Mann wird man: Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam [1. Aufl.] 9783839409923

Junge muslimische Männer sind die neuen Sündenböcke in den westlichen Gesellschaften - sie werden dämonisiert und sensat

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Mann wird man: Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam [1. Aufl.]
 9783839409923

Table of contents :
INHALT
Einführung: Migration, Islam und Maskulinitäten
ERSTER TEIL: MEDIALE (DE-)KONSTRUKTIONEN
Stigmatisierte Männlichkeit: Muslimische Geschlechterbeziehungen und kulturelle Staatsbürgerschaft in Europa
Die Lokalisierung des Globalen Patriarchen: Zur diskursiven Produktion des »türkisch-muslimischen Mannes« in Deutschland
Globales Migrationskino, der Ghetto-Flâneurund Thomas Arslans »Geschwister«
ZWEITER TEIL: (RE-)KONSTRUKTIONEN VON INDIVIDUALITÄT
Männlichkeit kontextualisieren – Eine intersektionelle Analyse
Repräsentationen von Männlichkeiten. Bekir, der »andere« Mann – Eine Einzelfallanalyse
»Haben wir dich auch schon zum Mann gemacht?« – Über das Volk der Männer
»Viele türkische Väter fliehen von zu Hause«. Mehrfache ethnische Zugehörigkeiten und Vaterschaft im Spannungsfeld von hegemonialer und progressiver Männlichkeit
Muslimische Religiosität und Allgemeinwohlvorstellungen unter Männern in Deutschland und Frankreich: Der Umgang mit Negativzuschreibungen in zwei verschiedenen nationalen Kontexten
DRITTER TEIL: GEWALT – FAMILIE – ÖFFENTLICHKEIT
Risiken und Ressourcen in der Sozialisation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund
Einstellungen muslimischer Männer zu familialer Gewalt gegen Frauen und Kinder – Eine explorative Studie
VIERTER TEIL: FREMDBILDER – SELBSTBILDER
Herausforderungen: Adoleszente Männlichkeit und pädagogische Praxis
Von Löwen und Straßenmädchen – Konstruktionen und Störungen männlicher Identitäten von Jugendlichen in der Migrationsgesellschaft
Autorinnen und Autoren

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Lydia Potts, Jan Kühnemund (Hg.) Mann wird man

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2008-09-15 15-49-27 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0284189388752160|(S.

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Lydia Potts, Jan Kühnemund (Hg.)

Mann wird man Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam

2008-09-15 15-49-27 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0284189388752160|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Lydia Potts, Jan Kühnemund Satz: Jan Kühnemund Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-992-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2008-09-15 15-49-27 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0284189388752160|(S.

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INHALT

Einführung: Migration, Islam und Maskulinitäten LYDIA POTTS & JAN KÜHNEMUND

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ERSTER TEIL: MEDIALE (DE-)KONSTRUKTIONEN Stigmatisierte Männlichkeit: Muslimische Geschlechterbeziehungen und kulturelle Staatsbürgerschaft in Europa KATHERINE PRATT EWING Die Lokalisierung des Globalen Patriarchen: Zur diskursiven Produktion des »türkisch-muslimischen Mannes« in Deutschland PAUL SCHEIBELHOFER Globales Migrationskino, der Ghetto-Flâneur und Thomas Arslans »Geschwister« BARBARA MENNEL

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ZWEITER TEIL: (RE-)KONSTRUKTIONEN VON INDIVIDUALITÄT Männlichkeit kontextualisieren – Eine intersektionelle Analyse KATRIN HUXEL

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Repräsentationen von Männlichkeiten. Bekir, der »andere« Mann – Eine Einzelfallanalyse KAJA SWANHILT HAEGER

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»Haben wir dich auch schon zum Mann gemacht?« – Über das Volk der Männer ÜMIT GÜRKAN BUYURUCU »Viele türkische Väter fliehen von zu Hause«. Mehrfache ethnische Zugehörigkeiten und Vaterschaft im Spannungsfeld von hegemonialer und progressiver Männlichkeit MICHAEL TUNÇ Muslimische Religiosität und Allgemeinwohlvorstellungen unter Männern in Deutschland und Frankreich: Der Umgang mit Negativzuschreibungen in zwei verschiedenen nationalen Kontexten NIKOLA TIETZE

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DRITTER TEIL: GEWALT – FAMILIE – ÖFFENTLICHKEIT Risiken und Ressourcen in der Sozialisation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund HACI-HALIL USLUCAN

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Einstellungen muslimischer Männer zu familialer Gewalt gegen Frauen und Kinder – Eine explorative Studie MOHAMMED A. BAOBAID

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VIERTER TEIL: FREMDBILDER – SELBSTBILDER Herausforderungen: Adoleszente Männlichkeit und pädagogische Praxis HAKAN ASLAN Von Löwen und Straßenmädchen – Konstruktionen und Störungen männlicher Identitäten von Jugendlichen in der Migrationsgesellschaft DURSUN TAN

Autorinnen und Autoren

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Einführung: Migration, Islam und Maskulinitäten LYDIA POTTS & JAN KÜHNEMUND

I Die Beiträge dieses Bandes stellen eine Auswahl weiterentwickelter Beiträge zur DFG-Konferenz »Migration, Islam and Masculinities: Transforming Emigration and Immigration Societies«1 im Jahr 2007 in Oldenburg dar. Das Thema des Bandes wie der Konferenz bezeichnet dabei im wesentlichen ein internationales Forschungsdesiderat. Zwar liegen inzwischen einzelne Untersuchungen aus der Migrationsforschung vor, in denen Männlichkeit als Analysekategorie oder mindestens als wichtiges Kriterium herangezogen wird. Frühe Beispiele dafür sind die sozialpsychiatrische Exploration von Ben Jelloun (1977), der im französischen Kontext die »affektive und sexuelle Misere« muslimischmigrantischer Männer aus Nordafrika beschreibt oder auch Schiffauer (1983), der das Thema Gewalt und Ehre als »türkisch-deutschen Sexualkonflikt« begreift. Der von Yumul (2001) vorgelegte Aufsatz hat die Dimension der Körperlichkeit zum Ausgangspunkt; umfassendere biografische Zugänge eröffnet Tietze (2001), die religiöse Orientierungen von migrantisch-muslimischen Männern in Deutschland und Frankreich komparativ betrachtet und auf die politisch-institutionelle Verfasstheit der jeweiligen Nationalstaaten bezieht. Die erste Generation männlicher Migranten aus der Türkei und ihre Selbstbilder, wie sie in biografischen Interviews zum Ausdruck kommen, sind das Thema der Untersuchung von Spohn (2002), während ansonsten der Fokus auf männliche Jugend1

Weitere Informationen zur Konferenz unter www.masculinities.de 7

LYDIA POTTS & JAN KÜHNEMUND

liche und junge Erwachsene der zweiten und dritten Migrationsgeneration gerichtet wird (vgl. u.a. Bohnsack 2002; Kaya 2005) und dabei vor allem Gewalt und Kriminalität (vgl. u.a. Toprak 2005; Spindler 2006) zum Thema werden. Eine erste Bündelung der disparaten Studien zu Migration und Männlichkeit enthält ein 2006 von der Heinrich-BöllStiftung herausgegebenes Heft. Doch für den deutschsprachigen wie den internationalen Forschungsstand trifft insgesamt das Fazit zu, das noch vor kurzem im »Handbook on Studies of Men and Masculinities« gezogen wurde: »Immigration research assumed a generic man, divorced of ethnicity, class, or other distinctions.« (Gerami 2005: 422) Dass Migrationsprozesse einhergehen mit Reorganisationen und Neudefinitionen von Geschlechterverhältnissen wurde bisher primär im Hinblick auf Frauen und Mädchen zum Thema, so dass sich Migrantinnenforschung durchaus als eigenes Gebiet etabliert hat. Die Dynamiken verändern jedoch auch die Rollen der Ehemänner und Väter, der Söhne und Brüder. Schiffauer (2000) stellt im Hinblick auf männliche Migranten fest, dass zum Spektrum dieser Veränderungen Akzentuierungen traditionaler, religiös oder ethnisch definierter Konzepte gehören. Neben (Re-) Traditionalisierungen werden aber auch Diskurse zu Modernität(en) und translokalen Identitäten entfaltet. Auch die Dekonstruktion von dominanten Geschlechterverhältnissen der Auswanderungs- wie der Einwanderungsgesellschaften können mit Migrationsprozessen einhergehen, wie vielfältige Befunde aus der Familien- und Frauenforschung belegen. In der internationalen Maskulinitätsforschung, die sich erst in jüngster Zeit systematisch mit Migration beschäftigt, sind diese allerdings bisher kaum zur Kenntnis genommen worden. Dieser Mangel steht im Widerspruch zum Mainstream der Männlichkeitsforschung, in dem die soziale Analyse von Machtverhältnissen eine wesentliche Rolle einnimmt und das Augenmerk auf die Beziehung unterschiedlicher Platzanweiser in bezug auf Klasse, Ethnie, sexuelle Orientierung, Alter usw. gerichtet ist (vgl. Connell 2006). Generell wurde bisher in der Maskulinitätsforschung das Thema Migration eher beiläufig erwähnt, migrantische Maskulinitäten als eigenständiges Thema wurden kaum behandelt. Das zeigt zum Beispiel die Durchsicht der Beitragstitel der zehn bislang publizierten Jahrgänge der Zeitschrift »Men and Masculinities«, in der das Thema Migration oder Diaspora bisher komplett fehlt. Ein weiteres Beispiel: Connell (2005) entfaltet in dem inspirierenden Beitrag »Globalization, Imperialism, and Masculinities« zwar einen konzeptionellen Rahmen für die Entwicklung einer globalen Perspektive in Studien zu Männern und Männlichkeit, jedoch handelt es sich hierbei in wesentlichen Teilen um ein Desiderat. Zugleich bleibt die Dimension der Migra8

EINFÜHRUNG: MIGRATION, ISLAM UND MASKULINITÄTEN

tion, die von Anfang an die Globalisierung begleitete, unberücksichtigt. So kann mit Brandes (2002: 25) zusammenfassend festgestellt werden, dass »die Erforschung ethnischer und nationaler Unterschiede von Männlichkeit weiterhin eine Leerstelle« darstellt, und zwar nicht nur in der deutschen Forschung. Das bisher Skizzierte trifft in besonderer Weise auf die Untersuchung muslimisch-migrantischer Maskulinitäten zu. Gerami stellt dazu mit Recht fest, dass ein spezifisches Interesse erst im Kontext der Anschläge des 11. September 2001 zu verzeichnen ist. Dieses stellt vor allem den Unterschied zwischen westlicher und muslimischer bzw. migrantischer Identität heraus: »When colonized masculinities are considered, they are hyphenated ethnic masculinities of Western societies.« (Gerami 2005: 449f.) Allerdings steht diesen (medialen) Diskursen keine entsprechende (oder widersprechende) Forschungsliteratur gegenüber. Das Themenheft der Zeitschrift »Men and Masculinities« zum Islam (2003) etwa weist keinen Beitrag auf, in dem die Situation in muslimischen Diasporen oder migrantischen Kontexten zentrales Thema wäre. In Ouzganes (2006) Band »Islamic Masculinities« befasst sich einzig ein Beitrag mit Männern in der palästinensischen Diaspora: Anhand einer populären arabischsprachigen Zeitschrift analysiert Rothenberg die Erfahrungen von Diapora und Rückkehr palästinensicher Männer vor allem in bezug auf Liebe und Verlangen. Die Frage nach den Auswirkungen dieser Erfahrungen auf individuelle und kollektive Vorstellungen von Männlichkeit stellt sie dabei wiederum nicht. Auch in dem bereits erwähnten Beitrag Geramis (2005) mit dem Titel »Islamist Masculinitiy and Muslim Masculinities« bleibt die migrantische Erfahrung, die nicht zuletzt konstitutives Element in den Biografien vieler Islamisten war und ist, ebenso außen vor, wie der diasporische Islam, der sich in vielen Gesellschaften auf Grund von Migrationsprozessen etabliert hat. Der Zusammenhang von Diaspora und Konstruktionen von Maskulinität ist es, der im Mittelpunkt dieses Bandes stehen soll – mit der Akzentuierung auf muslimische Kontexte, da sie vielfach als spezifisch »fremd« begriffen werden und andererseits über die Migrationsprozesse global präsent sind. Die Konferenz im April 2007 unternahm den Versuch, erste Ergebnisse, die Forscherinnen und Forscher zu den Bereichen »Migration und Maskulinität« sowie »Maskulinität und Islam« vorgelegt haben, zu bündeln und mit Befunden aus verwandten Gebieten zu verknüpfen. Mit dieser daran anschießenden Publikation ausgewählter Konferenzbeiträge möchten wir auch zum Austausch deutscher und internationaler Wissensbestände beitragen.

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LYDIA POTTS & JAN KÜHNEMUND

II Der erste Teil des Bandes setzt sich mit den Konstruktionen migrantisch-islamischer Maskulinitäten in der deutschen Öffentlichkeit auseinander. Die Internationalität der Tagung spiegelt sich dennoch gerade in diesem Teil des Bandes: Zwei der Beiträge stammen aus US-amerikanischen universitären Kontexten (Ewing und Mennel), der Autor des dritten Beitrags ist an der Central European University in Budapest angesiedelt (Scheibelhofer). Während Ewings Beitrag sicherlich dadurch besonders produktiv wird, dass sie »von außen« den Blick auf die Diskurse in der deutschen Gesellschaft richtet, ist Mennels Text durchaus zu verstehen als Ausdruck dessen, dass die türkisch-deutschen kulturellen Produktionen, insbesondere im Bereich Film und Literatur, außerhalb Deutschlands im akademischen Bereich mehr Aufmerksamkeit erfahren als innerhalb. Ewing fasst migrantisch und/oder islamisch konnotierte Maskulinität im deutschen Kontext als »stigmatisierte Männlichkeit« und arbeitet heraus, welche spezifisch deutschen Dimensionen sich in der Auseinandersetzung mit differierenden Geschlechterverhältnissen und geschlechtlichen Identitäten spiegeln. Mehr noch als Ewing rückt Scheibelhofer die medialen Maskulinitätsdiskurse in den Mittelpunkt seiner Analyse: In Auseinandersetzung mit zwei populären Sachbüchern zeigt er zentrale Elemente der diskursiven Produktion des »türkisch-muslimischen Mannes« in Deutschland auf und verweist auf ihren inneren Zusammenhang mit globalisierten Diskursen, was im Resultat zur »Lokalisierung des globalen Patriarchen« führt. Mennels Beitrag bildet den Abschluss des ersten Teils, sie zeigt eine gegenläufige Diskurslinie zum Thema auf: Kulturelle Produktionen wie das deutsch-türkische Kino seit den neunziger Jahren bieten (Selbst-) Darstellungen migrantischer Maskulinität und eröffnen darüber neue Dimensionen, die sie mit dem Begriff des »Ghetto-Flâneurs« fasst und auf ihre Geschlechterkonstruktion hin untersucht. Der Auftakt des Bandes besteht somit aus Beiträgen, die aus kulturwissenschaftlicher und soziologischer Perspektive zentrale Diskurse in den Blick nehmen und die Notwendigkeit und Produktivität von Gegendiskursen unterstreichen. Die Aufsätze, die den zweiten Teil »(Re-)Konstruktionen von Individualität« bilden, können als Versuche gelesen werden, einige Desiderate des ersten Teils umzusetzen. Dieser Teil richtet den Blick auf individuelle Verarbeitungsformen und biografische Strategien, auf Selbstbilder mit oder ohne expliziten Bezug zu Fremdbildern und -wahrnehmungen, auf die Vielfalt der Maskulinitätskonstruktionen in der Phase 10

EINFÜHRUNG: MIGRATION, ISLAM UND MASKULINITÄTEN

der Adoleszenz und bei jungen Erwachsenen. Vier der fünf Beiträge dieses Teils (Huxel, Haeger, Tunç und Tietze) basieren auf qualitativen empirischen Studien, die soziologisch oder sozialpädagogisch fundiert sind. Zunächst zeigt Huxel am Beispiel des fünfzehnjährigen Mehmet wie die Inszenierung einer gewaltbereiten Männlichkeit im Prozess migrantischer Adoleszenz zur Ressource wird – wobei sie verdeutlicht, dass zur Erklärung eben nicht der Verweis auf »fremde« Kulturzugehörigkeit hinreicht. Haeger stellt in das Zentrum ihres Beitrags ebenfalls einen adoleszenten jungen Mann türkischer Herkunft, dessen Maskulinität changiert zwischen femininen Anteilen und »coming out« als queer. Die Autorin arbeitet heraus, wie Bekir seine Individualität mit Familie und Peergroup defensiv verhandelt und welche Schwierigkeiten ihm dabei begegnen. Tunç stellt anschließend einige theoretische Überlegungen zur Übertragbarkeit des Forschungsansatzes der Intersektionalität von der Männer- auf die Väterforschung an und illustriert diese am Beispiel von Hakan, Vater von Drillingen. Der Beitrag aus der Feder von Buyurucu wurde als Pamphlet bzw. offensives Statement zur Kritik türkischer heteronormativer Maskulinität verfasst. Seine Darstellung der Rituale, durch die das Kind zum Mann (gemacht) wird, dokumentiert die Auseinandersetzung eines Schwulen, der in der Türkei aufwuchs und sich in Deutschland als Aktivist engagiert. Auch dieser Text hat biografische Dimensionen. Der Aufsatz von Tietze schließt diesen Teil ab. Sie arbeitet – wie zu Beginn bereits Ewing – spezifisch »deutsche« Dimensionen heraus. Die kulturanthropologische Perspektive wird hier jedoch durch eine soziologische abgelöst. Wie die meisten anderen Beiträge dieses Teils beruht die Analyse primär auf empirisch-qualitativen Daten, verbunden mit der komparativen Analyse Frankreich/Deutschland. Nicht nur durch den systematisch komparativen Blick, sondern auch dadurch, dass die Autorin explizit die Trias Muslimische Religiosität – Maskulinität – Migration/Diaspora als Bezugsrahmen wählt, beschäftigt sich der Text mit der Kernfrage der Tagung bzw. des Bandes. Tietze kommt zu dem Ergebnis, dass die Geschlechterbeziehungen in den öffentlichen Debatten über Muslime und integrationspolitische Herausforderungen in beiden Ländern zwar unterschiedlich thematisiert werden, sich in der Konsequenz aber kaum unterscheiden: Muslimische Männer werden als Repräsentanten einer Religionskultur wahrgenommen, von der es sich zu emanzipieren gilt. In den öffentlichen Diskursen zu türkisch-muslimischer Maskulinität ist spätestes seit dem 11. September 2001 die Frage der Gewalt in den Mittelpunkt gerückt, wobei sich insbesondere in Deutschland Diskurse um häusliche und familiale Gewalt (insbesondere »Zwangsheirat« 11

LYDIA POTTS & JAN KÜHNEMUND

und »Ehrenmorde«) als komplementär zum Thema terroristische Gewalt im öffentlichen Raum herauskristallisiert haben, wenn nicht gar stellvertretend dafür – nicht zuletzt in Verbindung mit Diskussionen um Jugendgewalt als Ausdruck einer »Parallelgesellschaft«. Die beiden Beiträge des dritten Teils »Gewalt – Familie – Öffentlichkeit« nehmen diese Diskurse insoweit auf als sie das Thema Gewalt behandeln, aber jenseits von Zuschreibungen und Skandalisierungen. Sie sind mit einem erneuten disziplinären Perspektivwechsel verknüpft. Beide Autoren sind Psychologen, die empirischen Methoden sind auch quantitativ orientiert. Uslucan beschäftigt sich mit den Risiken und Ressourcen in der Sozialisation von männlichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und geht einerseits komparativ vor: Er arbeitet heraus, wie sich Erziehungsstile zumindest in der Selbstwahrnehmung von Eltern und Jugendlichen in der Mehrheitsgesellschaft und in Familien mit türkischem Hintergrund ähneln, und dass Gewaltbereitschaft weniger vom kulturellen oder ethnischen Hintergrund der Jugendlichen abhängt als vielmehr von anderen Faktoren. Er konzentriert sich dann darauf, empirisch zu ermitteln, welche Faktoren Gewaltbereitschaft und Gewaltresilienz fördern. Zu seinen Ergebnissen gehört auch, dass Söhne viktimisierter Mütter eine besonders hohe Gewaltbereitschaft aufweisen – was das für Interventionskonzepte bedeuten sollte, ist sicherlich eine besonders wichtige Frage. Der zweite Beitrag dieses Teils stammt von einem jemenitischen Wissenschaftler, der in Kanada mit muslimischen Migranten arbeitet. Seine explorativ angelegte Forschung ist anwendungsbezogen und richtet den Focus auf die Vorstellungen, die die befragten Männer von ihrer Rolle in der Familie haben, wie sich aus ihrer Sicht familiale Gewalt darstellt und wie sie Interventionen durch kanadische Institutionen beurteilen. Diese diskursive Ebene zu dokumentieren ist innovativ und eröffnet die Möglichkeit, sie in Beratungs- und Interventionsarbeit anknüpfungsfähig zu machen und zu ihrer Dynamisierung beizutragen. Auch der erste der beiden Beiträge, die unter dem Titel »Fremdbilder – Selbstbilder« den Abschlussteil des Bandes bilden, knüpft unmittelbar an einem Praxisfeld an: Aslan arbeitet mit migrantischen Jugendlichen und nicht zuletzt mit denjenigen, die die Klischees vom hypermaskulinen Türken oder Araber etwa in den Varianten nationalistischer Kampfsportler, frommer Fundamentalist oder gewaltbereiter Hüter der Familienehre zu erfüllen scheinen. Als Pädagoge legt er ein engagiertes Plädoyer für eine offene Jugendarbeit vor, die darauf zielt, Reflexionsräume zu schaffen und Handlungsdimensionen aufzuzeigen – wobei sowohl das Verhalten der Jugendlichen als auch die gesellschaftlichen wie familialen Strukturen zum Thema werden. Auch Tan setzt am Spannungsfeld von Selbstbildern und Fremdbildern an. Er richtet den Blick 12

EINFÜHRUNG: MIGRATION, ISLAM UND MASKULINITÄTEN

auf die Vielfalt und Multidimensionalität der Maskulinitäts-Konstruktionen im Kontext von Migration und Diaspora, wobei er nicht zuletzt auslotet, wie auch Ehrkonzepte zu Ressourcen jenseits patriarchaler Dominanz werden könn(t)en. Mit seinem Beitrag legt er gewissermaßen einen Überblick zu den konkurrierenden Männlichkeitsbildern vor, die die Adoleszenz migrantischer Jugendlicher prägen und die von ihnen verhandelt werden. Zu welchem Ergebnis sie dabei gelangen, wie dieser Prozess zu bewältigen sei, hängt dabei nicht zuletzt davon ab, ob der von Ewing in ihrem Eingangsbeitrag geschilderte Diskurs um »stigmatisierte Männlichkeit« in der deutschen Öffentlichkeit aufgebrochen werden kann.

III Wenn es darum geht, die komplexen Zusammenhänge und Brüche auszuloten, die zwischen den drei begrifflichen Polen Migration – Maskulinität – Islam bestehen, so ist dieser Auftrag in Hinblick auf eine systematische Gesamt- oder Überblicksdarstellung derzeit auf Grund der Forschungslage wohl nicht einlösbar. Aber der vorliegende Sammelband setzt gegen den herrschenden monolithischen Blick die Multiperspektivität, schlägt theoretische wie empirische Zugänge vor und setzt sie teils prospektiv, teils exemplarisch um. Er liefert damit Bausteine für das Verständnis des Zusammenwirkens von Maskulinitäten als Prozesse von Sozialisation, Identität und Positionierung, Migration als transgenerational wirkendes Lebensereignis und konstitutiv für die Zugehörigkeit zur migrantischen oder ethnisch-diasporischen Gemeinschaft und dem Islam, der jenseits von erhobenen oder zugeschriebenen Macht- und Herrschaftsansprüchen auch verstanden werden kann als individuelle oder kollektive religiöse Praxis, als ethischer Bezugsrahmen und/oder als (identitäts-)politisches Statement in vielfältigen Varianten. Unser Dank gilt im Zusammenhang mit der Konferenz und diesem Band neben allen Beitragenden der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur sowie dem Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

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LYDIA POTTS & JAN KÜHNEMUND

Literatur Ben Jelloun, Tahar (1977): Las plus haute des solitudes. Misère affective et sexuelle d’émigrés nord-africains, Paris: Éditions du Seuil. Bohnsack, Ralf (2002): »›Die Ehre des Mannes‹ – Orientierung am tradierten Habitus zwischen Identifikation und Distanz bei Jugendlichen türkischer Herkunft«. In: Margret Kraul/Winfried Marotzki (Hg.), Biographische Arbeit, Opladen: Leske + Budrich, S. 117-141. Brandes, Holger (2002): Der männliche Habitus. Band 2. Männerforschung und Männerpolitik, Opladen: Leske + Budrich. Connell, R. W. (2005): »Globalization, Imperialism, and Masculinities«. In: Michael S. Kimmel, Jeff Hearn, R.W. Connell (Hg.), Handbook of Studies on Men and Masculinities. Thousand Oaks: Sage, S. 7189. Connell, R. W. (2006): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Gerami, Shahin (2005): »Islamist Masculinity and Muslim. Masculinities«. In: Michael S. Kimmel, Jeff Hearn, R. W. Connell (Hg.), Handbook of Studies on Men and Masculinities. Thousand Oaks: Sage, S. 448-457. Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) (2006): Migration und Männlichkeiten. Dokumentation einer Fachtagung des Forum Männer in Theorie und Praxis der Geschlechterverhältnisse und der Heinrich-Böll-Stiftung am 9./10. Dezember 2005 in Berlin. Schriften zur Geschlechterdemokratie 14, Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung. Kaya, Ali (2005): ›Sicher in Kreuzberg‹. Constructing Diasporas. Turkish Hip-Hop Youth in Berlin, Bielefeld: transcript. Kimmel, Michael S./Hearn, Jeff/Connell, R. W. (Hg.) (2005): Handbook of Studies on Men and Masculinities, Thousand Oaks: Sage. Ouzgane, Lahoucine (Hg.) (2006): Islamic Masculinities, London: Zed Books. Rothenberg, Celia (2006): »›My Wife is from the Jinn‹. Palestinian Men, Diaspora and Love«. In: Lahoucine Ouzgane (Hg.): Islamic Masculinities, London : Zed Books, S. 89-104. Schiffauer, Werner (1983), Die Gewalt der Ehre. Erklärungen zu einem türkisch-deutschen Sexualkonflikt, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Schiffauer, Werner (2000): Die Gottesmänner. Türkische Islamisten in Deutschland, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Spindler, Susanne (2006): Corpus delicti. Männlichkeit, Rassismus und Kriminalisierung im Alltag jugendlicher Migranten, Münster: Unrast. 14

EINFÜHRUNG: MIGRATION, ISLAM UND MASKULINITÄTEN

Spohn, Margret (2002): Türkische Männer in Deutschland. Familie und Identität. Migranten der ersten Generation erzählen ihre Geschichte, Bielefeld: transcript. Tietze, Nikola (2001): Islamische Identitäten. Formen muslimischer Religiosität junger Männer in Deutschland und Frankreich, Hamburg: Hamburger Edition. Toprak, Ahmet (2005): Das schwache Geschlecht. Die türkischen Männer. Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral der Ehre, Freiburg i.B.: Lambertus. Yumul, Arus (2000): »Body as an Unfinished Project«. In: Elcin KürsatAhlers/Dursun Tan/Hans-Peter Waldhoff (Hg.), Türkei und Europa. Facetten einer Beziehung in Vergangenheit und Gegenwart, Frankfurt/M.: IKO Verlag für Interkulturelle Kommunikation.

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E RSTER T EIL : M EDIALE (D E -)K ONSTRUKTIONEN

Stigmatisierte Männlichkeit: Muslimische Geschlechterbeziehungen und kulturelle Staatsbürgerschaft in Europa 1 KATHERINE PRATT EWING

Die verschleierte Muslimin ist in den westlichen Medien zum Spektakel geworden. Immer wieder erscheint sie auf den Titelseiten von Zeitschriften und Tageszeitungen und ist das Symbol für die Herausforderung an die europäischen Regierungen, mit der Integration großer und wachsender muslimischer Populationen umzugehen. Viele gilt das Kopftuch als Symbol des Scheiterns der als GastarbeiterInnen in Länder wie Frankreich und Deutschland gekommenen ImmigrantInnen, sich der Kultur ihres europäischen Gastgeberlandes anzupassen, selbst nach generationenlanger Anwesenheit. Zahlreiche Geschichten über und von muslimischen Frauen, insbesondere kopftuchtragenden, porträtieren diese als Opfer männlicher Brutalität, die es vor traditionellen, männlichen Moralvorstellungen zu retten gilt, welche häufig als die totale Kontrolle über den weiblichen Körper und seine Handlungen verstanden werden. Memoiren von Frauen, die versuchten Ehrenmorden, Zwangsverheiratung und anderen Brutalitäten entkommen sind, werden von Herausgebern und Kritikern aufgegriffen und verwandeln sich in internationale Beststeller, teilweise auch deshalb, weil sie die Erwartungen ihres Zielpublikums erfüllen und bei ihm moralische Entrüstung auslösen.2 1 2

Übersetzt von Vivi Betin. Diese Forschung wurde von der American Academy in Berlin unterstützt. Auf dem Umschlag des Bestsellers »Burned Alive« befindet sich z.B. ein Zitat aus der Washington Post: »Lässt international die Alarmglocken läuten [...] Eine so schockierende Geschichte [...] [und] nichts weniger als ein Wunder.« (Souad 2004: Umschlag) Teresa Taylor behauptet indessen, 19

KATHERINE PRATT EWING

Die negative Darstellung der in solchen Geschichten auftauchenden muslimischen Männer ist in Europa besonders dominant und spielt in vielen europäischen Ländern eine wichtige Rolle im politischen Prozess; sie beeinflusst die öffentliche Ordnung, die Gesetzgebung zur Staatsbürgerschaft sowie den Verlauf von Wahlen. Dabei gibt es nur einen geringen Zusammenhang zwischen diesen Geschichten und den Alltagserfahrungen der meisten heute in Europa lebenden Männer und Frauen mit muslimischem Hintergrund. Warum und wie haben sich diese negativen Stereotypen so einbürgern können, dass sie häufig gar nicht mehr bemerkt werden, nicht einmal von denjenigen, die sich mit sozialer Gleichheit und Minderheitenrechten beschäftigen? Wie gehen muslimische Männer angesichts solcher Stigmatisierung mit ihrer männlichen Identität um? In meinem kürzlich erschienenen Buch »Stolen Honor« (2008) stelle ich die These auf, dass sich die Stigmatisierung der muslimischen Männlichkeit aus einem Prozess ergibt, innerhalb dessen lokale kulturelle Praktiken westlicher Länder – insbesondere kulturspezifische Aspekte von Geschlechter- und Familienorganisation, wie z.B. die Kernfamilie und koedukativer Sportunterricht – im öffentlichen Diskurs mit allgemein akzeptierten, universell anwendbaren Vorstellungen von Menschenrechten und Demokratie vermischt werden. Dabei entsteht die Annahme, dass Minderheiten, die lokale kulturelle Erwartungen nicht erfüllen, automatisch auch nicht die Erwartungen an den/die BürgerIn einer westlichen Demokratie erfüllen. Auf Grund dieses Prozesses werden muslimische Geschlechter-Organisation und Familienbeziehungen als frauenunterdrückend identifiziert und der muslimische Mann als »fremd« charakterisiert. Im Namen der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte wird er stigmatisiert und als Antithese dieser Prinzipien mythologisiert. Wegen seiner männlichen Position in einer auf der Basis von Hierarchie und Geschlechtertrennung organisierten Familie wird angenommen, dass er sich durch Gewalt gegen und Unterdrückung der Frau Ehre und Respekt verschaffen will; ein Ansatz, der mit dem ethischen Subjekt einer Demokratie nicht vereinbar ist. Selbst sein eigener Status als ausgebeuteter Gastarbeiter und Angehöriger einer Minderheit, welche Opfer von sozialer Diskriminierung und Rassismus ist, wird durch diese Verbindung des muslimischen Mannes mit Terrorismus und

dass die Geschichte von Souad – palästinensisches Opfer eines versuchten Ehrenmords –, dessen französisches Original in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde und in internationalen Zeitungen wie der New York Times und Le Monde beträchtliches Interesse weckte, eigentlich erfunden sei. (Vorlesung an der Columbia University, 2006) 20

STIGMATISIERTE MÄNNLICHKEIT

häuslicher Gewalt verschleiert. Seine Charakterisierung als »fremd« löst moralische Entrüstung aus. Das Buch analysiert die Struktur der stigmatisierten Männlichkeit und ihre Auswirkungen auf die betroffenen Männer. Dabei konzentriert es sich auf eine wichtige Untergruppe der Muslime in Europa, in Deutschland lebende türkische Immigranten und ihre Nachkommen. In den europäischen Medien und im öffentlichen Diskurs wird die Situation der Muslime häufig als »Krise« und als Beweis für die Entwicklung einer »Parallelgesellschaft« dargestellt. Grund dafür ist die Wahrnehmung, dass sich muslimische Männer nicht assimilierten. In Hinterfragung dieser Wahrnehmung einer Krise behaupte ich, dass die Stigmatisierung muslimischer Männer zu diesem historischen Zeitpunkt eine wichtige Rolle bei der Herausbildung einer deutschen nationalen Identität und Subjektivität spielt. Jeder Nationalstaat erlebt die muslimische Herausforderung auf etwas andere Art und Weise. Auf Grund seiner schwierigen nationalsozialistischen Vergangenheit ist Deutschland besonders besorgt um die Schaffung und den Erhalt eines für demokratische Werte stehenden Staates. In der deutschen Nachkriegsverfassung ist die Gleichstellung der Geschlechter ein wesentlicher ideologischer Bestandteil zum Ausdruck dieser demokratischen Werte, und die deutsche Stereotypisierung muslimischer Männer reflektiert vor allem die Besorgnis um eine muslimische Geschlechter-Organisation, die als Bedrohung für die auf diesen universellen Werten beruhende Sozialordnung wahrgenommen wird. Dabei ist die deutsche Geschlechter-Organisation selbst mit kulturell und historisch spezifischen Formen der persönlichen Ehre, der körperlichen Disziplin und des sozialen Raums verbunden, welche die intimsten Aspekte der Beziehung zwischen BürgerIn und Staat kennzeichnen. Islamische Formen der Geschlechter-Organisation, körperlichen Disziplin und Ehrerhaltung vertragen sich in vielerlei Hinsicht nicht mit diesen deutschen Praktiken. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass diese nicht notwendigerweise unvereinbar sind mit den Prinzipien der Demokratie, die dem deutschen Nationalstaat und seiner Verfassung zugrunde liegen. (In diesem Zusammenhang ist wichtig zu erwähnen, dass die Praktiken bestimmter islamistischer Regimes und Gruppierungen wie z.B. der Taliban oder der Saudis nicht mit anderen islamischen Bewegungen gleichzusetzen sind). Vielmehr ist es die Vermischung kulturspezifischer Praktiken und Ideologien – wie dem deutschen Sportunterricht und der Einstellung zu Nacktheit – mit den allgemeineren Prinzipien der Menschenrechte und der Gleichstellung von Mann und Frau, welche die Stigmatisierung muslimischer Männlichkeit rechtfertigt und verschärft und sogar für die unsichtbar macht,

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die sich normalerweise über soziale Ungleichheit und Diskriminierung entrüsten. Die Stigmatisierung des männlichen Bevölkerungsteils einer Minderheit ist ein häufig von den dominanten Bevölkerungsgruppen verwendetes rhetorisches Mittel, insbesondere im Diskurs über nationale Identität. Ziel ist die Verstärkung der emotional überzeugenden Vorstellung eines normativen nationalen Staatssubjekts, indem eine Gruppe, die den nationalen und als universell erklärten Idealen nicht entspricht, als »fremd« deklariert wird. Das Geschlecht und der Platz des Selbst innerhalb sozialer Hierarchien sind fundamentale Aspekte unserer Erfahrung und Identität und dienen oft als »Futter« kollektiver Fantasien. Außerdem liefert der moderne Nationalstaat als Teil seines Erziehungs- und Regulierungsapparates Modelle der Einordnung der Individuen und der Geschlechterorganisation. In meiner Arbeit beschäftige ich mich mit den Leerstellen, die durch alltägliche Formen des staatlichen Handelns und durch besonders publikumswirksame Debatten und Kontroversen entstehen, Leerstellen, die implizit die nationale Vorstellungskraft so strukturieren, dass die Kategorisierung der Menschen nach Identitäten festgeschrieben wird und damit nur schwer angreifbar ist. Diese kollektiven Fantasien können auch die Ursache ganz grundlegender Einwände gegen die Möglichkeit voller kultureller Staatsbürgerschaft für eine stigmatisierte Minderheit sein. Abgesehen von vereinzelten Einwänden einiger ForscherInnen stellt die unreflektierte Stigmatisierung des muslimischen Mannes eine dieser Leerstellen dar. Eindimensionale Darstellungen muslimischer Männlichkeit finden sich sowohl in den Populärmedien als auch im akademischen Bereich. Für viele liberale WissenschaftlerInnen ist der muslimische Mann ein Problem. Sein Anspruch auf kulturelle Autonomie, legitimiert durch das Prinzip der kulturellen Rechte, kollidiert mit seiner von außen wahrgenommenen Rolle als Unterdrücker der muslimischen Frau. In diesem Diskursumfeld – inmitten liberaler und gesellschaftlich progressiver Modelle von Hybridität und Multikulturalität, wie man sie in populärer, politischer und wissenschaftlicher Literatur findet – wird dem Erkennen von und der Auseinandersetzung mit bestehenden negativen Stereotypen wenig Raum gegeben. Ebenso wenig ist Platz für die Schaffung eines positiven Bildes von Männlichkeit. Obwohl die Förderung von Männerund Frauenrechten nicht als Nullsummenspiel betrachtet werden sollte, ist ein Großteil der Rhetorik über den ideologischen Kampf für Frauenrechte genau so strukturiert. In diesem Kontext beruht die Stigmatisierung des muslimischen Mannes auf Kategorien und Praktiken, die natürlich erscheinen, weil sie unausgesprochen oder sogar unbewusst bleiben. Und eben weil hege22

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moniale Praktiken und Kategorien unbemerkt bleiben, werden sie auch nur selten in Frage gestellt, selbst von denen, die durch diese falsch dargestellt und benachteiligt werden. Die Situation muslimischer Frauen steht derzeit im Zentrum weltweiter ideologischer Diskussionen. Die Auseinandersetzungen um muslimische Frauen haben dazu geführt, dass sich negative Stereotypen über muslimische Männer noch tiefer einnisten konnten. Nach dem Beispiel innovativer Arbeiten von deutschen WissenschaftlerInnen wie Werner Schiffauer (1991) und Margret Spohn (2002) ist mein Ziel die Einleitung eines Diskurses über ein nuancierteres Verständnis der in Europa lebenden muslimischen Männer durch die Nachzeichnung des derzeit vorherrschenden Diskurses und die Untersuchung seiner Auswirkungen auf junge Männer mit türkischem Hintergrund.

Die Untersuchung der Männlichkeit Simone de Beauvoir (1951) stellte vor vielen Jahren fest: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird dazu gemacht.« Ebenso werden Männer durch die im Rahmen der konkreten Situation ihrer Existenz zusammenwirkenden kulturellen und politischen Kräfte geformt. Zusammen mit dem sozialen Druck, der den Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen begleitete, sind zwei neue Männlichkeitsmodelle entstanden, die eine Entwicklung weg von Macho- hin zu interaktiven Verhaltensweisen betonen, welche durch Charakterzüge beschrieben werden, die häufig mit »weiblichem Verhalten« in Verbindung gebracht werden. Gleichzeitig entstand im Zusammenhang mit der Schwulenbewegung und den Bemühungen, angesichts einer stark normativ heterosexuell geprägten Männlichkeit alternative Sexualitäten und Geschlechterausrichtungen normal erscheinen zu lassen und sogar zu verherrlichen, ein großes Interesse an der Erforschung der Grenzen von Männlichkeit und der Stigmatisierung in Verbindung mit Homosexualität und »Gender-Bending«. In diesem sich entwickelnden Diskurs über Männlichkeiten blieb allerdings eine andere Art der Stigmatisierung so gut wie unbemerkt. Viele von uns betrachten sich als politisch korrekt, wenn sie den dominanten weißen Mann für seine »Macho«-Verhaltensweisen und -Haltungen kritisierten. Der Begriff »Macho« wird im Englischen häufig als Beleidigung verwandt, insbesondere in gebildeten Kreisen und unter AkademikerInnen. Es handelt sich um ein spanisches Wort, das mit der Zeit ins Englische, ins Deutsche und in viele andere nordeuropäische Sprachen gelangt ist. In den USA wird die mit dem Machismo in Verbindung 23

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gebrachte Form von Männlichkeit in höchstem Maße stigmatisiert und stereotypisiert: »Nach der Definition der US-amerikanischen Gesellschaft hat das Konzept des ›Machismo‹ einen eindeutig negativen Beiklang. Das Machotum wird häufig in Verbindung gebracht mit jemandem, der seine Frau schlägt, einem Schürzenjäger, einem Trinker, einem ›bien gallo‹ – einem, der Hahnenkämpfe austrägt.« (Rodriguez/Gonzales 1997)

Was dabei von AmerikanerInnen, die sich selbst als politisch korrekt betrachten, häufig unbemerkt bleibt, ist, dass dieses Etikett vor allem auf Männer lateinamerikanischer Herkunft angewandt wird und zu deren Marginalisierung beiträgt. Mit dem Erstarken kulturwissenschaftlicher Studien über den lateinamerikanischen Raum haben WissenschaftlerInnen in letzter Zeit damit begonnen, vorherrschende Stereotypen über Latino-Männer in Frage zu stellen (vgl. z.B. Gutmann 1996). Dabei wurde festgestellt, dass die Fehlübersetzung des Wortes »Macho« durchaus Folgen für die Identität lateinamerikanischer Männer gehabt hat: »Trunkenheit, Frauenmissbrauch, Krawallmachen [...] sind einige Fehlwahrnehmungen dessen, was Machosein bedeutet.« (Anaya 1996) Nicht nur ist daraus ein akzeptierter Stereotyp geworden, der häufig undifferenziert auf sämtliche hispanischen Männer angewandt wird, diese Darstellung hat vielmehr auch Auswirkungen auf Selbstachtung, Identitäten und auf das Verhalten hispanischer Jugendlicher in den USA. Einer der Gründer einer Gruppe beruflich etablierter, lateinamerikanischer Männer, deren Ziel es ist, jungen Lateinamerikanern positive Werte mitzugeben, stellt fest: »Dies ist verwirrend für junge Männer [...] Und einige junge Lateinamerikaner entsprechen dann dieser verzerrten Definition von Männlichkeit, indem sie als Reaktion auf ihr Leben in einer fremden Kultur, in der sie sich durch Rassismus und einen Mangel an Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten quasi entmannt fühlen, eine falsche Art von Männlichsein ausleben.« (Zit. nach Rodriguez/Gonzales 1997)

Diese Art unreflektierter Stigmatisierung einer kulturell bestimmten Männlichkeit ist eine wesentliche Komponente, welche auch die Diskussionen über muslimische Minderheiten in Europa prägt und welche wiederum Auswirkungen auf die Identifikations- und Integrationsmöglichkeiten muslimischer Männer in Deutschland hat. In Europa wird diese Stigmatisierung z.B. in Diskussionen über männliche Ehre sichtbar, ins-

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besondere im Zusammenhang mit so populären Themen wie dem Tragen von Kopftüchern, »Zwangsheirat« und »Ehrenmorden«. Das »Othering«, die Darstellung des Anderen als »fremd« durch Rassismus und Diskriminierung von Minderheiten, schlägt sich häufig in der Verunglimpfung der Männlichkeit des »Fremden« nieder. Im Zusammenhang mit Studien über die Behandlung kolonisierter Völker durch die europäischen Kolonialmächte wies Spivak auf die überhebliche Haltung hin, dass »der weiße Mann die schwarze Frau vor dem schwarzen Mann« retten müsse (1987). Es gibt feministische Stimmen, die durchaus der Meinung sind, man müsse das islamische Patriarchat von einer westlichen Position aus kritisieren. In solcher Argumentation werden nicht selten rhetorisch der radikaler Islam, authentische Ausdrucksformen arabischer und nahöstlicher Identität und – implizit – die Verhaltensweisen sämtlicher muslimischer Männer gleichgesetzt, ein Ansatz, der häufig zur Rechtfertigung neokolonialistischer Politikansätze herangezogen wird, so z.B. in Laura Bushs Radioansprache an die Nation nach den Anschlägen des 11. September auf das World Trade Center: »Der Kampf gegen den Terrorismus ist auch ein Kampf für die Rechte und die Würde der Frau.« (Bush 2001) Solche Aussagen reproduzieren nicht nur den Inhalt der Berichte des US-Außenministeriums (vgl. Rutter 2004), sondern auch die Argumente früherer Kolonialverwalter in Südasien und dem Nahen Osten, die diese Ideen benutzten, um ähnliche Eingriffe und paternalistische Politikstrategien als Teil des Diskurses über den Orientalismus zu rechtfertigen (vgl. Said 1978). Die Kolonien waren aber auch der Ort weiterer Stigmatisierungen der Männlichkeit kolonisierter Subjekte, von denen jedoch nicht alle darauf abzielten, lokale Geschlechterrollen auszuhebeln. In einigen Fällen bezeichnete die Darstellung der geschlechterbezogenen Subjektivität das Machtverhältnis zwischen Kolonist und Kolonisiertem, wie im Falle des indischen männlichen Subjekts, welches im Vergleich zum männlichen Engländer als weiblich dargestellt wurde. Dies galt insbesondere z.B. für den »weibischen bengalischen Babu«, wie die Briten im späten 19. Jahrhundert bengalische Intellektuelle titulierten (vgl. Sinha 1995). Die Stigmatisierung ist ein symbolischer Prozess, welcher eine hierarchische Beziehung zwischen dem Ich und dem »Anderen« kreiert. In kolonialen Darstellungen findet sich allerdings häufig ein tiefes Gefühl der Ambivalenz gegenüber diesem »Fremden«, eine Spannung zwischen dem hypersexualisierten, patriarchalen Wilden und dem unmännlichen, untergeordneten »Fremden«, welches manchmal sogar in der Darstellung des gleichen »Fremden« variiert und dadurch eine unbehagliche Spannung entstehen lässt. Die »fremde« Männlichkeit wird stigmatisiert und bildet das zweifelhafte Fundament, auf dem die dominante Männ25

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lichkeit des europäischen Kolonisten thront (vgl. Bhabha 1994; Fanon 1967). Sogar die kriegerischen Türken – gemäß ihrer Darstellung in der deutschen Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts – wurden als sanft und faul gezeichnet, wenn sie nicht gerade brutal und gewalttätig waren. Der Tropus der Männlichkeit wird folglich verwendet, um im Prozess der Schaffung eines nationalen Subjekts eine Minderheit zu stigmatisieren. In Deutschland stand insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus mit seinem übersteigerten Nationalismus die Männlichkeit des »arischen« Deutschen im Zentrum symbolischer Darstellungen und physischer Disziplin. Die Männlichkeit der Juden als das stigmatisierte »Fremde« wurde dagegen verunglimpft, meist durch die teilweise abenteuerlichen Darstellungen jüdischer Männer als verweiblicht (vgl. Linke 1997). In der Nachkriegszeit beinhaltete das nationale Projekt der Schaffung eines demokratischen Subjekts eine Verschiebung des Ideals deutscher Männlichkeit weg von militaristischer, hierarchischer Prägung hin zu einer egalitären Ausrichtung. Trotz dieses Wandels blieben einige Elemente im Prozess der Subjektbildung selbst erhalten, so z.B. die Tatsache, dass auch dieses neue männliche Subjekt auf der Existenz eines stigmatisierten »Fremden« beruht – eines ebenfalls transformierten »Fremden«, dessen Charakteristika von Männlichkeit weiterhin im Gegensatz zu denen des idealen männlichen Subjekts stehen. Der türkische muslimische Mann bietet sich hier als Beispiel für diese stigmatisierte Männlichkeit an: Was der deutsche Mann hinter sich gelassen hatte, wurde nun auf diesen »Fremden« projiziert.

