraktionen gesetzlich durchgesetzt hat. Und wenn er darauf deutet, dass der Selbstlauf des Kapitals auch die natürlichen Grundlagen der Produktion zu ruinieren droht, bezieht Marx den normativen Standpunkt der höheren Gesellschaftsformation. »Von dem Standpunkt einer höhern ökonomischen Gesellschaftsformation wird das Privateigenthum einzelner Individuen an dem Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen wie das Privateigenthum eines Menschen auf einen andern Menschen. Selbst eine Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigenthümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre usefruitiers und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.« (K III 718/784)575 Dass der Staat respektive heute die ›Staatengemeinschaft‹ auf die drohende Zerstörung der natürlichen Grundlagen der Produktion reagieren würden, konnte Marx noch nicht erkennen. Retrospektiv zeigt sich aber, dass diese Reaktion ähnlich wie bei der Regulierung des Arbeitstags kommen musste. Ob sie unter den Bedingungen einer global gewordenen kapitalistischen Produktion erfolgreich sein kann, wird sich zeigen. Ihr Erfolg oder Misserfolg kann auch mit den Mitteln der Kapitaltheorie nicht prognostiziert werden.576 (4) Die genannten Punkte zusammen genommen machen deutlich, dass die Kritik einer historisch neuen Form gesellschaftlicher Herrschaft 574 Der Ausdruck stammt von Engels: vgl. AD pass. 575 Vgl. K II 202 f./246 f.; ÖM IV 1436. Saito (2016) weist die gängige Kritik, wonach Marx wie seine bürgerlichen Kontrahenten einem naiven Fortschrittsglauben anhing, der das Heil in einer technisch immer raffinierteren Ausbeutung der Natur sah, unter Hinweis auf die im Zuge der MEGA² zugänglich gewordenen umfangreichen Exzerpte und Notizen zu ›ökologischen‹ Themen vehement zurück. Seine Ehrenrettung des Autors Marx kulminiert in der Behauptung, der »späte Marx« habe »die Störung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur sogar als den gravierendsten Widerspruch des Kapitalismus« (304) betrachtet. 576 Wright (2013: 666 f.) zufolge zwingt der Klimawandel »den Staat dazu, in weitreichendem Maße umweltrelevante öffentliche Güter zur Verfügung zu stellen«. Die Ausweitung seiner Macht könne in einen »autoritären Etatismus« führen, der die Kapitalinteressen schützt, er könne aber auch »zu einer zunehmenden demokratischen Unterordnung des Kapitalismus unter die Erfordernisse ökologischer Reproduktion führen«.

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gilt. Kritisiert wird eben nicht die historisch fortgeschrittenste Gestalt einer Klassengesellschaft, in der eine Minderheit über eine Mehrheit herrscht, sondern eine gänzlich neue Form von Klassengesellschaft, in der die Herrschenden nur mehr als Funktionsorgane eines anonymen ökonomischen Prozesses fungieren, der als quasi natürlicher erscheint. Arbeiter und Kapitalisten sind den ›Sachzwängen‹ der Kapitalverwertung unterworfen. Der gesellschaftliche Zusammenhang, den sie durch ihr Handeln hervorbringen, tritt ihnen als eine unabhängig von ihrem Handeln existierende zweite Natur entgegen. Waren in vorbürgerlichen Zeiten die gesellschaftlichen Verhältnisse als Herrschaftsverhältnisse transparent, der Naturzusammenhang dagegen undurchsichtig, so verhält es sich in der modernen bürgerlichen Gesellschaft beinahe umgekehrt. Die Termini, die Marx verwendet, wenn er die Intransparenz der gesellschaftlichen Verhältnisse theoretisch erklärt, sind ›Fetisch‹ (Waren-, Geld-, Kapitalfetisch usf.), ›Mystifikation‹, ›Verkehrung‹, ›Verrückung‹, ›Verdinglichung‹. Sie bezeichnen den auf den verschiedenen Stufen der systematischen Darstellung577 je unterschiedlich konkret gefassten identischen Sachverhalt der »Versubjektivierung der Sachen« und »Versachlichung der Subjekte« (ÖM IV 1494). Das »bestimmte gesellschaftliche Verhältniß«, in dem die Menschen sich als Waren- und Geldbesitzer, als Eigentümer von Produktionsmitteln oder Arbeitskraft aufeinander beziehen, nimmt »für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen« (K I² 103/86) (Warenfetisch) an; die Geldfunktionen erscheinen ihnen als natürliche Eigenschaften eines Dinges, des Goldes (Geldfetisch); die Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit tritt ihnen als solche des Kapitals entgegen (Kapitalfetisch). Die Darstellung der ›Konkurrenz‹ zeigt schließlich, inwiefern die Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise an der Oberfläche ihres Gesamtreproduktionsprozesses »vollendet« ist – ausgedrückt in der »trinitarischen« Formel als »Zusammenhang der Bestandteile des Werts und des Reichtums überhaupt mit seinen Quellen«: Kapital und Zins, Boden und Rente, Arbeit und Arbeitslohn. Die »stofflichen Productionsverhältnisse« fallen hier »mit ihrer socialen Bestimmtheit« unmittelbar zusammen. (K III 852/838) Weil der Gesamtreproduktionsprozess auf seiner Oberfläche als alternativlose Form gesellschaftlicher Reproduktion erscheint, sind die der Oberfläche verhafteten Vorstellungen der Menschen durchweg affirmativer und ideologischer Natur. »Die verdrehte Form, worin die wirkliche 577 In K III 7/33 heißt es: »Die Gestaltungen des Capitals, wie wir sie in diesem Buch entwickeln, nähern sich also schrittweis der Form, worin sie auf der Oberfläche der Gesellschaft, im gewöhnlichen Bewußtsein der Productionsagenten selbst, und endlich in der Action der verschiednen Capitalien auf einander, der Concurrenz auftreten.«

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Verkehrung sich ausdrückt, findet sich natürlich reproducirt in den Vorstellungen der Agenten dieser Productionsweise« (ÖM IV 1453)578 und den Vorstellungen der Ökonomen, die mehr oder minder alle diesem Schein erliegen. Der durch konkurrierende Interessen der Revenuequellen-Besitzer motivierte Streit und der wissenschaftliche Disput der Ökonomen stellen die Produktionsverhältnisse als solche daher nicht in Frage; sie bewegen sich stets »innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten«.579 »Formeln, denen es auf der Stirn geschrieben steht, daß sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsproceß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsproceß bemeistert«, gelten der politischen Ökonomie als »selbstverständliche Naturnothwendigkeit«. Vorbürgerliche Formen gesellschaftlicher Reproduktion »werden daher von ihr behandelt, wie etwa von den Kirchenvätern vorchristliche Religionen«. »Ainsi il y a eu de l’histoire, mais il n’y en a plus.« (K I² 111 u. Anm. 33/95 f. u. Anm. 33) Das fehlende revolutionäre Klassenbewusstsein der Arbeiterbevölkerung und ihr die Produktionsverhältnisse bestätigendes Verhalten sind nach alledem nicht verwunderlich, sondern schlüssig erklärt. Im Lichte dieser Erklärung erscheint die frühe Revolutionstheorie von Marx (und Engels) als ein Romantizismus, der sich einem unzureichenden ökonomischen Wissen verdankt und durch die Kapitaltheorie entzaubert ist. Hatten die frühen Überlegungen zur Revolution stets darauf abgestellt, die Arbeiter würden die Negativität der Produktionsweise durch Verarmung und Verelendung unmittelbar erfahren und derart zur Ausbildung eines revolutionären Klassenbewusstseins disponiert, so ist mit der Kapitaltheorie zu erklären, warum dergleichen Erfahrungen in der entwickelten Produktionsweise nicht gemacht wurden und werden. Drei Gründe sind zu nennen. Zum einen führt die Ausbeutung der Arbeiterklasse nicht notwendig zu ihrer Pauperisierung und Verelendung. Ausbeutung und steigender Lebensstandard schließen einander nicht aus. Und tatsächlich gehört es zur historischen Erfahrung der Arbeiterklasse, dass sich ihr Lebensstandard verbessern kann. Wo die Arbeiter Not und Elend erfahren, lasten sie diese deshalb nicht der Produktionsweise als solcher an. Zweitens enthält die Kapitaltheorie kein Zusammenbruchstheorem.580 Krisen 578 Marx unterscheidet an dieser Stelle scharf das Tun der Vulgärökonomen, die nur die ökonomischen Alltagsvorstellungen in »eine doktrinäre Sprache« übersetzen, von »dem Drang der politischen Ökonomen, wie Physiokraten, A. Smith, Ric[ardo], den innren Zusammenhang zu begreifen«. Die Theorien über den Mehrwert zeigen aber, dass auch Smith und Ricardo immer wieder dem Schein aufsitzen. 579 Marx gebraucht die Formulierung in einem anderen Zusammenhang: KGP 23/29. 580 Dem allgemeinen Begriff der Krise zufolge, der sich aus den marxschen Manuskripten gewinnen lässt, führt diese weder zum Zusammenbruch noch

