Climate Justice vs. Klimaneoliberalismus?: Klimadiskurse im Spannungsfeld von Hegemonie und Gegen-Hegemonie [1. Aufl.] 9783839428061

The way that international climate policy develops is not exclusively the result of interstate negotiations. Leaning on

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Climate Justice vs. Klimaneoliberalismus?: Klimadiskurse im Spannungsfeld von Hegemonie und Gegen-Hegemonie [1. Aufl.]
 9783839428061

Table of contents :
Inhalt
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Vorwort
I. Einführung
TEIL A: GRUNDLAGEN
II. Theoretische Verortung
III. Zugrunde gelegte Begriffe der NGO und sozialen Bewegung
IV. Die Konstitution des Konfliktfelds
TEIL B: DIE EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG
V. Methodologie
VI. Ergebnisse der Interviewstudie
VII. Resümee und Fazit
VIII. Ausblick
Literatur- und Quellenverzeichnis
Vermerk über Vorab-Veröffentlichungen von Teilen der Studie
Summary
Index

Citation preview

Philip Bedall Climate Justice vs. Klimaneoliberalismus?

Sozialtheorie

2014-07-01 16-31-03 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d0370642121788|(S.

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4) TIT2806.p 370642121796

Philip Bedall (Dr. rer. pol.) ist Umwelt- und Politikwissenschaftler. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Diskurs- und Hegemonietheorie, (inter)nationale Klima- und Energiepolitik sowie NGOs und soziale Bewegungen. Neben seiner akademischen Beschäftigung mit dem Thema ist er auch selbst seit mehreren Jahren in der Klima- und Energiebewegung aktiv.

2014-07-01 16-31-03 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d0370642121788|(S.

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4) TIT2806.p 370642121796

Philip Bedall

Climate Justice vs. Klimaneoliberalismus? Klimadiskurse im Spannungsfeld von Hegemonie und Gegen-Hegemonie

2014-07-01 16-31-04 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d0370642121788|(S.

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4) TIT2806.p 370642121796

Kassel, Univ., Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Diss., Disputation 20. 11.2013, Urspr. Titel: Klimadiskurse – Kritik – Dekonstruktion: »Climate Justice« im Spannungsfeld von Hegemonie und Gegen-Hegemonie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Philip Bedall Umschlagabbildung: Philip Bedall, Proteste während des UN-Klimagipfels in Kopenhagen, 16. Dezember 2009, CC-BY-NC Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2806-7 PDF-ISBN 978-3-8394-2806-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-07-01 16-31-04 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d0370642121788|(S.

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4) TIT2806.p 370642121796

Inhalt Tabellen- und Abbildungsverzeichnis | vii Abkürzungsverzeichnis | ix Vorwort | xv I.

I.1 I.2 I.3 I.4

Einführung | 1

Einleitung | 1 Erkenntnisinteresse der Studie | 6 Forschungsstand | 11 Struktur der Studie | 18

TEIL A: GRUNDLAGEN II.

Theoretische Verortung | 23 II.1 Staatstheoretische Grundlagen – NGOs, soziale Bewegungen und Auseinandersetzungen um Hegemonie in der Global Climate Governance | 24 II.2 Diskurstheoretische Grundlagen – zur (Re-)Produktion von Hegemonie | 38 Passage | 65 III. Zugrunde gelegte Begriffe der NGO und sozialen Bewegung | 69

III.1 Begriffsverständnisse in der wissenschaftlichen Debatte | 71 III.2 Ein poststrukturalistischer Akteursbegriff: Organisation und gesellschaftspolitische Praxis als diskursive Artikulation | 87 III.3 Eingrenzung des mit der Studie in den Blick genommenen Akteursfeldes | 90 Passage | 92 IV. Die Konstitution des Konfliktfelds | 95

IV.1 Die Global Climate Governance – der Kontext der Untersuchung | 96 IV.2 Hegemonie in der Global Climate Governance | 118 IV.3 Gegen-Hegemonie in der Global Climate Governance | 132 IV.4 Die Post-Kyoto-Verhandlungen – Auseinandersetzung über die Erneuerung der neoliberalen Hegemonie | 190 Passage | 194

TEIL B: DIE EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG V.

Methodologie | 199 V.1 Vorüberlegungen zur Operationalisierung des poststrukturalistischen Theoriezugangs | 201 V.2 Die Operationalisierung poststrukturalistischer Diskurstheorie | 205 Passage | 221 VI. Ergebnisse der Interviewstudie | 223

VI.1 Von der hegemonialen Struktur des Einzeltexts zu diskursiven Mustern | 225 VI.2 Konturen konkurrierender Hegemonieprojekte und Diskurskoalitionen | 230 VI.3 Dekonstruktion der binären Struktur: Reformismus versus Revolution, Kritik versus Affirmation | 327 VI.4 Die Reartikulation des gegen-hegemonialen Projekts um »Climate Justice« im Untersuchungsmaterial | 330 Passage | 346 VII. Resümee und Fazit | 349

VII.1Zusammenfassung der Ergebnisse | 349 VII.2Kritische Reflexion des Forschungsansatzes | 359 VIII. Ausblick | 363 Literatur- und Quellenverzeichnis | 369

Literatur | 369 Liste der durchgeführten Interviews (teilweise anonymisiert) | 415 Vermerk über Vorab-Veröffentlichungen von Teilen des Bandes | 417 Summary | 421 Inhaltsverzeichnis (ausführlich) | 423 Index | 427 Online-Anhang (http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2806-7)

A.1 A.2 A.3 A.4 A.5

Tabelle zur kriteriengestützten Auswahl von Interviewpartner_innen Interviewleitfaden Transkripte der Interviews (teilweise anonymisiert) Stories und Syllogismen der Interviews Fallexzerpte zur hegemonialen Struktur der Interviews

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Abbildung 2 Abbildung 3 Abbildung 4 Abbildung 5 Abbildung 6 Abbildung 7 Abbildung 8 Abbildung 9 Abbildung 10 Abbildung 11 Abbildung 12 Abbildung 13 Abbildung 14

Zwei Konzeptionen der Zivilgesellschaft | 29 Der Diskurs als Signifikationssystem | 44 Zwei Betrachtungsebenen der Analyse | 59 Klassifizierung von Hegemonieprojekten in Auseinandersetzungen um Hegemonie | 61 Klassifizierung von Forderungen in Auseinandersetzungen um Hegemonie | 63 Idealtypische Charakteristika des hegemonialen Projekts | 129 Idealtypische Charakteristika des Hegemonieprojekts um »Climate Justice« | 187 Zum Verhältnis von Transkripten, Stories und Syllogismen, Fallexzerpten und Hegemonieprojekten | 220 Idealtypische Charakteristika des Hegemonieprojekts des »Umweltmanagements« | 250 Idealtypische Charakteristika des Hegemonieprojekts des »Paradigmenwechsels« | 279 Die Tiefe von Kritik – Artikulation und Anfechtung einer eindimensionalen Problemwahrnehmung im Untersuchungsmaterial | 332 Die Tiefe von Kritik – Artikulation und Anfechtung ökonomischen Wachstums im Untersuchungsmaterial | 333 Die Tiefe von Kritik – Artikulation und Anfechtung der Marktlogik im Untersuchungsmaterial | 335 Heterogenität (affirmativ / kritisch) der in Narrativen artikulierten Forderungen | 357

VIII

| TABELLEN - UND A BBILDUNGSVERZEICHNIS

Box 1 Box 2 Box 3 Box 4 Box 5 Box 6 Box 7 Box 8 Box 9 Box 10 Box 11 Box 12 Box 13 Box 14 Box 15 Box 16 Box 17 Box 18 Box 19

Grundsätzliche Charakteristika des Neoliberalismus | 121 Kategorien zur thematischen Kodierung – Längs- und Querauswertung | 218 Das Narrativ des »Hopenhagen«-Interviews | 242 Das Narrativ des »350.org«-Interviews | 262 Das Narrativ des »CAN International«-Interviews | 264 Das Narrativ des »Global Footprint Network«-Interviews | 266 Das Narrativ des »Greenpeace International«-Interviews | 268 Das Narrativ des »Wetlands International«-Interviews | 270 Das Narrativ des »WWF International«-Interviews | 272 Das Narrativ des »CIDSE«-Interviews | 288 Das Narrativ des »GROOTS«-Interviews | 290 Das Narrativ des »Oxfam International«-Interviews | 292 Das Narrativ des »World Council of Churches«-Interviews | 294 Das Narrativ des »Focus on the Global South«-Interviews | 312 Das Narrativ des »GenderCC«-Interviews | 314 Das Narrativ des »Global Justice Ecology Project«-Interviews | 316 Das Narrativ des »International Youth Climate Movement«Interviews | 318 Das Narrativ des »Klima-Bündnis«-Interviews | 320 Das Narrativ des »People’s Movement on Climate Change«Interviews | 322

Tabelle 1 Tabelle 2 Tabelle 3 Tabelle 4 Tabelle 5 Tabelle 6

Das Erkenntnisinteresse der Studie | 10 Neue Soziale Bewegungen (NSB) und NGOs | 83 Beobachterorganisationen im UNFCCC-Prozess | 113 Kriterien zur Eingrenzung des Untersuchungsfeldes | 211 Struktur des Interviewleitfadens | 213 Symbolische Repräsentanten des ‚Glückseligmachenden‘ und des ‚Grauens‘ in den Einzeltexten der Interviews | 228

Abkürzungsverzeichnis

ALBA AOSIS Art. AWG-KP

AWG-LCA

BRD bspw. bzgl. bzw. CAN CDM CIDSE CJA CJN! CO2 COP CCS ebd. EU ET ETS f. ff.

Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika (Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América) Allianz der kleinen Inselstaaten (Alliance of Small Island States) Artikel Ad hoc-Arbeitsgruppe zur Vereinbarung zukünftiger Verpflichtungen unter dem Kyoto-Protokoll (Ad Hoc Working Group on Further Commitments for Annex I Parties under the Kyoto Protocol) Ad hoc-Arbeitsgruppe über langfristige Kooperation im Rahmen der Konvention (Ad Hoc Working Group on Long-term Cooperative Action under the Convention) Bundesrepublik Deutschland beispielsweise bezüglich beziehungsweise Climate Action Network Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (Clean Development Mechanism) Cooperation International pour le Development et la Solidarité Climate Justice Action Network Climate Justice Now! Network Kohlendioxid Vertragsstaatenkonferenz (Conference of the Parties) Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (Carbon Capture and Storage) ebenda Europäische Union Emissionshandel (Emissions Trading) Emissionshandelssystem (Emission Trading System) folgende fortfolgende

X

| ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS FCCC Fn. G8 GFN GHG GJEP GP GROOTS Hg. Hvb. JI IPCC INC

insb. IPÖ Kap. K!BN NGO NTAC OECD

OPEC PMCC PPCC ppm s.a. sog. s.u. THG

Klimarahmenkonvention (Framework Convention on Climate Change) Fußnote Gruppe der Acht (größten Industrienationen der Welt) Global Footprint Network Treibhausgas (greenhouse gas) Global Justice Ecology Project Greenpeace Grassroots Organisations Operating together in Sisterhood Herausgeber_in / Herausgeber_innen Hervorhebung Gemeinsame Umsetzung (Joint Implementation) Zwischenstaatlicher Ausschuss über Klimaveränderungen (Intergovernmental Panel on Climate Change) Internationaler Verhandlungsausschuss für eine Klimarahmenkonvention (International Negotiating Committee for a FCCC) insbesondere Internationale Politische Ökonomie (der neo-gramscianischen Ausprägung) Kapitel Klima!Bewegungsnetzwerk Nichtregierungsorganisation (Non-Governmental Organisation) Never Trust a COP Network Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Cooperation and Development) Organisation der Erdöl exportierenden Länder (Organisation of the Petroleum Exporting Countries) Peoples’ Movement on Climate Change People’s Protocol on Climate Change Teile von einer Million (parts per million) siehe auch sogenannte siehe unten Treibhausgas

A BKÜRZUNGSVERZEICHNIS

TSMO UN UNCED UNEP UNFCCC

USA usw. vgl. WCC WMO WTO WWF

| XI

Transnationale soziale Bewegungsorganisation (Transnational Social Movement Organization) Vereinte Nationen (United Nations) Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (United Nations Conference on Environment and Development) Umweltprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Environment Programme) Rahmenkonvention der Vereinten Nationen über Klimaveränderungen (United Nations Framework Convention on Climate Change) Vereinigte Staaten von Amerika (United States of America) und so weiter vergleiche World Council of Churches Weltorganisation für Meteorologie (World Meteorological Organisation) Welthandelsorganisation (World Trade Organisation) World Wide Fund for Nature

When I say “climate,” you say “justice”! Climate! Justice! Climate! Justice! When I say “reclaim,” you say “power”! Reclaim! Power! Reclaim! Power! (Proteste während der UNFCCC-Verhandlungen, Kopenhagen, 16. Dezember 2009)

Vorwort

Die Studie in der vorliegenden Form muss als zeithistorisches Dokument begriffen werden. Dass es zu ihr kam, aber auch dass sie sich darstellt, wie sie sich darstellt, ist keineswegs Zufall, keineswegs beliebig: Ohne die Konjunktur des Klimathemas ab dem Jahr 2006 beispielsweise – in Erinnerung gerufen seien der Report des britischen Ökonomen Sir Nicholas Stern zu den ökonomischen Kosten des Klimawandels (STERN 2006), der Friedens-Nobelpreis an den Weltklimarat IPCC und Al Gore und der G8 Gipfel in Heiligendamm, der das Klimathema aufgriff – wäre es wohl nicht zur Entstehung der Protestform der Klimacamps gekommen. Ohne die Klimacamps, die ab dem Jahr 2008 auch ihren Weg in die BRD fanden, hätte es eine vergleichbare Politisierung zahlreicher Menschen – mich eingeschlossen – hinsichtlich des Klimathemas kaum gegeben. Und ohne diese Politisierung hätte ich mich wohl kaum intensiver mit dem Thema Klimawandel und globale Gerechtigkeit auseinandergesetzt, mich innerhalb bewegungspolitischer Zusammenhänge wie dem deutschsprachigen Klima!Bewegungsnetzwerk, der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) und dem transnationalen Zusammenhang Climate Justice Action (CJA) engagiert und in der Folge dazu entschlossen eine Dissertation in diesem Themenfeld in Angriff zu nehmen. Nein, die Genese der Studie ist kein Zufall. Die Motivation für die Studie muss – um es in der diskurstheoretischen Terminologie der Studie auszudrücken – als das kontingente Ergebnis einer räumlich-zeitlich spezifischen Diskursorganisation begriffen werden. Es ist eine Reihe konkreter Bedingungen, die die Studie erst ermöglichten. Herzlich danken möchte ich in diesem Zusammenhang Achim Brunnengräber (Freie Universität Berlin) und Christoph Görg (Universität Kassel und UFZ Leipzig) für die gemeinsame Betreuung der Studie. Ihr kritisches Feedback hat an zahlreichen Stellen zur Schärfung beigetragen. Friederike Habermann, Timmo Krüger und Joscha Wullweber danke ich für die vielen Diskussionen, ohne die sich so mancher Knoten im Forschungsprozess sicher nicht gelöst hätte. Für das theoretische und methodische Fundament der Studie waren sie eine unerlässliche Inspirationsquelle. Danken möchte ich auch Christoph

XVI

| VORWORT

Scherrer für die Möglichkeit der Teilnahme am Promotionskolloquium des Fachgebiets »Globalisierung und Politik« der Universität Kassel. Das Kolloquium und die Treffen des Netzwerks »Diskurs- und Hegemonietheorien«1 wie auch die Sommerschulen zu Politischer Ökologie in Wietow 2011 und 2013 – ausgerichtet von Sybille Bauriedl, Ulrich Brand, Achim Brunnengräber, Kristina Dietz, Christoph Görg und Markus Wissen – boten Kontexte für einen kontinuierlichen Austausch und trugen zu einer Erweiterung des theoretischen, methodischen und empirischen Horizonts bei, von dem die Studie immer wieder profitiert hat. Mein Vater Karlheinz Bedall wirkte unermüdlich und gründlich an der kritischen Durchsicht der Studie und der Korrektur formaler Fehler – dafür ein großer Dank. Eine von finanziellen Nöten unbelastete Konzentration auf den Forschungs- und Schreibprozess ermöglichte mir die Unterstützung durch ein Promotions-Stipendium. Herzlich danken möchte ich dafür Ingeborg Maschmann und ihrer Stiftung. Nicht denkbar wäre die vorliegende Studie in vielerlei Hinsicht ohne die Solidarität meiner Eltern, Gisela Röck-Bedall und Karlheinz Bedall, ohne ihre kontinuierliche Bestärkung bei der Promotion, ihre Unterstützung darüber hinaus und ihr allzeit entgegengebrachtes Vertrauen. Danke! Ebenso wie die Genese der Studie, wie skizziert wurde, nicht zufällig ist, so ist zugleich ihre hier vorliegende Gestalt eine spezifische. Es sind eigene ethischnormative Positionierungen, die die Gestalt der Studie und ebenso den ihr zugrunde liegenden Forschungsprozess (mit)prägen. Eine transparente Forschung erfordert eine Selbstverortung des Forschenden, d.h. im gegebenen Fall eine Verortung im umkämpften klimapolitischen Konfliktfeld. Konstitutiv für meine ethisch-normativen Positionierungen (auf die in Kapitel I.1 im Weiteren eingegangen wird) ist sicherlich auch meine Einbindung in bewegungspolitische Zusammenhänge (in Klima!Bewegungsnetzwerk, BUKO und CJA) bzw. deren spezifische Art und Weise, den Themenkomplex Klimawandel zu behandeln – d.h. der dort vorangetriebene Diskurs. Grundsätzlich ist es die Subjektposition der Autor_in2, die die analytische Perspektive einer Studie prägt – in meinem Fall eine im herrschaftlich geprägten globalen Nord-Süd-Verhältnis privilegierte Position. Wenn ich in der vorliegenden Stu1

Hervorgegangen aus diesem Netzwerk ist der Sammelband von Dzudzek et al. (2012)

2

Die vorliegende Arbeit verwendet den sogenannten Gender_Gap als Mittel zur nicht-

mit dem Titel »Diskurs und Hegemonie – Gesellschaftskritische Perspektiven«. diskriminierenden sprachlichen Darstellung aller Geschlechtlichkeiten, auch jener die vom binären Geschlechtersystem »Mann / Frau« abweichen und in der im Deutschen hegemonialen Schreibweise ausgeschlossen oder vereinnahmt werden. Der Unterstrich in Autor_in, Leser_in, Aktivist_in, oder Wissenschaftler_in (usw.) repräsentiert den Platz, „den unsere Sprache nicht zulässt“ und stellt in diesem Sinne die „Verräumlichung des Unsichtbaren“ dar (S_HE 2003).

V ORWORT

| XVII

die dem in Diskursen Entnannten nachspüre – dem »Kritischen« – laufe ich als männlich, weißer Akademiker aus dem globalen Norden (etc.) Gefahr, dem vorherrschenden (hegemonialen) Diskurs verhaftet zu bleiben. Auch wenn ich die Verantwortung ernst nehme und es mir gar gelänge, mich meiner blinden Flecken zu entledigen (was zu beurteilen anderen zusteht), kann das im hegemonialen Diskurs Entnannte nicht in vollem Umfang rekonstruiert, d.h. sichtbar gemacht werden. Nicht gehört (und damit in der Studie rekonstruiert) werden können die Deutungen der vollständig außerhalb des hegemonialen Diskurses Stehenden – „[t]he subaltern cannot speak“ (SPIVAK 1994: 104). Anders ausgedrückt: Die vorliegende Studie kann keine Studie sein, die für die Subalternen spricht, sondern sie erwächst aus dem hegemonialen Diskurs. Wenn jedoch mit der Hegemonie Entnanntes sichtbar wird, verschieben sich Positionen, verschiebt sich der Diskurs. Dies ist eine Bedingung für die Artikulation subalterner Identitäten und Deutungen und schlussendlich die Überwindung von Unterdrückung. Mit der vorliegenden Studie hoffe ich hierzu einen Beitrag zu leisten. Entlang der erfolgten Darstellungen wäre es unzutreffend zu behaupten, Autor_innen seien Subjekte, die Texte außerhalb des Diskurses hervorbringen (vgl. auch FOUCAULT 1988). Wie skizziert wurde, kann die Gestalt der vorliegenden Studie und ihre Genese keineswegs als beliebig verstanden werden. Zugleich ist beides jedoch nicht das Ergebnis des notwendigen Laufs der Welt, in der ein Ereignis ein anderes und dieses ein weiteres (usf.) determiniert – beispielsweise die Folge des Flügelschlags eines Schmetterlings auf dem ersten britischen Klimacamp, im Jahr 2006 an der Drax Power Station (Großbritannien). Die Autor_in – bzw. allgemeiner das Subjekt – behält grundsätzlich die Autonomie, Entscheidungen im Kontext des kontingenten Sozialen zu treffen. In diesem Sinne hätte es also nicht zu der vorliegenden Studie kommen müssen bzw. hätte sich diese anders entwickeln können – jedoch dies eben in einem spezifischen diskursiven Kontext, dem Zwang des Diskurses. Unzählig waren die Wegkreuzungen, an denen Entscheidungen getroffen werden mussten – Entscheidungen unter spezifischen Möglichkeits- bzw. Unmöglichkeitsbedingungen, von denen einige oben erwähnt wurden. In diesem Sinne liegt die Verantwortung für mögliche Fehler und Unschärfen in der Studie trotz allem alleine bei mir. Berlin, im April 2014

I. Einführung

I.1 E INLEITUNG Das Reale / Nichtidentische:

Klima-

Das Soziale (Deutung):

wandel

Das Politische:

findet statt!

Das Initial der vorliegenden Studie ist eine politische Setzung. Das Klima, ein Erdbeben oder der Tod sind erfahrbar. Die Deutung dieser Erfahrung ist vielgestaltig. Das Erdbeben: ein Naturphänomen oder ein Zeichen Gottes? Der Tod: endgültig, der Beginn des ewigen Lebens oder der Wiedergeburt? Das Klima: ohne Schwankung, natürlich im Wandel oder durch Menschen aus dem Gleichgewicht gebracht? Hier wird davon ausgegangen, dass keine absoluten Aussagen getroffen werden können über die Ursachen oder die Qualität des der Deutung vorausliegenden Objekts der Erfahrung. Welche Deutung als plausibel begriffen wird, verbleibt politisch. Die Setzung: Der Klimawandel findet statt! Er ist menschengemacht. Diese Deutung wird hier als plausibel(er als andere) begriffen. Eine zunehmende Konzentration bestimmter Gase (insbesondere CO2) in der Atmosphäre erhöht die Albedo der Atmosphäre und damit deren durchschnittliche Temperatur – der Treibhauseffekt (ARRHENIUS 1896). Mit der (kapitalistischen) Industrialisierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts kommt es zu einem drastischen Anstieg der Emission von Gasen, die den Treibhauseffekt bewirken (ETHERIDGE ET AL. 1996; JANSEN ET AL. 2007: 466ff.) und der noch immer andauert (NOAA 2013). Sehr plausibel scheint es, dass „der größte Anteil des seit Mitte des 20. Jahrhunderts beobachteten Anstieges der globalen Durchschnittstemperaturen […] auf die beobachtete Zunahme der anthropogenen THG-Konzentrationen zurückzuführen ist“ (IPCC 2007).3 Die Betroffen-

3

Oreskes (2004) kommt in der Zeitschrift Science nach einer Auswertung von 928 Abstracts von Artikeln wichtiger Fachzeitschriften aus dem Zeitraum 1993 bis 2003 (die in

2

| I. E INFÜHRUNG

heit durch die Klimaveränderungen variiert ebenso wie deren Verursachung aus einer globalen Nord-Süd-Perspektive erheblich. Der globalen Norden4 trägt die historische Verantwortung hinsichtlich des Großteils bislang emittierter Treibhausgase, während der globale Süden Folgen des Klimawandels in erhöhtem Maße ausgesetzt ist und in geringerem Maße über Anpassungskapazitäten verfügt (PARRY ET AL. 2007; CARDONA ET AL. 2012; LAVELL ET AL. 2012: 33). Der Klimawandel wird hier vor diesem Hintergrund als Ausdruck einer Krise des Sozialen begriffen – einer Krise der Struktur sedimentierter und routinierter Praktiken. Auch wenn der umkämpfte politische Ursprung der Praktiken unsichtbar geworden ist, so repräsentiert das Soziale aufgrund der ihm innewohnenden ‚politischen Geschichte‘ ein spezifisches Verhältnis zwischen sozialen Kräften. Der Klimawandel kann insofern als Ergebnis der herrschaftlichen Prägung der Weltgesellschaft verstanden werden. Auseinandersetzungen um das Soziale, d.h. darum, welche Praktiken sich sedimentieren und routinieren, werden nicht ausschließlich an Verhandlungstischen der Politik geführt. Beteiligt ist vielmehr eine Vielzahl von Akteuren, die zahlreiche Problemwahrnehmungen, Forderungen und Handlungspraktiken artikulieren5, die um ihre Verallgemeinerung konkurrieren. Es ist dieses Terrain der Zivilgesellschaft, auf dem sich – um hier an die Überlegungen des italienischen Philosophen und Politikers Antonio Gramsci anzuschließen – als Ergebnis von Auseinandersetzungen eine Balance von Kompromissen einstellt: ein hegemonialer Konsens, beispielsweise darüber, wie produziert wird oder welcher Lebensstil den Alltag bestimmt. In der Zivilgesellschaft – als Ensemble von Verhältnissen und Praxen – entscheidet sich, was Hegemonie erlangt bzw. was marginalisiert wird.6 Die sich der ISI-Datenbank unter dem Stichwort „global climate change“ aufgelistet werden) zum Ergebnis, dass es darin keinen einzigen Widerspruch zu dieser bereits 2001 vom IPCC gemachten Aussage gibt. 75% der Wissenschaftler stimmen mit dem IPCC, der National Academy of Sciences und anderen wissenschaftlichen Organisationen überein und vertreten überwiegend im- und explizit die Position, dass es einen Einfluss menschlicher Aktivitäten auf das Klima gibt. 4

Die Begriffe des globalen Nordens bzw. globalen Südens dienen im Folgenden nicht der ausschließlich geografischen Differenzierung. Vielmehr wird mit ihnen auf vielfältige Herrschaftsverhältnissen hingewiesen, die nicht nur geographisch wirken, sondern ebenso innerhalb von Gesellschaften des Norden bzw. Südens (bspw. entlang der Herrschaftskategorien von class, race und gender).

5

Als Artikulation wird hier jeder Akt der Generierung von Bedeutung – sei er auf textlich-sprachlicher oder handlungspraktischer Ebene – verstanden. Zum Begriff der Artikulation vgl. im Weiteren Seite 41 und 53.

6

Auch mit Gramsci wird die Bedeutung der Verhandlungen innerhalb staatlicher Institutionen (der politischen Gesellschaft) hinsichtlich der Hegemoniebildung nicht negiert.

I.1 E INLEITUNG

|3

herausbildende Hegemonie7 ist insofern nicht-intendiert, dennoch sichert sie spezifische Herrschaftsverhältnisse ab. Die Zivilgesellschaft ist also das Terrain der Reproduktion und zugleich der Anfechtung von Hegemonie. In der Zivilgesellschaft werden einerseits hegemoniale Verhältnisse (re-)produziert. Andererseits ist die Zivilgesellschaft ebenso das Terrain, auf dem die Artikulation von Kritik möglich wird und sich alternative – »gegen-hegemoniale«8 – Projekte herausbilden. „Ein Hegemonieverständnis im Sinne Gramscis impliziert, dass alternative Strategien, d.h. »gegen-hegemoniale« Projekte zwar innerhalb der Zivilgesellschaft entstehen können, aber nie durch die Zivilgesellschaft als Ganzes. Denn wenn unter Zivilgesellschaft in Anlehnung an Gramsci die sich herausbildende, reproduzierende bürgerliche Hegemonie über Medien, Verbände, Bildungsinstitutionen, Familie etc. verstanden wird, dann sind in ihr alle Konflikte und Ungleichheitsmuster der Gesellschaft präsent: klassen- und geschlechterförmige sowie ethnische Ausgrenzung, unterschiedliche Nutzung von Ressourcen, verschiedene Wertorientierungen etc. Außerdem bleibt der Bereich privater Produktion ein zentrales Terrain sozialer Auseinandersetzungen. Gegen-Hegemonie bildet sich also zunächst und notwendig in kleinen Bereichen der Zivilgesellschaft aus, nicht in deren mächtigsten Apparaten.“ (BRAND 2005: 10)

Auch in der Global Climate Governance9 zielt eine Vielzahl von Akteuren innerhalb multipler Arenen und auf verschiedenen räumlich-politischen Ebenen darauf, Gramscis Unterscheidung von politischer und ziviler Gesellschaft verbleibt schlussendlich mehr eine methodische als eine organische (GRAMSCI 1991ff.: 1566, vgl. auch 498f.). Auch die staatlichen Institutionen sind durch Elemente der Konsensgenerierung gekennzeichnet, bzw. auch die Zivilgesellschaft ist von Zwängen, wie bspw. Konventionen, geprägt. Vgl. zum Begriff der Zivilgesellschaft auch Kapitel II.1.1 ab Seite 24. 7

Zum Begriff der Hegemonie vgl. im Weiteren Seite 25 und Kapitel II.2.4.

8

Unter »gegen-hegemonialen« Projekten sollen hier zunächst Muster von Deutung verstanden werden, die mit der hegemonialen Deutung um Wirkmächtigkeit – ihre gesellschaftliche Verallgemeinerung – konkurrieren. Wie »gegen-hegemoniale« Projekte bzw. Forderungen konzeptionell begriffen werden, wird in Kapitel II.2.5 konkretisiert.

9

Der Begriff der Governance wird hier nicht normativ verstanden, im Sinne der notwendigen Reaktion auf die Globalisierung. Er hebt hingegen in einem empirischanalytischen Sinne die Transformation von Staatlichkeit im Zuge der Globalisierung (des Kapitalismus) seit Anfang der 1970er Jahre hervor – d.h. einen Prozess der Entstaatlichung bzw. Privatisierung von Politik auf allen räumlich-politischen Maßstabsebenen. Während mit dem Begriff der internationalen Klimapolitik das Regierungshandeln in einem abgrenzbaren Politikfeld und die sich hier herausbildende institutionelle Bearbeitung des Klimawandels gefasst wird, rückt der Begriff der Global Climate Go-

4

| I. E INFÜHRUNG

ihrer Deutung (bzw. ihren Handlungspraktiken) des Klimawandels und dessen politischer Bearbeitung zu Allgemeingültigkeit zu verhelfen. Was als klimapolitisch adäquat oder legitim angesehen wird, darüber bildet sich in der Zivilgesellschaft ein hegemonialer Konsens heraus. Die vorliegende Studie richtet ihren Blick auf entsprechende Prozesse der Hegemoniebildung auf einem verstärkt politisierten Terrain. Ausgangspunkt der Studie sind die ab 2005 in der Global Climate Governance zunehmend auszumachenden Auseinandersetzungen um Hegemonie. Bis zu diesem Zeitpunkt hat sich in der Global Climate Governance mit den flexiblen Mechanismen des Kyoto-Protokolls (Emissionshandel, Clean Development Mechanism und Joint Implementation) ein zentraler Stellenwert von Wettbewerb und wirtschaftlichem Wachstum manifestiert. Die »Neoliberalisierung des Klimas« ist hegemonial geworden (vgl. im Weiteren Kap. IV.2). Ursächlich für die Politisierung ab Mitte der 2000er Jahre ist einerseits eine über das Politikfeld Klima hinaus zunehmend in Erscheinung tretende multiple Krise – die Wirtschafts- und Finanzkrise, die ökologische Krise, soziale Ungleichheit – sowie andererseits die Debatte um ein Nachfolgeabkommen für das auf das Jahr 2012 befristete Kyoto-Protokoll. Die Kopenhagener Klimakonferenz im Jahr 2009 (vgl. GIBSON 2012b) muss als bedeutender ‚peak‘ der Kämpfe um Hegemonie in der Global Climate Governance verstanden werden, vielleicht gar als ‚Klimax‘. Im Vorfeld wurde der Konferenz eine zentrale Bedeutung für die zukünftige Bearbeitung des Klimakonflikts zugemessen. Hier sollte über die Gestalt einer über das Jahr 2012 hinausgehenden internationalen Klimapolitik verhandelt werden. Die sog. ‚Bali-Road-Map‘, eine im Kontext der Klimakonferenz in Bali 2007 beschlossene Zielvereinbarung, sah die Verabschiedung eines Kyoto-Nachfolgeabkommens vor. Die sich ab 2005 verstärkenden Auseinandersetzungen um Hegemonie kennzeichnen die Global Climate Governance jedoch bereits seit deren Genese. Im Feld transnationaler Nicht-Regierungsorganisationen (Non-Governmental Organisations – NGOs) und sozialer Bewegungen sind es ab Ende der 1990er Jahre insbesondere Akteure aus dem globalem Süden, die eine zum Mainstream der umwelt- und entwicklungspolitischen NGOs konträre Position entwickeln. Oftmals ist es die Forderung nach Climate Justice, die diesen kritischen sozialen Kräften als ein gemeinsavernance die Bedeutung nicht-staatlicher Akteure in den klimapolitischen Entscheidungsprozessen auf verschiedenen miteinander verschränkten räumlich-politischen Maßstabsebenen in den Blick. Der Begriff bündelt in diesem Sinne drei Aspekte: die Akteursvielfalt, die Interdependenzen zwischen Politikfeldern sowie zwischen räumlichen Maßstabsebenen (BRUNNENGRÄBER 2009: 20). Insbesondere der erste Aspekt ist für die vorliegende Arbeit von Bedeutung, wenn sie politische Auseinandersetzungen in der Zivilgesellschaft in den Blick nimmt. (Zum Begriff der Governance bzw. der Global Climate Governance vgl. im Weiteren Seite 30 und 36.)

I.1 E INLEITUNG

|5

mer Bezugspunkt dient. – Hinter Climate Justice steht zunächst die Feststellung, dass die Menschen, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind und sein werden, diejenigen sind, die am wenigsten zu seiner Verursachung beigetragen haben.10 Die Forderung verbindet eine Vielfalt getrennt voneinander existierender Kämpfe: Kleinbäuer_innen, die Ernährungssouveränität einfordern, Aktivist_innen des Südens, die für die Anerkennung der historischen Klimaschuld(en) der Industrieländer streiten, oder indigene Gemeinschaften, die sich gegen Kohle- oder Uran-Abbau wenden. Zusammen mit der Forderung nach Climate Justice werden wiederkehrend bestimmte Positionen artikuliert: sei es die grundsätzliche Ablehnung von Marktmechanismen, die Forderung an die industrialisierten Länder, ihrer moralischen und historischen Verantwortung gerecht zu werden, oder die Forderung nach einer Abkehr von fossilen Ressourcen. – Es ist die Forderung nach Climate Justice, mit der verknüpft sich ab dem Jahr 2000 eine »gegen-hegemoniale« Programmatik herauszuzubilden scheint. Der Kontext der Politisierung der Global Climate Governance ab 2005 ist es, der eine wirkmächtige Anfechtung der etablierten Hegemonie denkbar macht.

10

Die Forderung nach Climate Justice knüpft damit an die Forderung nach Environmental Justice an (vgl. GOODMAN 2009: 504ff.; ROBERTS & PARKS 2009; DAWSON 2010). In Nordamerika hebt ab Anfang der 1980er Jahre die sog. Environmental-Justice-Bewegung die ungleiche Betroffenheit von people of color von Umwelteinwirkungen hervor.