Die türkische Minderheit in Deutschland: Nationale Vorstellung und kulturelle Staatsbürgerschaft Trotz der allgemeinen Angst in Deutschland vor einem »Scheitern« der Integrationsprozesse kann die öffentliche und politische Wahrnehmung dieses Themas nicht notwendigerweise wörtlich genommen werden. Was die TürkInnen in Deutschland angeht, stehen die Schuldzuweisungen für das Scheitern der Integration (sowohl gegen die ImmigrantInnen als auch gegen sich selbst für gescheiterte Politik und Untätigkeit) häufig nicht im Verhältnis zu den Ergebnissen quantitativer Studien, nach denen die Lage der türkischen ImmigrantInnen in Deutschland eigentlich ganz gut ist (vgl. Fertig 2004; Heckmann 1997; Kogan 2003). Der Großteil der empirischen Forschung begründet die andauernden Ungleichheiten im Bereich der Ausbildungs- und Arbeitsplatzsituation der Minderheiten mit strukturellen Hindernissen, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass die Integration dennoch in einem ordentlichen Tempo voranschreitet. 26

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Im Gegensatz zur akademischen Konzentration auf strukturelle Barrieren voller Integration besteht im öffentlichen sowie im politischen Diskurs die Tendenz, hauptsächlich die »Kultur« für das Scheitern verantwortlich zu machen. Es heißt, der Integrationsprozess scheitere auf Grund der kulturellen Rückständigkeit und der religiösen Orientierung türkischer ImmigrantInnen und einem damit verbunden Mangel an Motivation. Den ImmigrantInnen, insbesondere den Männern, wird unterstellt, Assimilation bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu vermeiden. Aus diesem Blickwinkel wird jeder sichtbare Versuch der ImmigrantInnen, an ihren kulturellen Traditionen festzuhalten, zum Beweis dieses Widerstands. Zusätzlich zum Kopftuch und anderen mit dem Islam oder dörflichen Traditionen in Verbindung gebrachten Praktiken, wie etwa sogenannter Ehrenmorde, zitieren Deutsche häufig Phänomene wie die große Zahl von Satellitenschüsseln in türkischen Stadtvierteln als Beweis des mangelnden Integrationswillens. In letzter Zeit beklagen die deutschen Medien die Entstehung von »Parallelgesellschaften« und fordern Gesetze, die die türkische Bevölkerung dazu zwingen, bestimmte kulturelle Praktiken aufzugeben, um »deutscher« zu werden. Statt zu fragen, worin die Probleme der Integration liegen oder warum diese als gescheitert betrachtet wird – wie es die deutsche Öffentlichkeit häufig tut – und statt mich in die ambivalente politische Debatte über Assimilation versus Entstehung von Minderheiten und Multikulturalismus verwickeln zu lassen, konzentriere ich mich auf die Stigmatisierung von Männlichkeit und muslimische Geschlechterbeziehungen im allgemeineren Sinne. Welche Leerstellen werden durch die öffentliche Debatte über Integration produziert, formuliert meist im Sinne der konkurrierenden Positionen von Assimilationismus und liberalem Pluralismus/Multikulturalismus? Ich stelle die Frage, welche Formen von Integration und Widerstand dieser Diskurs den betroffenen Männern eröffnet und welche Formen durch dessen Leerstellen ausgeschlossen werden. Wie wurde die Organisation von Geschlechteridentität als Strategie für den Umgang mit ImmigrantInnen und die Stärkung einer deutschen nationalen Identität genutzt? Das sich in Formen des staatlichen Handelns manifestierende Anliegen des modernen Nationalstaates, Bevölkerungsgruppen zu kontrollieren, schlägt sich nicht nur in der Disziplinierung und Regulierung des sexuellen Subjekts nieder, wie Foucault (1978) im ersten Band seiner »Geschichte der Sexualität« beschreibt, sondern auch im Umgang mit hierarchischen gesellschaftlichen Grenzen, inklusive denen von »Rasse« und ethnischer Zugehörigkeit. In bezug auf den Umgang mit Minderheiten und ethnischen Trennlinien und insbesondere dem muslimischen »Fremden« lässt sich feststellen, dass Foucaults Analyse einer europäi27

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schen Entwicklung, in der die Gesellschaft sich als ständig mit sich selbst im Krieg – gegen den Feind im Inneren – betrachtet, der deutschen öffentlichen Darstellung des muslimischen »Fremden« sehr ähnlich ist, insbesondere mit der immer weiter verbreiteten Vorstellung, dass TürkInnen und MuslimInnen inzwischen eine »Parallelgesellschaft« mitten in Deutschland bildeten. Das Aufkommen dieses Diskurses über die »Parallelgesellschaft« – obwohl in der öffentlichen Debatte häufig verbunden mit den kulturellen Praktiken türkischer MuslimInnen – lässt sich auf Formen staatlichen Handelns zurückführen, welche Minderheiten kategorisieren und kontrollieren. Darunter fallen die Handlungen solcher Institutionen, mit denen Minderheiten tagtäglich in Kontakt treten müssen. Diese Institutionen haben die Möglichkeit, die Subjektivität und die Praktiken derjenigen, die mit ihnen interagieren, zu beeinflussen. Wie Ong gezeigt hat, verschmelzen die alltäglichen Methoden staatlichen Handelns, so etwa auch die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen, und formen »Sonderkategorien des Bürger-Subjekts«. (2003: 6) Die Positionierung des Subjekts des/der ImmigrantIn findet auf vielen verschiedenen, oft subtilen Wegen statt, die dadurch nur noch leichter akzeptiert werden. Die Betonung der unvereinbaren kulturellen Unterschiede, die den öffentlichen Diskurs so beherrscht, ist aus diesen Formen staatlichen Handelns herzuleiten. Radtke argumentiert, dass nach Deutschland kommende MigrantInnen durch die Politik des deutschen Staates zu »ethnischen Minderheiten« gemacht wurden. Seines Erachtens ersetzt der »Multikulturalismus das Konzept des Pluralismus von Interessen durch eine Pluralität der Herkünfte« (1997: 255). Etwa sind Familienstruktur und Geschlechterorganisation unmittelbarer Gegenstand der Arbeit von Institutionen wie Heimen für Frauen oder Mädchen (welche natürlich in speziellen Fällen für Menschen jeglicher ethnischer Herkunft wichtig sind). Genauso existieren Regelungen, nach denen z.B. ein Kind aus der Obhut seiner Eltern entfernt werden kann, wenn seine Rechte missachtet werden. Während meiner eigenen Nachforschungen unter jungen Menschen türkischer Herkunft berichteten junge Frauen von ihren Problemen zu Hause; gleichzeitig wollten sie ihre Familien nicht aufgeben und in ein Heim gehen. Ganz im Gegenteil: In islamischen Studiengruppen lernen junge Frauen, sich nach dem Beispiel des Propheten gegen ihre Väter aufzulehnen. Ich habe Geschichten darüber gehört, wie es unter Jungen der zweiten Generation, die verrückt nach für ihre Familien unbezahlbaren Statussymbolen wie Turnschuhen waren, populär wurde, sich an die Sozialhilfebehörden zu wenden und zu behaupten, dass sie zu Hause misshandelt würden, damit man sie einer deutschen Familie zuweisen und ihnen einen Geldbetrag zugestehen 28

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würde. Die Anwendung solcher Regelungen hat in einigen Fällen unter MuslimInnen zu Entrüstung über die Falschdarstellung türkischer und muslimischer Praktiken geführt und die Distanz zwischen der türkischen Minderheit und der deutschen Gesellschaft weiter vergrößert. Ebenso kann die Bereitstellung von Sozialleistungen den Mangel an voller kultureller Staatsbürgerschaft verstärken. Durch die Schaffung allgemein akzeptierter Bilder, die den Bereich des Möglichen und sogar die Umrisse des Widerstands abgrenzen, spielt auch die Populärkultur eine wichtige Rolle bei der Definition des Subjekts. Zeichen verwandeln sich in mythische Bilder (vgl. Barthes 1972), die in einer Reihe diskursiver Kontexte wieder auftauchen und allgemein angewendet werden, um Differenz zu artikulieren, einzufrieren oder zu naturalisieren. Dieser Prozess zeigt sich sowohl in den weit verbreiteten Schriften zahlreicher ExpertInnen und SozialaktivistInnen als auch bei den AnwenderInnen der Sozialpolitik, wie etwa SozialarbeiterInnen. Filmbilder sind besonders eindrucksvoll, wenn sie in Einklang stehen mit staatlichem Handeln verbundenem Wissen, wie z.B. staatlichen Regelungen, bürokratischem Wissen, Sozialleistungen oder dem Wissenschaftsapparat, der häufig für die Entstehung politischer Strategien verantwortlich ist. Wenn all diese Quellen der Wissensproduktion in ihrer Darstellung des »Problems« der Integration oder der »Not« der türkischen oder muslimischen Frau im Einklang stehen, erhalten sie ihre Legitimität aus der Perspektive der Wissenschaft, welche als objektiv und maßgeblich betrachtet wird. In diesem Diskurs wird das Subjekt aktiv konstituiert und diszipliniert (vgl. Foucault 1978). Reaktionen auf Filme wie die Fernsehproduktion »Wut« (Aladağ 2006) zeigen einige Konturen dieser nationalen Vorstellung. Ich zitiere einen Nutzer bei www.imdb.de: »›Wut‹ ist ein mutiger und ehrlicher Film. Einen türkischen Jungen in einem deutschen Film als Bösewicht zu zeigen, war ein Tabu.« Dieses Verständnis eines Tabus erinnert an die Reaktion von Eltern bei einer eigens anberaumten Schulversammlung in Berlin, nachdem türkische Jungen aus der Gegend gesagt hatten, dass Hatin Sürücü, Opfer eines sog. Ehrenmords, nur »bekommen hat, was sie verdient«. Auch diese Eltern sagten, sie hätten Erleichterung verspürt, dass man ihnen im Rahmen der Versammlung die Möglichkeit gegeben habe, die Jungen und ihre Familien zu kritisieren, da damit endlich ein Tabu gebrochen worden sei. Dieser Ehrenmord, welcher laut Presse und zahlreicher ExpertInnen mit dem Islam und der Kopftuchproblematik verknüpft war, wurde zur Rechtfertigung für die Verteufelung muslimischer Männer herangezogen, ironischerweise wurde er immer wieder in Verbindung gebracht mit der Schmähung von Juden unter den Nazis: Nach Meinung von AktivistInnen war das Kritisieren von Minderheiten nach 29

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den Erfahrungen der Nazizeit zum Tabu geworden; folglich müsse man nun, in Abgrenzung zu dieser historischen Erfahrung, Minderheiten kritisieren dürfen – quasi als Bruch mit einem alten Tabu. In den letzten Jahren gab es eine Reihe von Kontroversen und Konflikten, die zu umfangreichen Reaktionen der Medien geführt haben und eine Rolle bei der Beschreibung von muslimischer/türkischer Männlichkeit in Deutschland spielen. Ein zentrales Ereignis habe ich bereits erwähnt, die mediale Aufregung um einen »Ehrenmord« in Berlin, bei dem Hatun Sürücü von ihren Brüdern ermordet wurde, weil diese ihren nicht-traditionellen Lebensstil nicht guthießen. Die deutsche Presse brachte den Mord in Verbindung mit islamischer Praxis und dem Kopftuch, sehr zur Bestürzung türkischer und muslimischer Persönlichkeiten. Ein anderer Fall betrifft eine Reihe von Gerichtsverfahren zur Kopftuchfrage selbst. In der deutschen öffentlichen Diskussion sowie im westlichen Diskurs allgemein ist das Kopftuch häufig mit der Vorstellung verknüpft, dass im Islam die Frauen von ihren Männern unterdrückt werden. Auch einige der vorgeschlagenen Lösungen für die bestehenden Integrationsprobleme sorgten für kontroverse Debatten. Diese Kontroversen, von denen sich die meisten über die Frage der Staatsbürgerschaft entspinnen, sind sowohl zum Sinnbild für die Verwerfungen innerhalb der deutschen nationalen Identität geworden als auch für die problematische Position von ImmigrantInnen in der deutschen Gesellschaft. Eine besonders hitzige Debatte brach im Jahr 2000 über die Verwendung des Begriffs der »Leitkultur« aus, die ein konservativer Politiker als Maß für Assimilation vorgeschlagen hatte und welche Erinnerungen an die Nazizeit wach werden ließ. Obwohl die Debatte sich seit einigen Jahren beruhigt hat, wurde Ende 2004 der Begriff der »Leitkultur« wiederbelebt, im Rahmen der erneut entflammten Diskussion über kulturelle Staatsbürgerschaft. Dann wurde 2006 als Richtlinie zur Entscheidung über die Eignung von BewerberInnen für die deutsche Staatsbürgerschaft ein kontroverser, sogenannter »Muslimtest« entwickelt. Die in diesem Test enthaltenen Fragen enthüllen die Vorstellungen vom »Deutschsein« im offiziellen Diskurs sowie die spezifischen Punkte, von denen angenommen wird, dass hier der Kern des »Deutschseins« mit dem »Muslimsein« oder »Türkischsein« kollidiere. (Vergleicht man diesen Test mit einem ähnlichen Test in den Niederlanden, stellt man fest, dass dort ganz andere Sorgen und Themen vorherrschen.)

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Ehre und Autonomie Mein Ziel in »Stolen Honour« ist die Dekonstruktion des diskursiven Zusammenhangs zwischen dem demokratischen Subjekt und den kulturspezifischen westlichen Ideologien von Geschlechter- und Familienorganisation sowie der damit verbundenen normativen oder hegemonialen Vorstellung von Männlichkeit. Dazu verfolge ich zwei wesentliche Strategien: Einerseits zeige ich, wie diese Verschmelzungen und Stigmatisierungen im öffentlichen Diskurs sowie in einigen der bereits erwähnten kontroversen Debatten auftauchen. Andererseits illustriere ich, wie muslimische Männer selbst kämpfen, um ihre eigenen kulturellen Praktiken und männlichen Identitäten mit ihrem Verständnis eines demokratischen Subjekts in Einklang zu bringen. Ich möchte kurz auf einen Aspekt des westlichen Diskurses über das Individuum und die Autonomie eingehen, der – nicht nur in Deutschland – eine Rolle für die Wahrnehmung türkischer Männer spielt, insbesondere in einer Interview-Situation. Ein großer Teil des Diskurses über türkische Männer dreht sich um das Konzept der »Ehre«. Vermutungen über diesen traditionellen Ehrbegriff umfassen dabei alle Dimensionen, die türkische Männlichkeit als unmodern darstellen: Ehre beschreibe die Orientierung an einer Gruppe statt am Individuum, sie beziehe sich auf die Familie, und nicht auf das Individuum. Ehre basiere auf der hierarchischen Kontrolle der Frauen und der Unterwerfung unter die Älteren, statt auf Gleichheit. Sie missachte die Autonomie der Frauen und damit das grundlegende rechtliche Prinzip des freien und autonomen Subjekts und beruhe auf der Bereitschaft, Gewalt anzuwenden. Das Verhalten türkischer Männer gegenüber ihren Familien wird meist entweder verstanden als Ausdruck einer »traditionellen« Männlichkeit auf der Basis des Erhalts der Familienehre durch hierarchische Autorität und die Kontrolle der Frauen, oder – im Fall derjenigen, die sich in die deutsche Gesellschaft integriert haben – als Beweis, dass sie ihre türkische Kultur aufgegeben und eine »moderne«, egalitäre Einstellung angenommen haben. Bei der Analyse der Strukturen türkischer Familien in Deutschland in allgemeineren Studien über muslimische Familien wenden ForscherInnen häufig genau diese Dichotomie an: Sie benutzen analytische Werkzeuge, die mehrere verschiedene Attribute vermischen, wodurch der Kontrast zwischen westlichem und traditionellem Selbst, Familienorganisation und Geschlechterbeziehungen noch verstärkt wird. Das Konzept der traditionellen Männlichkeit subsummiert in der Tat mehrere Attribute, die dem westlichen Verständnis eines vom demokratischen Staat geprägten liberalen Subjekts entgegenstehen. Dazu gehö31

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ren die Dichotomien Autonomie und Heteronomie, Individuum und Gruppe, Unabhängigkeit und gegenseitige Abhängigkeit sowie Gleichheit und Hierarchie. Die Vorstellung des idealen westlichen Selbst ist eine Mischung dieser Attribute, eine Mischung, welche die Verwischung der konzeptionellen Unterscheidungen zwischen diesen normal werden lässt. Diese diskursive Mischung verlangt vom modernen Subjekt, dass es alle dieser Attribute aufweist. Die Existenz eines Attributs jeweils einer Seite der Dichotomie Moderne/Tradition gilt als Zeichen dafür, dass gleichzeitig auch andere Attribute präsent sind. So kann ein Beobachter etwa annehmen, dass ein Mann oder eine Frau, die in einer hierarchisch organisierten Großfamilie leben, unter einem Mangel an Autonomie oder Unabhängigkeit leiden und ihr Lebensstile daher als »traditionell« zu bezeichnen seien. Diese Mischung funktioniert als Linse, durch die viele Deutsche türkische Männer betrachten. Wenn wir aber einige dieser vermischten Attribute herausarbeiten, ist es durchaus möglich, die Rolle türkischer Männer in ihren Familien differenzierter zu betrachten. Eine Möglichkeit ist, zwischen sozialer Unabhängigkeit einerseits und emotionaler Autonomie und Individualität andererseits zu unterschieden. Eine andere Möglichkeit ist die Anerkennung der Tatsache, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Ideologie einer hierarchisch organisierten Familie – welche das äußere Erscheinungsbild der Familie prägen mag – und den tatsächlichen Entscheidungsprozessen und Machtverhältnissen innerhalb der Familie, die sich mit anderen Mitteln untersuchen lassen. Diese letzte Unterscheidung dürfte Beobachtern besonders schwer fallen, da im Islam eine strikte Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem besteht und in vielen Familien mit türkischem Hintergrund die Wahrung der Privatsphäre ein Grundprinzip des Erhalts der Familienehre ist. Ein ehrbarer muslimischer Mann wird wahrscheinlich nicht darüber sprechen, was hinter verschlossenen Türen abläuft oder »verdeckt« ist: der private Bereich des häuslichen Lebens. So spricht ein Mann normalerweise im öffentlichen Rahmen nicht über die Beziehung zu seiner Frau. Was er über seine Frau sagt und wie er seine Beziehung zu ihr in einem für ihn öffentlichen Rahmen darstellt, wie z.B. in einem Interview mit einem/r ForscherIn, muss nicht unbedingt der tatsächlichen »privaten« Natur seiner Beziehung zu ihr oder den tatsächlichen Entscheidungsprozessen in seiner Familie entsprechen. Ein sich in einem solchen ethischen Umfeld bewegender Mann kann folglich die analytischen Modelle des Beobachters, der versucht, das Maß seiner »Modernität« einzuschätzen, durcheinanderbringen. Genauso können Frauen diese öffentlichen Wahrnehmungsmodelle für ihre Zwecke nutzen. Eine junge Frau mit türkischem Hintergrund, 32

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Tochter eines Gastarbeiters und heute Lehrerin an einer deutschen Schule, erzählte, dass eine türkische Frau auf die Frage, ob ihre Tochter an einer Schulveranstaltung teilnehmen dürfe, geantwortet habe, sie müsse erst einmal ihren Mann fragen. Nach Auffassung dieser Lehrerin war es aber so, dass sie eigentlich »nur Zeit brauchte, um es sich zu überlegen«. Dies ist ein Beispiel dafür, wie Frauen das öffentliche Bild der Familie und ihre geschlechterspezifische Autoritätsstruktur nutzen, um gegenüber Außenstehenden zu taktieren und zu verhandeln. Hinter den Kulissen ist es häufig die Mutter, die alle täglichen Entscheidungen für ihre Kinder trifft. So lässt sich nicht sagen, dass die Art der Beziehung zu den anderen Familienmitgliedern, einschließlich des Machtverhältnisses zwischen Ehepartnern oder zwischen Eltern und Kindern, eine direkte Funktion der »Modernität« der Einstellung oder einer bestimmten Vorstellung von Männlichkeit des Mannes sei. Eher werden diese Beziehungen von einer Reihe anderer Faktoren beeinflusst, wie z.B. der Persönlichkeit, der spezifischen Beziehung zu den eigenen Eltern oder Geschwistern, der Lebenserfahrung, der Migrationsgeschichte und der wirtschaftlichen Situation. Wie gehen die Männer mit solchen Stereotypen um und wie positionieren sie sich selbst gegenüber dem »Modernen«? Finden wir Beweise für die Auswirkungen dieses öffentlichen Diskurses über Tradition und Modernität – und die Stigmatisierung muslimischer Männlichkeit – in den Identitäten immigrierter türkischer Männer und in der Art und Weise, wie sie sich selbst Anderen präsentieren? Wie und in welchem Ausmaß artikulieren sie ein Verhältnis zu den Prinzipien der Autonomie, Individualität und Unabhängigkeit, also zu den prägnantesten Kriterien der Beschreibung eines modernen Bürgers? In meinem Buch stelle ich die Sichtweisen türkischer Männer vor, um zu illustrieren, wie sich türkische Männlichkeit in der Diaspora manifestiert. Ein wichtiger Aspekt dieser Manifestationen ist die Selbstpositionierung der Individuen zu vorherrschenden Stereotypen. Männer verfolgen eine Reihe von Strategien, um ihre Identität angesichts der Stigmatisierung aufzuwerten. Eine von mir beobachtete Strategie ist die Dichotomisierung von Tradition und Modernität verknüpft mit dem stolzen Bekenntnis zur »traditionellen« Identität, die im Widerstand gegen die Vorherrschaft der Modernität von einer negativen in eine positive Identität verwandelt wird. Ein zweiter Ansatz ist das Bekenntnis zu einem »bereinigten« Islam, welcher verschiedene traditionelle Dorfpraktiken ablehnt, z.B. Formen von Ehre und Männlichkeit, die viele islamische Gruppen als unislamisch betrachten. Eine weitere Strategie ist die Akzeptanz negativer Stereotype Anderer bei gleichzeitiger Abgrenzung der eigenen Person von diesen anderen Türken. Noch eine andere Möglichkeit ist die Akzeptanz einiger 33

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romantischer Vorstellungen über den Mythos des türkischen Mannes bei gleichzeitiger Ablehnung anderer Aspekte dieses Stereotyps. Die Geschichten verschiedener Männer belegen, dass sich Männlichkeit nicht von Ehre trennen lässt, dass aber Konzepte von Ehre verhandelbar sind. Wie die Kontroverse über das Thema der »Ehrenmorde« andeutet, wird im europäischen öffentlichen Diskurs das Konzept der Ehre als wesentlicher Punkt betrachtet, der muslimische Männer von ihrer Integration in eine demokratisch-westliche Gesellschaft abhält. Es besteht die Vorstellung, dass muslimische Männer auf Grund ihres Verständnisses von Ehre eine »Parallelgesellschaft« aufrechterhielten, in der sie ihre Frauen, Schwestern und Töchter unterdrückten, ihnen Autonomie und Gleichheit versagten und sie im Extremfall sogar töteten. Wenn wir uns allerdings ansehen, wie türkische Immigranten der ersten und zweiten Generation sich über Ehre äußern und sich selbst im Verhältnis zu stereotypen Vorstellungen von traditioneller Ehre positionieren, stellen wir fest, dass Ehre ein fließendes Konzept ist. Nur selten bemühen sich Männer, als modern zu gelten und dabei das Ehrprinzip komplett zurückzuweisen. Selbst solchen Männern, die in ihrer Ausbildung und wirtschaftlich erfolgreich sind und sich als in der deutschen Gesellschaft gut integriert betrachten, spielt das Thema eine Rolle und sie integrieren Ehre in ihre Identitätsbildung.

Schlussfolgerungen Sexualität und Geschlechterorganisation sind nicht einfach Praktiken, die der Staat leidenschaftslos regulieren und organisieren könnte. Das Gleiche gilt für die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit einem gefährlichen »Fremden« im Herzen der eigenen Gesellschaft. Aus der Rhetorik über die Bedrohung durch den muslimischen Mann und das Entstehen einer »Parallelgesellschaft« wird klar, dass diese Zeichen emotional stark aufgeladen sind. Das schlägt sich auch in journalistischen Arbeiten und in den tagtäglichen Gesprächen unter Deutschen nieder. Diese kollektiven Fantasien können auch die Quelle für die grundlegende Infragestellung der Gewährung voller kultureller Staatsbürgerschaft für Minderheiten werden, insbesondere dann, wenn diese auf irgendeine Weise stigmatisiert werden. Das »Problem« der Integration wird mit der Weigerung des türkischen Mannes gleichgesetzt, sich an eine moderne europäische Gesellschaft anzupassen und stattdessen auf Grund seiner Bindung an traditionelle Formen von Männlichkeit eine »Parallelgesellschaft« aufbaut. Im Gegensatz zum modernen Individuum, welches die Freiheit und Gleich34

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heit der Anderen respektiert, wird der traditionelle Türke als jemand betrachtet, dem es in erster Linie um die Verteidigung seiner Ehre geht, welche untrennbar mit den Themen Familie und Gewalt verbunden ist. Er sei gruppenorientiert, wird unterstellt, verfüge über einen Mangel an persönlicher Autonomie und unterdrücke türkische Frauen, am sichtbarsten in der Frage des Kopftuches und am ungeheuerlichsten in bezug auf »Ehrenmorde«. Die Ehre, verstanden als unveränderliches Prinzip, wird für das wesentliche Hindernis gehalten, welches muslimische Männer von der restlichen Gesellschaft fernhielte und zur Entstehung einer »Parallelgesellschaft« führe. Deutsche Stereotype über türkische, muslimische Männer haben ihre Wurzeln in früheren europäischen Wahrnehmungen des Osmanen, der abwechselnd entweder die zivilisierte Ordnung Europas bedrohte oder dem der Schwung und die Arbeitsethik fehlte, welche der westlichen Gesellschaft ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu ihrer Vormachtsstellung verhalfen. Beeinflusst von einem Orientalismus, der den modernen Europäer vom traditionellen Orientalen unterscheidet und der westlichen Männlichkeit einen bedrohlichen Muslim gegenüberstellt (vgl. Said 1978), wurden diese Stereotypen durch die Formulierung der Prinzipien in Deutschlands Nachkriegsverfassung noch verstärkt. Verteidiger der Verfassung preisen die Gleichstellung von Mann und Frau, die Demokratie und die Freiheiten des Individuums, welche Ideale deutscher Männlichkeit darstellen, insbesondere im Kontext der Darstellungen des muslimischen türkischen Mannes. Dieses deutsche Ideal beruht zwar auf universellen, von der Verfassung aufgenommenen Werten, ist aber auch ganz explizit deutsch. Nicht nur existiert ein einzigartig deutscher Ansatz zur Regelung der Beziehung zwischen Religion und Staat; ebenso gibt es speziell deutsche Modelle der Organisation von Geschlechterbeziehungen, die über abstrakte Konzepte der Gleichstellung hinausgehen und die Einhaltung bestimmter Regeln beinhalten – etwa die Akzeptanz körperlicher Zurschaustellung, welche auf spezifisch deutsche kulturelle und historische Wurzeln zurückzuführen ist, und die Muslime als Außenseiter kennzeichnen. Abgesehen davon verlangt der deutsche öffentliche Diskurs von den MuslimInnen eine Form der Gleichstellung der Geschlechter, die ermöglicht, dass sowohl Mann als auch Frau arbeiten, obwohl in der Praxis die institutionelle Organisation in Deutschland, z.B. von Schulzeiten und der Mangel an Betreuungsmöglichkeiten, es Frauen jeglichen Hintergrunds mit kleinen Kindern durchaus schwer macht, Vollzeit zu arbeiten. Die öffentliche Konzentration auf seltene Phänomene – wie den »Ehrenmord« – sowie auf offensichtliche Zeichen kultureller Unterschiedlichkeit – wie das Kopftuch – verschleiern, dass

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KATHERINE PRATT EWING

die Einhaltung der Verfassungsprinzipien ein abstraktes Ideal ist, dem keine gesellschaftliche Gruppe voll gerecht wird.

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STIGMATISIERTE MÄNNLICHKEIT

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Die Lokalisierung des Globalen Patriarchen: Zur diskursiven Produktion des »türkischmuslimischen Mannes« in Deutschland 1 PAUL SCHEIBELHOFER »We need to be suspicious when neat cultural icons are plastered over messier historical and political narratives.« (Abu-Lughod 2002: 785)

In jüngerer Zeit haben Bücher über türkische Männer in Deutschland Konjunktur. Eine zwiespältige Entwicklung, wie ich im Weiteren zu zeigen versuche: Einerseits ist die erhöhte Aufmerksamkeit natürlich positiv, stellt sie doch die Möglichkeit dar, einen informierten und reflektierten Diskurs über unterschiedliche Aspekte des Themas anzuregen. Andererseits kommt gerade denjenigen Texten, die »den türkischmuslimischen Mann« in stark kulturalistischen und monolithischen Formen beschreiben, die größte Aufmerksamkeit zu. Am Beispiel des Buches »Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des Türkisch-Muslimischen Mannes« von Necla Kelek (2006a)2 möchte ich auf den folgenden Seiten der Frage nachgehen, weshalb solche Texte derzeit gerade in Deutschland geschrieben und gelesen werden. Über die Analyse der Repräsentationsformen des »türkisch-muslimischen Mannes« möchte ich zur Beantwortung der Frage gelangen: Was können wir über eine Gesellschaft sagen, in der solche Texte breit rezipiert werden? Für 1 2

Ich möchte mich bei Susan Zimmermann für wertvolle Diskussionen zu diesem Text bedanken. Nach Auskunft des Verlags wurden bis Juli 2008 rund 40.000 Exemplare des Buches verkauft. 39

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eine Männlichkeitsforschung, die den Anspruch erhebt, kritisch zu sein, scheint gerade die große Popularität des Forschungsfeldes eine Reflexion über die Verstrickungen der Themen Männlichkeit und Migration nötig zu machen.

Einschluss und Befreiung der verlorenen Söhne Necla Kelek, die in Deutschland in Soziologie promovierte, setzt sich in ihrem Buch das Ziel, die »grundlegenden Merkmale der türkischmuslimischen Männerrolle herauszuarbeiten« (Kelek 2006a: 21). Sie bezieht sich auf Interviews mit inhaftierten Männern mit türkischem Migrationshintergrund in Hamburg, sowie Diskussionen mit Schülern und Hodschas, allesamt in Hamburg aufgenommen. Diese Daten werden im Buch mit eigenen Erfahrungen und Eindrücken verwoben. Die Fragen, denen sie in dem Buch nachgehen will, sowie die Antworten, die sie darauf gefunden hat, präsentiert Kelek zu Beginn des Buches: »[W]arum sind so viele muslimische und türkische Jungen Schulversager? Warum haben so viele türkische Jungen ein Gewaltproblem? Warum sitzen überproportional viele Muslime in deutschen Gefängnissen? Sind soziale Benachteiligung und mangelnde Bildungschancen die Ursache dafür? Oder der Islam und die archaischen Stammeskulturen einer sich ausbreitenden ›Parallelgesellschaft‹? [...] Bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass die für die islamische Community verpflichtenden Gebote wie Respekt, Ehre und Schande von Männern formuliert werden. Es sind Männer, die ihre Einhaltung kontrollieren, und es sind Männer, die fraglos die Strafe exekutieren, wenn ihre Frauen die ›Ehre‹ der Familie verletzen oder aus der ihnen zugewiesenen Rolle auszubrechen versuchen. Und es sind Männer, die deshalb immer wieder in Konflikt mit dieser Gesellschaft geraten, die zu ›Tätern‹ werden.« (Ebd: 23)

Das Argument, dass nicht Diskriminierung und Exklusion, sondern Islam und türkische Tradition für die Probleme türkischer Jungen und Männer in Deutschland verantwortlich seien, arbeitet Kelek auf den folgenden 200 Seiten aus. »Der Islam« wird dabei dargestellt, als entfalte er seine Wirkung in einem abgeschlossenen Raum, abgetrennt von jeglichen Kräfteverhältnissen der sozialen Kontexte in denen er sich artikuliert: »Der Islam hat sich vor Hunderten von Jahren von jedweder Auseinandersetzung und damit von einer Weiterentwicklung seiner Grundlagen verabschiedet, und die Imame, Mullahs und Hodschas haben die Interpretationen festgelegt, die seitdem immer wiederholt werden.« (Ebd: 170)

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So konserviere der Islam althergebrachte Welt- und Rollenbilder bis zum heutigen Tag und versage dem gläubigen Moslem das Recht auf Reflexion, Kritik und Individualität. Dieser Mangel an Reflektion führe dazu, dass sich Vorstellungen unverändert von einer Generation zur nächsten vererbten. Die Entwicklung junger Männer beeinflusse dieser konservierte Islam derart, dass sie, anstatt sich in der Pubertät von ihren Eltern zu distanzieren, die Männlichkeitskonstruktionen ihrer Väter übernähmen und zu gewalttätigen Patriarchen würden (edb.: 95). So argumentiert Kelek, die Probleme dieser Jungen und Männer seien eine direkte Folge religiös-kultureller Dynamiken. Sie versteht ihr Buch als ein »Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes« (so der Untertitel). Wie die Befreiung aussehen könnte, erfahren LeserInnnen gegen Ende des Buches, wenn Kelek ihre persönliche Begegnung mit dem Christentum in Deutschland beschreibt. War der Text bis dahin eine tour de force durch das brutale Universum türkischer Männlichkeit, so wird er nun prophetisch. In dem Kapitel »Die Botschaft der Hoffnung« vergleicht Kelek die beiden Religionen: »Während der Islam eine autoritäre Religion ist, die immer noch von einer vor Jahrhunderten formulierten ›überlegenen Wahrheit‹ ausgeht, die der Gläubige zu begreifen und der er sich zu unterwerfen hat, fordert Jesus die Menschen auf, ›an sich zu glauben‹, und ermutigt sie, keine Angst zu haben, ›denn ich bin bei euch‹.« (Ebd: 192)

Martialische Passagen der Bibel, die Beteiligung der Kirche am Kolonialismus, an Hexenverbrennungen oder die anhaltende heteronormativmännerbündlerische Struktur der katholischen Kirche trüben Keleks Einschätzung der inherent liberalen Natur des Christentums nicht. Abschließend postuliert sie, dass es zwar kein Problem sei die kulturellen Aspekte der eigenen Geschichte Wert zu schätzen, doch dürfe dies nicht der Akzeptanz und Anpassung an in Deutschland herrschende Normen und Werte im Wege stehen. Der Islam stelle nicht per se ein Hindernis der Integration dar, doch Moslems müssten dasselbe tun, was EuropäerInnen seit der Aufklärung praktizierten, und zwar nicht mehr an Vorbestimmung, sondern an sich selbst glauben (ebd: 216).

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Text und Kontext Keleks Text ist ein gutes Beispiel für den populären Diskurs über »den muslimisch-türkischen Mann« in Deutschland, er soll im Folgenden aufgeschlüsselt und in Bezug mit seinem Kontext gesetzt werden.

»It’s in their Culture!« – Das Problem dingfest machen Kelek beruft sich unter anderem auf wissenschaftliche Methoden und ein entsprechendes Vokabular, das ihrem Text Wahrheitsgehalt verleihen soll. Doch fehlt eine explizite theoretische Auseinandersetzung mit zentralen Punkten wie Männlichkeit, Zugehörigkeit/Ethnizität, Religiosität/Islam. So wenig diese theoretische Auseinandersetzung auf der textuellen Ebene stattfindet, so klar baut die Logik des Textes auf bestimmte Theorien über soziale Wirklichkeit auf – sie werden eben nur nicht explizit gemacht. Der zentrale Aspekt dieser versteckten Sinnstruktur ist ein Verständnis von Kultur als kohärent und konsistent strukturiertes Set an Normen und Werten. In dieser Kultur gibt es keine Widersprüche und sie ist klar lokalisier- und abgrenzbar von einem Außen, mit dem sie nicht interagiert. Daneben ist diese Kultur durch eine Form der »Tradition« gekennzeichnet, die in behavioristischer Manier als kulturelle Reproduktion verstanden wird, in der aktuelle Generationen die Normen und Werte ihrer Elterngeneration unreflektiert kopieren. Dieses Verständnis von Tradition ist gleichbedeutend mit kulturellem Equilibrium (vgl. Comaroff 1982: 145) und beschreibt Kulturen als autarke Systeme, die nicht in Austausch mit ihrer sozialen Umwelt stehen. Kelek stellt die deutsche Gesellschaft im Vergleich zur türkischen so dar, als »habe« nur letztere tatsächlich Kultur, während sich die deutsche Gesellschaft auszeichne etwa durch Individualismus, kontinuierliche kommunikative Reflexion und Gleichberechtigung. So konstruiert der Text ein Bild des »türkisch-muslimischen Mannes«, das vergleichbar ist mit der gängigen Darstellung der »Frau in der Dritten Welt« und aufbaut auf einem »unitary complex called ›their Traditions/Religions/Cultures‹ – where these terms are represented as virtually synonymous with each other« (Narayan 1997: 49). Dieser Nexus aus Tradition/Religion/Kultur sei das eiserne Gehäuse, aus dem die so Beschriebenen befreit werden müssten. Texte über die Türkei können auf eine anthropologische Tradition der Essentialisierung »türkischer Kultur« zurückgreifen – eine »Kultur«, deren Epizentrum im »Türkischen Dorf« gesehen wird (Navaro-Yashin 2002: 12; vgl. auch Albera 2006). Solche kulturalistischen Darstellungen sind an diverse aktuelle Diskurse anschlussfähig und beziehen dar42

DIE LOKALISIERUNG DES GLOBALEN PATRIARCHEN

aus Popularität. So hat etwa der wissenschaftliche Diskurs über die zweite Generation in Deutschland eine Geschichte der Problem- und Defizitorientierung (vgl. Geisen 2007: 30). Den Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Kindern der »GastarbeiterInnen« beschrieb Radtke (1988) als »Pädagogisierung sozialer Probleme«, bei der Ursachen für die Probleme der zweiten Generation in kulturellen Merkmalen der Kinder gesucht wurden, anstatt in sozialen Strukturen der deutschen Gesellschaft. 30 Jahre später erreicht ein Text wie der Keleks, in dem »ihre Tradition/Religion/Kultur« als Erklärungsrahmen herangezogen wird, noch immer (bzw. wieder) mehr Aufmerksamkeit als Texte, die strukturelle Faktoren in die Analyse von Problemen junger Männer mit Migrationshintergrund einbeziehen (vgl. etwa Spindler 2006). So lässt sich sagen, dass kulturalistische Beschreibungen scheinbar die bessere Antwort darstellen auf die vorherrschenden Fragestellungen. In Zeiten neoliberaler wirtschaftlicher Restrukturierungen, die zu einem out-sourcing arbeitsintensiver Produktion in periphere globale Regionen führen, steigt der Bedarf an qualifizierten ArbeiterInnen. Gleichzeitig werden PISA-Studien zu Indikatoren des Wertes nationaler Wissensökonomien. Während Bildungstitel von MigrantInnen in Zeiten der »Gastarbeitsmigration« irrelevant waren, da diese ohnehin für schlecht bezahlte Arbeit ins Land geholt wurden, hat sich diese Situation nun geändert. Heute sichern Punktesysteme, dass MigrantInnen über jenes Humankapital verfügen, das der neuen Wirtschaft zugute kommt. Die Tatsache, dass die Kinder der MigrantInnen Probleme im deutschen Schulsystem haben (vgl. Worbs 2003) wird so zum nationalen Problem. Und dass diese jungen Frauen und Männer ihren Glauben an Gemeinschaft und Solidarität immer noch nicht gegen die Segnungen des Individualismus eingetauscht haben – darauf verweisen ja diverse Expertisen –, passt ebenfalls nicht ins Weltbild des Neoliberalismus (vgl. Gökariksel/Mitchell 2005). Kulturalistische Erklärungsmodelle kommen PolitikerInnen dabei überaus gelegen. Texte wie der Keleks argumentieren explizit, dass nicht Diskriminierungen, sondern der ethnisch-religiöse Hintergrund der jungen Männer für deren Probleme in Ausbildung und Beruf verantwortlich gemacht werden müssten. Dieser Logik folgend scheinen zeit- und kostenintensive politische Maßnahmen, die die deutsche Gesellschaftsstruktur weniger ungerecht machen, sinnlos. Lokalisiert man die Ursachen der Probleme der Jugendlichen in der »Kultur« und den Wohnzimmern der migrantischen Familien, suggeriert man, dort müssten die Veränderungen stattfinden. PolitikerInnen, die solchen Annahmen vertrauen, brauchen sich nicht um den Verlust konservativer WählerInnen43

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stimmen zu sorgen, da keine strukturellen Änderungen in der deutschen Gesellschaft angestrebt werden, die die herrschende Ungleichverteilung von Ressourcen und Chancen gefährden könnten.