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sind ihr zufolge ein integraler Bestandteil der kapitalistischen Entwicklung. Auch dies deckt sich mit der Erfahrung der Arbeiterklasse. Drittens erklärt die Kapitaltheorie, warum die Arbeitskraftbesitzer »die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze« (K I² 663/765) anerkennen und daher ebenso selbstverständlich ihre Interessen in dieser Produktionsweise, durch den Kampf für höhere Löhne und bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, realisieren wollen. Zwar erkennen die Arbeiter, dass die Profite schneller wachsen als die Reallöhne, aber sie wissen auch, dass aus den Profiten akkumuliert wird und Produktivvermögen nicht individuell konsumiert werden kann. Ihnen ist zwar bewusst, dass sie gegenüber den anderen Revenuequellen-Besitzern im materialen (nicht nur materiellen) Sinn nicht gleichberechtigt sind, aber ihr der Oberfläche verhaftetes Denken zielt naturgemäß da­rauf, »die Ungleichheit noch auf der Ebene der Verkehrung zu reflektieren und Forderungen nach Abhilfe aufzustellen«. Der Kampf für bessere Arbeitsund Lebensbedingungen leistet derart »dem Kapital bei der Exekution seiner Zwangsgesetze Hilfestellung« (Sieferle 1979: 188). Kurzum: Dass der Klassenkampf aus einem politischen Geschehen innerhalb der Grenzen bürgerlich-kapitalistischer Produktionsverhältnisse notwendig zu einem revolutionären Geschehen wird, ist der Kapitaltheorie nicht zu entnehmen. Sie ist daher nicht zugleich auch Revolutionstheorie. Marx hat freilich den Kern der frühen Revolutionstheorie nicht gänzlich verworfen. Auch im Kapital, in dem der Schein der Oberfläche überzeugend dargestellt ist, soll die Produktionsweise selbst garantieren, dass ein Zustand eintritt, der den Arbeitern ihre Ausbeutung unmittelbar sinnfällig macht und die Abschaffung der Produktionsverhältnisse für sie zur praktischen Notwendigkeit werden lässt. Marx beruft sich dabei auf ein von ihm entdecktes Gesetz, »das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation«, welches »gleich allen andren Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert« wird und sich daher als Tendenz geltend macht. Es besagt: »Je größer der gesellschaftliche Reichthum, das funktionirende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, als auch die absolute Größe der Arbeiterbevölkerung und die Produktivkraft ihrer Arbeit, desto größer die relative Surpluspopulation oder industrielle Reservearmee.« Und: »Je größer aber diese Reservearmee im Verhältniß zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidirte Surpluspopulation oder die ist sie ein notwendiges Durchgangsmoment in der Wiederherstellung eines ›Gleichgewichts‹. Krisen sind ein produktives Element kapitalistischer Entwicklung, weil sie deren immanente Widersprüche gewaltsam lösen. »Damit wird eine inhärent krisenhafte Form kapitalistischer Dynamik angesprochen, die der Dichotomie von Gleichgewicht und Ungleichgewicht, die in der herrschenden ökonomischen Theorie ganz selbstverständlich vorausgesetzt wird, den Boden entzieht.« (Heinrich 2006: 369); vgl. Zech (1983: 101).

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Arbeiterschichten, deren Elend im umgekehrten Verhältniß zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der officielle Pauperismus.« (K I² 587/673 f.) Gemäß diesem Gesetz kommt es im Fortgang der Akkumulation aber nicht nur zu einer Ausdehnung von Reservearmee und Lazarusschicht der Arbeiterklasse, es besagt darüber hinaus, dass »die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß«. Sie muss es, weil sich alle Methoden zur Produktivkraftsteigerung »auf Kosten des individuellen Arbeiters« vollziehen. Es gilt demnach: »Die Akkumulation von Reichthum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisirung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol.« (K I² 588/675) Marx erweckt den Eindruck, er habe wissenschaftlich nachgewiesen, was er in den Schriften der 1840er Jahre nur behaupten konnte. Schafft die Bourgeoisie laut Kommunistischem Ma­ nifest durch die fortwährende Revolutionierung der Produktion ihren eigenen ›Totengräber‹, so wächst laut Kapital im Fortgang des Akkumulationsprozesses »auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprocesses selbst geschulten, vereinten und organisirten Arbeiterklasse«. (K I² 682/790 f.) Die Gegenüberstellung von wachsendem Reichtum auf der einen, wachsender materieller, sozialer und moralischer Degradation auf der anderen Seite findet sich schon in den Frühschriften. Marx hat sie in Hegels Rechtsphilosophie und bei anderen Autoren, die sich mit der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft befassen, finden können. Anders als in den Frühschriften sollen sich die Aussagen über die zunehmende Verschlechterung der Lage der aktiven Arbeiterbevölkerung und die Ausdehnung der Reservearmee und Lazarusschicht der Arbeiterklasse auf ein allgemeines Gesetz stützen. Tatsächlich sind sie teils unhaltbar in ihrer Apodiktizität, teils ein Indiz für das Selbstmissverständnis, dem Marx im Hinblick auf die normative Dimension seiner Theorie unterliegt. In ihrer Apodiktizität sind die Aussagen unhaltbar. Marx gilt als gesicherte Erkenntnis, dass im Verlauf des Akkumulationsprozesses das Zuschusskapital, der kapitalisierte Mehrwert, zwar Arbeiter »attrahirt«, aber im Verhältnis zu seiner Größe »weniger und weniger Arbeiter«, und dass die Zentralisation schon bestehender Kapitale eine Veränderung ihrer technischen Zusammensetzung bewirkt, infolge derer das sich reproduzierende Kapital »mehr und mehr« Arbeiter »repellirt« (K I² 573/657581). Dass die steigende Produktivkraft sich erstens in einer steigenden Wertzusammensetzung niederschlägt und diese zweitens mehr Arbeiter aus dem Produktionsprozess ausstößt als die Akkumulation an ihn zieht, ist zwar plausibel, ein allgemeines Gesetz des Akkumulati581 Vgl. ÖM III 1175.

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onsprozesses ist damit nicht dargetan.582 Marx formuliert als kausalen Zusammenhang, wo nur ein konditionaler festzuhalten ist. Wenn die Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit durch veränderte Produktionstechnik zu einer Steigerung der Wertzusammensetzung führt, so kann von einem gegebenen Kapital weniger in Arbeitskräften ausgelegt werden. »Wenn die Verminderung des variablen Kapitalteils nicht von der Entwertung der Lebensmittel in gleichem Maße begleitet ist, so muß dies zu Reallohneinbußen oder Arbeitslosigkeit führen.« (Sieferle 1979, 201; 162). Der tatsächliche Verlauf kann nicht aus dem Begriff vorausgesagt werden. Er ist wesentlich davon abhängig, wie sich künftige Entwicklungen in Naturwissenschaft und Technik auf die Produktivkraftentwicklung in der Produktionsmittelindustrie auswirken. Dass technische Veränderungen in der Produktionsmittelindustrie eine Verminderung des Werts der Elemente des konstanten Kapitals bewirken können, welche der des Werts der notwendigen Konsumtionsmittel entspricht oder sie sogar übertrifft, ist zwar wenig wahrscheinlich, aber auch nicht im Vorhinein auszuschließen. Vor allem aber wären die Aussagen, die im ersten Band des Kapitals, also noch auf einem abstrakten Niveau der Darstellung, über die Tendenz des Akkumulationsprozesses zu finden sind, in Beziehung zu setzen zu den in den Ökonomischen Manuskripten 1863– 1867 enthaltenen Überlegungen zur Krise. Wenn, wie die Manuskripte nahelegen, Krisen als ein notwendiges Moment kapitalistischer Entwicklung aufzufassen sind, weil sie deren immanente Widersprüche gewaltsam lösen, dann garantiert diese Entwicklung nicht, dass die »Stunde des kapitalistischen Privateigenthums schlägt« (K I² 682/791). Die weitere Aussage, wonach ›die Lage des Arbeiters‹ sich ungeachtet seiner Bezahlung in dem Maß verschlechtern muss, wie das Kapital akkumuliert, stützt sich explizit auf den Abschnitt über die ›Produktion des relativen Mehrwerts‹. Dem Abschnitt ist zu entnehmen, dass alle Methoden der Produktivkraftsteigerung »auf Kosten des individuellen Arbeiters« gehen. Sie »verstümmeln« ihn in einen »Theilmenschen«, »entwürdigen« ihn zum »Anhängsel der Maschine«, »entfremden ihm die geistigen Potenzen des Arbeitsprocesses«, »unterwerfen« ihn »der kleinlichst gehässigen Despotie«, verwandeln »seine Lebenszeit in Arbeitszeit« und schleudern »sein Weib und Kind unter das Juggernautrad des Kapitals«. (K I² 587 f./674) Der Abschnitt zeigt, wie sich das Kapital in Gestalt der wissenschaftsbasierten großen Industrie von der organischen Schranke der Produktion befreit und die Arbeit reell unter sich subsumiert. Der Vorgang selbst ist historischer Natur, von ausgezeichnetem systematischem Interesse ist er deshalb, weil erst mit ihm die Arbeitskräfte im Produktionsprozess auf austauschbare Mittel zum Zweck der Mehrwertproduktion reduziert werden. Der Abschnitt zeigt, dass 582 Vgl. Heinrich (2006: 324).