6

| I. E INFÜHRUNG

I.2 E RKENNTNISINTERESSE

DER

S TUDIE

Die vorliegende Studie fokussiert die »gegen-hegemonialen« Tendenzen in der Global Climate Governance. Hinsichtlich einer möglichen Anfechtung der Hegemonie des Neoliberalismus ist – wie dargestellt wurde – neben dem Staat im ‚engeren Sinne‘ ein Blick auf das Feld von NGOs und sozialen Bewegungen von Interesse. Hier könnte sich, wie bereits angedeutet, mit der »Climate Justice«-Programmatik ein »gegen-hegemoniales« Projekt formiert haben. Für eine weitergehende Begründung dieser These – bzw. andernfalls, um sie zu verwerfen – bedarf es zunächst einer hegemonietheoretischen Analyse der »Climate Justice«-Programmatik im hegemonialen Konfliktfeld der Global Climate Governance. Gefragt wird in der Studie insofern erstens danach, ob sich im Vorfeld der Kopenhagener Verhandlungen verknüpft mit der Forderung nach Climate Justice ein gegen-hegemoniales Projekt herausgebildet hat. Im Zusammenhang mit den Verhandlungen um eine institutionelle Bearbeitung des Klimawandels unter dem Dach der Vereinten Nationen ‚post-2012‘ kommt es, dies wird in der vorliegenden Studie noch ausführlicher dargestellt (vgl. Kap. IV.4), zu verstärkten Auseinandersetzungen um Hegemonie. »Gegen-hegemoniale« Projekte bilden sich – um Ulrich Brands Einschätzung (siehe oben Seite 3) aufzugreifen – „zunächst und notwendig“ in einem kleinen Bereich der Zivilgesellschaft aus (BRAND 2005: 10). Die »Climate Justice«-Programmatik wird durch spezifische transnationale NGOs und soziale Bewegungen der auf die internationalen Klimaverhandlungen Bezug nehmenden umwelt- und entwicklungspolitischen Community vorangetrieben. Dieser Community kommt auf dem Terrain der Zivilgesellschaft bei den sozialen Auseinandersetzungen um internationale Umweltabkommen eine wichtige Rolle zu (vgl. bspw. ARTS 1998; BRAND 2000; BRÜHL 2003). Welche Forderungen unter den NGOs und sozialen Bewegungen Hegemonie erlangen bzw. welche marginalisiert werden, ist für das sich in der Global Climate Governance herausbildende Kräfteverhältnis von Bedeutung. Vor diesem Hintergrund stellt die vorliegende Studie als zweite Forschungsfrage die danach, ob es im Kontext der Kopenhagener Vertragsstaatenkonferenz der UN-Klimarahmenkonvention (COP – Conference of the Parties) zu einer Verbreitung des kritischen Gehalts der »Climate Justice«-Programmatik auf dem Terrain der Zivilgesellschaft (insbesondere im Akteursspektrum der transnationalen NGOs und sozialen Bewegungen) kommt. Damit wird auf Erkenntnisse dazu abgezielt, ob die kritische Programmatik um »Climate Justice« die gesellschaftspolitische Praxis des Mainstreams dieser Community prägt. Ausgehend vom empirischen Gegenstand und seiner Problematisierung, ist damit ein erstes empirisches Erkenntnisinteresse der Studie formuliert. Damit verknüpft verfolgt die Studie ein theoretisch-konzeptionelles Erkenntnisinteresse.

I.2 E RKENNTNISINTERESSE

DER

S TUDIE

|7

Dieses zielt auf die Konzeption des Begriffs der Kritik bzw. des Verhältnisses von Organisationsform und gesellschaftspolitischer Praxis eines Akteurs. Bisherige Theoretisierungen der beiden Aspekte in der Forschung zu sozialen Bewegungen werden durch empirische Beobachtungen irritiert. Diese Irritation, die im Folgenden umrissen werden soll, ist der Ausgangspunkt des theoretisch-konzeptionellen Erkenntnisinteresses. Betrachtet man den Forschungsstrang der Bewegungsforschung, wie er sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit sozialen Bewegungen herausgebildet hat11, so fällt auf, dass dieser soziale Bewegungen tendenziell als Akteure beschreibt, die sich durch einen geringen Organisationsgrad auszeichnen und auf emanzipative Gesellschaftsveränderungen zielen. Gegenüber den NGOs, zu deren charakterisierenden Merkmalen oftmals eine formale Organisation und ein affirmativer und kooperativer Politikstil gezählt wird – wenn sie das politische System und seine Regeln grundsätzlich anerkennen –, seien soziale Bewegungen »gegen« die herrschende Politik gerichtet (ausführlicher diskutiert wird dies in Kapitel III der Studie). Auch wenn empirische Studien der Bewegungsforschung wiederholt das Zusammengehen einer spezifischen Organisationsform mit einer spezifischen Ideologie bzw. gesellschaftspolitischen Praxis aufzeigen, so implizieren sie oftmals, dass dieses Zusammengehen grundsätzlicher Natur oder gar einem Funktionalismus geschuldet sei12 – dass es also nicht ausschließlich auf probabilistischer Grundlage konstatiert wird. Obwohl die bewegungswissenschaftliche Institutionalisierungsdebatte Fragen zu Organisation und gesellschaftspolitischer Praxis bzw. deren Zusammenwirken ausgiebig behandelt und Perspektiven entwirft, mit denen entsprechende Konzeptionen überwunden werden, kann auch gegenwärtig in der Bewegungsforschung wiederholt die Konzeption von sozialen Bewegungen und Organisationen (NGOs bzw. Parteien) als jeweils aggregierte Einheiten einer spezifischen Organisationsform und einer spezifischen gesellschaftspolitischen Praxis ausgemacht werden: eine Konzeption, die mit einer dichotomischen Gegenüberstellung beider Akteurstypen einhergeht.

11

Zu den wichtigen Vertreter_innen dieses Forschungsstrangs im deutschsprachigen Bereich zählen u.a. Hanspeter Kriesi, Friedhelm Neidhardt und Dieter Rucht. Bedeutend in der Debatte im angelsächsischen Bereich sind u.a. Donatella della Porta, Jackie Smith und Sidney Tarrow.

12

Grundlegend für ein funktionalistisches Verständnis des Zusammenhangs von Organisationsform und gesellschaftspolitischer Praxis ist Robert Michels’ These von der Oligarchisierung sozialer Bewegungen mit ihrem zunehmendem Organisationgrad, die dieser bereits 1911 formulierte (MICHELS 1989: insb. 351ff.) und die die Institutionalisierungsdebatte der Bewegungsforschung prägte.

8

| I. E INFÜHRUNG

Ein derartiges Akteursverständnis ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Erstens setzt es voraus, dass sich »gegen-hegemoniale« Projekte ausschließlich auf Seiten sozialer Bewegungen herausbilden. Ein Blick ins empirische Feld führt zu Irritationen hinsichtlich dieser Lesart hegemonialer Kämpfe. Die These eines funktionalen Zusammenhangs von Organisationsform und gesellschaftspolitischer Praxis wird durch empirische Beobachtungen irritiert. Dies zeigt sich zum einen bezüglich der an sozialen Auseinandersetzungen beteiligten Akteure. So scheint im konkreten Fall der Global Climate Governance eine ‚herrschaftskritische‘ gesellschaftspolitische Praxis (die Kritik an Marktmechanismen, antikapitalistische Positionen, u.a. im Kontext der Programmatik um »Climate Justice«) auch mit einem höheren Organisationsgrad zusammenzugehen (so umfasst die Akteurskoalition Climate Justice Now! eine Vielzahl von NGOs). Zum anderen zeigt sich auch bei den scheinbar qua Organisationsform herrschaftskritischen sozialen Bewegungen die Reproduktion von (informellen) Herrschaftsstrukturen wie „informelle[n] Hierarchien (etwa durch selbst ernannte Führer), autoritäre[n] Umgangsformen (etwa im Geschlechterverhältnis) oder fragwürdige[n] Praxen (z.B. Gewaltverherrlichung)“ (STOCK 2001: 6). Um dem im Empirischen vielfältigen Zusammengehen von Organisationsform und gesellschaftspolitischer Praxis gerecht zu werden, ist es insofern erforderlich, jede Art einer dichotomischen Akteurskonzeption aufzulösen. Gefragt werden muss, wie Akteure (im Konkreten NGOs und soziale Bewegungen) konzipiert werden können, so dass sie nicht in einer dichotomischen Gegenüberstellung von Akteurstypen als aggregierter Einheiten von Organisationsform und gesellschaftspolitischer münden. Zweitens bleibt mit der „holzschnittartigen Polarisierung in Reformorientierung einerseits und radikale Gesellschaftsänderung andererseits“ (STICKLER 2011: 106) der Begriff der Kritik unterbestimmt. Die Art der kritischen Ausrichtung der Akteure (orientiert auf radikalen Wandel bzw. Reform) wird mit dem dargestellten Akteursverständnis primär aus der Organisationsform abgeleitet. Die gesellschaftspolitische Praxis selbst unterliegt keiner differenzierten Beurteilung. Ginge es darum die gesellschaftspolitische Praxis spezifischer Akteure bzgl. ihres kritischen Gehalts zu bestimmen, so mag „prinzipiell nur schwerlich Einigkeit darüber zu erzielen sein, was denn nun radikale Gesellschaftsveränderung und Herrschaftsminimierung von reformorientierten Konzepten abgrenzt, wo also die Wasserscheide zwischen emanzipatorischer kollektiver Praxis und zivilgesellschaftlicher Herrschaftsmodernisierung anzusiedeln sei“ (ebd.).

Für die Erklärung von Auseinandersetzungen um Hegemonie ist es insofern notwendig, den Begriff der Kritik theoretisch-konzeptionell zu konkretisieren: Was ist es, das den kritischen Gehalt einer gesellschaftspolitischen Praxis ausmacht? Wie also kann ‚Kritik‘ derart konzeptualisiert werden, dass eine differenzierte Beurtei-

I.2 E RKENNTNISINTERESSE

DER

S TUDIE

|9

lung der vielfältigen gesellschaftspolitischen Praxen hinsichtlich ihres kritischen Gehalts möglich wird? Die vorliegende Studie verfolgt auf der theoretisch-konzeptionellen Ebene, wie umrissen wurde, ein Erkenntnisinteresse, dass auf zwei Aspekte ausgerichtet ist: erstens auf die Akteurskonzeption und dabei insbesondere die Konzeption der Begriffe der sozialen Bewegung und der NGO und zweitens auf die Konzeption des Begriffs der Kritik. Den skizzierten konzeptionellen Mängeln der Bewegungsforschung soll so begegnet werden. In Tabelle 1 werden die erkenntnisleitenden Fragen der Studie gebündelt. Verwiesen wird dabei jeweils auf die Kapitel, die entsprechende Fragen fokussieren.13 Die Beantwortung der Forschungsfragen an die Empirie beruht, dies soll die Tabelle anzeigen, auf der Beantwortung der theoretisch-konzeptionellen Fragen. Ausgehend von den theoretisch-konzeptionellen Überlegungen zu den Begriffen der sozialen Bewegung und NGO wird eine weitere Forschungsfrage formuliert. Diese nimmt für den konkreten mit der Studie fokussierten Fall – die Auseinandersetzungen um Hegemonie im Kontext der COP15 – das Zusammenspiel von Organisationsform und gesellschaftspolitischer Praxis im Akteursspektrum von NGOs und sozialen Bewegungen in den Blick. Die Beantwortung dieser Frage liefert Erkenntnisse zur kritischen bzw. affirmativen Ausrichtung spezifischer Akteure.

13

Auf die Erklärungskette, d.h. die Schritte zur Beantwortung der Forschungsfragen, wird in Kapitel V.2.2 eingegangen.

10

| I. E INFÜHRUNG

Tabelle 1 Das Erkenntnisinteresse der Studie empirisch Kap.

theoretisch-konzeptionell Kap.

1. Hat sich im Vorfeld der Kopenhagener

Verhand-

lungen verknüpft mit der

IV.3

 Wie kann der Begriff der

Forderung nach Climate

Kritik

derart

konzipiert

Justice ein »gegen-hege-

werden, dass eine diffe-

moniales« Projekt heraus-

renzierte Beurteilung der

gebildet?

vielfältigen gesellschaftspolitischen Praxen in Aus-

2. Kommt es in den sozialen

einandersetzungen

Auseinandersetzungen um

Hegemonie

eine internationale Klimapolitik

‚post-2012‘

im

um II.2.5

hinsichtlich

ihres kritischen Gehalts

VI.4

möglich wird?

Kontext der COP15 zu einer Verbreitung des kritischen Gehalts der »Clima Wie können die Begriffe

te-Justice«-Programmatik

der sozialen Bewegung

im Akteursspektrum der

und der NGO derart kon-

transnationalen NGOs und

zipiert werden, dass sie

sozialen Bewegungen?

nicht in einer dichoto3. Lassen

sich

mischen

hinsichtlich

Gegenüberstel-

des konkreten empirischen

lung beider Akteurstypen

Falls der Auseinanderset-

als aggregierte Einheiten

zungen um Hegemonie im

von

Organisationsform

Kontext der COP15 im Ak-

und

gesellschaftspoliti-

teursspektrum

scher Praxis münden, son-

transnatio-

naler NGOs und sozialer Bewegungen Muster im

VII.1

dern der empirischen Vielfalt

von

Organisations-

Zusammenspiel von Orga-

formen und gesellschafts-

nisationsform und gesell-

politischen Praxen begeg-

schaftspolitischer

nen?

ausmachen?

Praxis

III.

I.3 F ORSCHUNGSSTAND

| 11

I.3 F ORSCHUNGSSTAND Wie dargestellt wurde, nimmt die vorliegende Studie Auseinandersetzungen um Hegemonie in der Global Climate Governance in den Blick. Die diskurs- bzw. hegemonieanalytische Untersuchung zielt auf zivilgesellschaftliche Akteure – soziale Bewegungen und NGOs – und deren konkurrierenden Deutungen zum Klimawandel und dessen adäquater politischer Bearbeitung. Im Fokus der Betrachtung liegt dabei die Artikulation der mit der Forderung nach »Climate Justice« verknüpften Programmatik. Im Folgenden soll der Stand der Forschung resümiert werden, an den die vorliegende Studie anschließt.14 Damit wird zugleich das Spezifikum und Innovative des gewählten theoretisch-methodischen Zugangs und des empirischen Fokus herausgearbeitet. Darüber hinaus erfolgt mit den Darstellungen eine begründete Verortung der Studie im politikwissenschaftlichen Forschungsfeld. In die Ansätze zur Erklärung der globalen Umweltpolitik, die aktuell dominieren, scheint die berühmte Gleichung Antonio Gramscis zur Konzeption des Staates („Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie gepanzert mit Zwang“, GRAMSCI 1991ff.: GH 4, 783) bislang wenig Eingang gefunden zu haben. So zeichnen sich das Forschungsfeld der Internationalen Beziehungen (IB) und die dort am weitesten verbreiteten Regime-Ansätze15 (OKEREKE & BULKELEY 2007: 3), wenn es um die Erklärung der Bildung von Regimen, wie bspw. des Klimaregimes geht, durch einen Staatszentrismus aus (vgl. hierzu im Weiteren BULKELEY & NEWELL 2010; NEWELL 2000: 2ff., 23ff.). Konzentriert wird sich – um bei Gramscis Terminologie zu bleiben – auf die politische Gesellschaft, d.h. den Staat im engeren Sinne (Institutionen mit administrativen und juristischen Aufgaben).16 Aus dem Blick gerät so die Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Reproduktion von Hegemonie. Es ist die Governance-Forschung, die ihren Fokus auf Prozesse der Entstaatlichung bzw. Privatisierung von Politik legt (vgl. bspw. ROSENAU & CZEMPIEL 1992), wie sie ab den 1970er Jahren auszumachen sind. Gegenüber den RegimeAnsätzen hebt die Governance-Forschung damit die Bedeutung einer Vielzahl von

14

Darüber hinausgehend findet sich ein gut aufbereiteter Überblick über die Struktur des politikwissenschaftlichen Forschungsfelds zum Klimawandel bei Methmann et al. (METHMANN ET AL. 2013b: 1–4).

15

Vgl. auch Fußnote 38 auf Seite 36.

16

Einige Autor_innen im Feld der Literatur zu Regimetheorie sind sich des Umstands bewusst, dass zivilgesellschaftliche Akteure wie NGOs versuchen, zwischenstaatliche Verhandlungen zu beeinflussen (bspw. CORELL & BETSILL 2001; GULBRANDSEN & ANDRESEN 2004). Dennoch bleiben auch bei ihnen die staatlichen Institutionen die zentralen Akteure.

12

| I. E INFÜHRUNG

Akteuren neben den staatlichen Institutionen für Politikprozesse hervor. Arbeiten des Forschungsstrangs der multi-level Governance untersuchen zugleich die Interdependenzen verschiedener räumlicher Maßstabsebenen – der lokalen, nationalen bzw. internationalen Ebene (vgl. bspw. BACHE & FLINDERS 2004; BRUNNENGRÄBER ET AL. 2008a). Aus einer derartigen Perspektive widmen sich verschiedene jüngere Arbeiten dem Feld der Klimapolitik (vgl. BÄCKSTRAND 2008; PATTBERG & STRIPPLE 2008; BRUNNENGRÄBER & WALK 2007; BRUNNENGRÄBER ET AL. 2008b; WALK 2008). Die zahlreichen von der Governance-Forschung in den Blick genommenen Akteure bringen eine Vielzahl von Deutungen der Welt hervor. Im Forschungsfeld der IB ist es bereits ab Ende der 1980er Jahre ein sozial-konstruktivistischer Strang, der die grundsätzliche Konstruiertheit des Sozialen – insbesondere wesentlicher Aspekte der internationalen Beziehungen hervorhebt (vgl. ONUF 1989; WENDT 1992). In jüngerer Zeit haben zahlreiche Arbeiten dargestellt, wie in der Zivilgesellschaft eine Vielzahl von Sinngebungen bzgl. des Klimawandels vorliegen (vgl. bspw. ENGELS & WEINGART 1997; GOUGH & SHACKLEY 2001; PETTENGER 2007; HULME 2009; NISBET 2009) – eine Vielzahl von Sinngebungen bezüglich dessen, was als Ursache des Klimawandel gefasst wird, welche Folgen zu erwarten sind, wie er zu verhindern bzw. mit ihm umzugehen ist. Fragen danach, wie sich unterschiedliche Deutung formiert und um Wirkmächtigkeit konkurriert bzw. gesellschaftlich verallgemeinert wird, wie sie im Fokus der vorliegenden Studie liegen, werden jedoch von sozial-konstruktivistischen Ansätzen der IB wie auch der Governance-Forschung nur selten in den Blick genommen. Ihnen gegenüber sind es Ansätze der kritischen Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ) sowie der Diskursforschung, die sich diesen Fragen widmen. Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass sie die Verallgemeinerung von Deutung als Ergebnis politischer Auseinandersetzungen bzw. sozialer Kräfteverhältnisse fassen. Ansätze der IPÖ sowie der Diskursforschung thematisieren insofern Fragen von Macht bzw. Herrschaft, die in der Governance-Forschung oftmals ungestellt bleiben. Die kritische IPÖ (vgl. für einen Überblick bspw. BIELING & DEPPE 1996; BIELER & MORTON 2004; 2006; OPRATKO & PRAUSMÜLLER 2011) greift Antonio Gramscis Konzept der Hegemonie auf, um machtvoll gestaltete soziale Verhältnisse im internationalen politischen System zu erklären. Mit dem gramscianischen Verständnis von Hegemonie berücksichtigt die IPÖ die Bedeutung von nichtstaatlichen Akteuren und Diskursen für die Gestaltung der Gesellschaft. Für ein Verständnis von Auseinandersetzungen um Hegemonie bzw. der Rolle sozialer Kräfte in der Global Climate Governance kann deshalb gewinnbringend an die Arbeiten der IPÖ angeschlossen werden – insbesondere an jüngere Arbeiten dieses Forschungsstrangs, die sich dem Thema Klimawandel widmen (vgl. BRUNNENGRÄBER ET AL. 2008b; BRUNNENGRÄBER 2009; NEWELL & PATERSON 2010).

I.3 F ORSCHUNGSSTAND

| 13

So zahlreich die Ansätze der Diskursforschung sind (vgl. bspw. KELLER ET AL. 2006), so zahlreich sind auch die Untersuchungsgegenstände der Studien. Im Forschungsfeld der Umweltpolitik widmeten sich bedeutende Arbeiten der letzten Jahre unter anderem den Diskursen des Ozonlochs, der ökologischen Modernisierung und der Nachhaltigkeit (vgl. LITFIN 1994; HAJER 1995; DINGLER 2003) bzw. konkurrierenden umweltpolitischen Diskursen (vgl. DRYZEK 2005). Auch der Klimawandel als diskursiv umkämpftes Konfliktfeld, der von der vorliegenden Studie thematisiert wird, steht vielfach im Fokus (vgl. bspw. VIEHÖVER 1997, 2004; LUTES 1998; OELS 2005; BÄCKSTRAND & LÖVBRAND 2007; STEVENSON & DRYZEK 2010; KARTHA 2011 sowie die bei METHMANN ET AL. 2013a versammelten Arbeiten). Der hier eingenommene explizte Fokus auf soziale Bewegungen und NGOs findet sich in bereits vorliegenden Studien jedoch nur selten – bspw. bei Bäckstrand und Lövbrand (2007) und Stevenson und Dryzek (2010). Bäckstrand und Lövbrand behandeln in ihrer Arbeit drei Diskurse, die sie als verantwortlich für die Herausbildung der spezifischen Gestalt der internationalen Klimapolitik betrachten.17 Ihre Arbeit beschreibt Konturen dieser Diskurse und deren Auswirkungen auf dem klimapolitischen Konfliktterrain. Sie beschreiben Verschiebungen innerhalb der Diskurse, die aus verstärkten diskursiven Auseinandersetzungen infolge der Verhandlungen um eine Klimapolitik post-2012 resultieren. Da ihre Arbeit bereits im Jahr 2007 veröffentlicht wurde, können sie jedoch anschließende Entwicklungen nicht aufgreifen. Entsprechend findet die Forderung nach »Climate Justice« – die mit im Fokus der vorliegenden Studie liegt und deren Bedeutung als Bezugspunkt sozialer Kräfte sich vor allem seit 2007 immer deutlicher abzeichnete – bei Bäckstrand und Lövbrand keine nähere Behandlung. Stevensons und Dryzeks Arbeit hingegen widmet sich dem die Kopenhagener UN-Verhandlungen umgebenden Zeitraum. Sie untersuchen dabei die Verbreitung von vier von ihnen ausgemachten Klima-Diskursen in fünf ausgewählten Kontexten der globalen transnationalen Zivilgesellschaft.18 Die mit »Climate Justice« verknüpften 17

Bäckstrand und Lövbrand identifizieren neben dem Diskurs der ‚green governmentality‘, den der ‚ecological modernization‘ und den des ‚civic environmentalism‘ (BÄCKSTRAND &

18

LÖVBRAND 2007).

Dryzek und Stevenson identifizieren die vier „Climate Change Discourses“ Mainstream Sustainability, Limits, Exansive Sustainability und Green Radicalism (STEVENSON & DRYZEK 2010: 5; vgl. auch DRYZEK & STEVENSON 2013: 236ff.). Die ausgemachten Diskurse entsprechen im Wesentlichen den bereits bei (DRYZEK 2005: 13–16) beschriebenen. Hinsichtlich der Verbreitung der Diskurse untersuchen sie das Klimaforum09, das zeitgleich zu den UN-Verhandlungen 2009 in Kopenhagen (COP15) stattfindende NGO und Bewegungsforum, den alternativen Weltklimagipfel des Jahres 2010 in Cochabamba (‚Weltkonferenz über den Klimawandel und die Rechte der Mutter Erde‘), die im Vorfeld der COP15 ausgerichteten Gipfel ‚World Business Summit on Climate

14

| I. E INFÜHRUNG

Auseinandersetzungen stehen jedoch auch bei Stevenson und Dryzek nicht im Vordergrund. Stevenson und Dryzek ebenso wie Bäckstrand und Lövbrand konzentrieren darüber hinaus ihre Darstellungen auf die Diskurse, während die hier vorliegende Studie – anhand einer empirischen Untersuchung – zugleich auf spezifische Akteure fokussiert. Die die Diskurse (re-)artikulierenden Akteure finden bei Stevenson und Dryzek hingegen, wenn überhaupt, dann ausschließlich eine illustrierende Erwähnung. Aussagen darüber ob bzw. welche spezifischen Koalitionen aus NGOs und sozialen Bewegung spezifische Diskurse (re-)artikulieren, finden sich bei Stevenson und Dryzek nur am Rande. Im Zentrum der Untersuchung stehen sie jedoch nicht. Explizit dem Gegenstand der sozialen Bewegungen und NGOs widmet sich seit den 1980er Jahren – mit dem Aufkommen der sogenannten ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ (vgl. auch Seite 71) – ein eigener, sich durch spezifische Paradigmen kennzeichnender Forschungsstrang, die sogenannte Bewegungsforschung (vgl. bspw. HELLMANN & KOOPMANS 1998; TARROW 2003; DELLA PORTA & DIANI 2006). In ihrem Blick steht von Beginn an zivilgesellschaftliches Engagement zu ökologischen Themen (vgl. bspw. KLIMENT 1994; ROOTES 2003; KOUSIS ET AL. 2008). Auch das Thema Klimawandel und Bewegung findet zunehmend Beachtung (vgl. GIBSON 2011; BYRD 2012; ROOSE & SCHÄFER 2012; HADDEN 2013 – auch einzelne Beiträge in BRUNNENGRÄBER 2011b und DIETZ & GARRELTS 2013 können dem Strang der Bewegungsforschung zugeordnet werden). Ein Fokus von Studien der Bewegungsforschung liegt auf der Untersuchung von Deutungsschemata – ideellen Konstrukten – zivilgesellschaftlicher Akteure. Der Ansatz der ‚Frame-Analysis‘ (vgl. grundlegend GOFFMAN 1972) gehört zum Standardrepertoire des Forschungsstrangs (vgl. BENFORD & SNOW 2000; JOHNSTON & NOAKES 2005; DONATI 2006). Auch hinsichtlich des Konfliktfelds Klimawandel greifen zahlreiche Arbeiten der Bewegungsforschung diesen Ansatz auf (vgl. TRUMBO 1996; BYRD & LEVAY 2010; 2012; SCHLICHTING & SCHMIDT 2012; DELLA PORTA & PARKS 2013; KRUSE 2013). Wenn mit der Frame-Analyse die ideellen Konstrukte von Akteuren in den Blick genommen werden, verbleibt diese primär auf der Ebene der sprachlichen Struktur – unterschieden wird zwischen „diagnostic frame“ (der Konstruktion einer Problemlage und der Beschreibung von Ursachen und Verantwortlichkeiten), „prognostic frame“ (der Entwicklung von Lösungsperspektiven) sowie „motivational frame“ (der Motivation zu Engagement und Mobilisierungsbereitschaft) (SNOW & BENFORD 1988: 199ff.). Die Analyse politischer Diskurse in der Bewegungsforschung (anhand der Frame-Analyse) beschränkt sich auf eine Analyse der „sprachlichen Oberflächenstruktur“ – der politischen Ideologie –, während die „Vorstellung Change‘ und ‚Business for the Environment Summit‘ sowie die Netzwerke Avaaz, TckTckTck, and 350.org (STEVENSON & DRYZEK 2010: 5ff.).

I.3 F ORSCHUNGSSTAND

| 15

von Diskurs als konstitutivem Mechanismus der (Re-)Produktion von Gesellschaft“ seltener behandelt wird (DONATI 2006: 149). Ein entsprechendes Diskursverständnis findet sich im Ansatz der diskurstheoretischen Hegemonietheorie Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes. Gesellschaft wird von ihnen als die Verstetigung bzw. Verallgemeinerung von durch sprachliche und nicht-sprachliche Handlungen vorgebrachter Deutung verstanden und als grundsätzlich umkämpft begriffen. Laclaus und Mouffes theoretischer Ansatz, den sie mit ihrem Buch ‚Hegemony and Socialist Strategy‘ (1985) begründen und den Laclau daran anschließend näher ausformuliert, ermöglicht ein grundlegendes – postfundationalistisches19 – Verständnis der Prozesse der Universalisierung und Marginalisierung bzw. des Ausschlusses bestimmter Deutungen, die herrschaftliche Verhältnisse absichern. Deshalb wird sie der empirischen Analyse von Auseinandersetzungen um Hegemonie in der Global Climate Governance in der vorliegenden Studie zugrunde gelegt. Die Studie reiht sich damit ein in Arbeiten der letzten Jahre, die den theoretischen Ansatz Laclaus und Mouffes aufgreifen und ihn für empirische Untersuchungen operationalisieren20 (vgl. bspw. NONHOFF 2006; WULLWEBER 2010 sowie Beiträge in GLYNOS ET AL. 2009; HOWARTH & TORFING 2005; DZUDZEK ET AL. 2012). Das Laclaus und Mouffes Überlegungen für die Analyse der Global Climate Governance nutzbringend sind, zeigen die bei Methmann et al. (2013a) versammelten Arbeiten: „As a common thread they diagnose the depoliticization of global climate governance as one of the root causes of its persistent failure to trigger sufficient social change“ (ebd.: 12f.). Mit ihrem Fokus auf NGOs und soziale Bewegungen in der Global Climate Governance sowie ihrem methodischen Zugang – der Kombination von Interviewforschung und Diskursanalyse – hebt sich die vorliegende Studie jedoch von den übrigen im Band versammelten Studien ab. Methodisch stellt die Erhebung qualitativer Interviews in einem (poststrukturalistischen) diskurs- bzw. hegemonietheoretischen Rahmen Neuland dar. Die politische Forderung nach »Climate Justice«, der in der vorliegenden Studie ein zentraler analytischer Stellenwert zukommt, ist zu Beginn des Forschungsprozesses – auch aufgrund seiner noch dynamischen Entwicklung – kaum Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung (so bei PETTIT 2004; DORSEY 2007 und ROBERTS 2007). Zahlreiche Studien widmen sich hingegen der für die Genese der 19

Alternativ wird Laclaus und Mouffes Ansatz – der sich gegen jede Determinierung von Gesellschaft (des Sozialen) durch eine letzte Instanz (bspw. der Ökonomie) richtet (siehe auch Seite 39) – auch anhand der Begriffe post-strukturalistisch bzw. anti-essentialistisch eingeordnet. Laclaus und Mouffes Ansatz geht in dieser Hinsicht über Ansätze der IPÖ hinaus, die oftmals in ihrem Verständnis des Sozialen einer ökonomistischen Perspektive verhaftet bleiben.

20

Aus dem Feld der Bewegungsforschung sind mir keine Studien bekannt, die eine entsprechende hegemonietheoretische Perspektive auf ihren Gegenstand einnehmen.

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| I. E INFÜHRUNG

»Climate Justice«-Programmatik bedeutenden Forderung nach »Environmental Justice« bzw. der sich ab den 1980er Jahren vor allem in den USA um sie formierenden sozialen Bewegung (bspw. bei BULLARD 1990, 1994; COLE & FOSTER 2001; CHECKER 2005; SANDLER & PEZZULLO 2007). Seit den 1990er Jahren beschäftigen sich Arbeiten aus dem Feld der Philosophie mit »Climate Justice« aus einer gerechtigkeitstheoretischen Perspektive. Im Fokus dieser Arbeiten steht »Climate Justice« als ethisches Konzept und nicht als politische Forderung. Entsprechende wissenschaftliche Auseinandersetzungen um die Bedeutung von Climate Justice finden insbesondere im Feld der Umweltethik statt. Seine ersten Erwähnungen findet der Begriff ‚Climate Justice‘ bei Shue (1992) und Weiss (1989) – vergleiche hierzu Roberts (2007: Fn. 18). Die Arbeiten, die »Climate Justice« als ethisches Konzept diskutieren und hierzu eigene Begriffsverständnisse entwickeln (vgl. bspw. bei PAGE 2006; GARVEY 2008; GARDINER ET AL. 2010; MEYER & ROSER 2010), werden in der vorliegenden Studie jedoch nicht weiter aufgegriffen. Verwiesen sei hier auf Einführungen bzw. Überblicksdarstellungen über die gerechtigkeitstheoretischen Debatten zu »Climate Justice« – beispielsweise bei Gardiner (2011), Hale (2012) und Niederberger (2013). Im Verlauf des Forschungsprozesses der vorliegenden Studie hat jedoch auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Climate Justice« als politischer Forderung und Bezugspunkt sozialer Kräfte zugenommen und diente unzählige Male als Wissensquelle für die Darstellungen (vgl. ANGUS 2009; FOTI 2009b; GOODMAN 2009; ROBERTS & PARKS 2009; BEDALL & AUSTEN 2010; BOND & DORSEY 2010; DAWSON 2010; TOKAR 2010; BOND 2012b; RUSSELL ET AL. 2012). Insbesondere die Arbeiten von De Lucia (2009; 2013) und Chatterton et al. (2013) boten durch ihre hegemonietheoretische Perspektive eine Inspirationsquelle für die in der vorliegenden Studie angestellten Überlegungen. Während bereits zuvor die institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Gruppen der Global Climate Governance – die NGOs21 – Gegenstand von Studien waren, an die die vorliegende Studie anküpft (vgl. hierzu ARTS 1998; NEWELL 2000; WALK & BRUNNENGRÄBER 2000; BEISHEIM 2004), so fallen nun die neu in Erscheinung tretenden, stärker basisorientierten Zusammenhänge in den Blick der Untersuchungen (vgl. unter anderem die Sammelbände BRUNNENGRÄBER 2011b und DIETZ & GARRELTS 2013). Ein wesentliches Augenmerk neuerer Arbeiten liegt auf der Erweiterung des zivilgesellschaftlichen Akteursfelds der Global Climate Governance, insbesondere des seit Beginn der UN-Verhandlungen in deren Umfeld etablierten Zusammenhangs des Climate Action Networks (CAN), durch die Formierung hybrider Netzwerke aus sozialen Bewegungen und NGOs, konkret den Netzwerken Climate Justice Now! (CJN!) 21

Einführungen in den Begriff der NGO geben beispielsweise Brand (2000), Frantz und Zimmer (2002), Brunnengräber et al. (2005), Frantz und Martens (2006) und NurseyBray (2012b).

I.3 F ORSCHUNGSSTAND

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und Climate Justice Action (CJA) (vgl. GIBSON 2011; REITAN 2011; REST 2011; BYRD 2012; HADDEN 2013). Drei Arbeiten stechen dabei heraus, da es sich bei ihnen um Dissertationen handelt (GIBSON 2011 und BYRD 2012) oder ihnen eine solche zugrunde liegt (HADDEN 2013), die auf umfangreichen empirischen Untersuchungen beruhen. Die Arbeit von Byrd behandelt die Organisierungsstrategien und -dynamiken der drei Netzwerke in den Jahren 2007 bis 2010 – insbesondere fokussiert er dabei auf die Bemühungen CJN!s zur Einbindung von Graswurzel-Gruppen des Globalen Südens. Gibson beschäftigt sich mit Prozessen der taktischen und diskursiven Radikalisierung im Feld klimapolitischen Aktivismus’ in den Jahren 2006 bis 2010 und deren Reaktionen und Folgen. Ein besonderes Augenmerk legt sie dabei auf die Genese von CJN! sowie die Proteste im Umfeld der COP14 und COP15. Auch Hadden widmet sich dem Phänomen der Radikalisierung klimapolitischen Engagements. Ihr Fokus liegt dabei auf der „diffusion of ideas, activists, and tactics“ der globalisierungskritischen Bewegung im klimapolitischen Feld. Die Studien von Byrd, Gibson und Hadden bieten für die Darstellungen des klimapolitischen Konfliktfeldes und dessen aktuellere Entwicklungen in der Zivilgesellschaft eine wichtige Quelle. Auch wenn das behandelte Akteursfeld sich überschneidet, so unterscheiden sich die Ausrichtungen der Studien deutlich von dem mit der vorliegenden Studie verfolgten Erkenntnisinteresse, mit dem die Akteure hinsichtlich der Verallgemeinerung bzw. Anfechtung spezifischer Deutung und damit hinsichtlich der Reproduktion von Hegemonie in der Global Climate Governance in den Blick genommen werden.