Anschreiben gegen die »Herrschaft der Gutmenschen« Aber nicht nur politisch-ökonomische Interessen werden durch kulturalistische Analysen der Situation junger Männer mit türkischem Migrationshintergrund bedient. Ein Blick auf die Reaktionen auf Keleks öffentlichkeitswirksame Texte zeigt, dass hier allgemeine Gefühle über Missstände der deutschen Politik bedient werden. Den zentralen Kristallisationspunkt für dieses Unbehagen möchte ich in Anlehung an Lau (2006) die angenommene Herrschaft der Gutmenschen in der deutschen Politik und Wissenschaft nennen. Kelek geht davon aus, dass ihr Buch den Ideen der »politische Aufgeschlossenen« (Kelek 2006a: 18) entgegenstehe, die irrigerweise dächten »die Integration der Türken und Muslime erledige sich gleichsam ›von selbst‹« (ebd.). Ihr gelingt die Provokation. So verfassten etwa im Februar 2006 die MigrationsforscherInnen Yasemin Karakaşoğlu und Mark Terkessidis einen offenen Brief in der Wochenzeitung »Die Zeit«, der von weiteren 58 in Deutschland tätigen MigrationsforscherInnen unterzeichnet wurde. Dieser offene Brief erschien kurz vor der Publikation von »Die verlorenen Söhne« und bezog sich noch auf Keleks Darstellungen des Islam und der herrschendern Geschlechterbeziehungen unter türkischen MigrantInnen in ihrem Buch »Die Fremde Braut« (2005). Darstellungen wie diese, so wurde in dem offenen Brief argumentiert, skandalisierten das Thema, würden wissenschaftlichen Ansprüchen nicht gerecht und führten zu fälschlich verallgemeinernden Ansichten über »den Islam«. Der Veröffentlichung folgte eine hitzige Debatte zwischen Kelek (vgl. z.B. Lau 2006), ihren BefürworterInnen und anderen MigrationsforscherInnen, in der es bald um allgemeine Fragen der Rolle von Migrationsforschung und -politik in Deutschland ging. Keleks KritikerInnen wurde dabei vorgeworfen, irrelevante Forschung zu betreiben, die zwar ihren Karrieren zuträglich sei, jedoch nichts mit den realen Problemen zu tun habe. Und so interpretierte Kelek den Brief in Gastkommentaren wie dem Artikel »Sie haben Angst um ihre Forschungsmittel« (2006b) auch als untrügliches Zeichen der Eifersucht der ForscherInnen, die nun, da sie »aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland« (ebd.) berichte, erkennen müssten, dass ihre eigene Forschung nicht weiter unangefochten Geltung beanspruchen könne. In der Folge wurden die von Kelek adressierten MigrationsforscherInnen als »gefährliche Gutmenschen« (Lau 2006) bezeichnet, 44

DIE LOKALISIERUNG DES GLOBALEN PATRIARCHEN

die nostalgische Bilder von MigrantInnen als den ewigen Opfern verbreiteten und solch problematische Prozesse wie die Islamisierung der Gesellschaft ausblendeten, Alice Schwarzer (2006: 32) beschrieb solche Migrationsforschung als Produkt des verfehlten deutschen Multikulturalismus. Und so wurde ein linearer Zusammenhang zwischen den als naiv links-liberal dargestellten ForscherInnen und der politischen Behandlung von MigrantInnen in der Bundesrepublik konstruiert. In diesem Diskurs wird die deutsche Migrationspolitik als stark beeinflusst von liberaler Migrationsforschung dargestellt – geleitet von einem relativistischen Multikulturalismus, der tatsächlich nur die Ratlosigkeit der PolitikerInnen im Umgang mit Migration vertuschen solle. Wie der kulturalistische Diskurs über »den türkisch-muslimischen Mann« an die populäre Multikulturalismuskritik in Deutschland anschließt (vgl. Bielefeld 2007: 15), lässt sich an einem anderen erfolgreichen Text zeigen.

Islam als globaler Patriarch In seinem Bestseller »Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken«3 beschreibt der Essayist und Autor Henryk Broder (2006) die Allgegenwart eines Phänomens, das er »Appeasement« nennt. Damit bezieht er sich auf die Taktik, durch vorauseilendes Einlenken Problemen aus dem Weg zu gehen und GegnerInnen nicht zu provozieren. Appeasement sei die Stragegie, die Europa heute gegenüber dem Islam verfolge, dies habe etwa der »Karikaturenstreit« um die dänische Zeitung »Jyllands Posten« im September 2005 gezeigt (ebd.: 14). Immer wieder gäben PolitikerInnen in Europa den Drohungen gekränkter IslamistInnen klein bei, anstatt den kritischen Dialog und die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Sowohl in Deutschland als auch in anderen westlichen Ländern identifiziert Broder Appeasement als die Taktik, mit der unter dem Deckmantel des Respekts für andere Kulturen Problemen aus dem Weg gegangen werde. Die fatale Folge: »Eine Gesellschaft, die Appeasement als Integrationspolitik versteht und keinesfalls die Gegenseite provozieren möchte, lädt dazu ein, sich erpressen zu lassen.« (Ebd.: 48) Und es seien SoziologInnen und SozialarbeiterInnen, die das »Verstehen« des Anderen propagierten, anstatt den Anderen aufzufordern, sich zu ändern, wie er Necla Kelek explizit zugutehält (ebd.: 98). In einem dem Text eigenen zynischen Tonfall zitiert Broder (ohne Angabe von Quellen) den Soziologen Michal Bodemann. Er täte Ehrenmorde als »Gruselgeschich-

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Das Buch verkaufte sich im ersten halben Jahr rund 70.000 Mal, es wurde mittlerweile mehrfach neu aufgelegt und ist als Hörbuch erhältlich. 45

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ten« ab und rate zur »Geduld«, berichtet Broder (ebd.: 97). Anschließend zitiert er den Kultur- und Sozialanthropologen Werner Schiffauer mit dessen Einschätzungen, es handle sich bei Männern mit türkischem Migrationshintergrund, »die ihre Schwestern umbringen«, lediglich um »deklassierte Jungs [...], die einen ›Ethnizitätsdiskurs‹« betrieben. Broder unterstellt ihm: »Was Schiffauer damit sagen will, ist, dass der Staat (oder wer auch immer) mehr Geld für seine Projekte bereit stellen sollte, um die Situation der Männer zu erforschen, die einen Ethnizitätsdiskurs pflegen, den man ihnen dringend erklären muss.« (Ebd.: 97f.) Den oben beschrieben Zwist zwischen Kelek und ihren KritikerInnen aufgreifend, argumentiert Broder, dass diese kritischen ForscherInnen lediglich »wissenschaftliches Appeasement« betrieben, vor der Wirklichkeit kapituliert hätten, romantische Bilder von MigrantInnen pflegten und sie »unter Naturschutz gestellt« (ebd.: 103) hätten. Er zitiert Kelek mehrmals, um zu verdeutlichen, dass die jungen migrantischen Männer durch ihre Gewalt testen wollten, wie weit sie das deutsche Appeasement herausfordern könnten in ihrem Hass gegen diese Gesellschaft, die sie als wertlos erachteten. Um später auszusprechen, was latent im kulturalistischen Diskurs über »den türkisch-muslimischen Mann« mitschwingt: »So führt eine direkte Linie von der Al Qaida im Irak und der Intifada in Palästina zu den Jugendlichen mit ›Migrationshintergrund‹ in Neukölln.« (Ebd.: 115) Sie alle lachten in das vor Angst paralysierte Gesicht des Westens. Broders Text verweist damit auf einen weiteren Aspekt der Frage nach der Prominenz kulturalistischer Texte über junge Männer mit türkischem Hintergrund. Der »türkisch-muslimische Mann« wird zu einem Symbol für viel mehr als lediglich einer Subpopulation der deutschen Gesellschaft, die Bücher über »ihn« nehmen tatsächlich Teil an Aushandlungsprozessen lokaler Kontexte in globalen Machtverhältnissen. In der Welt, die Broders Text kreiert, stehen politisch korrekte Feiglinge im Westen einer »islamischen Welt« gegenüber, der sie mit Appeasement bzw. Multikulturalismus entgegenkommen wollen. Er versteht seinen Text als Ausdruck einer dissidenten Stimme, die dieser Hegemonie des Appeasements die Stirn biete. Die Popularität seines Buchs zeigt, wie weit verbreitet dieses Gefühl einer Hegemonie der politischen Korrektheit im Westen unter deutschen LeserInnen ist. Broder porträtiert das Verhältnis zwischen »dem Westen« und »dem Islam« als kriegsähnlichen Zustand – die Rede ist von Kapitulation, Angriff und der Verteidigung. Es herrsche Krieg zwischen »uns« und der islamischen Welt bzw. 1,5 Milliarden Moslems (diese vermeintlich furchterregende Zahl begleitet LeserInnen durch das gesamte Buch). In dieser Auseinandersetzung dominiere der globale Islam mit seinem Fun46

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damentalismus, Konservativismus und Patriarchat den Westen mit seinen schwachen Waffen Verständnis und Respekt. »Wir« seien diejenigen, die schließlich kapitulierten. Wenn wie hier in populären Diskursen von den patriarchalen »türkischen Jungs« in Deutschland gesprochen wird, geht es zugleich um den »globalen Patriarchen« Islam gegen den das verweichlichte Europa zu unterliegen drohe. Die Forderung nach einer »starken Hand«, die die Assimilation türkischer Jugendlicher an westliche Werte vorantreibt, steht in Verbindung der Forderung nach einem aggressiveren Zurückweisen des globalen Islam.4

Abschließend Die Bücher Keleks und Broders beruhen – wie viele populäre Texte über »türkisch-muslimische Männer« – auf problematischen Annahmen zu Geschlecht, Ethnizität und Religion und reproduzieren diese. Ich möchte weder den aufklärerischen Impetus der jeweiligen AutorInnen, noch die Notwendigkeit einer Diskussion über Migration, Männlichkeit und Islam in Abrede stellen. Gerade um den Diskurs nicht diffusen Annahmen und polit-ökonomischen Interessen zu überlassen, ist jedoch eine kritische Diskussion nötig. Der Erfolg Necla Keleks stützt sich auch auf die besondere Sprecherinnenposition, die ihr auf Grund ihres eigenen Migrationshintergrunds zugesprochen wird. Sie wird als »Betroffene« wahrgenommen, die es geschafft habe, sich zu »befreien«. Der Kritik an den Verhältnissen »ihrer Herkunftskultur« wird dadurch eine besondere Validität verliehen (vgl. Amir-Moazami 2007: 119). Die Tatsache, dass nicht allen Autorinnen (und Autoren) mit Migrationshintergrund diese SprecherInnenposition zugestanden wird, legt die Vermutung nahe, dass dieses Sprechen

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Ohne dies an dieser Stelle gebührend vertiefen zu können, lässt sich auch eine sozio-psychologische Dynamik erahnen: Könnte es nicht sein, dass die Vehemenz, mit der nun vielerorts über die patriarchale türkischislamische Kultur gesprochen wird, auch der Ausdruck eines verwehrten Verlangens ist? Wird »der Türke« – im westlichen Diskurs mit allen Insignien »echter Männlichkeit« ausgestattet – Symbol für eine verlorengegangene Ordnung und Sicherheit? Eine Sicherheit freilich, von der der diskursiv geschulte Europäer weiß, dass er sie nicht zurückverlangen darf, da »wir« ja aufgeklärt sind. Seine Vehemenz erlangt der Diskurs über »den türkischen Patriarchen« vielleicht auch aus einem Prozess der Bestrafung der Figur, die für etwas Verlorengegangenes steht, von dem der Sprecher weiß, dass er es nicht wiederhaben wollen darf. 47

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in einer ganz bestimmten Form und bestimmten Interessen folgend stattfinden muss. Mohanty (1988) zeigte, wie die Heterogenität weiblicher Erfahrungswelten in Ländern der sogenannten Dritten Welt im westlichen Diskurs über »die Situation der Frau in der Dritten Welt« ausgeblendet wird. Ähnliches ist derzeit im Diskurs über türkische Männer in Deutschland zu beobachten. Ethnisierende Erklärungen und die Verallgemeinerung sexistischen bzw. patriarchalen Verhaltens einzelner türkischer Männer erschaffen nicht nur den singulären »türkisch-muslimischen Mann«, sondern implizieren gleichzeitig eine homogene Wir-Gruppe der Deutschen, die sich durch konträre Eigenschaften auszeichnet (vgl. Jäger 2003). Das Vorhandensein patriarchaler Strukturen in der Mehrheitsgesellschaft gerät dadurch aus dem Blick. Der Diskurs über den »türkisch-muslimischen Mann« blendet Machtverhältnisse zwischen »Deutschen«5 und »AusländerInnen« aus, und damit auch die Strukturen des sozialen Kontextes, in dem sich diese »türkisch-muslimische Männlichkeit« artikuliert. Eindimensionale Bilder des »Anderen« werden als Ursache aller Probleme evoziert, Assimilation in die Mehrheitsgesellschaft erscheint als einziger Ausweg. Texte und Studien über türkische Männlichkeit in Deutschland, die dieses Machtgefälle nicht mitreflektieren, tragen – bewusst oder unbewusst – zur Verschleierung von Widersprüchen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft bei.6 Das Verhältnis, das im dominanten Diskurs über türkische Männer in Deutschland festgeschrieben wird, ist eines zwischen dem starren Osten und dem liberalen Westen. Die Lösung der beobachteten Probleme wird in einer notwendigen Weiterentwicklung des Anderen gesehen. Die Richtung dieser Entwicklung ist dabei klar, »sie« müssen werden wie »wir«. Ähnlich wie in verwandten Debatten um Moscheenbauten, das Kopftuch oder Zwangsehen evoziert der dominante Diskurs über den »türkisch-muslimischen Mann« Bilder eines monolithischen, bedrohlichen Islam und kann damit als Ausdruck neuer Formen von Selbst- und Fremdbeschreibungen erkannt werden, wie von Steyerl (2000) konstatiert wurde. Sie argumentiert, rassistische Fremdkonstruktionen hätten jüngst ihre Vorzeichen gewechselt – in Abhängigkeit von sich verändernden Selbstbeschreibungen. Stellte früher noch der rastlose Nomade 5

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Damit ist keine, wie auch immer imaginierte, natürliche Gruppe gemeint, sondern jene Mehrheit, die sich dadurch auszeichnet, dass von ihr nicht verlangt wird »sich zu integrieren«, da sie ungefragt als zugehörig gesehen wird (vgl. Mecheril 2003). Ein Prozess, den Sarah Song (2005: 476) als »diversionary effect« bezeichnet.

DIE LOKALISIERUNG DES GLOBALEN PATRIARCHEN

das rassistisch konstruierte Andere dar (»primärer Rassismus« in Steyerls Diktion), sei dieses Bild heute auf den Kopf gestellt. So wie sich das westliche Selbstbild von einer kultiviert verwurzelten Gemeinschaft zur dynamisch-flexiblen und toleranten Gesellschaft gewandelt habe, so habe sich auch das Bild des Anderen wandeln müssen. Demnach sei heute der Andere also der »Fundamentalist«, der »immer noch« an Werte wie Tradition oder die Wahrheit der Religion glaube (»sekundärer Rassismus«). Um diese ideologischen Verschiebungen und die starke Präsenz des dominanten Diskurses über »den Islam« in unterschiedlichen sozialen Feldern (etwa Medien, Pädagogik, Wahlkämpfe, sozialwissenschaftliche Forschung) zu veranschaulichen, soll abschließend auf Verbindungen hingewiesen werden, die zwischen lokal geführten Diskussionen und Veränderungen größeren Maßstabs hergestellt werden können. Aktuelle politisch-ökonomische und soziale Entwicklungen in Europa – wie die fortschreitende EU-Integration – schwindende sozialstaatliche Leistungen oder die Transnationalisierung von Wirtschaft und Migration schwächen die gemeinschaftstiftende Kraft klassischer nationalstaatlicher Rhetoriken. Auseinandersetzungen über Religion können in dieser Situation als Vehikel der Selbstversicherung nationaler Identität fungieren (vgl. Auslander 2000). Bunzl (2005) verweist auf die Funktion antimuslimischer Diskurse für die Konstruktion einer supranationalen Identität der Europäischen Union, die sich in Abgrenzung von »dem Islam« als aufgeklärte, zivilisierte Gemeinschaft imaginiert. Auch wenn es falsch wäre, angesichts dieser Beobachtungen von einer Ablösung anderer Formen des Rassismus bzw. des Antisemitismus durch Islamophobie in Europa auszugehen (vgl. eine dahingehende Kritik an Bunzl in Glick Schiller 2005: 528), gibt seine Kontextualisierung Aufschluss darüber, weshalb gerade stark kulturalistische und monolithische Bilder über »den Islam« (auch) in Deutschland Hochkonjunktur haben. Die Suche nach nationaler Eigenheit und Zusammengehörigkeit im Zeitalter supraund transnationaler Restrukturierungen lässt sich hier nicht zuletzt an der immer wieder aufflackernden »Leitkulturdebatte« ablesen. »Dem Islam« kommt hier eine wichtige Funktion zu: Wenn die eigene Leitkultur schon nicht durch Konsens zwischen öffentlichen Intellektuellen gefunden werden kann, so scheint »der Moslem« nun doch – zumindest ad negativo – klarzustellen, was »wir« ganz bestimmt nicht sind. Ich habe versucht in diesem Text die Verstrickung deutlich zu machen, in denen sich die Thematisierung migrantischer Männlichkeiten im Diskurs um den »türkisch-muslimischen Mann« derzeit befindet. Diese Verstrickungen zu reflektieren ist eine Vorraussetzung für kritische For49

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schung in diesem Feld, die den Anspruch hat, über orientalisierende Fremdbeschreibungen hinauszugehen. Kritische Forschung muss es schaffen, die beobachteten Phänomene in ihrer Kontextgebundenheit zu analysieren, statt von einer kulturell-religiös geprägten Essenz »türkisch-muslimischer Männlichkeit« auszugehen (vgl. Scheibelhofer 2007). Gesellschaftliche Machtstrukturen entlang Klasse, Geschlecht und Ethnizität diskriminieren Migranten, bieten ihnen jedoch auch Angebote zur Herstellung patriarchaler Männlichkeit – etwa über die Ausübung von Macht über »ihre« Frauen oder durch das Aufgreifen gerade derjenigen stereotypen Bilder viriler Männlichkeit, die Teil des Rassismus sind, auf dem ihre Diskriminierung basiert (vgl. hooks 2004). Kritische Forschung muss diese komplexen Machtrelationen und ihre widersprüchlichen Effekte (im Sinne eines intersektionellen Zuganges, vgl. Klinger/Knapp 2007) in die Analyse miteinbeziehen. Damit kommen auch gesellschaftliche Institutionen (Fremdenrecht, Schulsystem, sozialstaatliche Maßnahmen) in den Blick und es kann analysiert werden, in welcher Weise diese Institutionen an der Stabilisierung vorhandener Ungleichheitsstrukturen teilhaben, bzw. inwiefern sie emanzipatorische Bestrebungen von Minderheitenangehörigen einschränken oder ermöglichen (vgl. Sauer 2008). Auch wenn solche Forschung derzeit weniger Popularität erlangt als die hier besprochenen Texte, erscheint sie notwendig, wenn Männlichkeitsforschung als Teil einer umfassenden Gesellschaftskritik verstanden werden soll.

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DIE LOKALISIERUNG DES GLOBALEN PATRIARCHEN

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Globales Migrationskino, der Ghetto-Flâneur und Thomas Arslans »Geschwister« BARBARA MENNEL

Türkisch-Deutsches Kino der neunziger Jahre In den späten neunziger Jahren entstanden zahlreiche türkisch-deutsche, von Migranten der zweiten und dritten Generation in Deutschland gedrehte Filme. Zu den RegisseurInnen gehörten Fatih Akın, Thomas Arslan, Aysun Bademsoy, Seyhan Derin, Neco Çelik, Ayşe Polat und Yüksel Yavus sowie der türkische Regisseur Kutluğ Ataman. Die Hauptfiguren dieser Filme repräsentieren eine selbstbewusste Generation und spiegeln das Selbstverständnis der Generation der Regisseure wider: Sie sind jung, dynamisch, kreativ, selbstsicher und selbstbestimmt. Mehrere dieser Filme betonen die Erfahrung der Urbanität, besonders die junger Männer, und artikulieren eine minoritäre und maskuline Subjektivität. Variationen dieses Themas finden wir in den Filmen »Kardeşler – Geschwister« von Thomas Arslan (1995), »Kurz und schmerzlos« von Fatih Akın (1998), »Aprilkinder« und »Kleine Freiheit« von Yüksel Yavus (1998; 2003), und »Lola & Bilidikid« von Kutluğ Ataman (1999). Diese Welle türkisch-deutscher Filme beendete das »Gastarbeiterkino« der siebziger und achtziger Jahre, welches ArbeitsmigrantInnen als Opfer darstellte, sehr oft symbolisiert durch eine türkische, patriarchal unterdrückte Frau. Dieser Wandel drückt sich in zwei wichtigen filmischen Charakteristika aus: Zum einen betonen die gegenwärtigen Filme die selbstbewusste Artikulation und Stimme der Türkisch-Deutschen im Gegensatz zu vorhergegangenen Darstellungen von stummen und sprachlosen »Gastarbeitern«. Zum anderen bewegen sich die Figuren im

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öffentlichen städtischen Raum – im Gegensatz zu der räumlichen Darstellung in früheren Filmen, die im Innern spielten, in Räumen, die zur Falle wurden. Tevfik Başers Filme über eingesperrte türkische Frauen, zum Beispiel sein paradigmatischer Film »40 Quadratmeter Deutschland« (1986), basieren auf einer geschlechtlich binären Konstruktion, der zufolge der innere Raum einschränkt und weiblich kodiert ist. Die Kamera und der Film verlassen diesen Raum nicht und reproduzieren somit die Erfahrung der Migration als Klaustrophobie für die Zuschauer. Migration wird in den privaten Raum verlegt, in dem sich dann ein patriarchales türkisches Kammerspiel vollzieht. Türkische Figuren bleiben in ihrer Identität statisch verhaftet, die Beziehung zu Deutschland formen frustrierte Blicke nach außen, und die dynamische Entwicklung der Figuren wird auf das Geschlechterverhältnis projiziert. Deniz Göktürk (1999) beschreibt die Entwicklung der neunziger Jahre als einen Wandel vom »Pflichtkino« (»cinema of duty«) zu »den Freuden der Hybridität« (»the pleasures of hybridity«). Sie bezieht sich damit auf Begriffe aus einem Artikel Sarita Maliks (1996) über Filme von afro-britischen Filmemachern in den achtziger Jahren und verortet so den Wandel des türkisch-deutschen Kinos im Zusammenhang transnationalen Minderheitenkinos. Göktürk (2000) geht davon aus, dass ein neues selbstbewusstes Verhältnis zu öffentlichen Orten eine hybride und selbstbewusste Minoritätenidentität ausdrücke, die oft weiblich sei. Im Kontrast dazu argumentiert Jessica Gallagher (2006) in ihrer Analyse von Arslans Berlin-Triologie, dass ein Wechsel von einer Darstellung der inneren Gefangenschaft zu einer Betonung von Bewegung in äußeren Räumen stattgefunden habe, dass aber diese äußeren Räume genauso einschränkend seien wie die inneren, privaten Räume und daher keine Möglichkeit der politischen Befreiung böten.

Thomas Arslans Film »Geschwister« Mein Artikel basiert auf der Fragestellung, ob die Veränderung der räumlichen Darstellung auch das Geschlechterverhältnis und die damit einhergehende traditionelle türkische Maskulinität und traditionelle türkische Weiblichkeit neu darstellt. Oder reproduziert die filmische Bewegung von privaten, inneren Räumen zu öffentlichen, äußeren Räumen Geschlechterstereotypen, wenn der private Raum weiblichen Opfern entspricht und der öffentliche Raum mit männlichen Tätern bevölkert ist? Verändert sich die Darstellung der nationalen und ethnischen Geschlechterkonfiguration mit der filmischen Bewegung von innen nach außen?

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GLOBALES MIGRATIONSKINO

Um diese Fragen zu diskutieren, positioniere ich die Selbstdarstellung migrantischer Maskulinität in »Geschwister« im Kontext des transnationalem Minderheitenkinos, besonders in der Tradition von Filmen, welche die städtische Ghettoisierung darstellen und damit ein eigenständiges Genre bilden. Arslan dreht seit den frühen neunziger Jahren Filme. Zu ihnen gehören der Fernsehfilm »Mach die Musik leiser« (1994) sowie seine Kinofilme »Im Sommer – die sichtbare Welt« (1992), »Geschwister« (1995), »Dealer« (1999), »Der schöne Tag« (2001), »Aus der Ferne« (2006) und »Ferien« (2007). Seine Filme sind vom italienischen Neo-Realismus beeinflusst, eine Filmbewegung der Jahre 1943 bis 1952, welche die filmische Darstellung der Armut und des Alltags betont. Italienischer NeoRealismus wurde hauptsächlich in langen Kamera-Einstellungen und mit Laiendarstellern in der Außenwelt gefilmt. Diese Charakteristika finden sich in Arslans Oeuvre wieder, jedoch erweitere ich den Kontext seiner Filme um die Beziehung von Bewegung im filmischen Raum, welcher als Ghetto konstruiert wird, und der filmischen Konstruktion und Reflexion von migratorischer Maskulinität. Die Bewegung durch einen beschränkten filmischen Raum ist ein weit verbreiteter Topos im globalen Kino, welches Armut und Migration thematisiert. Filmischer Raum beruht auf Szenenausstattung, während die Wiederholung der Bewegung der Figuren räumliche Grenzen kreiert. »Geschwister« und vergleichbare Filme schaffen ein dialektisches Verhältnis zwischen den sich bewegenden Körpern und statischem Raum. Die Figur des Ghetto-Flâneurs ermöglicht einerseits eine Diskussion der filmischen Dialektik von Bewegung und Raum und andererseits eine erneute Rezeption von Walter Benjamins (1991) einflussreichem theoretischen Konzept des städtischen Flâneurs. »Geschwister« zwingt uns, die Figur des Benjaminischen Flâneurs zu überdenken, da der Film eine Konstruktion von Maskulinität im öffentlichlichen Raum darstellt, ohne auf binäre Geschlechterrollen zurückzufallen, in welchen Femininität als statische sexuelle Ware funktioniert. »Geschwister« zeigt den Alltag von drei Geschwistern, die im Berliner Stadtteil Kreuzberg wohnen: Erol (Tamer Yiğit), Ahmed (Savaş Yurderi) und Leyla (Serpil Turhan). Ihre Mutter (Hildegard Kuhlenberg) ist Deutsche und ihr Vater (Fazli Yurderi) ein türkischer Taxifahrer. Am Anfang des Films erhält Erol seinen Einberufungsbescheid zum türkischen Militär, am Ende des Films fliegt er vom Flughafen Tegel ab. Während der zeitliche Rahmen sich auf nationale Zugehörigkeit, Staatsbürgerschaft, und Militärdienst bezieht, reflektiert der räumliche Rahmen die städtische Dynamik des »Ghettos« und die Inbesitznahme des öffentlichen Raums. Der Bezirk Kreuzberg wird dokumentarisch anhand 55

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von Straßennamen und U-Bahnstationen markiert. Weder die Figuren noch die Kamera verlassen Kreuzberg, die Bewegung der Figuren durch den Bezirk charakterisiert den Film. Die realistische Darstellung Kreuzbergs impliziert einen Anspruch auf dokumentarische Realität in der Darstellung der ersten und zweiten Generation türkisch-deutscher MigrantInnen.

Bewegung im Raum: Nationale und transnationale filmische Migration Die Bewegung filmischer Figuren durch städtischen Raum charakterisiert das Kino der Migration. Dies trifft sowohl auf Filme zu, in denen Figuren vom Land in die Stadt migrieren, als auch auf Filme, in denen Figuren über nationale Grenzen emigrieren und immigrieren. Diese entrechteten Figuren halten sich in der Öffentlichkeit auf, da es ihnen an einem Zuhause oder an privaten Verkehrsmitteln mangelt. In der Mehrzahl der bekannten und paradigmatischen Filme sind diese Figuren männlich. Das Motiv der Bewegung durch den städtischen Raum strukturiert den türkischen Film »Mein Pferd« (Originaltitel »At«) von Ali Özgentürk (1982). Der Film handelt von der Migration eines Vaters und seines Sohnes von ihrem ländlichen Dorf in die Metropole Istanbul. Dort erwirbt der Vater einen Handkarren, um Früchte zu verkaufen. Attraktive Bilder der Stadt mit ihren berühmten Moscheen kontrastieren mit dem beschränkten Raum, welchen die Figuren »bewohnen«. Wenn Vater und Sohn nicht zu Fuß durch die Stadt laufen, sitzen sie in öffentlichen Plätzen oder in der Straße und schauen dem städtischen Leben zu. Sie befinden sich ganz und gar in der Öffentlichkeit, da sie nichts besitzen als den Karren, der ebenfalls mobil ist und sie nirgendwo verankert. Als der Vater stirbt, kehrt der Sohn in sein Dorf zurück. Filme betonen die Bewegung durch den urbanen Raum als Resultat der Migration vom Land in die Stadt. Die Bewegung der Figuren innerhalb des städtischen Raumes zeigt die unsichtbaren Abgrenzungen und Abtrennungen, welche Städte nach »Rasse«, Klasse, Geschlecht und Sexualität organisieren. In »Asphalt-Cowboy« (Originaltitel: »Midnight Cowboy«) von John Schlesinger (1969) etwa nimmt Joe, ein naiver junger Mann aus Texas, den Bus nach New York City, wo er als Callboy arbeiten will. Rizzo, ein Obdachloser, freundet sich mit ihm an und hilft ihm in der Stadt zu überleben, indem er ihm zeigt, wie man leere Wohnungen besetzt. Der Film integriert relativ lange Szenen, in denen Joe

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und Rizzo ohne Dialog als Teil der Masse durch die Stadt laufen, ohne dass diese Szenen die filmische Erzählung vorantreiben. Armut und Marginalisierung treiben die Figuren der angesprochenen Filme zu Fuß durch die Stadt. Die Filme erfassen die Ambivalenz des Ausgeschlossenseins, der Existenz am Rande der Gesellschaft, des Mangels an Ressourcen und des Verschwindens in der anonymen Masse. Diese Art der Bewegung durch die Stadt kontrastiert mit der Figur des Benjaminischen Flâneurs, welcher sich glücklich in der Stadt und der Masse verliert, verführt von den städtischen Attraktionen und den Prostituierten.

Schwarze männliche Potenz in der filmischen Großstadt Die afro-amerikanische Filmbewegung Blaxploitation produzierte in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren Filme mit einem kleinen Budget und schwarzen SchauspielerInnen. Die Figuren und Filme eigneten sich die Bewegung durch die Stadt zur Konstruktion einer hyperpotenten schwarzen Maskulinität an. Der Kultfilm »Shaft« (1971) von Gordon Parks führte eine der Ikonen des schwarzen städtischen Cool ein, den Privatdetektiv Shaft. Diese maskulin sexualisierte Figur dominiert den städtischen Raum durch Bewegung, sie verkörpert fetischisierte, schwarze Maskulinität und erhebt Anspruch auf den Status einer Ikone ohne Vergangenheit. Shaft verkörpert einen Stil und Habitus, der aus dem Ghetto erwächst. Er wird zum Vehikel einer Publikumsfantasie, in der Minoritäten sich des städtischen Terrains ermächtigen können. Shaft ist für seine selbstbewusste Bewegung durch die Stadt, seinen schicken Ledermantel, seine engen Hosen und seine immer bereite Sexualität gleichermaßen berühmt. Er antizipiert die Geschehnisse in den verschiedenen Bezirken Manhattans und die Aktionen verschiedener sozialer Institutionen, wie der Polizei, der schwarzen und der italienischen Mafia, was ihm Souveränität verleiht. Shaft ist in verschiedenen Teilen der Stadt, in Lokalen, Kaffeehäusern, Restaurants, Polizeistationen, Bars, Geschäften und verschiedenen Wohnungen zu Hause. Seine omnipotente Maskulinität verfügt über das Wissen, die Sprache und das Geschick, die unsichtbaren Grenzen von Klasse, Ethnizität, Geschlecht und »Rasse« zu überschreiten, die die städtische Topographie organisieren. Der schwarze urbane Stil des Films bietet eine Fantasie des Ghettos an, welche die ökonomischen und geographischen Grenzen der städtischen Topographie negiert. Shafts Bewegung durch die Stadt wird von einem Lied von Isaac Hayes begleitet, er besingt Shaft als »sex machine to all the chicks«. So verwandelt sich der »Shaft« – ein umgangsprachliches Wort für Penis – zum schwarzen 57

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Phallus, der keiner individuellen oder kollektiven Geschichte oder Geographie verbunden ist. Diese Fantasie modernisiert und urbanisiert ältere Stereotypen schwarzer Hypermaskulinität. Shafts sexuelle Potenz bezieht sich auf die Frau wie auf die Stadt und verbindet diese Figuren.

Die unmögliche Möglichkeit der afro-amerikanischen Flâneuse Die Figur der Flâneuse muss diese Projektion der Frau auf die Stadt brechen. Zu der Zeit, als Blaxploitation populär war und Fantasien schwarzer Potenz zur Identifikation anbot, porträtierte das unabhängige afroamerikanische Kino in den USA ein Leben im Ghetto in höchst ästhetisierten, aber gleichzeitig realistischen und politischen Bildern. Der Film »Bush Mama« (1979) des äthiopischen Regisseur Heile Gerima ist ungewöhnlich in seiner Darstellung der afro-amerikanischen Hauptfigur Dorothy, die zu Fuß durch South-Central Los Angeles (dem verarmten schwarzen Teil von Los Angeles) läuft. Diese Szenen funktionieren als Refrain und als Unterbrechung der filmischen Erzählung. Dorothy kämpft um ihr Überleben im von institutioneller, symptomatischer und systematischer Gewalt geprägten Alltag. Sie ist schwanger und zieht ihre Tochter LuAnn allein auf, ihr männlicher Liebhaber TC sitzt im Gefängnis. Bei der Festnahme wird sie verprügelt, der Fötus stirbt. Ihre Tochter wird von einem Polizisten vergewaltigt, schließlich nimmt Dorothy Rache und tötet ihn. Wiederholt sehen wir sie durch die Straßen laufen ohne jemals an ein Ziel zu kommen. Wir erleben die städtische Begrenzug und die Hoffnungslosigkeit, die ihrer Bewegung eingeschrieben sind. Dorothy wird immer weiter psychisch verletzt, sie ist isoliert und im Ghetto gefangen. Der Film konstruiert den Raum des Ghettos als mit Erinnerungen, Bedürfnissen, Ironie und Reflektionen erfüllt. Wir sehen Figuren, die an öffentlichen Orten, Straßenecken, Bars und Busstationen leben. Sie reagiern auf ähnliche Lebensbedingungen wie die Figuren in »Das Pferd« und »Geschwister«: Sie verhandeln die Bedingungen des Ghettos und die Restriktionen der Institutionen mit Kreativität, Erfindungskunst und Emotionalität.

»Geschwister« und Walter Benjamins Flâneur Benjamin (1991) konstruiert den Flâneur als eine singuläre Figur, welche von verführerischer Urbanität umgeben ist. »Geschwister« hingegen zeigt den Flâneur als Teil eines Kollektivs, welches aus Familie und 58

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Freunden der eigenen Generation besteht. Die Stadt in Benjamins Modell ist dem Flâneur ein Spielplatz, er ist immer ein potenzieller Konsument. Benjamins Verständnis des Flâneurs ignoriert die polizeiliche Kontrolle suspekt erscheinender Menschen in der Öffentlichkeit: Einwanderer, Minderheiten, Muslime. Im Gegensatz dazu zeigt »Geschwister« die permanente Polizeipräsenz, welche die jungen TürkischDeutschen willkürlich auffordert ihre Papiere zu zeigen und damit die Grenzen des städtischen Ghettos und des Nationalstaats kontrolliert. Erol hat die türkische Staatsangehörigkeit und nimmt gleichzeitig den städtischen Raum Kreuzberg für sich in Anspruch. »Geschwister« reflektiert den Effekt transnationaler Migration, der die Entfremdung vom Nationalstaat und gleichzeitig die Affinität mit dem lokalen städtischen Raum, dem Viertel, bewirkt. Der Ghetto-Flâneur drückt diese Widersprüche körperlich aus, etwa wenn die jungen Migranten gezwungen werden, sich der räumlichen Beschränkung zu unterwerfen und gleichzeitig diesen Raum für sich in Anspruch zu nehmen. Die sich wiederholende beschränkte Bewegung drückt dieses Paradox aus, welches die Begrenzung des Ghettos reproduziert. Die Figuren überwinden die Reduzierung des Raumes durch eine Körperlichkeit, welche ihren eigenen Raum durch Bewegung erschafft und dadurch auf die zentrale Rolle der Körperlichkeit für eine Minderheiten-Subjektivität hinweist. Dementsprechend zeigt der Film subtile Differenzen zwischen den drei Geschwistern vor allem über ihre unterschiedliche Stilisierung des Körpers. Benjamins Theorie des Flâneurs beruht auf einer implizieten maskulinen Heterosexualität, da er die Prostitutierte als sexualisiertes Gegenteil des Flâneurs darstellt. Im Gegensatz dazu zeigt uns Arslan eine psychosexuelle Konstruktion von Maskulinität im urbanen Raum, welche nicht auf der Konstruktion der Prostitutierten oder der sexualisierten Frau basiert. Während Benjamins Essay sich auf ein heterosexuelles Drama des Flâneurs und der Prostitutierten bezieht, zeigt uns Arslans Film die psychische Investition von Männern in Maskulinität durch körperliche Selbstkonstruktion und Selbstgestaltung des maskulinen Habitus. Erol hebt zuhause Gewichte und trainiert mit seinen Freunden im Sportclub. Diese Stilisierung des Körpers wird im privaten für den öffentlichen Raum vorgenommen. Während »Shaft« eine Fantasie von städtischer Hypermaskulinität für die Identifizierung des Zuschauers entwirft, zeigt »Geschwister« den Prozess, die Arbeit, und die psychische und körperliche Investition in den Versuch, sich dieser Fantasie anzunähern. Der Film zeigt so die Differenz zwischen den Fantasien und Realitäten von Minoritätenmaskulinitäten.

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Die Struktur der Geschwisterbeziehung dekonstruiert die traditionelle Symmetrie der Heterosexualität und ermöglicht die Darstellung emotionaler Bindungen, welche nicht im paradigmatischen heterosexuellen Begehren aufgehen. Die Figurenkomposition in »Geschwister« zeigt heterosexuelle Figuren nicht vor dem Hintergrund eines binären heterosexuellen Modells, welches auf maskuliner Aktivität und femininer Passivität beruht. Erols Hypermaskulinität kontrastiert mit der Selbstkonstruktion seines jüngeren Bruders, der die Assimilation wählt, Nutzen aus dem deutschen Schulsystem zieht und nicht zum türkischen Militär gehen will. Die beiden Brüder verkörpern zwei Migrationstypen: Erol nähert sich dem Stereotyp des nicht produktiv arbeitenden, kleinkriminell männlichen Migranten an. Seine Haut ist dunkler, er repräsentiert den Phänotyp des mittleren Ostens eher als sein Bruder Ahmed. Diese Typisierung ermöglicht eine Lesart, welche das Verständnis ihrer Identität als eine Konsequenz ihrer Körperlichkeit sieht. Der Film geht jedoch darüber hinaus. Die beiden diskutieren wiederholt ihr Leben, ihre Träume, Wünsche und ihr Begehren, und illustrieren damit, was Arjun Appadurai (2006) die »Arbeit der Imagination« genannt hat, welche auch die Vorstellung des Selbsts einer migratorischen Maskulinität beinhaltet. Wiederholt reden die Freunde und Geschwister über ihre Situation in der Gegenwart und ihre Hoffnungen für die Zukunft, sie kreieren somit ihr eigenes Leben und ihre eigene Identität. Die Figuren Erol und Ahmed werden von ihrer Schwester Leyla ergänzt. Sie wird Schneiderin und erfüllt so einerseits die beschränkten sozialen Erwartungen marginalisierter Weiblichkeit. Andererseits kontrastiert ihre selbstbewusste Bewegung und Artikulation einer emotionalen und sexuellen Unabhängigkeit im öffentlichen Raum Kreuzbergs mit der Rolle, die Frauen in Benjamins Theorie des Flâneurs zugeschrieben wird. Leyla verkörpert eine Alternative zum tragischen Untergang von Dorothy in »Bush Mama« oder zu der Projektion sexueller Bereitschaft von Frauen in »Shaft«. Stattdessen artikuliert Leyla ihr Begehren selbstbewusst innerhalb und außerhalb ihres Zuhauses, sie stellt ihren Vater in Frage und entgeht sowohl seiner als auch der Kontrolle ihrer Brüder. Sie unterminiert damit das Stereotyp islamischer weiblicher Sexualität. Der Film endet mit einer Einstellung, in der Leyla direkt auf die Kamera zuläuft. Im Gegensatz zu den vielen Parallelfahrten der Kamera, in denen Erol vor mit Graffiti besprühten Fassaden verfallener Häuser aus dem 19. Jahrhunderts entlang läuft, zeigt die letzte Einstellung in einer Halbnahen, wie Leyla geradeaus in die Kamera schaut, der Hintergrund bleibt unscharf. Diese letzte Einstellung verlässt die realistische Darstellung Kreuzbergs und bezieht Leylas Selbstbewusstsein direkt auf den filmischen Apparat. Die Möglichkeit, über die reale räumliche Be60

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grenzung hinauszuschreiten wird somit der künstlerischen und filmischen Darstellung zugeschrieben. Arslans Film repräsentiert die Selbstdarstellung migrantischer Maskulinität im dialektischen Austausch zwischen dem städtischen Raum des Ghettos und der Selbstdarstellung des maskulinen Körpers ohne die binäre Konzeption des geschlechtlichen Körpers zu reproduzieren, welche Benjamins Theorie des Flâneurs strukturiert.

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Z WEITER T EIL : (R E -)K ONSTRUKTIONEN VON I NDIVIDUALITÄT

Männlichkeit kontextualisieren – Eine intersektionelle Analyse KATRIN HUXEL

Männer sind zwar als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung immer noch eher die Ausnahme als die Regel, es lässt sich aber konstatieren, dass die Geschlechterforschung seit einiger Zeit ihre Perspektive erweitert und auch Männer als Objekte wissenschaftlicher Forschung in den Blick genommen hat (vgl. z.B. Bereswill/Meuser/Scholz 2007; Aulenbacher/Bereswill/Löw 2006; Baur/Luedtke 2008). Auch an der Schnittstelle von Migrations- und Geschlechterforschung wächst das Interesse an männlichen Migranten, nachdem lange Zeit eher Migrantinnen im Blickpunkt der Forschung standen1 (vgl. z.B. Spohn 2002; Spindler 2006; Scheibelhofer 2005). Nicht zuletzt ist dies wohl auch der Tatsache geschuldet, dass gerade junge, männliche Migranten in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem durch Negativ-Schlagzeilen auftauchen. Geht es um die Begründung ihres in den Blickpunkt gerückten devianten und delinquenten Verhaltens, so wird gerne ihr (zugeschriebener) ethnischkultureller Hintergrund als Erklärung herangezogen. Von sozialwissenschaftlicher Seite wird jedoch mittlerweile vermehrt darauf hingewiesen, dass der Verweis auf »Kultur« als alleiniges Erklärungsmodell nicht ausreiche, sondern dass im Sinne einer intersektionellen Betrachtung andere Differenzen – wie Alter, Klassenzugehörigkeit, Bildung, Wohn-

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Dabei wurden Migrantinnen zunächst vor allem als Opfer und potenzielle Klientinnen sozialpädagogischer Maßnahmen betrachtet. In den letzten Jahren findet jedoch ein Perspektivwechsel statt, in dessen Verlauf der defizitorientierte Blick auf die Migrantin in die Kritik gerät, stattdessen wird zunehmend »die Vergesellschaftung der Migrantin als ›Kunstfigur‹« (Lutz 2004: 480) aus einer konstruktivistischen Position heraus thematisiert. 65

KATRIN HUXEL

ort, aber auch rassistisch motivierte Abwertungen und ethnisierende Zuschreibungen – zur Interpretation des Verhaltens junger Männer mit Migrationshintergrund hinzugezogen werden müssten (vgl. Spindler 2006; Weber 2007). Ich möchte an dieser Stelle anhand eines typischen Beispiels aus dem medialen Diskurs aufzeigen, welche unausgesprochenen Vorannahmen über den Zusammenhang von Männlichkeit und Migration herrschen und dass diese dem Anspruch einer wissenschaftlichen Intersektionalitätsanalyse zuwiderlaufen. Nach theoretischen Ausführungen zum Begriff und Konzept der Intersektionalität möchte ich im letzten Teil die Diskrepanz zwischen den im medialen Diskurs kursierenden und vermittelten Bildern und der unter einer intersektionellen Perspektive interpretierten biografischen Selbstpräsentation eines jungen Mannes mit Migrationshintergrund verdeutlichen. Dazu stelle ich zwei kurze Sequenzen eines Interviews aus meinem laufenden Dissertationsprojekt2 vor.

Männlichkeit und Ethnizität im öffentlichen Diskurs In den hegemonialen Diskursen der deutschen Gesellschaft werden männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund vor allem als »Problemfälle« thematisiert, als Verursacher von Gewalt und Kriminalität, als Integrationsverweigerer oder als Schulversager. Populärwissenschaftliche oder auch autobiografische Bücher und Filme sowie die mediale Berichterstattung tragen dazu bei, dieses Bild zu prägen, indem die dort beschriebenen und oftmals unter künstlerischen oder journalistischen Gesichtspunkten dramatisierten Fälle als typische Formen migrantischer Männlichkeit diskutiert werden.3 Interessant ist, dass in diesem Zusammenhang Männlichkeit – sonst jenseits populärwissenschaftlicher Beziehungs- und Lebenshilferatgeber eher selten Thema der öffentlichen Debatte – als verursachendes Prinzip thematisiert wird, allerdings nur im Zusammenspiel mit Kultur und Ethnizität. Es ist die ethnisch-kulturell andere, als fremd markierte Männlichkeit, die damit problematisch er-

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Für das Projekt mit dem Arbeitstitel »Positionierungen männlicher Hauptschüler mit Migrationshintergrund im Geflecht von Geschlecht und ethnisch-kulturellen Zugehörigkeiten« wurden biografische Interviews mit männlichen Hauptschülern mit Migrationshintergrund geführt und teilnehmende Beobachtungen in zwei Schulklassen durchgeführt. Zum Beispiel in der Debatte um den von der ARD gezeigten Spielfilm »Wut« des Regisseurs Züli Aladağ (2006), in der der fiktive Plot des Films diskutiert wurde, als handele es sich um einen Dokumentarfilm.