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die Arbeitsbedingungen, die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Indus­ trie herrschen, die Arbeit und das Leben zur Qual machten. Ihm ist aber nicht zu entnehmen, dass dies eine notwendige Folge kapitalistischer Produktion überhaupt sein muss. Auch in der Produktionsweise, in der sich alles um die profitable Anwendung der Arbeitskraft dreht, kann die Arbeit faktisch vom Einzelnen als sinnvolle Tätigkeit wahrgenommen werden, die er gerne verrichtet, zumal wenn sie einen Lebensstandard ermöglicht, der ihm als angemessen erscheint.583 Die Selbstverwertung des Kapitals schließt Reallohnsteigerungen und bessere Lebensverhältnisse nicht aus, auch wenn sie immer wieder erkämpft werden müssen. Der Klassenkampf gehört zum Selbstlauf des Kapitals. Der Terminus mag an Barrikadenkämpfe denken lassen, die Sache, die er bezeichnet, ist aber durch die ›Sozialpartnerschaft‹ nicht aus der Welt. Die kapitalistische »Gesellschaft erhält sich nicht trotz ihres Antagonismus am Leben sondern durch ihn« (Adorno 1966: 314). Marx suggeriert allerdings, kapitalistische Ausbeutung müsse sich zumindest längerfristig auf die Lage der Arbeiterklasse insgesamt in einer Weise auswirken, die bei ihren Mitgliedern Empörung auslöst und sie empfänglich macht für die Einsichten des Theoretikers. Vor allem für die Einsicht, dass »der Begriff des produktiven Arbeiters« ein »gesellschaftliches Produktionsverhältnis [einschließt], welches den Arbeiter zum unmittelbaren Verwertungsmittel des Kapitals stempelt«, weshalb produktiver Arbeiter zu sein »kein Glück, sondern ein Pech« (K I² 479/532) sei. Nun muss, was der Theorie als Pech gilt, dem produktiven Arbeiter noch lange nicht als Pech erscheinen. Marx’ Bescheid (noch einmal prägnant formuliert in der Kritik des Gothaer Programms), die Lohnarbeit sei »ein System der Sklaverei […], die im selben Mass härter wird, wie sich die gesellschaftlichen Productivkräfte der Arbeit entwickeln, ob nun der Arbeiter bessere oder schlechtere Zahlung empfange« (KGP 19/25 f.), muss sich mit der Erfahrung derer, die in den ›wirklichen Le­ bensprozess‹ verstrickt sind, nicht decken. Historisch betrachtet ist das europäische Proletariat nicht, wie von Marx erwartet, vom »Lageer­ lebnis« zum »Klassenbewußtsein und zum Klassenhandeln« (Hofmann 1967: 28) fortgeschritten, sondern die Arbeiterbevölkerung hat ihre Lage zunehmend anders interpretiert als Marx und die marxistischen Theoretiker sie bestimmten. »Der Marxsche Begriff der Verelendung schließt das Bewußtsein der geknebelten Anlagen des Menschen und der Möglichkeiten ihrer Verwirklichung, das Bewußtsein der Entfremdung 583 Es geht hier wie immer um die Sache und nicht darum, herauszufinden, was Marx »glaubte«. Meek (1967: 165) zufolge »glaubte« er, steigende Reallöhne könnten die Lage des Arbeiters nicht verbessern. Es sei deshalb falsch, »zuviel Gewicht« auf die Formulierung ›Welches immer seine Zahlung‹ zu legen.

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DIE KAPITALKRITIK UND IHR GRUND

und Entmenschlichung ein. Die Entwicklung der kapitalistischen Produktivität brachte jedoch die Entwicklung des revolutionären Bewußtseins zum Stillstand«, konstatiert Marcuse 1941, und schließt eine These an, die auf seine spätere Kritik des ›wohlfahrtsstaatlich‹ organisierten Kapitalismus vorausdeutet: »Der technische Fortschritt vermehrte die Bedürfnisse und die Mittel, sie zu befriedigen, wobei seine Ausnutzung sowohl die Bedürfnisse als auch die Mittel ihrer Befriedigung repressiv machte: gerade sie erhalten Unterwerfung und Herrschaft aufrecht.« (Marcuse 1941: 372) Zu behaupten, die Entwicklung der kapitalistischen Verhältnisse befördere selbst die Entwicklung von Klassenbewusstsein und Klassenhandeln, ist der einzige Weg für eine ›materialistische‹ Wissenschaft, welche die bestehende Gesellschaft nicht durch ›philosophische Ideen‹ und/oder ausgedachte bessere Gesellschaftsformen kritisieren will, sondern im Namen der Interessen der Mehrheit der Menschen und auf der Grundlage des real Möglichen. Ist es aber für die Arbeitskraftbesitzer selbstverständlich geworden, ihre Interessen in der Produktionsweise zu verfolgen und um die Verbesserung ihrer Lage mit systemkonformen Mitteln zu kämpfen, steht die materialistische Wissenschaft vor ihrem Offenbarungseid. Ihre Rede von der ›Lohnsklaverei‹ (Marx) prallt an ihren ­Adressaten ab. Ihr Befund, die kapitalistische Produktionsweise verletze ›elementare Lebensinteressen‹ der Arbeiter, wird von diesen nicht geteilt. Tatsächlich hat die ›kapitalistische Produktivität‹ (Marcuse) nicht die Entstehung revolutionären, sondern affirmativen Bewusstseins befördert. Diese historische Entwicklung widerspricht der Kapitaltheorie keineswegs. Bereits sie zeigt, dass die kapitalistischen Verhältnisse selbst das Vorstellungsvermögen der Menschen präformieren, es bedarf dazu nicht eigens einer Theorie der Kulturindustrie. In dem Maße, wie die Verhältnisse als alternativlos erscheinen, bewegen sich auch die Vorstellungen von einem guten Leben in ihrem Rahmen. Was ist nach alledem gegen ein prinzipielles Einverständnis (das Kritik an bestimmten Phänomenen nicht ausschließt) mit der Produktionsweise zu sagen? Welchen Sinn sollen die virtuell gewordenen Adressaten der Theorie mit der Utopie eines Vereins freier Menschen verbinden, wenn doch gilt: »Surplusarbeit überhaupt, als Arbeit über das Maaß der gegebnen Bedürfnisse hinaus, muß immer bleiben«?; wenn das Arbeiten in »der eigentlichen materiellen Produktion«, »das durch Noth und äussere Zweckmäßigkeit bestimmt ist« (K III 837 f./827 f.), unabdingbar ist für alle Gesellschaftsformen und Produktionsweisen? Kurzum: Was ist das Skandalöse an der kapitalistischen Produktionsweise, wenn es nicht in dem Zwang zur Mehrarbeit überhaupt besteht und auch nicht notwendig in Hungerlöhnen und Langzeitarbeitslosigkeit? Die Frage zielt auf den Grund der Empörung über die Produktionsverhältnisse und den Grund der Kritik an diesen. Im Kontext des marxschen 547