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| I. E INFÜHRUNG

I.4 S TRUKTUR

DER

S TUDIE

Neben der Einführung gliedert sich die Studie in drei Teile: Teil A, in dem die Grundlagen der Studie gelegt werden (Kapitel II bis IV), Teil B zur empirischen Untersuchung (Kapitel V und VI) sowie einen Schlussteil (Kapitel VII und VIII). Die einzelnen Kapitel der Studie werden jeweils zum Abschluss in kurzen Abschnitten – den Passagen – resümiert. Im Grundlagenteil dient das zweite Kapitel der theoretischen Verortung der Studie. Staatstheoretische Ansätze – insbesondere neo-gramscianische und neo-poulantzianische Ansätze der Internationalen Politischen Ökonomie – werden hier aufgegriffen, um ein Verständnis der Global Climate Governance und des Verhältnisses der Zivilgesellschaft zu ihr zu entwickeln. Die historisch-spezifische Materialität der Global Climate Governance wird so als das Ergebnis von Auseinandersetzungen um Hegemonie gefasst, deren Terrain die Zivilgesellschaft ist. Für ein Verständnis dessen, wie sich Hegemonie konkret herausbildet, greift die Studie einen poststrukturalistischen Theoriezugang auf: die diskurstheoretische Hegemonietheorie Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes (vgl. LACLAU & MOUFFE 1985 – weiter ausgearbeitet in LACLAU 1990b; 1996; 2007). Sie stellt in der vorliegenden Studie das theoretische Kernstück dar. Laclaus und Mouffes Diskurstheorie liefert eine Ontologie des Sozialen, die für die empirische Analyse der (Re-)Produktion von Hegemonie eine detailliert ausgearbeitete Basis bietet. Ein wesentlicher Teil der Studie widmet sich im Weiteren ihrer forschungs-praktischen Operationalisierung und Anwendung in einer empirischen Studie. Das dritte Kapitel dient der Klärung der Begriffe der »NGO« und der »sozialen Bewegung«. Eingenommen wird eine diskursorientierte Perspektive auf die Konstitution dieser Akteure. Überwunden werden so essentialisierende Konzeptionen beider Akteurstypen, die in der Debatte im Forschungsstrang der Bewegungswissenschaften aufscheinen. Auf der Grundlage des entwickelten Begriffsverständnis werden mit dem Kapitel die mit der Studie in den Blick genommenen zivilgesellschaftlichen Akteure eingegrenzt. Im vierten Kapitel wird das mit der Studie in den Blick genommene Konfliktfeld dargestellt. Eingegangen wird dabei zunächst auf die Genese, Struktur sowie das Akteursfeld der Global Climate Governance. Daran anschließend wird in einem zweiten Teil des Kapitels beschrieben, wie die politische Bearbeitung des Klimawandels in der Global Climate Governance vom Dogma des Neoliberalismus geprägt ist. Beständig reartikuliert wird hier das Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas« – es ist hegemonial. Für die spezifische Materialität der Global Climate Governance zum Zeitpunkt der Klimaverhandlungen in Kopenhagen ist es konstitutiv. In einem dritten Teil des Kapitels wird dargestellt, wie die Neoliberalisierung mit dem Ausschluss bzw. der Marginalisierung alternativer Perspektiven verbunden

I.4 S TRUKTUR

DER

S TUDIE

| 19

ist. Die Artikulationen einer multiplen Krise ab dem Jahr 2005 – der Klimakrise, der Finanzkrise bzw. der sozialen Krise – zieht jedoch eine Repolitisierung des hegemonialen Konfliktfeldes nach sich. Im Vorfeld der Kopenhagener Verhandlungen kommt es zur Konstituierung von Akteursnetzen, die ein Ensemble von Forderungen vorantreiben, dass offensiv gegen die neoliberale Hegemonie gerichtet ist. Diskurstheoretisch kann dies als Herausbildung eines »gegen-hegemonialen« Projekts um die Forderung nach Climate Justice gefasst werden. Zum Abschluss des Kapitels werden die Verhandlungen um ein Kyoto-Nachfolge-Abkommen thematisiert. Sie konstituieren ein Terrain verstärkter Auseinandersetzung über die Aufrechterhaltung bzw. die Erneuerung der neoliberalen Hegemonie in der Global Climate Governance und werden deshalb in der empirischen Analyse der vorliegenden Studie in den Blick genommen. Im Teil zur empirischen Untersuchung geht das fünfte Kapitel zunächst auf die Methodologie der Studie ein. Thematisiert wird hier, was die ontologischen Vorannahmen (aus Kapitel zwei) für die Forschungspraxis implizieren. Dargestellt wird, was eine poststrukturalistisch informierte Forschung leisten und entlang welcher Prinzipien sich ein Forschungsprogramm darstellen kann. Anschließend an diese Vorüberlegungen wird im zweiten Teil des Kapitels die diskurstheoretische Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes operationalisiert. In den wesentlichen Zügen skizziert wird hier Konzeption und Auswertungsverfahren der empirischen Untersuchung. Damit soll einem, in Studien der interpretativen Forschung zu oft vorliegenden, methodologischen Transparenzdefizit vorgebeugt werden. Im sechsten Kapitel wird das Akteursspektrum transnationaler sozialer Bewegungen und NGOs im Umfeld der klimapolitischen Verhandlungen in Kopenhagen 2009 (COP15) anhand einer Interview-Studie in den Blick genommen. Die empirische Untersuchung fokussiert auf die in den Interviews vorgebrachten Forderungen. Die Reartikulation von Forderungen durch Koalitionen von Akteuren konstituiert diskursive Muster (Projekte). Im Kapitel werden diese Projekte und Koalitionen herausgearbeitet. Im Untersuchungsfeld zeichnen sich Konturen von vier konkurrierender Projekten ab: dem Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas«, dem des »Umweltmanagements«, dem des »Paradigmenwechsels« sowie dem der »umfassenden Transformation« (respektive dem um »Climate Justice«). Projekte wie auch die mit ihnen artikulierten Forderungen werden im Kapitel hinsichtlich ihrer kritisch bzw. affirmativ Ausrichtung gegenüber dem hegemonialen Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas« beurteilt. Zum Abschluss des Kapitels wird betrachtet, ob es im Untersuchungsmaterial zur Reartikulation des im Vorfeld der Kopenhagener Verhandlungen artikulierten gegen-hegemonialen Projekts um »Climate Justice« kommt. Das siebte Kapitel beinhaltet eine Zusammenfassung der Ergebnisse sowie eine Reflexion des Forschungsansatzes. Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt anhand der Forschungsfragen der Studie. Beantwortet werden insofern die Fragen, ob die

20

| I. E INFÜHRUNG

»Climate Justice«-Programmatik als »gegen-hegemoniales« Projekt gefasst werden kann, ob es zu einer Verbreitung des kritischen Gehalts der »Climate Justice«Programmatik im betrachteten Akteursspektrum im Umfeld der Kopenhagener Verhandlungen kommt und ob in diesem Akteursspektrum Muster im Zusammenspiel von Organisationsform und gesellschaftspolitischer Praxis auszumachen sind. Die Studie wird mit einem Ausblick (Kapitel acht) abgeschlossen, in dem auf aktuellere Entwicklungen Bezug genommen wird.

Teil A: Grundlagen

II. Theoretische Verortung

Die vorliegende Studie richtet ihren Blick auf das Konfliktfeld der Global Climate Governance, insbesondere auf die Auseinandersetzungen um Hegemonie im Feld transnationaler NGOs und sozialer Bewegungen im Zeitraum der Post-KyotoVerhandlungen. Für ein Verständnis der das Konfliktfeld konstituierenden hegemonialen Kämpfe – der Prozesse der Hegemoniebildung – bedarf es einiger grundsätzlicher theoretischer Vorüberlegungen. Zentrale der Studie zugrunde gelegte und bislang unscharf verbleibende Begrifflichkeiten – wie ‚Staat‘, ‚internationalisierte Staatlichkeit‘, ‚Zivilgesellschaft‘, ‚Global Climate Governance‘, ‚Hegemonie‘ oder Diskurs – gilt es zu klären und miteinander in Bezug zu setzen. In Kapitel II werden (zivilgesellschaftliche) Auseinandersetzungen um Hegemonie zunächst staatstheoretisch kontextualisiert. Daran anschließend werden Überlegungen der Diskurstheorie dazu aufgegriffen, wie sich Hegemonie im Konkreten herausbildet. Für die vorliegende Studie ist die Diskurstheorie das theoretische Kernstück. Ihre Operationalisierung (Kapitel V) und forschungs-praktische Anwendung (Kapitel VI) stellt den Schwerpunkt der Studie dar. Kapitel II gliedert sich entsprechend in zwei Teile: Im ersten Teil (Kap. II.1) wird ein gesellschafts- bzw. staatstheoretischer Rahmen22 umrissen, mit dem sich die Global Climate Governance als materielle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse darstellt. Eingegangen wird dabei auf die Rolle der Zivilgesellschaft – zu der die mit der vorliegenden Studie fokussierten Akteure zählen (die NGOs und soziale Bewegungen) – bei der Herausbildung dieser Materialität in Auseinandersetzungen um Hegemonie. In einem zweiten Teil (Kap. II.2) erfolgt eine Darstellung der diskurstheoretischen Hegemonietheorie Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes, die ein grundlegendes Verständnis der (Re-)Produktion von Hegemonie, d.h. der Prozesse der Universalisierung und Marginalisierung bzw. des Ausschlusses bestimmter Deutung ermöglicht.

22

Teile dieses Kapitel-Abschnitts wurden bereits von mir veröffentlicht in BEDALL 2011 (Seite 62ff.).

24

| II. THEORETISCHE V ERORTUNG

II.1 S TAATSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN – NGO S , SOZIALE B EWEGUNGEN UND A USEINANDERSETZUNGEN UM H EGEMONIE IN DER G LOBAL C LIMATE G OVERNANCE Mit den folgenden staatstheoretischen Überlegungen wird ein grundlegendes Verständnis des Untersuchungsfelds der Studie (der Global Climate Governance) sowie die Bedeutung der fokussierten Akteure (NGOs und soziale Bewegungen) in diesem Feld dargestellt. Dies erfolgt in der Art, dass zunächst der Begriff der Zivilgesellschaft – insbesondere auf der internationalen Ebene – geklärt wird (Kap. II.1.1). Anschließend daran wird internationalisierte Staatlichkeit – wie sie mit der Global Climate Governance in Erscheinung tritt – konzeptionell gefasst (Kap. II.1.2). Für die Darstellungen wird auf neo-gramscianische und neo-poulantzianische Ansätze der Internationalen Politischen Ökonomie zurückgegriffen. II.1.1 Die Bedeutung von Zivilgesellschaft Für die Erklärung von komplexen Politikprozessen wie der internationalen Klimapolitik ist es unzureichend, Zivilgesellschaft als eine in sich homogene vermittelnde Einheit gegenüber dem Staat zu begreifen. Der umkämpfte Charakter macht nicht an der Zivilgesellschaft halt. Mit Antonio Gramscis Konzept des integralen Staates wird im Folgenden ein Verständnis dargestellt, das soziale Kräfte im Kontext von Auseinandersetzungen um Hegemonie in den Blick nimmt (Kap. II.1.1.1). Gramscis Gesellschaftstheorie zielt auf die Ebene des Nationalstaats. Die vorliegende Studie fokussiert hingegen auf die Global Climate Governance. Mit Ansätzen der neogramscianischen Internationalen Politischen Ökonomie können Gramscis Überlegungen zur Zivilgesellschaft auf den Raum internationalisierter Staatlichkeit übertragen werden (Kap. II.1.1.2). II.1.1.1 Zivilgesellschaft als Terrain von Auseinandersetzungen um Hegemonie Es waren Überlegungen zum Erfolg bzw. Nicht-Erfolg revolutionärer Bestrebungen im Europa des beginnenden 20. Jahrhundert, die den italienischen Philosophen und Politiker Antonio Gramsci zu seiner Konzeption des Staates (vgl. BUCI-GLUCKSMANN 1981; BUCKEL & FISCHER-LESCANO 2007; OPRATKO 2012b) brachten: Warum war der russischen Revolution Erfolg beschieden? Warum scheiterten hingegen revolutionäre Ansätze in anderen Ländern? – Es waren keine akademischen Auseinandersetzungen, die Gramscis Erkenntnisinteresse begründeten. Sein besonderer Fokus auf die Situation in Italien hatte für ihn vielmehr eine politisch-strategische Dimension, denn hier war es, wo er als Führer der kommunistischen Partei wirkte. Ein Antwort auf die von ihm gestellte Frage fand Gramsci in der vergleichenden

II.1 S TAATSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

| 25

Analyse der von den Revolutionsbestrebungen betroffenen Gesellschaften. Die von ihm herausgearbeitete Funktion der Zivilgesellschaft23 der bürgerlichen Gesellschaften war es, die ihn zu dieser Antwort führte. Mit Gramsci ist es die Zivilgesellschaft, in der sich als Ergebnis politischer Auseinandersetzungen eine Balance von Kompromissen einstellt: ein hegemonialer Konsens, der für die Gestaltung von Politik und den Umgang mit kollektiven Problemen von wesentlicher Bedeutung ist. Der Begriff der Hegemonie spielt bei Gramsci für die Erklärung der Dynamik und gleichzeitigen Bewahrung bürgerlicher Gesellschaft eine zentrale Rolle (GRAMSCI 1991ff.; vgl. im Folgenden auch BORG 2001b; BIELING 2002). Die bürgerliche Gesellschaft fasst er als historische Formation und Herrschaftszusammenhang (BIELING 2002: 443). Herrschaft wird dabei durch Hegemonie abgesichert, wobei Hegemonie nicht lediglich als Dominanzverhältnis zu verstehen ist. Sie ist gegeben, wenn es einer herrschenden Gruppe möglich ist, für ihre Partikularinteressen Zustimmung bei Angehörigen anderer Gruppen zu schaffen.24 Der hegemoniale Konsens kann aktiver wie auch passiver Natur sein. Kennzeichnend für Hegemonie ist eine ungleiche Kräftekonstellation, innerhalb derer eine konfliktuelle Auseinandersetzung über unterschiedliche politische Strategien und Diskurse erfolgt. Als Terrain, auf dem Kämpfe um Hegemonie stattfinden, bestimmt Gramsci die Zivilgesellschaft, die er gegenüber der politischen Gesellschaft abgrenzt. Während die politische Gesellschaft, d.h. der Staat im engeren Sinne, in erster Linie die administrativen und juristischen Aufgaben wahrnimmt und die hier getroffenen Entscheidungen notfalls auch gewaltsam durchsetzt, repräsentiert die Zivilgesellschaft das Ensemble all jener Verhältnisse und Praxen – „eine Vielzahl […] privater Aktivitäten und Initiativen“ (GRAMSCI 1991ff.: 1043) –, über die die bestehenden Herrschaftsverhältnisse hegemonial abgesichert werden (BIELING 2002: 450): „Die Hegemonie wird in Vereinen und Clubs, in der Gliederung des gesamten Bildungssystems, im Zeitungs- und Zeitschriftenwesen in seiner Gesamtheit, in der Philosophie und den Wissenschaften, im Musik- und Theaterleben, in Literatur und Sprache, Verlagswesen, Bibliotheken und Straßennamen, Folklore und Alltagsgewohnheiten, Religionen, Kirche und Sekten praktiziert. Aus heutiger Sicht würden Radio, Fernsehen, Film, die verschiedenen Sparten der Unterhaltungsmusik, Sport, Psychatrie, Medizin und Psychotherapie dazugehören.“ (DEMIROVIC 2007b: 25 mit Verweis auf Demirovic 2002)

23

Einen grundlegenden Überblick über die Konzeption von Zivilgesellschaft in unter-

24

Im Folgenden wird hier ein Hegemoniebegriff zugrunde gelegt, der – über Gramsci

schiedlichen Theoriesträngen gibt das Standardwerk von Cohen und Arato (1992). hinausgehend – nicht von der Hegemonialwerdung einer spezifischen Gruppe, sondern eines raum-zeitlich spezifischen Diskurses ausgeht (vgl. Kap. II.2.3).

26

| II. THEORETISCHE V ERORTUNG

Die Verbindung von politischer Gesellschaft und Zivilgesellschaft bildet bei Gramsci der integrale oder erweiterte Staat (vgl. OPRATKO 2012b: 39ff.), den er entsprechend als „Hegemonie, gepanzert mit Zwang“ begreift (GRAMSCI 1991ff.: 783). Gramsci weist jedoch an anderer Stellen darauf hin, dass auch Hegemonie bereits Momente des Zwangs enthält, weshalb in der Literatur teils mit dem abgewandelten Zitat ‚Hegemonie = Konsens gepanzert mit Zwang‘ auf ihn Bezug genommen wird (vgl. hierzu HABERMANN 2008: 44). Schlussendlich kommt in dieser gegenseitigen Verflechtung von Zwang und Konsens zum Ausdruck, dass Gramsci die Unterscheidung zwischen politischer Gesellschaft und Zivilgesellschaft nicht als organische, sondern als methodische Unterscheidung25 versteht (GRAMSCI 1991ff.: 1566, vgl. auch 498f.). „Denn wie der Staatsapparat im engeren Sinne auch Elemente der Konsensgenerierung, z.B. die Institutionen der repräsentativen Demokratie, umschließt, so sind auch die Diskurse und Praxen in der Zivilgesellschaft – man denke nur an den Zwangscharakter der öffentlichen Meinung und bestimmter Konventionen – nicht immer frei von Repression.“ (BIELING 2002: 450)

Hervorzuheben ist: Im Staat drücken sich für Gramsci insofern also eben nicht nur exekutive Funktionen aus, sondern er begreift ihn als ein „gesellschaftliches Verhältnis“ (BIELING 2002: 451). Damit unterscheidet sich Gramscis Staatsverständnis wesentlich von dem des Marxismus, auf dem er aufbaut und der den Staat als eine von der Gesellschaft losgelöste Partikularität konzipiert, die der machtvollen Aufrechterhaltung der Diktatur der Bourgeoisie dient (vgl. DEMIROVIC 2007b: 22ff.). Als ein „voraussetzungsvoller gesellschaftlicher Prozess“ ist der Staat für Gramsci mehr als eine solche gewaltausübende Institution, sondern dadurch gegeben, dass er „im Sinne eines institutionellen Ensembles, als Terrain der Konfliktaustragung und Kompromissbildung, als Akteur, Diskurs und Praxis“ vorliegt26 (BRAND 2000: 164). Gegenüber der Auffassung im Marxismus schließt der Staat also die Zivilgesellschaft als den Ort der Willensbildung mit ein und lässt sich nicht auf „Gewalt und Recht“ reduzieren (DEMIROVIC 2007b: 24). Mit diesen Darstellungen zum Verständnis des Staates lässt sich nun auch eine Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage nach einer Erklärung für Erfolg bzw. Scheitern revolutionärer Bestrebungen in unterschiedlichen Ländern Europas geben. 25

Eine ausführlichere Diskussion des bei Gramsci unscharf verbleibenden Verhältnisses von politischer und ziviler Gesellschaft bzgl. funktionsspezifischer Trennung bzw. gegenseitiger Verflechtung findet sich bei Brand (2000: 73f., 245).

26

Eine spezifische hegemoniale Konstellation sozialer Gruppen, die die gesamte Gesellschaft prägt und die sich im integralen Staat reproduziert, begreift Gramsci daran anschließend als „geschichtlichen Block“ (GRAMSCI 1991ff.: 1045, 1547).

II.1 S TAATSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

| 27

„Im Osten war der Staat [im engeren Sinne, d.h. die politische Gesellschaft – P.B.] alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft.“ (GRAMSCI 1991ff.: 874)

Die Rolle dieser robusten Struktur der Zivilgesellschaft in sozialen Auseinandersetzungen beschreibt Gramsci wiederholt metaphorisch mit der Rolle von Schützengräben im Krieg (ebd.: 868, 874, 975, 1545). Reichte der Sturm auf den Winterpalast in der russischen Revolution aus, um Herrschaft ins Wanken zu bringen, so ist in den „modernen Demokratien“ mit den „staatlichen Organisationen als auch [… dem] Komplex von Vereinigungen im zivilen Leben“ – einem System von Verteidigungsgräben gleich – Herrschaft durch Hegemonie abgesichert (ebd.: 1545). Mit der Herausbildung von Hegemonie wandeln sich revolutionäre Bestrebungen vom raum-gewinnenden Bewegungskrieg zum Stellungskrieg (ebd.: 868, 1545, 975). Ein derartiges gramscianisches Verständnis von Staat und Zivilgesellschaft (vgl. ausführlicher BUCI-GLUCKSMANN 1981; VOTSOS 2001) muss grundsätzlich von einem intermediären Verständnis abgegrenzt werden, das die Zivilgesellschaft als eine Art vermittelndes Organ27 gegenüber dem Staat versteht und das gegenwärtig eine hohe Popularität genießt. Eine entsprechende Konzeptualisierung steht in der Tradition liberaler Staatstheorie wie sie von Thomas Hobbes und John Locke begründet wurde (vgl. DEMIROVIC 2007b: 21f.): Der souveräne Staat wird hier als neutrale Instanz verstanden, der über die Wahrung eines Gesellschaftsvertrags wacht, den die Individuen der bürgerlichen Gesellschaft geschlossen haben, um ihre diversen Interessen so zu organisieren, dass Konflikte reduziert werden. Konstitutiv für den Staat, der insofern von der Gesellschaft abgegrenzt ist, ist die durch ihn ausgeübte Gewalt. Das Gewaltmonopol des Staates ist es, das die Konfliktreduktion sowie den Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleistet. Gegenwärtig findet sich ein intermediäres Verständnis der Zivilgesellschaft in Ansätzen des rationalistischen und konstruktivistischen Institutionalismus, welcher zu den dominierenden Theorien der Internationalen Beziehungen zählt28 (METHMANN 2011: 107). Die Staatsmacht wird hier als „politische Spitze“ bzw. „Einheit“

27

Warum ein solches Modell einer intermediären Zivilgesellschaft – gerade auch vor dem Hintergrund internationalisierter Staatlichkeit (vgl. Kap. II.1.1.2) – nicht ausreicht, begründet bspw. Demirovic (2001: 150f.).

28

In den dominanten Theorien der Internationalen Beziehungen findet sich in der GlobalGovernance-Forschung ein hiervon zu unterscheidender Ansatz, der zivilgesellschaftliche Akteure zwar ebenso als „‚das Gegenüber‘ des Staates“ begreift, diese Akteure jedoch „nicht nur als Additiv, sondern als Substitut staatlicher Politik“ versteht (METHMANN 2011:

107f.).

28

| II. THEORETISCHE V ERORTUNG

konzipiert (DEMIROVIC 2001: 150): eine Staatsmacht, in der sich politische Herrschaft top-down, hierarchisch, organisiert. Ein intermediäres Modell legt beispielsweise auch Jürgen Habermas seiner ‚Theorie kommunikativen Handelns‘ zugrunde (HABERMAS 1992: 399ff., insb. 451f.). Den „institutionellen Kern“ der Zivilgesellschaft stellen bei Habermas die „nicht-staatlichen und nicht-ökonomischen Zusammenschlüsse und Assoziationen auf freiwilliger Basis“ dar (ebd.: 443), die „das organische Substrat jenes allgemeinen, aus der Privatsphäre gleichsam hervortretenden Publikums von Bürgern [bilden], die für ihre gesellschaftlichen Interessen und Erfahrung öffentliche Interpretationen suchen und auf die institutionalisierte Meinungs- und Willensbildung Einfluß nehmen.“ (Ebd.: 444)

Der Zivilgesellschaft wird insofern eine appellative Funktion zugewiesen. Zivilgesellschaftliche Akteure können „für ihre Argumente Resonanz in der Öffentlichkeit erzeugen und das politische System aus Bürokratie, Parlament und Regierung belagern, doch haben sie keine direkte Macht über deren Entscheidungen“ (DEMIROVIC 2001: 148). In gewissem Sinne kann für das Handeln zivilgesellschaftlicher Akteure die Metapher des ‚Erweckungskusses des Prinzen‘ herangezogen werden. Die zivilgesellschaftlichen Akteure zielen darauf dem ‚Dornröschenschlaf‘ der Staatsmacht ein Ende zu setzen. Den grundsätzlichen Gegensatz des Habermas’schen intermediären Verständnisses von Zivilgesellschaft zu einem gramscianischen stellt Demirovic anhand dreier Punkte heraus (vgl. DEMIROVIC 2007b: 28f.): Zuallererst versteht Habermas die Zivilgesellschaft als Terrain, auf dem die Korrektur von Fehlern in Politik und Wirtschaft erfolgt, statt sie als Terrain der Herausbildung eines umkämpften hegemonialen Konsenses zu begreifen. Zweitens geht Habermas von der Öffentlichkeit als einer „Sphäre von verallgemeinerungsfähigen Diskursen“ aus, was ein Verständnis von Konsens als „im moralischen Sinn […] wahrheitsfähige[r] Allgemeinheit [impliziert], der alle zustimmen können“ (ebd.: 28). Damit unterscheidet es sich von Gramscis Verständnis von Konsens als einem hegemonialen Konsens, der Ausdruck eines spezifischen Herrschaftszusammenhangs ist. Schließlich stellt die Zivilgesellschaft bei Habermas einen inklusiven Raum dar, in dem eine Debatte ausschließlich über „verallgemeinerungsfähige Gesichtspunkte“ erfolgt (ebd.: 29). Mit einem gramscianischen Zugang hingegen wird jede Allgemeinheit als herrschaftlich vermittelte Partikularität fassbar, als das Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen. In Abbildung 1 wird das gramscianische Verständnis der Zivilgesellschaft graphisch dem intermediären Modell gegenübergestellt. Im Bezug auf die Erklärung von Politikprozessen stellt sich das intermediäre Modell von Zivilgesellschaft statisch dar. Kaum erklärt werden können komplexe Prozesse als Auseinandersetzungen einer Vielzahl sozialer Kräfte.

II.1 S TAATSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

Abbildung 1

| 29

Zwei Konzeptionen der Zivilgesellschaft

Intermediäres Modell der Zivilgesellschaft:

Staat / Regierungen

Zivilgesellschaft als Terrain  hegemonialer Auseinandersetzungen: hegemonialer Konsens

staatliche Entscheidungen Apelle

Politik- gestaltung

zivilgesellschaftliche  Akteure

Zivilgesellschaft als  Terrain der Konfliktaustragung

Eigene Darstellung

Eine Konsequenz aus dem gramscianischen Verständnis der Zivilgesellschaft als des Terrains von Auseinandersetzung um Hegemonie ist es, Zivilgesellschaft als eine nicht von Grund auf normativ ausgezeichnete Instanz zu denken: Zivilgesellschaftliche Akteure verfolgen nicht per se altruistische – am Allgemeinwohl orientierte – Ziele bzw. sind nicht grundsätzlich demokratisch verfasst oder staatskritisch aufgestellt (vgl. hierzu u.a. ALTVATER ET AL. 1997; BRAND ET AL. 2001; BRUNNENGRÄBER ET AL. 2001, 2005). Zivilgesellschaft stellt mit Gramsci keine normative Idee dar – „die Zivilgesellschaft mitsamt NGOs und Neuen Sozialen Bewegungen als Reich der Befreiung“ gegenüber dem „Staat als Reich der Unterdrückung“ (MARCHART 2005: 20). Mit Gramsci ist Zivilgesellschaft vielmehr eine „analytische Kategorie […] deren erkenntnistheoretisches Interesse auf die Analyse von Herrschaftsverhältnissen gerichtet ist“ (MERKENS 2002: 173), von Herrschaftsverhältnissen also, die nicht allein durch Institutionen des Staates aufrechterhalten werden, sondern diskursiv auf dem Terrain der Zivilgesellschaft (re-)produziert werden – das ist, was der Begriff des integralen Staates auszudrücken versucht. In der Zivilgesellschaft als dem Feld konkurrierender Problemdeutungen, Forderungen und Handlungsansätze werden Auseinandersetzungen um Hegemonie ausgefochten, es bildet sich ein hegemonialer Konsens heraus – beispielsweise darüber, was als klimapolitisch adäquat oder legitim angesehen wird. Dies gilt für die Ebene des Nationalstaats, die Gramsci mit seiner Gesellschaftstheorie in den Blick nimmt. Es kann jedoch ebenso auf den Raum internationalisierter Staatlichkeit der Global Climate Governance übertragen werden. Dies wird im Folgenden dargestellt. Zunächst wird dazu auf die der Internationalisierung zugrunde liegenden globalisierungsbedingten Veränderungen von Staat und (Zivil-)Gesellschaft eingegangen.

30

| II. THEORETISCHE V ERORTUNG

II.1.1.2 Zum Verständnis von Zivilgesellschaft in internationalisierter Staatlichkeit In der zentralen Bedeutung, die der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) und dem Kyoto-Protokoll für die institutionelle Bearbeitung des Klimawandels zukommt, offenbart sich eine Transformation von Staatlichkeit, wie sie sich im Zuge der Globalisierung (des Kapitalismus) seit Anfang der 1970er Jahre diagnostizieren lässt: Eine Transformation von Struktur wie auch Funktionsweise der nationalstaatlichen Regulation29 (BIELING & DEPPE 1996: 729). Diese Transformation gründet auf drei Entwicklungstrends (vgl. JESSOP 1997: 573ff. bzw. HIRSCH 2001: 20ff.), die im Folgenden dargestellt werden: Erstens kommt es in einem Prozess der Denationalisierung des Staates aufgrund einer territorialen wie auch funktionalen Reorganisation staatlicher Kapazitäten zu einer ‚Aushöhlung‘ nationalstaatlicher Apparatur. Interventionsmöglichkeiten des Einzelstaates werden so eingeschränkt. Zweitens zeigt sich eine verstärkte Entstaatlichung bzw. Privatisierung von Politik auf allen räumlich-politischen Maßstabsebenen. Nicht-staatliche Akteure werden mehr und mehr in politische Entscheidungsprozesse integriert. Regieren wandelt sich im ‚verhandelnden Staat‘ zu Governance. Der Grundgedanke der Governance ist es, zur Regulation gesellschaftlicher Sachverhalte neben staatlichen Institutionen weitere gesellschaftliche Akteure einzubeziehen. Governance umfasst unterschiedliche Formen der Kooperation zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren, wie beispielsweise den public-private Partnerships. Staatlichen Akteuren kommen dabei verstärkt Moderationsaufgaben gegenüber nicht-staatlichen Akteuren zu. Die Internationalisierung politischer Regulierungskomplexe stellt den dritten Entwicklungstrend dar. Sie kann einerseits als Reaktion auf übergreifende – globale – Problemlagen verstanden werden, die im Zuge der Globalisierung entstehen. Andererseits auch als Ausdruck einer (internationalen) Machtstruktur starker Einzelstaaten, die sich in IWF, OECD oder G8 widerspiegelt. Diese Entwicklungstrends werden hier als diskursiv (re-)produziert begriffen. Demgegenüber begreifen aktuell weit verbreitete Ansätze der Governance-Forschung spezifische Bedingungen – die objektiv vorlägen – als ursächlich für entsprechende Entwicklungstrends. Sie begründen diese insofern funktionalistisch. Jedoch „weder die Richtung der Transformationsprozesse noch die Konfliktfelder und Problemdimensionen [sind] natürlich gegeben bzw. objektiv beschreibbar“ (BRUNNENGRÄBER 2009: 49). Entsprechende Ansätze der Governance-Forschung verkennen die Ursächlichkeit politischer Strategien für die neue Rolle nicht-staat29

„Regulation“ bezeichnet hier die (nicht notwendigerweise intentionale) Stabilisierung von grundsätzlich widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnissen, ohne dass die Widersprüche selbst gelöst werden (LIPIETZ 1985 vgl. zur Regulationstheorie im Weiteren AGLIETTA 1979; ESSER ET AL. 1994).

II.1 S TAATSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

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licher Akteure. Sie verbleiben somit auf einer „apolitischen Ebene“ (METHMANN 2011: 121). Transformationsprozesse – wie sie hier umrissen wurden – müssen demgegenüber als Teil diskursiver (Re-)Produktion (grundsätzlich auch einer Anfechtung) hegemonialer Verhältnisse verstanden werden. Diesen Umstand heben auch Ansätze der kritischen Raumforschung (vgl. bspw. BRENNER ET AL. 2003; WISSEN ET AL. 2008) hervor, die davon ausgehen, dass mit einer spezifischen sozialen Produktion von Raum die Aufrechterhaltung bzw. Anfechtung spezifischer Machtverhältnisse einhergeht. In all den oben beschriebenen Entwicklungstendenzen zeigt sich eine Internationalisierung von Staatlichkeit. Diese umfasst nicht ausschließlich die zunehmende Bedeutung internationaler Institutionen30 – „Mechanismen des Regierens, die nicht notwendigerweise territorial gebunden sind“ (ZÜRN 1998: 172) –, die eine Beteiligung von Regierungen einschließen, jedoch ebenso allein auf nichtstaatlichen Akteuren beruhen können (ebd.: 171ff.). Die Internationalisierung kennzeichnet sich dabei auch durch die Internationalisierung staatlicher Apparate selbst sowie die vielschichtige Verknüpfung verschiedener Handlungsebenen (vgl. HIRSCH 2001: 24). Es ist die „rearticulation of different levels of the territorial organization of power within the global system“, die die Rolle des Nationalstaates verändert,31 ohne dass jedoch von der Herausbildung einer eigenständigen Ebene globaler Staatlichkeit gesprochen werden könnte (JESSOP 1997: 574). Trotz aller Veränderungen kommt dem Nationalstaat noch immer eine zentrale Rolle zu: „[S]tates tend to be the centers of the regulation of class and other societal relations and it is essentially up to them to provide the general conditions of production (laws, infrastructure, research, technology) and reproduction“ (BRAND & GÖRG 2008: 575). Angestoßen von diesen hier umrissenen globalen Transformationsprozessen versuchen seit den 1980er Jahren vermehrt Arbeiten, Gramscis staatstheoretische Überlegungen, die dieser mit Bezug auf den Nationalstaat entwickelt, für die interund transnationale Ebene fruchtbar zu machen (für einen Überblick vgl. bspw. GILL 1993b; BIELING & DEPPE 1996; SCHERRER 1998; BIELER & MORTON 2004; 2006; OPRATKO & PRAUSMÜLLER 2011). Dabei bildet sich die neo-gramscianische Inter-

30

Zu entsprechenden internationalen Institutionen zählen Regime – wie UNFCCC und Kyoto-Protokoll – ebenso wie Netzwerke, Organisationen und konstitutive Prinzipien (vgl. ZÜRN 1998: 171ff.).

31

Es handelt sich dabei um Prozesse der Re-Skalierung von Staatlichkeit, welche in zwei Richtungen verlaufen: „a down-scaling to lower regional levels as much as an up-scaling to higher supra- or international levels“ (BRAND & GÖRG 2008: 574). Mit der kritischen Raumtheorie haben sich in der Wissenschaftslandschaft Ansätze herausgebildet, die sich diesen Prozessen widmen (vgl. bspw. BRENNER ET AL. 2003; WISSEN ET AL. 2008).

32

| II. THEORETISCHE V ERORTUNG

nationale Politische Ökonomie (IPÖ)32 als ein kritischer Theoriestrang im Feld der Internationalen Beziehungen heraus. Sie wird hier im Sinne eines gesellschaftsbzw. staatstheoretischen Rahmens umrissen, mit dem die in den Blick genommene Global Climate Governance und die zugrunde liegenden Auseinandersetzungen sozialer Kräfte um Hegemonie fassbar wird (vgl. auch OKEREKE & BULKELEY 2007: 22; MORTON 2003): Einerseits hebt das an Gramsci anschließende Verständnis von Zivilgesellschaft weitere Akteure – neben den staatlichen – als bedeutend für die Gestaltung von Politik wie den Umgang mit kollektiven Problemen hervor. Andererseits bietet die IPÖ eine umfassende Konzeption von Hegemonie. Ein Fokus der IPÖ liegt auf dem Prozess politischer Auseinandersetzung und Verständigung. Anders als konventionelle Theorien Internationaler Beziehungen begreift die IPÖ Hegemonie nicht als Dominanzverhältnis eines Einzelstaats gegenüber anderen Staaten. Hegemonie im internationalen politischen System wird vielmehr als ein „konsensual abgestützter Modus transnationaler Vergesellschaftung“ verstanden (BIELING & DEPPE 1996: 730), als „ein soziales Verhältnis auf der Basis einer geschichtlich spezifischen Konstellation von materiellen Strukturen, politischen und sozialen Kräften sowie herrschenden Normen und Diskursen“ (BORG 2001b, vgl. auch 2001a: 100). Gegenüber den Staaten in herkömmlichen Theorien Internationaler Beziehungen werden auch soziale Kräfte als Subjekte der Hegemoniebildung verstanden. Sie wirken nicht nur auf der Ebene der Nationalstaaten, sondern weisen ebenso eine „transnationale Handlungskompetenz“ auf (BORG 2001b). Insofern wird der „Kampfplatz um Hegemonie“, die Zivilgesellschaft, „globalisiert“ (ebd.).33

32

Wird im Folgenden von IPÖ gesprochen, so ist immer die neo-gramscianische Ausprägung Internationaler Politischer Ökonomie gemeint.

33

Kontrovers bleibt dabei die Frage, ob alle sozialen Kräfte zur hegemonialen Artikulation auf internationaler Ebene in der Lage sind oder ob dies ausschließlich für bestimmte Kräfte gilt – Kräfte, die sich territorial (insbesondere auf der Ebene des Nationalstaats) verorten lassen. Borg diskutiert Unterschiede zwischen den für die IPÖ zentralen Theoretikern Cox und Gill. Er kommt zu dem Ergebnis, dass für Cox ausschließlich ein Teil der sozialen Kräfte, der gleichzeitig auf der nationalen Ebene verortet ist, an der hegemonialen Artikulation auf internationaler Ebene mitwirkt. Gill hingegen begreift – zumindest für die Phase nach Abschluss des Fordismus (zum Begriff des Fordismus bzw. des Postfordismus vgl. auch Fußnote 74 auf Seite 71) – die Gesamtheit sozialer Kräfte als handlungskompetente globale Akteure, die nicht mehr territorial zuzuordnen sind. (vgl. BORG 2001a: 98f, 105ff.)