MÄNNLICHKEIT KONTEXTUALISIEREN

scheint. Dieses Erklärungsmodell zeigt sich auch im nachfolgend auszugsweise zitierten Interview mit dem Berliner Polizeipräsidenten Dieter Glietsch, das bei »Spiegel online« erschien. Anlass des im Februar 2007 geführten Gesprächs war die Veröffentlichung von Zahlen zu Kriminalität und Gewaltdelikten unter Jugendlichen. »›Spiegel online‹: Wer sind die Täter? Dieter Glietsch: Es sind vor allem die jungen Männer, wobei junge gewalttätige Migranten uns am meisten Sorgen machen, wenn es um die Zahl der Delikte, die Brutalität, die Gefährlichkeit, die Rücksichtslosigkeit des Vorgehens geht. [...] ›Spiegel online‹: Aber ist es nicht zu kurz gegriffen, nur soziale Ausgrenzung dafür verantwortlich zu machen? Stecken dahinter nicht auch bestimmte Rollenbilder, die Verherrlichung von Gewalt, Motive wie Ehre? Dieter Glietsch: Es wäre in der Tat zu kurz gegriffen, wenn man die soziale Situation als einzige Ursache für Gewalt sehen würde, aber sie ist ein wesentlicher Aspekt. Dazu kommt, dass in vielen Einwandererfamilien ein archaisches Verständnis von Ehre und der Rolle des Mannes in der Familie herrscht. Gewalt wird als legitimes Mittel zur Bewahrung bzw. Wiederherstellung der ›Familienehre‹ betrachtet. Diese Muster werden von den Jugendlichen übernommen und auf Beziehungen außerhalb der Familie übertragen.« (Malzahn/ Reimann 2006)

Vom interviewten Polizeipräsidenten wird Männlichkeit ins Gespräch gebracht, indem er darauf hinweist, dass die delinquenten Jugendlichen zumeist männlich seien. Noch im gleichen Abschnitt wird diese Aussage von ihm jedoch eingegrenzt: Es seien nicht einfach Männer, sondern »Migranten«, die »die meisten Sorgen bereiten«, da diese die meisten und die schwersten – d.h. brutalsten und rücksichtslosesten – Delikte begingen. So wird eine grundsätzliche Thematisierung von Männlichkeit zugunsten der Thematisierung einer bestimmten Männlichkeit, nämlich der von Migranten, aufgegeben. Nicht jugendliche Männer als Verursacher von Jugendgewalt rücken hier in den Mittelpunkt des Interesses, sondern ganz speziell männliche Migranten, oder genauer, junge Männer mit Migrationshintergrund. Im folgenden, hier nicht dokumentierten Abschnitt führt Glietsch aus, dass dies auf soziale Ausgrenzung und mangelnde Bildung zurückzuführen sei. Diese Ausführungen scheinen jedoch nicht die Erwartungen des Journalisten, die Gründe der Delinquenz männlicher Migranten betreffend, zu erfüllen. Nur eine bereits bestehende Erwartung kann schließlich die suggestive Frage des Journalisten erklären, der nun gezielt nach »Motiven wie Ehre« fragt. Damit wird an gesellschaftlich verfügbares »Wissen« über (junge) Männer mit Migrationshintergrund an67

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geknüpft, das sich am Klischee des von Ehrbegriffen geleiteten Machos orientiert und statt nach neuen Erkenntnissen nach der Bestätigung dieses Wissens sucht. Das Beispiel offenbart eine Sichtweise auf junge Männer mit Migrationshintergrund, die für den populären Diskurs typisch ist. Ihre Geschlechtszugehörigkeit wird mit Verweis auf ihre ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit problematisiert und skandalisiert. Aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft ist es die ungünstige Verquickung von ethnischer Zugehörigkeit und Geschlechtszugehörigkeit, die als Verursacherin problematischen Verhaltens ausgemacht wird, reflexartig tauchen dann die immergleichen Schlagworte auf: Ehre, Parallelgesellschaft, archaische Traditionen, patriarchale Männlichkeitsvorstellungen. Die Jungen scheinen auf Grund ihres Geschlechts offenbar besonders empfänglich für die negativen Prädispositionen ihrer Herkunftskulturen. Diese Herkunftskulturen werden damit nicht nur als einheitlich und statisch imaginiert, ihnen wird auch ein grundsätzlich anderer Umgang mit Geschlecht unterstellt, als der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Das Geschlechterverhältnis wird zum diskursiven Ort, an dem sich ethnisch-kulturelle Differenz manifestiert; als »Kernstück ethnischer Semantik« (Lutz/Huth-Hildebrandt 1998: 163) wird es verwendet, um Unterschiede zwischen Mehrheitsgesellschaft und Migranten (und den Migrationsfolgegenerationen) zu beschreiben und zu hierarchisieren. Der Umgang mit Geschlecht wird so zum Gradmesser für gelungene Integration und Zivilisiertheit (vgl. ebd.). Über den populären Diskurs hinaus findet die Figur der ethnisch/ kulturell bestimmten Männlichkeit auch Eingang in sozialwissenschaftliche Wissensproduktion (vgl. Spindler 2006). Auch hier liegt ihr ein problematisches Verständnis von Kultur zugrunde: Sie wird als essentialistische, aus der nationalen, regionalen oder auch sozialen Herkunft unweigerlich folgende und nahezu unveränderbare Größe betrachtet, welche das Verhalten der »ethnisch Anderen« bestimmt. Männlichkeit wird als durch die – zugeschriebene – ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit der jungen Männer determiniert gedacht. Kultur wird so zur einzigen Erklärung für das Verhalten junger Männer mit Migrationshintergrund. Andere Differenzlinien wie Klasse, Alter aber auch Geschlecht als eigene, wirkmächtige Kategorie geraten dabei aus dem Blick. Hier kann eine intersektionelle Perspektive ansetzen, die den Fokus auf verschiedene Differenzen und ihr Zusammenwirken öffnet.

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Intersektionalität als Forschungsperspektive Klinger/Knapp konstatieren, der Begriff der Intersectionality sei innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung mittlerweile zu einem »Leitbegriff« geworden, mit dem sich eine »paradigmatische Neuorientierung« abzeichne (2007: 34). In der Tat blickt die Frauen- und Geschlechterforschung zwar auf eine vergleichsweise lange Tradition der Forderung nach Integration verschiedener Differenzen in die Forschung zurück, zumeist wurde sie als Kritik an der Zentrierung auf ein bürgerliches, weißes Subjekt formuliert. Eine systematische, auch theoretische und methodologische Erweiterung der Forschungsperspektive um andere Differenzen und ihre Verstrickungen mit Geschlecht findet unter dem Stichwort Intersektionalität im deutschsprachigen Raum jedoch erst in neuerer Zeit statt (vgl. Lutz 2001). Intersektionalität geht als Forschungsperspektive dabei über die Forderung nach der Analyse zweier oder auch dreier Differenzlinien und damit über das »gebetsmühlenhafte« Herunterbeten der Trias race-class-gender (Klinger/Knapp 2007: 36) hinaus, sie erweitert die Perspektive auf multiple Differenzen und ihr Zusammenwirken und ist so zu verstehen als »eine Subjekttheorie, die Identitäten auf Kreuzungen von Differenzierungslinien lokalisiert; gleichzeitig werden soziale Positionierungen untersucht, die nicht eindimensional, sondern das Produkt von simultanen, sich kreuzenden Mustern von Verhältnissen und Merkmalen sind.« (Lutz 2004: 482) Gerade an der Schnittstelle von Frauen- und Migrationsforschung sind in den letzten Jahren Arbeiten entstanden, die einem intersektionellen Paradigma folgen und nach dem Zusammenwirken unterschiedlicher Differenzlinien fragen (vgl. z.B. Guttiérrez Rodríguez 1999; Weber 2003; Riegel 2004). Die Frauenforschung ist damit auf dem Gebiet intersektioneller Forschung der Männerforschung einige Schritte voraus, und Studien aus dem Bereich der Frauenforschung können sowohl theoretisch als auch methodologisch Vorbildcharakter für die Männer- und Männlichkeitsforschung haben. Trotzdem ist Männerforschung nicht einfach Frauenforschung mit umgekehrtem Vorzeichen, sondern bedarf als eigene Forschungsrichtung der Aneignung und Modifikation von Theorien und Methoden, um sie an die spezifische Situation von Männern anzupassen. Tunç weist darauf hin, dass Männerforschung »vor der Herausforderung [steht,] ambivalente und widersprüchliche Positionierungen der Subjekte verständlich machen zu müssen« (2006: 22).4 So haben Männer qua Ge-

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Auch Frauen haben selbstverständlich ambivalente Positionen inne, mit denen sich die Frauenforschung auseinandersetzen muss. Besonders deut69

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schlecht Anteil an der patriarchalen Dividende, »dem allgemeinen Vorteil, der den Männern aus der Unterdrückung der Frauen erwächst« (Connell 2000: 100), sind aber auf Grund anderer sozialer Bedingungen, Zugehörigkeiten und Differenzen von Ausgrenzungen und Marginalisierungen betroffen, über die die patriarchale Dividende entwertet werden kann (vgl. Tunç 2006). Das Zusammenwirken verschiedener Differenzlinien zu untersuchen und ihren Einfluss auf die Positionierungen von Männern sichtbar zu machen, ist die Aufgabe intersektioneller Männlichkeitsforschung. Die bis in den wissenschaftlichen Diskurs reichende Persistenz der im Alltagswissen begründeten Überzeugung, Männlichkeit sei durch ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit determiniert, wie sie im oben beschriebenen Beispiel zum Ausdruck kommt, läuft jedoch einer intersektionellen Perspektive zuwider. Yuval-Davis stellt fest: »While all social divisions share some features and are concretely constructed by/intermeshed with each other, it is important also to note, that they are not reducible to each other.« (2006: 200) Eine solche Reduktion von Differenzen findet jedoch statt, wenn – wie im angeführten Beispiel – junge Männer mit Migrationshintergrund auf ein Merkmal beschränkt werden: ihre ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit und all das, was der hegemoniale Diskurs der Mehrheitsgesellschaft ihnen zuschreibt. Kultur als Erklärung des So-Seins der Jungen muss jedoch auch dann hinterfragt werden, wenn sie von den jungen Männern selbst als Erklärung angeführt wird. Über die Möglichkeit der ethnisch-kulturellen Bestimmtheit der Männlichkeit junger Männer mit Migrationshintergrund muss hinausgedacht und andere Differenzen, die in den Biografien der Untersuchten eine Rolle spielen, in den Blick genommen werden, denn: »Intersectionality ist sowohl Identitätstheorie als auch ein Instrument, das der Analyse der sozialen Positionierung von Menschen dient. Identitäten sind auf Kreuzungen von Differenzlinien zu lokalisieren; sie sind nicht eindimensional, sondern das Produkt von simultanen, sich kreuzenden Mustern von Verhältnissen und Merkmalen. Abhängig von der sozialen Situation der Handelnden und Sprechenden treten einige Differenzlinien in den Vordergrund, andere werden vernachlässigt. Bei der Analyse müssen offenkundige, auf den ersten Blick sichtbare Differenzerklärungen hinterfragt werden.« (Lutz/Davis 2005: 231; Hervorhebung im Original)

lich wurde dies durch die Kritik schwarzer Frauen an dem auf weiße Mittelschichtsfrauen fixierten Feminismus in den Siebzigern oder auch an der Auseinandersetzung um die Mittäterschaft von Frauen im Nationalsozialismus (vgl. Lutz 2001). 70

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Im Folgenden möchte ich am Beispiel einer Interviewsequenz zeigen, dass und wie in der biografischen Selbstpräsentation eines jungen Mannes mit Migrationshintergrund verschiedene Differenzen eine Rolle spielen. Dabei sind Differenzen nicht statisch, sondern vielmehr als flexible »Handlungskategorien« zu denken (vgl. Lutz/Davis 2005: 231), innerhalb derer Identitätskonstruktion stattfindet. Ich werde mich dabei auf das Thema Familie beziehen, dem vom Biografen selbst eine prominente Stellung im Interview eingeräumt wird und innerhalb dessen sich verschiedene Differenzlinien aufspüren lassen, die für Positionierungen und Handlungsweisen des Biografen von Bedeutung sind. Ich folge damit der Themen- und Schwerpunktsetzung des Biografen, löse für die exemplarische Darstellung in diesem Beitrag jedoch zwei Sequenzen aus dem Zusammenhang der lebensgeschichtlichen Erzählung. Die Analyse des Falls orientiert sich jedoch am Ziel der Gestalterhaltung und rekonstruktion der biografischen Selbstpräsentation (vgl. Rosenthal 1995). Die Lebensgeschichte wird hierbei als Ganzes betrachtet um so »zur Fallstruktur einer erzählten Lebensgeschichte vorzudringen« (ebd.: 209). So können die vom Biografen selbst gewählten Themen- und Schwerpunktsetzungen nachvollzogen und Deutungsmuster erkannt werden. Auch im folgenden Beispiel eröffnet der Blick auf die Gesamtheit der lebensgeschichtlichen Erzählung neue Erklärungen und Interpretationen. Daher werden die vorliegenden Sequenzen an Struktur und Inhalt der gesamten Selbstpräsentation rückgebunden.

Zum Beispiel Mehmet Die folgenden Sequenzen stammen aus dem biografischen Interview5 mit Mehmet, einem 15jährigen Schüler mit türkischem Migrationhintergrund. Mehmet wohnt bereits sein ganzes Leben in dem Stadtteil einer westdeutschen Großstadt, in dem er heute auch die Schule besucht. Zum Zeitpunkt des Interviews besucht Mehmet die 10. Klasse einer integrierten Haupt- und Realschule, vor den Sommerferien hat er seinen Hauptschulabschluss gemacht und hofft jetzt, noch seinen Realschulabschluss machen zu können, hat jedoch Zweifel. Mehmet präsentiert sich im Interview als Mann, ohne dass er sein Geschlecht direkt thematisiert. Vielmehr findet die Inszenierung von Männlichkeit auf anderen Bühnen statt, wie in der folgenden Sequenz, in der Mehmet über seine Position in der Familie spricht: 5

Es handelt sich um ein narratives, biografisches Interview. Die angeführte Sequenz stammt aus der Haupterzählung, also aus dem Teil des Textes, in dem der Biograf in Reaktion auf die offene Einstiegsfrage frei und entlang seiner eigenen Themen- und Schwerpunktsetzung erzählt. 71

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»Ich bin gern für meine Familie da, mich nennen die auch nach meinem Vaters Namen ›der kleine Yilmaz‹. Weil mein Vater ist ja jetzt so mäßig der, also mein Vaters Vater ist ja auch gestorben, meine Mutters Eltern leben ja in der Türkei und deshalb bin ich der Aufpassen von den Kleinen. Also, ich bin jetzt der Älteste von den Cousins, bin der Aufpasser von denen. Mein Vater von der Familie und ich von den Kleinen [kurze Unterbrechung] und ja also, ich bin ja der, mich nennt man ja den kleinen Yilmaz und ich bin immer für meine Familie da, weil für mich ist Familie heilig. Ist ja auch bei den meisten Moslems so oder bei den meisten Menschen so, dass die Familie heilig ist. Und bei mir ist es so, ich hab ja noch ne kleine Schwester, ich habe gesagt sie darf erst nen Freund haben, wenn sie sechzehn ist, weil ich hab in der Zeitung gelesen, dass A-Stadts jüngstes Kind mit zehn Jahren schon ein Kind bekommen hat und sie wird jetzt elf. Deswegen hab ich auch Angst, dass das auch bei ihr passieren kann. Deswegen bin ich auch ein strenger Bruder, ein bisschen gegen so welche Sachen. Ich will ja nicht, dass meine Familie so, wie soll ich sagen, so bekannt ist als Schlampe und so. Also, ich will, dass meine Familie ordentlich hier ist auch wenn ich klein bin, aber ich will versuchen, dass es so weiter geht wie es jetzt ist, so ruhig, nicht so dass jeder denkt, ja die Familie ist schlecht und so. Also ich werde alles für meine Familie tun.«

Wird diese Sequenz für sich genommen und außerhalb des Kontextes der gesamten biografischen Selbstpräsentation unter dem verengten Blickwinkel einer alles erklärenden und determinierenden Kulturdifferenz gelesen, so lassen sich Vorannahmen einfach bestätigt finden: Mehmets Selbstdarstellung scheint auf den ersten Blick ins Bild des traditionellen Mustern verhafteten, an rückständigen patriarchalen Wertvorstellungen orientierten jungen Mannes zu passen, das in der Öffentlichkeit so populär ist und durch mediale Darstellungen wie das oben angeführte Beispiel stets (re)konstruiert wird. Stellen wir Mehmets Erläuterung der Bedeutung seiner Familie in den Kontext seiner lebensgeschichtlichen Erzählung, so zeigt sich, dass Familie ein bestimmendes Thema ist. Immer wieder taucht es im Zusammenhang mit »Stress« und »Streit« auf. Einen großen Teil von Mehmets biografischer Selbstpräsentation stellt die detaillierte Erzählung eines großen und folgenschweren Familienstreits dar, der während eines nur wenige Wochen zurückliegenden Türkeiaufenthaltes mit seinen Eltern eskalierte. Der Streit schließt in der Türkei und in Deutschland lebende Verwandte ein und lässt die Familie zu einer prekären Größe für Mehmet werden, denn er darf nun bestimmte Verwandte nicht mehr besuchen, und einzelne Familienmitglieder reden nicht mehr miteinander. Auch seine Eltern sind in den Streit involviert, die Konfliktlinie verläuft hauptsächlich zwischen der Familie der Mutter und der des Vaters. Mehmet schildert sein Erleben der Situation als extrem belas72

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tend, er leidet unter dem Streit, weint oft deswegen und ist auch in der Interviewsituation (also in räumlicher und zeitlicher Distanz zum Konflikt) emotional noch sehr betroffen. Seine Familie ist ihm ein wichtiger Bezugspunkt, diesen sieht er durch den Streit gefährdet. Mehmets starker Bezug auf das Ansehen der Familie, seine Überbetonung der positiven Außenwirkung, muss im Kontext dieser Problematik also auch als Rettungsversuch in einer Situation gelesen werden, in der die Familie auseinander zu brechen droht bzw. in Teilen bereits auseinander gebrochen ist. Mehmets deutliche Betonung des Familienthemas muss auch vor dem Hintergrund seines Alters und damit im Rahmen adoleszenter Ablöse- und (Neu)verortungsprozesse betrachtet werden, in deren Verlauf sich Heranwachsende »mit den Bedingungen ihres Gewordenseins auseinander setzen müssen« (King 2005: 59). So stellt sich Familie als Bezugspunkt für Mehmet ambivalent dar: Einerseits ist sie der beschützenswerte Zufluchts- und Rückzugsort, andererseits aber Schauplatz von Konflikten, die er zuletzt auch mit seinen Eltern austrägt. Diese Auseinandersetzung findet innerhalb sozialer und kultureller Bedingungen statt, der adoleszente Möglichkeitsraum (vgl. King 2004; 2005) ist also entlang gesellschaftlicher Differenzlinien strukturiert und eingegrenzt. Auch der Migrationshintergrund beeinflusst so Mehmets Leben und Erleben von Adoleszenz, insofern er sich mit der Migrationsgeschichte seiner Eltern und den transnationalen Bezügen seiner Familie, die zum Teil in der Türkei lebt, auseinander setzen muss. Auch zu kulturalisierenden und ethnisierenden Zuschreibungen, wie den vermittelten Bildern junger männlicher Migranten, muss er sich in Beziehung setzen. Eine solche Bezugnahme findet sich in einer Sequenz, in der sich Mehmet als gewalttätiges Gangmitglied inszeniert. Neben der Familie taucht hier ein zweites wichtiges Bezugsfeld auf: seine Peergroup. Ebenso wie weibliche findet auch männliche Adoleszenz im Spannungsfeld von Familienorientierung auf der einen und dem Bezug auf die Peergroup auf der anderen Seite statt. Apitzsch (2003) weist darauf hin, dass der Peer-Bezug bei männlichen Jugendlichen ihres Samples ausgeprägter war, während bei den weiblichen Heranwachsenden die Familienorientierung überwog, was jedoch nicht unbedingt auf eine Traditionalisierung der jungen Frauen hindeute. Auch lasse der deutliche Bezug der Jungen auf die Peer nicht zwangsläufig auf einen Bedeutungsverlust der Familiensphäre schließen. Auch in Mehmets Fall stehen Familie und Peergroup als wichtige Bezugssysteme nebeneinander und verweisen – wie im nachfolgenden Beispiel – aufeinander. Neben der Zugehörigkeit zu seiner Familie – in der er, wie oben beschrieben, eine wichtige Funktion als »kleinere Aus73

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gabe« seines Vaters innehat – ist ihm auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, seiner »Gang«, sehr wichtig. In diesem Zusammenhang zeigt er sich in seiner biografischen Selbstpräsentation an einer patriarchalen Männlichkeit orientiert, zu deren Inszenierung das Beschützen des Rufs weiblicher Familienmitglieder sowie die Betonung der Teilnahme an Akten körperlicher Gewalt gehören: »Ja ich fick deine Mutter haben die zu mir gesagt, dann bin ich auf die los gegangen mit ner Wasserpfeife auf übern Kopf gehauen dann gabs richtig Stress, die Straße gegen R-straße und so a- also bei uns ist in den Alter jugendlichen Alter so das jeder Stadtteil, also zum Beispiel also nicht Stadtteil sondern Station, so zum Beispiel R-straße, X-Viertel, B-Feld und so jetzt so eine town sind, so ne wie New York so kleine Stadt so so ne Gang sind ja und dann gibts meistens auch so Stress, durch msn, also durch Internetchat dann muckt der eine bei ihn auf dann gibts Stress immer war auch öfter bei mir passiert dass manche Leute meine Kusine beleidigt haben, dann bin ich auch auf die Straße gegangen und hab mich da gefetzt mit denen ja und meine Akte will ich jetzt auch nicht mehr sehen, wegen- Polizeiakte und so auch viele Körperverletzungen geklaut.«

Mehmet präsentiert sich als Jugendlicher, der in die Gang-Struktur seines Viertels eingebunden und damit Teil einer Gemeinschaft ist. Neben der Familie ist diese Gemeinschaft ein wichtiger Bezugspunkt in seiner lebensgeschichtlichen Erzählung. Mehmet schildert das Leben »auf der Straße« ausführlich, in diesem Zusammenhang betont er auch immer wieder die Zugehörigkeit zu seinem Stadtteil. Letztlich hat seine identitäre Verbundenheit mit dem Stadtteil (und der dazugehörigen »Gang«) für seine Selbstpräsentation eine größere Bedeutung als die Annahme einer ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit. Ethnisch-kulturell positioniert er sich eher beiläufig und immer wieder uneindeutig, wie in der ersten Sequenz, in der er auf sein Moslem-Sein verweist, es aber gleich auflöst und das zu erklärende Verhalten für alle Menschen verallgemeinert. Neben seiner eigenen Bereitschaft zu gewalttätigem Handeln, die er in dieser Sequenz betont, wird ebenso deutlich, dass einige der sozialen Zusammenhänge, in denen sich Mehmet aufhält, Gewaltanwendung in einem gewissen Ausmaß tolerieren. Spindler findet in ihrer Studie über junge, straffällig gewordene Männer mit Migrationshintergrund heraus, dass diese auf die Spitze getriebene Zurschaustellung von Männlichkeit das Ende eines Prozesses darstellt, in dessen Verlauf den jungen Männern immer weniger Möglichkeiten bleiben, ihren Alltag erfolgreich zu gestalten. Eine körper- und gewaltbetonte Männlichkeit bleibt schließlich die letzte Ressource, sie gewinnt immer mehr an Bedeutung – weil sie ihr in Ermangelung anderer Ressourcen immer mehr Bedeutung zu74

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weisen – und die sie schließlich in zugespitzter Form ausleben (2006: 289 ff.). Bei Mehmet ist dieser Prozess der Dekontextualisierung, den Spindler für Jugendliche beschreibt, die inhaftiert sind, (noch) nicht so weit fortgeschritten, aber es zeigen sich erste Ansätze, dass auch seine Möglichkeiten der erfolgreichen Alltagsbewältigung immer weiter eingeschränkt werden: Er findet keinen Ausbildungsplatz, er wird seinen Realschulabschluss voraussichtlich nicht schaffen, er verliert den familiären Halt, die finanzielle Situation der Familie ist extrem angespannt, seine Schulzeit neigt sich dem Ende zu und die Zeit danach hält für ihn vor allem Unsicherheit bereit. Die Peergroup, seine »Gang«, gewinnt daneben an Bedeutung, seine eigene Präsentation als erfolgreich in diesem Zusammenhang an Wichtigkeit. Die Peergroup funktioniert mit ihrem abweichenden Wertesystem, das Gewalt legitimiert und toleriert, als Gegenmodell zu den Bereichen, von denen Mehmet dem gegenwärtigen Anschein nach ausgeschlossen bleibt. Die Inszenierung einer gewaltbetonten Männlichkeit stellt in diesem Zusammenhang eine Ressource dar, die es ihm ermöglicht, sich im Rahmen der gewaltaffinen »Gang« als dazugehörig und erfolgreich zu inszenieren.

Fazit Das Beispiel Mehmet zeigt, dass die identitären Positionierungen junger Männer mit Migrationshintergrund vielschichtiger und heterogener sind, als es mediale Repräsentationen und gesellschaftliche Urteile vermuten lassen. Mehmets Erzählung ist von verschiedenen Differenzen durchzogen, die aufeinander verweisen und miteinander in Beziehung stehen. Seinen positiven Bezug auf Familie, der mit dem Anliegen einhergeht, ihren Ruf zu schützen, seine eingenommene Funktion als Beschützer der weiblichen Familienmitglieder und seine partielle Selbstpräsentation als gewaltbereit aus dem Kontext seiner Biografie zu nehmen und als Ausdruck einer »fremden« Kulturzugehörigkeit zu lesen, kann Mehmets Darstellung nicht gerecht werden. Eine intersektionelle Forschungsperspektive öffnet den Fokus für individuelle und strukturelle Bedingungen und Kategorien, die Mehmets Handeln und seine Identität beeinflussen und bestimmen. Mehmets Alter, sein Er- und Ausleben adoleszenter Prozesse, seine Klassenzugehörigkeit, sein Geschlecht ebenso wie Prozesse von Selbst- und Fremdethnisierungen stehen dabei in einem Verhältnis der gegenseitigen Beeinflussung.

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Repräsentationen von Männlichkeiten. Bekir, der »andere« Mann – Eine Einzelfallanalyse KAJA SWANHILT HAEGER

Der vorliegende Beitrag fokussiert das Spannungsverhältnis, in dem sich allochthone männliche Adoleszente in Deutschland zwischen geschlechtsspezifischen Ideologien und der erlebten Realität, als »türkisch« markiert zu werden, befinden. Ganz besonders sie werden von der Mehrheitsgesellschaft in der Regel als »Problemgruppe« oder »Risikogruppe« wahrgenommen. Ihr Verhalten wird wie selbstverständlich begründet mit ihrer ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit, was zur Ausprägung idealtypischer Figuren – wie der des »türkischen Machos«1 – geführt hat. Durch die fortwährende Wiederholung der stigmatisierenden Metaphern konstituieren sich diese zu einem dominanten Diskurs. Wenn heute also der türkische Macho im medialen Kontext auftaucht, dann weist dies auf nichts anderes hin als auf die konsequente und kontinuierliche Fortsetzung dieser Stereotype, die Mark Terkessidis (2004) auch als »Banalität des Rassismus« beschreibt. Dabei gibt es bisher nur wenige wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Aushandlungsprozessen vielfältiger Männlichkeiten. Löst sich die Wissenschaft nicht von der Oberflächenstruktur stereotyper Aussagen, so verdoppelt sie deren inhaltliche Qualität, die – jetzt allerdings mit wissenschaftlicher Autorität ausgestattet – wiederum an die Medien vermittelt und in breite Diskurse einfließen. Dieser Beitrag verfolgt daher das Ziel, an Hand eines Beispiels den Facettenreichtum von Aushandlungen um Männlichkeiten 1

Dieser Typus steht stellvertretend für die Gruppe aller Jungen/Männer mit Migrationshintergrund (vgl. Krüger-Potratz 2005; Spindler 2003). 79

KAJA SWANHILT HAEGER

aufzuzeigen und damit einen Beitrag zur weiterführenden wissenschaftlichen Diskussion zu leisten. Exemplarisch wird in diesem Zusammenhang Bezug auf Ergebnisse einer Einzelfallanalyse aus einem laufenden Forschungsprojekt mit bildungserfolgreichen adoleszenten männlichen Jugendlichen türkischer Herkunft genommen. Mittels dieser sollen zentrale Aspekte im Prozess des Zum-Mann-Werdens diskutiert und in Relation zu bestehenden kollektiven Repräsentationen sowie Herrschaftsstrukturen gesetzt werden. Ambivalenzen der Selbstverortung zwischen medialen und institutionalisierten (Fremd-)Zuschreibungen einerseits und subjektiven Beweggründen andererseits stehen dabei im Mittelpunkt der Analyse. In der Verhandlung vielfältiger Männlichkeiten wird die geschlechtlich markierte Erfahrungswelt ausgelotet, modifiziert, verworfen und wieder neu errichtet. Dabei spielen nicht nur subjektive Erfahrungen eine Rolle, sondern ebenfalls mediale und gesellschaftlich geführte Diskurse, welche den Aushandlungsraum (mit)strukturieren. Dimensionen etwa der sozialen Lage, Sprache, Migration, sexuellen Orientierung und Religion sind hier einzubeziehen und auch in ihrer gesellschaftlich zugestandenen »Wertigkeit« zu betrachten. In den Aushandlungsprozessen um Männlichkeiten spielen also subjektive sowie strukturelle Bedingungen und Bedeutungen eine besondere Rolle, welche innerhalb der jeweiligen Möglichkeitsräume zu spezifischen Umgangweisen führen.

Theoretischer Hintergrund Der vorliegende Artikel baut im Kern auf drei theoretischen Säulen auf, die zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit allochthonen männlichen Jugendlichen heranzuziehen sind: die kritische Maskulinitätsforschung, die Theorie sozialer Repräsentationen und die Intersektionsanalyse. In der kritischen Maskulinitätsforschung prägte insbesondere R. W. Connell die Auseinandersetzung um vielfältige Männlichkeitsentwürfe, er führte den Begriff der hegemonialen Männlichkeit ein. Dieser Typus ist als ein dominantes Modell männlicher Überlegenheit zu verstehen und muss im Zusammenhang mit weiteren Ausprägungen von Männlichkeit betrachtet werden (2000: 97). Insbesondere vier Typen von Männlichkeitskonzepten wirken aufeinander ein: die hegemoniale, die komplizenhafte, die marginalisierte und die unterdrückte Männlichkeit. Die hegemoniale Männlichkeit zeichnet sich durch ein Ineinanderspielen von Macht und Autorität aus, die komplizenhafte kann als ein Konzept zur Erhaltung der Machtnähe verstanden werden. Marginalisierte Männlichkeit stellt einen Gegenentwurf zu machtvoller, hegemonialer Männ80

REPRÄSENTATIONEN VON MÄNNLICHKEITEN

lichkeit dar, sie wird zwar tabuisiert, ihr wird jedoch die Geschlechtlichkeit nicht grundsätzlich abgesprochen. Dagegen skizziert die unterdrückte Männlichkeit diejenigen Männer, denen eine akzeptable Geschlechtlichkeit nicht zuerkannt wird (vgl. ebd.: 98ff.). Die hegemoniale Männlichkeit bedient sich komplizenhafter Männlichkeitskonzepte und grenzt sich gegenüber unterdrückten Männlichkeitsentwürfen ab (vgl. auch Scholz 2004; Kröhnert-Othmann/Lenz 2002). Bilder idealisierter Männlichkeitskonzepte unterscheiden sich dabei kultur- und schichtspezifisch. Im Bezugsrahmen der sozialen Repräsentationen (vgl. Moscovici 1995) wird den Erfahrungen, Bildern und Vorstellungen von Männlichkeiten nachgegangen, die den männlichen Jugendlichen in seiner sozialen Umwelt umgeben und seine Verhaltensweisen mitprägen. Das Konzept der sozialen Repräsentation setzt sich mit der Frage nach der Entstehung sozialer Wirklichkeit auseinander und bezieht sowohl die Strukturierung von Alltagswissen auf der gesellschaftlichen Ebene als auch auf der individuellen Ebene mit ein (vgl. Moscovici 1995: 311ff.; Flick 1995: 69f.). Auf der Ebene der gesellschaftlich-strukturellen Bedingungen ist das dem Einzelnen zur Verfügung stehende Alltagswissen insbesondere von ökonomischen, rechtlichen und politischen Verhältnissen abhängig und hierarchisch strukturiert. Eine weitere Ebene umfasst die gesellschaftlichen Bedeutungen, welche mittels Diskursen (Text, Wort und Bild) Orientierungsangebote machen (bspw. Erklärungen über Zusammenhänge) und in Form von Ideologien sozial geteilt werden. Dabei handelt es sich um eine Form der sozialen Repräsentation, die innerhalb einer Gruppe geteilt wird. Dem gegenüber steht die Ebene der subjektiven Begründungen. Persönlichen Umgangsweisen mit gesellschaftlichen Bedeutungen und Bedingungen liegt eine subjektive Orientierung zugrunde, welche Interpretationsressourcen über Zusammenhänge und Gruppen formt und innerhalb des eigenen Möglichkeitsraumes herangezogen wird. Rudolf Leiprecht (2001) bezieht das Konzept der sozialen Repräsentation auf Jugendliche und ihre Auseinandersetzung sowohl mit äußeren Bedingungen als auch mit subjektiven Umgangweisen und Bezugnahmen. Medial vermittelte Bilder über Männer unterschiedlicher Herkunft, individuelle Erfahrungen mit Männern und Jungen sowie die Einbindung in sozio-ökonomische Strukturen unserer Gesellschaft wirken gleichsam auf die sozialen Repräsentationsformen ein. Das Konzept befasst sich dabei also mit dem Zusammenwirken von Selbst- und Fremdzuschreibungen, welches in entscheidendem Maße das Denk-, Deutungs-, Handlungs- und Problemlösungsrepertoire männlicher Jugendlicher (mit-)strukturiert. 81

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In Anlehnung an Kimberlé Crenshaw (1993), Helma Lutz (2001) und Cornelia Klinger/Gudrun-Axeli Knapp (2005) stellt die Intersektionalität eine notwendige Perspektive dar, um die sozialen Repräsentationen männlicher Jugendlicher zu untersuchen. An Stelle einzelner Differenzmerkmale, die im Geschlechterverhältnis hervorgehoben werden, zielt die Intersektionalität auf eine Reihe von Prädikaten ab, etwa Geschlecht, Ethnizität, Klasse, Sexualität, Religion und Gesundheit. Gleichzeitig ist kritisch auf den vielerorts verbundenen Pragmatismus zur Betonung von Differenzen zu verweisen, der aktuell an Prominenz gewinnt, ohne dass notwendige gesellschaftliche Veränderungen umgesetzt werden. Die Herausforderung besteht in diesem Zusammenhang in der Offenlegung des Zusammenwirkens verschiedener Ungleichheitskategorien und deren Wirkmächtigkeit (vgl. Lutz 2001: 228).

Die Adoleszenz und die Neugestaltung von Männlichkeit In der Adoleszenz löst sich der junge Mensch von seinen ersten Bezugspersonen; er muss jenseits der Grenzen der Familie neue stabile Beziehungen aufbauen und tritt als Mitglied einer neuen Generation mit eigenen Aufgaben, Themen und Zielen in besonderer Weise in die Gesellschaft ein. Für den Übergang wird in westlich geprägten Gesellschaften in der Regel die Gruppe der Gleichaltrigen gewählt (vgl. Schröder 2003: 100f.). In einer idealtypischen Ausgestaltung dieser Lebensphase kann sie als ein Prozess der permanenten aktiven Auflösung und Neugestaltung beschrieben werden. Während der Adoleszenz befindet sich der Junge an einem Punkt, an dem er ein eigenes, von den Eltern getrenntes »Selbst«, sprich eine eigene Identität, aufbauen muss (vgl. King 2004: 171). Die Inhalte und Formen der Erwachsenenwelt müssen erlernt und erarbeitet werden. Dazu wird dem Jugendlichen in unserer Gesellschaft eine eigene Lebensphase zur individuellen Entfaltung zugestanden. Der Adoleszente geht Fragen nach, in denen er sich mit sich selbst auseinandersetzt und die der eigenen Bewusstwerdung dienen: Wer bin ich? Woher komme ich? Wer möchte ich sein? (vgl. ebd.: 85) Diese Phase beinhaltet eine Auseinandersetzung des Jungen mit sich selbst aus einer reflektierenden Selbstbetrachtung heraus. Durch die schrittweise Loslösung aus den kindlichen Bindungen entwickelt sich beispielsweise die Fähigkeit, zu trauern und die betrauerten Verluste kreativ zu kompensieren (vgl. ebd.: 86). So kann auch eine Auseinandersetzung darüber erfolgen, ob er die von außen an ihn gerichteten Erwartungen überhaupt erfüllen möchte. 82

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In der Phase der Bewusstwerdung über die eigene Person (Wer bin ich?) spielt das Geschlecht eine wesentliche Rolle. Der Jugendliche ist erstmals aufgefordert, das eigene Geschlecht selbstständig zu repräsentieren. In dieser Zeit ist die Auseinandersetzung mit dem Vater oder anderen nahestehenden männlichen Bezugspersonen zentral und wirkt sich prägend auf die Identität des Jungen aus (vgl. ebd.: 116f.). Auf der psychischen Ebene wird dem Sohn in aller Regel das väterliche Erbe zugeteilt. Ihm wird einerseits aufgetragen, auf den Lebensprojekten des Vaters aufzubauen, diese weiterzuführen und sogar zu übertreffen (vgl. Bourdieu 2000: 84). Der Sohn soll die Kontinuität des Familienerbes über die Generationen hinweg sichern. Trotz der unterschwelligen Vererbung sozialer, habitueller, ökonomischer und kultureller Güter verwandeln sich die Generationenverhältnisse und damit auch die Konzepte von Männlichkeit (vgl. King 2004: 117). Erscheint dem Jungen der väterliche Lebensentwurf erstrebenswert, will er ihm nacheifern; oder er zieht den Lebensentwurf des Vaters zur Negativfolie heran, von der es sich abzugrenzen gilt. Wer will er sein? Welche Männer dienen ihm als Vorbilder? Was will er verkörpern? Ist der Vater nicht erreichbar, können andere Identifikationsfiguren als Vorbilder fungieren (vgl. Connell 2000: 147f.). Diese sind nicht zwangsläufig geschlechtshomogen. Identität ist, wie bereits erläutert, an die Fähigkeit geknüpft, sich selbst mit den Augen der anderen sehen zu können. Das bedeutet, dass Identität immer auch an Interaktion geknüpft ist. In der Interaktion mit anderen Männern, Frauen oder innerhalb der Peergroup kann sich der Junge beispielsweise je nach kulturellen Codes in seiner Männlichkeit messen, bestätigt oder missachtet fühlen. In seinen sozialen Netzwerken wird über »Normalität« verhandelt, über das was als männlicher Jugendlicher »in« und »out« ist, was »cool« und bewundernswert ist, bis hin zur negativen Sanktion und Ausgrenzung (vgl. Keupp et al. 2002: 203f.). Die Herausbildung männlicher Identität ist somit vor allem abhängig von der Spiegelung durch andere männliche Identifikationsfiguren, seien es nahe Bezugspersonen oder öffentliche männliche Repräsentanten. Auch die weibliche Idealisierung von Männlichkeit ist entscheidend an der Herausbildung männlicher Identität beteiligt. Die geschlechtsspezifischen Rollenvorstellungen innerhalb einer Gesellschaft sind hier besonders bedeutsam, da Vorstellungen und Erwartungen an Mädchen und Jungen auf subtile Weise männliche und weibliche Geschlechtsidentität strukturieren. Identität ist infolgedessen ein permanenter Dialog, in dem der Einzelne mit sich selbst kommuniziert, sowohl aus der Perspektive der Eigenwahrnehmung als auch aus der der Fremdwahrnehmung. Die narrativen Strukturen der Selbsterzählung sind im sozialen Kontext verankert und durch ihn beeinflusst, so dass die Art 83

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und Weise, wie jemand von sich erzählt, Rückschlüsse auf die soziale Konstruktion von Wirklichkeit zulässt (vgl. ebd.: 208). Im Allgemeinen wird Männlichkeit in Deutschland immer noch mit Eigenschaften wie Selbstbehauptung, Aktivität, Selbstbezogenheit, Unabhängigkeit und eher instrumentellen Handlungen verknüpft (vgl. King 2004: 66). Diese Eigenschaften werden in der Regel nicht offen verbalisiert, sondern als unterschwellige Erwartungshaltung an den Jungen herangetragen. Dies kann beispielsweise durch Spiele, bestimmte Umgangsformen, Geschichten oder vorgelebte Handlungen geschehen. Zur Verdeutlichung dieser Überlegungen werde ich nun exemplarische Ergebnisse aus der Befragung eines bildungserfolgreichen adoleszenten männlichen Jugendlichen türkischer Herkunft vorstellen.

Fallstudie Bekir Bekir ist 18 Jahre alt, lebt nahe Hamburg und besucht die 12. Klasse eines Gymnasiums. In seiner Schule ist er in eine Clique eingebunden, die sich zum Großteil aus Mädchen zusammensetzt, mit denen er langjährig befreundet ist. Seine beste Freundin Melanie kennt er seit der 7. Klasse. Mit ihr teilt er das stärkste Zusammengehörigkeitsgefühl, da sie für ihn eine starke und unabhängige Persönlichkeit verkörpert. Seine drei Brüder beschreibt er im Interview als »sehr männlich«. In seinen Erzählungen tauchen sie als sich prügelnde Brüder auf, deren zentrale Interessen Karate und Autos sowie das Leben als Ehemann und Vater sind. Im Alter von zwei Jahren ist Bekir nach Deutschland gekommen. Seitdem lebt er in einem Hamburger Vorort, in dem kaum Eingewanderte wohnen. Daher hat er nur wenig Kontakt zu Türken2, was er bedauert. Seine einzigen Kontakte zur Türkei sind die alljährlichen Urlaubsreisen während der Sommerferien ins Heimatdorf der Eltern. Dort erlebt er sich primär als Tourist. Das Haupteinkommen der Familie verdient seit Jahren Bekirs Mutter. Sie arbeitet als Vollzeitangestellte an der Theaterkasse und kommt erst gegen Abend nach Hause. Die meiste Zeit verbringt Bekir zu Hause mit seiner Schwester und schaut gemeinsam mit ihr Fernsehserien. Sein Vater arbeitete lange Zeit auf dem Bau. Nach finanziellen Einbußen der Firma verlor er seine Stelle. Da er starke Schulter- und Rü2

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Da unsere Sprache primär auf Einfachzuordnungen zielt, wird hier explizit darauf hingewiesen, dass innerhalb des vorliegenden Artikels das Wort »Türke« als Synonym übernommen wurde, Mehrfachzugehörigkeiten jedoch darunter subsumiert werden.

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ckenprobleme hatte und es ihm körperlich schlecht ging, fand er keine neue Anstellung. Nach einigen Jahren Arbeitslosigkeit ging er zurück in die Türkei und baute dort in der Heimatstadt ein eigenes Hotel mit Restaurant auf. Zu seinem Vater und seinen Brüdern hat Bekir ein distanziertes Verhältnis; die Beziehung zu seiner Mutter und Schwester beschreibt er hingegen als nah.