MARX

Denkens lässt sie sich allein durch das im Gattungswesen des Menschen begründete Mediatisierungsverbot beantworten, welches Marx aber erstens nicht als solches, als normative Bestimmung, thematisiert, welches zweitens dem Konzept der ›materialistischen‹ Wissenschaft widerstreitet und drittens der Kritik so wenig stand hält wie die Lehre vom Gattungswesen selbst. Der Sache nach ist die Frage nur zu beantworten, wenn gegen die wirkmächtigen materialistischen und naturalistischen Weltanschauungen und den Positivismus jeder Couleur daran erinnert wird, dass der Mensch zwar »zur Sinnenwelt gehört und so fern hat seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag, von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern […] Aber er ist doch nicht so ganz Tier, um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleichgültig zu sein.« (KpV A 109)

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Nachbemerkung und Dank Kein Autor ist vor Irrtümern und Fehlern gefeit. Kritik ist mir daher sehr willkommen. Sollte sie allerdings in dem Nachweis bestehen, dass Marx dieses oder jenes, was hier vertreten wird, ›niemals unterschrieben hätte‹, zielt sie an ihrem Gegenstand vorbei. Es sei ein letztes Mal betont: In diesem Buch geht es nicht in erster Linie um das marxsche Denken, sondern um die normativen Grundlagen des Kapitals. Einigen Teilen dieser Arbeit liegen überarbeitete Veröffentlichungen zugrunde. Einige der hier entwickelten Argumente habe ich in Vorträgen erprobt. Ich danke allen, die mich durch ihre Kritik und ihre Fragen zum Weiterdenken angeregt haben. Für kritische Hinweise, die sich auf einzelne Kapitel bzw. die ganze Arbeit beziehen, danke ich Andreas Arndt (Berlin), Andrea Marlen Esser (Jena), Hans-Ernst Schiller (Frankfurt/M.) und dem Freund Hans-Georg Bensch (Oldenburg/Hannover). Michael Heidemann (Oldenburg) danke ich für sorgfältiges Korrekturlesen und manche Notiz, die mich noch einmal zum Nachdenken veranlasste. Nicht jede Kritik wurde umgesetzt und nicht jede Anregung übernommen. Für Gedanken, die von dem ›Ich denke‹ nicht begleitet werden können, bin ich natürlich allein verantwortlich. Last not least danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Lehrveranstaltungen in Hannover und Oldenburg, die sich ihr Interesse an den hier behandelten Gegenständen durch modularisierte Studiengänge und geforderte Leistungspunkte nicht nehmen ließen. Ihr engagiertes Arbeiten zeigte sie als Angehörige der »wissbegierigen Jugend« respektive »wissenslustigen Jugend«, wie Kant respektive Marx in Ermangelung des korrekten Ausdrucks ›Studierendenschaft‹ wohl gesagt hätten. Ohne sie, nur im Zwiegespräch mit Marx, Kant und Co, hätte ich schwerlich durchgehalten. Hannover, im Oktober 2022 Frank Kuhne

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Literaturverzeichnis 1. Quellen 1.1. Marx und Engels Schriften von Marx und Engels werden in der Regel nach der Marx-En­ gels-Gesamtausgabe [MEGA] zitiert, zunächst herausgegeben von den Instituten für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU und beim ZK der SED, seit 1990 von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung (Amsterdam), Berlin 1975 ff. Angegeben werden jeweils die Sigle des einzelnen Werks sowie die Seite des entsprechenden Bandes. Hinter dem Schrägstrich wird jeweils die entsprechende Seite des Bandes in den Marx-Engels-Wer­ ken [MEW] angeführt, zunächst herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, seit 1999 von der Rosa-LuxemburgStiftung, Berlin 1956 ff. Die MEW-Passagen sind nicht immer textidentisch mit denen der MEGA. Der erste Band des Kapitals wird nach den von Marx besorgten ersten beiden Auflagen sowie nach der von Engels besorgten dritten Auflage zitiert. Die MEW-Referenz ist hier einzig die von Engels besorgte vierte Auflage. Der zweite und der dritte Band werden nach den in der MEGA präsentierten marxschen Manuskripten zitiert. MEW-Referenz ist jeweils der von Engels edierte Band. Bei dem Ökonomischen Manuskript 1861–1863 stößt das genannte Zitierschema an seine Grenzen, da die Anordnung der Manuskriptteile in der MEGA chronologisch, in den MEW thematisch erfolgt und das Manuskript in den MEW nicht vollständig ediert ist. Zitiert wird hier allein nach der MEGA (hilfreich für die Findung von Passagen in den MEW, sofern dort vorhanden, ist die in MEW 44: 527 ff. enthaltene Gegenüberstellung der Manuskriptteile in MEGA und MEW). Briefe von Marx und Engels werden nach den MEW unter Angabe des Bandes und der Seite zitiert. Marx’ Brief an den Vater und sein Brief an die Redaktion der ›Otetschestwennyje Sapiski‹ sowie Engels’ Brief an Bebel werden jeweils mit einer Sigle bezeichnet. Briefe an Marx und Engels werden nach der MEGA unter Angabe des Bandes und der Seite zitiert.

1.1.1. Marx (bzw. Marx und Engels) Al AJM BF

Arbeitslohn, Manuskript (1847): MEW 6. Auszüge aus James Mill: Élémens d’économie politique (1844): MEGA IV.2/MEW 40. Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871): MEGA I.22/MEW 17. 550

QUELLEN

BLB BOS BV DH DI DLA EKP EKPÖ EP Gr HF K I1 K I² K I³ K II K III K III E KF KGP KHRE KHS KIAA LAK MKP ÖM I ÖM II ÖM III

Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852): MEGA I.11/MEW 8. Brief an die Redaktion der ›Otetschestwennyje Sapiski‹ (1877): MEW 19. Brief an den Vater (10. November 1837): MEW 40. »Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz« (1842): MEGA I.1/MEW 1. Deutsche Ideologie (mit Engels), Manuskripte und Drucke (1845/6): MEGA I.5/ MEW 3. »Der leitende Artikel in Nr. 179 der ›Kölnischen Zeitung‹« (1842): MEGA I.1/MEW 1. »Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln« (1853): MEGA I.11/MEW 8. »Einleitung zu den Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie« (1857): MEGA II.1/MEW 42. Das Elend der Philosophie (1847), von Engels redigierte Übersetzung von E. Bernstein und K. Kautsky (1885): MEGA I.30/ MEW 4. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857/8): MEGA II.1/MEW 42. Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (mit Engels) (1845): MEW 2. Das Kapital, 1. Bd. (11867): MEGA II.5. Das Kapital, 1. Bd. (²1872): MEGA II.6/MEW 23 (41890). Das Kapital, 1. Bd. (³1883): MEGA II.8/MEW 23 (41890). Manuskripte zum zweiten Buch des Kapitals (1868–1881): MEGA II.11/MEW 24 (²1893). Entwurf zum dritten Buch des Kapitals (1864/5): MEGA II.4.2/MEW 25. Das Kapital, 3. Bd. (1894 hrsg. von F. Engels): MEGA II.15/ MEW 25. Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 (1850): MEGA I.10/MEW 7. »Kritik des Gothaer Programms« (1875/1891): MEGA I.25/ MEW 19. »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung« (1843/4): MEGA I.2/MEW 1. »Kritik des Hegelschen Staatsrechts« (1843): MEGA I.2/MEW 1. »Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation « (mit Engels) (1874): MEGA I.24/MEW 18. Lohnarbeit und Kapital (1849): MEW 6. Manifest der Kommunistischen Partei (mit Engels) (1848): MEW 4. Ökonomisches Manuskript 1861–1863. Teil 1: MEGA II.3.1. Ökonomisches Manuskript 1861–1863. Teil 2: MEGA II.3.2. Ökonomisches Manuskript 1861–1863. Teil 3: MEGA II.3.3. 551

LITERATURVERZEICHNIS

ÖM IV ÖM V ÖM VI ÖPM PP RAW RS SI TS TüF Ur ZJF ZKPÖ

Ökonomisches Manuskript 1861–1863. Teil 4: MEGA II.3.4. Ökonomisches Manuskript 1861–1863. Teil 5: MEGA II.3.5. Ökonomisches Manuskript 1861–1863. Teil 6: MEGA II.3.6. Ökonomisch-Philosophische Manuskripte (1844): MEGA I.2/MEW 40. Karl Marx: Rede auf der Jahresfeier des People’s Paper am 14. April 1856 in London: MEW 12. Randglossen zu Adolph Wagners ›Lehrbuch der politischen Ökonomie‹ (1879/80): MEW 19. Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses (1863– 65): MEGA II.4.1. Die angeblichen Spaltungen in der Internationale. Vertrauliches Zirkular des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation (1872): MEW 18. »Die Todesstrafe – Herrn Cobdens Pamphlet – Anordnungen der Bank von England« [1853]: MEW 8. »Thesen über Feuerbach« (1845): MEGA IV.3/MEW 3. Urtext (Fragment) von Zur Kritik der Politischen Ökonomie (1858): MEGA II.2. »Zur Judenfrage« (1844): MEGA I.2/MEW 1. Zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859): MEGA II.2/ MEW 13.