II.1 S TAATSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

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II.1.2 Die Global Climate Governance als materielle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse (Poulantzas) Wenn neo-gramscianische Ansätze der IPÖ ihre Aufmerksamkeit, wie dargestellt wurde, auf Prozesse der Zivilgesellschaft richten, ermöglichen sie ein Verständnis von Auseinandersetzungen um Hegemonie bzw. der Rolle sozialer Kräfte in der internationalen Politik. Neo-gramscianische Ansätze sehen sich jedoch der Kritik ausgesetzt, die Institutionen des ‚Staates im engeren Sinne‘ zu vernachlässigen. Eine Konzeption internationalisierter Staatlichkeit wird im Neo-Gramscianismus tatsächlich eher nachrangig behandelt: Im Zuge der Internationalisierung unterliege der „integrale (National-)Staat“ – so die oben thematisierten verbreitete Auffassung – verschiedenen „Neukonfigurations-, Desintegrations- und Fragmentierungstendenzen“ (HIRSCH 2001: 24). Hegemoniebildung vollziehe sich infolgedessen in verschiedenen „Reproduktionsräumen“, die nicht per se mit dem Nationalstaat konsistent sein müssen (BRAND ET AL. 2007: 222). ‚Internationalisierung von Staatlichkeit‘ wird damit jedoch nicht als die Herausbildung einer in sich geschlossenen autonomen Einheit auf internationaler Ebene – eines „Weltstaates“ (BRAND 2007: 161) – konzeptualisiert (vgl. hierzu auch JESSOP 1997: 574). Der Staat, so die Vorstellung, vermittle hingegen im Sinne eines Transmissionsriemens zwischen internationaler und nationaler Ebene. Internationalisierter Staatlichkeit wird in neo-gramscianischen Ansätzen damit die Rolle zugewiesen, „antagonistische gesellschaftliche Verhältnisse abzusichern und auf Dauer zu stellen“, was sich auch in der Etablierung internationaler Institutionen ausdrückt (BRAND ET AL. 2007: 222). Wie diese Staatlichkeit auf internationaler Ebene jedoch konzeptionell zu fassen sei, hinsichtlich dieser Frage bleiben neogramscianischen Ansätzen der IPÖ oft jedoch unscharf (vgl. auch ebd.: 218f.). Cox beschreibt so beispielsweise die politische Struktur veränderter Staatlichkeit analytisch vage, nämlich als „nébuleuse“ (COX 1992: 30, Hvb. im Original). Um der Aktualität von Staatlichkeit gerecht zu werden, ist insofern eine Fortentwicklung neo-gramscianischer Ansätze notwendig. Eine gewinnbringende Perspektive – die im Folgenden dargestellt werden soll –, das oben beschriebene Defizit in der staatstheoretischen Fundierung neo-gramscianischer Ansätze zu überwinden, liefert die materialistische Staatstheorie Nicos Poulantzas’34 (1978). Mit ihr kann eine Konzeption von Staatlichkeit entwickelt werden, in der einerseits das (neo-)gramscianische Verständnis von Zivilgesellschaft – wie in Kapitel II.1.1

34

Arbeiten von Ulrich Brand (2007; 2009b), Ulrich Brand u.a. (2007; 2008), Alex Demirovic (2007a; 2010), Joachim Hirsch (2002) und Bob Jessop (1990a; 2002) greifen Poulantzas’ staatstheoretische Überlegungen auf bzw. entwickeln diese gewinnbringend weiter.

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dargestellt – aufgeht, andererseits jedoch die Funktion der Institutionen des ‚Staates im engeren Sinne‘ nicht vernachlässigt wird. Diese von Gramsci vorgenommene „‚Doppelbestimmung‘ des Staates – als gesellschaftliches Kräfteverhältnis und als spezifische institutionelle und diskursive Apparatstruktur –“ formuliert Poulantzas systematisch aus (BIELING 2002: 451). Anschließend an Debatten der kritischen Raumtheorie zu Staatsfunktionen auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen kann Poulantzas Ansatz für das Verständnis internationaler politischer Institutionen nutzbar gemacht werden. Seine materialistische Staatstheorie kann so die hier in den Blick genommene Global Climate Governance mitsamt ihrer internationalen Institutionen sowie der Zivilgesellschaft begreifbar machen. Poulantzas begreift den Staat als „ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt“ (POULANTZAS 1978: 119). Mit dem Verständnis des Staates als eines sozialen Verhältnisses erfolgt eine Abgrenzung von der Auffassung des Staates als „neutrale[r] und zweckrationale[r] Instanz oder ‚Instrument‘ der herrschenden Klasse(n)“ (BRAND ET AL. 2007: 225). Mit dem Begriff der Verdichtung konkretisiert Poulantzas nun dieses Verständnis, indem er hervorhebt, dass der Staat stabilisierend auf soziale Kräfteverhältnisse wirkt, aber diese auch durch seine Materialität verändert (BRAND 2007: 166). Verdichtung ist dabei nicht im Sinne von „Kompression“ zu verstehen, sondern als eine Verknüpfung unterschiedlicher „Handlungsketten und Machtverhältnisse“ in einem „Element“, die zu einer Konzentration bestimmter „Interessens- und Konfliktlagen“ führt (DEMIROVIC 2001: 155). Drei Aspekte kennzeichnen das Verständnis des Staates als Verdichtung: „Erstens hat der Staat keine eigene Macht, sondern ist eine besondere Form, die die gesellschaftliche Macht annimmt. […] Zweitens nimmt die gesellschaftliche Macht, indem sie zum Staat wird, eine besondere materielle Gestalt an; sie verdichtet sich zu und in besonderen Apparaten. [...] Drittens handelt der Staat nicht einheitlich. [...] Einzelne [...] Machtpositionen [...] dominieren die anderen und vereinheitlichen sie.“ (Ebd.)

Den Begriff der Verdichtung greifen Brand et al. für das Verständnis von Staatlichkeit auf internationaler Ebene auf (vgl. bspw. BRAND 2007; BRAND ET AL. 2007). Sie schließen dabei an den Scale-Begriff der kritischen Geographie an,35 mit dem 35

Die Scale-Debatte verbleibe, so Brand (2008: 173), zumeist staatstheoretisch ohne Fundament bzw. unscharf ausformuliert. Eine Ausnahme sei Neil Brenners Arbeit (BRENNER 2004), die jedoch hinsichtlich der Rolle des Staates drohe, funktionalistisch zu argumentieren, wenn sie primär die Strategien der Akkumulation in den Blick nimmt (BRAND 2008: 175). Mit dem Anschluss an Poulantzas’ Staatstheorie erhebt Brand den

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hervorgehoben wird, dass räumliche Maßstabsebenen konstitutiv sozial (re-)produziert sind und ihre Reproduktion sozialen Auseinandersetzungen unterliegt (vgl. bspw. SWYNGEDOUW 1997). Mit dem Scale-Begriff ist es möglich, „den Staat ausschließlich nicht mehr an den Nationalstaat (und seine lokalen Untereinheiten) zu binden. Der Staat ist dabei nicht ein Akteur unter vielen, aber auch nicht das gesellschaftliche Steuerungszentrum. Vielmehr erbringt er als institutionelles Ensemble verschiedene Stabilisierungs- und Steuerungsleistungen, die als Staatsfunktionen bezeichnet werden können“ (BRAND 2008: 174).

Die Staatsfunktionen sind mit der Internationalisierung des Staates „einer verstärkten Multi-Skalierung“ ausgesetzt (ebd.: 178). Mit Poulantzas können die Staatsfunktionen als Ergebnis von Auseinandersetzungen um das Soziale verstanden werden. Poulantzas’ Konzeption des Staates als materielle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse erlangt damit eine multiskalare Anwendbarkeit36 (ebd.: 180). Internationale Institutionen37 können so als „materielle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse zweiter Ordnung“ begriffen werden (BRAND 2007: 170, Hvb. P.B.), in ihnen zeigt sich eine „spezifische Materialität internationaler Politik“ (ebd.: 167). Der Austragungsort der sozialen Auseinandersetzungen, die diese Materialität gestalten, stellt – mit Gramscis Begrifflichkeiten formuliert – der erweiterte Staat dar. Die sozialen Kräfteverhältnisse, die sich in den internationalen Institutionen, d.h. in internationalisierter Staatlichkeit ‚im engeren Sinne‘ (Gramsci) verdichten, bilden sich wesentlich auf dem Terrain der (globalen) Zivilgesellschaft heraus (vgl. Kap. II.1.1.2, Seite 30ff.). Die spezifische Ausgestaltung der internationalen klimapolitischen Institutionen – der Klimarahmenkonvention (UNFCCC) und des Kyoto-Protokolls – wird im Weiteren entsprechend d ieser poulantzianischen Konzeption des Staates als eine materielle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse auf der Ebene der internationalen Politik begriffen. Damit ist gemeint, dass es ein spezifisches Arrangement soAnspruch, die Scale-Debatte einer „hegemonietheoretischen Kritik“ zu unterziehen, durch die die „Widersprüche dieses Prozesses [der Akkumulation], die Kämpfe sozialer Bewegungen sowie die Konstitution von Hegemonie und dabei die Rolle des Staates“ bewusst gemacht werden (ebd.). 36

Ausgehend von der Kritik an der Beschränkung des poulantzianischen Staatsbegriffs auf die nationale Ebene entwickelt Demirovic ein alternatives Verständnis des internationalisierten Staates als „ein Reproduktionsmodus, der sich auf Teile des Nationalstaats wie auf internationale Organisationen stützen kann“ (DEMIROVIC 2001: 163). Der Staat ist aus seiner Sicht „als strategisches Feld, als weitläufiges Netzwerk von reproduktiven Mechanismen zu begreifen, in denen die soziale Macht flottiert“ (ebd.: 162).

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Brand spricht von internationalen staatlichen Apparaten (ebd. 2007).

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zialer Kräfte ist, entlang dem sich entscheidet, was sich als Problemwahrnehmung und was als Lösungsansätze durchsetzt bzw. welche Akteure in welchem Umfang einbezogen werden.38 Unter dem Begriff der Global Climate Governance39 wird im Folgenden die multiskalare Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse gefasst. Das institutionelle Ensemble der Klimapolitik beschränkt sich nicht auf eine räumliche Maßstabsebene – sei es die der internationalen Politik oder die nationalstaatliche. Staatsfunktionen sind hingegen auf verschiedenen Maßstabsebenen auszumachen. Die Bearbeitung des Klimawandels integriert dabei eine Vielzahl heterogener sozialer Kräfte (vgl. zu diesen Kräften bspw. BRUNNENGRÄBER 2009: 147ff.; BEISHEIM 2004; NEWELL 2000, 2008a; WALK & BRUNNENGRÄBER 2000). Die sich materialisierenden Kräfte38

Eine solche Konzeption internationalisierter Staatlichkeit ‚im engeren Sinne‘ die neben der institutionellen und diskursiven Apparatstruktur ebenso gesellschaftliche Kräfteverhältnisse berücksichtigt (vgl. zur Doppelbestimmung des Staates bei Gramsci Bieling 2002: 145) unterscheidet sich wesentlich von der Regimetheorie, die auf Ersteres fokussiert. Die Regimetheorie, die zur Erklärung internationaler Kooperation in den Internationalen Beziehungen lange Zeit vorherrschte, greift internationale Regime begrifflich als „principles, norms, rules, and decision-making procedures around which actor expectations converge in a given issue-area“ (KRASNER 1993a: 1; vgl. zur Regimetheorie YOUNG 1989; KRASNER 1993b; HASENCLEVER ET AL. 1997). Im Vordergrund ihrer Betrachtung steht der „outcome of international co-operative effort“, weshalb primär „possible strategic options or behaviour of national governments“ in den Blick genommen werden (OKEREKE & BULKELEY 2007: 8). Die Regimetheorie verbleibt dabei staatszentriert, wenn der Nationalstaat der wesentliche Bezugspunkt für die Erklärung globaler Prozesse ist. Der Staat selbst behält den Status einer „black box“ (OKEREKE & BULKELEY

2007: 7 mit Verweis auf Stokke 1997: 29). Die Bedeutung von Auseinanderset-

zungen sozialer Kräfte für die Konstitution der internationalen Apparate kann mit der Regimetheorie nicht erfasst werden. 39

Der Begriff wird hier im Sinne eines analytischen Konzepts verstanden und damit von einer normativen bzw. strategischen Verwendung abgegrenzt (vgl. BRUNNENGRÄBER 2009: 21f., 49f.). Das in den Theorien Internationaler Beziehungen vorherrschende Verständnis von Governance hat eine Tendenz zum Funktionalismus, wenn es Governance als notwendige Reaktion auf die – objektiv vorliegende oder unhintergehbare – ‚Globalisierung‘ versteht (zum Begriff der Governance und seiner unterschiedlichen Rezeption vgl. die knappen Überblicke bei BRAND 1997, 2004). Eine analytische Konzeption von Governance nimmt hingegen verschiedene, in gegenseitiger Wechselwirkung miteinander stehende, „spezifische Dimensionen der Globalisierung“ in den Blick (BRUNNENGRÄBER

2009: 50ff. – siehe hier auch eine Darstellung entsprechender Dimensionen),

die für die (Re-)Produktion bzw. Anfechtung des Sozialen als konstitutiv begriffen werden.

II.1 S TAATSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

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verhältnisse auf verschiedenen Maßstabsebenen sind komplex miteinander verschränkt: Nationalstaatliche Wirtschaftspolitik beeinflusst beispielsweise sich herausbildende Mechanismen in der internationalen Politik, welche wiederum lokal gesellschaftliche (Natur-)Verhältnisse prägen. Die Global Climate Governance stellt sich insofern als multi-level Governance dar (vgl. BACHE & FLINDERS 2004; BRUNNENGRÄBER & WALK 2007). Sie ist gekennzeichnet „durch Wechselwirkungen und Interdependenzen zwischen verschiedenen Ebenen, die Akteursvielfalt und politikfeldübergreifende Zusammenhänge“ (BRUNNENGRÄBER 2009: 20).

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| II. THEORETISCHE V ERORTUNG

II.2 D ISKURSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN – ZUR (R E -)P RODUKTION VON H EGEMONIE Dargestellt wurde, wie mit Gramscis Staatstheorie die Zivilgesellschaft als Terrain politischer Auseinandersetzungen um Hegemonie begreifbar wird – Auseinandersetzungen also, um die Absicherung oder Erlangung von Herrschaft durch einen aktiven bzw. passiven Konsens. Diese Perspektive wird von der neo-gramscianischen Internationalen Politischen Ökonomie auf die Ebene internationaler Politik übertragen, wenn sie transnational orientierte soziale Kräfte – wie NGOs und soziale Bewegungen – als Subjekte der Hegemoniebildung versteht und so die in den Theorien Internationaler Beziehungen vorliegende Verengung von Kämpfen um Hegemonie auf Nationalstaaten überwindet. Auseinandersetzungen um Hegemonie schreiben sich in eine spezifische Balance sozialer Kräfteverhältnisse ein. Mit neopoulantzianischen Ansätzen, so wurde argumentiert, kann die historisch-spezifische Materialität internationaler Institutionen als „materielle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse“ (zweiter Ordnung) verstanden werden – sozialer Kräfteverhältnisse, die sich in der globalisierten Zivilgesellschaft herausbilden. Insofern kommt der Zivilgesellschaft bei der Herausbildung der Materialität der internationalen klimapolitischen Institutionen, d.h. der UN-Klimarahmenkonvention und des sie ergänzenden Kyoto-Protokolls, eine zentrale Bedeutung zu. Unbeantwortet blieb in den bisherigen Darstellungen die Frage danach, wie sich Hegemonie konkret herausbildet, d.h. wie sie (re-)produziert wird bzw. wie Poulantzas’ ‚Verdichtung‘ im Konkreten verläuft.40 Als Perspektive zur Beantwortung dieser Frage wird mit dem vorliegenden Kapitel die an Gramscis Hegemonieverständnis anschließende diskurstheoretische Hegemonietheorie herangezogen41, die von Ernesto Laclau (*1935) und Chantal Mouffe (*1943) begründet (LACLAU & MOUFFE 2006) und im Anschluss von Laclau42 weiter ausgearbeitet wurde

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Poulantzas begrenzt sich bei seiner Analyse der Verdichtung von Kräfteverhältnissen auf „die konstituierenden Elemente der Verdichtung“ und nimmt „den Prozess der Verdichtung selbst“ nicht in den Blick (Laclau 1981: 83, zitiert in NOWAK 2010: 210).

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Deren Ansatz bietet eine Perspektive zur „Erklärung der ideologischen Dimension der Verdichtung“. Er schließt so eine Lücke, die aufgrund von Poulantzas’ primärem analytischen Fokus auf „die gesellschaftlichen Kräfte […], die Herrschaftsprojekte verfolgen“, vorliegt (ebd.: 210, Hvb. P.B.).

42

Über ihr Buch von 1985 „Hegemonie und radikale Demokratie“ hinaus publizierten Ernesto Laclau und Chantal Mouffe nicht gemeinsam. Laclaus post-marxistisches Verständnis von Politik und Mouffes theoretische Überlegungen zu radikaler Demokratie führen sie in ihrem gemeinsamen Buch zusammen, entfalten sie daran anschließend jedoch wieder jeweils getrennt voneinander, weshalb Wenman dafür plädiert, von keiner

II.2 D ISKURSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

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(LACLAU 1990a; 2002b; 2007, vgl. auch die Einführungen in die theoretischen Überlegungen bei TORFING 1999; NONHOFF 2006; HABERMANN 2008; WULLWEBER 2010). Es sind insbesondere zwei Gründe, weshalb Laclaus und Mouffes Ansatz aufgegriffen wird: Zum einen entwerfen sie mit ihrem Verständnis von Diskurs eine Ontologie des Sozialen, die für die empirische Analyse der (Re-)Produktion von Hegemonie eine detailliert ausgearbeitete Basis bietet (vgl. insb. Kap. II.2.4). Ihr Ansatz ermöglicht ein grundlegendes Verständnis der Prozesse der Universalisierung und Marginalisierung bzw. des Ausschlusses bestimmter Deutungen, die hegemonialen Konsensen zugrunde liegen. Zum anderen stellt die diskurstheoretische Hegemonietheorie eine Perspektive auf die Konstitution von Hegemonie dar, die anschlussfähig an die neo-gramscianischen bzw. neo-poulantzianischen Überlegungen (Kap. II.1) ist und zugleich essentialisierende Tendenzen dieser Ansätze überwindet. Laclaus und Mouffes Ansatz kann als anti-essentialistisch verortet werden. Sie überwinden Vorstellungen von Herrschaft, die eine determinierende „letzte Instanz“ (Althusser) voraussetzen. Den theoretischen Überlegungen Gramscis und Poulantzas liegt eine solche deterministische Argumentation zugrunde, wenn diese von der Existenz von Klassen als Ausdruck spezifischer Produktionsverhältnisse ausgehen43 (LACLAU & MOUFFE 2006: 105; BRAND ET AL. 2007: 225f.). Gramscis Klassismus „authorial identity ‚Laclau and Mouffe‘“ zu sprechen (WENMAN 2003: 582). Im Folgenden wird von Laclaus und Mouffes theoretischen Überlegungen gesprochen, wenn auf ihr grundlegendes Buch von 1985 Bezug genommen wird. Stehen einzelne Aspekte im Vordergrund, die Laclau in den Folgejahren weiter ausarbeitete, so wird von Laclaus Überlegungen gesprochen. 43

Ansätze, die an Gramsci und Poulantzas anschließen zeigen, dass deren Überlegungen grundsätzlich mit einer anti-essentialistischen Perspektive verknüpfbar sind. So finden sich in verschiedenen neo-gramscianischen und neo-poulantzianischen Arbeiten Versuche Essentialismen, die Gramscis und Poulantzas’ Theorien zugrunde liegen zu überwinden (vgl. beispielsweise HIRSCH 1992; GÖRG 1995; BRAND ET AL. 2007; JESSOP 2007). Grundlegend ist diesen Arbeiten dabei der Rekurs auf den Marx’schen Begriff der sozialen Form. Die spezifischen (kapitalistischen) Produktionsverhältnisse werden als soziale Form verstanden. Dabei ist es gesellschaftliches Handeln, das die Strukturen und Institutionen hervorbringt, durch die das Produktionsverhältnis reproduziert wird, das wiederum auf das Handeln zurückwirkt (HABERMANN 2008: 58). Wird die soziale Form dabei konsequent als spezifische Diskursorganisation verstanden, kann von ihr als „diskursive[r] Form“ (WULLWEBER 2009: 122, Hvb. im Original) gesprochen werden. Einige der Ansätze laufen jedoch Gefahr, aus der Produktionsweise als kapitalistischer Grundstruktur die soziale Form abzuleiten und so wiederholt deterministisch zu argumentieren (vgl. HABERMANN 2008: 58).

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zieht insofern zugleich einen Ökonomismus nach sich (LACLAU & MOUFFE 2006: 105). Ihre Theorie entwickeln Laclau und Mouffe ausgehend davon, den essentialistischen Kern in Gramscis Überlegungen zu dekonstruieren (so auch der Titel ihres grundlegenden Buches ebd.; vgl. auch HABERMANN 2008: 84f.). Gegenüber einer transzendenten Gründung des Sozialen – beispielsweise in der Ökonomie – weisen Laclau und Mouffe die Möglichkeit eines Grundes zurück. Mit ihrer diskurstheoretischen Hegemonietheorie entwickeln sie einen post-fundationalistischen Ansatz mit dem jede Gründung des Sozialen als kontingent begriffen werden muss (vgl. MARCHART 2002; zum Begriff der Kontingenz s.a. Kap. II.2.1, Seite 44): „Es geht um politische Gründungsversuche im Plural, die zwar in letzter Instanz scheitern, aber dennoch zu partiellen Totalisierungseffekten führen werden.“ (ebd.: 12)

Auf die anti-essentialistische Orientierung des Theorieansatzes und den Entwurf einer Ontologie des Sozialen, die die (Re-)Produktion von Hegemonie erklärt, wird bei der folgenden Darstellung der diskurstheoretischen Grundlagen der Studie näher eingegangen. Das Kapitel gliedert sich in fünf Abschnitte: Im ersten Teil (Kap. II.2.1) wird ein Überblick über die diskurstheoretische Hegemonietheorie und ihre zentralen Begriffe gegeben. Der daran anschließende Teil widmet sich mit dem ‚leeren Signifikanten‘ einem Schlüsseltheorem des Ansatzes (Kap. II.2.2), bevor näher auf die Rolle sozialer Kräfte im Diskurs bzw. bei der (Re-)Produktion von Hegemonie eingegangen wird (Kap. II.2.3). In einem vierten Teil (Kap. II.2.4) wird die Frage behandelt, wie der Erfolg hegemonialer Praxis konzeptualisierbar ist. Im abschließenden fünften Teil (Kap. II.2.5) wird – ausgehend von den hegemonietheoretischen Grundlagen – konkretisiert, was als Kritik bzw. was als Affirmation verstanden werden kann. Insbesondere in den letzten beiden Abschnitten wird insofern auf zwei Aspekte eingegangen, die für die anschließende empirische Betrachtung von Auseinandersetzungen um Hegemonie bedeutend sind. II.2.1 Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes Diskurstheorie der Hegemonie – ein Überblick Herrscht im Forschungsfeld der Internationalen Beziehungen ein Verständnis von Hegemonie als Dominanzverhältnis vor, so hebt eine gramscianische Perspektive auf Hegemonie die Dimension des Konsenses hervor. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe weisen mit ihrer hegemonietheoretischen Diskurstheorie (LACLAU & MOUFFE 2006) darauf hin, dass Prozesse der Konsensbildung alles Soziale durchdringen. Für Laclau und Mouffe sind „[a]lle sozialen Relationen […] hegemonialer Artikulation geöffnet“ (MARCHART 2007: 108). Mit dem Sozialen wird eine bestimmte Bedeutung – eine bestimmte gesellschaftliche Wirklichkeit – fixiert (LA-

II.2 D ISKURSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

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CLAU 1990a:

35); sie wird hegemonial. Das Soziale ist Ergebnis hegemonialer Artikulationen auf dem Terrain des Politischen. Damit wird Hegemonie zur „Logik des Politischen“ und „zum Schlüsselkonzept einer allgemeinen Sozialtheorie“ (MARCHART 2007: 108). Auseinandersetzungen um Hegemonie konstituieren für Laclau und Mouffe insofern das Soziale, für das sie mit ihrem Verständnis von Diskurs ein ontologisches Fundament entwerfen. Im Diskurs ist es, wo die Verhandlung von Bedeutung und ihre Fixierung erfolgt. Für Laclau und Mouffe wird „[d]as Soziale […] gleichumfänglich mit dem Diskursiven, Gesellschaftstheorie wird zu Diskurstheorie, politische Analyse zu Diskursanalyse (und umgekehrt)“ (ebd.). In diesem Sinne operationalisieren sie Hegemonie diskurstheoretisch. Diskurs stellt für Laclau und Mouffe „ein differentielles und strukturiertes System von Positionen“ dar, das von „sprachlichen und nicht-sprachlichen Elemente[n]“ konstituiert wird44 (LACLAU & MOUFFE 2006: 145). Dieses System konstituiert sich durch diskursive Relationierung (vgl. hierzu ebd.: 167ff., NONHOFF 2006: 86ff.). Die Relationierung folgt dabei zwei grundsätzlichen Logiken: Einerseits ist es eine Logik der Differenz, die einzelne Elemente überhaupt als solche konstituiert. D.h. die Bedeutung einzelner Elemente wird durch Differenzierung voneinander konstitutiert. Indem Elemente andererseits einer Logik der Äquivalenz folgen, werden sie miteinander zu Gruppen verknüpft – zu Äquivalenzketten in Laclaus und Mouffes Terminologie. Alle Akte der Bedeutungsgenerierung durch diskursive Relationierung bezeichnen Laclau und Mouffe als Artikulationen (LACLAU & MOUFFE 2006: 141ff., 150f.). Artikuliert werden im Diskurs Elemente. In jüngeren Arbeiten, in denen Laclau die Herausbildung kollektiver Identitäten in den Blick nimmt, spricht er von der Artikulation von Forderungen, aus der vereinheitlichte Signifikationssysteme hervorgehen (LACLAU 2007: 72ff.). Die Einheit einer Gruppe, so Laclau, konstituiert sich durch die Artikulation von Forderungen. Dem Begriff der Forderung liegt Laclau zufolge eine Mehrdeutigkeit zugrunde (ebd.: 73): Im englischsprachigen bezeichnet der Begriff ‚demand‘ einerseits die Bedeutung von Forderung im Sinne des ‚Ersuchens‘ 44

Laclau und Mouffe unterscheiden sich hier von anderen diskurstheoretischen Ansätzen, die dem Diskurs ausschließlich sprachlich-textliche Praktiken zuordnen (bspw. Michel Foucault, der zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken differenziert). Methmann und Kollegen weisen darauf hin, dass es in erster Linie wohl eine Frage der verwendeten Terminologie ist, die verschiedenen Ansätze interpretativer Forschung voneinander unterscheidet und kein grundsätzliches Desinteresse, nicht-sprachliche Praktiken der Generierung von Bedeutung in eine Analyse miteinzubeziehen (METHMANN ET AL.

2013b: 6). Im Konzept der Dispositive verbindet so beispielsweise Fou-

cault in seinen Analysen nicht-diskursive und diskursive Praktiken (FOUCAULT 1978: bspw. 120ff.).

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(request), andererseits die Bedeutung von Forderung im Sinne eines ‚Anspruchs‘ (claim). Im Weiteren Verlauf der Studie wird die Forderung als kleinste Einheit für die Analyse politischer Auseinandersetzungen um die Konstitution des Sozialen herangezogen. Es sind Forderungen45 die politische Projekte als Signifkationssysteme konstituieren. Im Folgenden werden derartige Projekte – sei es ein Projekt, das Hegemonie erlangt hat, oder seien es Projekte, die auf dem Terrain des Politischen darum konkurrieren, hegemonial zu werden – als Hegemonieprojekte bezeichnet. Jedes Hegemonieprojekt weist eine notwendige Zweiteilung des diskursiven Raums auf. Das Hegemonieprojekt als ein Ensemble von Forderungen umfasst zwei Äquivalenzketten, die konträr zu einander stehen (vgl. hierzu LACLAU & MOUFFE 2006: 172f.; NONHOFF 2006: 215f., 219ff.): eine, mit der ein spezifisches (gesellschaftliches) Allgemeines46 artikuliert wird und eine, mit der all die Widerstände gegenüber der Etablierung dieses Allgemeinen artikuliert werden (das für diesen Diskurs spezifische ausgeschlossene Andere). Erstere Äquivalenzkette beinhaltet die Forderungen, die einmal erfüllt, zu gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit führen (das ‚Glückseligmachende‘), letztere beinhaltet die Herausforderungen, die ein Hemmnis für die Realisierung dieser Harmonie und Vollkommenheit darstellen (das ‚Grauen‘) (vgl. GLYNOS & HOWARTH 2007: 147). Die Artikulation eines Hegemonieprojekts – die Zweiteilung des diskursiven Raums durch die Artikulation eines Antagonismuses, d.h. einer spezifischen Harmonie und Vollkommenheit und eines spezifischen Hemmnisses – ist immer konfrontiert mit einem radikal Anderen47 (siehe auch Abbildung 2); „something which does not have access to a general space of representation“ (LACLAU 2007: 139). Laclau bezeichnet dieses Ausgeschlossene als „social heterogeneity“ bzw. „the 45

Den Begriff der Forderung führt Laclau im Zusammenhang mit seinem Konzept von Populismus (LACLAU 2007) ein. Populistische Projekte konstituieren sich, wenn aufgrund der Äquivalenzierung differenzieller Forderungen eine interne Grenze gegenüber dem Hegemonialen gebildet wird – „a dichotomization of the local political spectrum“ (ebd.: 74). Während populistische Projekte in der politischen Auseinandersetzung auf die Konstitution des Sozialen zielen, konstituieren hegemoniale Projekte (d.h. Hegemonieprojekte, die Hegemonie erlangt haben) das Soziale (ebd.: 154f.). In der vorliegenden Arbeit wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass sich auch hegemoniale Projekte als Signifikationssysteme durch Artikulation von Forderungen konstituieren.

46

Zum Begriff des Allgemeinen vergleiche die ausführlichen Darstellungen bei Nonhoff (2006: 109ff., 130f.) und Wullweber (2010: 110).

47

In jüngeren Arbeiten stellt für Laclau das Lacan’sche Reale – sei es beispielsweise das Wetter, der alternde Körper oder ein Erdbeben als physische Ereignisse ohne Bedeutung – den „Kern des Außen“ des Diskurses dar, d.h. den Kern dessen, was im Diskurs nicht greifbar ist (vgl. HABERMANN 2008: 89, 113).

II.2 D ISKURSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

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heterogeneous other“ (ebd.: 140, 149; Hvb. im Original). Vor dem Hintergrund sozialer Heterogenität „konstituieren [Antagonismen] die Grenzen der Gesellschaft und deren Unmöglichkeit, sich vollständig zu konstituieren“ (LACLAU & MOUFFE 2006: 165). Der auf der Ebene des theoretisch Allgemeinen (des Ontologischen) für jeden Diskurs konstitutive Antagonismus48 ist insofern „Zeuge der Unmöglichkeit einer endgültigen Naht“ der diskursiven Struktur (ebd.). Er ist Zeuge der Unmöglichkeit einer ultimativen Fixierung von Bedeutung. Die Fixierung von Bedeutung – so kann mit Laclau und Mouffe resümiert werden – erfolgt also nicht beliebig, sondern in der durch den Diskurs konstituierten Struktur – einer „strukturierte[n] Totalität“ (ebd.: 141), die jedoch insofern konstitutiv unvollkommen ist, als dass sie mit einem radikal Anderen konfrontiert ist. In diesem Sinne bezeichnen Laclau und Mouffe die Fixierung von Bedeutung als kontingent (ebd.: 148, 151; LACLAU 1990a: 18ff., insb. 27). In Anlehnung an Gramsci (s.o.) kann Kontingenz insofern zum einen als „Zufall gepanzert mit Zwang“ (WULLWEBER 2010: 64) gefasst werden. Zum anderen ist es der Zufall, der diesen Zwang immer wieder untergräbt und eine vollständige Konstitution beziehungsweise Schließung der Struktur verhindert. Es ist, wie es Habermann hervorhebt, dabei „nicht die Abwesenheit von Notwendigkeit, sondern das Element von Unreinheit“, resultierend aus dem für den Diskurs konstitutiven Ausschluss eines radikal Anderen, das eine „volle Konstitution deformiert und behindert“ (HABERMANN 2008: 89).

48

Laclau und Mouffe argumentieren hinsichtlich des Konzepts des Antagonismus auf zwei Abstraktionsebenen – der des Konkreten / des Ontischen (LACLAU & MOUFFE 2006: 171ff.) sowie der Ebene des theoretisch Allgemeinen / des Ontologischen (ebd.: 161ff.). Sie führen in diesem Zusammenhang selbst jedoch keine differenzierende Bezeichnung ein, was teils zu einer Unschärfe bezüglich der gemeinten Abstraktionsebene führt (zur Vermischung von Abstraktionsebenen bei Laclau und Mouffe vgl. OPRATKO 2012a: 71ff.). Wullweber unterscheidet deshalb zwischen dem konstitutiven ontologischen Antagonismus und dem konkreten ontischen Antagonismus (WULLWEBER 2010: 74f.). Unter dem ontischen Antagonismus fasst er (mit Bezug auf Slavoj iek) eine „strategische Artikulation“ (ebd.: 74) bzw. „eine Relation zwischen Subjektpositionen und damit die soziale Realität des antagonistischen Kampfes“ (ebd.: 75). Damit legt Wullweber den Fokus auf das Verhältnis verschiedener Signifikationssysteme (politischer Projekte) zueinander, während ich mit dem hier zugrunde gelegten Verständnis des ontischen Antagonismus die antagonistische Zweiteilung – d.h. die Artikulation zweier sich konfrontierender Äquivalenzketten (vgl. LACLAU & MOUFFE 2006: 216, 220) – eines jeden politischen Projekts hervorheben will.

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Abbildung 2

Der Diskurs als Signifikationssystem

Eigene Darstellung

Für die Momente, in denen die Strukturierung des Diskurses unterlaufen wird, führt Laclau in späteren Arbeiten den Begriff der Dislokation ein (LACLAU 1990a: 39ff.). Eine Dislokation kann als Einbruch des radikal Anderen in den Diskurs verstanden werden. Entsprechende Situationen treten dann auf, „wenn störende Ereignisse49 nicht in den Begriffen des Diskurses selbst ausgedrückt werden können“ (METHMANN 2011: 119). Dislokationen offenbaren insofern die historische Besonderheit von Diskursen – ihre raum-zeitliche Spezifität – und damit ihre grundsätzliche Kontingenz (LACLAU 1990a: 39). Anders ausgedrückt offenbaren Dislokationen das radikal Andere als Terrain alternativer Artikulation. Für Laclau ist es insbesondere das Reale im Sinne des französischen Psychoanalytikers Jaques Lacan, aus dem Dislokationen hervorgehen:

49

Wullweber interpretiert Laclau hingegen derart, dass er eine Dislokation als „keine einzelne Erscheinung, sondern ein grundlegendes, permanentes […] Phänomen“ begreift, obwohl er auch weiterhin von Dislokationen (plural) spricht (WULLWEBER 2010: 75). Die Dislokation setzt Wullweber in seiner Dissertation in eins mit dem ontologischen Antagonismus (vgl. ebd.). Dies revidiert er in anschließenden Überlegungen. Der Dislokation (singular) als permanentes Phänomen auf ontologischer Ebene – die meines Erachtens jedoch mit dem Phänomen der Kontingenz in eins fällt – setzt er die Dislokationen (plural) als Einzelereignisse auf der Ebene des Ontischen entgegen (WULLWEBER 03.11.2012).