Selbstverortung und Fremdzuschreibung vor einer medialen Folie Bekir führt seine Brüder gleich zu Beginn des Interviews ein. Auf die Frage, wie er in seiner Schulklasse wahrgenommen werde, beschreibt er die überraschte Reaktion seiner Clique über die verwandtschaftliche Beziehung zu einem seiner Brüder: »Ja, und die kannten den halt auch und die waren dann total verwundert – das kann doch gar nicht sein, dass ich der Bruder bin. Und dass ich so anders bin, und der ist so Assi, und ich [...], keine Ahnung. Der ist jetzt nicht so [...]. Ich kenne den ja, ich kenne den ja von zu Hause aus und ich weiß halt, wie der ist, aber den anderen erscheint der halt wie diese Schlägertypen und diese krassen Türken, wie man die halt so sieht und in den Medien auch halt mitbekommt, keine Ahnung. Aber, eigentlich sind die nicht so.«

Sein Bruder wird als »Schlägertyp« und »Assi« eingeführt, Bekir bezieht sich auf Bilder, die aus den Medien bekannt sind. Er verweist darauf, dass er diese Bilder im Gegensatz zu seiner Peergroup nicht teile, seiner Erfahrung nach seien seine Brüder »eigentlich [...] nicht so«. Das Bild des »krassen Türken« erhält seine besondere Bedeutung dadurch, dass Bekir auf die Frage, wie er wahrgenommen werde, zuerst das medial vermittelte Bild spiegelt, um sich im Folgenden davon abzugrenzen. Es scheint, als sei dieser Negativentwurf notwendig, um sich selbst in seiner Individualität sichtbar zu machen. Die Einführung seiner Person ohne Bezugnahme auf seinen Bruder als Stellvertreter für das Stereotyp des »türkischen Machos« ist offensichtlich nicht denkbar. Erst im Folgenden beschreibt er die Reaktionen seiner Mitschülerinnen und Mitschüler, in deren Wahrnehmung er als »der Andere« auftaucht: »Wenn meine Freunde sagen ›Du bist ganz anders‹, ich weiß nicht, ich finde das eigentlich gar nicht schlimm. Ich finde das sogar gut. Ich wollte ja auch nie so sein [lacht]. Und ich finde das eigentlich ganz in Ordnung. Es kommt halt darauf an. Manche sagen halt ›Ja, du bist überhaupt nicht männlich‹ und so keine Ahnung, das finde ich dann irgendwie doof... Aber sonst ist mir das

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egal. Es gibt viele, die mich total doof finden, aber [...] [lacht] ja, so ist das halt.«

Bekir differenziert in seiner Beschreibung zwischen dem Status, »anders« zu sein innerhalb seines Freundeskreises, und der sozialen Umwelt. Innerhalb des Freundeskreises betont er die positiven Eigenschaften und die Freiräume, die es ihm ermöglichen, anders zu sein und seine Gestaltungsfreiheit wahrzunehmen. Die Abgrenzung gegenüber seinen Brüdern bedeutet in diesem Fall keinen Ressourcenverlust, sondern ist positiv konnotiert. In seiner Peergroup erhält er Unterstützung bei der individuellen Ausgestaltung seiner Adoleszenz. In seiner Familie wird er hingegen mit männlichen Stereotypen konfrontiert, die er nicht verkörpert. In dieser Situation wird ihm eine geschlechtliche Zugehörigkeit aberkannt, was ihn ärgert. Mit dem Hinweis darauf, dass es viele gäbe, die ihn »doof« fänden, macht er deutlich, dass es sich bei diesem Urteil um eine Alltagserfahrung handelt. Das spontane Auflachen kann dabei als Schutz vor Kränkung interpretiert werden, aber auch als Hinweis auf seine Selbstsicherheit. Aus einer eigenverantwortlichen Haltung heraus grenzt Bekir sich von ihn abwertenden Personen ab.

Abgrenzung und Zugehörigkeit in der Peergroup Bekirs beste Freundin ist Melanie, die er seit der 7. Klasse kennt. Melanie lebt offen lesbisch und verkörpert in seinen Erzählungen Selbstsicherheit, Stärke, Verlässlichkeit und Lebensfreude. In seinen Beschreibungen spricht er immer wieder über die Nähe zueinander: »Wir sind einfach nur total kindisch. Keine Ahnung [lacht], ich glaube, wenn man uns dann zusammen erlebt, dann kriegen manche schon, die denken dann ›Ja, was sind das denn für welche?‹ Aber ich glaube, das ist normal, wenn man unter guten Freunden ist, dass man dann so ein bisschen [...] keine Ahnung, verrückt wird oder so. Dass man dann so ganz locker ist und nicht so denkt ›Ja, was denken jetzt die anderen über mich?‹, sondern dass man da halt ganz normal ist.«

Bekir beschreibt hier die Unbeschwertheit, die er mit der Freundin empfindet. Gemeinsam können sie sich fallen lassen, um eigene Erfahrungen zu sammeln, Grenzen auszuloten, sie aufzulösen und neu zu stecken. Innerhalb der Freundschaft wird »Verrücktsein« zur Normalität erklärt, das ermöglicht ihnen, in eine Welt mit eigenen Wahrheiten einzutauchen. Stereotype Zuschreibungen von Zugehörigkeiten können wahrhaft »ver-rückt« und durch eigene Vorstellungen ersetzt werden. 86

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Demgegenüber beschreibt Bekir auch Ausgrenzungserfahrungen in seiner Klasse: »Es ist halt so, dass unsere Stufe total gespalten ist. Da gibt es eine Gruppe, die immer alles ins Lächerliche zieht. Auch auf Stufenversammlungen. [...] Dann will man halt auch irgendwie [...] sich nicht für irgendwas einsetzen und was sagen, weil man dann direkt weiß, das wird dann von denen irgendwie halt ins Lächerliche gezogen. Und das ist halt bei vielen so, dass die dann halt sagen ›Ja, dann ist mir das doch egal‹. Es ist halt auch so, dass dann keiner so [...], dass man dann nicht irgendwie so was planen kann. Weil man dann weiß, dass die Leute, die einen dann nicht mögen, dass die das dann halt doof finden. Keine Ahnung. Und dass dann alle so für sich sind.«

Die hier skizzierte Situation erzählt von einer dominanten Gruppe, die sich dadurch auszeichnet, dass sie sich über andere lustig macht und dadurch als Nicht-Dazugehörige markiert. Das Verhalten bewirkt, dass sich die Ausgegrenzten aus Angst davor, lächerlich gemacht zu werden oder aus Resignation nicht mehr engagieren. Als Folge beschreibt Bekir die Vereinzelung der Schülerinnen und Schüler: »Alle sind für sich«.

Abgrenzung und Zugehörigkeit in der Familie In seiner Familie macht Bekir andere Erfahrungen. Das Gefühl, sich nicht zugehörig zu fühlen, mündet in einen Verweigerungsakt, wodurch er sich von den Männlichkeitsentwürfen seiner Brüder und seines Vaters abgrenzt. »Und zuhause, bei mir in meiner Familie, ist es auch manchmal so, dass ich da so manchmal denke, keine Ahnung, ja, irgendwie [...] ›Ich pass da nicht so wirklich rein‹. [...] Das sind aber nur so Momente [...], wenn meine Familie zum Beispiel über Karate oder so redet, was bei uns so manchmal voll das Thema ist, weil meine Brüder, alle drei, Karate machen. Also ein Bruder von mir war Junioren-Weltmeister oder so was [...]. Und wenn die alle so zusammen sind, dann ist das so, dass die über solche Themen reden, meine Brüder und mein Vater. Und ich sitze dann da und esse einfach nur.«

Bekir ist ausgeschlossen von der männlichen Inszenierung seiner Brüder und seines Vaters. Der Karatesport wird hier als klassischer Optionsraum für Erfolg und Aufstieg beschrieben. Als Kampfsportler besetzen Bekirs drei Brüder ein klassisch männlich dominiertes Hobby, in welchem einer sich bis zum Junioren-Weltmeister durchgekämpft hat. Mit dieser Errungenschaft erscheint er als richtungsweisend in der Ausgestaltung von Männlichkeit innerhalb seiner Familie. Bekir hingegen 87

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nimmt eine zurückhaltende Rolle bei diesen Gesprächen ein: Er interveniert nicht, versucht nicht das Thema zu wechseln, verlässt nicht den Raum. Unbeteiligt sitzt er am Tisch und isst, so dass bei ihm das Gefühl entsteht, ein Fremder zu sein, der nicht dazugehört. Zugehörigkeit und Unterstützung findet er nur bei seiner Mutter. Sie ist es, die ihm Raum zum Ausloten neuer Praktiken von Männlichkeit gibt. Sie affirmiert seine feminine Seite und bietet Ersatzhandlungen an: »Ich hatte immer voll Angst davor, wenn ich mir die Augenbrauen zupfe, dass dann meine Brüder sagen ›Uah, du bist so schwul‹ und so. Und dann zu Hause wurde das dann mal irgendwann angesprochen, da hat dann mein Bruder zu meiner Mutter gesagt ›Guck mal, der lässt sich seine Augenbrauen zupfen‹ und so. Und meine Mutter hat dann gesagt ›Ja, mach das nicht, das machen nur Frauen‹. Aber das war dann nicht so irgendwie [...], das war dann eigentlich lustig. Meine Mutter sagt zwar immer noch ›Nee, mach das nicht‹, aber [...] die lässt sich von mir ihre Augenbrauen zupfen!«

Durch die Praxis der Mutter, sich von Bekir die Augenbrauen zupfen zu lassen, erweist sie ihm implizite Anerkennung und bestätigt sein ästhetisches Empfinden. Da alleine die Mutter das Einkommen der Familie verdient, nimmt sie innerhalb der Familie eine bedeutende Rolle ein. Als Familienernährerin hat sie eine zentrale Funktion, so dass davon ausgegangen werden kann, dass Bekirs Aushandlung von Männlichkeit durch ihre Unterstützung zumindest auf symbolischer Ebene Zustimmung im Familienkontext findet.

Konstruktion von Anderssein Bekir ist in seinem Aushandlungsprozess um Männlichkeit nicht frei von Unsicherheit. Insbesondere die stereotypen Zuschreibungen seiner Mitschüler und seiner Brüder wirken auf ihn ein. Er befindet sich in einem permanenten und intensiven Reflexionsprozess: »Bei den Jungen zum Beispiel, wenn ich bei denen schon nicht ankomme und auch zu Hause, dann kommt es dann automatisch, dass man dann denkt ›Ja, also ist das jetzt falsch, was du machst?‹ oder so, keine Ahnung. Aber [...] also [...] ich lass’ das dann nicht so wirklich auf mich einwirken. Aber man hinterfragt irgendwelche Sachen, keine Ahnung. [...] Ich will mich auch noch nicht festlegen, weil ich noch nicht weiß, was ich bin.«

Hier beschreibt er den Einfluss geschlechtsstereotyper Zuweisungen, die ihn immer wieder mit der Frage konfrontieren, ob das, was er tut, falsch sei. Deutlich wird dabei der Druck, sich festlegen zu müssen, um in der 88

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sozialen Umwelt einordbar zu sein. Gegen diese Kategorisierung wehrt sich Bekir jedoch: Er will sich nicht als homo-, bi-, hetero- oder intersexuell festlegen (lassen). Diese Verweigerung kann zwar als Schutz interpretiert werden, um zumindest im öffentlichen Raum den Schein heterosexueller Normalität mit sich zu führen. Sehr viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass er sich weitere Aushandlungsräume wünscht. Bekir betont mit dem Ausspruch, sich nicht festlegen zu wollen, seine aktive Auseinandersetzung. Dass er noch nicht wisse, was er sei, verweist auf seine selbstbewusste Aneignung von Identität, zu deren Entwicklung er jedoch weitere Aushandlungsräume benötigt.

Schlussbetrachtung In den vorgestellten Zitaten wurde deutlich, dass die mediale Zuschreibung zur »Normalität« gehört. Bekir ist es nur in Abgrenzung zum medial vermittelten Bild des idealtypischen »türkischen Machos« möglich, sich individuell zu präsentieren. Seine Brüder, die diesen Typus zumindest vordergründig verkörpern, dienen ihm als Negativfolie. Diese Abgrenzung zum medial vermittelten Bild des »türkischen Machos« ist von Bekir zwar ausdrücklich erwünscht, jedoch nur im nahen Umfeld zu erneuern. Den dazu notwendigen Raum findet er in der Clique, insbesondere bei seiner Freundin Melanie. In der Vertrautheit der Freundschaft können Zuschreibungen aufgelöst und die dominanten Vorstellungen von »Normalität« ver-rückt werden. Beide fallen auf, wenn sie sich stark aufeinander beziehen, herumalbern und vertraut-locker die Zeit verbringen, ohne das heteronormative Stereotyp eines Liebespaares zu bedienen. In der Klasse wird daher über sie getuschelt. Das Herausfallen aus dem dominanten Gruppenkontext, das Verrücktsein, beschreibt Bekir als normale und alltägliche Erfahrung. Der selbstbewusste Umgang mit der »verrückten« Normalität verweist in diesem Zusammenhang auf die Stabilität des Aushandlungsraumes, in dem die Aneignung eigener Erfahrungswelten als junger Mann möglich ist. Die Familienkonstellation stellt sich vielschichtiger dar. Es kann einerseits davon ausgegangen werden, dass der Mutter als Familienernährerin eine besondere Rolle innerhalb der Familie zukommt. Durch Anerkennung von Bekirs ästhetischem Empfinden (Augenbrauenzupfen) verdeutlicht sie innerhalb der Familie ihre Unterstützung seines Selbstkonzeptes und legitimiert somit seine Praktiken gegenüber den Entwürfen der Brüder. Andererseits muss der Status der Mutter in der Familie kritisch hinterfragt werden, da eine Überschreitung der Geschlechtergrenzen und 89

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damit einer Abwertung der männlichen Rolle als ›eigentlicher‹ Ernährer – implizit oder explizit – durch die Reaffirmierung der Geschlechtergrenzen aufgefangen wird. Darauf weist die betonte Hypermaskulinität der Söhne hin. Stabilität erhält das familiale Arrangement letztlich nicht durch einen aktiven Aushandlungsprozess der Eltern, sondern durch die ausgeübte Doppelrolle der Mutter: Einerseits ist sie die fürsorgende Mutter und das Familienbindeglied in Deutschland, andererseits die Ernährerin der Familie. Zuschreibungen an Bekir als Mann bleiben also nicht aus. Er beschreibt seine Auseinandersetzung mit den männlichen Familienmitgliedern und den geschlechtsspezifisch gefärbten Interessensbekundungen, die er nicht teilen kann und mag. Seine widergespiegelte Fremdwahrnehmung/Fremderfahrung ist hier besonders groß. Das symbolische Zurschaustellen männlicher Erfahrungswelten grenzt Bekir aus, so dass er sich in solchen Momenten männlicher Inszenierung nicht dazugehörig fühlt: »Ich passe da nicht wirklich hinein.« Auch in der Klasse erlebt er Ausgrenzung und hebt die Wirkmächtigkeit dominanter Gruppen hervor. Das Prinzip der stärkeren Gruppe basiert dabei auf Einschüchterung, in dem sie »die Anderen« lächerlich zu machen sucht. Das Resultat ist ein Zerfall in isolierte Einzelne, die der Dominanz der hegemonialen Gruppe unterliegen und ihr damit implizit zusätzliche Macht zukommen lassen. Das Gefühl von Zugehörigkeit bleibt ihm also sowohl unter den männlichen Mitgliedern seiner Familie als auch im Klassenkontext verwehrt. Bekir entzieht sich in beiden Fällen den dominanten Inszenierungen und folgt intuitiven Überzeugungen. So verschafft er sich Raum für die Aneignung eigener Männlichkeitskonzepte. Die offene Rebellion scheint ihm jedoch auf Grund nicht ausreichender sozialer Ressourcen nicht möglich. Durch die hier skizzierten Abgrenzungs- und Zugehörigkeitsmuster werden die Aushandlungsprozesse »legitimer« und »illegitimer« Männlichkeitskonzepte symbolisch repräsentiert. Dabei spielen die jeweiligen gesellschaftlichen Bedeutungen, strukturellen Bedingungen und subjektiven Begründungen männlicher Repräsentationen eine wesentliche Rolle. Bezieht man nun den dargestellten Einzellfall und die eingangs vorgestellte Theorie aufeinander, so lassen sich einige zentrale Aspekte festhalten. In der Repräsentation des »krassen« Türken kann der allochthone Jugendliche davon ausgehen, dass er »erkannt« und »gesehen« wird. Die medial vermittelten Bilder des »türkischen Machos« werden als Erklärungsmuster auch von Seiten der Jungen herangezogen, da sie aus den Medien diese Argumente als Erklärungsmuster kennen 90

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und durch sie zumindest auf »Gehör« hoffen können. Die dominanten Bilder des »Türken« sowie »legitimer Männlichkeit« können nur im sehr vertrauten Umfeld erneuert werden. Abschließend lässt sich festhalten, dass Foren zur Aushandlung eigener Männlichkeitsentwürfe und zur Rebellion gegen vorherrschende Stereotypen für allochthone Jugendliche weder in der Peergroup und der Schule noch in der Familie in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen. Diese werden auch nicht von Seiten der Pädagoginnen oder Pädagogen geschaffen, da ihnen in der Regel diversitätsbewusste Konzepte fehlen, um auf Geschlecht, sexuelle Orientierung, Ethnizität und andere Zugehörigkeiten einzugehen. Innerhalb der vorherrschenden Kontextbedingungen ist es allochthonen Jugendlichen daher nur schwer möglich, offensiv gegen die ihnen zugewiesenen Zuschreibungen vorzugehen.

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Kröhnert-Othmann, Susanne/Lenz, Ilse (2002): »Geschlecht und Ethnizität bei Pierre Bourdieu«. In: Uwe H. Bittlingmayer et al. (Hg.), Theorie als Kampf? Zur politischen Soziologie Pierre Bourdieus, Opladen: Leske + Budrich, S. 159-178. Krüger-Potratz, Marianne (2005): Interkulturelle Bildung. Eine Einführung, Münster: Waxmann. Leiprecht, Rudolf (2001): Alltagsrassismus, Münster: Waxmann. Lutz, Helma (2001): »Differenz als Rechenaufgabe: Über die Relevanz der Kategorien Race, Class und Gender«. In: Lutz Helma/Norbert Wenning (Hg.), Unterschiedlich verschieden, Differenz in der Erziehungswissenschaft, Opladen: Leske + Budrich, S. 215-230. Moscovici, Serge (1995): »Geschichte und Aktualität sozialer Repräsentationen«. In: Uwe Flick (Hg.), Psychologie des Sozialen, Repräsentationen in Wissen und Sprache, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S.266-342. Scholz, Sylka (2004): Männlichkeit erzählen. Lebensgeschichtliche Identitätskonstruktionen ostdeutscher Männer, Münster: Westfälisches Dampfboot. Schröder, Achim (2003): »Die Gleichaltrigengruppe als emotionales und kulturelles Phänomen«. In: Martin Nörber (Hg.), PeerEducation. Bildung und Erziehung von Gleichaltrigen durch Gleichaltrige, Weinheim: Beltz. Spindler, Susanne (2003): Corpus delicti. Männlichkeit, Rassismus und Kriminalisierung im Alltag jugendlicher Migranten, Münster: Unrast. Terkessidis, Mark (2004): Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive, Bielefeld: transcript.

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»Haben wir dich auch schon zum Mann gemacht?« – Über das Volk der Männer ÜMIT GÜRKAN BUYURUCU

»Ein echter Mann hat einen Sohn« Ich plauderte mit einem Freund über einige Kommentare, die er kurz vor seinem Vaterwerden aus seinem Umfeld zu hören bekam. Eine Bemerkung rührte ihn, es fiel ihm jedoch schwer, sie zu deuten. Ein Mann hatte nach dem Geschlecht des erwarteten Kindes gefragt. Die Antwort – es würde ein Mädchen werden –, enttäuschte ihn und er tröstete: »Ist doch egal.« Es klang wie: »Irgendwie sind das ja auch Menschen.« Ich musste an die Konkubinen im Harem denken, die mit der Geburt einer Tochter die Chance verloren, Sultanin zu werden. Und an die anatolischen Bräute, die am Pflug ackern mussten, weil sie dem Gatten keinen Sohn »schenken« konnten. Heute hört man solche Geschichten selten, aber an jene Zeiten zu denken, macht mir Angst. Söhne haben in der türkischen Gesellschaft noch immer einen höheren Stellenwert, ob das auf einen instinkthaften Fortsetzungstrieb des Geschlechts zurückzuführen ist oder auf den Wunsch nach bedingungsloser Bewahrung von Herrschaft zurückgeht, kann ich nicht genau sagen. Aber es passt in eine patriarchale Gesellschaft, wenn viele Volkssagen auch betonen, dass die anatolischen Jünglinge sich ihren Müttern bedingungslos unterwerfen. In einer solchen Gesellschaft sichert der Mann die Zukunft; mit seiner Rolle, Bestimmung und Durchsetzungsfähigkeit in der Gesellschaftsordnung sichert er das Fortbestehen des Systems; mit seinen Privilegien ist er Herr des Systems; mit seiner Kühnheit und Tapferkeit sichert er die Ehre der Familie. Einen Sohn zu erwarten

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verkündet man als frohe Nachricht, Freunde und Bekannte freuen sich auf einen »Prachtburschen«. (Dabei wird eventuell auch die Liebe der Ehepartner aufgefrischt, die Beziehung erneuert.) Der Ehrbegriff des Vaters setzt wohl am Mutterleib an. Die Ehre wird bereits auf das ungeborene Kind projiziert, das kommt auch in dem Sprichwort zum Ausdruck: »Ein echter Mann bekommt einen Sohn.« Dass das ungeborene Kind männlichen Geschlechts ist, rettet gewissermaßen auch die Ehre des Vaters. Hat dies damit zu tun, dass der Junge für den Fortbestand des Geschlechts sorgt? Ist Geschlechts- und Stammesbestandssicherung etwa ein primitiver Brauch des Clanlebens, der bis zum heutigen Tag überdauert hat? Oder ist das eher eine Tradition der osmanischen Dynastie, die uns in Fleisch und Blut übergangen ist?

»Es ist vollbracht, toi, toi, toi!« In der türkischen Gesellschaft ein Junge zu sein, ist trotzdem keine leichte Sache. Man wird vergöttert und ist mit diversen Privilegien ausgestattet, es stehen einem aber auch einige gesellschaftliche Aufgaben und Prüfungen bevor. Dazu gehört, die Beschneidung der Vorhaut seines Pullermanns tapfer über sich ergehen zu lassen. Mich beschäftigt noch immer die Frage, wie ich mit meinem Kinderverstand zu begreifen vermochte, wieso ich durch das Abtrennen eines Stücks Haut männlicher wurde. An meinem Verhalten wurde meine Männlichkeit gedeutet. Die Beschneidung der Knaben geschieht wie folgt: Die Kinder, die mit Krone, Marschallstab, Umhang und Gürtel als Prinz verkleidet worden sind, werden den ganzen Tag amüsiert, ohne das Geringste zu ahnen, ohne von der Katastrophe zu wissen, die ihnen in späteren Stunden widerfahren soll. Sie werden mit Geschenken überhäuft und dürfen so viel essen, wie sie können. Traditionell auf einem Pferd – wenn dieses fehlt, in einem offenen Sportwagen – wird das »Beschneidungskind« auf Stadtrunde geschickt und Nachbarn und Bekannten zur Schau gestellt. So wird auch die Anwesenheit des neuen Mannes im Haus offiziell angekündigt. Die heutige Zeremonieform der Beschneidung hat geschichtliche Wurzeln, die sich im Laufe der Entwicklung des Patriarchats auch in Anatolien etablierten. In den Traditionen des alten Ägyptens symbolisiert die Abtrennung der Vorhaut den Beginn eines neuen Lebens des Jungen – so wie die Schlange sich mit der Häutung erneuert. Wie das Neugeborene sich mit der Durchtrennung der Nabelschnur von der Mut-

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ter verabschiedet, so verlässt das Kind mit der zurückgelassenen Vorhaut die Frauenwelt und tritt in das System der Männer ein. In den Sagen von Dede Korkut – die die Taten der Oghusen, den nomadischen Vorfahren der Türken, besingen – müssen die Jungen mit einer Heldentat, einer Tapferkeit, beweisen, dass sie ihren Namen verdienen. Die Geschichte Boghatsch Khans wird noch heute im Literaturunterricht behandelt: Er überwältigte den Stier, der als Männlichkeitssymbol galt. Männlichkeit gibt es nicht umsonst, sie muss verdient werden. Wie andere Bräuche ist auch die Beschneidung in die islamische Religion eingegangen und hat sich tief in unser Leben eingeprägt. Die Beschneidung verband sich mit dem ebenso patriarchalen islamischen Glauben und findet sich in der Moral wieder, die durch gesellschaftliche Sanktionierung überdauert. Zwar sagen die männlichen Propheten, dass das Paradies unter den Füßen der Mütter liege. Aber in der Umsetzung des Glaubens, der von Männern interpretiert wird, ist den Männern – wie es auch im Koran heißt – der Vorzug gegeben worden. Man versprach ihnen die Herrschaft über eine Familie mit bis zu vier Gattinnen. Damit wurde die Autorität des Mannes gefestigt; das letzte Wort sprach er in der Familie; sein Wort zu ignorieren, galt als Sünde. Damit diese Männlichkeit überlebte, wurde sie auch in Ritualen in Szene gesetzt. Bei der Ehevermittlung ist die besuchte und zur Schau gestellte Seite immer die weibliche, während die beurteilende Besucherseite immer die männliche ist. Mit dem Lied »Es ist vollbracht, toi, toi, toi!« werden beim Eintritt in die Männlichkeit Fakten geschaffen. Die erste Lektion: Männer weinen nicht!

»Wenn du Kaugummi kaust, verwächst dein Bart!« Als ich Muttersöhnchen genannt wurde, hätte ich wissen sollen, dass ich an Männlichkeit verloren hatte, weil ich bei meiner Beschneidung weinte. Es war aber zu spät. Auch bei »Jet-Phantom«, der Clique meines großen Bruders, hatte ich keinen Platz, weil ich mit den Mädchen aus der Gegend Gummihoppeln spielte. Meine Großmutter jagte mir Angst ein mit dem Märchen, dass mein Bart verwachse, wenn ich weiterhin Kaugummi kaute. Ein Mann dürfe nicht Kaugummi kauen. Weil ich aber doch etwas neugierig war, wie der Bart verwächst, gab ich das Kaugummikauen lange Zeit nicht auf. Ich erinnere mich daran, dass meine Grundschullehrerin Mualla Atlı meinen Vater blaue Beschriftungsaufkleber kaufen schickte, weil ich die Hefte mit der blauen Schutzhülle mit roten Beschriftungsaufklebern versah. Zum Glück machte sich mein Vater nichts daraus. 95

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Murmelspielen tat meinen Fingern weh, und ich schämte mich, Kronkorken aufzusammeln. Vor Bällen hatte ich Angst, es tat mir unheimlich weh, wenn sie mich trafen. Mein Bruder hatte längst aufgehört, aus mir einen Torwart machen zu wollen. Ich rannte nur gelegentlich dem fehlgeschossenen Ball hinterher und holte ihn zurück. Zum Glück wurde der Brauch, den Nachbarn und Gästen den Pullermann zu demonstrieren, in unserem Haus nicht praktiziert. Mein Vater ließ es nicht zu, dass meine Männlichkeit im Kindesalter den Vergnügungen diente. Mit meinen Freunden spielte ich allerdings »Wer pinkelt am weitesten« – ob wir während des Spiels auf unsere Geschlechtsteile schauten, erinnere ich nicht. Es war eine Zeit, in der die Rollenverteilung immer deutlicher wurde: Die Farben von Jungen und Mädchen wurden bestimmt, die Spiele wurden Geschlechtern zugeordnet, das Verhalten anderen gegenüber wurde nun vom Geschlecht geprägt. In der Pubertät wurden wir mit der Rolle des dominanten und scheinbar souveränen Mannes bekannt gemacht. Er wurde als eine Art Herrscher wahrgenommen, der mittels seiner Stärke feminine Männer, Homosexuelle und Frauen beherrschte. Später erkannte ich, dass sich diese Zustände in den Machtverhältnissen der Gesellschaft herauskristallisierten. Während Maskulinität mit Stärke und Überlegenheit verbunden war, wurde Femininität in Schwäche und Unterlegenheit übersetzt. Die dominante Männlichkeit ist gegenwärtig in Fußballstadien, in Teestuben, an Straßenecken und in Moscheen. Hier konstruieren und erleben Männer ihre eigene Realität, indem sie sich über ihre Körper, Frauen, andere Männer, ihr Wissen über das Leben, Maschinen, Technologie und Fußball unterhalten. Der maskuline Mann misst sich an anderen Männern und beurteilt sich im Vergleich zu den anderen. Alleine ist er nur Mann, erst zusammen mit den anderen wird er zum maskulinen Mann: »Stärke erwächst aus Einheit.« Zum ersten Mal in den Genuss des Männlichkeitsstolzes kam man beim ersten Puffbesuch, für gewöhnlich begleitete einen der Onkel. Der bezahlte Orgasmus wurde mit den Freunden gefeiert, monatelang hatte man etwas zu erzählen. Das gleichaltrige Mädchen hingegen, das ihre Jungfräulichkeit »verlor«, wurde von ihrem Vater, den Brüdern und anderen Familienangehörigen verstoßen. Als »unkeusch« gebrandmarkt, wurde sie auch unter den Frauen als »schlechte Frau« benannt. Während der Mann (meistens) erst nach seinem Puffbesuch »national« wurde – wie die Fußballspieler, die zum ersten Mal in der Nationalmannschaft spielen, galt das unverlobte »entehrte« Mädchen als »Hure«. Während die Prostituierte dem Mann den Sex beibringt, wird sie vom selben Mann als »Hure« stigmatisiert und erniedrigt. Sie soll den jungfräuli96

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chen Mädchen als Exempel dienen – eine Männlichkeit, die auf ihren eigenen Widersprüchen fußt. Was von den Kindern erwartet wird, steht eigentlich von Anfang an fest: Das Mädchen darf sich keinen Fußbreit von der Mutter entfernen. Sie wird in der Küche und im Haushalt gebraucht. In machen Fällen studiert sie so lange zu Hause die Weiblichkeit und schlägt im Familienkreis die Zeit tot wie eine osmanische Haremskonkubine, bis ihr »Glück« an die Tür klopft oder ein »standhafter« Mann gefunden ist. Früher hielt man nicht einmal den Besuch der Schule für nötig: Auch ohne die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens konnte sie ihrem Mann ein gutes Weib sein. Es reichte vollkommen, wenn sie Gemüse einlegen, Weinblätter füllen und Pasteten backen konnte. Von einem Sohn nimmt man nach der Pubertät Abschied, in der Hoffnung, dass er eines Tages ein »großer Mann« werde. Wenn er zurückkehrt nach Hause ist es nicht so wichtig, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen ist. Er weiß, was er zu tun hat, Vater und Mutter geben ihm großzügig Rückhalt. Er ist seines Vaters Sohn und alles, was seine Mutter besitzt. Der Schutz seiner Mutter und Schwester verleiht ihm seine Ehre, als ihr Hirte hütet er sie nach seiner Auffassung von Freiheit. In der familiären Erziehung sind die Rollen verteilt: Der Vater soll Angst einjagen, während die Mutter immer verzeiht. Die Mütter vertrauen den Söhnen mehr als den Töchtern. Die Söhne sind eine Art Sozialversicherung: Sie sollen groß werden, Geld verdienen und sich um die Mutter kümmern. Bei den Töchtern ist es anders: Eines Tages kommt ihr Kandidat, und wenn sie ihm gefällt, nimmt er sie mit. Im Fortgang der Söhne ruht die Hoffnung, die Töchter werden als Bräute weggeschickt, von diesem Muster gibt es wenige Abweichungen. Dass sich die Tochter schließlich um den Vater und die Mutter kümmern wird, kümmert niemanden. Freilich gibt es die eine oder andere Ausnahme. Aber auch ein »Mädchen-Ali« oder eine »Kerl-Fatma« finden ihren Platz in diesem System. Bereits in den sechziger Jahren brach die Figur der Taxifahrerin Nebahat1 ein Tabu, als eine der ersten Frauen im Film drang sie in eine Männerdomäne ein. Lesbischen Frauen galt die Figur als Vorbild, doch auch die übrige Gesellschaft akzeptierte diesen Tabubruch. Auch heute heimst manch männlicher Künstler mit femininer Gestik (im Minirock, mit hohen Absätzen und Make-up) Sympathien 1

In den Jahren 1960 bis 1965 wurden drei Spielfilme über die Taxifahrerin Nebahat (Originaltitel: »Şoför Nebahat«, in der Hauptrolle Sezer Sezin) gedreht. In den Siebzigern gab es ein Remake, derzeit läuft eine an »Şoför Nebahat« angelehnte Serie namens »Şoför Melahat«, wiederum geht es um eine Taxifahrerin in Istanbul. 97

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ein, nicht nur bei homosexuellem Publikum. Die mediale Distanz zu solchen Überschreitungen der Geschlechtergrenzen ermöglicht dem türkischen Fernseh-Publikum eine karnevalistische Art der Toleranz. Öffentliche Diskussionen über solche Brüche gibt es nicht, allenfalls wird Empörung geäußert. Solange nicht darüber gesprochen wird und das ganze öffentlich nicht thematisiert wird, darf jeder sein Privatleben führen, wie er will. Was man im stillen Kämmerlein macht, scheint niemanden zu kümmern – und die Herrschaft draußen gehört ja ohnehin bedingungslos den Männern.

»Der größte Soldat ist unser kleiner Mehmet« »Ich habe dich für dieses Vaterland geboren«, sagte meine Mutter zu mir, als ich ihr mitteilte, dass ich nicht zum Militär gehen wolle. Dass ihr Sohn seine Bürgerpflicht nicht erfüllen würde, war für sie eine Katastrophe. Hätte ich ihr gesagt, dass ich mich in die Kaserne begebe, um Märtyrer zu werden, hätte sie mich mit »Gott ist groß«-Parolen fortgeschickt, daran habe ich keine Zweifel. Sicher, meine Mutter ging mit dem Glauben zu weit: An der Grenze Wache halten, um unser Land gegen Feinde zu verteidigen und in Medina die Gruft des Propheten Mohammad bewachen wäre für sie wohl ein und dasselbe. Ohne den Militärdienst abgeleistet zu haben, gilt der türkische Mann nicht als vorbereitet auf das soziale Leben. Wer seinen Militärdienst nicht abgeleistet hat, bekommt keine Braut und keine Arbeit; er gilt als sozial benachteiligt oder als Weichling, der nicht zu den echten Männern zählt. Ohne in den produktivsten Jahren seines Lebens zum Militär gegangen und monatelang morgens durch die Gegend gerannt zu sein und dabei die Parole »Jeder Türke wird als Soldat geboren und stirbt als Soldat« skandiert zu haben, kann man kein Mann werden. Es steht in unserer Verfassung: Jeder Türke ist verpflichtet, den Militärdienst abzuleisten. In der Gesellschaft wird der Militärdienst nicht nur als Vaterlandsverteidigung wahrgenommen. Die Kaserne funktioniert auch wie eine Schule, in der man mit strenger Disziplin auf das bevorstehende »gnadenlose« Leben abgerichtet wird. So kann jemand, der nicht bei der Armee war, keinen Respekt vor der Stärke besitzen, weil er keinen Hauptmann kennenlernte, also noch nicht von ihm verprügelt und gescholten wurde. Der Mann soll über die Kriegsspiele seiner Kindheit hinausgehen, den Umgang mit Waffen lernen und notfalls sein Gewehr bestrafen, wenn es nicht feuert. Er soll seinen Eintopf mit den Kameraden teilen. An dem, was er von den anderen Männern hört und an 98

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ihnen sieht, soll er seine Männlichkeit festigen. Er soll in der Armee auch Heimweh haben und den Wert seiner Eltern schätzen lernen. Ist er Analphabet, wird er alphabetisiert und mit einem Dankbarkeitsgefühl aufgeladen. Er lernt, auf Befehl einzuschlafen und auf Befehl aufzustehen, ihm wird die absolute Loyalität zur Hierarchie beigebracht. Erst in der Armee wird der Mann zum Mann ernannt. Vieles lernt er hier: Das Strammstehen, das Jagen, das Zeigen von Stärke, keinen Schmerz zu empfinden, erbittert zu konkurrieren mit anderen Männern, technische Probleme zu bewältigen, zur Not skrupellos und zerstörerisch zu sein, sein Wort zu halten. Nachdem er diese Tugenden erworben hat, ist er auch im Frieden stets auf der Hut; er will um jeden Preis gewinnen, und jede Hürde ist ihm ein Feind. Der Kasernenhof ist ein Männerhof, jede seiner Ecken ist maskulin. Gleichgültig, ob effeminiert oder nicht, homosexuelle Männer sind dort unerwünscht. Die Kaserne und die Männlichkeit sind Orte der Aktivität, der Nachweis erfolgt über die heterosexuelle Neigung. Homosexuelle können diesen Nachweis nicht erbringen und gelten deshalb als sexuell passiv, als untauglich (oder sogar faul und verdorben). Homosexualität widerspricht den militärischen Normen und Disziplinregeln, sie wird als unmoralisch empfunden.

»An welchem Ohr tragt ihr den Ring?« Was kann der Homosexuelle also tun? Er kann zum Rekrutierungsbüro gehen und mitteilen, dass er homosexuell sei. Dann kann er seine Einweisung ins Militärkrankenhaus beantragen, dort wird er in die Abteilung für Psychiatrie geschickt. Man unterhält sich dort mit ihm, um seine Homosexualität ärztlich feststellen zu können. Er muss persönliche Fragen beantworten: Seit wann er mit Männern schlafe, ob er Geld dafür bekomme; wenn nicht, wie er dann seinen Lebensunterhalt bestreite, ob er alleine oder mit seinen Eltern wohne. Dann lässt der Militärtherapeut seinen Patienten das Haus zeichnen, in dem er gerne leben würde. In dieser Zeichnung wird nach phallischen Elementen gesucht. Wer etwa ein von einem Zaun und Obstbäumen umgebenes, mehrstöckiges Haus mit rauchendem Schornstein und einem Blumengarten zeichnet, gilt als homosexuell. Ihm wird eine »psychosexuelle Störung« diagnostiziert, es wird ein entsprechender Bericht angefertigt. Der Militärausschuss tagt zweimal im Monat, immer am Freitagnachmittag, um über die Ausmusterungsanträge zu entscheiden. Anerkannt werden Plattfüßige, Übergewichtige (über 130 Kilo) und Untergewichtigen, geistig Behinderte, Männer, die auf Grund gesundheitlicher Beschwerden zur Erfüllung ihrer Pflicht nicht in der Lage sind – 99

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und Homosexuelle. Vor dem Tagungsraum wartet man, dass der eigene Name aufgerufen wird. Der Reihe nach tritt man in den Raum. Zuerst lesen die Prüfer den Bericht, dann mustern sie die Beweise und den Antragsteller. Jeder Antrag wird akribisch überprüft, es gilt dem Ausschuss zu beweisen, dass man kein »Pseudohomosexueller« ist. Es wird festgestellt, ob die Person mit dem Gegenüber identisch ist. Die Mitglieder des Militärausschusses, deren Heterosexualität angenommen wird, erfüllen ihre Aufgabe ohne Scham und mit großer Gewissenhaftigkeit. Nötigenfalls werden Fragen gestellt, etwa: »Ihr Homosexuellen, an welchem Ohr tragt ihr den Ohrring? Am linken oder am rechten?« Wird die Homosexualität von dem Ausschuss bestätigt, bekommt man einen Vermerk in sein Wehrbuch: »Für den Militärdienst untauglich«. Man wird nach Hause geschickt. Den schriftlichen Rapport bekommt man zwei Monate später in einem Behördenumschlag nach Hause geschickt. Homosexuelle, die bei ihren Eltern wohnen und ihre sexuelle Identität bislang versteckten, werden auf diesem Wege geoutet – »Diagnose: Psychosexuelle Störung, Homosexualität«, steht in dem Brief. »Unser kleiner Mehmet«, wie Wehrpflichtige auch genannt werden, ist ein anständiger Bursche. Mit seinen Geschlechtsgenossen macht er lieber Krieg als Liebe.

»Die Stütze des Hauses« Nach der Rückkehr vom Militär, zur Reife gelangt, geformt und um die bitteren Wahrheiten des Lebens belehrt, kann der Mann seinen Eltern nun Dankbarkeit erweisen, ihnen verdankt er schließlich alles. Das tut er, indem er als gereifter Mann in den Ehestand tritt und eine eigene Familie um sich schart. Er steht nun in der vollen Blüte seiner Männlichkeit, seine erste Aufgabe lautet: Mehren! Gemäß der Auffassung, Sexualität sei gleich Fortpflanzung, muss er sich nun vervielfältigen. Mit allem, was er tut, hat er Recht. Vor allem ist er dazu verpflichtet, seinem Weib (»in dessen Bauch das Kind und auf dessen Rücken der Knüppel nicht fehlen darf«, wie ein Sprichwort sagt) beizubringen, was er von ihr im Bett erwartet. Ihre Jungfräulichkeit untermauert seine Erfahrenheit. Seine Majestät ist der erste Konsument; er ist der erste Besitzer dieser voll automatisch funktionierenden Maschine. »Prügel stammt aus dem Paradies«, »Zwischen das Ehepaar stellt man sich nicht«, »Ehemänner, Brüder und Väter prügeln und lieben zugleich«: Mit solchen Sprüchen werden Männer groß. »Wohin der Lehrmeister schlägt, blühen Rosen«, hieß es zuerst, »Wo der Mann hinschlägt, blühen Rosen«, heißt es später. 100

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Der Mann hat immer viel zu tun und ist oft müde. Häufig bleibt er mit seinen Freunden hier und dort hängen und lässt seine Frau warten. Und trotzdem ist er derjenige, der das Brot verdient und für die Familie sorgt. Seine Frau lässt er nicht arbeiten – es gehört sich ja nicht –, dafür macht er sie von sich abhängig. Sie muss vielleicht nicht seine Füße waschen, aber wenn ihm nach Sex ist, lässt er sich nicht zurückweisen – sein Wunsch hat Befehl zu sein. Seine Aufgabe im Haus besteht darin, sich nach der Arbeit an den von seiner Frau und seinen Töchtern bereiteten Tisch zu setzen, den Alltag der Familienangehörigen zu kontrollieren, fernzusehen und womöglich mit Nichtstun seine Herrschaft zu genießen. In seinem eigenen Haus lebt er wie ein Gast. »Das Nest wird vom weiblichen Vogel gebaut«, sagt man – für die Ordnung im Haus ist die Frau zuständig. An die Stelle des Harems im osmanischen Palast treten die eigenen vier Wände und das intime Leben im Haus. Während zu Hause der Mann von der Frau gefüttert wird, wird sie draußen von ihm geführt. Die Männerherrschaft unterdrückt mit einem etablierten und institutionalisierten System die Frauen. Doch auch wenn der Mann als Hausherr gilt – was und wie es gemacht wird, welche Entscheidungen getroffen werden, bestimmt eigentlich die Frau. Nach außen wird der Mann als Herrscher des Hauses dargestellt. Wenn die Frau unter Einsatz ihrer Sexualität, Emotionalität und Intelligenz den Mann »manipuliert« und sich dadurch in der von Männern dominierten Welt durchschlägt, muss das eigentlich als eine Form des Widerstands verstanden werden.