1.1.2. Engels AAM AD AD³ AVAD BaB DdN EUW GK KEP KM LF

Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen (1876): MEW 20. Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (AntiDühring) (1878): MEGA I.27/MEW 20. ›Theoretisches‹: in: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), dritte Auflage (1894): MEGA I.27/MEW 20. Alte Vorrede zum ›Anti-Dühring. Über Dialektik‹ (1876): MEGA I.27/MEW 20. Brief an Bebel (18./28. März 1875): MEW 19. Dialektik der Natur (1873–1882): MEGA I.26/MEW 20. Einleitung zur englischen Ausgabe von: ›Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft‹ (1892): MEW 22. »Grundsätze des Kommunismus« (1847): MEW 4. »Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs« (Erfurter Programmentwurf) 1891/1901: MEGA I.32/MEW 22. Rezension: »Karl Marx, ›Zur Kritik der Politischen Ökonomie‹« (1859): MEW 13. Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deut­ schen Philosophie (1886): MEGA I.30/MEW 21. 552

QUELLEN

Rez Tl UF UKN UW VA VKGP VMKP WF

Rezension: »Karl Marx. Das Kapital«, Düsseldorfer Zeitung (1867): MEGA I.21/MEW 16. »Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk« (1881): MEW 19. Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884): MEGA I.29/MEW 21. Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie (1844): MEGA I.3/MEW 1. Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissen­ schaft (1882): MEGA I.27/MEW 19. »Von der Autorität« (1874): MEW 18. Vorwort zur ›Kritik des Gothaer Programms‹ von Karl Marx (1891): MEW 19. Vorwort zur vierten deutschen Ausgabe des ›Manifests der Kommunistischen Partei‹ von 1890: MEGA I.31/MEW 4. »Zur Wohnungsfrage« (1872/3): MEW 18.

1.2. Kant Schriften Kants werden zitiert nach der Werkausgabe [WA] in zwölf Bänden, herausgegeben von W. Weischedel, Frankfurt am Main 1977 ff. Dabei wird die Originalpaginierung der ersten (A) bzw. zweiten Auflage (B) angeführt. Davon abgewichen wird bei der Kritik der reinen Vernunft. Diese wird nach der von R. Schmidt edierten Ausgabe, im Nachdruck Hamburg 1971, nach der mitgeführten Originalpaginierung zitiert. Die in der Werkausgabe nicht edierten Texte werden zitiert nach: Kant’s gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und ihren Nachfolgern, Berlin 1902 ff. [AA]. Die einzelnen Schriften werden wie folgt bezeichnet: AG Anth AnthD BW DO ED

GMS GTP KdU KpV

Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Ab­ sicht (1784): WA XI. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798): WA XII. Anthropologie Dohna (1792), https://www.online.uni-marburg. de/kant_old/webseitn/gt_v_et0.htm (Zugriff: 10.11.2021). Kant’s Briefwechsel, Band III, 1795–1803: AA XII. Was heißt: sich im Denken orientieren? (1786): WA V. Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (1790): WA V. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785): WA VII. Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793): WA XI. Kritik der Urteilskraft (1790; ²1793): WA X. Kritik der praktischen Vernunft (1788): WA VII. 553

LITERATURVERZEICHNIS

KrV A KrV B LJ MuA NAnth NLogik NMph OP PF Prol RGV RL SdF TL VATL VMdS WA ZeF

Kritik der reinen Vernunft (1781). Kritik der reinen Vernunft (²1787). Logik Jäsche; Immanuel Kants Logik, ein Handbuch zu Vorlesungen (1800): WA VI. Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786): WA XI. Handschriftl. Nachlass: Entwürfe zu dem Colleg über Anthro­ pologie aus den 70er Jahren: AA XV. Handschriftl. Nachlass: Logik: AA XVI. Handschriftl. Nachlass: Reflexionen zur Metaphysik: AA XVIII. Opus Postumum, Zweite Hälfte: AA XXII. Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat? (1804): WA VI. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783): WA V. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793: A; ²1794: B): WA VIII. Die Metaphysik der Sitten, erster Teil: Metaphysische An­ fangsgründe der Rechtslehre (1797): WA VIII. Der Streit der Fakultäten (1798): WA XI. Die Metaphysik der Sitten, zweiter Teil: Metaphysische An­ fangsgründe der Tugendlehre (1797): WA VIII. Vorarbeiten zur Tugendlehre: AA XXIII. Vorarbeiten zu: Die Metaphysik der Sitten: AA XXIII. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784): WA XI. Zum ewigen Frieden (1786): WA XI.

1.3. Hegel Schriften Hegels werden zitiert nach der G.W.F Hegel Theorie-Werkaus­ gabe [TW] in zwanzig Bänden, Redaktion E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt am Main 1970 ff. Weiter werden zitiert: Jenaer Sys­ tementwürfe I: Das System der spekulativen Philosophie (1803/4), hrsg. von K. Düsing und H. Kimmerle, Hamburg 1986, Jenaer Systementwür­ fe III: Naturphilosophie und Philosophie des Geistes (1805/6), hrsg. von R.-P. Horstmann, Hamburg 1987, die Vorlesungen über die Philosophie des Rechts von 1819/20 (Nachschrift Ringier), hrsg. von E. Angehrn, M. Bondeli und H. N. Seelmann, Hamburg 2000 sowie Die Philosophie des Rechts von 1821/22 (Nachschrift eines unbek. Verf.), hrsg. von H. Hoppe, Frankfurt am Main 2005. Die einzelnen Schriften werden wie folgt bezeichnet:

554

QUELLEN

ÄS

Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (1796/7): TW 1. DS Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (1801): TW 2. DVD Die Verfassung Deutschlands (1802): TW 1. Enz I Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grund­ risse (1830), Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik: TW 8. Enz II Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grund­ risse (1830), Zweiter Teil. Die Naturphilosophie: TW 9. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grund­ Enz III risse (1830), Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes: TW 10. GuW »Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie« (1802): TW 2. JS I Jenaer Systementwürfe I: Das System der spekulativen Philosophie (1803/4). JS III Jenaer Systementwürfe III: Naturphilosophie und Philosophie des Geistes (1805/6). MV »Wie der gemeine Menschenverstand die Philosophie nehme, dargestellt an den Werken des Herrn Krug«: TW 2. PhG Phänomenologie des Geistes (1807): TW 3. PhGsch Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: TW 12 PhR I Vorlesungen über die Philosophie der Religion I: TW 16. PhR II Vorlesungen über die Philosophie der Religion II: TW 17. Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Rph Staatswissenschaft im Grundrisse (1821): TW 7. GdPh I Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I: TW 18. GdPh III Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III: TW 20. Rph 1819/20 Vorlesungen über die Philosophie des Rechts 1819/20. Rph 1821/22 Die Philosophie des Rechts. Vorlesung von 1821/22. WdL I Wissenschaft der Logik I, Erster Teil, Die objektive Logik (1831), Die Lehre vom Sein: TW 5. Wissenschaft der Logik II, Erster Teil, Die objektive Logik, WdL II Die Lehre vom Wesen; Zweiter Teil, Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff (1813/16): TW 6.

1.4. Sonstige Quellen (zeitlich vor bzw. während Marx/Engels) Hinter dem Personennamen steht in der Regel das Jahr, in dem ein Text oder Buch erstmals in seiner Originalsprache erschien, hinter dem Verlagsnamen das Erscheinungsjahr der Ausgabe, nach der zitiert wird.