II.2 D ISKURSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

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„The ultimate failure of all hegemonization, then, means that the real – including physical space – is in the ultimate instance temporal.“ (Ebd.: 42)

Das Reale – sei es das Wetter, der alternde Körper oder ein Erdbeben – konstituiert physische Grenzen (die für sich ohne Bedeutung sind), die sich temporär wandeln und als Dislokationen in den Diskurs einbrechen können und so die Schließung des Diskurses verhindern (HABERMANN 2008: 134). Im Politischen führen Dislokationen entweder zu Verschiebungen der diskursiven Strukturen oder zur Herausbildung von Antagonismen (LACLAU 1990a: 39ff.). Während das radikal Andere (soziale Heterogenität) also die Quelle für Dislokationen ist, sind Dislokationen Quellen für die Herausbildung konkreter (ontischer) Antagonismen. Ungeklärt blieb bislang, wie mit dem Diskurs Sinn partiell fixiert werden kann, wenn die Kontingenz des Diskurses jede ultimative Sinnfixierung blockiert, d.h. wie eine Generierung von Bedeutung überhaupt denkbar ist. Darauf soll im folgenden Kapitel nun näher eingegangen werden. II.2.2 Der leere Signifikant im Diskurs: vervollständigend, universalisierend, konstitutiv prekär Diskurse, so wurde dargestellt, werden von Laclau und Mouffe als Systeme von Bedeutung gefasst. Ihr post-fundationalistischer (anti-essentialistischer) Ansatz gründet diese Systeme in keiner transzendentalen Instanz – in keinem singularen Grund. Doch was bedeutet dies für die Generierung von Bedeutung? Warum kommt es dennoch zur Herausbildung von partiell stabilen Systemen von Bedeutung entgegen einem ausschließlich chaotischen Fließen von Differenzen? Es ist das Theorem des leeren Signifikanten, mit dem Laclau schlussendlich eine Antwort auf diese Frage liefert. Im Folgenden soll dieses Theorem näher dargestellt werden. Eingegangen wird dabei auch darauf, warum der Diskurs im Versuch der Universalisierung (d.h. der Verabsolutierung) spezifischer Bedeutung notwendigerweise scheitern muss. Rekapitulieren können wir aus den Darstellungen in Kapitel II.2.1, dass Diskurse auf der Differenzierung von Elementen gründen. Bedeutung bildet sich in Bezug auf andere Bedeutungen heraus. Die Voraussetzung von Bedeutung ist das System, in dem sich die Differenzen zusammenschließen (LACLAU 2002a: 66). Laclau folgert, dass die Festlegung von Grenzen „die Bedingung der Möglichkeit von Systemen“ ist (NONHOFF 2006: 126, s.a. hierzu LACLAU 2002a: 66). Die in einem Diskurs voneinander differenzierten Elemente sind äquivalent in Relation zum ausgeschlossenen Anderen, insofern sie nicht Teil dieses Außens sind, oder aber sie sind äquivalent in Relation zum Allgemeinen, insofern sie nicht

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| II. THEORETISCHE V ERORTUNG

Teil dieses Allgemeinen sind; es ist dieses Verhältnis, durch das „dann alle interne Differenz“ der Elemente absorbiert wird (SARASIN 2006: 71). Wenn Grenzen die Voraussetzung eines Systems sind, so ist die Ausschließung konstitutiv für diskursive Systeme. Derartige Systeme gründen alleine auf der Ausschließung und damit auf keinem „positiven Grund“ (ebd.). Im Diskurs als relationalem System von Differenzen gibt es insofern keine transzendentale letzte Instanz, die einen Anker darstellt. Die Herausbildung von Äquivalenzketten erfolgt nicht in Relation zu einer Positivität. Wie jedoch kann der Ausschluss, d.h. die „Grenze der Bezeichnung“ (ebd.: 69), bezeichnet werden? Im Falle der diskursiven Systeme stellen sich die Grenzen „als die Unterbrechung oder der Zusammenbruch des Prozesses der Signifikation“ – der Bedeutungsgenerierung – dar (ebd.: 66, Hvb. im Original). Der für das System konstitutive Ausschluss kann keine weitere Differenz sein; da Differenzierung die basale Operation von Systemen ist, würde es sich beim Ausschluss nur um ein weiteres Element im System handeln. „[Die] reine äquivalentielle Funktion, die eine abwesende Fülle repräsentiert, welche sich im Zusammenbruch aller differentiellen Identitäten zeigt, kann keinen eigenen Signifikanten besitzen – denn in diesem Fall wäre das »Jenseits aller Differenzen« eine weitere Differenz und nicht das Ergebnis des Zusammenbruchs aller differentiellen Identitäten.“ (Ebd.: 73)

Wenn sich Bedeutung durch Differenz generiert, erfordert die Darstellung der Grenze des Systems – des Ausgeschlossenen, des Nicht-Differenten – also die Subversion der Signifikation (ebd.: 69). Laclau führt in diesem Zusammenhang das Theorem des leeren Signifikanten ein (ebd.; vgl. auch LACLAU & MOUFFE 2006: 150ff.; NONHOFF 2006: 124ff.; WULLWEBER 2010: 94ff.). Für die Bezeichnung der Grenze, so Laclau, bedarf es Signifikanten, die sich ihres Signifikats entleeren und auf das „reine Sein oder die Systemhaftigkeit des Systems – beziehungsweise dessen Kehrseite: die reine Negativität des Ausgeschlossenen“ – verweisen50 (LACLAU 2002a: 68f.). Anders ausgedrückt bedarf es Signifikanten, die das (gesellschaftlich) Allgemeine des Diskurses 50

Laclaus hier zitierte Formulierung ist in dem Sinne undeutlich, als dass die „reine Negativität des Ausgeschlossenen“ hier als identisch mit dem „reinen Sein“ begriffen werden kann. Einer solchen Lesart seiner Formulierung stehen jedoch andere Ausführung im selben Text entgegen, an denen er auf die „Möglichkeit eines leeren Signifikanten“ im Zusammenhang mit „Signifikanten reiner Bedrohung, reiner Negativität, des schlichtweg Ausgeschlossenen“ hinweist (LACLAU 2002a: 68). Das hier aufgeführte Zitat kann meines Erachtens insofern auch eine Lesart von Laclaus Ausführungen unterstützen, die auf der ontologischen Ebene von der Herausbildung zweier Typen von leeren Signifikanten ausgeht (vgl. auch Fußnote 51 auf Seite 47).

II.2 D ISKURSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

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beziehungsweise das durch den Diskurs ausgeschlossene Andere symbolisch repräsentieren.51 Treffender als von leeren Signifikanten wäre es jedoch, von „geleerten Signifikanten“ (NONHOFF 2006: 132, Hvb. im Original) zu sprechen, denn um das System als reines Sein beziehungsweise dessen reine Negation symbolisch zu repräsentieren, müssen entsprechende Signifikanten sich zunächst ihres Signifikats entleeren. Es handelt sich dabei um Signifikanten die zuvor Bestandteil einer Äquivalenzkette waren, sich aber ihres partikularen Inhalts entleert haben und durch hegemoniale Artikulation aufgefüllt werden. Hegemoniale Artikulation bedeutet dabei, dass bestimmte partikulare Bedeutungen strategisch zusammen mit einem leeren Signifikanten artikuliert werden und so mit dem reinen Sein bzw. dessen reiner Negation äquivalent gesetzt werden. In dieser Aufgabe konkurrieren, so Laclau, „verschiedene politische Kräfte“ miteinander: „Hegemonisieren bedeutet genau, diese Füllfunktion zu übernehmen“ (LACLAU 2002a: 76). Der Diskurs konstituiert sich also durch Artikulation zweier antagonistisch zueinander ausgerichteter Äquivalenzketten und damit verknüpft zweier leerer Signifikanten. Den leeren Signifikanten kommt dabei die Funktion zu, das (gesellschaftlich) Allgemeine, auf das der Diskurs verweist, beziehungsweise das ausgeschlos51

Laclau selbst argumentiert im Zusammenhang mit dem Theorem des leeren Signifikanten auf zwei Ebenen: auf der ontologischen Ebene, auf der es um die grundsätzliche Generierung von Bedeutung im Diskurs geht (ebd.: 65ff.), sowie auf der ontischen Ebene, auf der Auseinandersetzungen gesellschaftlicher Gruppen um Hegemonie im Vordergrund stehen (ebd.: 70ff.). Eine Antwort auf die Frage danach, ob das Theorem des leeren Signifikanten die Herausbildung symbolischer Repräsentanten des reinen Seins sowie symbolischer Repräsentanten der reinen Negation voraussetzt, verbleibt auch deshalb bei Laclau selbst unscharf (zur unscharfen Trennung von Abstraktionsebenen bei Laclau und Mouffe vgl. auch Opratko 2012a: 71ff.). Unausgearbeitet bleibt eine Antwort auch deshalb, da er sich in seinen Darstellungen auf die ontische Ebene konzentriert und dabei auf die Herausbildung der Repräsentanten des reinen Seins fokussiert. In der vorliegenden Arbeit werden die Hinweise in Laclaus Schriften für die Existenz zweier Typen symbolischer Repräsentanten als hinreichend und für die Kohärenz seiner ontologischen Annahmen als notwendig angesehen. Damit wird hier an ein Verständnis des Theorems angeschlossen, dass sich auch bei Sarasin (2006: 71) findet. Dessen Verständnis der Existenz positiver und negativer leerer Signifikanten ist jedoch nicht unumstritten. Von Nonhoff wird es kritisiert. Bei einem leeren Signifikant setzt dieser eine „‚positive‘ deontische Bedeutungskomponente“ voraus, die dadurch gegeben sei, dass der leere Signifikant „das Allgemeine symbolisch verfügbar macht“ (NONHOFF 2006:

129, Fn. 26). Auch Nonhoff – und ähnlich Wullweber – geht jedoch von der

Möglichkeit (aber nicht einer Notwendigkeit) der Artikulation von „Repräsentanten der Negation“ aus, die den Kern des Übels darstellen (WULLWEBER 2010: 220f., ebd.: 151).

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| II. THEORETISCHE V ERORTUNG

sene Andere „in das differenzierte Zeichensystem, also ins Symbolische zurückzuholen“ und so das „Zeichensystem als vollständiges System“ zu konstituieren (NONHOFF 2006: 128). Mit der symbolischen Repräsentation eines Allgemeinen und der symbolischen Repräsentation eines ausgeschlossenen Anderen artikuliert ein Diskurs einen spezifischen Antagonismus. Mit der Artikulation dieses Antagonismus zielt der Diskurs als Signifikationssystem auf die Universalisierung spezifischer Bedeutung: Universalisiert wird im Diskurs nicht nur das, was gesellschaftlich erstrebenswert ist, sondern auch das, was als nicht erstrebenswert zu gelten hat; was positiv ist und was als negativ zu gelten hat; was richtig ist und was als falsch zu gelten hat; etc.: Universalisiert wird neben einem ‚Glückseligmachenden‘ ebenso ein ‚Grauen‘ (vgl. auch GLYNOS ET AL. 2009: 11f. bzw. die Ausführungen auf Seite 55 in Kap. II.2.4). Wenn die symbolische Repräsentation des Allgemeinen bzw. des ausgeschlossenen Anderen im Diskurs immer die Artikulation eines spezifischen ‚Glückseligmachenden‘ beziehungsweise eines spezifischen ‚Grauens‘ ist, dann ist sie notwendigerweise prekär. Jeder Akt der Bedeutungsgenerierung (Artikulation) beziehungsweise jedes Signifikationssystem ist – wie dargestellt wurde – nie endgültig fixiert (s.a. Kap. II.2.1). Die symbolische Repräsentation des Allgemeinen beziehungsweise des ausgeschlossenen Anderen in einem Diskurs ist also niemals absolut, niemals tatsächlich universal oder objektiv, sondern verbleibt spezifisch, partikular. Das mit dem Diskurs artikulierte ‚Glückseligmachenden‘ und das artikulierte ‚Grauen‘ ist immer mit einem radikalen Anderen konfrontiert (der sozialen Heterogenität; siehe oben). II.2.3 Zur Rolle sozialer Kräfte im Diskurs Im vorliegenden Abschnitt gilt es die Rolle sozialer Kräfte im Diskurs näher zu behandeln. Zunächst wird dabei auf die Konzeption von Struktur und Subjekt eingegangen, die Laclau und Mouffe mit ihrer Theorie entwerfen. Dargestellt wird, wie von diesen Überlegungen ausgehend Herrschaftsverhältnisse als Strukturen begriffen werden, die diskursiv (re-)produziert werden und zugleich den Diskurs prägen. Anschließend daran wird darauf eingegangen, inwieweit sich der Begriff des Akteurs von dem des Subjekts im Diskurs unterscheidet und weshalb er dennoch in der vorliegenden Studie aufgegriffen wird. Dargestellt wird, dass sich – während Gramsci beziehungsweise Ansätze der IPÖ vom Hegemonial-Werden bestimmter Akteure ausgehen – in der diskurstheoretischen Hegemonietheorie Hegemonie als eine raum-zeitlich spezifische Diskursorganisation konstituiert. Dennoch, so wird abschließend erläutert, liegen mit den Diskurskoalitionen Gefüge sozialer Kräfte vor, die in Auseinandersetzungen um Hegemonie eine unterschiedliche Wirkmächtigkeit aufweisen.

II.2 D ISKURSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

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Hegemoniebildung wird mit der diskurstheoretischen Hegemonietheorie weder als das Resultat determinierender (ökonomischer) Strukturen verstanden noch ausschließlich als Resultat politischer Strategien (einer bestimmten Elite). Damit unterscheidet sie sich von Ansätzen der (neo-gramscianischen) IPÖ, die tendenziell Gefahr laufen, mit ihrem Verständnis sozialer Kräfte einen solchen Funktionalismus bzw. Voluntarismus zu reproduzieren.52 Die strikte Gegenüberstellung von Struktur und Subjekt wird in der diskurstheoretischen Hegemonietheorie dekonstruiert (zum Verhältnis von Struktur und Subjekt bei Laclau und Mouffe vgl. LACLAU & MOUFFE 2006: 152ff.; LACLAU 1999a: 125ff., 1990a: 60ff. bzw. STÄHELI 1999: 154ff.; PÜHRETMAYER 2010: 19f.). Zu verwerfen seien Auffassungen, die Subjekte vollständig durch Struktur determiniert sehen ebenso wie Auffassungen, die vom Subjekt als dem das Soziale allein Begründenden ausgehen (LACLAU & MOUFFE 2006: 132ff., 152ff.). Laclau und Mouffe heben hervor, dass „while human beings are constituted as subjects within discursive structures, these structures are inherently contingent and malleable“ (HOWARTH 2000: 112). Damit gehen sie einen Mittelweg zwischen voluntaristischen bzw. strukturalistischen Perspektiven auf das Verhältnis von Struktur und Subjekt.53 Beides, Struktur und Subjekt, begreifen sie als (kontinuierlich) diskursiv (re-)produziert.54 Struktur ist immer eine diskursive Struktur die – gegen52

Ansätze der IPÖ messen häufig einem Gefüge sozialer Kräfte hinsichtlich des globalen Vorantreibens hegemonialer Diskurse eine zentrale Bedeutung bei: der ‚transnationalen Managerklasse‘ (COX 1987: 253ff.), der ‚transnationalen kapitalistischen Klassenfraktion‘ (GILL 1993a: 261), dem ‚transnationalen Elitennetzwerk‘ (VAN DER PIJL 1995) bzw. der ‚transnationalen Kapitalistenklasse‘ (SKLAIR 2001). Diese transnationalen sozialen Kräfte hegemonialer Artikulation, so eine Vorstellung der IPÖ, konstituieren einen transnationalen historischen Block bzw. ein spezifisches transnationales Akkumulationsregime (BIELING & DEPPE 1996: 732). Die IPÖ setzt sich mit diesem Verständnis sozialer Kräfte in Auseinandersetzungen um Hegemonie der Kritik aus, einem „elitenfixierten Voluntarismus“ anzuhängen und damit das gegenüber funktionalistischen Argumentationsweisen andere Extrem einzunehmen (vgl. BORG 2001a: 114ff.). Gleichzeitig läuft sie Gefahr, mit der Betonung des Begriffs der Klasse (tendenziell) doch ökonomistisch zu argumentieren und damit die in den Blick genommenen Herrschaftsverhältnisse eindimensional zu verengen.

53

Auch mit diesem Mittelweg sehen sich Laclau und Mouffe der Kritik ausgesetzt, essentialistisch zu argumentieren, d.h. entweder die Handlungsfreiheit des Subjekts über Strukturen zu stellen oder diskursive Strukturen als dem Handeln präexistent zu konzipieren. Einen Einblick in die Kritikstränge findet sich bei Howarth (2000: 112).

54

Die doppelte Funktion sozialer Kräfte als „(Re-)Produzenten wie auch Effekte hegemonialer Diskurse“ zeigt Methmann (2011) anhand des Beispiels von NGOs und sozialen Bewegungen im Umfeld der UN-Klimaverhandlungen auf.

50

| II. THEORETISCHE V ERORTUNG

über einer strukturalistischen Konzeption – konstitutiv „unvollständig und von Kontingenz durchdrungen“ ist und durch „Überdeterminierung“55 gekennzeichnet ist (LACLAU & MOUFFE 2006: 148). Subjekte sind zu einem Teil autonom; sie können kontingente Entscheidungen treffen: „[I]f undecidability lies in the structure as such, then any decision developing one of its possibilities will be contingent, that is external to the structure in the sense that it is not determined by that particular structure, even though it may be made possible by it. But […], the agent of that contingent decision must be considered, not as an entity separate from the structure, but constituted in relation to it.“ (LACLAU 1990a: 30, Hvb. im Original)

Im hegemonialen Diskurs begrenzt die diskursive Struktur die möglichen Entscheidungen von Subjekten. Subjekte sind – mit Laclau gesprochen – „der Abstand zwischen Unentscheidbarkeit der Struktur und der Entscheidung“ (LACLAU 1999a: 126). Mit diesem Möglichkeitsraum bestimmt die diskursive Struktur insofern das in dem Diskurs Notwendige, auch wenn dieses Notwendige aufgrund der dem Diskurs konstitutiven Unabgeschlossenheit partiell und nicht auf Dauer ist (LACLAU 1990a: 27). Die Handlungsfähigkeit bzw. Autonomie von Subjekten erhöht sich, wenn sich die Kontingenz der diskursiven Struktur offenbart, ihre grundsätzliche Untentscheidbarkeit (ebd.: 39f.). Einen derartigen Effekt haben Dislokationen, d.h. Situationen, in denen die diskursive Struktur Brüche und Lücken zeigt. Dislokationen sind die Quelle der Handlungsfreiheit der Subjekte (ebd.: 60). „[T]he greater the dislocation of a structure is, the more indeterminate the political construction emerging from it will be […].“ (Ebd.: 51)

Mit diesem Verständnis des Verhältnisses von Struktur und Subjekt kann nicht von dem einen Herrschaftsverhältnis ausgegangen werden, das das Soziale determiniert. Herrschaftsverhältnisse wie Rassismus, Sexismus oder Klassismus werden einerseits durch Subjekte diskursiv (re-)produziert. Dabei sind sie nicht unabhängig voneinander denkbar, sondern über hegemoniale Diskurse konstitutiv miteinander verwoben (HABERMANN 2008: 128). Andererseits prägen Herrschaftsverhältnisse den 55

Im Anschluss an Freud und Althusser fassen Laclau und Mouffe unter der „Logik der Überdeterminierung“ den Umstand, dass „der Sinn jeder Identität insofern überdeterminiert [ist], als jede Buchstäblichkeit als immer schon untergraben und überschritten erscheint; weit davon entfernt, eine essentialistische Totalisierung oder eine nicht wengier essentialistische Separierung zwischen Objekten zu sein, verhindert die Präsenz der einen Objekte in den anderen, daß irgendeine ihrer Identitäten fixiert wird“ (LACLAU & MOUFFE 2006: 140f., Hvb. im Original).

II.2 D ISKURSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

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Diskurs und machen so bestimmte Artikulationen von Subjekten möglich bzw. schließen andere aus.56 Der Begriff des Subjekts der Diskurstheorie, wie er hier skizziert wurde, unterscheidet sich von dem in den Sozial- wie auch Politikwissenschaften vorherrschend verwendeten Begriff des Akteurs. Wie dargestellt wurde, erfasst das Subjekt der Diskurstheorie zwei Dimension: „das artikulierende Subjekt wie das artikulierte Subjekt“ (NONHOFF 2006: 172). Der Begriff des Akteurs hebt hingegen bereits in seiner Etymologie die aktive Dimension hervor (vgl. zur Abgrenzung beider Begriffe detailliert ebd.: 168ff.). Im weiteren Verlauf der vorliegenden Studie wird dennoch von Akteuren gesprochen, um die Artikulation von Forderungen durch Subjekte zu unterstreichen, auf die mit der empirischen Untersuchung der Studie fokussiert wird. Hervorzuheben ist, dass mit dem hier beschrittenen diskurstheoretischen Pfad nicht bestimmte Subjekte hegemonial werden, wie es bei Gramsci bzw. tendenziell in den dargelegten Ansätzen der IPÖ der Fall ist. Gramsci geht vom HegemonialWerden sozialer Kräfte aus – der Bourgeoisie bzw. der Arbeiter_innenklasse – und tendiert damit dazu, die Rolle der Zivilgesellschaft funktionalistisch zu reduzieren (vgl. bspw. COHEN & ARATO 1992: 146ff.): Die Zivilgesellschaft als Terrain politischer Auseinandersetzungen dient bei ihm der Reproduktion der Hegemonie der Bourgeoisie bzw. deren Anfechtung durch „gegen-hegemoniale“ sozialistische Kräfte.57 Konstituieren sich die sozialen Kräfte (Bourgeoisie bzw. sozialistische Kräfte) durch spezifische Produktionsverhältnisse – wie Gramsci sie konzipiert –, gründet Hegemonie jedoch schlussendlich auf einem Ökonomismus (LACLAU & MOUFFE 2006: 112ff.). Hegemonie wird somit zur Hegemonie der Herrschenden, 56

Anschließend an dieses Verständnis von Struktur und Subjekt bei Laclau und Mouffe entwickelt Friederike Habermann ihre subjektfundierte Hegemonietheorie (HABERMANN

2008, siehe auch 2009a). In ihren theoretischen Überlegungen führt sie Gramsci

mit Laclaus und Mouffes Ansatz und Gedanken von Stuart Hall und Judith Butler zusammen. Um Hegemonie, so ihre Grundüberlegung, wird in allen Sphären der Gesellschaft gerungen. Es handelt sich dabei um einen Prozess, in dem „nicht nur die Identitäten und deren Interessen, sondern auch der gesellschaftliche Kontext (re-)produziert [wird, zugleich jedoch] […] ein hartnäckiges Verhaftetsein mit der verkörperten Subjektivierung“ besteht (HABERMANN 2009a: 2). 57

Würde dieser funktionalistischen – präziser: dieser klassistischen – Argumentation gefolgt, verschwände in Folge der Transformation zur erneuerten Gesellschaft mit den Praxen der bourgeoisen Hegemonie ebenso der Pluralismus der Zivilgesellschaft als Terrain konkurrierender Akteure (COHEN & ARATO 1992: 150): „[T]he dynamism of civil society as the terrain of social movements lasts only so long as the working class is in opposition. Once civil society becomes socialist, the raison d’être for social movements, that is, for class struggle, will have disappeared“ (ebd.: 147).

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| II. THEORETISCHE V ERORTUNG

die in ‚letzter Instanz‘ durch die Ökonomie determiniert sind. Aus dieser „positivistischen Lesweise des Hegemoniebegriffs“ (HABERMANN 2009a: 5) resultiert: „[D]ie herrschenden Ideen [verbleiben] immer die Ideen der Herrschenden“ (METHMANN 2011: 112). Ausgangspunkt der diskurstheoretischen Konzeption von Hegemonie, wie sie hier zugrundgelegt wird, ist die Dekonstruktion der Essentialismen, die dem Verständnis von Hegemonie(bildung) bei Gramsci bzw. Neo-Gramscianischen Ansätzen zugrunde liegen (LACLAU & MOUFFE 2006, vgl. auch HABERMANN 2008: 84ff.). Gramscis Formulierung von Hegemonie erfährt eine diskurstheoretisch begründete Wendung: Nicht die ‚Universalisierung partikularer Interessen einer spezifischen Gruppe‘ (Gramsci), sondern die ‚Universalisierung spezifischer Deutungsmuster‘ konstituiert Hegemonie. Hegemonie wird als das Verhältnis gedacht, „by which a certain particularity assumes the representation of a universality entirely incommensurable with it“ (LACLAU & MOUFFE 1985: xiii). Hegemonial wird eine raum-zeitlich spezifische Diskursorganisation (vgl. hierzu ausführlich WULLWEBER 2010: 113ff.). Auch wenn – wie dargestellt wurde – nicht bestimmte Subjekte, sei es „eine bestimmte Person, eine politische Gruppierung, eine Klasse oder ein Staat“ (WULLWEBER 2009: 133) hegemonial werden, so sind es Subjekte, die durch Artikulation bestimmte Deutungsmuster (Hegemonieprojekte) vorantreiben und so Hegemonie (re-)produzieren bzw. anfechten. Subjekte können anhand des von ihnen artikulierten spezifischen sprachlichen Sinns bzw. nicht-sprachlichen Handelns zu Gruppen zusammengefasst werden. Auch mit einem diskurstheoretischen Verständnis von Hegemonie kann also von der Herausbildung von Gefügen sozialer Kräfte ausgegangen werden, die in Auseinandersetzungen um Hegemonie – werden sie verglichen – eine unterschiedliche Wirkmächtigkeit aufweisen können (vgl. Fußnote 52 auf Seite 49). Die (diskursive) Artikulation spezifischer Bedeutung formt Koalitionen von Subjekte. Im weiteren soll von Diskurskoalitionen58 gesprochen werden (vgl. hierzu NONHOFF 2006: 188ff.). Diskurskoalitionen fehlt, wie es Nonhoff ausdrückt, „jene rechtsförmige, sittliche oder anderweitig langfristig bindende Absicherung, die institutionelle Gruppen auszeichnet“ (ebd.: 188, Hvb. im Original). Grundbedingung für das Vorliegen einer Diskurskoalition ist hingegen die gemeinsame (Re-)Artikulation eines spezifischen Deutungsmusters (ebd.: 201). In diesem Sinne kann der Begriff der Diskurskoalition mehr im Sinne einer analytischen Kategorie verstanden werden denn als Begriff, der das Selbstverständnis der zu ihr gehörigen Subjekte beschreibt. 58

Das hier zugrunde gelegte Verständnis von Diskurskoalition hat deutliche Ähnlichkeiten zu dem Verständnis Maarten A. Hajers (HAJER 1995: 65, 2008: 218f.). Zur genauen Abgrenzung bzw. zur Verwendung des Begriffs in der Literatur über Hajer hinaus vgl. (NONHOFF 2006: 189, 201f.).

II.2 D ISKURSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

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II.2.4 Drei Stufen des Erfolgs hegemonialer Praxis (hegemoniale Artikulation, Hegemonieprojekt, Hegemonie) und die Funktion der Fantasie (fantasmatischer Narrative) Hegemoniale Praxis zielt auf die Etablierung einer Hegemonie. Kern der Praxis sind Akte der Artikulation, die einen spezifischen Antagonismus universalisieren. Im Folgenden wird der Erfolg dieser Praxis anhand unterschiedlicher Niveaus konzipiert. Anschließend daran wird ein besonderer Fokus auf Narrative gerichtet, die das grundlegende Mittel hegemonialer Praxis darstellen, durch das sich Ensembles von Forderungen über Subjekte verbreiten. Gerade für die empirische Analyse der (Re-)Produktion von Hegemonie ist der Blick auf derartige Narrative von besonderem Interesse. Der Erfolg hegemonialer Praxis wird hier mit Nonhoff anhand dreier Stufen konzipiert (NONHOFF 2006: 138ff.; 2008: 309f.). Die Dreiteilung umfasst erstens die hegemonialen Artikulationen, zweitens Hegemonieprojekte59 sowie drittens Hegemonie. Die Stufen ermöglichen es, den Erfolg hegemonialer Praxis zu einem gewissen Grad empirisch greifbar zu machen. Gleichzeitig ist es jedoch so, dass die Stufen „nicht exakt trennscharf verwendet werden“ können, da die Übergänge von einer zur anderen verfließen (NONHOFF 2006: 141). Hinsichtlich der Frage, ob etwas „hegemonial geworden ist“, so ist Wullweber beizupflichten, „muss leider immer bis zu einem bestimmten Punkt gemutmaßt werden“ (WULLWEBER 2010: 153). Im Folgenden sollen die drei Stufen des Erfolgs hegemonialer Praxis knapp dargestellt werden: Bei hegemonialen Artikulationen handelt es sich um Artikulationen, die „von einem stets singulären Ort der Artikulation aus die Forderungen anderer in bezug auf das Allgemeine mit einverleiben“ (NONHOFF 2006: 138). Anders ausgedrückt ist es der Akt der Äquivalenzierung, der hegemoniale Artikulationen zu solchen macht. Insofern sind zwei Fälle hegemonialer Artikulation möglich (vgl. auch ebd.): zum einen die Artikulation von Forderungen, die sich derart darstellen, dass ihre Erfüllung mit der Erfüllung anderer Forderungen einhergeht;60 zum anderen die Artikulation symbolischer Repräsentanten des Allgemeinen beziehungsweise des ausge-

59

Nonhoff selbst spricht von hegemonialen Projekten (ebd.: 140f.). Dieser Begriff weckt jedoch die Annahme, dass es sich bei entsprechenden Projekten um solche handelt, die Hegemonie erlangt haben. In der vorliegenden Arbeit wird deshalb der Begriff des Hegemonieprojekts gewählt, um diesem Eindruck vorzubeugen, also die grundsätzliche Offenheit hinsichtlich des hegemonialen Charakters der Projekte stärker zum Ausdruck zu bringen.

60

Nonhoff spricht in diesem Zusammenhang von subsumtiven Forderungen (ebd.: 119).

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| II. THEORETISCHE V ERORTUNG

schlossenen Anderen, d.h. die Artikulation einer Vielzahl partikularer Bedeutungen zusammen mit einem leeren Signifikanten (siehe hierzu Kap. II.2.2). In Hegemonieprojekten erfahren spezifische hegemoniale Artikulationen eine Kontinuität – sie werden beständig re-artikuliert (WULLWEBER 2010: 109, 139). Die Re-Artikulation etabliert zwei sich antagonistisch gegenüberstehende Äquivalenzketten und schlussendlich ein Ensemble von Bedeutungen (ein Signifikationssystem). Konstitutiver Bestandteil eines Hegemonieprojekts ist die hegemoniale Artikulation leerer Signifikanten, die die partikularen Bedeutungen einer Äquivalenzkette partiell fixieren61 (NONHOFF 2006: 140f.; WULLWEBER 2010: 139f., 150). Artikuliert werden mit einem Hegemonieprojekt zwei solcher Signifikanten: ein symbolischer Repräsentant des ‚Glückseligmachenden‘ sowie ein symbolischer Repräsentant des ‚Grauens‘. Ein Hegemonieprojekt repräsentiert insofern das (gesellschaftlich) Allgemeine beziehungsweise das ausgeschlossene Andere symbolisch auf eine spezifische Weise. Artikuliert wird ein spezifischer Antagonismus. Hegemonieprojekte können sich um eine Vielfalt möglicher Antagonismen herausbilden, die im Sozialen vorliegen – „jede Position in einem System von Differenzen kann, sofern sie negiert wird, der Ort eines Antagonismus werden“ (LACLAU & MOUFFE 2006: 171). In politischen Auseinandersetzungen konkurrieren verschiedene Hegemonieprojekte um Hegemonie. Die Subjekte, die durch (Re-)Artikulation bestimmte Hegemonieprojekte vorantreiben, können zu Diskurskoalitionen zusammengefasst werden (vgl. hierzu Kap. II.2.3). Um Hegemonie handelt es sich dann, wenn der mit einem Hegemonieprojekt „geäußerte Anspruch auf Vorherrschaft durchgesetzt werden kann“ (NONHOFF 2006: 140). Ein entsprechendes Hegemonieprojekt soll hier als ‚hegemoniales Projekt‘ bezeichnet werden (vgl. auch Fußnote 59 auf Seite 53). Hegemonieprojekte erlangen dabei dann Hegemonie, wenn sie einen hohen „diskursiven ‚Verbreitungsgrad‘“ (ebd.: 141) aufweisen, d.h. wenn sie a) über einen Zeitraum wiederholt von b) einer Vielzahl von Akteuren in der diskursiven Arena aus unterschiedlichen Positionen artikuliert werden. Es ist jedoch immer ein „umgrenzte[r] (gesellschaftliche[r]) Bereich“, auf den sich eine Hegemonie bezieht (WULLWEBER 2010: 110). Eingegrenzt werden muss „die Form, die Reichweite und der zeitliche Rahmen einer Hegemonie“ (ebd.: 111, mit Verweis auf SCHERRER 2007: 76f.). Für die vorliegende empirische Untersuchung ist die Annahme, dass Forderungen beziehungsweise Hegemonieprojekte re-artikuliert werden müssen, um hege61

Nonhoff und Wullweber heben die konstitutive Bedeutung des leeren Signifikanten hervor, der eine positive Bedeutung aufweist. Inwiefern auch ein leerer Signifikant mit negativer Bedeutung konstitutiv für ein Hegemonieprojekt ist, verbleibt bei Wullweber unscharf (WULLWEBER 2010: 151). Nonhoff setzt dies nicht voraus (NONHOFF 2006: 129, Fn. 26; 220f.). (Vgl. hierzu und zu Laclaus Argumentation diese Frage betreffend auch Fußnote 51 auf Seite 47).

II.2 D ISKURSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

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monial zu werden, von besonderem Interesse. Das grundlegende Mittel hegemonialer Praxis über das sich Ensembles von Forderungen über Subjekte verbreiten, ist die Repräsentation von Forderungen in Narrativen. Warum Subjekte von bestimmten Narrativen erfasst werden und diese reproduzieren, dafür liefert die Idee der Fantasie, wie sie durch den französischen Psychoanalytiker und Strukturalisten Jacques Lacan entwickelt wurde, ein Verständnis. Für die Analyse der (Re-)Produktion von Hegemonie anhand von Interviews ist die Dimension der Fantasie von besonderer Relevanz. „The role of fantasy […] is not simply to set up an illusion that provides a subject with a false picture of the world. Instead, fantasies ‘teach’ us how to desire by incorporating references to features which are societally prohibited, or which tend to resist public-official disclosure. Typically, this involves the construction of a narrative that promises a fullness-to-come once a named or implied obstacle is overcome – the beatific dimension of fantasy – or which foretells of disaster if the obstacle proves too threatening or insurmountable: the horrific dimension of fantasy.“ (GLYNOS ET AL. 2009: 11f.)

In fantasmatischen Narrativen – ihren beiden Dimensionen: der des ‚Glückseligmachenden‘ (the beatific) bzw. der des ‚Grauens‘ (the horrific) – zeigt sich der ideologische Charakter von Auseinandersetzungen um Hegemonie, wenn sie die „radical contingency of social relations“ kaschieren (GLYNOS & HOWARTH 2007: 14). Die Narrative universalisieren Ensembles konstitutiv partikularer Deutungen gerade auch dann, wenn diese Ensembles Gegensätze und Widersprüchlichkeiten umfassen. Die Narrative universalisieren in diesem Sinne eine Ideologie: „Ideologie funktioniert am besten, wenn es ihr gelingt, gegensätzliche Gedankengänge und emotionale Besetzungen zu verschmelzen […]. Der Gegensatz ist das Metier der Ideologie. […] Keine Strategie ist so erfolgreich, Konsens herzustellen, wie diejenige, der es gelingt sich in den widersprüchlichen Elementen des Alltagsverstands, des Lebens und Bewusstseins der Bevölkerung zu verwurzeln.“ (HALL 2011: 657)

Die Funktion von Fantasie62 ist es insofern, einer Vielzahl verschiedener diskursiver Elemente „direction and energy“ zu geben (GLYNOS & HOWARTH 2007: 147), d.h.

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David Howarth und Jason Glynos (2007) unterscheiden von fantasmatischen Logiken, soziale und politische Logiken. „Social logics help to characterize a practice or regime“, „political logics […] capture the linking together of demands into wider political projects and forces“ und „fantasmatic logics […] disclose the way specific practices and regimes grip subjects“ (GLYNOS ET AL. 2009: 11). Die Logiken dienen im Sinne von Forschungsheuristiken der Erfassung bzw. Kritik von „purposes, rules and ontological

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diverse Forderungen imaginativ zu verbinden.63 Anhand der Dimensionen der Fantasie kann der Prozess der (Re-)Produktion bzw. Anfechtung von Hegemonie analysierbar gemacht werden, was im folgenden Kapitel dargestellt werden soll. II.2.5 »Gegen«-Hegemonie – Eine theoretisch fundierte Annäherung an den Begriff der Kritik Wie kann der Begriff der Kritik anhand der Diskurs- und Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes konzeptualisiert und – darüber hinaus – für eine empirische Analyse operationalisierbar gemacht werden? Dieser Frage soll nun nachgegangen werden. Die dabei skizzierte Konzeption von Kritik64 stellt eine Heuristik dar, anhand deren Hegemonieprojekte (Diskurse) bzw. Artikulationen hinsichtlich ihrer Relation zum Hegemonialen in den Blick genommen werden. Möglich werden so (hegemonie)analytische Aussagen. Ethisch-normative Positionierungen – bspw. darüber, ob bestimmte Hegemonieprojekte oder Artikulationen ‚gerechter‘ sind als andere – werden damit nicht geleistet.65 Ebenso werden hier keine Aussagen über die Relation der Hegemonieprojekte bzw. Artikulationen gegenüber dem ihnen vorausgehenden Sein getroffen – dass heißt gegenüber dem, was Laclau als den

presuppositions that render a practice or regime possible and intelligible“ (GLYNOS & HOWARTH 2007: 15). 63

Eine ähnliche imaginative Funktion kommt bei Hajer (1995) den story-lines zu – „devices through which actors are positioned, and through which specific ideas of ‘blame’ and ‘responsibility’, and of ‘urgency’ and ‘responsible behaviour’ are attributed“ (ebd.: 64f.) – bzw. in der frame analysis der social movement research den collective action frames – „schemata of interpretation“ (GOFFMAN 1972: 21) „intended to mobilize potential adherents and constituents, to garner bystander support, and to demobilize antagonists“ (SNOW & BENFORD 1988: 198; s.a. BENFORD & SNOW 2000).

64

Die hier dargestellte hegemonietheoretisch fundierte Konzeption des Kritik-Begriffs sowie ihre Operationalisierung wurde in Teilen bereits von mir in englischer Sprache veröffentlicht (vgl. BEDALL 2013: 201ff.).

65

Hierzu bedürfte es, da ich mit Ernesto Laclau davon ausgehe, dass Ethik kein „universales Prinzip“ darstellt (LACLAU 1999a: 124), der Entwicklung einer eigenen Heuristik, die Kriterien dazu formuliert, was Gerechtigkeit bedeutet. Entsprechende Kritierien müssen entschieden werden. Der „Abstand zwischen der Unentscheidbarkeit der Struktur und der Entscheidung“ ist dabei das Subjekt (ebd.: 126; vgl. auch Kap. II.2.3): „Wir ´sterblichen Götter´ sind diejenigen, welche die Lücken füllen müssen, die aus der Abwesenheit Gottes aus der Welt herrühren, wir müssen simulieren, Er zu sein, und mittels des Wahnsinns unserer Entscheidungen eine Allweisheit wieder einsetzen, die sich uns immerdar entzieht“ (ebd.: 130f.).