Erzwungene Männlichkeit, verantwortungsvolle Männlichkeit, problematische Männlichkeit Junge zu werden, steht einem nicht frei, man kann kein Junge »werden«. Man wird als Junge geboren. Das Patriarchat existiert weiter, der Emanzipation von Frauen zum Trotz. Der Mann ist auf andere Männer angewiesen, um als Mann existieren zu können, er ist Mann immer auch im Verhältnis zu anderen Männern. Er rivalisiert leidenschaftlich und ehrgeizig mit seinen Geschlechtsgenossen. Infolge ökonomischer Sachzwänge werden in den letzten Jahren die Übergänge oder Trennlinien der ehemals streng nach den Geschlechtern festgelegten Arbeitsteilung durchlässig. Jagen und für das Haus sorgen, das interessiert nun, wenn das für die Männer auch schwer hinnehmbar ist, ebenso die Frauen. Ebenso wird nun von den Männern in der Küche mehr erwartet, als nur den Salat zu machen. Zusätzlich wird das Patriar101

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chat im Zusammenhang mit einer erstarkenden Frauenbewegung, dem Feminismus und der Verwestlichung immer heftiger hinterfragt. Trotz dieser Tendenz zum Wandel sucht die Männlichkeit mit neuen Selbstdefinitionen ihre Macht beizubehalten und sich zu reproduzieren. Nun ist anstelle des strengen, gewaltsamen und repressiven Mannes der so genannte »Taşfırın Erkeği« (Steinofenmann) getreten, der seine Frau, die ebenso erwerbstätig ist, nicht schlägt und der die wichtigen Entscheidungen gemeinsam mit ihr trifft. In Gegenwart Dritter tut er weiterhin so, als hielte er alle Fäden in der Hand, denn auch der Steinofenmann möchte als »harter« Mann gelten – einer jedoch, der seine Macht ohne körperliche Gewalt ausübt. Effeminiert wirkende und gepflegte Heterosexuelle, die auf Ästhetik und Charme Wert legen, distanzieren ihre Männlichkeit heute vom Homosexualitätsverdacht, indem sie sich »metrosexuell« nennen. Ferner ist zu beobachten, dass Homosexualität zu einem Modephänomen verkitscht wird. So gewinnen in der Glitzerwelt die Stars, die ihre homosexuelle Identität großzügig demonstrieren, es aber sorgfältig vermeiden, darüber zu reden, die Sympathie der Bevölkerung. Die Zahl »metrosexueller« Männer, die sich schminken, prunkvoll schmücken und die bisher mit Homosexualität identifizierte Verhaltensweisen zeigen, nimmt ständig zu. Diese Mode schuf einen Männertypus, der den Homosexuellen spielt, um leichter an Frauen heranzukommen und ihr Vertrauen zu gewinnen, um dann ihre vermeintlich erste männliche Erfahrung zu sein. Selbstverständlich gibt es auch noch solche Männer, die ihren Stolz durch Homosexuelle verletzt sehen. Ich habe sie lange beobachtet, ohne ihr Beleidigtsein zu verstehen. In einer Gesellschaft, in der die Jungfräulichkeit als heilig betrachtet wird, hat das Flirten seine Grenzen. Wenn es um den Sex vor der Ehe geht, trennen sich die Wege der Männer und Frauen. Die Pflicht der Mädchen einerseits, ihre Jungfräulichkeit zu behalten, und die Ablehnung des Analverkehrs seitens der religiösen Instanzen andererseits versetzen die Männer, was sexuelle Befriedung angeht, in eine schwierige Lage. Auch Masturbation ist qua Religion zumindest nicht erwünscht. Es gibt allerdings eine Methode, über die zwar ungern gesprochen und die nicht offen diskutiert wird, die aber bekannt ist: Der maskuline Mann lernt den eigenen Körper zuerst mit einem Geschlechtsgenossen kennen und macht seine ersten Erfahrungen mit diesem. Das Bordell ist nicht immer die ökonomischste Lösung, und Einzelheiten darüber, wie es sonst geht, erfährt er von seinen Freunden. Wenn er nach einer Möglichkeit sucht, sich zu entladen, schläft er mit einem Schwulen. Obendrein wird ihm unter Freunden besonders ausgeprägte Maskulinität zugeschrieben, weil er es sogar Geschlechtsgenossen »besorgt«. So wie sie 102

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die Prostituierte, bei denen sie die Sexualität kennen lernen, erniedrigen, sprechen sie homosexuellen Männern, die sie für ihre Befriedung benutzen, die Maskulinität ab. Wer nicht so ist wie er, ist homosexuell und »passiv«. Der makuline Mann ist in dem Maße Mann, in dem er »aktiv« ist. Zwar schuldet er seine Männlichkeit den Prostituierten und »Schwulen«, denen er »es besorgt« und mit deren Hilfe er in der Praxis in den Genuss seiner Männlichkeit kommt. Diese Abenteuer werden nicht thematisiert und hinterfragt, sie beeinflussen das vorherrschende Bild von maskuliner Männlichkeit nicht. Sie sind wie die Beschneidung, der Militärdienst und die Zeugung von Söhnen Teil der Eintrittskarte in das »Volk der Männer«.

... Ein Wort zum Schluss: Lena, die Tochter meines Freundes, von dem ich eingangs redete, kam inzwischen auf die Welt. Sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter sind glücklich darüber.

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»Viele türkische Väter fliehen von zu Hause«. Mehrfache ethnische Zugehörigkeiten und Vaterschaft im Spannungsfeld von hegemonialer und progressiver Männlichkeit MICHAEL TUNÇ

Ein Überblick über den aktuellen Stand der Geschlechter- und Migrationsforschung, einschließlich der inzwischen umfangreichen Forschung über Migrantinnen, lässt erkennen, dass die Erforschung von Männern und Vätern mit Migrationshintergrund noch ganz am Anfang steht. Es liegen inzwischen zwar einige Studien vor im Kontext von Migration und Männlichkeit der ersten Migrantengeneration (vgl. u.a. Westphal 2000; Spohn 2002; Huxel 2006) sowie der Konstruktionen von Männlichkeit und Ethnizität bei Jugendlichen (vgl. u.a. Scheibelhofer 2005; King 2005; Spindler 2006). Erwachsene Männer der zweiten Migrantengeneration jedoch wurden bisher kaum systematisch erforscht. Nicht nur in den genannten Forschungsarbeiten, sondern auch in den zahlreichen Veröffentlichungen über (junge) MigrantInnen werden vermehrt ethnisierende Geschlechterdiskurse in der Migrationsgesellschaft kritisiert und differenzierte Analysen im Themenfeld Gender und Ethnizität vorgelegt (vgl. Munsch/Gemende/Weber-Unger Rotino 2007). Dennoch bleiben skandalisierende öffentliche Negativdiskurse weitgehend ungebrochen wirkmächtig, die speziell den türkischstämmigen Mann und Vater als traditionellen Patriarchen darstellen, der gleichsam zum Prototyp der als »fremd« konstruierten Geschlechterverhältnisse im Migrationskontext avancierte. Dominante Themen dieses ethnisierenden 105

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Männlichkeitsdiskurses sind »Ehrenmord«, »Zwangsheirat«, (sexuelle) Gewalt gegen Frauen und Kriminalität der (jungen) Männer, die als schlecht integriert gelten. Da die Macht solcher Diskurse es aktuell erschwert, männliche Migranten auch als sozial verletzbar und betroffen von rassistischer Diskriminierung zu sehen, bleibt die Kritik öffentlicher, politischer und auch pädagogischer Diskurse wohl noch lange eine zentrale Herausforderung der rassismuskritischen Migrations- und Männerforschung. Der Mainstream deutschsprachiger Männer- und Väterforschung und -politik beachtet Migranten, die erwähnten Studien und die Herausforderungen durch die Programmatik intersektioneller Analysen entlang der Differenzlinien Geschlecht, Ethnizität und Klasse (vgl. Klinger/Knapp 2007) bislang jedoch kaum. In der Mehrheit bisheriger Veröffentlichungen der Männer- und Väterforschung wird die Vielfalt männlicher/väterlicher Lebensformen Mehrheitsdeutscher dargestellt, Männer/Väter mit Migrationshintergrund sind meist nicht repräsentiert.1 Zwar sind Väter in Deutschland seit der Einführung der neuen Elterngeldregelung und der Option der »Papamonate« ein viel diskutiertes Thema – unterstützt von einer modernen und gleichstellungsorientierten Familienpolitik sollen Väter sich mehr in der Erziehungsarbeit engagieren. Auf Väter mit Migrationshintergrund gehen die Politik und die deutschsprachigen Forschungen in grundsätzlichen Debatten um »neue Männlichkeit«, aktives Vatersein und um Lösungen für väterliche Vereinbarkeitsprobleme zwischen Beruf und Familie allerdings kaum ein. Vor diesem Hintergrund rekonstruiere ich in meinem demnächst abgeschlossenen Dissertationsprojekt erzählte Lebensgeschichten von Vätern der zweiten Generation türkischer Migranten. Anhand eines Einzelfalls aus diesem Projekt soll im Folgenden gezeigt werden, wie sich väterliche Selbstkonzepte, die beeinflusst sind durch mehrfache natioethno-kulturelle2 Zugehörigkeiten, in der Spannung zwischen hegemonialer und progressiver Männlichkeit artikulieren.

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Zur Kritik vertiefend Tunç 2006 und 2007. Mit der Formulierung »natio-ethno-kulturell« macht Paul Mecheril klar, dass die Ausdrücke Kultur, Nation und Ethnizität in einer diffusen und mehrwertigen Weise begrifflich aufeinander verweisen. Wenn im Folgenden aus Gründen der besseren Lesbarkeit von »ethnisch« gesprochen wird, ist die Bedeutung impliziert, die Mecheril mit »natio-ethno-kulturell« verbindet (vgl. Mecheril 2004: 22ff.).

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ETHNISCHE ZUGEHÖRIGKEITEN UND VATERSCHAFT

Intersektionalität in der Väter- und Männerforschung Bisher fehlen nicht nur Studien, die Männer und Väter mit türkischem Migrationshintergrund der zweiten Generation untersuchen, auch entsprechende Forschungsansätze sind noch im Stadium der Entwicklung. Allerdings lassen sich Erkenntnisse der Frauen- und Migrantinnenforschung und die dort bereits weit entwickelten intersektionellen Ansätze auf Forschungen zu Migration und Männlichkeiten übertragen. In der Migrationsforschung existiert eine Vielzahl von Studien über Migrantenfamilien, wobei zentrale Themen wie Erziehungsstile und -praktiken, einzelne Generationen oder ethnische Gruppen oft vor allem hinsichtlich der Fragen nach Integration und Akkulturation untersucht wurden. »Familien mit Migrationshintergrund nur unter dem Merkmal ›Migration‹ wahrzunehmen impliziert die Gefahr, darüber die allgemeineren, familiären Merkmale (etwa Familienform, familiale Beziehungen) aus dem Blick zu verlieren.« (Hamburger/Hummrich 2007: 123) Susanne Baer und Julia Lepperhoff (2007) schlagen vor, Geschlechterverhältnisse und subjektive Konstruktionsprozesse der Vergeschlechtlichung als konstitutive Elemente der Familienforschung (und -politik) anzusehen und konsequent zu problematisieren bzw. mit zu erforschen. Das sollte auch für Forschungen über Migrationsfamilien und für vergleichende Familienstudien über MigrantInnen und Mehrheitsdeutsche gelten. Mangelnde Aufmerksamkeit für geschlechtliche Konstruktionsprozesse lässt sich auch beobachten, wenn Untersuchungen über MigrantInnen(familien) Väterlichkeit und Männlichkeit thematisieren. Meist werden dabei die Theorien, Methoden und Begriffe der Geschlechter-, Väter- und Männerforschung wenig systematisch und inkonsequent angewendet. Beim Nachdenken und Sprechen über oder Erforschen von männlichen Migranten ist die zentrale Differenzlinie meist Migration, Ethnizität oder Kultur, sie überlagert in der Regel andere gesellschaftliche Strukturkategorien wie die soziale Lage und das Geschlecht. Zugespitzt kann man sagen, dass ein wenig flexibles Verhältnis der Differenzlinien Geschlecht, Ethnizität und Klasse die Diskussion um deren Überschneidungen und Wechselwirkungen beherrscht. Diskursiv werden Geschlechterverhältnisse eindimensional funktionalisiert und eine ethnische Differenz zwischen »uns« und den »Fremden« konstruiert. Dies dient hauptsächlich der Abgrenzung zwischen Zugewanderten und Mehrheitsgesellschaft (vgl. Huth-Hildebrandt 2002). Hinzu kommt, dass sozialstrukturelle Fragen in der Migrationsforschung teilweise nur randständig behandelt werden, weil Ansätze der Integrations- und Assimilationsforschung dieses wissenschaftliche wie politische Feld dominieren. 107

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Nach Juhasz und Mey »verschwinden mit der Fokussierung auf die Eingliederungsfrage sozialstrukturelle Fragestellungen und die Thematisierung sozialer Ungleichheit (im Sinne einer Voraussetzung für die ungleiche Verteilung von Ressourcen) zunehmend aus der Forschungsagenda« (2003: 48). Die hier angesprochene Schieflage in der deutschsprachigen Migrationsforschung zeichnet sich auch beim Thema Männlichkeiten dadurch aus, dass der Fokus auf soziale Problemlagen und (meist defizitorientiert) auf Integration gerichtet ist, wobei besonders untere Bildungsmilieus und benachteiligte sozialräumliche Quartiere im Mittelpunkt des Interesses stehen. Das ist unter anderem deshalb problematisch, weil der Mainstream deutschsprachiger Väterforschung sich demgegenüber eher durch eine gewisse Überrepräsentanz der Mittelschichten auszeichnet, in denen Veränderungspotentiale verortet und wahrgenommen werden. Die sich daran anschließende Frage, wie etwa Geschlechterarrangements und Vaterschaftskonzepte türkischer Migranten der zweiten Generation höherer Bildungsmilieus aussehen, wird dabei außer Acht gelassen. Die vielfältig ineinander greifenden Konstruktionsprozesse ethnischer, geschlechtlicher und sozialstruktureller Vergesellschaftung lassen sich jedoch ohne eine Kontrastierung der Alltagswelten von Menschen in unterschiedlichen sozialen Lagen kaum präzise rekonstruieren. Insofern lassen sich Studien über Bildungsaufsteiger mit türkischem Migrationshintergrund der zweiten Generation (vgl. Raiser 2007) produktiv mit Fragestellungen zur Konstruktion von Vaterschaft und Männlichkeiten verbinden. Bisher beziehen sich Männer- und Väterforschung noch wenig aufeinander, und es ist kaum geklärt, wie Konstruktionen von Männlichkeit und Väterlichkeit zusammenwirken (vgl. Wolde 2007: 47ff.). Ich möchte vorschlagen, Väter mit Migrationshintergrund mittels einer integrierenden Perspektive aus Väter- und Männerforschung zu analysieren, einschließlich ihrer Theorien, Begriffe und Methoden. Nach dem Modell hegemonialer Männlichkeiten von Connell lassen sich Männer ethnischer Minderheiten zu marginalisierten Männlichkeiten rechnen (1999: 101f.), dies eröffnet eine differenztheoretische Perspektive auch auf Väter. Dieser Zugang ermöglicht es der kritischen Männerforschung3, einen analytischen Rahmen zu entwickeln und empirisch zu prüfen, in dem sich die Überschneidungen von Männlichkeit und Ethnizität sowie die strukturierenden Wirkungen ethnischer Zugehörigkeiten untersuchen lassen.

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Zur Programmatik kritischer und reflexiver Männerforschung vgl. BauSteineMänner 2001.

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ETHNISCHE ZUGEHÖRIGKEITEN UND VATERSCHAFT

Die Väterforschung kann demgegenüber Erkenntnisse über die Lebenslagen von Vätern und das Zusammenwirken vielfältiger Faktoren einbringen, die Vaterschaftskonzepte beeinflussen. Zum Verständnis der Vaterschaftskonzepte von Migranten liefert die Väterstudie von Michael Matzner wertvolle Erkenntnisse. Er nennt als Hauptdeterminanten subjektiver Vaterschaftskonzepte und sozialer Praxis von Vaterschaft die Persönlichkeit des Mannes und seine Sozialisation zum Vater, seine soziale Lage und Milieu, die Partnerin und Mutter der Kinder, die Kinder, die Berufstätigkeit, soziale Ressourcen sowie soziokulturelle Einflüsse4 (2004: 436ff.). Um bei der Erforschung von Vätern den Ansprüchen intersektioneller Untersuchungen gerecht zu werden, müssen also nicht nur Konstruktionsprozesse ethnischer Differenzen reflektiert werden sondern auch die soziale Lage der Väter (mit Migrationshintergrund). Hinsichtlich der Relevanz sozialstruktureller Differenzen für Vaterschaftskonzepte resümiert Matzner, »dass die Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen Milieu, mit dem eine spezifische sozioökonomische Lage verbunden ist, einen entscheidenden Einfluss auf die Einstellungen und zumal das Handeln als Vater haben kann. Insofern ist ein Mann nicht unbestimmt hinsichtlich seines Denkens und Handelns als Vater, sondern seine soziale Lage nimmt darauf Einfluss.« (Ebd.: 86)

Herausforderungen einer intersektionellen Forschungsperspektive Mehrdimensionale intersektionelle Analysen zum Verständnis der Wechselwirkungen entlang der Differenzachsen Geschlecht, Klasse, Ethnizität und anderer haben sich als neues Paradigma der Geschlechterund vor allem Frauenforschung etabliert, da sie eine gesellschafts- und herrschaftskritische Perspektive mit einer anspruchsvollen ungleichheits- und differenztheoretischen Programmatik verbinden. »Class, Race und Gender sind relationale Begriffe, wen sie unter welchen Formbestimmtheiten und durch welche Mechanismen einschließen oder ausschließen, wie die jeweilige Relationalität verfasst ist unter spezifischen soziohistorischen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen, kann nicht begrif-

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Als soziale Ressourcen der Realisierung des Vaterschaftskonzepts sind auch gesellschaftliche Kontexte relevant. Matzner (2004) bezieht sich etwa auf die Höhe des Familieneinkommens, die berufliche Flexibilität beider Elternteile sowie das Vorhandensein von privaten oder öffentlichen Kinderbetreuungsressourcen. 109

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fen werden, wenn man nur eine dieser Kategorien in den Blick nimmt. Sie müssen also sowohl in ihrer jeweiligen Spezifik als auch in ihrem Zusammenhang gesehen werden.« (Knapp 2005: 74; Hervorhebungen im Original)

Es ist eine zentrale Herausforderung intersektioneller Geschlechterforschung, Interdependenzen von Differenzkategorien nicht hierarchisch zu theoretisieren, auch wenn Differenzlinien sich in ihren Wechselwirkungen überlagern, verstärken oder abschwächen (können). Auf die Gefahr der Reduzierung der Komplexität intersektioneller Analysen weist Helma Lutz (2001) hin, die das bislang weithin praktizierte Vorgehen kritisiert, einzelne Differenzlinien ganz auszublenden oder die Überschneidungen analytisch voneinander getrennter Kategorien als schlichte Rechenaufgaben von Differenzen – als Addition oder Multiplikation von Benachteiligungen – zu konzipieren. Katrin Huxel betont, dass eine Praxis intersektioneller Analysen etabliert werden müsse, »ohne eine der analytischen Kategorien wie Geschlecht, Ethnizität, Klasse oder Sexualität zu bevorzugen. Für eine intersektionelle Analyse von Männlichkeit und Ethnizität bedeutet das, dass auch hier keiner der beiden Differenzen eine quasi natürliche Vorgängigkeit eingeräumt werden darf. […] Geschlecht und Ethnizität werden dabei nicht als statische und determinierende Kategorien begriffen, sondern als flexible, aber wirkmächtige Produkte von Aushandlungsprozessen und gesellschaftlichen Machtstrukturen.« (2008: 63)

In der Männerforschung wird diese Perspektive zwar immer häufiger eingenommen, in der deutschsprachigen Väterforschung, insbesondere im Hinblick auf die ineinander greifenden Konstruktionsprozesse von Männlichkeit und Väterlichkeit, jedoch kaum.5

Mehrfache ethnische Zugehörigkeiten In den Kontext von Intersektionalitätsanalysen der zweiten Migrantengeneration gehören auch ihre häufig mehrfachen ethnischen Zugehörigkeiten. Tarek Badawia (2002) und Paul Mecheril (2003) zeigen, dass Angehörige der zweiten Migrantengeneration durchaus in der Lage sind, stabile mehrfache Zugehörigkeiten zu gestalten. Sie sind dabei aber in strukturierende Kontexte eingebunden und werden alltäglich mit ethnischen Zuschreibungen konfrontiert, auf welche sie als handlungsfähige

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Für den deutschsprachigen Raum existieren erste Ansätze intersektioneller Analysemodelle bei Brandes (2002) und Meuser (2000).

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Subjekte mittels Bewältigung, Bewahrung und Veränderung (inter-)aktiv Bezug nehmen können oder müssen. Die Männerforschung steht vor der Herausforderung, ambivalente und widersprüchliche Positionierungen von Männern mit Migrationshintergrund verständlich zu machen. Denn einerseits profitieren männliche Migranten vor allem gegenüber Migrantinnen von ihrer Position als Mann im Geschlechterverhältnis, sie verfügen über patriarchale Dividende (vgl. Connell 1999). Andererseits sind Migranten auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit Ausgrenzung und Marginalisierung ausgesetzt, was ihre patriarchale Dividende entwerten kann. Denn in Kontexten, in denen »der Migrationshintergrund als Unterdrückungsform das Geschlecht noch einmal überlagert, muss diese Marginalisierung auch für männliche Migranten gelten. [...] Die Notwendigkeit wird hier besonders deutlich, die Vielfalt von Überkreuzungen (Intersektionen) von Benachteiligungsfaktoren und ihre Auswirkungen auf die Positionierungen des Subjekts in der Gesellschaft systematisch zu betrachten.« (Spindler 2006: 75)

Im US-amerikanischen Kontext favorisiert Athena D. Mutua eine intersektionelle Perspektive im Blick auf afroamerikanische Männer, in die sie auch deren ambivalente Positionierungen in hierarchischen Geschlechterverhältnissen einbezieht: »I suggest that intersectional theory can be interpreted in a more nuanced fashion that recognizes that black men in some contexts benefit from unearned privileges in this patriarchal society but are nonetheless sometimes oppressed by gender and race in the form of gendered racism.« (2006: 18) Daran anknüpfend entwickelt sie eine Programmatik progressiver (schwarzer) Männlichkeiten, mit der sie (politische) Positionen und Aktivitäten einzelner Männer beschreibt, die sich für die Überwindung der Verhältnisse engagieren: »More specifically, progressive black masculinities are, at a minimum, problack and antiracist as well as profeminist and antisexist. […] As such, combining both progressive blackness and progressive masculine practice, progressive black masculinities are men who take an active and ethical stance against all social systems of domination and who act personally and in concert with others in activities against racism, sexism, homophobia and heterosexism, class and economic exploitation, imperialism, and other systems of oppression that limit the human potential of the black masculine self and others. This is challenging given normative – ideal and hegemonic – masculinity.« (Ebd: 7)

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Progressive Männlichkeiten und Väterlichkeiten Ich schlage vor, progressive Männlichkeiten als eigenständiges Deutungsmuster der Männerforschung zu verstehen, auf das Männer bestimmter Milieus und in bestimmten Kontexten sich beziehen. Bisher wurden in deutschsprachigen Diskursen nicht-hegemoniale und nichtpatriarchale Orientierungen von Männern begrifflich und inhaltlich kaum präzisiert bzw. nur selten ausdrücklich als progressive, geschlechterdemokratische oder (pro)feministische Deutungs- und Handlungsmuster konzipiert. Das Konzept der progressiven Männlichkeiten kann hier im Einzelnen nicht weiter ausgearbeitet werden. Ich halte es für konkretisierbar und ertragreich, vor allem im Zusammenhang mit bisherigen Überlegungen über männliche Orientierungsmuster als emanzipatorisch (vgl. Prömper 2003) und/oder (pro)feministisch6 (vgl. Hearn/ Holmgren 2006). Teils angestoßen durch den Feminismus und teils motiviert durch problematische männliche Erfahrungen in hierarchischen Geschlechterverhältnissen können Männer in Reflexionsprozesse eintreten, welche die Entwicklung progressiver Männlichkeiten in Gang setzen. Edgar Forster weist darauf hin, dass Männer in Krisen geraten können und Ohnmacht, Dominanz und Gewalt erleben, die neben der Geschlechtszugehörigkeit mit anderen Machtachsen wie »Rasse«, Klasse, Alter, sexueller Orientierung u.a. zusammenhängen. In diesem Kontext warnt er zu Recht davor, dass Diskurse um Männlichkeiten in der Krise Strategien männlicher Resouveränisierungen darstellen können und dann die Funktion haben, hegemoniale männliche Deutungs- und Handlungsmuster wieder herzustellen und männliche Privilegien zu erhalten. Er stellt daher die selbstkritische Frage: »Auf welche Weise aktualisieren wir Männer patriarchale Strukturen noch in unseren reflektiertesten Praktiken?« (2006: 206) Forster sieht diese reflexiven Praktiken der nicht näher beschriebenen Gruppe von Männern, die ich als Ansätze progressiver männlicher Orientierungen bezeichnen würde, stets in der Gefahr, sich nicht von Deutungs- und Handlungsmustern hegemonialer Männlichkeit lösen zu können und so hierarchische Geschlechterverhältnisse zu reproduzieren. Diesem wichtigen Aspekt folgend möchte ich betonen, dass progressive Männlichkeiten ohne Spannungen zu he6

Wie Hearn/Holmgren herausarbeiten, scheint es für feministische Männer schwierig zu sein, die Spannungen zwischen Anerkennung und NichtAnerkennung durch Feministinnen aufzulösen. In meinen Worten: Diese Männer erleben eine besonders große Spannung zwischen ihren Orientierungen an progressiven und hegemonialen Männlichkeiten (vgl. 2006: 236f.)

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gemonialen Männlichkeiten nicht zu denken sind. Diese Spannungen werden auch in der weiter unten ausgeführten Fallstudie Thema sein, allerdings verbunden mit Erfahrungen mehrdimensionaler Differenzen. Bezogen auf das Thema Vaterschaft wäre dann noch zu klären, welche Relevanz progressive Konzepte von Männlichkeiten für Väterlichkeiten haben und wie diese Deutungs- und Handlungsmuster aufeinander bezogen sind. Denn es kann vermutet werden, dass die bisher als »neue Väterlichkeit« diskutierten Orientierungs- bzw. Handlungsmuster und Entwicklungen progressiver Männlichkeiten aneinander gekoppelt sind. Nach Anja Wolde stehen so genannte »ambivalente Väter«, die sich um selbstbestimmte Konzepte von Väterlichkeit im Rahmen egalitärer Partnerschaftsmodelle bemühen, vor dem Problem, »dieses mit gesellschaftlich dominanten Vorstellungen von männlicher Autonomie und Identität, von Männlichkeit, zu vereinbaren« (2007: 287). Veränderungspotentiale in Richtung einer nicht-hegemonialen Männlichkeit und Vaterschaft nimmt Wolde am ehesten bei solchen »ambivalenten Vätern« wahr, ihnen gelinge es vielleicht, »ihre Wünsche und Ängste zur Sprache zu bringen, bewusster nebeneinander stehen zu lassen und sich weiter in den Konflikten um Autonomie und Abhängigkeit, Macht- und Einflussmöglichkeiten auseinander zu setzen, mit dem Ziel einer veränderten, nicht-hegemonialen Vaterschaft und Männlichkeit. Dazu müssten sie es schaffen, [...] soziale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern (auch) zu Ungunsten von Frauen zu reflektieren.« (Edb.: 292)

Da Wolde diese Dynamiken begrifflich kaum präzisiert, möchte ich die von ihr dargestellten und mitunter sehr widersprüchlichen Orientierungen von Vätern, in Anlehnung an Connells Konzept und meine obigen Ausführungen, als Spannungen zwischen Orientierungen beschreiben, die sich auf die kulturellen Deutungsmuster hegemonialer und progressiver Männlichkeiten beziehen. Für den Begriff der progressiven und den der hegemonialen Männlichkeiten gilt gleichermaßen, dass sie nicht als Beschreibung von Geschlechtsidentität missverstanden werden dürfen: »Hegemoniale Maskulinität ist keine feste Charaktereigenschaft, sondern kulturelles Ideal, Orientierungsmuster, das dem doing masculinity der meisten Männer zugrunde liegt.« (Meuser 1998: 98) Beide sind als je ein Konstruktionsmodus (vgl. Scholz 2004: 46f.) bzw. als kulturelles Deutungsmuster von Männlichkeit zu begreifen (vgl. Meuser 1998).

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Mehrdimensionale Differenzerfahrungen von Männern/Vätern Ich möchte nun die skizzierte Perspektivenverschränkung im Blick auf Männer/Väter und die Konturierung progressiver Männlichkeiten mit einer intersektionellen Analyse anhand einer Fallstudie beispielhaft darstellen. Gudrun Cyprian regt in einem aktuellen Überblick zur deutschsprachigen Väterforschung an, Väter mit Migrationshintergrund und in bikulturellen Familien in die Forschung einzubeziehen. In solchen Familien seien »[…] Veränderungsprozesse der Vaterrollen besonders deutlich zu beobachten. Die Migrationsgeschichte schafft für die Familie im Aufnahmeland Bedingungen, die sie zu vielfältigen dynamischen Anpassungen zwingen, speziell auch im Verhältnis zwischen Arbeit und Familie, zwischen den Generationen und im Geschlechterverhältnis. Wie unter einem Brennglas lässt sich hier beobachten, wie Vatersein als prozessuales Geschehen in Beziehungen immer wieder neu hergestellt wird, welchen Einfluss dabei sozioökonomische Faktoren, Ideologien, Diskurse und das soziale Umfeld der Familie (wie Verwandte, Nachbarn, Lehrer, Vereine und ethnische Bezugsgruppen) auf die Wahrnehmung von Handlungsspielräumen haben.« (2007: 43)

Mein grundsätzliches Forschungsinteresse ist es, anhand biografischer Erzählungen der Väter Prozesse des Zusammenwirkens der Differenzlinien Geschlecht, Ethnizität und Klasse zu rekonstruieren. Die Kernfrage ist: Wie lassen sich die Erfahrungen der untersuchten Väter in einer mehrdimensionalen Differenzperspektive rekonstruieren? Und welches Verständnis ergibt sich daraus für ihre Vaterschaft oder ihr Vatersein? Von zentraler Bedeutung ist der vergleichende Blick auf unterschiedliche Bildungsmilieus, weil das Leben dieser Väter und die generierte Narration darüber nicht zuletzt von der sozialen Lage der Erzählenden beeinflusst sind. Aus dieser Perspektive wird auch gefragt, welche Modelle von Partnerschaft und welches spezifische Verhältnis zwischen Familien-, also Haus- und Erziehungsarbeit, Freizeit und Erwerbsarbeit in den Lebensentwürfen präsentiert werden. Der Fokus auf Väter ermöglicht die Bearbeitung der Frage, wie sich generationenübergreifende familiäre Beziehungsmuster Angehöriger der zweiten Generation entwickelt haben und zwar in Beziehungen zu den Eltern (erste Generation) sowie zu den eigenen Kindern (dritte Generation). Darüber hinaus sind folgende Fragestellungen interessant: Wie bearbeiten diese Väter die durch Migrationsbewältigung und Diskriminierungsphänome-

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ne verschärften Probleme in den Bereichen Bildung und berufliche Platzierung in ihrem Lebenslauf? Und wie wirkt sich das auf ihre familiäre Situation, ihre Männlichkeitsentwürfe und Vaterschaftskonzepte aus? Welche Vaterschafts- und Männlichkeitskonzepte entwickeln türkische Migranten der zweiten Generation unterschiedlicher Bildungsmilieus, die sich unterschiedlich stark mehrfach ethnisch zugehörig fühlen? Ich möchte mich darauf beschränken, die Lebensgeschichte Hakans in dem skizzierten Rahmen zu analysieren. Dabei geht es darum, zu verstehen, wie bei diesem Vater Spannungen zwischen progressiver und hegemonialer Männlichkeit beeinflusst sind von Erfahrungen mehrdimensionaler Differenzen im Kontext von Geschlecht, Ethnizität und Klasse. Meine Hypothese ist, dass nur eine konsequente intersektionelle Perspektive es ermöglicht, Kulturalisierungen im Blick auf die Konstruktionen von Männlichkeit und Väterlichkeit zu vermeiden und mehrfache ethnische Zugehörigkeitsentwürfe der Migranten angemessen zu berücksichtigen.

Fallstudie Hakan Beim Feldzugang und der Suche nach Interviewpartnern für mein Dissertationsprojekt ergiebt sich ein unerwartetes Zwischenergebnis. Aus meinem Sample lässt sich die Hypothese ableiten, dass die Strategien der Partnerwahl von Angehörigen der zweiten Migrantengeneration das Ergebnis spezifischer Konstellationen der Konstruktion von Männlichkeit sind, die vor allem in Wechselwirkung mit dem jeweiligen Bildungsmilieu stehen7: Viele Migranten des Arbeitermilieus heiraten transnational Frauen aus der Türkei, während erfolgreiche Bildungsaufsteiger und Akademiker bevorzugt eine Partnerschaft mit Frauen eingehen, die auch zur zweiten Generation türkischer Migrantinnen in Deutschland zu rechnen sind. Vor diesem Hintergrund trifft der hier präsentierte Mann eine ungewöhnliche Partnerwahl. Trotz seines hohen Bildungsmilieus heiratet Hakan eine Frau, die in der Türkei aufgewachsen ist. Seine Partnerwahl und die gelebte Praxis in der Ehe haben für die Leitfrage Folgen, die im Verlauf der Analyse ausgeführt werden.8

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Partnerwahlmuster sind jedoch nicht nur im Kontext ethnisch-kultureller Zugehörigkeiten zu sehen, sie folgen auch klassenspezifischen Mustern, die Heike Wirth (2000) bei mehrheitsdeutschen Männern untersuchte. Namen und personenbezogene Daten wurden anonymisiert. Zur biografischen Methode siehe Rosenthal 1995, für intersektionelle Biografieforschung Lutz/Davies 2005 und für Forschungen zu Männlichkeit und Migration Huxel 2006. Einige der kommenden Schlussfolgerungen sind vor115

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Hakans Thema der »väterlichen Flucht von zu Hause« und die Unzufriedenheit mit seiner randständigen Position im privaten bzw. familiären Raum markieren nicht nur empirisch sondern auch geschlechtertheoretisch einen zentralen Punkt. Für den Wandel von Geschlechterverhältnissen gleichermaßen von Bedeutung ist, dass Männer und Väter sich einerseits vom Modell des Alleinernährers und Arbeitsmannes lösen und andererseits stärker im privaten Raum der Haus-, Familien- und Kinderarbeit Verantwortung übernehmen (vgl. Volz/Zulehner 1998).

Biografische Daten Hakans Hakan wurde 1967 als mittlerer von drei Brüdern in Deutschland geboren, verbrachte aber rund neun Jahre seiner Kindheit in der türkischen Kleinstadt, aus der seine Eltern stammen. Zurück nach Deutschland kam er im Alter von 13 Jahren, er lebt heute in einer mittelgroßen Stadt in Nordrhein-Westfalen. Seine Eltern, die im Alter von 13 Jahren heirateten, hatten in der Türkei die Grundschule besucht und waren später vor allem in der kleinen eigenen Landwirtschaft tätig. Die Mutter war seit 1966 in Deutschland, der Vater schon 1964, er arbeitete bis zu seiner Verrentung als Schlosser und Schweißer. Auf Grund der Berufstätigkeit der Mutter verbrachten die Kinder die Zeit von 1973 bis 1980 bei den Großeltern. Seit der Pensionierung des Vaters im Jahr 2002 leben die Eltern in der Türkei. Hakan besuchte in der Türkei die Schule bis zur siebten Klasse, wurde in Deutschland in die fünfte Klasse eingeschult, wechselte später auf ein Gymnasium und schloss 1989 mit dem Abitur ab, nach 16 Jahren Schulzeit. Er begann ein Sprachstudium, studierte aber kaum und wollte vor allem Geld verdienen. Im gleichen Jahr begegnete er seiner heutigen, vier Jahre jüngeren Ehefrau in der Westtürkei, als sein Vater dort ein Haus baute. Auch wenn sich die Familien kannten, beruht der Kontakt der Beiden auf eigener Initiative. Sie verlobten sich 1991, Hakans Frau reiste nach der Hochzeit 1992 nach Deutschland ein. Sie hatte die Schule in der Türkei mit dem Abitur abgeschlossen, seit 1996 ist sie als unausgebildete Erzieherin in Deutschland tätig. Schon vor der Verlobung hatte Hakan sein Studium abgebrochen und eine Ausbildung begonnen, nebenher fuhr er Taxi. Auch seine Ausbildung brach er ab, vermutlich weil seine Frau 1992 einreiste und er mehr verdienen musste. Hakan arbeitete zunächst in Aushilfsjobs für

läufig, da ein nach Bildungsmilieu kontrastiver und themenfeldbezogener Vergleich aller Interviews noch nicht abgeschlossen ist. 116

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Ungelernte bis er von 1995 bis 1997 die vom Arbeitsamt unterstützte Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann absolvierte. 1997 erhielt er die deutsche Staatsangehörigkeit, zwei Jahre darauf bekam seine Frau in Folge einer Fertilitätsbehandlung Drillinge, so dass der Übergang zur Elternschaft für das Paar mit großen Anstrengungen und Stress verbunden war. Nach der Geburt der Kinder suchte sich Hakan eine neue Stelle, die mit weniger Überstunden verbunden war, seit April 2000 ist er nun als Fachkraft für Verkehr und Verkauf tätig. Zur gleichen Zeit kaufte das Paar ein geräumiges Reihenhaus. Hakans Modell geschlechtlicher Arbeitsteilung ist so gestaltet, dass er in den Bereichen Haushalt und Erziehung aktiv ist. Seine Frau leistet nach seiner Schätzung etwa ein Drittel mehr Haushalts- und Kinderbetreuungsarbeit als er. Seit die Kinder drei Jahre alt sind werden sie im Kindergarten ganztägig betreut, die Mutter kehrte 2002 auf ihre Stelle im Kindergarten zurück. Zum Zeitpunkt des Interviews waren die Kinder – ein Mädchen und zwei Jungen – sechs Jahre alt. Hakan fühlt sich dem sunnitischen Islam zugehörig, seine Frau ist Alevitin. Er bezeichnet sich und seine Frau als nicht-gläubige Muslime.

Zur Gestalt von Hakans biografischer Erzählung Ein wichtiges Thema in Hakans Lebenserzählung ist sein schulischer und beruflicher Werdegang, ein schwieriger und diskontinuierlicher Prozess sozialer Mobilität. Sein vorhandenes Potenzial und Bildungskapital kann er nur in eine soziale und berufliche Positionierung im Facharbeitermilieu transferieren. Vom Anfang der Erzählung bis zur Hochzeit mit seiner Frau sind Hausbau- und Immobilienaktivitäten seines Vaters in der Türkei ein dominantes Thema, es symbolisiert Türkei- und Rückkehrorientierung. Im Kontrast dazu präsentiert Hakan sich und seinen Zugehörigkeitsentwurf im Interview als stark an Deutschland orientiert, was besonders die Coda über den Bau des Hauses für seine eigene Familie in Deutschland symbolisiert. Man könnte Hakans Erzählung mit dem Motto überschreiben »Mein Haus steht nicht in der Türkei, sondern in Deutschland«. Seine mehrfache und deutsche Zugehörigkeit grenzt er also zunächst ab im Verhältnis zu seinem Vater bzw. seinen Eltern und deren Türkeiorientierung. Hakans Erzählung thematisiert seinen mehrfachen ethnischen Zugehörigkeitsentwurf auch in Abgrenzung von seiner Frau, die in der Türkei aufwuchs und erst als junge Erwachsene im Zuge der Eheschließung mit Hakan nach Deutschland migrierte. In der Lebensphase nach der Heirat 117

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und in der Ehe steht seine Frau für eine Türkeiorientierung, die er für sich und seinen mehrfachen Zugehörigkeitsentwurf als problematisch erlebt. Spannungen zwischen seinem ethnischen Zugehörigkeitsentwurf und dem seiner Ehefrau gelten ihm als eine Ursache für Paarkonflikte. Dass davon auch seine Konzepte von Männlichkeit und Väterlichkeit beeinflusst sind, belegt eine von Hakan selbst eingeführte Erzählpassage, die er mit der Frage »Bin ich ein typisch türkischer Mann?« eröffnet. Er verbindet darin thematisch seine als schwierig erlebte Partnerschaft, das eheliche Geschlechterarrangement, seinen mehrfachen Zugehörigkeitsentwurf und seine Männlichkeit bzw. Väterlichkeit. Hakan grenzt sich dabei einerseits von anderen Männern und Vätern ab, die er als »typisch türkisch« kennzeichnet, das Thema »Fliehen von zu Hause« verbindet ihn aber andererseits mit diesen Vätern.

Hakans Erzählung in intersektioneller Perspektive Im Nachfrageteil zu Hakans Haupterzählung wird nicht nur die Spannung zwischen progressiver und hegemonialer Männlichkeit erkennbar. Die Konfliktdynamik seiner Partnerschaft und die schwierige Position als Vater in seinem ehelichen Modell geschlechtsspezifischer Raumund Arbeitsteilung werden vor dem Hintergrund seines (mehrfachen) Zugehörigkeitsentwurfs und seines sozialen Aufstiegs verständlich. Hakan spricht vor dem im Folgenden zitierten Interviewausschnitt über seine Probleme mit der deutschen Sprache in seiner Schulzeit und über Sprachkompetenzen und -probleme seiner Kinder im Verhältnis zu deren Fernsehkonsum. »[...] in der Woche haben die Fernsehverbot. Wenn sie in die Schule gehen sollen sie gar nicht gucken, nur am Wochenende wenn die Hausaufgaben fertig sind. Aber, anscheinend viele türkische Mütter, die achten gar nicht so darauf. Die Väter, / sind immer von zu Hause weg / [lachend], es gibt nur Ärger, wenn man zu Hause ist, / habe ich sogar die Erfahrung / [lachend] wenn ich am Wochenende zu viel zu Hause bleibe, ich meine, ich bin nur halt weg wenn ich arbeiten muss, so, in türkische Cafes, gehe ich gar nicht hin [2] und wie gesagt so, ich habe auch nicht viele türkische Bekannte.«9

In der zitierten Passage stellt Hakan eine Distanz her zwischen der guten Erziehungspraxis in seiner Familie und anderen türkischen Müttern, 9

Die Dauer eines parasprachlichen Ausdrucks wird mit Schrägstrichen markiert; kurzes Absetzen wird durch ein Komma angezeigt, längere Pausen durch die Angabe der Sekundenanzahl in eckigen Klammern. Zur besseren Lesbarkeit wurden die Interviewpassagen sprachlich leicht geglättet.

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über die er kurz vorher schon einmal sprach. Dabei bezieht er sich auch auf Erfahrungen seiner Ehefrau, die sie in ihrer Berufspraxis mit türkischen Müttern gemacht hat. Er scheint seine Frau von der Kritik auszunehmen, obwohl er auch sie zur Gruppe der türkischen Mütter zählen könnte. Wie seine Verwendung des »wir« nahelegt, präsentiert er sich und seine Frau also im Rahmen einer gemeinsamen Erziehungspraxis. Dadurch stellt er sich selbst als einen Vater dar, dem die gute Erziehung seiner Kinder wichtig ist. Hier klingt sein väterliches Selbstverständnis an, das er an anderen Stellen der Erzählung deutlicher als engagiert konturiert. Ein Bruch entsteht, als Hakan sagt, dass die türkischen Väter »immer von zu Hause weg« seien. Auch wenn er zwischen seinen väterlichen Erfahrungen und denen dieser anderen Väter mit der Einschränkung »sogar« eine Distanz herstellt, lebt er doch in einem vergeschlechtlichten Raumarrangement, bei dem offensichtlich die private Sphäre mehr der Mutter zugeordnet ist. In seiner Sicht auf dieses familiäre Geschlechterarrangement bringt das Zuhausesein Vätern Nachteile, denn »es gibt nur Ärger«. Seine Erwerbsarbeit ist für Hakan allerdings der einzige Grund, nicht zu Hause zu sein. Das Strukturprinzip der geschlechtlichen Raum- und Arbeitsteilung nimmt Hakan als Vater wohl auch deshalb als problematisch wahr und erzählt darüber auf diese Weise, weil für ihn das Ausweichen in türkische Cafes oder Treffen mit türkischen Freunden als Alternativen nicht in Frage kommen. Möglicherweise beschreibt Hakan das Geschlechterarrangement in seiner Ehe auf diese Weise als konflikthaft, weil er sich selbst nicht als »typischen türkischen« Mann und Vater sieht. Dennoch stellt sich die Frage, warum Hakan wenig motiviert erscheint, sein eher klassisches geschlechtliches Raum- und Arbeitsteilungsmodell in Richtung eines alternativen, partnerschaftlicheren Modells zu transformieren. Das könnte in seinem Modell mehrfacher Zugehörigkeit immerhin eine Option sein. Zur Klärung dieser Frage erscheint es sinnvoll, sich die Partnerschaft zwischen Hakan und seiner Frau genauer anzusehen. Wie bereits gesagt offenbart Hakans Erzählung, dass seine Identitätskonstruktion bikulturell bzw. mehrfach zugehörig orientiert ist. Bei Hakan werden die deutschen Facetten seines Zugehörigkeitsentwurfs vor allem sichtbar in der Abgrenzung von seiner Frau als türkisch. Zum Kontext des folgenden Zitats ist zu sagen, dass ich kurz vorher danach gefragt hatte, wie Hakan und seine Ehefrau sich kennenlernten. Hakan erzählt, dass er sie nur im Geschäft ihres Schwagers treffen konnte und sie seine weiter gehenden Annäherungsversuche abwehrte, zum Beispiel Einladungen zum gemeinsamen Einkaufen oder zum Tanzen auf einer Hochzeit. Dann fährt er fort:

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»[...] also so richtig ausgehen konnte man nie, für die Verwandten war das halt schon ziemlich weit gehend, [lacht] dass wir da halt so oft miteinander geredet haben [...] vielleicht solltet ihr euch, [lacht] erst mal verloben. Na ja, ich meine, so mit der jetzigen Erfahrung also, ich würde halt nur jemand heiraten, mit dem ich ein oder zwei Jahre, zusammen war und mal gucken wie es klappt und so, ne. Wo wir uns nicht verstehen halt, sie ist halt noch, ziemlich türkisch orientiert, sie hat halt [2] so diese diese deutsche Lockerheit, hat sie nicht angenommen, das spürt man immer.«

Hakan gerät mit seiner Art der Annäherung, die deutlich die fehlende Vertrautheit mit in der Türkei wirksamen Norm- und Wertvorstellungen offenbart, in ein Dilemma. Damals hat er das Gespräch und seine Einladungen vermutlich zunächst nicht als »weit gehend« empfunden. Er hat vielmehr die in seinem Umfeld übliche Form der Kontaktaufnahme mit gleichaltrigen Frauen in einem Kontext praktiziert, dessen soziale Reglementierungen ihm erst spät durch Rückmeldungen wie »vielleicht solltet ihr euch erst mal verloben« bewusst werden. Sein Blick auf die zum Zeitpunkt des Interviews 13jährige Ehe und die Formulierung »spürt man immer« machen deutlich, dass das von ihm skizzierte Kulturkonfliktmuster der Ehe bis heute wirkt. Ursachen für Paarkonflikte, die nicht ethnisch konnotiert sind, geraten in dieser Erzählpasssage ebenso in den Hintergrund wie seine Anteile an der Konfliktdynamik. Demgegenüber beschreibt Hakan das nicht an Heirat gekoppelte Ausleben und Ausprobieren einer heterosexuellen Beziehung als Ideal, dass er selbst nicht verwirklichen konnte. Rückblickend hätte er sich offensichtlich auch gut vorstellen können, mit einer anderen Frau das von ihm bevorzugte kulturelle Muster von Partnerschaft zu leben. Bezogen auf Hakans mehrfachen Zugehörigkeitsentwurf legen diese und andere Interviewpassagen den Schluss nahe, dass seine ethnischen Mehrfachzugehörigkeiten jeweils spezifische Auswirkungen auf sein Partnerwahlmuster und die gelebte Praxis in der Ehe haben. Denn die Spannungen zwischen deutscher und türkischer Orientierung in der Paarkonstellation resultieren nicht nur in Ehekonflikten, sondern sind wohl auch sonst im (Familien-)Alltag präsent. Es entsteht der Eindruck, dass Hakan durch diese Ehe Aspekte seines Lebensentwurfes nicht verwirklicht sieht, die einmal Teil seines mehrfachen Zugehörigkeits- und Lebensentwurfs waren. Diese Vermutung lässt sich nicht verifizieren, da die Beziehungen zu seinen Eltern und seine soziale Herkunft ebenfalls seinen Lebensentwurf und sein Modell der Partnerwahl geprägt haben. Daher werde ich in einem nächsten Schritt sozialstrukturelle Einflüsse thematisieren.