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LITERATURVERZEICHNIS

Aristoteles: Metaphysik, Bücher VII–XIV, hrsg. von H. Seidl, Hamburg: Meiner (²1984). – Nikomachische Ethik, hrsg. von G. Bien, Hamburg: Meiner (1985). Augustinus (419): Vom Gottesstaat, Buch 1–10, München: dtv (41997). Bakunin, Michail (1842): »Die Reaktion in Deutschland«, in: ders., Philoso­ phie der Tat. Auswahl aus seinem Werk, eingel. u. hrsg. von R. Beer, Köln: Hegner (1968), 61–96. Büchner, Georg (1834): ›Brief an die Braut‹, Gießen, nach dem 10. März 1834, in: ders., Werke und Briefe, Darmstadt: WBG (31984), 256 f. Condorcet, Marie-Jean-Antoine-Nicolas-Caritat, Marquis de (1795): Ent­ wurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, hrsg. von W. Alff, Frankfurt am Main: Suhrkamp (1976). Darwin, Charles (1871): Die Abstammung des Menschen (engl. 1871), Frankfurt am Main: Fischer (2005). Diderot, Denis (ca. 1774–1780): »Elemente der Physiologie«, in: ders., Phi­ losophische Schriften Bd. 1, hrsg. von T. Lücke, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt (1967), 591–771. Dietzgen, Josef (1876): »Sozialdemokratische Philosophie« (zuerst in: Volks­ staat 1876), in: Sozialdemokratische Philosophie, eine Artikel-Serie, mit einem Vorwort von E. Dietzgen, Berlin: Vorwärts (1906), 3–37. Ferguson, Adam (1767): Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Ge­ sellschaft, hrsg. von Z. Batscha, H. Medick, Frankfurt am Main: Suhrkamp (1988). Feuerbach, Ludwig (1839): »Zur Kritik der Hegelschen Philosophie«, in: Gesammelte Werke [GW], hrsg. von W. Schuffenhauer, Berlin: Akademie, 1967 ff., Bd. 9, 16–62. – (1841): »Das Wesen des Christentums«, GW 5. – (1842): »Zur Beurteilung der Schrift ›Das Wesen des Christentums‹«, GW 9, 229–242. – (1843): »Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie«, GW 9, 243–263. – (1843a): »Grundsätze der Philosophie der Zukunft«, GW 9, 264–339. – (1845): »Über das ›Wesen des Christentums‹ in Beziehung auf Stirners ›Der Einzige und sein Eigentum‹«, GW 9, 427–441. – (1846): »Fragmente zur Charakteristik meines philosophischen curriculum vitae«, GW 10, 151–180. – (1846a): »Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist«, GW 10, 122–150. – (1846b): »Ergänzungen und Erläuterungen zum Wesen der Religion«, GW 10, 80–121. – (1850): »Die Naturwissenschaft und die Revolution«. Rezension: »Lehre der Nahrungsmittel. Für das Volk« von Moleschott, GW 10, 347–368. – (1851): Vorlesungen über das Wesen der Religion, GW 6. – (1867–1869): Schriften zur Ethik und nachgelassene Aphorismen, in: Sämmtliche Werke, neu hrsg. von W. Bolin, F. Jodl, Bd. 10, Stuttgart: Fr. Frommann (1911). 556

QUELLEN

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LITERATURVERZEICHNIS

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590

Personenverzeichnis Nicht aufgenommen sind die Namen: Kant, Immanuel; Marx, Karl; Engels, Friedrich. Ihre Aufzählung böte aufgrund der Häufigkeit ihres Vorkommens keine zusätzliche Information. Adler, Max 22–24, 497, 225 Adorno, Theodor W. 24 f., 49, 74 f., 135, 243, 288, 365 f., 373, 449, 454, 470, 488, 492, 494, 499, 501–503, 510, 527, 546 Allen, Derek P.H. 33, 35 Althusser, Louis 211, 391 f., 424, 489, 500 Anders, Günther 244 Anderson, Perry 284, 428 Angehrn, Emil 199, 204, 405 Apel, Karl-Otto 51 Archard, David 192 Arendt, Hannah 215, 241 Arkwright, Sir Richard 176 f. Aristoteles 199, 204, 233, 236, 320 f., 335, 406, 411, 455 Arndt, Andreas 46, 185, 382, 392– 394 Augustinus 136 Avineri, Shlomo 193, 323, 493 Backhaus, Hans-Georg 402, 405, 419, 479 f. Bakunin, Michail 13, 399 Balibar, Etienne 17 Baptist, Gabriella 129 Baranzke, Heike 354 Bayertz, Kurt 37, 158 Beck, Lewis White 72, 79, 99 Becker, Werner 84, 382, 411 Benjamin, Walter 425, 469 Bennett, Maxwell R. 159 Bensaïd, Daniel 37

Bensch, Hans-Georg 258, 261, 278, 287 Bentham, Jeremy 12, 309 Bernal, John Desmond 177 Bernstein, Eduard 20 f. Bies, Michael 416 Blaug, Mark 48 Bloch, Ernst 180, 350, 366, 373, 459, 463, 484, 494 Bloch, Joseph 218 Blome-Drees, Franz 372 Bluhm, Harald 523 Bobbio, Norberto 489 Boffo, Marco 37 Bohman, James 37 Boldt, Hans 324 Boltanski, Luc 243 Böhm-Bawerk, Eugen von 264, 274 Borkenau, Franz 173 Brandt, Reinhard 52 f., 68, 89, 95, 97, 101, 329 Brauer, Oscar Daniel 132, 329 Brecht, Bertolt 246, 371 Brenkert, George G. 33 Brentel, Helmut 382, 391 Brie, Michael 477 Brudney, Daniel 184, 206 Brunkhorst, Hauke 461 Bubner, Rüdiger 26, 405 Büchner, Georg 120 Büchner, Ludwig 146, 158 Bulthaup, Peter 155, 178, 247, 343, 345, 395 Burmeister, Karl Heinz 321 Burns, Tony 381 591

Chiapello, Ève 243 Çidam, Volkan 415 f. Cohen, Gerald A. 32, 36, 282 Cohen, Hermann 20–23 Colletti, Lucio 379 f., 388, 405 Condorcet, Marie-Jean-AntoineNicolas-Caritat, Marquis de 442 Creifelds, Carl 302 Dämpfling, Björn 263 Dagan, Hanoch 333 Daniels, Roland 147 Darwin, Charles 146 f., 160–163, 169, 286 Deggau, Hans-Georg 116, 118, 330–332 Demirovic, Alex 526 Diderot, Denis 159 Dietzgen, Josef 17 Düsing, Klaus 53, 85, 108, 113, 391, 401 Eagleton, Terry 289 Eberle, Friedrich 264 Elbe, Ingo 45, 382, 413, 420 Ellmers, Sven 233 Elster, Jon 36 f., 243, 493 Engel, Gerhard 73 Enzensberger, Hans Magnus 84, 302 Ertl, Wolfgang 98 Esser, Andrea Marlen 354, 357, 363, 375 Fabbri, Luigi 476 Ferguson, Adam 442 Fetscher, Iring 505 Feuerbach, Ludwig 44, 61 f., 139, 142, 146–149, 155, 157 f., 181– 189, 191, 194 f., 197–199, 201, 204–207, 209–212, 225, 228 f., 236, 240–245, 248, 250, 314, 385, 391, 399, 437, 444, 462 f., 485, 491, 514, 522, 528, 530

Fichte, Johann Gottlieb 22, 54, 64, 68, 71, 93, 122–125, 131, 151, 160, 164 f., 182, 223, 249, 388, 398, 405, 414 Firla, Monika 95 Fischer, Anton 412 Fleischer, Helmut 156, 218, 223, 240, 386, 439, 463 Forst, Rainer 535 France, Anatole 320 Frank, Manfred 108 Frankena, William K. 33 Franklin, Benjamin 151 Fraser, Ian 381 Freud, Sigmund 78, 205 Friedman, Milton 376 Fries, Jakob Friedrich 20 Fulda, Hans Friedrich 46, 398 Gamm, Gerhard 53 Gangl, Manfred 469 Gauthier, David 64 f., 71 Geras, Norman 34 Gerhardt, Volker 19 Geuss, Raymond 377, 501 Giddens, Anthony 297, 489 Giessler Furlan, Hannes 467 Godelier, Maurice 405 Goethe, Johann Wolfgang 215 Gosepath, Stefan 168 Gouges, Olympe de 321 Grotius, Hugo 311 Gutmann, Mathias 165 Haag, Karl Heinz 246 Habermas, Jürgen 27, 47, 51 f., 54, 121, 217 f., 250, 252, 297, 307, 407 Hacker, Peter M.S. 159 Hagemeister, Michael 527 Halbig, Christoph 135 Hartmann, Klaus 132, 138, 192, 196, 198, 314, 428, 472, 486 f., 498 592