II.2 D ISKURSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

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realen Kern66 bzw. das Lacan’schen Reale (LACLAU 2000: 185, 1999b: 72) oder andere Theorieansätze als Nichtidentität der Natur (GÖRG 2003a: 123) begrifflich fassen. Mit einer Heuristik, der Laclaus und Mouffes Sozialontologie zugrunde liegt, sind Aussagen darüber, ob spezifische Diskurse oder Artikulationen das ihnen vorausgehende Sein falsch bzw. richtig ergreifen bzw. darüber wie sie auf das vorausgehende Sein wirken, nicht möglich.67 Die Diskurstheorie begreift jede Aussage als kontingent (vgl. Seite 44 in Kap. II.2.1). Entlang des (erkenntnis)theoretischen Fundaments (vgl. insb. Kap. II.2.1 und II.2.2) ist das den Diskursen vorausgehende Sein im Diskurs nicht erfassbar68, auch wenn es in seiner Selbst- bzw. Widerständigkeit69 erfahrbar ist – bspw. im Erdbeben, dem Tod oder einem spezifischen Klima. Als Ausgangspunkt einer hegemonietheoretischen Konzeption des Begriffs der Kritik kann Laclaus und Mouffes Verständnis der Dislokation herangezogen werden. Eine Dislokation stellt für sie einen Moment der Politisierung dar, in denen sich die Kontingenz des Diskurses offenbart – seine scheinbare Universalität (LACLAU 1990a: 39ff.). Das, was ist, wird mit dem konfrontiert, was sein könnte: dem radikal Anderen. Eine Dislokation kann insofern als ein kritisches Moment begriffen werden. Sie ist „[t]he moment of antagonism where the undecidable nature of the alternatives and their resolution through power relations becomes fully visible“ (ebd.: 35). Geht es darum, Kritik im Empirischen zu greifen, heißt dies, Dislokationen in den Blick zu nehmen. Hinsichtlich diskursanalytischen Untersuchungen ist

66

Laclau spricht in diesem Zusammenhang von „a real kernel preventing the closure of the symbolic order.“ (LACLAU 1999b: 72)

67

Nicht leistbar sind also bspw. absolute Aussagen darüber, ob ein Diskurs – d.h. eine spezifische Sprech- und Handlungspraxis – mehr oder weniger zum Klimawandel beiträgt oder ob ein Diskurs die Ursächlichkeit bzw. Qualität des Klimawandels falsch oder richtig ergreift.

68

Aussagen über objektive Ursachen oder die objektive Qualität des dem Diskurs vorausgehenden Seins – Aussagen über eine grundlegende Wahrheit – sind entsprechend nicht möglich. Auch die Erfahrung der Widerständigkeit des dem Diskurs vorausgehenden Seins macht erkenntnistheoretisch Rückschlüsse auf dessen innere Strukturiertheit nicht begründbar.

69

Die Reflexion der Widerständigkeit des dem Diskurs vorausgehenden Seins fasst Theodor W. Adorno begrifflich als „zweite Reflexion“, die sich gegen die (erste) Reflexion richtet, dass Erfahrung das erkennende Subjekt vorausetzt (Adorno 1982 [Negative Dialektik]: 201, 186, zitiert nach GÖRG 2003a: 123). Jedoch ist auch mit Adorno „[j]ede Rede über einen in der gesellschaftlichen Entwicklung wirksamen Zwang […] von seiner sprachlich-symbolischen Vermittlung nicht abzulösen ([…] ich kann von ihm nur wissen durch die sprachliche Vermittlung hindurch)“ (GÖRG 2003a: 123).

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| II. THEORETISCHE V ERORTUNG

es zunächst erforderlich, zwei Ebenen analytisch zu trennen: die Ebene des Diskurses von der des Einzeltextes. Auf Diskursebene werden Hegemonieprojekte von Koalitionen von Akteuren (Diskurskoalitionen – vgl. auch Kap. II.2.3) (re-)produziert. Demgegenüber zu unterscheiden sind Ensembles von Artikulationen, die von einzelnen Subjekten vorgebracht werden. Diese Ensembles können, wenn es sich um sprachliche Artikulationen handelt, anhand von Einzeltexten70 erfasst werden: im Fall der vorliegenden Untersuchung anhand von Interviews bzw. deren Transkripte. Auch auf dieser Ebene von Einzeltexten kommt es zu einer Differenzierung bzw. Äquivalenzierung von Forderungen und damit zur Herausbildung zweier konträr zueinander liegenden Äquivalenzketten bzw. der Herausbildung von symbolischen Repräsentanten. Die in einem spezifischen Text vorherrschende Struktur von Artikulationen kann als hegemoniale Struktur bezeichnet werden (vgl. auch NONHOFF 2008: 321). Sie ist jedoch keineswegs identisch mit der diskursiven Struktur von Hegemonieprojekten auf Diskursebene (zur Gegenüberstellung beider Betrachtungsebenen siehe auch Abbildung 3). Zugleich wird die hegemoniale Struktur eines Textes jedoch nicht voluntaristisch durch Subjekte konstituiert. Sie ist Resultat der Logik der Kontingenz, die alle Artikulation kennzeichnet. Subjekte kennzeichnen sich durch eine Teilautonomie71: Ihre Artikulationen sind kontingente Artikulationen (vgl. LACLAU 1990a: 29f.).

70

Narrative werden auch in gesprochener Sprache artikuliert. Der Begriff „Einzeltext“ weist bereits daraufhin, dass die Analyse entsprechender Narrative einer zeitlich-räumlichen Abgrenzung bedarf und meist von einer verschriftlichten Form ausgehen wird.

71

Vgl. auch Kapitel II.2.3 zur Konzeption des Struktur-Handlungs-Verhältnisses bei Laclau und Mouffe.

II.2 D ISKURSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

Abbildung 3







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Zwei Betrachtungsebenen der Analyse

   

  

            

        

    

 

      



      

      







Eigene Darstellung

Auf beiden Ebenen – der Diskursebene sowie der Ebene des Einzeltextes – können kritische Momente anhand von fantasmatischen Narrativen (vgl. Kap. II.2.4) untersucht werden. Auf Diskursebene treten Hegemonieprojekte mit spezifischen derartigen Narrativen in Erscheinung. Verbreitung erfahren diese Repräsentationen von Ensembles von Forderungen, wenn sie durch Subjekte re-artikuliert werden. Auch in einem Einzeltext, so meine Annahme, wird ein fantasmatisches Narrativ konstruiert. Hier zeigt sich ebenso wie in der diskursiven Struktur von Hegemonieprojekten eine antagonistische Zweiteilung in eine Dimension des ‚Glückseligmachenden‘ und eine Dimension des ‚Grauens‘. Narrative auf Ebene des Einzeltextes können jedoch ohne Weiteres nicht als per se die Hegemonie reproduzierend bzw. diese anfechtend eingestuft werden. Dies unterscheidet sie von Narrativen auf Diskursebene, die hingegen Repräsentanten einzelner Hegemonieprojekte darstellen. Verstanden als ein Set von Artikulationen (re-)produzieren Narrative auf Ebene des Einzeltextes möglicherweise diverse (konkurrierende) Hegemonieprojekte.72

72

Mit der Trennung der Ebenen des Einzeltextes von der des Diskurses hebt Nonhoff in seiner Studie zum hegemonialen Projekt der sozialen Marktwirtschaft meines Erachtens selbst hervor, dass die hegemoniale Struktur eines Textes nicht mit einem Hegemonieprojekt zusammenzufallen hat (NONHOFF 2008: 318). Diese Überlegung greift er für seine diskursanalytische Untersuchung ausgewählter Texte jedoch nicht weiter auf: Die Texte scheinen hingegen – da sie von Nonhoff als „hinreichend repräsentativ“ für den Diskurs klassifiziert werden (NONHOFF 2006: 51) – jeweils kohärent in sich ein Hegemonieprojekt zu repräsentieren. Die Möglichkeit einer Re-Produktion mehrerer Hegemonieprojekte durch einen einzelnen der von ihm untersuchten Texte wird von Nonhoff selbst nicht weiter verfolgt.

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| II. THEORETISCHE V ERORTUNG

Was würde es nun bedeuten, Dislokationen und damit Kritik in Auseinandersetzungen um Hegemonie in den Blick zu nehmen? Auf Diskursebene hieße dies, die Fantasie von Hegemonieprojekten auf ihr Verhältnis zur Fantasie des hegemonialen Projekts zu befragen. Damit können institutionalistische / reformistische Hegemonieprojekte von populistisch / revolutionären Projekten unterschieden werden. Auf Ebene des Einzeltextes hieße es, auf die mit den Narrativen artikulierten Forderungen zu fokussieren und sie hinsichtlich ihrer kritischen bzw. affirmativen Positionierung gegenüber der hegemonialen Fantasie zu prüfen. Damit verbleibt die Konzeption von Kritik hier zunächst binär bzw. strukturalistisch. Im Verlauf der empirischen Untersuchung stellt sich die binäre Struktur von ‚affirmativen versus kritischen Forderungen‘ bzw. von ‚Institutionalismus / Reform versus Populismus / Revolution‘ auf der analytischen Ebene der Hegemonieprojekte jedoch als unzureichend dar, wenn es darum geht, die hegemonie-anfechtende bzw. hegemonie-reproduzierende Qualität von Hegemonieprojekten bzw. Forderungen differenziert zu beurteilen. Eine differenzierte Beurteilung wird dann möglich, wenn die binäre Konzeption dekonstruiert wird. Dies erfolgt im Weiteren in Kapitel VI.3. Die Darstellungen zur Konzeption von Kritik an zwei getrennten Stellen ist Ausdruck des retroduktiven Erkenntnisprozesses, dem die Studie folgt (vgl. Kap. V.1.2). Im Folgenden soll jedoch zunächst die im Kern binäre Konzeption von Kritik weiter dargestellt werden. In der Auseinandersetzung um Hegemonie können auf Diskursebene Hegemonieprojekte anhand ihrer Narrative klassifiziert werden. Glynos und Howarth entwerfen hierzu eine Einteilung (vgl. hierzu GLYNOS & HOWARTH 2007: 150f.). Der Referenzpunkt ist dabei die Fantasie der Hegemonie, d.h. des Hegemonieprojekts, das Hegemonie erreicht hat. Glynos’ und Howarths Einteilung erfolgt danach, in welchem Verhältnis das mit einem Hegemonieprojekt artikulierte Glückseligmachende bzw. das artikulierte ‚Grauen‘ zur hegemonialen Fantasie steht. Konkreter: Glynos und Howarth befragen Narrative darauf, ob das Glückseligmachende als existierend oder zukünftig artikuliert wird. Wird es als existierend artikuliert, so bedeutet dies zugleich, dass etwas der Gesellschaft Externes das Glück bedroht. Ist das Glückseligmachende hingegen etwas Zukünftiges, so bedeutet dies, dass es durch etwas der Gesellschaft Internes bedroht wird. Als institutionalistisch oder reformistisch klassifizieren Glynos und Howarth Hegemonieprojekte, wenn diese eine Fantasie artikulieren „in which an external obstacle or enemy is deemed to be a threat to an already existing fullness and harmony“ (ebd.: 151). Es dominiert in derartigen Hegemonieprojekten eine „logic of combination that decouples demands and adresses them in a punctual fashion by channelling them into the existing system of rule“ (ebd.). Oder wie es Ernesto Laclau ausdrückt: „[A]n institutionalist discourse is one that attempts to make the limits of the discursive formation coincide with the limits of the community“ (LACLAU 2007: 81).

II.2 D ISKURSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

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Demgegenüber zeigen sich in Hegemonieprojekten, die Glyons und Howarth als populistisch oder revolutionär klassifizieren, Narrative, „in which an internal obstacle (or ‘enemy within’) is deemed responsible for the blockage of identity, while promising a fullness or harmony to come“ (GLYNOS & HOWARTH 2007: 150). Solche Hegemonieprojekte kennzeichnet eine dislokatorische Fantasie, die die scheinbar ultimative Sinnfixierung der Hegemonie mit Alternativen konfrontiert: „[S]obald […] [die] naturalisierten und sedimentierten sozialen Verhältnisse wieder von einem Antagonismus reaktiviert werden, wird auch die gründende Ausschließung – und mit ihr die eigentliche Kontingenz des Grundes jedes Systems (die Tatsache, dass die Dinge auch anders liegen könnten) – offensichtlich.“ (MARCHART 2004: 4).

In populistisch-revolutionären Hegemonieprojekten überwiegt eine „logic of substitution“, die verschiedene Forderungen miteinander verknüpft (GLYNOS & HOWARTH 2007: 150). Derartige Hegemonieprojekte sollen im Folgenden auch als gegen-hegemoniale Projekte bezeichnet werden. Klassifizierung von Hegemonieprojekten in Auseinandersetzungen um Hegemonie



  



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Abbildung 4

Eigene Darstellung beruhend auf GLYNOS & HOWARTH 2007, Seite 145ff.

Wie kann nun Kritik auf Ebene des Einzeltextes gefasst werden? Nach meinem Verständnis ist die Frage nach Kritik hier die Frage danach, ob eine Artikulation eine Affirmation der hegemonialen Fantasie darstellt oder nicht. Grundsätzlich lassen sich die in einem Narrativ auf Ebene des Einzeltextes artikulierten Forderungen einer Dimensionen der Fantasie zuordnen (siehe auch Kap. II.2.2).

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| II. THEORETISCHE V ERORTUNG

Als affirmative Forderungen bezeichne ich Forderungen, die sich in die hegemonialen Äquivalenzketten einordnen. Derartige Forderungen reproduzieren entweder die hegemoniale Äquivalenzkette von Harmonie und Vollkommenheit oder aber die hegemoniale Äquivalenzkette von zu überwindendem Hemmnisses. Werden Forderungen hingegen vom Terrain des radikal Anderen aus artikuliert, treten dislokatorische Effekte in Erscheinung. Derartige Artikulationen müssen als Interventionen in die Äquivalenzketten der etablierten Hegemonie begriffen werden. Sie können als kritisch bezeichnet werden. Grundsätzlich können mit Laclau (2007: 74, 82) zwei Typen von kritischen Forderungen unterschieden werden: populäre Forderungen und demokratische Forderungen. Mit populären Forderungen geht die Artikulation eines Antagonismus einher. Durch äquivalente Artikulation unerfüllter Forderungen bilden populäre Forderungen eine ausschließende Grenze – „a frontier of exclusion divides society into two camps“ (ebd.: 81). Die Artikulation von Äquivalenzketten ist verbunden mit der Artikulation leerer Signifikanten. Die sich mit populären Forderungen herausbildende Subjektivität, so Laclau, „presents a challenge to the hegemonic formation as such“ (ebd.: 82). Populäre Forderungen sollen hier deshalb auch als gegenhegemoniale Forderungen bezeichnet werden. Bei einer demokratische Forderungen hingegen handelt es sich um „a demand which, satisfied or not, remains isolated“ (ebd.: 74). Demokratische Forderungen können vom hegemonialen Projekt „in a transformistic way“ absorbiert werden73 (ebd.: 82, Hvb. im Original). Wenn weitere unerfüllter Forderungen hinzutreten und diese in Äquivalenz zueinander gesetzt werden, kommt es zur Transformation der demokratischen zu populären Forderungen (ebd.: 73, 82). Im Spannungsfeld von Hegemonie und Gegen-Hegemonie oder besser, im Spannungsfeld von affirmativen und kritischen Forderungen, stehen flottierende Forderungen (vgl. ebd.: 129ff.). Allgemeiner formuliert handelt es sich bei einer flottierenden Forderung um eine Forderung, die in den Äquivalenzketten verschiedener Hegemonieprojekte artikuliert wird (beispielsweise eben dem hegemonialen Projekt und zugleich einem damit konkurrierenden »gegen-hegemonialen« Projekt) – „its meaning is indeterminate between alternative equivalential frontiers“ (ebd.: 131). Eine flottierende Forderung ist, wie es Laclau formuliert,

73

Demokratische Forderungen unterscheiden sich insofern von dem hier dargestellten Verständnis einer affirmativen Forderung, als dass erstere Verschiebungen der hegemonialen Diskursstruktur bei deren gleichzeitigen Aufrechterhaltung implizieren. Die hier dargestellte Idee der affirmativen Forderung hebt jedoch auf all die Artikulationen ab, durch die die hegemoniale Struktur reproduziert wird.

II.2 D ISKURSTHEORETISCHE G RUNDLAGEN

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„submitted to the structural pressure of two antagonistic equivalential chains […]. […] The way in which the meaning of […] [the demand] is going to be fixed will depend on the result of a hegemonic struggle.“ (Ebd.)

Die flottierenden Forderungen befinden sich in einem Spannungsfeld zweier gegensätzlich wirkender Momente: einer institutionalistisch-reformistischen Fantasie sowie einer populistisch-reformistischen Fantasie. Zielt erstere auf die Einverleibung kritischer Forderungen in das hegemoniale Deutungsmuster, so kommt es mit letzterer durch äquivalente Artikulation zur Ausbildung einer ausschließenden Grenze – eines antagonistischen Verhältnisses zum hegemonialen Projekt. Eine Darstellung der unterschiedlichen Typen von Forderungen in Relation zum hegemonialen Projekt versucht Abbildung 5 (a = affirmativ, p = populär, d = demokratisch, f = flottierend; hegemoniales Projekt = hervorgehoben). Abbildung 5

Klassifizierung von Forderungen in Auseinandersetzungen um Hegemonie

Eigene Darstellung

Die bisherigen Darstellungen zielten darauf, herauszuarbeiten, wann eine Artikulation als ‚kritisch‘ bzw. als ‚affirmativ‘ einzuordnen ist. Eine Perspektive für die Beurteilung der Tiefe von Kritik – und damit für eine Überwindung der binären Gegenüberstellung von ‚kritisch‘ versus ‚affirmativen‘ Forderungen (vgl. im Weiteren Kap. VI.3) – wird eröffnet, wenn Diskurse mit Laclau (1990a: 34) als Ensemble sedimentierten Sinns begriffen werden. Sedimentierter Sinn konstituiert das Soziale

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| II. THEORETISCHE V ERORTUNG

oder, anders ausgedrückt, das Soziale ist nur als Ergebnis politischer Auseinandersetzungen denkbar: „[T]he political is, in some sense, the anatomy of the social world, because it is the moment of institution of the social. Not everything in society is political, because we have many sedimented social forms which have blurred the traces of their original political institution“ (LACLAU 2007: 154).

Während Teile des Sozialen erst jüngst aus politischen Auseinandersetzung hervorgegangen sein mögen, so sind andere Teile stärker sedimentiert und tieferes Fundament des Diskurses (vgl. hierzu detaillierter WULLWEBER 2012: 35ff.). Erstere können gegenüber letzteren leichter (re-)politisiert werden. Aussagen über die Tiefe von Kritik können ausgehend von diesen Überlegungen getroffen werden. Werden kritische Artikulationen als Intervention in die Äquivalenzkette des hegemonialen Diskurses begriffen (siehe oben), so ist zu prüfen, ob es sich bei den Äquivalenzbeziehungen, in die mit der Artikulation interveniert wird, um ältere oder jüngere Sedimente des Diskurses handelt.

II. T HEORETISCHE V ERORTUNG

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P ASSAGE Mit Kapitel II wurden die theoretischen Grundlagen der Studie formuliert. Einerseits wurde auf der Basis staatstheoretischer Überlegungen ein grundlegendes Verständnis des Untersuchungsfelds der Studie (der Global Climate Governance) sowie der Bedeutung der fokussierten Akteure (NGOs und soziale Bewegungen) in diesem Feld entwickelt. Mit der diskurstheoretischen Hegemonietheorie wurde andererseits ein Ansatz zur umfassenden Erklärung des Prozesses der (Re-)Produktion von Hegemonie herangezogen. Zunächst wurde dargestellt, dass Zivilgesellschaft (in der Global Climate Governance) kein homogenes Feld grundsätzlich progressiver Akteure ist, die mit Appellen unidirektional staatliches Handeln zu beeinflussen suchen. Um komplexe Politikprozesse als Auseinandersetzung verschiedener sozialer Kräfte zu erklären, ist ein solches Verständnis ungeeignet, denn gerade auch unter zivilgesellschaftlichen Akteuren konkurrieren mehr oder weniger gegensätzliche Auffassungen miteinander (hinsichtlich der Analyse der Ursachen des Klimawandels, der Formulierung von Zukunftsprognosen oder der als notwendig erachteten Handlungsweisen). Mit Antonio Gramscis Begriff des erweiterten Staates wurde ein alternatives Verständnis von Zivilgesellschaft aufgegriffen. Zivilgesellschaft kann dementsprechend als das Terrain der Auseinandersetzungen sozialer Kräfte um Hegemonie gefasst werden. Hegemonie ist dabei konstitutiv für den Staat, der zugleich auf Zwangsmittel rekurriert. Da mit der Global Climate Governance Auseinandersetzungen um Hegemonie auf der Ebene der internationalen Politik in den Blick genommen werden, Gramsci sich jedoch mit seiner Gesellschaftstheorie auf die Ebene des Nationalstaats konzentrierte, wurden Ansätze der neo-gramscianischen Internationalen Politischen Ökonomie herangezogen. Diese Ansätze greifen Gramscis Verständnis von Zivilgesellschaft auf und übertragen es auf die internationale Ebene. Gegenüber konventionellen Theorien Internationaler Beziehungen können neben ‚Staaten‘ so auch soziale Kräfte als Subjekte der Hegemoniebildung verstanden werden. Neo-Gramscianische Ansätze weisen jedoch ein Defizit auf, wenn es darum geht Staatlichkeit auf der internationalen Ebene – wie im vorliegenden Fall der Climate Governance – konzeptionell zu fassen. Im Weiteren wurden deshalb jüngere Arbeiten herangezogen, die an die historisch-materialistische Staatstheorie Nicos Poulantzas’ anschließen. Mit ihnen können die internationalen klimapolitischen Institutionen als die „materielle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse zweiter Ordnung“ (BRAND 2007) konzeptualisiert werden. Zur Beantwortung der Frage, wie sich Hegemonie konkret herausbildet, wie sie also (re-)produziert wird, beziehungsweise der Frage, wie die ideologische Dimension von Poulantzas’ ‚Verdichtung‘ erklärt werden kann, wurde die diskurstheoreti-

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| II. THEORETISCHE V ERORTUNG

sche Hegemonietheorie Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes herangezogen, die ein grundlegendes Verständnis der Prozesse der Universalisierung und Marginalisierung bzw. des Ausschlusses bestimmter Deutungen ermöglicht, die hegemonialen Konsensen zugrunde liegen. Die von ihnen vorgelegte Ontologie des Sozialen bietet, so wurde argumentiert, für die empirische Analyse der (Re-)Produktion von Hegemonie eine detailliert ausgearbeitete Basis. Ihr Ansatz ist zudem anschlussfähig an die zuvor aufgegriffenen Überlegungen zu Zivilgesellschaft und Staat. Laclaus und Mouffes anti-essentialistische Perspektive überwindet darüber hinaus – so wurde im Kapitel dargestellt – voluntaristische bzw. funktionalistische Tendenzen, die neo-gramscianischen bzw. neo-poulantzianischen Ansätzen teils innewohnen. Wie mit Laclaus und Mouffes Ansatz Hegemonie diskurstheoretisch operationalisiert werden kann, wurde anhand grundlegender Begrifflichkeiten dargestellt: So sind es Artikulationen von Forderungen, d.h. Akte der Relationierung von Elementen, die Bedeutung generieren. Artikulationen teilen den diskursiven Raum in zwei antagonistische Lager: ein spezifisches Glückseligmachendes und ein spezifisches Grauen. Eingegangen wurde darauf, dass der Universalisierung eines jeden Diskurses jedoch durch den Ausschluss eines radikal Anderen eine Grenze gesetzt ist. Jede Generierung von Bedeutung ist insofern kontingent, als sie mit dieser konstitutiven Unvollkommenheit des Diskurses konfrontiert ist. Als Moment, in dem das radikal Andere in den Diskurs einbricht und sich die Kontingenz des Diskurses offenbart, wurde die Dislokation eingeführt. Laclaus und Mouffes Ansatz kann als post-fundationalistisch verortet werden. Hegemonie bzw. Diskurs ist nicht determiniert durch einen letzten Grund. Jede Gründung des Sozialen muss als kontingent begriffen werden. Mit Laclaus Theorem des leeren Signifikanten wurde die Frage beantwortet, warum dennoch mit einem Diskurs die Fixierung von Bedeutung partiell gelingt. Der leere Signifikant ist es, der einen Diskurs vervollständigt und so die (scheinbare) Universalisierung spezifischer Deutung ermöglicht. Als (kontingente) Artikulation des Diskurses bleibt jedoch auch dieser Signifikant prekär, was eine endgültige Schließung der diskursiven Ordnung verhindert. Mit der diskurstheoretischen Hegemonietheorie – so wurde dargestellt – sind es nicht Akteure, die hegemonial werden, sondern eine ‚raum-zeitlich spezifische Diskursorganisation‘ (Wullweber). Re-artikuliert wird die Diskursorganisation durch bestimmte Subjekte (Diskurskoalitionen) innerhalb einer spezifischen diskursiven Struktur. Beides – Struktur wie auch Subjekte – begreifen Laclau und Mouffe als (kontinuierlich) diskursiv (re-)produziert und kontingent. Mit ihrer Theorie gehen sie so einen Mittelweg zwischen voluntaristischen bzw. strukturalistischen Perspektiven auf das Verhältnis von Struktur und Subjekt. Der Erfolg bei der Etablierung einer Hegemonie – d.h. bei der hegemonialen Praxis – wurde anhand unterschiedlicher Niveaus konzipiert: der hegemonialen Artikulation von Forderungen, des Hegemonieprojekts als Ensemble von Forderun-

P ASSAGE

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gen, das kontinuierlicher Re-Artikulation unterliegt, sowie des HegemonialWerdens eines spezifischen Hegemonieprojektes (der Hegemonie). Narrative wurden dabei als das grundlegende Mittel hervorgehoben, über das sich Ensembles von Forderungen in der hegemonialen Praxis über Subjekte verbreiten. Mit Blick auf die empirische Analyse der (Re-)Produktion von Hegemonie in der vorliegenden Studie wurde der Begriff der Kritik hegemonietheoretisch konkretisiert. Um Kritik zu beurteilen, so die grundlegende Überlegung, muss gefragt werden, ob eine Affirmation oder Pejoration des Ensembles von Forderungen vorliegt, das Hegemonie erlangt hat. Für die empirische Analyse von Kritik sind Narrative von besonderem Interesse. Auf Diskursebene können einzelne Hegemonieprojekte daraufhin befragt werden, ob ihre Fantasie (ihr spezifisches Glückseligmachendes bzw. Grauen) in antagonistischem Verhältnis zur Hegemonie steht. Auf Ebene des Einzeltextes können die mit einem Narrativ artikulierten Forderungen daraufhin geprüft werden, ob sie in die hegemonialen Äquivalenzketten intervenieren.

III. Zugrunde gelegte Begriffe der NGO und sozialen Bewegung

Ihren Fokus legt die vorliegende Untersuchung auf das Akteursfeld transnationaler Netzwerke von NGOs und sozialen Bewegungen. Es gilt deshalb die hier vertretene Konzeption der Begriffe der NGO bzw. der sozialen Bewegung darzustellen. Der Konzeption zugrunde gelegt wird hier die Auffassung, dass wenn es darum geht, hinsichtlich der Rolle entsprechender Akteure in Auseinandersetzungen um Hegemonie keiner funktionalistischen Fehlinterpretation zu unterliegen, eine diskursorientierte Forschungsperspektive auf die Konstitution der Akteure erforderlich ist. Eine derartige Perspektive zielt darauf, die Dichotomie beider Akteurstypen aufzulösen sowie funktionalistische Perspektiven auf Organisationsgrad eines Akteurs und seine gesellschaftspolitischen Praxis zu überwinden. Das Kapitel gliedert sich in drei Teile. In einem ersten Schritt erfolgt eine Annäherung an die Phänomene der sozialen Bewegung und der NGO (Kap. III.1). Bezug genommen wird dazu auf die (bewegungs-)wissenschaftliche Debatte und dort vorherrschende Begriffsverwendungen (Kap. III.1.1). Ziel dieser Darstellungen ist es, das semantische Dickicht zu lichten. Insbesondere eingegangen wird auf die Begriffe der sozialen Bewegung, der neuen sozialen Bewegung, der (transnationalen sozialen) Bewegungsorganisation, der transnationalen sozialen Bewegung sowie der NGO. Anschließend daran wird das Verhältnis von sozialen Bewegungen und Organisation in den Blick genommen, wie es in verschiedenen Phasen der Institutionalisierungsdebatte der Bewegungsforschung konzipiert wird (Kap. III.1.2). Um die Heterogenität des Empirischen greifbar zu machen und – im Sinne eines poststrukturalistischen Zugangs – Organisationsform bzw. gesellschaftspolitische Praxis nicht zu essentialisieren, so wird im Weiteren argumentiert, bedarf es einer alternativen Perspektive: Entsprechend des diskurstheoretischen Zugangs der Studie (vgl. hierzu Kap. II.2) werden Organisationsform und gesellschaftspolitische Praxis im zweiten Teil des Kapitels als (diskursive) Artikulationen gefasst, die in ihrer historischen Besonderheit Akteure konstituieren (Kap. III.2). Ein Fokus auf die Positionierung entsprechender Artikulationen gegenüber dem hegemonialen Projekt er-

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| III. ZUGRUNDE GELEGTE B EGRIFFE DER NGO UND SOZIALEN B EWEGUNG

möglicht den Rückgewinn einer herrschaftskritischen Perspektive auf das heterogene Akteursspektrum, welche in der Institutionalisierungsdebatte der Bewegungsforschung an Bedeutung verloren hat. Zum Abschluss des Kapitels werden die mit der vorliegenden Studie in den Blick genommenen Akteure konkretisiert und damit das Untersuchungsfeld abgesteckt (Kap. III.3).

III.1 B EGRIFFSVERSTÄNDNISSE

IN DER WISSENSCHAFTLICHEN

D EBATTE

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III.1 B EGRIFFSVERSTÄNDNISSE IN DER WISSENSCHAFTLICHEN

D EBATTE

III.1.1 Annäherungen an die Phänomene der sozialen Bewegung und der NGO Im Zusammenhang mit der Analyse von Veränderungsprozessen der Gesellschaft gerät das Phänomen soziale Bewegung in den Blickwinkel sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. In einer ersten Annäherung fasst Raschke diese als einen „kollektive[n] Akteur, der in den Prozess sozialen bzw. politischen Wandels eingreift“ (RASCHKE 1985: 76, Hvb. im Original). Ziel des Handelns von sozialer Bewegung ist es, „sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen“ (ebd.: 76). Soziale Bewegungen agieren „mit einer gewissen Kontinuität“ und kennzeichnen sich durch eine „variable Organisations- und Aktionsform“ (ebd.: 77f.), als „soziale Gebilde aus miteinander vernetzten Personen, Gruppen und Organisationen“ (RUCHT & NEIDHARDT 2007: 634). Verbindend innerhalb sozialer Bewegungen wirkt eine „hohe symbolische Integration“ (RASCHKE 1985: 78), eine kollektive Identität (vgl. auch HELLMANN 1998: 19f.). Tarrow beschreibt soziale Bewegungen als „collective challenges based on common purposes and social solidarities, in sustained interaction with elites, opponents, and authorities.“ (TARROW 2003: 4f., Hvb. im Original)

Da der Einfluss sozialer Bewegungen in deren Mobilisierung der Öffentlichkeit gründet, bezeichnen Gerhards und Rucht (GERHARDS & RUCHT 1992: 572) das Eintreten und Vorantreiben bestimmter öffentlicher Definitionen eines Problems und dessen Lösungen durch soziale Bewegungen als den „key factor“ einer Analyse sozialer Bewegungen bzw. von Protestkampagnen. Mit dem Aufkommen einer Vielzahl sozialer Bewegungen ab dem Ende der 1960er-Jahre – der Frauenbewegung, der Friedensbewegung oder der Anti-AtomBewegung – wird in der Bewegungsforschung zwischen alten (insbesondere der Arbeiter_innenbewegung) und neuen sozialen Bewegungen differenziert. Neue soziale Bewegungen können „als Produkt bzw. ‚Kinder‘ des Fordismus74 am Ende seiner Boomphase beschrieben“ werden75 (RUCHT 1994: 135): 74

Der ursprünglich auf Antonio Gramsci verweisende Begriff des Fordismus fasst eine historisch-spezifische Phase des Kapitalismus ab den 1940er Jahren, die sich durch großindustrielle (Massen-)Produktion auszeichnet mit der verknüpft es zu einem Anstieg von Produktivitätsrate und Löhnen kam, der einen Massenkonsum möglich machte. Mit den Transformationsprozessen im Zuge der Globalisierung ab den 1970er Jahren

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| III. ZUGRUNDE GELEGTE B EGRIFFE DER NGO UND SOZIALEN B EWEGUNG

„Es geht ihnen zum einen um den Abbau von autoritären Überhängen, die Relativierung der puritanischen Leistungsmoral, Selbstverwirklichung und Gestaltung der eigenen Lebensräume, demokratische Normen, Chancengleichheit, reflexiven Umgang mit Lebenstilen. Zugleich artikulieren sie auch die Widerspruchs- und Krisenpotentiale des fordistischen Projekts mit seiner sozialen Isolierung und Atomisierung, Rüstung und Atombewaffnung, ‚schmutzigen‘ Kriegen in der Dritten Welt, Naturzerstörung und innergesellschaftlichen Gewaltformen.“ (Ebd.)

Den neuen sozialen Bewegungen kommt, wie es Rucht hervorhebt, gegenüber den alten Bewegungen nicht mehr die Funktion „der Durchsetzung großer institutioneller Innovationen (Grundrechtskataloge, Gewaltenteilung, allgemeines und gleiches Wahlrecht, Sozialstaat, Öffnung der Berufe und der Politik für Frauen usw.)“ zu, sondern ihre Qualität liegt „in der dauerhaften Einmischung in Politik“ (RUCHT 1999: 19). Gegenüber den alten sozialen Bewegungen findet eine Verschiebung der thematisierten Probleme statt: „von Problemen der Produktions- auf solche der Reproduktionssphäre, von Eigentums- und Verteilungsfragen auf solche der »Lebensweise«“ (BRAND 1987: 32). In den 1990er Jahre wird in der Bewegungsforschung ein „Formwandel der Bewegungspolitik“ ausgemacht, welcher auf einem grundsätzlichen „Bedeutungszuwachs von Bewegungsorganisationen“ beruht (KLEIN 1997: 328, Hvb. P.B.). Dabei sind es neben der „anwachsende[n] Bedeutung multinationaler Bewegungsorganisationen“ Prozesse der „Institutionalisierung und Professionalisierung nationaler Bewegungsorganisationen“, welche „die Rollenspezifikation und Arbeitsteilung innerhalb der neuen sozialen Bewegung“ forciert (ebd.: 328). Unter Multinationalen Bewegungsorganisationen (MBOs) verstanden werden „bewegungszugegerät der Fordismus in eine Krise. Der Begriff des Postfordismus bezeichnet Versuche der Bearbeitung dieser Krise und für einige Theoretiker_innen eine neue historische Phase des Kapitalismus, die oftmals auch als Neoliberalismus bezeichnet wird. (Vgl. im Weiteren zu Fordismus und Postfordismus bspw. HIRSCH & ROTH 1986 und FROMM 2004) 75

Die Theorien neuer sozialer Bewegungen variieren hinsichtlich dessen, wie sie ihren Gegenstand historisch verorten, wesentlich (vgl. hierzu RUCHT 1994: 129ff.): Einerseits wird den in Erscheinung tretenden Bewegungen ihre Neuartigkeit abgesprochen. Andererseits werden Bewegungen unterschiedlichen Gesellschaftsformationen oder Phasen der Industrialisierung zugeordnet. So bspw. bei Raschke (1985), der entsprechend zwischen frühbürgerlichen Bewegungen, der Arbeiter_innenbewegung und neuen sozialen Bewegungen unterscheidet. In weiteren Ansätzen der theoretischen Auseinandersetzung, zu denen der von Hirsch und Roth (1986) zählt, werden hingegen „Aspekte der Kontinuität und Diskontinuität“ hervorgehoben (RUCHT 1994: 131ff., s. a. BRAND 1987).