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In den beiden bisher vorgestellten Interviewausschnitten führt Hakan selbst die soziale Herkunft nicht als Thema ein. Im Interviewverlauf folgt auf die Passage zum Thema Kennenlernen ein lange Erzählung zum Thema Partnerschaft. Er kommt schließlich zu der Frage, ob und weshalb Angehörige der zweiten Generation noch Partner per Heiratsmigration aus der Türkei holten. Er nennt vielfältige Probleme, die eine internationale Heirat aus der Türkei für die in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten mit sich brächten. Beim vergleichenden Sprechen über diese Schwierigkeiten markiert Hakan nur die geringe Bildung männlicher türkischer Migranten, »viele haben auch noch nicht mal nen Beruf gelernt«. Damit stellt er eine Distanz zwischen sich und anderen Männern her, die das gleiche Partnerwahlmuster verfolgen wie er selbst. Die Praxis, zwischen sich und anderen türkischen Migranten zu unterscheiden, könnte teilweise dadurch motiviert sein, die für sein Bildungsmilieu ungewöhnliche Partnerwahl zu legitimieren. Vor diesem Hintergrund möchte ich untersuchen, wie er sozialstrukturelle Differenzen zu anderen türkischen Männern narrativ gestaltet. Im Kontext seiner Bildungs- und Erwerbsbiografie spricht er in der freien Haupterzählung davon, dass er eine angefangene Ausbildung abbrach: »[...] musste halt geheiratet werden, hab ich halt die Ausbildungsstelle gekündigt, und, in der Türkei geheiratet und zurück. Und dann, hab ich Aushilfsjobs angenommen, [...] wie der Freund das gehört hat, sollte ich mich bei dieser Firma bewerben, so 80, 90% nur Türken, der sagte, dann kannst du die Türken von A.-Stadt kennen lernen [lacht], ich hatte eigentlich immer wenig zu tun mit den Türken in A.-Stadt, also hab ich, wenige gekannt, und, so, kannst du die Jungs mal kennen lernen ne, das waren, sag ich mal, alles gescheiterte Existenzen, die keinen richtigen Job hatten.«

Zum Zeitpunkt des Interviews hat Hakan einen Ausbildungs-Abschluss und eine befriedigende berufliche Stellung erreicht. Aus heutiger Sicht scheint die damals konkrete Gefahr des sozialen Abstiegs vermutlich weniger bedrohlich, als sie es zu der Zeit möglicherweise war – schließlich hatte er wie die ehemaligen Kollegen keine berufliche Qualifikation. In der hier angesprochenen Lebensphase war seine berufliche Zukunft offen. Möglicherweise haben diese Ausbildungsabbrüche, die Erfahrungen mit prekären Arbeitsverhältnissen und mit seinen damaligen Kollegen ihn so geprägt, dass die Klassendifferenzen zwischen ihm und »gescheiterten« Türken biografisch nachhaltig prägend bleiben. Wenn er im Interview über »die Türken« oder »die türkischen Männer« spricht, scheint er auch die ehemaligen türkischen Arbeitskollegen als Abgrenzungsfolie vor Augen zu haben, von der er sich als sozialer Auf121

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steiger absetzt. In seiner narrativen Selbstpräsentation scheinen Bezüge auf eine Vergleichsgruppe von Migranten unterer Bildungsmilieus immer wieder konstitutiv zu sein für seine Konstruktionen von Männlichkeit und Ethnizität. Denkbar ist, dass ihm seine Lösung aus dem Arbeitermilieu durch sozialen Aufstieg nur zum Teil gelungen ist und er im neuen Milieu nicht ganz angekommen und anerkannt ist. Es stellt sich die Frage: Wie hat der Aufstieg Richtung Mittelschicht seinen Alltag verändert? Möglicherweise gibt es Ungleichzeitigkeiten von Wandel und Beharren sowie Spannungen im Verhältnis von Einstellung und Verhalten, die auch das Geschlechterverhältnis betreffen. Für die Frage der sozialstrukturellen Differenzen zwischen türkischen Migranten ist auch interessant, inwiefern sie vergeschlechtlicht konstruiert werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang die bereits erwähnte Abschlusspassage, die Hakans Frage »Bin ich ein typisch türkischer Mann?« folgt. Nach Ausschalten des Aufnahmegeräts am Interviewende stellt er sich diese Frage. Daraufhin stelle ich mit seinem Einverständnis das Aufzeichnungsgerät wieder an, und es folgt ein langer Interviewteil, in dem Probleme mit seiner Ehefrau, das Modell geschlechtlicher Raum- und Arbeitsteilung zentrale Themen sind, die mit seinem mehrfachen Zugehörigkeitsentwurf in Beziehung stehen. Hakan erzählt über türkische Männer, die von zu Hause fliehen. Erneut markiert er türkische Kaffeehausgänger als zugehörig zu unteren Bildungsmilieus und sagt dann, dass viele Frauen »die Jungs gar nicht zu Hause haben wollen«. »MT: Wie siehst Du Dich denn im Vergleich zu denen also, wenn Du das jetzt angesprochen hast. H: Das Problem ist, dass ich die Türken, in A-Stadt nicht so also, oder die Beziehung zu denen nicht hab, ne, ich komme auch mit den Jungs nicht klar, die im, Café sitzen, und, Karten spielen oder Tavla, Backgammon, also, ist halt nicht meine Sache, und viele machen das so [3] ich weiß nicht also [2] ich sag mal, es ist fast mein Glück [lacht], dass ich öfter mal am Wochenende arbeiten muss […]10 wie gesagt also, wir sind eigentlich glaube ich, ziemlich auf die Kinder fixiert jetzt also die bestimmen jetzt eigentlich unseren Alltag, ich weiß nicht also, ob viele türkische Väter [2] gleich Ehemänner, ob die halt, vor ihren Frauen flüchten zu Hause, oder, nur, also viel, so mit den Kindern irgendwas machen, also, ich hab noch nie [lacht] nen türkischen Vater gesehen also, ist selten, noch nie wär zu viel gesagt, aber, das die da, sich aufs Fahrrad setzen und mit ihren Kindern, fahren, hab ich nicht.«

10 In der nicht zitierten Passage führt er kurz aus, dass er im Alltag und Tagesablauf mit den Kindern fast keine freie Zeit für sich selbst hat. 122

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Wie schon im ersten Zitat, in dem Hakan die Flucht der Väter in seine Narration einführt, ist für ihn hier erneut die Erwerbsarbeit die Lösung des Dilemmas seiner geschlechtlichen Raum- und Arbeitsteilung. Daneben behandelt er die Frage, ob die Flucht der Väter und Ehemänner von zu Hause auch mit den väterlichen Selbstkonzepten und Beziehungsmustern zwischen Vätern und Kindern zusammenhänge, hier am Beispiel der Freizeitgestaltung (Fahrradtouren). Auffällig ist an dieser Passage auch, dass Hakan den anstrengenden Familienalltag mit den zum Interviewzeitpunkt sechsjährigen Drillingen erwähnt. Die Verwendung des »wir« verweist zunächst zwar auf seine partnerschaftliche Familienorientierung, anschließend beschreibt er jedoch die Flucht der türkischen Väter, »gleich Ehemänner«, als Resultat der Paardynamik – sie flüchteten ja »vor ihren Frauen«. Begründen ließe sich diese Zuschreibung und Perspektivenverengung mit der konflikthaften Paarbeziehung. Dieses Deutungsangebot von Hakan ist aber zu kontextualisieren im Rahmen der Dynamik der geschlechtlichen Arbeitsteilung und ihrer unterschiedlichen Folgen. Möglicherweise ist diese Passage ein Hinweis darauf, dass die Paarkonflikte andere Themen überlagern. Wenig im Blick hat er seine angespannte Balance von Arbeit und Familie, und auch die Doppelbelastung von Erwerbs- und Familienarbeit seiner Frau thematisiert er kaum. Hakan übernimmt zwar einen Teil der Kinderbetreuung, auch um seine Frau zu entlasten – insofern gelingt es ihm teilweise, die Perspektive seiner Frau einzunehmen und zu verstehen. Dennoch problematisiert er ihre höhere Belastung, die typisch ist für Arbeitsteilungsmodelle in hierarchischen Geschlechterarrangements, nicht grundsätzlich. Es stellt sich die Frage, wen genau Hakan meint, wenn er von »die türkischen Väter« spricht. In diesem Interviewausschnitt präzisiert er das nicht. Da er aber an anderer Stelle von den Radtouren mit seinen Kindern erzählt, kann man schlussfolgern, dass er selbst sich aus der beschriebenen Gruppe der wenig aktiven Väter ausnimmt. Da er vor der zitierten Passage weniger gebildete Türken als typische Kaffeehausbesucher ausdrücklich nennt, kann man vermuten, dass er auch die soziale Herkunft der türkischen Väter mit der Qualität ihres väterlichen Engagements in Verbindung bringt. Interessant ist, dass Hakan sich selbst nicht eindeutig ethnisch markiert darstellt. Die Vergleichsgruppe der ungebildeten türkischen Männer bildet ihm eine narrative Abgrenzungsfolie, die ihm offensichtlich hilft, sein väterliches Selbstkonzept als engagiert zu bestätigen. Es entsteht der Eindruck, die Unternehmungen mit seinen Kindern bildeten eine Alternative zum Besuch von Kaffeehäusern in seiner Flucht von zu Hause. Hakans väterliches Engagement könnte daher auch als eine Möglichkeit gedeutet werden, seine Nachteile inner123

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halb des Strukturprinzips ehelicher Raum- und Arbeitsteilung zu kompensieren, ohne es allerdings grundsätzlich in Frage zu stellen. Auffällig an der Unzufriedenheit mit seiner randständigen Position im privaten Raum ist die Ausweglosigkeit, die er empfindet: Er kann dieses Dilemma nicht lösen, weil ihm geeignete Fluchtpunkte bzw. alternative Räume zum Ausgleich völlig zu fehlen scheinen. Weder Kontakte zu deutschen noch türkischen Freunden oder Bekannten scheinen Lösungen darzustellen. So zeichnet Hakan von sich das symbolträchtige Bild, dass er nicht nur heimatlos vor türkischen Männercafés steht, sondern unausgesprochen auch deutsche Eckkneipen wohl für ihn keine adäquaten Orte wären.11 So entsteht an dieser Stelle der Eindruck, dass Hakan ein ambivalenter Akteur der Modernisierung von Geschlechterverhältnissen ist, der seine Probleme jedoch kaum tiefergehend als vergeschlechtlicht reflektiert. Im weiteren Erzählverlauf stehen Probleme in der Partnerschaft im Mittelpunkt. Hakan beschreibt den Alltag der Partnerschaft als spannungsreich: Er habe eine Trennung zwar bereits erwogen, aber auch wegen der Kinder nicht realisiert. Er schildert viele Krisen und unproduktive Streitigkeiten, und erklärt, in Auseinandersetzungen meist nachzugeben. Neben Streit über Hausarbeit und Erziehung berichtet Hakan davon, dass seine Frau ihre Versprechen ihm gegenüber oft nicht einhielte. Die nachfolgend zitierte Aussage macht Hakan kurz vor Ende des Gesprächs: »Ja ja, zumal sie gesagt hat, [Räuspern], / dass wir dahin fliegen / [leise] [11] ich denk mal, [Räuspern], dass sehr viele türkische Männer das auch durchmachen und, dass denen alles scheißegal ist, und, irgendwie, nur von zu Hause weg entweder arbeiten, oder, halt mit Bekannten im Teehaus.«

Hakans Resignation und Unzufriedenheit mit seiner Partnerschaft wird hier sehr deutlich. Er erzählt, wie seine Frau kurzfristig eine bereits geplante Urlaubsreise abgesagt habe, dass er sogar schon erwartet habe, »dass da am Ende irgendwas kommt«. Die Passage stellt eine Reaktion auf einen empathischen Kommentar dar, in dem ich Verständnis für seine Enttäuschung ausdrücke. Insgesamt ist die Stimmung gegen Ende des Interviews gedrückt und er wirkt niedergeschlagen. Sein leises Sprechen zu Beginn ist Ausdruck der Enttäuschung, es folgt eine Pause von elf Sekunden. Eine so deutliche Zäsur erfordert es, die dann folgenden Aussagen mit erhöhter Auf11 Hier wird die Relevanz der sozialen Herkunft für sein Geschlechterarrangement offensichtlich, die weiter oben schon thematisiert wurde. Für die Mittelschicht typische Orte nennt Hakan nicht. 124

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merksamkeit zu analysieren. Schließlich nennt er eine neue Motivation der Flucht türkischer Männer von zu Hause: Sie verließen die private Sphäre, da sie der Ort kriselnder Ehen sei. Diese Erzählpassage lässt den Schluss zu, dass Hakans resignative Einstellung zu seiner Ehe großen Einfluss auf seinen Rückzug aus dem familiären Raum hat. Unterschiede in der sozialen Verortung der Männer nennt er hier nicht, so dass er die Fluchtreaktionen wohl als übergreifendes männliches Muster versteht. Allerdings differenziert er wie bisher zwischen der Flucht in die Erwerbsarbeit und der in Männercafés als Reaktionen auf Paarkonflikte. Erneut ethnisiert Hakan sich und seine Frau. Dadurch verdeckt er offensichtlich andere Aspekte der Problemkonstellation, was seine ethnischen Erklärungsmuster weniger plausibel erscheinen lässt. Möglicherweise lässt sich dieses Muster seiner narrativen Selbstpräsentation u.a. mit seinem Partnerwahlmodell erklären: Scheinbar sind Hakans Ethnisierungen auch dadurch motiviert, dass er in Erklärungsnot gerät, wie und warum er sich den von »typisch türkischen Männern« unterscheidet, die wie er eine transnationale Heirat eingegangen sind. Ich möchte ein letztes Deutungsmuster vorstellen, um die Rekonstruktion von Hakans Aussagen zum Modell geschlechtlicher Raumund Arbeitsteilung abzuschließen. Für sein Bedürfnis, als Vater eine andere Position im privaten/familiären Raum zu haben, spricht die folgende Erzählpassage. Eine Freundin seiner Frau trennte sich von ihrem Mann, weil dieser kaum zu Hause war. Hakan benennt die Folgen dieser Erfahrungen für das aktuelle partnerschaftliche Ideal dieser Frau: »Sie sagt dann hier, ich will nur nen Mann, der soll zu Hause sitzen, nichts machen, nur halt, nur nicht raus gehen, und so ne, so was würde sie haben wollen, hab ich meiner Frau gesagt, hier die, die es haben, / die wissen es nicht zu schätzen / [lachend].«

Aus dieser Erzählpassage lässt sich schlussfolgern, dass Hakan sich die Anerkennung seiner Frau dafür wünscht, dass er als Mann und Vater im privaten Raum präsent ist. Erneut wird auch deutlich, dass Hakan traditionelle Geschlechtarrangements für nicht erstrebenswert hält, denen zufolge die öffentliche Sphäre den Männern und der private Raum den Frauen zugewiesen wird. Positiv ist zu bewerten, dass Hakan und seine Frau über Partnerschaftsmodelle sprechen. Unbewusst bleibt ihm jedoch, dass und in welcher Weise hierarchisch strukturierte Geschlechterverhältnisse und Arbeitsteilungsmodelle auch durch das Handeln von Männern und Frauen reproduziert werden. Es entsteht der Eindruck, dass Hakan seine Frau mitunter als Wächterin seines väterlichen Engagements im familiären Raum wahrnimmt. Im empirischen Material gibt 125

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es allerdings keine Hinweise darauf, dass diese Vermutung zutrifft. Wichtiger scheint mir auch zu sein, dass er seine Verantwortung für das Problem unterschätzt und wenig dafür tut, an dieser Situation etwas zu ändern.

Hakan zwischen progressiver und hegemonialer Männlichkeit Inwiefern lassen sich nun in diesem Beispiel Spannungen zwischen progressiver und hegemonialer Männlichkeit ausmachen, zu deren Verständnis eine intersektionelle Perspektive auf mehrfache ethnische Zugehörigkeiten fruchtbar ist? Die von Hakan deutlich gemachte Kulturdifferenz und die unterschiedlichen Zugehörigkeitsentwürfe der Partner als Deutungsfolien von Paarkonflikten haben wohl kaum die Relevanz, die er ihnen zuschreibt. Gleichwohl haben sie sicher starken Einfluss auf die Konstruktion seines Zugehörigkeitsentwurfs. Die wenig partnerschaftliche familiäre Arbeitsteilung wirkt stabilisierend auf das teilweise traditionelle Raum- und Geschlechterarrangement des Paares. Hakan fehlt offenbar ein besseres Verständnis für die Situation seiner Frau. Erstaunlich ist, dass es ihm keine Option zu sein scheint, mit seiner Frau über seine stärkere Einbindung in den privaten Raum im Rahmen eines partnerschaftlichen Beziehungsmodells zu verhandeln. Offensichtlich fehlen ihm klare Zielperspektiven jenseits klassischer Geschlechterverhältnisse, Lösungsansätze und entsprechende Vorbilder. Dennoch ist die Flucht von zu Hause kein selbstverständlicher Teil seiner Konstruktion von Väterlichkeit – das ist schon daran zu erkennen, dass er sich an der Vergeschlechtlichung des öffentlichen und des privaten Raums abarbeitet. Es lässt sich schlussfolgern, dass Hakans narrative Bearbeitung der geschlechtlichen Raum- und Arbeitsteilung Ansätze progressiver Orientierungen enthält, hegemoniale Männlichkeiten zu gestalten. Denn Hakans Unzufriedenheit mit seiner randständigen Position im privaten Raum als Problem seines Geschlechterarrangements offenbart, dass Männlichkeit für ihn diskursivierbar ist, die Sicherheit seines männlichen Habitus brüchig ist. Die Sicherheit fehlt ihm in mehrfacher Hinsicht, er bemüht sich um habituelle Vergewisserung in seinen Konstruktionen als Mann und Vater, als Deutscher und/oder Türke sowie bezüglich seiner sozialen Verortung. Das erklärt, weshalb er stark mit stereotypen Zuschreibungen operiert, die differenzproduktiv wirken in seiner Konstruktionen von Geschlecht, Ethnizität und Klasse. Insofern sind auch die Spannungen zwischen progressiver und hegemonialer Männlichkeit nur im Zusammenwirken mit seinem Modell mehrfacher 126

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Zugehörigkeit zu verstehen, auf das wiederum sein Bildungsmilieu starken Einfluss hat. Insgesamt bleiben Hakans Bezüge auf Deutungsmuster progressiver Väterlichkeit an der Oberfläche. Teilweise vorhandene partnerschaftliche Einstellungen kann er nicht in verändertes Verhalten in der Familie umsetzen. Das erinnert an die oben angeführten Aussagen von Anja Wolde: Ohne sich mit Geschlechterverhältnissen reflexiv auseinanderzusetzen und auch die Perspektive der Partnerinnen intensiver einzunehmen, kann es Vätern wie Hakan kaum gelingen, sich stärker auf progressive, als auf hegemonialer Männlichkeiten zu beziehen.

Ausblick Am Beispiel des Themas »Türkische Väter fliehen von zu Hause« in Hakans Lebensgeschichte konnte herausgearbeitet werden, wie Konstruktionsprozesse von Geschlecht, Ethnizität und Klasse ineinander greifen, die sich mit den üblichen Typisierungen der Geschlechterarrangements von MigrantInnen in der Dichotomie von traditionell und modern nicht erklären lassen. Der präsentierte Fall hat verdeutlicht, dass die intersektionelle Perspektive gerade in Untersuchungen über die zweite Migrantengeneration produktiv ist, die mehrfache ethnische Zugehörigkeiten in der Männer- und Väterforschung berücksichtigen. Abschließend möchte ich eine Besonderheit der (qualitativen) Väterforschung problematisieren. Sie arbeitet stärker als die Männerforschung vorzugsweise nah an der sozialen Mikroebene und reflektiert mehrdimensionale Differenz- und Ungleichheitsperspektiven noch wenig, die in der Männerforschung mit den Konzepten hegemonialer und marginalisierter Männlichkeiten beschrieben werden (vgl. auch Tunç 2006a). Nicht nur die hier vorgelegte Interpretation des empirischen Materials über einen Vater mit Migrationshintergrund sondern auch die Mehrheit qualitativer Arbeiten in intersektioneller Perspektive auf Gender und Ethnizität sind dadurch gekennzeichnet, dass die individuelle und interaktive Ebene im Mittelpunkt steht. So offenbart Hakans Erzählung ineinandergreifende Konstruktionsprozesse von Geschlecht, Ethnizität und Klasse, die in seinen persönlichen Erfahrungswelten und in Interaktionen mit Menschen seines sozialen Umfeldes verankert sind. Will aber die Väter- und Männerforschung in Zukunft verstärkt intersektionell sensibel nachdenken, theoretisieren und agieren, dann gilt es auch gesellschaftstheoretisch und sensibel gegenüber Machtaspekten zu forschen: »Es ist sinnlos, auf die sich überlagernden oder durchkreuzenden Aspekte von Klasse, Rasse und Geschlecht in den individuellen Erfah127

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rungswelten hinzuweisen, ohne angeben zu können, wie und wodurch Klasse, Rasse und Geschlecht als gesellschaftliche Kategorien konstituiert sind.« (Klinger 2003: 25) Bezogen auf Männer und Väter mit Migrationshintergrund sollten sich demnach soziologische Forschung und Theoriebildung zukünftig bei der Analyse von Gender, Ethnizität, Klasse, Sexualität, Alter und anderen Zugehörigkeiten im Sinne der Simultaneität ihrer Herstellung sowohl auf subjekt- und interaktionsbezogene als auch auf strukturbezogene Erklärungsmodelle und ihr Wechselverhältnis beziehen. Damit das gelingen kann, ist es notwendig, die wechselseitigen Konstruktionsprozesse von Männlichkeit und Väterlichkeit präziser als bisher zu bestimmen. Ich konnte hier, exemplarisch anhand einer empirischen Einzelfallanalyse, die theoriebezogenen Handlungsbedarfe nur grob skizzieren, die meines Erachtens ganz oben auf der Agenda zukünftiger Geschlechterforschung stehen. Nicht nur die Männer- und Väterforschung steht vor diesen Herausforderungen, das Thema berührt auch die politische Dimension intersektioneller Geschlechterforschung. In der Gemengelage von Männer- und Väterforschung, -arbeit und -politik gilt es, dialogisch mit Feministinnen für Geschlechterdemokratie und rassismuskritisch für die Emanzipation aus hierarchischen natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsverhältnissen zu agieren. An den Schluss stellen möchte ich daher Positionen von Athena D. Mutua zu progressiven afroamerikanischen Männlichkeiten. Ihre Aussagen formulieren gleichermaßen Visionen und Herausforderungen zukünftiger Forschungen und Politiken im Kontext von Männlichkeit/Väterlichkeit und Migration/Ethnizität, sie beschreiben auch eine Programmatik für progressive migrantische Männlichkeiten/Männlichkeitspolitiken in Deutschland: »Progressive black masculinities sit at the intersection of a progressive black political project and a progressive masculinities political project. [...] I suggest that although black men are oppressed by race, they are sometimes privileged by gender and other times are the specific targets of gender racism. [...] And finally, I suggest that to the extent black men engage in hegemonic masculine practice, they may well be reinforcing the system of racist oppression that they often seek to eliminate.« (Mutua 2006: 35f.)

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Muslimische Religiosität und Allgemeinwohlvorstellungen unter Männern in Deutschland und Frankreich: Der Umgang mit Negativzuschreibungen in zwei verschiedenen nationalen Kontexten NIKOLA TIETZE

Blickt man in die Presse oder Forschungsliteratur zum Islam in der Diaspora, entsteht der Eindruck, dass nur Frauen aus eingewanderten Familien zu religiösen Musliminnen werden. Ihre Brüder hingegen erscheinen entweder als politische Unternehmer oder als orientierungslose, zur Gewalt neigende Exklusionsopfer. Das Auftreten von Musliminnen der sogenannten zweiten Generation in der Öffentlichkeit hat in Deutschland und Frankreich zu zum Teil leidenschaftlich geführten öffentlichen Auseinandersetzungen geführt und insbesondere in jüngster Zeit eine hochgradig emotionalisierte Debatte über die Stellung der Frau im Islam hervorgerufen (vgl. Amara 2005; Kelek 2005). Darüber hinaus ist die Religiosität der sogenannten Neo-Muslima auf ein ausgeprägtes sozialwissenschaftliches Interesse gestoßen, was eine Reihe von Studien zu diesem Thema zur Folge gehabt hat (vgl. Gaspard/Khosrokhavar 1995a; Karakaşoğlu-Aydin 1999; Klinkhammer 2000; Nökel 2002). Männliche Muslime sind hingegen vornehmlich im Rahmen der Integrationsproblematik oder der Analyse islamischer Vereinsstrukturen in den Blick geraten (vgl. Gaspard/Khosrokhavar 1995b; Kelek 2006). Ihre Religiosität ist weitgehend unbeachtet geblieben (vgl. Khosrokhavar 1997, 2004; Frese 2002; Brettfeld/Wetzels 2003). Der folgende Beitrag hat daher zum Ziel, mit einigen Überlegungen zu den Selbstbeschreibun133

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gen und Gemeinschaftserzählungen junger muslimischer Männer in Deutschland und Frankreich einen Beitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung über ihre Religiosität zu leisten. Hierfür werde ich im ersten Schritt verschiedene Akzentuierungen des Glaubens unter Männern im Islam der Diaspora differenzieren. Im zweiten Schritt geht es um Allgemeinwohlvorstellungen, die die Gläubigen aus ihren Religiositätsformen ableiten und die – wie abschließend hervorgehoben wird – von den institutionellen Arrangements in Deutschland und Frankreich geprägt sind. Zwei empirische Studien dienen mir als Grundlage, um die Ausprägungen des Glaubens unter Männern im Islam der Diaspora zu beschreiben. Die erste Untersuchung geht auf Interviews zurück, die ich zwischen 1995 und 1998 in drei, von sozio-ökonomischer Prekarität gekennzeichneten Stadtteilen in Frankreich und Deutschland durchgeführt habe (vgl. Tietze 2001). Die zweite bezieht sich auf zwischen 2005 und 2006 zustande gekommene Gespräche mit Studenten und Hochschulabsolventen in den beiden Ländern. Sie betrifft also ein soziales Milieu, das sich (im Unterschied zum Milieu der ersten Studie) durch einen Bildungsaufstieg auszeichnet. In Frankreich setzten sich in beiden Fällen die Untersuchungsgruppen aus Söhnen zusammen, die in – aus einem der nordafrikanischen Staaten eingewanderten – Familien groß geworden sind. In der Bundesrepublik waren meine Gesprächspartner in beiden Fällen ausschließlich türkischer Herkunft. Die im Folgenden vorgenommene Abstraktion von den sozialen und einwanderungsgeschichtlichen Unterschieden zwischen den in den beiden Studien befragten Personen findet ihre Begründung in dem Erkenntnisinteresse an der Ausgestaltung muslimischer Religiosität. Im Zentrum der Überlegungen steht die Analyse von Glaubenserzählungen und ihren vielgestaltigen Ausprägungen. Mögliche sozio-ökonomische, kultur- oder islamwissenschaftliche Erklärungen für ihre Inhalte oder Strukturierung werden vernachlässigt.

I Michel de Certeau (1985, 1990) erkennt im Akt zu glauben ein engagiertes Zustimmen zu einem Vorschlag, das sich auf bestimmte soziale Konventionen stützt (Sinn ergeben muss) und gleichzeitig über diese Konventionen hinaus einen Möglichkeitshorizont für die Zukunft eröffnet. Mit Hilfe dieser Definition ermöglicht der französische Soziologe, Religiosität sozialwissenschaftlich zu erfassen, ohne kulturelle Vorannahmen in Bezug auf eine bestimmte religiöse Tradition zu bemühen, 134

MUSLIMISCHE RELIGIOSITÄT UND ALLGEMEINWOHLVORSTELLUNGEN

und ohne gesellschaftspolitische Wertungen von vornherein in die Beschreibung der Religiosität einfließen zu lassen. Glaubenseinstellungen erscheinen bei de Certeau (1985: 700) vielmehr in einer Doppelbewegung: in dem Bedürfnis und Wunsch nach Plausibilität in der sozialen Welt auf der einen und dem Verlangen nach Distanzierung vom Sozialen auf der anderen Seite. Als Plausibilitätsbedürfnis rechtfertigt der Akt zu glauben Ordnung und Orientierung in der Gesellschaft, während es als Verlangen nach Distanzierung vom Sozialen darauf zielt, soziale Zwänge zu überwinden und einen Horizont des Auch-Noch-Möglichen zu entwerfen. Inhaltliche Bedeutungen sind in diesem handlungsorientierenden Prozess niemals endgültig festgelegt, so dass die Gläubigen mehrere Interpretationen gleichzeitig vertreten oder zwischen verschiedenen Auslegungen hin- und herwechseln können.1 In Selbstbeschreibungen akzentuieren Muslime die eine oder andere Richtung des Akts zu glauben und betonen gleichzeitig eine bestimmte Vorstellung von der Gemeinschaft der Gläubigen. Stellt eine Person ihr Bedürfnis nach Plausibilität der sozialen Welt in den Vordergrund, entfaltet sie ihre Identifikation mit der islamischen Tradition als Mittel der Lebensführung. In den Worten Kenans aus Wilhelmsburg klingt das so: »Ohne Religion ist man ohne Ziel, man schwebt irgendwie im Weltall, ziellos, wie ein Schrotthaufen. Ein Freund von mir, er hat getrunken, alles gemacht, er hat sozusagen alles mitgemacht, was seine Schulkameraden gemacht haben. Eine Zeit lang bin ich auch mit ihm mitgezogen. Das hat mir eigentlich nichts Schlechtes gebracht. Ich hab dadurch Erfahrungen gelernt und gesehen, dass das kein Ende hat, so zu leben. Wenn ich noch weiter, wenn ich mich nicht zusammengerissen hätte, mir sozusagen, das was ich gelernt habe, meinen religiösen Stamm, wenn ich da nicht wieder hingegriffen hätte, wär ich jetzt auch bestimmt ziellos irgendwo auf der Straße.«

Der junge Mann, der ein Fuhrunternehmen betreibt und zum Zeitpunkt unseres Gesprächs eine Fortbildung als Versicherungskaufmann macht, beschreibt seine Religiosität als individuelle Moral. Nourdine, Student der Soziologie in Paris und ehrenamtlicher Journalist einer französischsprachigen Internetzeitung, entfaltet eine vergleichbare ethische Per1

Die Tatsache, dass der Akt zu glauben mehrere Interpretationen offen hält, zwischen denen die Gläubigen nicht zu wählen brauchen, hat in den Augen de Certeaus u.a. leidenschaftliche Kämpfe um Auslegungsmacht zur Folge. »Diese reiche Unschärfe [der inhaltlichen Bedeutungen, NT] erklärt ohne Zweifel die Schwierigkeit der Ethnologen, den Sinn eines Glaubens zu spezifizieren, oder die Anstrengung der Geistlichen und Angestellten jeder Institution, ihre jeweils eigene Exegese durchzusetzen.« (de Certeau 1985: 700) 135

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spektive für das islamische Kollektiv. Er legt die Gemeinschaft der Muslime als »eine Gesamtheit muslimischer Subjektivitäten« dar: »Das Gefühl, denselben Glauben und Anspruch im Leben zu teilen, [schafft die Bindung]. […] Aber die Identitäten sind vielgestaltig. Ich habe den Eindruck, dass wir mehr und mehr zu Individualisten werden. […] Aber auf der anderen Seite gibt es andere Dinge. Der muslimische Bezug gibt sich eine Form in neuen Projekten, die mit der Ethik in Verbindung stehen. Zum Beispiel […] achten mehr und mehr Personen darauf, was sie konsumieren. Man guckt darauf, ob es kein E 472 gibt, ob es wirklich halal ist, […] man achtet darauf, dass es keine Ausbeutung gibt. Es gibt also mehr, die fair trade konsumieren. […] Im Augenblick wird […] über islamische Finanzierung nachgedacht, die mehr auf gegenseitiger Hilfe als auf Ausbeutung beruht.«

Auf der Ebene der einzelnen Person definiert die ethische Orientierung von Glaubenseinstellungen eine klare Moral der Lebensführung, auf der Ebene der Gemeinschaft führt sie in eine eher locker zusammengesetzte Ideen- und Verantwortungsgemeinschaft. In ähnlicher Weise wird das Individuum zum Ort, »an dem sich eine Religion [hier der Islam, NT] anlagert«, wenn der Akt zu glauben eine Distanzierung von der sozialen Welt herausstellt (Wohlrab-Sahr/Krüggeler 2000: 241). Muslimische Religiosität kann einer Person dazu dienen, Emanzipation vom familiären Milieu zu begründen oder Aufstiegsanstrengungen zu rechtfertigen. Während die Gläubigen in ihren Selbstbeschreibungen im ersten Fall generationsspezifische, an die Einwanderungsgeschichte geknüpfte Zwänge in den Blick nehmen, heben sie im zweiten Fall gesellschaftspolitische Bedingungen heraus, die ihre Diskriminierungserfahrungen prägen. Mehmet, Schlosserlehrling in Hamburg, kritisiert seine Eltern für ihre an die türkische Staatsbürgerschaft geknüpfte, geradezu nationalistische Konzeption des Islam. Indem er seine Islamität als etwas konzipiert, das politische Gegensätze und nationale Grenzen übersteigt, kann Mehmet zum deutschen Staatsbürger werden und dennoch mit seinem Vater in die Moschee gehen oder im Familienkreis religiöse Feste feiern. Hassan, der an einer Dissertation im Fach Biologie arbeitet, erklärt sich viele der Absagen auf seine Praktikumbewerbungen oder negative Bemerkungen seiner Laborkollegen mit der Islamophobie in Frankreich: »In solchen Situationen fühle ich mich – in Anführungsstrichen – allein gelassen. Ja, ich fühle mich einsam, aber nicht erniedrigt. […] Also heute, wenn ich zum Beispiel Arbeit suche, und man mich nicht nimmt, weil mein Lebenslauf nicht gut genug ist, dann werde ich mir sagen: ›ah vielleicht ist das, weil ich einen schlechten Vornamen besitze‹. Ich werde das denken, aber ich geh darü136

MUSLIMISCHE RELIGIOSITÄT UND ALLGEMEINWOHLVORSTELLUNGEN

ber hinweg. Das wird mich nicht hindern, das wird mein Verhalten, meine Handlungen nicht beeinflussen. Also ich denke daran, ich weiß, dass es Diskriminierung gibt, aber das hindert mich nicht. Das ist, als ob ich davon abstrahiere, […] weil das sonst nicht auszuhalten ist. […] Weil ich Muslim bin, bin ich überzeugt, dass ich ein Gut, sei es Arbeit oder anderes, bekomme. Wenn Gott es mir geben will, dann werde ich es bekommen. Mein Schicksal und mein Leben hängen in keinem Fall von den Einstellungen der Leute ab, von einer anderen Person. Mein Leben […] hängt ausschließlich von Gott ab.«

Weder Mehmet noch Hassan bringen eine die Konfrontation und den Protest suchende Kritik zum Ausdruck. Die Erzählungen ihrer Islamität stellen vielmehr einen alternativen Möglichkeitshorizont heraus, der die familiären, milieuspezifischen, sozialen, politischen oder ökonomischen Lebensbedingungen relativiert, ja außer Kraft setzt. In dieser Hinsicht betonen ihre Religiositätsformen ein utopisches Element, das Widersprüche und Differenzierungen zwischen dem Gewünschten und dem Realisierbaren entkräftet. Die Identifikation mit dem Islam verhindert, dass die persönliche Erfahrungswelt den Erwartungshorizont in bezug auf das eigene Leben in Frage stellt (vgl. Ricœur 1986: 430). Glaubenserzählungen, die das Utopische im Sinne eines anderen, alternativen sozialen Orts akzentuieren, malen Gemeinschaft aus, indem sie universelle Ideale beschreiben. »Die Umma besteht nicht nur aus Muslimen«, erläutert Adem, Betriebwirtschaftsstudent in Hamburg.2 »Wenn man eine Gemeinschaft bildet, auch mit Christen oder Juden oder sonstigen Gruppierungen, dann ist das eine Gemeinschaft und wenn diese Gemeinschaft sich gegenseitig respektiert und sich nicht gegenseitig irgendwie einen Dolch in den Rücken reinsteckt oder Sonstiges, dann ist es für mich auch Umma. […] Also, es ist dann nicht mehr so, dass man plötzlich als Außenseiter dasteht, weil man Muslim ist, sondern man hat als Muslim Freunde, die zwar keine Muslime sind, aber sich für einen einsetzen und die Religion achten und wirklich niemand irgendwie etwas sagen lassen, was den Gegenüber [den Muslimen, NT] verletzten könnte. Also diese Achtung und dieser Respekt voreinander…«

Ideale einen – diesem Zitat zufolge – eine vielfältige Gemeinschaft und lassen Wohlbefinden entstehen. Sie bringen keine Regeln für die individuelle Lebensführung hervor und erschaffen keine Autoritäten, die Glaubensinhalte definieren.

2

Umma wird gemeinhin als die Gemeinschaft der Muslime verstanden (vgl. »Umma« 2000: 862). 137

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Regeln und Autoritäten erhalten dann eine prägende Bedeutung für die Religiosität, wenn das islamische Kollektiv in den Glaubenserzählungen im Mittelpunkt steht. Hakim, Bewohner einer Pariser Vorstadt und wie Adem Student der Betriebswirtschaft, erfasst zum Beispiel muslimische Religiosität als eine Gruppenmoral für junge Leute, die sich von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen fühlen und gegen den »individualistischen Kapitalismus« kämpfen. In seiner Vorstellung steht persönliche Islamität für das soziale und politische Denken einer unterdrückten Klasse: die der Araber in Frankreich, die verspottet werden, und denen die ökonomischen Gewinne des Landes vorenthalten werden. Er und seine Freunde sehen sich als Elite dieser Klasse, weil sie ihr Wissen über die islamische Religionstradition (die Dogmen, Rituale und theologischen Konzepte) mit dem Wissen über die Marginalisierung der eingewanderten, muslimischen Bevölkerungsgruppen in einen in ihren Augen wahrhaftigen Zusammenhang stellen können. Folgt man Ausführungen von Gläubigen wie Hakim, dann eröffnet das Einhalten der Regeln islamischer Lebensführung den Diskriminierten und Stigmatisierten die Möglichkeit, eine Gemeinschaft zu werden und im Bewusstsein dieser gesellschaftliche Veränderungen zu erzwingen. »Heute ist die Frage: ist diese Gesellschaft fähig, umzudenken, weil sie niemals daran gedacht hat, dass in diesem Land auch Muslime leben? […] Sind sie (die Europäer, NT) reif genug, um mit ihnen [den Muslimen] zu leben? Sind sie bereit, umzudenken, den Islam anzuerkennen, um mit uns leben zu können? Das ist die Frage. Wenn sie dazu bereit sind, sind wir auch zum Gespräch bereit. […] Wir wollen eine neue Gesellschaft, wir wollen diese Gesellschaft nicht mehr.«

Klare Grenzen der Zugehörigkeit definieren nach diesem Verständnis die Gemeinschaft, der individuelle Glaubenseinstellungen untergeordnet werden, was der Religiosität ein ideologisches Moment gibt.3 Ideologische Narrationen über die Gruppenbindungen erzählen vor allem Verluste (und kein Wohlbefinden). Die »wahre Gemeinschaft« habe es, wie zum Beispiel ein Vereinsmitglied der Jeunes Musulmans ausführt, nur in der Gründungszeit des Islam gegeben.4 Für einige Gläu3 4

Paul Ricœur definiert Ideologie mithilfe dreier Charakteristika: Verschleierung, Gruppenintegration und Legitimationsressource (1986: 345). Die Phase von der Niederlassung des Propheten in Medina (nach seiner Auswanderung aus Mekka 622) bis zum Ende der Herrschaftsperiode der ersten vier sogenannten rechtgeleiteten Kalifen (Abu Bakr, Umar, Uthman und Ali) gilt in der islamischen Glaubenslehre im Allgemeinen als das Goldene Zeitalter, in dem theologische Konzepte wie die Umma korrekt

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bige ist das Bewusstsein der Muslime für ihre eigene religiöse Tradition oder ihre Unterdrückung nicht weit genug fortgeschritten, um eine wirkliche Gemeinschaft zu praktizieren. Andere heben die fehlende Autorität innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaft hervor, was eine bessere Organisation und klare Positionen der Muslime in der Gesellschaft verhindere. Dies macht deutlich, dass es Personen, die ihre Glaubenseinstellungen ideologisch akzentuieren, um eine durch Wissen angeeignete Zugehörigkeit geht. Sie unterscheiden sich darin von den Gläubigen, die ihre Gemeinschaft als Ausdruck kultureller Gewissheiten erkennen. Diese erarbeiten ihre Religiosität nicht mithilfe von Wissen und thematisieren die Einhaltung islamischer Regeln nicht, sondern begreifen ihre religiöse Zugehörigkeit als ein naturgegebenes Element, das ihre Handlungen zwangsläufig ausrichtet. Der Ort einer solchen kulturalisierten Religiosität liegt im Kollektiv, nicht im Individuum, wie im Fall von Glaubenseinstellungen mit einer ethischen oder utopischen Stoßrichtung. Die vielgestaltigen Glaubenserzählungen junger Muslime in Deutschland und Frankreich lassen sich also vier unterschiedlichen Polen zuordnen: einem ethisierten, einem utopisierten, einem ideologisierten und schließlich einem kulturalisierten Islam (vgl. Tietze 2001). Keine dieser Religiositätsformen beinhaltet eine explizite Thematisierung der eigenen Männlichkeit, worin sich die Männer zweifelsohne von ihren Glaubensschwestern unterscheiden. Folgt man den Ergebnissen von Studien über Musliminnen, dann bringt insbesondere die Auseinandersetzung mit der eigenen Weiblichkeit und der Stellung der Frauen in der islamischen Gemeinschaft und in der Einwanderungsgesellschaft die jungen Frauen dazu, Glauben und Zugehörigkeit für sich selbst zu definieren und praktisch auszugestalten (vgl. Nökel 2002; Jouili 2005, 2007; Amir-Moazami 2005). Die Narrationen junger Männer stellen einen weitaus geringeren Reflexivitätsgrad hinsichtlich der Geschlechterbeziehungen unter Beweis. Nichtsdestotrotz lassen sich die oben näher ausgeführten Glaubenseinstellungen nicht auf Politisierung des Islam, Traditionalismus oder Opferhaltung reduzieren. Sie zeugen vielmehr von einer geschlechtsblinden Reflexivität, die die eigene Person und ihre Zugehörigkeitsgruppe im Spiegel gesellschaftlicher Machtbeziehungen zum Thema macht. und in Gänze zur Anwendung kamen. Die Orthodoxie schreibt die darauf folgende Geschichte als Geschichte der Abkehr von der Lehre und des Verfalls islamischer Lebensführung. Angesichts der (trotz innerislamischer Kritik) nach wie vor starken Wirkungskraft dieser Geschichtsauffassung ist es allerdings bemerkenswert, dass diese nur in ideologisch akzentuierten Gemeinschaftsnarrationen zum Ausdruck kommt. 139

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II In diesen Thematisierungen kommt Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, d.h. an den sozialen, ökonomischen politischen Bedingungen und vorherrschenden kulturellen Werthierarchien zum Ausdruck. Diese Kritik spiegelt die Konzeptionen der befragten Muslime von Allgemeinwohl wider, d.h. ihre Vorstellungen von der idealen Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen. Sie bearbeiten dabei gleichzeitig in alltäglichen, außer- und innergemeinschaftlichen Beziehungen erfahrene und den Medien – Presse und Fernsehen – entnommene Zuschreibungen. Bemerkenswert ist hier zunächst einmal, dass alle befragten Muslime – und zwar egal welche Religiositätsform sie auch akzentuieren – es ablehnen, auf ihre Islamität reduziert zu werden. Nourdine, Journalist einer französischsprachigen Internetzeitung, stört es, wenn alle Nachkommen nordafrikanischer Einwanderer in Frankreich »zwangsläufig in der muslimischen Kategorie eingeschlossen [werden]. Man kann… ich kann Basketballspieler in einem Sportverein, Student oder Arbeitnehmer und Muslim sein, alles gleichzeitig. Und das ist das Problem, dass der vorherrschende Diskurs die Leute unter dieses Etikett ordnet. Sie sind nicht nur Muslime.«

Jede Form der Verallgemeinerung wird als ein Einschnitt, in die Autonomie der Personen und der Gemeinschaft erfahren, Glauben inhaltlich auszugestalten. Vor diesem Hintergrund bewerten die Gläubigen Zuschreibungen in Frankreich vor allem als »koloniale Arroganz«, in Deutschland als »Ausländerfeindlichkeit« und erheben in beiden Ländern gegenüber Politikern, institutionellen Repräsentanten oder Journalisten Vorwürfe, islamfeindlich oder verletzend ignorant zu sein, legitime Freiheitsansprüche zu begrenzen oder Rechte auf Gleichberechtigung zu umgehen. »Wir merken schon, besonders seit dem 11. September, dass sehr viele Medien versucht haben, besonders auch in solchen Gesprächen, was man gesagt hat, umzudrehen und ins Negative zu ziehen«, erläutert Osman, der in einer Hamburger Marktforschungsfirma angestellt ist. »Die Presse hat eigentlich ziemlich große Macht und sie nutzt diese Macht zum Negativen, und [hört] nicht den Menschen, was der jetzt sagen wollte. Wir haben das im Hamburger Abendblatt, im Stern gehabt, wir (Mitglieder der Zentralmoschee, NT) sind zum Beispiel besonders gegen Focus, sind wir gerichtlich vorgegangen. Das ist wirklich Schwarzmalerei und schadet den Menschen.«

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MUSLIMISCHE RELIGIOSITÄT UND ALLGEMEINWOHLVORSTELLUNGEN

Die ausgeprägte Sensibilität, die Inhalte der Islamität selbstbestimmt formulieren zu können und gegen negative Bilder verteidigen zu müssen, auf der einen Seite und der akzentuierte Wille, als Muslime in der Öffentlichkeit erkannt und anerkannt zu werden, auf der anderen geben den Thematisierungen der eigenen Person und der Zugehörigkeitsgruppe eine gewisse Ambivalenz. Denn die Gläubigen greifen in ihren Erzählungen auf Negativzuschreibungen zurück, um – sich von diesen abgrenzend – ihre Anerkennungsforderungen zu rechtfertigen. Dadurch schränkt sich jedoch zwangsläufig ihre Autonomie ein, islamische Zugehörigkeit, Bekenntnisinhalte oder Regeln religiöser Praxis souverän zu bestimmen und zu bewerten. In diesen Widerspruch verflochten, akzentuieren die Glaubenserzählungen nicht nur unterschiedliche Religiositätsformen, sondern führen auch verschiedene Allgemeinwohlvorstellungen vor Augen. Indem sie Islamität entwerfen und rechtfertigen, greifen sie soziale Ungleichheit, politische Asymmetrien, kulturelle Hierarchien und Negativzuschreibungen auf und kritisieren diese im gleichen Atemzug. Religiositätsformen, in denen die individuellen Glaubenseinstellungen der Gemeinschaft untergeordnet und kulturelle Gewissheiten oder ideologische Notwendigkeiten akzentuiert werden, stellen Verbundenheit heraus. Die Gläubigen rechtfertigen ihre Bindungen mit Herkunft und Familie oder mit Solidarität und Treue. Im ersten Fall garantiert die Zugehörigkeit zum Islam Kontinuität und macht diese zum Beobachtungsmaßstab sozialer Wirklichkeit. In Osmans Augen ist »Zinedine Zidane […] bodenständig, hat eine Familie und ist sehr angesehen aufgrund seiner Leistung und seiner Herkunft und seiner Religion, das […] verhilft schon auch, bestimmte Werte zu vermitteln.« Der Fußballstar wird hier zum Zeugen für die im Islam gepflegte familiäre Ordnung gemacht – eine Ordnung, die Autorität anerkennt und mit ihr gerechtfertigte Unterordnung als Wert postuliert.5 Der zitierte Marktforscher, der seine Religiosität Wandel und Brüchen entgegenhält, richtet einen wertkonservativen Blick auf die Gesellschaft. »Von den Werten her [fühle ich mich] eigentlich CDU/CSU gebunden, weil religiös, konservativ sozusagen, von den Werten her«. In seiner Erzählung werden unwandelbare Traditionen zu Trägern gesellschaftlicher Kritik, die aus der Familienordnung das Grundmuster sozialer Beziehungen ableitet. Männer sind in solchen Allgemeinwohlvorstellungen Familienoberhäupter, die ihre Kinder, wie Osman es ausdrückt, auf die »Schiene« der Kontinuität und der Traditionen zu setzen wünschen.