Haug, Wolfgang Fritz 222 Hayek, Friedrich A. von 460, 465 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 16 f., 21 f., 26–28, 36, 44 f., 48 f., 51, 54, 56, 60 f., 71, 78, 83, 116, 122–146, 149–157, 160, 164, 170 f., 181 f., 184 f., 188–191, 194–196, 204, 207 f., 210, 215, 222, 228 f., 239 f., 243 f., 246, 249, 250 f., 291, 307, 310 f., 314, 316, 321–330, 335, 362, 366, 379–395, 397–405, 407, 409, 413–416, 418–422, 425, 427, 432, 436, 438–440, 444 f., 449, 451– 454, 461, 463, 465, 485, 495, 504, 515, 522, 528, 530, 533 f. Heidbrink, Ludger 372 Heidegger, Martin 243 Heimsoeth, Heinz 103 Heinrich, Michael 29–32, 261 f., 322, 413, 418, 479 f., 543, 545 Heinrichs, Jürgen 95 Heintel, Erich 96 Henning, Christoph 42–44, 48 Henrich, Dieter 142 Heraklit 119 Herbart, Johann Friedrich 20 Heß, Moses 44, 186, 202, 211, 315 Heuser, Uwe Jean 299 Hilferding, Rudolf 264, 500 Hitler, Adolf 299 Hobbes, Thomas 38, 65, 124, 134, 141, 335, 365, 443, 464, 507 Höffe, Otfried 52, 90 f., 97 f., 329 Hösle, Vittorio 132, 136, 138, 153 Hoffmann, Thomas Sören 71, 130, 513 Hofmann, Werner 478, 546 Homann, Karl 372 Honneth, Axel 50 f., 303, 323, 530 Horkheimer, Max 24–26, 156, 326, 346, 352, 373, 384, 438, 443, 460, 468–470, 499, 502

Horn, Christoph 32 Horstmann, Rolf-Peter 398 f. Hume, David 124, 335 Hurka, Thomas 38 f. Husami, Ziyad I. 35 Iber, Christian 30 Iorio, Marco 48, 252 Jaeggi, Rahel 11, 530 Jaeschke, Walter 122 Jameson, Fredric 381 Janich, Peter 163, 165 f. Jonas, Hans 512 Ju, Gau-Jeng 359 Kain, Philip J. 35 Kalenberg, Thomas 164 Kallscheuer, Otto 495 Kambartel, Friedrich 205 Kamenka, Eugene 48 Kautsky, Karl 14 f., 19, 21, 24 Kavka, Gregory S. 67 Keil, Geert 184 Kersting, Wolfgang 310, 318, 330, 354, 356 f. Keynes, John Maynard 503 Kierkegaard, Sören Aabye 302 Kistenmacher, Olaf 299 Kittsteiner, Heinz-Dieter 338, 391, 439, 443, 468 Klar, Samuel 354 Kleingeld, Pauline 116 Klemme, Heiner F. 99 Kocyba, Hermann 243, 392, 413, 420 Koenen, Gerd 457, 526 Köhler, Michael 311 Kolakowski, Leszek 539 Kondylis, Panajotis 442 Konhardt, Klaus 166 Korsch, Karl 438 Koslowski, Peter 372

593

Luf, Gerhard 115 Luhmann, Niklas 272, 372, 378 Lukács, Georg 168 f., 284, 366, 490, 494 Lukes, Steven 33 f., 37 Lutz-Bachmann, Matthias 535 Luxemburg, Rosa 21, 121, 437

Koselleck, Reinhart 325, 338, 443 f., 458 Krader, Lawrence 158, 168, 170 Krätke, Michael R. 466, 482 Krahl, Hans-Jürgen 405 Krasnoff, Larry 117 Kraus, Karl 372, 425, 469 Kroner, Richard 107 Kugelmann, Ludwig 387 Kuhlmann, Wolfgang 168 Kuhne, Frank 52, 64, 74, 95, 102– 104, 122, 182, 184, 207, 222, 246, 252, 289, 343 f., 387–389, 394, 410 Kurz, Gerhard 122 Lafargue, Paul 457 Landau, Peter 311 Lange, Ernst Michael 44–46, 406, 539 Lange, Friedrich Albert 21 Langthaler, Rudolf 116 Lauth, Reinhard 399 Lebowitz, Michael A. 36 f. Lefèbvre, Henri 383 Lefèvre, Wolfgang 147 Leibniz, Gottfried Wilhelm 38, 405 Leist, Anton 33, 326 Lenin, Wladimir Iljitsch 15, 90, 251, 379, 381, 392, 405, 484–486, 495 f. Lindner, Urs 42, 223 Locke, John 28 f., 141, 307, 310, 319, 334 f., 431, 505, 507, 515 Löwith, Karl 13, 138, 458, 524 Lohmann, Georg 28, 30 f., 47, 148, 204, 226, 235, 242, 308 f., 314, 415 f. Losurdo, Domenico 321 Lubbock, Sir John 158 Luckner, Andreas 84 Ludwig, Bernd 70, 77, 331 Lübbe, Hermann 488

Mackie, John Leslie 70 Macpherson, Crawford B. 507 Magnis, Franz von 189, 192, 199, 202, 206, 539 Maihofer, Andrea 314 Maimon, Salamon 355 Maine, Sir Henry Sumner 158 Malatesta, Errico 476 Mandel, Ernest 489 Mandeville, Bernard 460 f. Mann, Thomas 162 Marcuse, Herbert 25, 235, 327, 493, 498, 502, 526, 537, 547 Marc-Wogau, Konrad 113 Marković, Mihailo 509 Marquard, Odo 458 McCarthy, George E. 47 McLellan, David 225 Medick, Hans 316 Meek, Ronald L. 264, 546 Mehring, Franz 225 Mengaldo, Elisabetta 416, 425 Menke, Christoph 44, 303 f. Mensching, Günther 441 Merkel, Angela 534 Merleau-Ponty, Maurice 509 Meyer, Thomas 16 Milanović, Branko 192 Millar, John 442 Miller, Richard W. 35 f. Mocek, Reinhard 147, 527 Mohl, Alexa 15 Moleschott, Jakob 146, 158 Moore, Barrington 193, 436 Morgan, Lewis Henry 158, 168

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Morgenstern, Christian 382 Müller, Klaus 37 Müntefering, Franz 299 Musil, Robert 531 Narski, Igor S. 413 Nassehi, Armin 378 Negt, Oskar 491 Neschke-Hentschke, Ada 39 Nietzsche, Friedrich 38, 78 Nüdling, Gregor 201 Nussbaum, Martha C. 38–43, 236 Nutzinger, Hans G. 537 Nuzzo, Angelica 139, 389, 401 Oberer, Hariolf 356 Øfsti, Audun 343 Paganini, Niccolò 160, 162 Paschukanis, Eugen 511 Paul, Wolf 325 Peffer, Rodney G. 32–34, 36 Perpeet, Wilhelm 112 Petry, Franz 271, 535 Phear, Sir John 158 Pistor, Katharina 298 Plamenatz, John 510 Platon 487, 500 Plechanow, Georg [Georgi W.] 15 Plumpe, Werner 298 f., 497 Polanyi, Karl 404 Pollok, Konstantin 71 Popitz, Heinrich 198 Popper, Karl R. 73, 382, 420, 539 Poser, Hans 170, 224 Postone, Moishe 244 Priddat, Birger P. 323 Pufendorf, Samuel 311 Purschke, Dirk 475 Quante, Michael 44–47, 119 f., 297, 386

Raffael 160 Rawls, John 32, 34, 38, 42, 51, 377 Recki, Birgit 75, 104, 112, 354, 375 Reichelt, Helmut 282, 382 f., 402, 409 Reichholf, Josef H. 162, 166 Reiman, Jeffrey 339 Reinhold, Karl Leonhard 122 Ricardo, David 36, 250, 273, 275 f., 290, 292 f., 295, 322, 379, 386 f., 433 f., 460–462, 505, 538, 542, Ricken, Friedo 110, 354 Ritsert, Jürgen 422 Roberts, Marcus 37 Rockmore, Tom 222 Roemer, John E. 37 Röttges, Heinz 419 Rohbeck, Johannes 113, 146, 150, 153, 231, 442 f., 458 Rosdolsky, Roman 258, 438 Rosenthal, John 391 Rottleuthner, Hubert 17 Rousseau, Jean-Jacques 159, 352, 504–507, 515 Ruben, Peter 168 f., 406 Rubin, Isaak Iljitsch 417 Ruge, Arnold 313, 324 Ruschig, Ulrich 171 Saint-Simon, Claude-Henri de 495 Saito, Kohei 540 Sandkühler, Hans Jörg 147 Savigny, Friedrich Carl von 320 Say, Jean-Baptiste 322, 433 Sayers, Sean 148 Scarano, Nico 32 Schäfer, Lothar 354 Scheer, Brigitte 53 Schefold, Christoph 46 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 71, 122–124, 445 f. 595