III.1 B EGRIFFSVERSTÄNDNISSE

IN DER WISSENSCHAFTLICHEN

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hörige Organisationen bzw. Verbindungen – vor allem Netzwerke – von Organisationen, die strukturell, also nicht nur in ihrem Themenhorizont, über ein bestimmtes Land hinausreichen und somit einen transnationalen, internationalen oder supranationalen Charakter haben“ (RUCHT 1996: 32). Synonym wird auch von ‚transnationalen sozialen Bewegungsorganisationen‘ (Transnational Social Movement Organisations – TSMOs) gesprochen (vgl. bspw. KLEIN ET AL. 2005: 63; MEYERS & FRANTZ 2002: 29, 41). Entsprechende Organisationen „besitzen eine formale Struktur und koordinieren ihr Vorgehen durch internationale Büros“ (MEYERS & FRANTZ 2002: 41). Die Organisation dieser Bewegungsorganisationen „kann zentralistisch oder dezentral sein; ihre Kompetenzen können in der transnationalen Koordination zwischen Organisationen aus mehreren Ländern, in einer international ausgerichteten Koordination zwischen nationalen und internationalen Strukturen oder auch in einer supranationalen Kompetenz außerhalb oder oberhalb nationaler Strukturen liegen.“ (KLEIN ET AL. 2005:

63, vgl. auch KLEIN 1997: 320)

„Prototypen von TSMOs“ finden sich, so Martens (2002: 41), in „den Bereichen Menschenrechte (Amnesty International, Human Rights Watch), Umwelt (Greenpeace, WWF) und Entwicklung bzw. humanitäre Hilfe (Third World Network, CARE)“ sowie ebenso unter „Wohlfahrtsorganisationen“. Das Phänomen transnational aktiver Bewegungsorganisationen muss im Kontext der Transformation von Staatlichkeit (vgl. Kap. II.1.1.2, Seite 30) gesehen werden, in der sich ein zahlenmäßig dramatisches Wachstum76 sogenannter Nicht-Regierungsorganisationen (Non-Governmental Organisations – NGOs) zeigt. Die Transformation, die für das Verständnis des Aufkommens der NGOs und deren Bedeutung zentral ist, ist gekennzeichnet durch

76

Meyers und Frantz weisen darauf hin, dass es sich bei NGOs um „keine originelle Organisationsform der Zivilgesellschaft der 1990er Jahre“ handelt, jedoch sei „die Durchschlagskraft ihrer Stimme in den internationalen Regimen durch Protest, Medienverstärkung, Lobbying, Know how und Expertise, aber auch durch Kooperation quantitativ und qualitativ ein Phänomen des ausgehenden 20. Jahrhunderts“ (MEYERS & FRANTZ 2002: 402). Auf dem Parkett der internationalen Politik stieg die Zahl der NGO in den späten 1970er Jahren vehement an. Das Jahrbuch der Union of International Associations zeigt im Zeitraum von 1977 bis 1985 eine Verdopplung und in den 1990er Jahren ein weiteres deutliches Wachstum der international ausgerichteten NGOs auf (von 2400 auf 4800) (MARTENS 2002: 29, vgl. auch KLEIN ET AL. 2005: 12f.; FRANTZ & MARTENS 2006: 84f). Von Bedeutung für den Anstieg in den 1990er Jahren sind die von den UN ausgerichteten internatonalen Konferenzen (vgl. bspw. KLEIN 1997: 317f.; KLEIN ET AL. 2005: 22ff.).

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„die Phänomene der Globalisierung, der Verlagerung von Governance-Prozessen aus der Staaten- in die Weltgesellschaft und die damit verbundene Abwanderung von Verregelungsund Regulationsvorgängen aus dem Zuständigkeitsbereich öffentlicher Körperschaften in die Welt des Marktes und der Zivilgesellschaft“ (MEYERS & FRANTZ 2002: 393, mit Verweis auf Scholte 2001)

Begriffen werden TSMOs insofern als „eine Antwort der Bewegungspolitik auf Globalisierung und die Demokratieerfordernisse internationaler Politik“77 (KLEIN 1997: 317). Hinsichtlich des Phänomens der sozialen Bewegung kann ab Ende der 1990er ein weiterer Wandel ausgemacht werden: Es treten transnationale soziale Bewegungen in Erscheinung. Diese Bewegungen unterscheiden sich von den neuen sozialen Bewegungen nicht durch „die Agenda der Themen, sondern die transnationale Vernetzung der Akteure“ (KLEIN ET AL. 2005: 59, mit Verweis auf Leggewie 2003: 113). Die Globalisierung stellt dabei den „Referenzrahmen“ dieser Bewegungen dar (BRUNNENGRÄBER 2005: 229). Geprägt sind sie durch folgende Charakteristika: „es handelt sich a) um politische Akteure, die bestimmte Prozesse der Globalisierung infrage stellen, kritisieren und zu ändern versuchen, und nicht um Gegner der Globalisierung im Allgemeinen; sie sind b) gleichzeitig auf der lokalen, nationalen und internationalen Ebene, also in einem transnationalen Mehrebenensystem, aktiv und es sind c) Bewegungen, die ihren Protest gegen bestehende soziale, politische, ökologische oder ökonomische Verhältnisse artikulieren“ (ebd.: 330).

Die Neuartigkeit des Phänomens der transnationalen Bewegungen gegenüber den alten bzw. neuen sozialen Bewegungen kann anhand von fünf Aspekten dargestellt werden (vgl. hierzu ebd.: 357f.): Erstens, weltweit seit 1999 auftretende Massenproteste zu Fragen der Globalisierung (Auftakt stellten die Proteste aus Anlass der WTO-Verhandlungen in Seattle dar). Zweitens, Kritik an gegenwärtigen Strukturen und ihrer scheinbaren Alternativlosigkeit. Drittens, die Herausbildung von „interkulturelle[m] Dialog und politische[n] Netzwerken jenseits der etablierten politischen Institutionen“. Viertens, eine erneuerte Positionsbestimmung des gegenseiti77

Diese Formulierung verbleibt tendenziell funktionalistisch. Hinsichtlich der Erklärung der Herausbildung von NGOs herrscht in den sich mit dem Phänomen der NGOs auseinandersetzenden Arbeiten grundsätzlich ein Funktionalismus vor, wenn die Globalisierung objektiviert und als ursächlich beschrieben wird (vgl. auch BRAND 2000: 61). Globalisierung und die Herausbildung von TSMOs werden in der hier vorliegenden Arbeit hingegen als Teil diskursiver Auseinandersetzungen um Hegemonie verstanden, die in der Transformation von Staatlichkeit (vgl. Kap. II.1.1.2) ihren Ausdruck findet.

III.1 B EGRIFFSVERSTÄNDNISSE

IN DER WISSENSCHAFTLICHEN

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gen Verhältnisses von Bewegungen aus globalem Norden und Bewegungen aus globalem Süden. Sowie fünftens, „die Erfahrung und das Einüben von Toleranz“. Die Vielfalt der Bewegung sowie interne Auseinandersetzungen werden als Stärke und Notwendigkeit für sozialen Wandel begriffen.78 Bei den bereits thematisierten Bewegungsorganisationen handelt es sich ausschließlich um „ein bestimmtes Segment von NGOs“ (KLEIN 1997: 319, s. a. BRAND 2000: 30). Im Folgenden soll näher auf Verwendungen des NGO-Begriffs eingegangen werden, wie sie in der wissenschaftlichen Debatte vorliegen.79 Gezielt wird damit darauf, Unterscheidungskategorien für die empirischen Phänomene der sozialen Bewegung und der NGO offenzulegen. Dass es gilt, diese Unterscheidungskategorien – wie beispielsweise Organisation – nicht als dichotome Einheiten, sondern vielmehr als Gradienten zu begreifen, die ein Akteursspektrum beschreiben, wird daran anschließend herausgearbeitet. Eingeführt wurde der Begriff der NGO durch die Vereinten Nationen, die bei ihrer Gründung 1945 in Artikel 71 ihrer Charta „Prinzipien der Konsultation von ‚non-governmental organisations‘ mit der UN“ festlegte (MARTENS 2002: 31, vgl. auch FRANTZ & MARTENS 2006: 21f.). Zunächst wurde der Begriff von der UN ausschließlich auf international orientierte Organisationen bezogen, jedoch hat die gestiegene „Verbreitung“ des Begriffs auch dessen „Anwendung“ über die UN hinaus erweitert, so dass auch national ausgerichtete Organisationen als NGO bezeichnet werden (ebd.: 26f.). Die UN greift NGO als „Oberbegriff“, der „generell alle internationalen Organisationen [umfasst], die keine Befugnis zu allgemeinverbindlichen politischen Entscheidungen haben, also eben nicht »regieren«, und die »nicht durch zwischenstaatliche Übereinkunft errichtet wurden«“ (BEISHEIM 2005: 261, mit Verweis auf ECOSOC Resolution 1296 (XLIV)).

78

Beispielhaft zum Ausdruck kommt diese Ausrichtung in den vielfach durch transnationale soziale Bewegungen aufgegriffenen Leitsprüchen der zapatistischen Befreiungsbewegung in Mexiko – »Preguntando caminamos« (Fragend schreiten wir voran) bzw. »El mundo que queremos es uno donde quepan muchos mundos« (Die Welt, die wir wollen, ist eine, in der viele Welten Platz haben). Die sozialen Auseinandersetzungen der Zapatisten in Chiapas (vgl. bspw. SILLER & SCHMIDT 2006; HOLLOWAY 2006), insbesondere ihre Deklarationen bzw. Comunicados, stellen für die transnationalen Bewegungen oftmals einen Bezugspunkt dar.

79

Für eine darüber hinausgehende Einführung in den Begriff der NGO vgl. bspw. Frantz und Zimmer (2002), Brunnengräber et al. (2005), Frantz und Martens (2006) und Nursey-Bray (2012b).

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Kriterien für eine weitere Definition von NGOs stellen die UN jedoch nicht auf80 (MARTENS 2002: 32). In der sozialwissenschaftlichen Debatte liegen diverse Ansätze der Konzeptualisierung des Begriffs der NGO vor. Von einem einheitlichen NGO-Begriff kann nicht gesprochen werden.81 Ursachen hierfür sind einerseits die vielfältigen Forschungszugänge,82 die sich dem Phänomen widmen (FRANTZ & ZIMMER 2002: 51f.), andererseits ist es die Heterogenität des Gegenstandes der NGOs – d.h. des Empirischen – selbst: „Die NGOs unterscheiden sich stark im Hinblick auf ihre Größe, das Ausmaß und die Bandbreite ihrer Aktivitäten, ihre Ideologie, ihren kulturellen Hintergrund, ihre Organisationsstruktur und -kultur sowie ihren rechtlichen Status“ (BRÜHL 2005: 267, vgl. auch FRANTZ & MARTENS 2006: 23).

Frantz und Martens führen eine Reihe von Charakteristika auf – „idealtypische Merkmale“ –, anhand deren sich dem Phänomen der NGOs genähert werden kann (ebd.: 24, Hvb. im Original, vgl. auch 49f.): NGOs haben „primär immaterielle (und daher nicht profit-orientierte) Ziele“, verfolgen „keine direkte bzw. unmittelbare Klientelpolitik“, haben „keine staatlichen Mitglieder“, unterliegen nicht „der Kontrolle von Regierungen“, zielen nicht auf den Erwerb von „staatliche[r] Macht“ und „verfügen über eine (zumindest minimale) organisatorische Struktur“ (ebd.: 24ff., Hvb. im Original). Unter diesen Merkmalen ist es das der Organisation – so heben Frantz und Martens hervor –, das „NGOs von sozialen Bewegungen und anderen Formen kollektiven Handelns mit einer weniger stabilen organisatorischen Struktur (wie z.B. öffentlicher Protest)“ unterscheidet (ebd.: 29). Die organisatorische Struktur einer 80

Ausschließlich die Union of International Associations (UIA) verfügt über einen Kriterien-Katalog, anhand dessen international aktive NGOs bestimmt werden können, der in Wissenschaft und Praxis weltweite Verbreitung aufweist. Die Kriterien beziehen sich auf „Zielsetzung, Mitgliedschaft, Organisationsstrukturen, Repräsentativitätsmechanismen sowie Finanzierung der Organisation“ (FRANTZ & MARTENS 2006: 37ff.).

81

Rucht weist dem NGO-Begriff gar den „Charakter eines großen Abfallkorbes“ zu, in den „zu Vieles und zu Heterogenes versammelt wird“ (RUCHT 1996: 31). Die Ursache für diese Kritik mag mit darin liegen, dass die Begriffsbildung größtenteils über eine negative Abgrenzung erfolgt: „[S]ie erörtern, was NGOs nicht sind, anstatt darzulegen, was sie charakterisiert“ (FRANTZ & MARTENS 2006: 22).

82

Brand gibt einen Überblick über entwicklungspolitische NGO-Begriffe und Begriffsverwendungen in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Theoriesträngen (DritteSektor-Forschung, Bewegungsforschung, Korporatismusforschung, Policy-Forschung und Netzwerkanalyse, Regimetheorie sowie eigenständige NGO-Begriffe) und diskutiert diese kritisch (BRAND 2000: 16–63).

III.1 B EGRIFFSVERSTÄNDNISSE

IN DER WISSENSCHAFTLICHEN

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NGO kennzeichne sich durch „einen Hauptsitz [der NGO], einen festen Stab von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Verrichtung der organisatorischen Belange und eine offiziell verabschiedete Satzung“ (ebd.). Anhand des „Grad[es] der Nichtstaatlichkeit“, der sich an den Kriterien der „Mitgliedschaft, Finanzierung und Entstehung“ bemisst, können NGOs in zwei Gruppen geclustert werden – den genuinen oder originären NGOs bzw. den NGOAbweichlern (vgl. hierzu ebd.: 40ff.; MARTENS 2002: 39ff.): „Genuine oder originäre NGOs sind demnach NGOs, deren Entstehungsgeschichte, Finanzierung und Mitgliedschaft ausschließlich durch Privatpersonen geprägt ist. D.h. die Mitglieder solcher NGOs sind Individuen oder nationale Branchen, die wiederum nur aus Privatpersonen bestehen. Sie tragen sich ausschließlich aus eigenen Mittel[n] (Mitgliedsbeiträge[n] oder private[n] Spenden) und nehmen keine öffentlichen Gelder an. Sie sind aufgrund zivilgesellschaftlicher Initiative entstanden und nicht durch staatliche Aktivität oder Anreize.“ (MARTENS 2002: 40, Hvb. im Original)

Unter solchen genuinen NGOs können neben TSMOs (siehe oben), die sich auf die Vertretung der Interessen „benachteiligte[r] Teile der Gesellschaft“ bzw. „alle[r] Menschen“ berufen,83 die internationalen Interessenorganisationen,84 „Organisationen, die primär die Interessen ihrer Mitglieder im internationalen Bereich vertreten“, gefasst werden (ebd.: 40f.). In der Umweltpolitik hat sich hinsichtlich genuiner NGOs eine Differenzierung verbreitet, die mit der zwischen TSMOs und Interessenorganisationen zusammenfällt: Die sogenannten „grünen NGOs wollen die Natur schützen und eine aktive Umweltpolitik betreiben, die auf verbindlichen Regeln basiert“, wohingegen die „grauen NGOs“ darauf zielen „ihr Interesse an möglichst offenen und unverbindlichen Regelungen in die internationalen Verhandlungen zu Umweltfragen einfließen zu lassen“ (BRÜHL 2005: 267; hinsichtlich

83

Im Zusammenhang mit dieser von NGOs beanspruchten advocacy-Funktion diskutiert wird die Legitimation von NGOs. Zentrale Aspekte der Legitimations-Debatte sind „das Fehlen einer demokratischen Ermächtigung und Kontrolle“, „die mangelhaften internen Mitbestimmungsmöglichkeiten“, „Rechtsverstöße einzelner NGOs“ und „manchmal wenig transparente Finanzierungsstrukturen“ (BEISHEIM 2005: 242). Für eine detailliertere Diskussion dieser Aspekte, auf die hier nicht eingegangen werden soll, vgl. Beisheim (2001; 2004; 2005), Gebauer (2001), Walk und Brunnengräber (2000: 183ff.), von Weizsäcker (2001).

84

Als Beispiele für entsprechende Organisationen führt Martens „Internationale Gewerkschaftsverbunde und Organisationen zur Wirtschaftsförderung, sogenannte business NGOs wie die Internationale Handelskammer“ auf (MARTENS 2002: 41, Hvb. im Original).

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grauer NGOs in der Globalen Climate Governance siehe auch die Darstellungen ab Seite 112f. in Kap. IV.1.3 sowie MISSBACH 1999: 279ff.). Von den genuinen NGOs abgegrenzt werden können NGO-Abweichler, „NGOTypen, die nicht der Beschreibung genuiner NGOs entsprechen oder diese nur zum Teil erfüllen können“ (MARTENS 2002: 42). Zu den NGO-Abweichlern gezählt werden einerseits Organisationen hybriden Charakters – sog. quasi-NGOs (QUANGOs) –, die sich dadurch auszeichnen, dass sie „Staaten oder staatliche Stellen als Mitglieder zulassen“ bzw. ihre Finanzierung „zu großen Teilen aus öffentlichen Mitteln“ bestreiten (ebd.). Andererseits umfasst diese Gruppe „Organisationen, die aufgrund staatlicher Initiative entstanden sind und den Großteil ihrer finanziellen Mittel durch staatliche Instanzen erhalten“ – sog. government organised NGOs (GONGOs) (ebd.). III.1.2 Das Verhältnis von sozialen Bewegungen und Institution Als zentrales Unterscheidungsmerkmal der NGOs von sozialen Bewegungen wurde oben bereits das Merkmal der Organisation hervorgehoben. Bei der Konzeption des Begriffs der sozialen Bewegung in den Sozialwissenschaften ist „die Abgrenzung zu ‚Organisation‘“ konstituierend – die Konzeption erfolgt „in intensiver Auseinandersetzung mit dem Organisationsbegriff“ (STICKLER 2011: 109). Zentrale Aspekte dieser Begriffsbildung in der Bewegungsforschung stellt Stickler heraus: soziale Bewegungen „stellen […] keine durchformalisierten Gebilde dar“; sie verfügen über „kein organisatorisches Zentrum, welches verbindlich über Programmatik und Strategie entscheiden könne“, sie sind „intern nicht funktional differenziert“; sie weisen „typische Merkmale formaler Organisation nicht auf“ wie Institutionalisierung und formelle Mitgliedschaft und sie „sind nicht adressierbar“ (ebd.: 110f.). Neben der konstitutiven Abgrenzung sozialer Bewegung von Organisation werden Organisationen in der Bewegungsforschung jedoch zugleich als „‚natürliche‘ Elemente sozialer Bewegungen“ betrachtet (ebd.: 112). Das Verhältnis von Organisation und Bewegung wird „fast durchgängig als Teil-Ganzes-Beziehung gedacht“, wenn Organisationen als fundamental „für den Fortbestand von sozialen Bewegungen“ begriffen werden (ebd.: 109, 110). Es ist die bewegungswissenschaftliche Institutionalisierungsdebatte in der das Verhältnis von Bewegung und Organisation(en) in den Blick genommen wird.85 Diese Debatte konzentriert sich auf die „inneren Strukturmerkmale sozialer Bewegungen“ und geht der Frage nach, „wie sich soziale Bewegungen im Laufe der Zeit entwickeln und wie diese Entwicklung zu bewerten ist“ (ebd.: 112). Obwohl die

85

Einen Überblick über zentrale soziologische Literatur zur Institutionalisierung von Bewegungen gibt Rucht (1997: 33–49).

III.1 B EGRIFFSVERSTÄNDNISSE

IN DER WISSENSCHAFTLICHEN

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Bewegungsforschung grundsätzlich durch eine Vielzahl von Ansätzen gekennzeichnet ist, können zwei Stränge dieser Debatte ausgemacht werden, die sich jeweils durch eine spezifische Konzeption von Bewegung und Organisation auszeichnen (vgl. bspw. NULLMEIER 1989: 8ff.; BRAND 2000: 28; STICKLER 2011: 118). Die Institutionalisierungsdebatte erster Ordnung86 ist geprägt durch das Vorherrschen eines linearen Modells der Entwicklung sozialer Bewegungen (STICKLER 2011: 112). Institutionalisierung wird als konträr zu sozialen Bewegungen betrachtet. Sie wird „mit der Abnahme dessen, was soziale Bewegungen auszeichnet, gleichgesetzt“ (ebd.: 118) – mit der „zunehmende[n] Verbreitung organisationaler Muster“, einer Bürokratisierung der Bewegung, die darin mündet, dass nicht mehr der soziale Wandel, sondern „die bloße Bestanderhaltung der Bewegungsorganisationen“ prioritär ist (ebd.: 112f.). Der Begriff der Institution findet in dieser ersten Institutionalisierungsdebatte für „Organisationen und andere Kollektive“ Anwendung, „sofern sie einen bestimmten Grad an Organisiertheit überschritten haben“87 (RUCHT ET AL. 1997: 54). Grundlegend für dieses Verständnis von Institutionalisierung ist die Arbeit von Robert Michels aus dem Jahre 1911 (‚Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie‘) (MICHELS 1989; s. a. BARKER 2001). Michels geht in dieser von einem „eherne[n] Gesetz der Oligarchie“ (MICHELS 1989: 351ff.) aus, nachdem Organisation zugleich mit Oligarichisierung und Konservatismus einhergehe: „There is a twin inevitability: organisation engenders both oligarchy, the emergence of leaders who can prevent challenges to their rule, and conservatism, the diversion of democratic movements from their original goals.“ (BARKER 2001: 25)

Auch wenn Michels seine „These vom oligarchischen Formwandel […] qua Organisation“ an der Entwicklung einer sozialen Bewegung zur Partei – der deutschen Arbeiter_innenbewegung hin zur Sozialdemokratischen Partei – darstellt, erhebt er 86

Stickler bezieht die Begriffe der Institutionalisierungsdebatte erster und zweiter Ordnung auf spezifische Zeiträume der Bewegungsforschung, in denen bestimmte Verständnisse dominieren. Die Institutionalisierungsdebatte zweiter Ordnung verortet er auf Ende der 1980er-Jahre (STICKLER 2011: 118). Da sich die in den Debatten dominierenden Verständnisse auch über die von Stickler bestimmten Zeiträume hinaus in der Bewegungsforschung ausmachen lassen, verwende ich die Begriffe der Institutionalisierungsdebatte erster und zweiter Ordnung hier im Sinne zweier grundsätzlicher Debattenstränge.

87

Rucht weist darauf hin, dass damit ein Institutionenbegriff vorherrscht, der „nicht an den allgemeinen soziologischen Institutionenbegriff“ anschließt, wie er beispielsweise von Parsons vertreten wird (RUCHT ET AL. 1997: 54).

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den Anspruch eine „allgemeine gesellschaftliche Tendenz“ zu beschreiben, der sich keiner entziehen kann (STICKLER 2011: 113). Die These von Michels findet vielfache Rezeption. Zentral für die Auseinandersetzung mit der allgemeinen Entwicklung sozialer Bewegungen ist die Arbeit von Rosa Mayreder (1925). In der Bewegungsforschung mündet die Oligarchisierungsthese im Entwurf „elaborierte[r] Stufenmodelle“ der Entwicklung sozialer Bewegungen, die von der Vorstellung eines „‚natürlichen‘ Evolutionspfad[es]“ geprägt bleiben (STICKLER 2011: 115). Die erste Institutionalisierungsdebatte kennzeichnet sich, wie aus den bisherigen Darstellungen bereits hervorgeht, durch einen spezifischen Begriff von Organisation. Im Folgenden soll einerseits auf die Konzeption des Verhältnisses von sozialen Bewegungen und Organisationen bzw. andererseits auf das Verhältnis von Organisationform und Ideologie eingegangen werden. Damit wird der Blick auf zwei in der bewegungswissenschaftlichen Debatte immer wieder thematisierte Aspekte gerichtet. Die Konzeption beider Verhältnisse bleibt jedoch – so wird im Weiteren argumentiert werden – unzulänglich. Gilt es der Heterogenität des empirischen Gegenstandes (sozialer Bewegungen und Organisationen) gerecht zu werden bzw. funktionalistische Betrachtungen zu überwinden, bedarf es einer alternativen Konzeption. Das Verhältnis von Bewegung und Organisation wird in der ersten Institutionalisierungsdebatte dichotomisch konzipiert. Wie dargestellt wurde, werden mit dem hier dominierenden Institutionsbegriff Organisationen als Institutionen gefasst. Unterstellt wird ein „diametrale[r] Gegensatz von Bewegung und Institution. Bewegung war ex definitione NichtInstitution; Institutionalisierung bedeutete das Ende als Bewegung.“ (RUCHT ET AL. 1997: 54)

Ein aus den Bewegungen in die Bewegungsforschung übertragener „antiinstitutionelle[r] Impetus“ (ebd.: 25) verleiht der Dichotomie von Bewegung und Organisation eine normative Dimension. Kallscheuer spricht in diesem Zusammenhang von der „‚akademisch erweiterte[n] Reproduktion‘ der ‚linksradikalen Freund / FeindDichotomie von Autonomie versus Institution‘“ (Kallscheuer 1989: 95 zitiert nach ebd.). Aus dem Blick einer entsprechenden dichotomen Betrachtung von Akteuren geraten Hybriderscheinungen. Die heterogenen Akteure lassen sich nicht immer eindeutig dichotomisch konzipierten Kategorien von ‚Bewegung‘ und ‚NGO‘ zuordnen. Sie kennzeichnen sich hingegen durch eine je spezifische Besonderheit. Die bewegungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Bewegung und Organisation wird „von der holzschnittartigen Polarisierung in Reformorientierung einerseits und radikale Gesellschaftsänderung andererseits überlagert“ (STICKLER 2011: 106). In der ersten Institutionalisierungsdebatte kann eine Kopplung der Kategorien Organisation und Ideologie ausgemacht werden,

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wenn es um die Typisierung von Akteuren geht. Für eine begrifflichen Unterscheidung der Akteurstypen Bewegung und Organisation werden organisationsstrukturelle Merkmale mit ideologischen bzw. – darüber hinausgehend – mit Merkmalen gesellschaftspolitischer Praxis verknüpft. In der Literatur der Bewegungsforschung kommt diese Kopplung wiederholt zum Ausdruck: Beispielsweise dann, wenn sozialen Bewegung – die hinsichtlich ihrer Organisationsform als lose strukturiert gekennzeichnet werden – eine sie konstituierende „Protestdimension“ (GÖRG 1992: 149) zugewiesen wird: „[E]in Moment gesellschaftlicher Spontaneität […], das primär auf die Überschreitung geltender Normen und institutionalisierter Herrschaftsbeziehungen und insofern gegen die Inhalte des etablierten Konsenses gerichtet ist.“ (Ebd.: 142)

Mit ihrem Protest würden soziale Bewegungen auf „die Gewinnung neuer weitertreibender Gehalte“ zielen (ebd.: 149). Die Protestdimension beinhaltet eine heuristische Funktion, bei der es um „die Sichtbarmachung abgespaltener, unterdrückter, d.h. nichtidentischer Motive gesellschaftlicher Integration“ geht (ebd.: 149, mit Verweis auf E.P. Thompson). Auch hinsichtlich der Beschreibung von NGOs wird die Kopplung von Organisation und gesellschaftspolitischer Praxis deutlich. Diese als formal organisiert beschriebenen Akteure – so heißt es beispielsweise in dem Standardwerk von Frantz und Martens – „erkennen das politische System und seine Regeln grundsätzlich an, agieren im Rahmen der gesetzlichen Bedingungen und wenden keine Gewalt oder illegalen Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele an (d.h. sie sind nicht gewalttätig)“ (FRANTZ & MARTENS 2006: 24f.).

Eine ähnliche konforme gesellschaftspolitische Praxis weist Brunnengräber formell organisierten Bewegungsorganisationen zu: „Das Engagement der Organisationen des Bewegungssektors richtete sich nicht mehr grundsätzlich gegen den Staat, das kapitalistische System oder die (transnationalen) Konzerne, sondern zielte auf Korrekturen innerhalb der liberal-demokratischen Gesellschaft, auf die Demokratisierung des Staates und die wirtschaftliche Modernisierung ab“ (BRUNNENGRÄBER 2005: 335).

In entsprechenden Beiträgen der Bewegungsforschung zeigt sich die Polarisierung zweier Akteurstypen, die jeweils als aggregierte Einheiten einer spezifischen Organisationsform und einer spezifischen gesellschaftspolitischen Praxis konzipiert sind: Soziale Bewegungen stellen sich als Akteure ohne formale Organisation dar, die zugleich (herrschafts-)kritisch sind. NGOs hingegen weisen eine formale Organisa-

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tion auf und kennzeichnen sich durch eine konforme, kooperative gesellschaftspolitische Praxis. Exemplarisch zeigt sich diese dichotomische Gegenüberstellung derart konstituierter Akteurstypen in Tabelle 2 (entnommen aus WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 217). Bezogen auf das transnationale klimapolitische Feld der 1990er Jahre stellen Walk und Brunnengräber die Neuen Sozialen Bewegungen (NSBs) hier anhand „zentraler Wesensmerkmale“ (ebd.) den NGOs gegenüber. Soziale Bewegungen erscheinen als grundsätzlich „staatsfern“ und „systemkritisch“, NGOs hingegen wird eine „Staats- und Institutionennähe“ zugeschrieben. Die hier diagnostizierte Kopplung der Kategorien Organisation und Ideologie geht in der ersten Institutionalisierungsdebatte mit einem Funktionalismus einher. Entsprechend Michels’ These vom Formwandel qua Organisation ist es die Organisationsform, die die gesellschaftspolitische Praxis bedingt. Mit einem Wandel der Organisationsform verändern sich entsprechend die ursprünglichen Ziele eines Akteurs.88 Die Vorstellung eines derartigen Funktionalismus ist nicht unumstritten. So ist es Rucht zufolge „[u]nklar […], ob Attraktionsschwund, Konformität und Entpolitisierung Folge oder Voraussetzung von Institutionalisierung bzw. Mobilisierungsschwäche sind“ (RUCHT ET AL. 1997: 28). Gegenüber Michel’s Auffassung stellt es sich für Barker derart dar, dass ein bestimmter Politikstil – „reformist politics“ – eine bestimmte Organisationform, nämlich „bureaucratism“, bedingt (BARKER 2001: 32, Hvb. im Original). Indem Barker das Ursächliche und das Bewirkte austauscht, ersetzt er jedoch den einen Funktionalismus nur durch einen anderen. Angebracht scheinen hingegen Konzeptionierungen des Verhältnisses von Organisation und gesellschaftspolitischer Praxis fernab funktionalistischer Verallgemeinerungen, wie sie Michels oder Barker vornehmen. Die Insitutionalisierungsdebatte erster Ordnung kennzeichnet darüber hinaus ein unterbestimmter Begriff von Kritik bzw. Konformität. Es zeigt sich der Bedarf einer theoretischen Fassung von (radikaler) ‚Kritik‘ bzw. ‚Konformität‘ (Reformorientierung). Andernfalls wird „prinzipiell nur schwerlich Einigkeit darüber zu erzielen sein, was denn nun radikale Gesellschaftsveränderung und Herrschaftsminimierung von reformorientierten Konzepten abgrenzt, wo also die Wasserscheide zwischen emanzipatorischer kollektiver Praxis und zivilgesellschaftlicher Herrschaftsmodernisierung anzusiedeln sei“ (STICKLER 2011: 106).

88

Eine derartige „Verschiebung vom radikalen zum reformerischen Politikverständnis“, macht beispielsweise auch Brunnengräber (2005: 335) hinsichtlich der Transformation des Bewegungssektors aus.

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Tabelle 2 Neue Soziale Bewegungen (NSB) und NGOs NSB  hoher Stellenwert der Binnenkommunikation  authentische Interessenartikulation auf Integration bedacht  Legitimation durch die Basis  Ziel der Demokratisierung und Reform des Systems  geringe Rollenspezifikation  Identität als kollektiver Akteur  selbstbestimmte Ziele, die sich im Organisationshandeln widerspiegeln

NGOs  Identität als Organisation und Teil eines (transnationalen) Netzwerkes  Legitimation über institutionelle Integration und Kooperation mit dem Staat, den Medien und dem Markt  Funktion als Advokat und Repräsentant  auf hohe mediale und öffentliche Außenwirkung bedacht  universeller Geltungsanspruch  pragmatische Aktionsformen und Zieldefinitionen

 geringe finanzielle Ressourcen

 Ziel ist die Problemlösung

 abhängig von Mobilisierungsfähigkeit

 hoher Professionalisierungs- und Spezialisierungsgrad

 Anhängerschaftslogik, ohne formale Mitgliedschaften

 expertenhaft-technisch

 Politikstil von unten, Basisarbeit

 kontinuierlich arbeitend und formell strukturiert  Mitgliedschafts- und Spendenlogik

 systemkritisch, staatsfern

 Staats- und Institutionennähe

 lokal, regional und national strukturiert

 indirekte Politikformen: Lobbying und Verhandlungsbeteiligung

 konfrontativ und konfliktiv ausgerichtet

 symbolisch integriert  Effizienzkriterien, Themenbewirtschaftung

WALK & BRUNNENGRÄBER 2000, Seite 217

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Eine Reflexion der bis hierher dargestellten Konzeption findet in einem zweiten Strang der bewegungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Bewegung und Organisation(en) statt – der Institutionalisierungsdebatte zweiter Ordnung (vgl. bspw. RUCHT ET AL. 1997: 19ff.; STICKLER 2011: 118ff.). In diesem Debattenstrang wird die dichotomische Gegenüberstellung von Bewegungen und Organisationen sowie der Funktionalismus von Organisationsform und gesellschaftspolitischer Praxis überwunden. Zugleich zeigen sich jedoch Unzulänglichkeiten. Auf beides – das Reflektierend-Innovative sowie die konzeptionellen Mängel – wird im Folgenden ausführlicher eingegangen. Die sich im zweiten Debattenstrang zeigenden konzeptionellen Veränderungen sind verknüpft mit einem grundsätzlichen Wandel des Begriffs der Institution. Unter einer Institution wird nun „jedes Sozialsystem – angefangen von einer Gruppe bis hin zu komplexen Handlungssystemen“ – verstanden, „sobald es informelle und / oder formelle Mechanismen bzw. Regeln sozialer Interaktion aufweist und diese auf eine gewisse Dauer stellt“ (RUCHT ET AL. 1997: 54). Nach diesem Verständnis stellen auch soziale Bewegungen Institutionen dar. Der Prozess der Institutionalisierung wird als „Ausbildung und Verfestigung verhaltensrelevanter Mechanismen bzw. Regeln“ gefasst – hinsichtlich sozialer Bewegungen als „Herausbildung und Verfestigung der Bewegungsinfrastruktur“ (ebd.). Der Begriff der Bewegungsinfrastruktur bezeichnet dabei „die Gesamtheit der Gruppen, Organisationen und Netzwerke, die einer Bewegung bzw. Bewegungsfamilie zurechenbar sind. Eingeschlossen sind auch unterstützende Einrichtungen und Kommunikationsräume von Bewegungsmilieus, soweit es sich nicht um bloß subkulturelle, gegenüber politischer Mobilisierung indifferente lebensweltliche Zusammenhänge handelt.“ (Ebd.: 52)

Damit zeigt sich ein veränderte Konzeption des Verhältnisses von sozialer Bewegung und Organisation: „Bewegungen sind keine Organisationen, aber sie haben Organisation“ (ebd.: 50). Dieses Verständnis von Institution und Institutionalisierung geht insofern einher mit der Überwindung der Dichotomie von sozialer Bewegung und Institution89 sowie der von sozialer Bewegung und Organisation (vgl. auch STICKLER 2011: 118). In der Institutionalisierungsdebatte zweiter Ordnung ist „Institutionalisierung […] nicht gleichzusetzen mit Bürokratisierung, Vermachtung und Oligarchisie89

Dem antiinstitutionellen Impetus, der die Institutionalisierungsdebatte erster Ordnung durchzieht, geht so seine Grundlage verloren. Die Institutionalisierung von Bewegung gilt in der zweiten Institutionalisierungsdebatte, darauf weist Stickler hin, gar als „erstrebenswert“, wenn die Herausbildung einer Bewegungsinfrastruktur als „Bestandsgarantie von Bewegungspolitik“ begriffen wird (STICKLER 2011: 119).

III.1 B EGRIFFSVERSTÄNDNISSE

IN DER WISSENSCHAFTLICHEN

D EBATTE

| 85

rung“ oder einem „Zielwandel von Bewegungen“ (ebd.). Es zeigt sich damit die Auflösung der funktionalen Kopplung von Organisationsform und gesellschaftspolitischer Praxis, wie sie die Institutionalisierungsdebatte erster Ordnung prägt. Institutionalisierung bezieht sich ausschließlich auf „Strukturmerkmale; alle inhaltlichen Konnotationen – etwa hinsichtlich der Bewegungsideologie – bleiben ausgeklammert“ (RUCHT ET AL. 1997: 54). Institutionalisierungsprozesse – so die verbreitete Auffassung – können in der Empirie mit entsprechenden inhaltlichen Konnotationen einhergehen,90 in der Analyse dürfen sie jedoch nicht „mit Institutionalisierungsdimensionen vermischt oder gleichgesetzt werden“ (ebd.: 56). Obwohl mit der zweiten Institutionalisierungsdebatte die Dichotomie von Bewegung und Organisation sowie die funktionalen Kopplung von Organisationsform und gesellschaftspolitischer Praxis überwunden wird, birgt sie einen konzeptionellen Mangel in sich: Die Organisationsform eines Akteurs – seine Strukturmerkmale – wird als in sich ‚politisch neutraler Modus der Koordination von Kooperation‘ (STICKLER 2011: 128) konzipiert. Organisationsform und gesellschaftspolitische Praxis bedingen sich nicht gegenseitig – so die Konzeption –, jedoch scheint es alleine die Ideologie bzw. gesellschaftspolitische Praxis eines Akteurs zu sein, die politisch von Relevanz ist. Hinsichtlich der Beurteilung des kritischen bzw. konformen Charakters eines Akteurs wird der Organisationsform eine Neutralität zugemessen. „Während die Institutionalisierungsdebatte erster Ordnung […] die Rolle formaler Organisierung noch explizit problematisiert und Organisationen eine (zwangsläufige) Eigenlogik unterstellt, sieht die zweite Institutionalisierungsdebatte in formalen Organisationen neutrale und effektive Werkzeuge für je spezifische Ziele.“ (Ebd.: 121)

Es liegt in dieser politisch neutralen Konzeption von Organisation begründet, dass sich die zweite Institutionalisierungsdebatte durch ein herrschaftskritisches Defizit kennzeichnet. Die Auseinandersetzung mit Herrschaftsfragen tritt in den Hintergrund. Derartige Fragen haben in der ersten Instititutionalisierungsdebatte noch einen wichtigen Stellenwert, wenn dort Institutionalisierung als unweigerlich verknüpft mit Prozessen der Oligarchisierung verstanden wird. Die Institutionalisierungsdebatte der Bewegungsforschung kennzeichnet sich insofern „durch den Übergang von herrschaftskritischen Modellen zu Erklärungsansätzen, die Herrschaft 90

In aktuellen Arbeiten wurde bspw. ein entsprechender Zusammenhang von Organisationsform und gesellschaftspolitischer Praxis wiederholt für einzelne empirische Untersuchungen nachgewiesen (vgl. bspw. TEUNE ET AL. 2007: 165ff.; WALK & BRUNNENGRÄBER

2000: 217). Diese Studien implizieren dabei jedoch häufig noch einen funktio-

nalen Zusammenhang, auch wenn ein solcher zunächst nur auf einer probabilistischen Grundlage hergestellt wurde (vgl. ebd.).