5 Zu den Gerechtigkeitsprinzipien der familialen Ordnung vgl. Boltanski/Thévenot 2007. 141

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Ähnliche Allgemeinwohlvorstellungen folgen aus Erzählungen über die muslimische Gemeinschaft, die Solidarität und Treue herausstellen. Kernpunkt der Kritik ist hier allerdings nicht die Unordnung und Unmoral der Gesellschaft, sondern der Individualismus, den die französischen und bundesdeutschen Institutionen mit ihren Strukturen und ihrem Kredo in das Einzelkämpfertum feiern würden. Die Gläubigen halten in diesem zweiten Fall den Wert des Kollektivs mit Hilfe ihrer kulturalisierten und ideologisierten Religiosität dem Pluralismus und dem marktwirtschaftlich vermittelten, individualistischen Leistungsideal entgegen. In den Augen Hakims aus Frankreich besteht die Gemeinschaft der Muslime aus Menschen, die sich von dem Wunsch befreit haben, »schöne Autos und den ganzen Luxus, den man im Westen antrifft«, zur Schau zu stellen. Die solidarische und treue Gleichheit, die die französischen Institutionen und die französische Wirtschaftspolitik Hakim zufolge unterbinden, leitet der junge Mann aus den Regeln islamischer Lebensführung ab. Geschlechterunterschiede und damit verbundene Differenzierungen islamischer Lebensführungen sind angesichts dieses Gleichheitspostulats unerheblich. Glaubenserzählungen, die Gemeinschaft aus der Perspektive individueller Religiosität in den Blick nehmen und ethische oder utopische Elemente akzentuieren, stellen Leistungen und Erfolg von einzelnen Muslimen heraus. Indem die Muslime Verdienste und Werke in der Geschichte des Islam oder die in Moscheen und muslimischen Vereinen geleistete Arbeit betonen, verbinden sie die Thematisierung ihrer Religiosität mit einer Kritik an der mehr oder weniger institutionalisierten Verteilung sozialer und politischer Güter zwischen den gesellschaftlichen Gruppen (in Deutschland insbesondere zwischen den unterschiedlichen Konfessionen). Deniz, Student der Betriebswirtschaft, erläutert zum Beispiel die Sozial- und Bildungsarbeit, die sein Hamburger Moscheeverein leistet, und beklagt, dass die kommunalpolitische und finanzielle Anerkennung dafür ausbleibt. Kamal, Pressesprecher eines Vereins gegen Islamophobie in Frankreich, unterstreicht, dass das französischen Innenministerium wirtschaftliche Initiativen von Muslimen – wie zum Beispiel die Gründung eines Unternehmens zur Kontrolle des »Halal-Labels« – mithilfe von Verwaltungsauflagen und Antiterrorismusmaßnahmen erschwere, ja unmöglich mache. »Muslime, die erfolgreich sind, interessieren nicht. Sie machen das Innenministerium misstrauisch.« Allgemeinvorstellungen, die Individualität und Kreativität zu zentralen Bewertungsgrößen der sozialen Realität machen, gehen häufig mit einer Aufwertung des Pluralismus einher. »[...] das ist eigentlich, finde

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ich schön«, betont Ferhad, Soziologiestudent in Hamburg, in bezug auf die Heterogenität der Muslime, »wenn ich hier [zur Moschee, NT] so im Alltag herkomme und sehe, der eine läuft ganz normal herum, so in Alltagsklamotten, der andere mit Turban und mit Bart, das ist schon für mich… ich finde das schön, diese Vielfalt, auch das Andersdenken. Der eine sagt, der Prophet hat damals so gelebt, ich möchte mich auch so anziehen, der andere passt sich an und sagt, das das Aussehen hat nicht unbedingt, sag ich mal, einen so großen Wert, sondern der Inhalt. Und ist schon ganz interessant auch zu sehen, welche verschiedenen Länder, Kulturen, was es da für Unterschiede gibt.«

Religiosität ermöglicht hier, sowohl Unterschiede hinsichtlich des Grads der muslimischen Praxis als auch kulturelle, sprachliche und nationale Differenzen zwischen den Muslimen zu transzendieren, ohne sie zu negieren. Geschlechterunterschiede und mit ihnen einhergehende, sich unterscheidende Konzeptionen der religiösen Praxis sind in diesem Fall selbstverständliche Komponenten der gefeierten und in die Glaubenseinstellungen geeinten Vielfalt. Diese Form, das Muslim-Sein und die Zugehörigkeit zu thematisieren, stellt im selben Atemzug Standardisierungen und Integrationsmaßstäbe in Frage, die in öffentlichen Debatten und über institutionelle Regelungen formuliert werden und den Einzelnen in seinen Überzeugungen missachten. Die Akzentuierung ethischer oder utopischer Elemente in der Zugehörigkeit zum Islam kann sich mit anderen Worten in einer Kritik an der kulturellen Hegemonie bestimmter Werte zuspitzen; denn die Gläubigen definieren in diesem Fall das Allgemeinwohl mit Hilfe von Freiheits- und Gleichheitsrechten. Die Ausführungen machen deutlich, dass das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft, das in den unterschiedlichen muslimischen Religiositätsformen zum Tragen kommt, die Allgemeinwohlvorstellungen, den Umgang mit Zuschreibungen und die gesellschaftliche Kritik maßgeblich prägen. Auf der einen Seite stehen wertkonservative Konzeptionen, die die Familienordnung zum Ordnungsmuster der sozialen Beziehungen machen und in Traditionen verankerte Autorität dem gesellschaftlichem Wandel entgegenstellen, und Solidaritätsprojekte, die mithilfe islamischer Lebensführung Gleichheit entwerfen und gegen marktwirtschaftlichen (Konsum bezogenem) Individualismus und Egoismus Front zu machen versuchen. Muslimische Religiosität akzentuiert in beiden Fällen – sei es in einer ideologischen oder kulturellen Perspektive – die Bedeutung der Gemeinschaft auf Kosten des Stellenwerts des Individuums. Auf der anderen Seite kommen an individuellem Erfolg und individueller Leistung orientierte Allgemeinwohlvorstellungen zum 143

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Ausdruck, wenn die Vielfalt individueller Glaubenseinstellungen betont und nach Gerechtigkeitskriterien und mithilfe Respektforderungen geordnet wird. Sie nehmen ihren Ausgang in Formen muslimischer Religiosität, die ethische und utopische Dimensionen herausstellen und an das Individuum, nicht an die Gemeinschaft geknüpft sind. Die Akzentuierungen des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft bleiben im Allgemeinen von der Genderperspektive weitgehend unberührt. Die Gläubigen bemühen in ihren Allgemeinwohlvorstellungen ausschließlich implizit Bilder der Geschlechterbeziehungen, was am deutlichsten in den Glaubenserzählungen zum Ausdruck kommt, die ihre Werthierarchien mit einem familiären Ordnungsmuster begründen. In diesem Fall schleichen sich unausgesprochene Annahmen über die Rolle und die Autorität der Männer als Familienoberhäupter ein. Ansonsten muss es an dieser Stelle eine offene Frage bleiben, inwieweit der Verzicht der männlichen Muslime auf die Thematisierung von Männlichkeit oder Geschlechterrollen ihrer im Vergleich zu den Musliminnen in muslimischen Gemeinschaften stärkeren Position geschuldet ist.6

III Weder die Religiositätsformen noch die Typen von Allgemeinwohlvorstellungen lassen sich hinsichtlich des nationalen Lebenskontexts der Muslime differenzieren. Alle Akzentuierungen des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft und alle Ausprägungen der Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen, politischen und ökonomischen Ordnungsprinzipien und vorherrschenden kulturellen Werthierarchien können in Deutschland und Frankreich beobachtet werden. Die jeweiligen nationalen institutionellen Arrangements begünstigen lediglich bestimmte Tendenzen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Differenzen in bezug auf die Religionspolitik (d.h. die Definition der staatlichen Neutralität und die daraus folgenden Beziehungen zwischen Staat und Religionsgruppen), die Einwanderungsgeschichte und Integrationspolitik (zum Beispiel die Vergabe der Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes und die Bedeutung staatlicher Bildungspolitik) und schließlich die föderale oder zentralistische politische Struktur hervorzuheben. Diese drei Elemente der bundesdeutschen und französischen Institutionen6

Werner Schiffauer (2006: 94) hat in seiner Sammelrezension einige Unterschiede zwischen den Islamitäten von Frauen und Männern aus verschiedenen neueren Studien abgeleitet und sie mit der »doppelten Frontstellung« der Neo-Muslima zwischen Patriarchalismus in den Gemeinden und islamfeindlichen Zuschreibungen in Deutschland begründet.

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ordnungen nehmen in der Tat mehr oder weniger direkten Einfluss auf die Art und Weise, wie die Muslime in der Bundesrepublik oder Frankreich das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft ausgestalten, beziehungsweise bestimmen, welche Kritik der Muslime an gesellschaftlichen Verhältnissen die politischen Entscheidungsträger und Multiplikatoren öffentlicher Auseinandersetzungen hören und erkennen. Der bundesrepublikanische Institutionenkontext fördert Religiositätsformen, die Gemeinschaftsbindungen herausstellen und diese mit Herkunft und Familie begründen – und zwar nicht zuletzt deswegen, weil er im religionspolitischen Bereich auf einer korporatistischen Organisation der Religionsgemeinschaften beruht, und weil er die kulturelle (konfessionelle) Einbettung der Staatsbürgerschaft zum Beispiel mithilfe des konfessionsgebundenen Religionsunterricht fördert (vgl. Koenig 2005). Das institutionelle Arrangement in Frankreich begünstigt hingegen Rechtfertigungen, die Gemeinschaftsbindungen mit Gleichheitsidealen (und nicht mit Herkunft oder wertkonservativen familiären Ordnungsmustern) legitimieren (vgl. Lepsius 2006). Die Gläubigen übersetzen in diesem Fall ihnen wohlbekannte Prinzipien des französischen Erziehungssystems und der französischen Integrationspolitik in ihre Konzeptionen religiöser Lebensführung, was ihnen ermöglicht, die Grundsätze der Laizität – wie zum Beispiel die herkunftsblinde Gleichbehandlung aller Bürger – islamisch zu wenden und gleichzeitig die mangelnde Durchsetzung dieser Grundsätze zu kritisieren.7 Im Zusammenhang mit Religiositätsformen, in denen die Glaubenseinstellungen das Individuum ins Zentrum stellen, fördert die bundesdeutsche Institutionenordnung, in einer Sprache des Rechts Freiheitsforderungen und Pluralismusideale zu formulieren. Die Auslegung des Grundrechts auf Religionsfreiheit und der verhältnismäßig direkte Zugang zur Gerichtsbarkeit erleichtern den Muslimen, kulturelle Hegemonie auf dem Wege der Jurisprudenz in Frage zu stellen (vgl. Heinig 2003). Dies hat unter anderem zur Folge, dass Glaubenserzählungen, die ethische oder utopische Elemente akzentuieren, auf grundrechtliche Prinzipien zurückgreifen, um ihre Plausibilität unter Beweis zu stellen. In Frankreich hingegen tendieren Muslime mit diesen Religiositätsformen dazu, sozialen Aufstieg, Leistungen und Erfolg herauszustellen. Sie pflegen insofern eher die Sprache des französischen Integrationsideals als die des Rechts.

7

Der Begriff Laizität beschreibt nicht nur das Prinzip der Trennung von Staat und Religion in Frankreich, sondern impliziert gleichermaßen republikanische Gleichheitsideale hinsichtlich der Behandlung französischer Staatsbürger. 145

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Im Allgemeinen erlaubt der stark ausgeprägte institutionelle und politische Diskurs von der Gleichheit in Frankreich den Muslimen, als Franzosen gesellschaftliche Kritik zum Ausdruck zu bringen, während die Muslime in Deutschland trotz der Reform des Staatsbürgerrechts im Jahr 2000 nach wie vor als Fremde gelten, auch wenn immer weniger unter ihnen rechtlich gesehen Ausländer sind. Indem jedoch das föderale System der Bundesrepublik die Möglichkeit eröffnet, auf der lokalen Ebene Konfliktfälle zwischen Muslimen und institutionellen Repräsentanten als Einzelfälle zu lösen und von der Frage nach dem Status des Islam im Allgemeinen abzukoppeln, bilden sich nichtsdestotrotz Inklusionsoptionen für Muslime heraus. Das zentralistische französische System bietet solche lokalen, juristischen Ausgleichslösungen nicht: Die gesellschaftliche Kritik der Muslime in Frankreich steht in einer direkten Konfrontation mit dem Staat und stellt unweigerlich seine grundsätzlichen Prinzipien in Frage (vgl. Tietze 2001). Auch wenn in Deutschland und Frankreich öffentliche Debatten über Muslime und integrationspolitische Herausforderungen in unterschiedlicher Weise die Problematik der Geschlechterbeziehungen unter den Nachkommen eingewanderter muslimischer Bevölkerungsgruppen thematisieren, haben sie für die Bilder von muslimischen Männern doch ein und dieselbe Konsequenz: Man erfasst sie als die Repräsentanten einer Religionskultur, von der es sich zu emanzipieren und vor der es die Frauen zu schützen gilt.8 Nacira Guénif-Souilamas und Eric Macé (2004) fassen diese in der französischen Auseinandersetzung dominante Position in ironisierender Weise zusammen: 8

Die französische Debatte zeichnet sich zum Beispiel dadurch aus, das Prinzip der sogenannten »mixité«, der Koedukation von Jungen und Mädchen, zum Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung zu machen. Für Frauen reservierte Stunden in öffentlichen Schwimmbädern oder getrennt geschlechtlich erteilter Sportunterricht widersprechen den republikanischen Erziehungsidealen und dem absoluten Gleichheitspostulat französischer Institutionen. Es gehört zu den innerinstitutionellen Widersprüchen in Frankreich, dass im Namen dieser Erziehungsvorstellungen und ihrer Verpflichtung auf die Gleichheit 2005 das Gesetz zum Verbot religiöser Zeichen in staatlichen Schulen erlassen worden ist und in der Konsequenz dieses Gesetzes Musliminnen mit islamischen Kopftüchern die staatlichen Schulen verlassen müssen. Wenn sie materiell dazu in der Lage sind, besuchen sie nunmehr konfessionelle Privatschulen, in denen getrennt geschlechtlicher Unterricht erteilt werden kann und wird. Diejenigen, denen dieser Ausweg versagt bleibt, sind voll und ganz aus dem schulischen Sozialleben ausgeschlossen und mit besonders gravierenden Problemen in ihren Bildungskarrieren konfrontiert. In den entsprechenden bundesdeutschen Auseinandersetzungen herrscht hingegen eine eher differentialistische Perspektive vor, die Sondermaßnahmen für Mädchen und junge Frauen aus muslimischen Familien favorisiert.

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»[...] auf der einen Seite die Modernität, der Fortschritt, die Gleichheit, die Republik; auf der anderen Seite die Tradition, der Rückschritt, die Ungleichheit, die Parallelgesellschaft – mit anderen Worten die Achse des Guten gegen die Achse des Bösen. Es gälte [in den Augen der Mehrheit und der Feministen, NT] also die Mädchen der Vorstädte von der Antimodernität des ›arabischen Jungen‹ zu erlösen, insbesondere die arabischen Mädchen, die am stärksten von Vergewaltigung und Verschleierung bedroht seien und die – wie jeder – die Weiblichkeit mit Lippenstift und hochhackigen Schuhen anstreben würden.« (Ebd.: 12)

Die Polarisierungen, die aus den gegenwärtig geführten Debatten in Deutschland und Frankreich hervorgehen und muslimische Männer und Frauen in unversöhnliche Kontrahenten und weltanschauliche Antagonisten verwandeln, lassen sich in den untersuchten Glaubenserzählungen muslimischer Männer und ihren Allgemeinwohlvorstellungen nicht nachzeichnen. Auch wenn es sich dabei um subjektiv geglättete und an Idealen orientierte Selbstbilder handelt, so geben sie doch zu der Vermutung Anlass, dass die mit muslimischen Männlichkeitsvorstellungen verbundene Handlungswirklichkeit differenzierter ausfällt, als es in den öffentlichen Auseinandersetzungen beider Länder zur Darstellung kommt.

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D RITTER T EIL : G EWALT – F AMILIE – Ö FFENTLICHKEIT

Risiken und Ressourcen in der Sozialisation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund HACI-HALIL USLUCAN

Die wissenschaftliche Diskussion um Migration und ihre Auswirkungen wird von einem Defizit- und Konfliktdenken geprägt. Migranten gelten vielfach als eine besondere Risikopopulation. Exemplarisch hierfür sind gesundheitspsychologische Forschungen, die eine deutlich höhere Stressbelastung und Krankheitsanfälligkeit dieser Gruppen gegenüber der der deutschen Bevölkerung belegen (vgl. Collatz 1998; Firat 1996). Im Bildungs- und Schulbereich wird oft auf die prekäre Situation der Schüler mit Migrationshintergrund verwiesen (vgl. Kornmann 1998), insbesondere nach den PISA-Ergebnissen, bei denen Schüler mit Migrationshintergrund in Deutschland noch ungünstigere Ergebnisse als deutsche Schüler erzielten, kam eine Diskussion um ungleiche Bildungschancen in Deutschland in Gang. Auch die sozialwissenschaftliche Literatur zur Jugendentwicklung thematisiert insbesondere Jugendliche mit Migrationshintergrund vor allem unter Aspekten devianter Sozialisation wie etwa Gewalt und Kriminalität (vgl. Bielefeld/Kreissl 1982; Tertilt 1995; Nohl 1996; Heitmeyer/Müller/Schröder 1997). Dabei wird jedoch häufig verschwiegen oder vergessen, dass die überwiegende Mehrzahl der Migranten ihren Alltag gestaltet, ohne auffällig zu werden und der weitaus größere Teil der Jugendlichen weder mit Gewalt und Devianz, noch mit Pathologien agiert. Bei der Frage der Vergleichbarkeit der Gewaltbelastung junger Migranten und junger Deutscher herrscht in den sozialwissenschaftlichen Diskursen ein Konsens, dass ein allein auf ethnische Unterschiede gründender Vergleich in der Regel zu einer statistischen Verzerrung führt (vgl. Tellenbach 1995). 153

HACI-HALIL USLUCAN

Denn jugendliche Migranten rekrutieren sich überwiegend aus unteren sozialen Schichten, weshalb es hier zu einer Konfundierung, zu einer Überlappung, von Ethnie und Schicht kommt. Im pädagogischen Alltag sind neben Erklärungen der Gewaltbelastung jugendlicher Migranten auch Ansätze erforderlich, die Antworten auf die Frage geben, über welche Ressourcen bzw. welche Resilienzfaktoren diese verfügen, die sie vor gewaltförmigen Kontexten schützen könnten. Denn Gewalt und Aggression Jugendlicher ist zu verstehen als ein dynamisches Zusammenspiel von Risiken und den ihnen entgegenstehenden Ressourcen (vgl. Petermann/Scheithauer/Niebank 2004). Der folgende Beitrag wird daher zunächst (I) einige Risiken der Gewaltanfälligkeit von Kindern und Jugendlichen benennen und diese auf jugendliche Migranten spezifizieren (vgl. Uslucan 2000), dann (II) die Ergebnisse einer Studie vorstellen, die den Zusammenhang von Erziehungsstilen und Gewaltbelastungen deutscher und türkischer Jugendlicher in einem multikulturellen Ort wie Berlin untersucht. Abschließend (III) wird auf einige Resilienzfaktoren eingegangen, die jugendliche Migranten vor Gewalt schützen bzw. sie in ihrer Entwicklung stärken können. In unseren Ausführungen werden wir vornehmlich fokussieren auf die Gruppe der türkischen MigrantInnen als größte ethnische Minderheit in Deutschland.

I

Risiken gewaltförmigen Handelns Jugendlicher mit Migrationshintergrund

Vorab ist anzumerken, dass die aufgeführten Gewaltrisiken keineswegs spezifisch für Jugendliche mit Migrationshintergrund sind, jedoch bei ihnen gehäufter vorkommen. Zur Bedeutung von Gewalterfahrungen, insbesondere in der frühen Kindheit, sei vorab angemerkt, dass sie in den meisten Fällen gravierende Beeinträchtigungen der Entwicklungsmöglichkeiten darstellen, auch wenn Betroffene nicht immer unmittelbar nach der Gewalteinwirkung auffällige Symptome zeigen. Deshalb kann die Intervention in diesem Bereich nie rechtzeitig genug geschehen. Dabei können die Risikofaktoren auf Seiten des Kindes – damit sind in erster Linie Aspekte angesprochen, durch die ein Kind mit höherer Wahrscheinlichkeit zum Opfer elterlicher Gewalt wird – folgende sein:

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RISIKEN UND RESSOURCEN IN DER SOZIALISATION VON JUGENDLICHEN







Temperament des Kindes: Unruhiges Verhalten kann bei Eltern aggressive Reaktionen provozieren und die Erziehungsarbeit erschweren. Alter und Gesundheit des Kindes: Entwicklungsbedingt haben jüngere Kinder eher Schwierigkeiten, ihre Emotionen zu regulieren, und werden eher Opfer von Gewalt, weil sie ihr Verhalten und die elterliche Reaktionen nicht antizipieren können. Ferner sind Kinder, die ihre Eltern durch ihre (chronische) Erkrankung oder durch belastendes Verhalten (Aggression, Einkoten, Einnässen etc.) in Stress versetzen, eher der Gefahr ausgesetzt, Opfer elterlicher Gewalt zu werden.

Als gewalterhöhende Risikofaktoren auf Seiten der Eltern sind u.a. zu nennen: •



1

2

Elternpersönlichkeit: Dieses Merkmal ist als der wichtigste Risikofaktor einer Kindesmisshandlung zu werten, denn misshandelnde Eltern haben häufig Schwierigkeiten der Impulskontrolle, ein niedriges Selbstwertgefühl und beschränkte Fähigkeiten zur Empathie, was die Interventionsarbeit erschwert, weil es sich hierbei um Persönlichkeitsmerkmale handelt, die nur relativ schwer in kurzen Zeiträumen veränderbar sind.1 Ein weiterer Risikofaktor liegt in der relativen Armut und einer geringen Bildungsstufe der Eltern. Gerade bei türkischen Migrationsfamilien ist dies besonders relevant: Zum einen ist bei ihnen die Arbeitslosigkeit, die in der Regel Armut und materielle Deprivation impliziert, mit gegenwärtig 20 bis 22% etwa doppelt so hoch wie in der westdeutschen Bevölkerung (vgl. Gaitanides 2001). Zum anderen verfügen türkische Elternteile, die im Zuge der Familienzusammenführung aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, vielfach nur über eine fünf- bis achtjährige Schulbildung.2 Erziehungspsychologische Längsschnittstudien zeigen, dass zu allen Messzeitpunkten die Schulbildung der Mutter den wichtigsten Prädiktor der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes bildet (vgl. Kruse 2001). Deshalb ist davon auszugehen, dass der Risikofaktor (Bildungs-) Armut bei türkischen Kindern und Jugendlichen in Deutschland stark wirksam ist. Zum besseren Verständnis unserer empirischen Daten ist jedoch hinzuzufügen, dass diese Befunde zu Elternrisiken weitestgehend der psychologischen Literatur entnommen sind und wir diese Persönlichkeitsmerkmale der Eltern nicht erhoben haben. Erst 1998 wurde die Schulpflicht in der Türkei auf acht Jahre angehoben. 155

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Junges Alter der Eltern: In der Forschung werden insbesondere jugendliche Mütter als Hochrisikogruppe eingeschätzt. Sie verfügen vielfach nur über eingeschränkte Erziehungs- und Pflegequalifikation. Im Vergleich mit älteren Müttern haben sie geringere Kenntnisse über das Entwicklungstempo der Kinder und über die Entwicklungsangemessenheit kindlicher Verhaltensweisen. Ferner neigen sie eher zu Erziehungseinstellungen, die Strafen bevorzugen, und sind im Umgang mit ihrem Säugling und Kleinkind weniger feinfühlig (vgl. Ziegenhain/Derksen/Dreisörner 2004). Gerade wenn Eltern selber noch Teenager und bedürftig sind, zugleich aber sensibel sein sollen für kindliche Bedürfnisse, fühlen sie sich von dieser Aufgabe häufig überfordert. Von früher Mutterschaft sind insbesondere Migrantinnen, und dabei vor allem türkische Mütter, deutlich häufiger betroffen. Nicht selten ist in Beratungs- und Therapiekontexten zu erleben, dass junge Frauen auch in Deutschland ländlichen Traditionen folgend mit knapp 18 Jahren geheiratet haben (oder verheiratet wurden) und im Alter von 20 bis 25 Jahren zwei und mehr Kinder zu versorgen haben. Bei der Beratung von Migranteneltern ist daher eine tiefergehende Aufklärung über die Risiken der Frühverheiratung und der frühen Schwangerschaften – sowohl für die Mutter wie für das Kind – vonnöten. Intergenerationale Transmission von Gewalt: Als ein weiterer bedeutsamer Risikofaktor ist die intergenerationale Transmission von Gewalt zu nennen. Im Einzelnen heißt das, dass Eltern, die selbst in ihrer Kindheit gehäuft Opfer von Gewalt waren, in der Erziehung ihrer eigenen Kinder eher geneigt sind, auch Gewalt auszuüben bzw. Gewalt als Normalität zu verstehen. Kinder, die in innerfamilialen Sozialisationsprozessen Gewaltanwendung durch Eltern erfahren, lernen dabei bestimmte Muster der Konfliktaustragung kennen. Ihnen wird als Vorbildrolle die Unfähigkeit vorgelebt, Konflikte zu akzeptieren bzw. sie auf eine deeskalierende Weise auszutragen. Herrenkohl/Herrenkohl/Toedter (1983) konnten zeigen, dass mehr als die Hälfte der aktiv gewalttätigen Eltern selbst in ihrer Kindheit Gewalt erlitten haben (vgl. auch Wetzels 1997). Insbesondere bei türkischen Müttern, die als Kinder der Gewalt beider Elternteile ausgesetzt waren, konnten wir das Gewalttransmissionsrisiko feststellen (vgl. Mayer/Fuhrer/Uslucan 2005). Dieses steigert sich noch, wenn die Mütter innerhalb der Partnerschaft selbst Gewalt erfahren. Demnach stellt also das höchste Gewaltrisiko für ein Kind eine reviktimisierte Mutter dar, d.h. eine Mutter, die sowohl als Kind als auch innerhalb der Partnerschaft Gewalt erfahren hat bzw. erfährt. Aus diesem Grund ist auch der Blick auf die Partner-

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schaftsgewalt relevant, um das Gewaltverhalten Jugendlicher zu verstehen.

II Gewaltbelastungen deutscher und türkischer Jugendlicher Um die Gewalt deutscher und türkischer Jugendlicher angemessen vergleichen zu können, gilt es, die Migrationsbelastungen zu berücksichtigen, die häufig mit geringeren Bildungschancen für jugendliche Migranten einher gehen. Die Prävalenz sowie die Entwicklung gewalttätigen Verhaltens sind nicht unabhängig vom Bildungshintergrund. So ist in der Forschung bereits mehrfach dokumentiert, dass gewalttätige Auseinandersetzungen häufiger in Hauptschulen auftreten und Gymnasien mit diesem Problem deutlich weniger konfrontiert sind (vgl. Babka von Gostomski 2003; Lösel/Bliesener/Averbeck 1999). Gleichzeitig ist eine deutlich stärkere Präsenz türkischer Jugendlicher in Hauptschulen zu verzeichnen (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2000). Dieser Aspekt fand in bisherigen, ethnische Gruppen in Deutschland vergleichenden Studien jedoch zu wenig Berücksichtigung (vgl. Heitmeyer et al. 1995; Popp 2000). Generell gilt Gewalt Jugendlicher als ein multifaktoriell bedingtes Problemverhalten, wobei die Forschung recht übereinstimmend die große Bedeutung familialer Einflussfaktoren identifiziert (vgl. Bierhoff/ Wagner 1998; Hawkins et al. 1998; Uslucan/Fuhrer/Rademacher 2003). Es wird davon ausgegangen, dass Jugendliche Gewaltverhalten in der Erziehung und Sozialisation lernen, da sie die Eltern als Vorbilder und primäre Modelle erleben und imitieren (vgl. Bandura 1979; Bussmann 1995; Straus 1990). Risikoerhöhend wirkt auf Kinder in Migrationsfamilien, dass bei ihnen in der Regel die intergenerative Transmission von Werthaltungen und erzieherischen Praktiken stärker ist als bei deutschen Familien; d.h. sie tendieren in der Fremde eher zu Beibehaltung und Fortführung familial vorgelebter Wirklichkeiten (vgl. Steinbach/Nauck 2005). Ferner ist hervorzuheben, dass Familien mit türkischem Migrationshintergrund durch die Erfahrung des Kulturwechsels, Ausgrenzungserfahrungen, möglicherweise enttäuschte Erwartungen und eingeschränkte Perspektiven Stressfaktoren ausgesetzt sind, die das Risiko gewaltförmiger Interaktionen erhöhen können (vgl. Pfeiffer/Wetzels 2000). Diese Erfahrungen betreffen insbesondere die Elterngeneration. So entsteht durch die Migration eine beständige Konfrontation mit dem Wertesystem der Aufnahmegesellschaft, die vielfach zu verstärkten Bemühungen 157

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um den Erhalt eigener kultureller Werte führt und Generationenkonflikte innerhalb der Familie verstärkt, weil Kinder und Jugendliche auf Grund ihrer Sozialisation in Deutschland sich deutlicher mit der »Kultur« bzw. den Verhaltensgeboten der Aufnahmegesellschaft verbunden fühlen als ihre Eltern (vgl. Garcia Coll/Magnuson 1997; Merkens 1997; Morgenroth/Merkens 1997). Kagitcibasi/Sunar (1997) zeigen, dass elterliche Überwachung und Kontrolle Jugendlicher in türkischen Familien von besonderer Bedeutung sind und dass für Familien in der Türkei Gehorsam ein Erziehungsziel darstellt, was vor allem bei veränderten Bedingungen im Migrationskontext auf ein höheres Konfliktpotenzial zwischen Eltern und Jugendlichen hindeutet. Deshalb ist auf Grund der deutlich prekären Lage von Migrationsfamilien davon auszugehen, dass türkische Jugendliche im Vergleich zu deutschen Jugendlichen ein höheres Ausmaß an physischer Gewalt durch die Eltern erfahren und deshalb selbst höhere Gewaltraten aufweisen. Zwar wird in der westlich geprägten erziehungspsychologischen Forschung (vgl. Baumrind 1991; Darling/Steinberg 1993) davon ausgegangen, dass ein autoritativer Erziehungsstil – damit ist eine hohe Zuwendung, Unterstützung, Wärme, hohe Selbständigkeit bei gleichzeitig hohen Forderungen an das Kind gemeint – sich optimal auf die Entwicklung des Kindes auswirkt, wohingegen ein autoritärer Erziehungsstil – also rigide Durchsetzung elterlicher Autorität, geringe Selbständigkeit und starke Kontrolle des Kindes – als eher ungünstig für die Entwicklung des Kindes betrachtet wird. Kulturpsychologische Studien zeigen jedoch, dass eine autoritative Erziehung in erster Linie für euroamerikanische Kinder den optimalen Erziehungsstil darstellt, nicht jedoch z.B für chinesische und andere Kinder mit Migrationshintergrund (vgl. Leyendecker 2003). Schneewind (2000) wies jüngst daraufhin, dass ein autoritärer Erziehungsstil unter bestimmten Umständen als durchaus funktional und sinnvoll zu betrachten ist, und zwar dann, wenn das Kind in einer entwicklungsgefährdenden bzw. delinquenzförderlichen Umwelt aufwächst, was in einigen Fällen für türkische Jugendliche zu vermuten ist. Bisherige Untersuchungen zu innerfamiliärer und jugendlicher Gewalt, insbesondere im deutsch-türkischen Vergleich, beschränken sich vornehmlich auf körperliche Gewalt und vermuten in ihr den wesentlichen Faktor der Fehlentwicklung von Jugendlichen (vgl. Pfeiffer/Wetzels 2000; Wetzels 1997). Welche Wirkungen physische und psychische Gewalt (in Form verbaler Verletzungen und Drohungen) zwischen den Eltern sowie in der Eltern-Kind-Beziehung im ethnischen Vergleich entfalten, wird selten analysiert.

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Vor diesem Hintergrund versuchen wir in der im Folgenden vorgestellten Studie, elterliche Gewalt und elterliches Erziehungsverhalten, die Jugendlichen als Modellverhalten dienen, als Bedingungsfaktoren jugendlicher Gewalt im interkulturellen Vergleich zu untersuchen. Folgende Fragen sollen beantwortet werden: 1) Welche Unterschiede lassen sich im konkreten Erziehungsverhalten türkischer und deutscher Eltern identifizieren? 2) Welche Unterschiede zeigen sich bei türkischen und deutschen Jugendlichen in der Wahrnehmung des elterlichen Erziehungsverhaltens? 3) Wie unterscheiden sich elterliche physische und psychische Gewalt zwischen türkischen und deutschen Familien? 4) Wie unterscheiden sich jugendliche physische und psychische Gewalt zwischen türkischen und deutschen Jugendlichen, wenn man die Schultypzugehörigkeit mit berücksichtigt?

Stichprobenbeschreibung An der Befragung im Sommer 2003 nahmen insgesamt 206 türkische und 236 Jugendliche deutscher Herkunft aus vier verschiedenen Bezirken Berlins teil. Von den türkischen Jugendlichen wurde die überwiegende Mehrheit in Deutschland geboren (88,2%). Zum Zeitpunkt der Befragung lebten 61,3% der Familien bereits seit mindestens 20 Jahren in Deutschland; rund 96% der Familien lebte bereits mindestens 10 Jahre in Deutschland. Von den türkischen Schülern besuchten rund ein Drittel das Gymnasium, 43% die Real- und ein Viertel die Hauptschule; bei den deutschen Schülern dagegen besuchten rund zwei Drittel das Gymnasium, etwa ein Siebtel die Real- und knapp ein Viertel die Hauptschule. Hinsichtlich des Geschlechts ware die Verteilung beider Stichproben annähernd gleich. Alle Jugendlichen besuchten zum Zeitpunkt der Befragung die 7. Klasse und waren im Durchschnitt 13,80 Jahre alt (SD = 0,68). Zusätzlich wurden 135 Mütter und 117 Väter türkischer Herkunft befragt; dabei beteiligten sich in 106 Fällen beide Elternteile. Bei den deutschen Familien nahmen 179 Mütter und 152 Väter an der Befragung teil, in 146 Fällen konnten beide Eltern befragt werden. Das Alter der deutschen Mütter variierte zwischen 29 und 61 Jahren (Durchschnitt 43,2 Jahre; SD = 5.35), das der türkischen Mütter zwischen 30 und 61 Jahren (Durchschnitt 38,2 Jahre; SD = 4.9). Die Altersspanne der deutschen Väter lag zwischen 28 und 66 Jahren bei einem Durchschnitt von 46 Jahren (SD = 6.94); die der türkischen Väter zwischen 34 bis 65 Jahren bei einem Durchschnitt von 41,9 Jahren (SD = 5.9). Deutliche Un159

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terschiede ließen sich im Hinblick auf den Bildungshintergrund der Eltern identifizieren: Die türkischen Eltern hatten bei den Vätern wie bei den Müttern deutlich niedrigere Bildungshintergründe, etwa verfügten knapp ein Drittel der befragten türkischen Mütter nur über einen Grundschulabschluss.

Deskriptive Ergebnisse Elterliches Erziehungsverhalten Die eingesetzten Erhebungsinstrumente umfassten elterliche Erziehungsstile, erlebte elterliche Gewalt, beobachtete Gewalt zwischen den Eltern und aktive wie passive physische Gewalterfahrungen der Jugendlichen. Alle Instrumente wurden bereits in der Voruntersuchung bei entsprechenden Jugendlichen deutscher und türkischer Herkunft in einem Gymnasium und einer Hauptschule in Berlin eingesetzt und hatten sich für die entsprechende Altersgruppe als verständlich erwiesen. Was die Erziehungsstile betrifft, so sind die folgenden Dimensionen erzieherischen Handelns ausgewertet worden: Aggressive Strenge der Eltern (Beispielitem: »Ich darf nichts anzweifeln, was meine Mutter sagt«), Unterstützung der Eltern (Beispielitem: »Wenn ich etwas erzähle, hört meine Mutter aufmerksam und gespannt zu«), Forderung der Eltern nach Verhaltensdisziplin (Beispielitem: »Meine Mutter verlangt immer, dass ich ruhig am Tisch sitze«) (vgl. Seitz/Götz 1979) sowie elterliche Inkonsistenz bei der Erziehung (Beispielitem: »Ich werde von meiner Mutter getadelt, ohne dass ich genau weiß, wofür«) (vgl. Krohne/Pulsack 1995). Die Reliabilitäten dieser Skalen, die zwischen acht und zwölf Items umfassen, variierten zwischen Cronbach’s Alpha = .73 und .85 und waren als relativ zuverlässig bzw. befriedigend zu betrachten. Von den Eltern erfahrene Gewalt (sieben Items) wurde mit der Conflict-TacticsScale (CTS) von Straus (1990) gemessen (Beispielitem: »Meine Eltern haben bei Streit oder Auseinandersetzungen mir eine runtergehauen«); hier betrugen die Reliabilitäten in beiden Gruppen zwischen Cronbach’s Alpha = .75 und .81 für die elterlich erlebte Gewalt. Das aktive wie passive Gewaltverhalten der Jugendlichen (je fünf Items) wurde mit dem Bully-Victim-Questionnaire von Olweus (1995) gemessen (Beispielitem: »Wie oft hast Du jemanden geschlagen/bist Du geschlagen worden?«); die Reliabilitäten betrugen hier bei beiden Jugendlichengruppen zwischen Cronbach’s Alpha = .70 und .81 und waren somit als recht zuverlässig zu werten.

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RISIKEN UND RESSOURCEN IN DER SOZIALISATION VON JUGENDLICHEN

Zunächst berichten wir von den Ausprägungen der oben genannten Erziehungsstile in den beiden Gruppen aus der Sicht der Eltern; d.h. es wird beschrieben, wie Eltern ihre eigene Erziehung hinsichtlich des befragten Kindes beschreiben. Für die Deutung der Daten ist dabei zu berücksichtigen, dass der Wert 1 = »nie« und 5 = »sehr oft« bedeutet. Tabelle 1: Elterliche Bewertung der eigenen Erziehung (Mittelwerte (M), Standardabweichungen (SD) und Korrelationen (r) zwischen den Elternteilen) Deutsche Eltern Mütter (M)

Väter (V)

Erzieherische

Türkische Eltern Mütter M-V

Väter

(M)

(V)

M-V

M

SD

M

SD

r

M

SD

M

SD

r

1.58

.44

1.57

.50

.41

1.74

.61

1.75

.63

.60

Unterstützung

4.25

.44

4.01

.53

.32

4.17

.67

3.90

.66

.56

Verhaltens-

2.68

.62

2.57

.59

.53

3.71

.77

3.47

.74

.53

1.75

.49

1.83

.58

.29

2.04

.62

2.06

.63

.52

Dimension Aggressive Strenge

disziplin Inkonsistenz

Hinsichtlich des Erziehungsstils »aggressive Strenge« zeigt sich, dass sich deutsche wie türkische Elternteile untereinander, d.h. deutsche Mütter und deutsche Väter einerseits und türkische Mütter und türkische Väter andererseits, relativ ähnlich sind, im ethnischen Vergleich fallen jedoch Unterschiede auf. Demnach sind sowohl türkische Mütter als auch türkische Väter strenger gegenüber ihren Kindern. Diese Differenzen sind sowohl bei den Müttern (t[353] = 2.93; p