Schiller, Friedrich 86, 147 f., 176 Schiller, Hans-Ernst 75, 225, 350 Schissler, Hanna 331, 333 Schmidt, Alfred 152 f., 164, 184, 199, 201, 244, 405, 492 Schmidt, Conrad 251, 380 Schmidt am Busch, Hans-Christoph 17, 196, 252 Schmieder, Falko 185 Schmitt, Carl 355, 489 Schmucker, Josef 354 Schnädelbach, Herbert 20, 137, 139, 169, 184, 326 f., 465, 532 Schopenhauer, Arthur 20, 126, 354 Schönecker, Dieter 79 Schrader, Fred E. 384 Schröder, Winfried 50 Schumpeter, Joseph A. 505 Schweitzer, Albert 89 Sellars, Wilfrid 168 Sieferle, Rolf Peter 543, 545 Siep, Ludwig 145, 189, 324 Smith, Adam 36, 237, 250, 255 f., 259 f., 273, 275, 292, 295, 307, 310, 316, 319, 322 f., 333, 338, 379, 386 f., 408, 410, 424, 426, 431, 433, 442, 505, 515, 517, 522, 539, 542 Sombart, Werner 15 Sohn-Rethel, Alfred 412 Sorge, Adolph 212 Spaemann, Robert 141, 166, 530 Städtler, Michael 354 Stalin, Josef W. 156, 257, 457 Stammler, Rudolf 18, 20, 22 Staudinger, Franz 20, 22 Steigleder, Klaus 356 Steinvorth, Ulrich 382 Stephani, Heinrich 122 Sternberger, Dolf 489 Stirner, Max 453 Stojanović, Svetozar 509 Streeck, Wolfgang 300, 304, 378

Streminger, Gerhard 316 Suchanek, Andreas 512 Taylor, Charles 228 Theunissen, Michael 27 f., 47, 126, 128, 136, 240, 314 Thomas von Aquin 38, 441 Thorvaldsen, Bertel 160, 162 Thyen, Anke 163 Trotzki, Leo 527 Tucker, Robert 33 f. Tugendhat, Ernst 26, 32, 53, 204, 309 Turgot, Anne Robert Jacques 442 f., 460 Tuschling, Burkhard 137 Ullrich, Otto 177 Ulrich, Peter 372 Vaucanson, Jacques de 176 Vogt, Karl 146, 158 Vorländer, Karl 19–22, 225 Vranicki, Predrag 381 Wall, Steven 39 Wallat, Hendrik 477, 493 Walter, Christian 313 Walther, Rudolf 14 Walzer, Michael 539 Watt, James 176 f. Weber, Max 318, 378, 511 Wehler, Hans-Ulrich 173 Weingarten, Peter 165 Weitling, Wilhelm 216 Wellmer, Albrecht 28, 47, 218, 252, 469, 502, 510 Weyand, Jan 26 Wheen, Francis 48 White, Hayden 426 Wiards Mathias 500 Wieacker, Franz 311 Wieland, Wolfgang 53

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Wilde, Lawrence 420 Wildt, Andreas 29–31, 35, 48, 301, 304 Wimmer, Reiner 70, 76, 80, 87, 351, 354 Wolf, Dieter 382, 399, 407 f., 411 Wolff, Christian 311 Wood, Allen W. 32–34, 36, 47, 50 Wright, Eric Olin 540 Young, Gary 35 Zanetti, Véronique 108 Zech, Reinhold 543 Zunke, Christine 533

Kapitalismus und marxistische Rechtstheorie bei Velbrück Wissenschaft Cornelius F. Moriz Markt und Teilhabe Über Sein und Sollen in der kapitalistischen Moderne 420 Seiten · ISBN 978-3-95832-100-7 · EUR 39,90 Aufgabe der Politik wäre es, gedeihliche Lebensbedingungen für alle wohlfahrtsstaatlich zu garantieren. Dass sie daran scheitert, ist nach Cornelius F. Moritz ihrer Fixierung auf Erwerbsarbeit geschuldet. Während die soziologische Beschreibung und Analyse der monetären Mechanismen sozialer In- und Exklusion im Fokus des ersten Teils des Buches steht, ist deren sozialphilosophische Reflexion Aufgabe des zweiten. Ziel ist es, die ungleiche Verteilung der individuellen Lebens- und Teilhabechancen systematisch mit den wichtigsten, empirisch verankerten Gerechtigkeitsvorstellungen westlicher Gesellschaften zu bewerten. Dieser Vergleich von Sein und Sollen kann dann nicht nur dazu dienen, sich zur kapitalistischen Moderne soziologisch aufgeklärt und gerechtigkeitstheoretisch reflektiert ins Verhältnis zu setzen. Er dient auch als Basis für die Diskussion der sachlichen wie normativen Vor- und Nachteile eines Bedingungslosen Grundeinkommens, das seit einigen Jahren wieder verstärkt als mögliches sozialpolitisches Instrument zur Bekämpfung von Armut und Exklusion verhandelt wird.

Linda Lilith Obermayr Die Kritik der marxistischen Rechtstheorie Zu Paschukanis’ Begriff der Rechtsform 284 Seiten · ISBN 978-3-95832-296-7 · EUR 39,90 Eugen Paschukanis’ Rechtstheorie sagt nicht, wie das Recht sein, sondern, wie es erkannt werden soll. Der Begriff der Rechtsform ist dafür von zen­ traler Bedeutung. In ihm ist die Dialektik von Freiheit und Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft erfasst. Ihn zu entfalten heißt, in der Darstellung des Rechts zugleich dessen immanente Kritik zu leisten. Linda Lilith Obermayrs Studie expliziert den Rechtsformbegriff in seiner engen Beziehung zur Kritik der politischen Ökonomie von Marx. In Form der Einwände des österreichischen Rechtstheoretikers Hans Kelsen macht sie zugleich eine ­exemplarische Gegenposition stark, an der sich Paschukanis’ These einer umfassenden Selbstkritik unterziehen kann. Erst in Konfrontation mit Kelsens Positivismus und methodischem Reinheitspostulat tritt die Pointe marxistischer Rechtsformkritik in ihrer Radikalität hervor: Objektivität und Subjektivität, Unmittelbarkeit und Vermittlung, Wirklichkeit und Schein stellen sich zunehmend als die Gegenteile ihrer selbst dar.

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Kritische Theorie bei Velbrück Wissenschaft Sven Ellmers, Philip Hogh (Hg.) Warum Kritik? Begründungsformen kritischer Theorien 392 Seiten · ISBN 978-3-95832-063-5 · EUR 39,90 Seit ihrer Entstehung ging es der kritischen Theorie in ihren unterschiedlichen Ausführungen stets darum, die bestehende Gesellschaft mit ihren normativen Ordnungen zu kritisieren. Mit der Veränderung des Gegenstandsbereichs veränderten sich jedoch auch die normativen Maßstäbe der Kritik, wodurch die Frage nach den Gründen, aus denen Kritik geübt wird, für das Selbstverständnis der kritischen Theorie eine bedeutende Rolle spielt. Der vorliegende Band geht den unterschiedlichen Begründungsformen von Kritik nach, die sich in klassischen und gegenwärtigen kritischen Theorien finden lassen. Dabei werden sowohl zu klassischen Positionen der Frankfurter Schule (Adorno, Habermas, Honneth), zu Reaktualisierungen kantianischer, hegelianischer und marxistischer Theorien als auch zu aktuellen Ansätzen des Critical Realism und des Perfektionismus Beiträge geliefert. Die Leser:innen finden einen differenzierten Überblick über die unterschiedlichen Begründungsstrategien kritischer Theorien und erfahren, inwiefern die kritische Theorie einen unverzichtbaren Beitrag zur Philosophie und Gesellschaftstheorie der Gegenwart darstellt. Mit Beiträgen von Peggy Breitenstein, Hauke Brunkhorst, Volkan Cidam, Fabian Freyenhagen, Christoph Henning, Steffen Herrmann, Philip Hogh, Hannes Kuch, Frank Kuhne, Christine Kirchhoff, Johanna Müller, Stefan Müller-Doohm, Hartmut Rosa.

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