86

| III. ZUGRUNDE GELEGTE B EGRIFFE DER NGO UND SOZIALEN B EWEGUNG

nicht mehr zentral thematisieren“ (ebd.). Um eine herrschaftskritische Perspektive zurückzugewinnen erscheint ein diskurs- bzw. hegemonietheoretischer Zugang vielversprechend, der seinen Fokus auf (diskursive) Artikulationen legt. Ein solcher Zugang soll im Folgenden dargestellt werden.

III.2 E IN

POSTSTRUKTURALISTISCHER

A KTEURSBEGRIFF

| 87

III.2 E IN POSTSTRUKTURALISTISCHER A KTEURSBEGRIFF : O RGANISATION UND GESELLSCHAFTSPOLITISCHE P RAXIS ALS DISKURSIVE A RTIKULATION Herrschaftliche Strukturen werden – so die diskurstheoretische Hegemonietheorie (LACLAU & MOUFFE 1985ff.) – durch (diskursive) Artikulation (re-)produziert. Als Artikulation wird jede Generierung von Bedeutung begriffen (vgl. zum Begriff der Artikulation im Weiteren Kap. II.2.1, Seite 41). Artikulation ist insofern konstitutiv für Organisation und gesellschaftspolitische Praxis eines Akteurs und damit konstitutiv für den Begriff des Akteurs91 selbst. Mit einem entsprechenden Verständnis von Artikulation können Akteure hinsichtlich ihrer herrschaftskritischen Ausrichtung differenzierter beurteilt werden. Es ist dabei die Frage nach der (herrschafts-)konformen bzw. (herrschafts-)kritischen Positionierung spezifischer Artikulationen in Bezug auf die etablierte Hegemonie, die eine entsprechende differenzierte Betrachtung einzelner Akteure ermöglicht (vgl. zur Konzeption der Positionierung einer Artikulation – kritisch vs. affirmativ – Kap. II.2.5). Eine derartige Konzeption ermöglicht erstens die Auflösung der – oben detaillierter dargestellten – Dichotomie von sozialer Bewegung und (Non-Governmental-)Organisation. Klimapolitisch engagierte Akteure auf transnationaler Ebene lassen sich nicht immer eindeutig den dichotomen Kategorien von ‚sozialer Bewegung‘ und ‚NGO‘ zuordnen. Insbesondere hinsichtlich des Phänomens der NGOs wird in der zugehörigen wissenschaftlichen Debatte wiederholt deren „empirisch feststellbare Vielfalt und Heterogenität“ hervorgehoben, zugleich jedoch zur „abstrakten Fassung des Phänomens ein einheitlicher Begriff“ angewendet (BRAND 2000: 60). Mit der hier entwickelten Konzeption kann dem Umstand begegnet werden, dass „geradezu jede NGO ‚als Typus eigener Art‘ verstanden werden könnte“ (MARTENS 2002: 39). Allgemein formuliert kennzeichnen sich Akteure durch eine je spezifische Besonderheit von Artikulationen, welche einen spezifische Organisationsform bzw. eine spezifische gesellschaftspolitische Praxis konstituieren. Zweitens ermöglicht eine derartige Konzeption die Entkopplung der Kategorien Organisation und gesellschaftspolitische Praxis – die Überwindung jedweden funktionalistischen Verständnisses. Auch wenn empirisch vielfach belegt, ist ein Zusammenhang zwischen der Form der Organisierung zivilgesellschaftlicher Akteure und deren gesellschaftspolitischer Praxis kein notwendiger, den es vorauszusetzen

91

Stickler (2011: 111) weist darauf hin, dass „in der politischen Praxis und in einem überwiegenden Teil der Bewegungswissenschaft“ durch Zuweisung eines „Akteursstatus“ suggeriert wird, soziale Bewegungen seien adressierbar. Der hier dargestellte Akteursbegriff, der Akteure als konstituiert durch Artikulationen begreift, setzt eine solche Adressierbarkeit sozialer Bewegungen nicht voraus.

88

| III. ZUGRUNDE GELEGTE B EGRIFFE DER NGO UND SOZIALEN B EWEGUNG

gälte. Konzeptionell aufgelöst wird so die Verortung von NGOs in Auseinandersetzungen um Hegemonie als (herrschafts-)konform bzw. von sozialen Bewegungen als (herrschafts-)kritisch. Wie es Stock ausdrückt: „Es gibt NGOs, deren Programmatik weitaus radikaler und deren soziale Praxis erheblich herrschaftsfreier ist als die von Bewegungen mit linkem Anspruch“ (STOCK 2001: 6). D.h., Organisation muss nicht notwendiger Weise mit der Artikulation herrschaftskonformer gesellschaftspolitischer Praxis einhergehen bzw. herrschaftskritische Artikulationen können dementsprechend mit Organisation einhergehen: Die „politische Organisationsform“ sozialer Bewegungen „garantiert nicht per se eine emanzipatorische Programmatik und Praxis“ (ebd.: 5). Schließlich erfährt mit einer entsprechenden Konzeption die Kategorie der Organisation eine Re-Politisierung. Die Organisation eines Akteurs als durch spezifische Artikulationen konstituiert zu betrachten, bedeutet neben der gesellschaftspolitischen Praxis auch, Organisation als politisch zu begreifen. Artikulationen, welche also die gesellschaftspolitische Praxis und ebenso die Organisationsform eines Akteurs konstituieren, können konform oder kritisch positioniert sein. Informelle Organisation muss nicht notwendigerweise mit kritischer gesellschaftspolitischer Praxis einhergehen, d.h. im Widerspruch zur Reproduktion herrschaftlicher Strukturen stehen. Mit einer derartigen Konzeption von Organisation wird ein Blick auf „informelle Herrschaftsstrukturen“ ermöglicht – Herrschaftsstrukturen, die „auch innerhalb des Bewegungskontextes“ reproduziert werden (STICKLER 2011: 116). Dazu zählen beispielsweise „informelle Hierarchien (etwa durch selbst ernannte Führer), autoritäre Umgangsformen (etwa im Geschlechterverhältnis) oder fragwürdige Praxen (z.B. Gewaltverherrlichung)“ (STOCK 2001: 6). Mit einer Re-Politisierung von Organisation wird schlussendlich der ‚Organisationsvergessenheit‘ (STICKLER 2011: 121) der zweiten Institutionalisierungsdebatte der Bewegungsforschung begegnet. Mit dem Verständnis von Organisation und gesellschaftspolitischer Praxis als Artikulation kann anhand konkreter empirischer Studien das Zusammengehen einer spezifischen Organisationsform mit einer spezifischen gesellschaftspolitischen Praxis in den Blick genommen werden.92 Eine entsprechende Analyse zielt dabei nicht auf die Verifizierung funktionaler Zusammenhänge – wie sie in der ersten Institutionalisierungsdebatte vertreten werden –, sondern auf eine „singular critical explanation of a problematized phenomenon“ (GLYNOS & HOWARTH 2007: 180, vgl. hierzu im Weiteren Kap. V.1.1). Hinsichtlich eines konkreten empirischen 92

Bereits bei Nullmeier (1989) findet sich die Empfehlung, anhand von Einzeluntersuchungen spezifische zunächst zu unterscheidende „Prozesse wie Professionalisierung, Zielwandel, Oligarchisierung, Monetarisierung, Bürokratisierung, verstärkter Arbeitsteilung, Entfremdung, Zentralisierung, Herausbildung einer Führungselite etc.“ (ebd.: 13f.) in den Blick zu nehmen und hinsichtlich ihrer Zusammenhänge zu untersuchen.

III.2 E IN

POSTSTRUKTURALISTISCHER

A KTEURSBEGRIFF

| 89

Gegenstands in den Blick genommen werden kann so bspw. Michels’ These zum Zielwandel von (Bewegungs-)Organisationen, d.h. seine These, „dass formale Organisationen dazu tendieren, die eigentlichen substantiellen Ziele durch operative Ziel zu ersetzen, in deren Folge die organisationale Funktions- und Überlebensfähigkeit zum eigentlichen Ziel wird und die ursprünglichen thematischen Ziele nur insofern verfolgt, d.h. ausgewählt, verworfen oder umdefiniert werden, als sie für das übergeordnete Überlebensziel von Relevanz sind.“ (STICKLER 2011: 116)

Eine These, die ebenso von Walk und Brunnengräber auf der Grundlage ihrer empirischen Untersuchung zur Klimapolitik unterstützt wird, wenn sie formulieren, Akteure mit gewissen organisationsstrukturellen Merkmalen – die NGOs – hätten „sich von den politischen Ideen und Motivationen“ von Akteuren unterschiedlicher Organisationsstruktur den „neuen sozialen Bewegungen weitgehend verabschiedet“ (WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 276): „Die Gemeinsamkeiten zwischen beiden gesellschaftlichen Organisationsformen beruhen im Wesentlichen auf der Bezugnahme auf ähnliche Themen und Probleme. [...] Nicht emanzipative Gesellschaftsveränderungen, Protest oder Gegenkonzepte zur herrschenden Politik bestimmen das NGO-Handeln, sondern thematische Spezialisierungen, die die kapitalistische Modernisierung zum Ziel haben.“ (Ebd.)

90

| III. ZUGRUNDE GELEGTE B EGRIFFE DER NGO UND SOZIALEN B EWEGUNG

III.3 E INGRENZUNG DES MIT DER S TUDIE IN DEN B LICK GENOMMENEN A KTEURSFELDES Die vorliegende Studie richtet ihren Blick auf das Akteursfeld transnationaler sozialer Bewegungen und NGOs. Doch wie kann dieses Untersuchungsfeld anschließend an den poststrukturalistischen Akteursbegriff abgesteckt werden? Argumentiert wurde, dass sich soziale Bewegungen und NGOs nicht als aggregierte Einheiten einer spezifischen Organisationsform und einer spezifischen gesellschaftspolitischen Praxis dichotomisch gegenüberstellen lassen, sondern sich die einzelnen Akteure durch eine je spezifische Besonderheit von Organisationsform und gesellschaftspolitischer Praxis auszeichnen. Das Akteursfeld kann mit den in der Literatur verbreiteten und in ihrem Kern dichotomischen Begriffen der sozialen Bewegung bzw. der NGO nur zu Teilen abgedeckt werden. Die im Empirischen vorliegenden, vielfältigen Mischformen sind begrifflichen nicht zu fassen, wenn die Begriffe der sozialen Bewegung bzw. der NGO anhand von spezifischen Ausprägungen von Organisationsform und gesellschaftspolitischer Praxis konkretisiert werden – sie bleiben dann Abweichungen von einer definierten Normalität. Das Akteursfeld sozialer Bewegungen und NGOs kennzeichnet sich nicht durch eine scharfe Trennlinie, sondern – wie es Dieter Rucht anhand der Metapher von Tag und Nacht ausdrückt – durch einen Übergang der Dämmerung (RUCHT 2009). Das Akteursfeld muss in diesem Sinne als ein Kontinuum begriffen werden: Ein Kontinuum, dass durch zwei ideelle Pole begrenzt wird, die dieses Akteursfeld von anderen Akteuren – wie Unternehmen, staatlichen Institutionen oder Stiftungen – abgrenzbar machen. Um diese Ab- oder Eingrenzung des Akteursfeld von NGOs und sozialen Bewegungen von anderen Akteuren vorzunehmen bedarf es einer Konkretisierung der das Feld begrenzenden Pole. Hierfür soll auf die Merkmale der zwei in der bewegungswissenschaftlichen Literatur dichotomisch gegenübergestellten Akteurstypen (vgl. Kap. III.1.2, insb. Tabelle 2 auf Seite 83) zurückgekommen werden, d.h. die spezifische Organisationsform und die gesellschaftspolitische Praxis, die dort der ‚sozialen Bewegung‘ und der ‚NGO‘ zugewiesen wird. Sie konstituieren die ideellen Pole des Akteursfelds, innerhalb dessen sich eine Vielzahl von heterogenen Akteuren verortet. – Für die empirische Untersuchung der vorliegenden Studie sind es konkreter noch die Merkmale, die den ‚transnationalen sozialen Bewegungen‘ und ‚transnationalen sozialen Bewegungsorganisationen‘ zugewiesen werden (vgl. die Ausführungen hierzu in Kap. III.1.1), die die Pole konstituieren, die das betrachtete Akteursfeld eingrenzen. Der bisherigen Argumentation folgend, wäre es zunächst nur konsequent, die Begriffe der ‚sozialen Bewegung‘ bzw. der ‚NGO‘ in Gänze zu verwerfen und stattdessen einen beides verschränkenden Begriff zu wählen, der die Vielfalt an –

III.3 E INGRENZUNG

DES MIT DER

A RBEIT

IN DEN

B LICK

GENOMMENEN

A KTEURSFELDES

| 91

sich durch spezifische Artikulationen hinsichtlich Organisationsform bzw. gesellschaftspolitischer Praxis konstituierenden – Akteuren repräsentiert. Als Analyseeinheiten für die empirische Vielfalt im empirischen Feld taugen die Begriffe der sozialen Bewegung und NGO, wie begründet wurde, nicht. Es gibt nur eine Vielzahl von Akteuren eigener Art, Akteure die sich durch eine spezifisch ausgeprägte Organisationsform und eine spezifische ausgeprägte gesellschaftspolitische Praxis auszeichnen. Damit verlieren die Begriffe der sozialen Bewegung und der NGO zunächst jede konstitutive Grundlage – jede Essenz. Unterschieden werden können vielmehr Akteure ausgeprägterer Organisierung von Akteuren loserer Organisierung bzw. hinsichtlich ihrer gesellschaftspolitischen Praxis kritische von affirmativen Akteuren – ohne diese als Bewegung oder NGO zu klassifizieren. Im weiteren Verlauf der Studie werden die Begriffe der sozialen Bewegung und NGO trotz dieser analytisch-konzeptionellen Überlegungen dennoch nicht ganz aufgegeben. Ihr verbreiteter Gebrauch in der wissenschaftlichen Literatur sowie im empirischen Feld der Global Climate Governance spricht für einen solchen pragmatischen Umgang. Wenn die Begriffe im Weiteren aufgegriffen werden, so – im Sinne des letzten Absatzes – synonym für die Unterscheidung von Akteuren ausgeprägterer Organisierung (NGOs) von Akteuren loserer Organisierung (soziale Bewegungen). Den Begriffen wird damit bewusst (wieder) etwas Konstitutives zugewiesen: nämlich Unterschiede in der Organisationsform. Werden Akteure im Folgenden als soziale Bewegung oder NGO bezeichnet, so wird damit auf eine bestimmte Tendenz der Organisationsform der Akteure hingewiesen – ohne jedoch daraus (funktional) eine spezifische gesellschaftspolitische Praxis abzuleiten. Eine solche Klassifizierung anhand von Unterschieden in der Organisationsform kann nicht trennscharf sein, sie kann vielmehr nur Tendenzen widerspiegeln. Die Artikulation von Organisierung fällt – wie oben argumentiert – bei verschiedenen Akteuren unterschiedlich aus: hinsichtlich des Vorliegens eines organisatorischen Zentrums, interner funktionaler Differenzierung oder von Merkmalen formaler Organisation. Das Aufgreifen der Begriffe der sozialen Bewegung und NGO weist insofern auf Tendenzen hin. Um dies hervorzuheben und allgemeiner, um das der Studie zugrunde gelegte poststrukturalistische Akteursverständnis kontinuierlich in Erinnerung zu rufen, werden die Begriffe der »sozialen Bewegung« und »NGO« von nun an in Anführung gesetzt.

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| III. ZUGRUNDE GELEGTE B EGRIFFE DER NGO UND SOZIALEN B EWEGUNG

P ASSAGE Dieses Kapitel diente dazu, die der Studie zugrunde gelegten Begriffe der »NGO« bzw. der »sozialen Bewegung« zu klären. Das heißt also, es diente dazu, ein Begriffsverständnis bezüglich der Akteure zu erlangen, die in der empirischen Untersuchung der Studie hinsichtlich der (Re-)Produktion bzw. Anfechtung von Hegemonie (der Affirmation bzw. Kritik von Hegemonie) durch Artikulation von Forderungen und Narrativen in den Blick genommen werden. Zum Abschluss von Kapitel II wurde Affirmation oder Kritik als Artikulation konzipiert, die sich jeweils durch eine spezifische Positionierung gegenüber dem hegemonialen Projekt auszeichnet. Im vorliegenden Kapitel wurde dargestellt, dass das im Forschungsstrang der Bewegungswissenschaften diskutierte Akteursverständnis von »NGO« und »sozialer Bewegung« grundsätzliche Unzulänglichkeiten hinsichtlich der Vereinbarkeit einer solchen Konzeption von Kritik aufweist. Anschließend an eine erste Annäherung an die Phänomene der »sozialen Bewegung« bzw. der »NGO« – den Versuch also einer ersten Eingrenzung des mit der Studie in den Blick genommenen Akteursfeldes – wurden vier Unzulänglichkeiten der sogenannten Institutionalisierungsdebatte der Bewegungswissenschaften herausgearbeitet: erstens die einer dichotomen Gegenüberstellung von sozialer Bewegung und Organisation, zweitens die einer funktionalistischen Kopplung von Organisationsform und Ideologie bzw. – im weiteren Sinne – gesellschaftspolitischer Praxis, drittens die Konzeption der Organisationsform als in sich politisch neutralem Modus der Koordination von Kooperation sowie, damit einhergehend, viertens ein herrschaftskritisches Defizit. Dargestellt wurde, dass es, um hinsichtlich der Rolle von »sozialen Bewegungen« und »NGOs« in Auseinandersetzungen um Hegemonie keiner Fehlinterpretation zu unterliegen, einer alternativen Perspektive auf die Konstitution von Akteuren bedarf. Entwickelt wurde dementsprechend eine diskursorientierte Perspektive, die es ermöglicht, Organisationsform und gesellschaftspolitische Praxis von Akteuren als (diskursive) Artikulationen zu fassen, die beide für sich jeweils eine politische Qualität besitzen, das heißt affirmativ oder kritisch gegenüber einem hegemonialen Projekt positioniert sein können. Akteure wie »NGOs« oder »soziale Bewegungen«, so die zentrale Überlegung dieser Akteurskonzeption, werden durch jeweils historisch spezifische Artikulationen solcher Art konstituiert – Artikulationen, die grundsätzlich unabhängig voneinander sind. Mit dieser Konzeption von Akteuren werden funktionalistische Perspektiven auf die Organisationsform eines Akteurs (beispielsweise seine Institutionalisierung) und eine spezifische gesellschaftspolitische Praxis (beispielsweise ein affirmativer Politikstil) überwunden. Insbesondere durch die Zurückweisung der Idee Organisationsform oder gesellschaftspolitischer Praxis als eine den Akteur (letzt)-

P ASSAGE

| 93

bestimmende Essenz zu begreifen wird eine Kohärenz des hier entwickelten Akteursverständnisses mit dem im vorherigen Kapitel dargelegten poststrukturalistischen Theoriezugang hergestellt. Mit dem Verständnis von Organisation und gesellschaftspolitischer Praxis als Artikulation kann anhand konkreter empirischer Studien – wie der vorliegenden – das Zusammengehen einer spezifischen Organisationsform mit einer spezifischen gesellschaftspolitischen Praxis in den Blick genommen werden. Mit dem entwickelten Akteursverständnis gilt es zunächst jedoch ein – in den Bewegungswissenschaften tendenziell vorliegendes – dichotomisches Verständnis von »NGO« und »sozialer Bewegung« zu verwerfen. Die Konzeption von Akteuren als das Zusammengehen einer spezifischen Organisationsform mit einer spezifischen gesellschaftspolitischen Praxis macht eine Vielzahl von Verknüpfungen möglich und das Akteursfeld zu einem Kontinuum zwischen zwei ideellen Polen. Als konstitutiv für das mit der empirischen Untersuchung der vorliegenden Studie betrachtete Akteursfeld wurden die spezifischen Organisationsformen und die gesellschaftspolitische Praxis, die den ‚transnationalen sozialen Bewegungen‘ und ‚transnationalen sozialen Bewegungsorganisationen‘ zugewiesen werden, festgelegt. Mit dem der Studie zugrunde gelegten poststrukturalistischen Akteursverständnis verlieren die Begriffe der sozialen Bewegung und der NGO zunächst jede konstitutive Grundlage. Ihre weitere Verwendung in der Studie wird jedoch nicht verworfen, sondern den Begriffen wird im Weiteren bewusst (wieder) etwas Konstitutives zugewiesen: (tendenzielle) Unterschiede in der Organisationsform bestimmter Akteure. Um hervorzuheben, dass es sich bei diesen Unterschieden um keine trennscharfe – dichotomische – Unterscheidung handeln kann und darüber hinaus, um das der Studie zugrunde gelegte poststrukturalistische Akteursverständnis präsent zu halten, werden die Begriffe der »sozialen Bewegung« und »NGO« im Weiteren mit Anführungszeichen versehen.

IV. Die Konstitution des Konfliktfelds

Kapitel IV zielt auf die Darstellung des mit der vorliegenden Studie in den Blick genommenen Konfliktfeldes. Es gliedert sich in vier Teile: Zunächst wird die Bearbeitung des Klimawandels in der Global Climate Governance in den Blick genommen (Kap. IV.1). Dabei wird ihre Genese, ihre Struktur sowie das Akteursfeld umrissen. In der bisherigen Darstellung fiel bereits vielfach der Begriff der Hegemonie bzw. wurde die Reproduktion bzw. die Anfechtung einer etablierten Hegemonie als entscheidend für die affirmative bzw. kritische Positionierung von Narrativen (vgl. Kap. II.2.4 und II.2.5) hervorgehoben. Jedoch wurde bislang nicht auf die Frage danach eingegangen, ob sich in der Global Climate Governance eine Hegemonie herausgebildet hat bzw. wie sich diese Hegemonie ggf. darstellt. Im Anschluss wird deshalb nun die Global Climate Governance auf ihren hegemonialen Charakter befragt (Kap. IV.2). Dies resultiert in der Rekonstruktion der für die Global Climate Governance konstitutiven Hegemonie des Neoliberalismus – der »Neoliberalisierung des Klimas«. In einem dritten Teil wird näher auf ein sich herausbildendes antagonistisch orientiertes Hegemonieprojekt eingegangen (Kap. IV.3) – das Hegemonieprojekt um die Forderung nach Climate Justice. Gegenüber der neoliberalen Hegemonie kann es als »gegen-hegemoniales« Projekt beschrieben werden, womit die erste Forschungsfrage der Studie (vgl. Kap. I.2) beantwortet wird. Zum Abschluss des Abschnitts werden die Post-Kyoto-Verhandlungen als Terrain verstärkter Auseinandersetzung über die Aufrechterhaltung bzw. Erneuerung dieser Hegemonie ins Blickfeld gerückt und so der Fokus der vorliegenden Analyse auf diesen Zeitraum begründet (Kap. IV.4).

96

| IV. D IE K ONSTITUTION DES K ONFLIKTFELDS

IV.1 D IE G LOBAL C LIMATE G OVERNANCE – DER K ONTEXT DER U NTERSUCHUNG Die Darstellung der Global Climate Governance erfolgt anhand dreier Schritte: In einem ersten Schritt wird auf die Genese ihrer Strukturen eingegangen (Kap. IV.1.1), bei der zivilgesellschaftliche Akteure von Beginn an eine wesentliche Rolle spielen. In einem zweiten Schritt wird die sich herausgebildete spezifische Struktur – die Klimarahmenkonvention sowie das sie ergänzende Kyoto-Protokoll – dargestellt (Kap. IV.1.2). Auf diese Struktur nehmen die – in der vorliegenden Studie in den Blick genommenen – zivilgesellschaftlichen Akteure einerseits mit ihren Artikulationen Bezug, andererseits ist sie der Kontext, in dem Akteure Artikulationen hervorbringen, wenn es sich bei ihnen um sogenannte akkreditierte Observer handelt. Einen Überblick über die Vielzahl an Akteuren, welche im Gefüge der Global Climate Governance in Erscheinung treten, und damit eine Verortung des mit der Studie fokussierten Akteursfeldes wird in einem dritten Schritt gegeben (Kap. IV.1.3). IV.1.1 Genese Die Entwicklung der Global Climate Governance93 und damit des aktuellen institutionellen Ensembles zur Bearbeitung des Klimawandels kann anhand einzelner Phasen beschrieben werden. Im Anschluss an Bodansky (1996: 12) können eine foundational period, eine agenda-setting phase, eine pre-negotiation period, eine formal intergovernmental negotiations phase hin zur UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) sowie eine post-agreement phase, welche die Verhandlungen hin zum Kyoto-Protokoll umfasst, voneinander abgegrenzt werden. Ergänzen lässt sich eine weitere Phase internationaler klimapolitischer Verhandlungen: die Verhandlungen zu einem Post-Kyoto Abkommen in den Jahren 2007 bis 2012. Auf diesen Zeitraum, der für die vorliegende Studie von besonderer Bedeutung ist, wird an separater Stelle (vgl. Kap. IV.4) detaillierter eingegangen. Im Folgenden beschränkt sich die Darstellung auf die erste Verhandlungsrunde der internationalen Klimapolitik, deren Ergebnis die UN-Klimarahmenkonvention und das Kyoto-Protokoll ist. Im Zeitraum Mitte der 1950er bis Mitte der 1980er Jahre – der foundational period – kommt es zur verstärkten Zuwendung der Wissenschaft zum Thema Klimawandel (ebd.). Bereits im Jahre 1896 begründet Svante Arrhenius die Theorie des Treibhaus-Effekts, wonach die Zunahme der CO2-Konzentration in der Atmosphä-

93

Eine ausführlichere Darstellungen der Genese finden sich beispielsweise bei Bodansky (1994; 1996), Hecht und Tirpak (1995), Loske (1996), Mintzer und Leonhard (1994) und Ott und Brouns (2002).

IV.1 D IE G LOBAL C LIMATE G OVERNANCE –

DER

K ONTEXT

DER

U NTERSUCHUNG

| 97

re zu einer Erhöhung der durchschnittlichen Temperatur führt. Ab Mitte der 1950er Jahre tragen weitere Erkenntnisse im Rahmen dieser Theorie und über die aktuelle Situation des Klimas sowie prognostizierte Entwicklungen zur Herausbildung eines Problembewusstseins in der scientific community bei. Verschiedene Entwicklungen lassen sich dabei hervorheben: (1) Insbesondere Beobachtungen der atmosphärischen CO2-Konzentration ab den 1960er Jahren durch Wissenschaftler auf Hawaii bringen empirische Belege für deren kontinuierlichen Anstieg. (2) Die Weiterentwicklung der Leistungsfähigkeit von Computersimulationen erhöht das Vertrauen der Wissenschaftler_innen in die Prognosen von Klimaveränderungen. (3) Die Erkenntnis Mitte der 1980er Jahre, dass weitere Spurengase neben CO2 zum Treibhaus-Effekt beitragen, verschärft die Problematik. Darüber hinaus weisen (4) ab den 1980er Jahren Studien auf einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts hin. (Vgl. BODANSKY 1994: 46f., 1996: 12.) Mitte der 1980er Jahre kann eine verstärkte Politisierung des Themas Klimawandel ausgemacht werden. Das bis dahin primär wissenschaftliche Thema wird in den Jahren von 1985 bis 1988 – der agenda-setting phase – auf die Agenda der Politik gehoben. Zu diesem Prozess tragen wesentlich diverse Wissenschaftler_innen aber auch »NGOs« bei, die durch eigene Aktivtäten eine Auseinandersetzung in Medien und Politik forcieren (vgl. hierzu BODANSKY 1994: 48; RAHMAN & RONCEREL 1994: 241f.; NEWELL 2000: 128ff.; BEISHEIM 2005: 254; LIPSCHUTZ & MCKENDRY 2011: 370). Als weitere Aspekte, die zu einer Politisierung beitragen, lassen sich einerseits – mit dem Auftreten des Ozonlochs – die akute Erfahrung zählen, dass menschliches Handeln Einfluss auf das Klimasystem haben kann, sowie andererseits das Auftreten konkreter folgenreicher Extremwetterereignisse, wie des Hitzesommers 1988 in den USA, die als Folgen eines anthropogenen Klimawandels diskutiert werden (BODANSKY 1994: 48). Ausdruck findet das Wirken der wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Entrepreneure in zahlreichen Konferenzen, Tagungen und Berichten (ebd.). Obwohl das Vorantreiben des Klimathemas durch entsprechende Akteure bereits ab Anfang der 1970er Jahre zu beobachten ist, kann mit den Arbeitstagungen in Villach (1985) und Bellagio (1987) ein Höhepunkt in der Politisierung ausgemacht werden. Die Tagungen münden erstmals in politischen Empfehlungen zum Schutz des Klimas, „die sich insbesondere an Entscheidungsträger richten“ (LOSKE 1996: 242). Es herrschte die Auffassung vor, dass die bis dahin gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse ausreichend dafür sind, eine Reaktion von Seiten der Politik einzufordern. Das Abschlussstatement der Villacher Konferenz hebt in diesem Sinne hervor, dass „scientists and policy-makers should begin an active collaboration to explore the effectiveness of alternative policies and adjustments“ (zitiert nach BODANSKY 1994: 48). Vorgeschlagen wird, eine internationale Konvention als staatenübergreifenden Lösungsansatz der globalen Erwärmung einzurichten, die sich deren Ursachen und Folgen widmet (LOSKE 1996: 242). Durchgeführt werden die Arbeits-

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| IV. D IE K ONSTITUTION DES K ONFLIKTFELDS

tagungen vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) – die die internationalen wissenschaftlichen Bestrebungen hin zu einem Klimaabkommen anführen (HECHT & TIRPAK 1995: 380) –, der World Meteorological Organisation (WMO) und dem International Council of Scientific Unions (ICSU). Der Klimawandel erlangte 1988 mit einer internationalen Konferenz in Toronto seinen „politische[n] Durchbruch“ (OTT & BROUNS 2002: 321). Die Konferenz, blieb im Kern – obwohl von der kanadischen Regierung ausgerichtet (LOSKE 1996: 242) und neben Teilnehmer_innen aus Wissenschaft und »NGOs« ebenso Repräsentant_innen aus 48 Ländern umfassend (BRUNNENGRÄBER 2009: 119) – dem Charakter nach eine non-governmentale Konferenz, die ausschließlich politische Empfehlungen ohne bindende Wirkung aussprach (BODANSKY 1994: 50). Trotzdem stellt die Konferenz aufgrund der aus ihr hervorgehenden ehrgeizigen Forderungen in vielerlei Hinsicht „the high-water mark of policy declarations on global warming“ (ebd.: 49) dar. Zu den formulierten Forderungen gehörte die nach einer 20prozentigen Reduktion der globalen CO2-Emissionen bis 2005 (Basisjahr 1988) – eine herausfordernde Zielmarge für die Klimapolitik der folgenden Jahre – sowie die nach der Entwicklung einer „global convention as a framework for protocols on the protection of the atmosphere“ (ebd., s.a. LOSKE 1996: 242). Die TorontoKonferenz kann damit als „institutioneller Grundstein für das neue internationale Konfliktfeld“ bezeichnet werden (BRUNNENGRÄBER 2009: 119). Die Jahre von 1988 bis 1990 – der pre-negotiation period – kennzeichnen sich durch ein Aufgreifen des Klimathemas durch Regierungen. In diesen Zeitraum fallen diverse high-level meetings, die sich mit dem Thema Klimawandel auseinandersetzten (BODANSKY 1996: 14; LOSKE 1996: 243). Die Generalversammlung der UN verabschiedet so 1988 eine Resolution, in der sie den Klimawandel als „common concern of mankind“ beschreibt (zitiert nach BODANSKY 1996: 14). Wesentlich zur „Verankerung des Politikfeldes auf internationaler Ebene“ (OTT & BROUNS 2002: 321f.) trug die Gründung des zwischenstaatlichen Ausschusses zu Klimaänderungen (Intergovernmental Panel on Climate Change – IPCC) im Jahr 1988 durch UNEP und WMO bei.94 Der IPCC versammelt mehrere hundert der renommiertesten Klimaforscher_innen, deren Aufgabe darin besteht, den jeweiligen Stand der Forschung zur globalen Erwärmung und ihrer Folgen zusammenzutragen. Sein Mandat umfasst die Bereitstellung von „internationally coordinated assessments of the magnitude, timing and potential environmental and socio-economic impact of climate change and realistic response strategies“ (zitiert nach BODANSKY 1994: 51). Als wissenschaftliches Gremium erstellt das IPCC seine Sachstands- und Arbeits94

Die Einrichtung des IPCC erfolgte auf Vorschlag der USA (HECHT & TIRPAK 1995: 381; BODANSKY 1994: 51). Die Regierungsinitiative zielte u.a. darauf, „to reassert governmental control and supervision over what was becoming an increasingly prominent political issue“ (BODANSKY 1994: 51).

IV.1 D IE G LOBAL C LIMATE G OVERNANCE –

DER

K ONTEXT

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gruppenberichte unabhängig von Regierungseinfluss – die ‚Zusammenfassungen für Entscheidungsträger‘ hingegen unterliegen einem Verhandlungsprozess, an dem Regierungsvertreter wesentlich mitwirken und die teils in Auseinandersetzungen um einzelne Wörter enden (HECHT & TIRPAK 1995: 386). Es war der IPCC, der mit seinem ersten Sachstandsbericht 1990 und insbesondere einem aus einer Arbeitsgruppe hervorgehenden „Elementepapier zur Ausgestaltung einer Klimakonvention“ (LOSKE 1996: 243) wesentlichen Einfluss auf die Einleitung eines internationalen Verhandlunsgprozesses zu einem Klimaabkommen hatte. Der „Startschuss für die offiziellen Verhandlungen“ (OTT & BROUNS 2002: 321) erfolgte mit einer Resolution der UN-Generalversammlung im Dezember 1990 zur Einrichtung des Intergovernmental Negotiating Committee (INC). Der INC hatte die Funktion, bis zur Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro (UNCED), eine Konvention zum Klimawandel zu erarbeiten (vgl. bspw. HECHT & TIRPAK 1995: 387; OTT & BROUNS 2002: 321). Mit der Einrichtung des INC 1991 begann die formal intergovernmental negotiations phase, die mit der Unterzeichnung bzw. spätestens der Verabschiedung der UNFCCC ihren Abschluss fand. In den Verhandlungen des INC95 setzte sich in kurzer Zeit – in Anlehnung an die Konzeption der erfolgreichen UN-Konvention zur Problematik des sauren Regens bzw. des Ozonlochs – das Vorhaben durch, auch zur Bearbeitung des Klimawandels eine Rahmenkonvention mit explizierenden Protokollen zu erarbeiten (vgl. bspw. BODANSKY 1994: 53, 1996: 18). Darüber hinaus existierten jedoch eine Reihe von grundsätzlichen Differenzen zur Frage nach deren Ausgestaltung bzw. Erweiterung (vgl. im Folgenden hierzu BODANSKY 1996: 19): Erstens lagen unterschiedliche Auffassungen über die Integration spezifischer Zielvorgaben und Zeitpläne vor – den Befürwortern, den Vertreter_innen von EU und der Vereinigung der kleinen Inselstaaten (AOSIS) standen hier die USA und die OPEC-Länder gegenüber. Zweitens war die Ausgestaltung der finanziellen Mechanismen umstritten. Die Entwicklungsländer traten hier gegenüber den Industrieländern für die Einrichtung eines neuen Fonds neben der Global Environment Facility (GEF) ein. Drittens war es die Frage der Ausgestaltung von Institutionen und Mechanismen, in der Differenzen vorherrschten. Die schlussendlich zur Unterzeichnung erstellte Vorlage stellt im wesentlichen einen „carefully balanced compromise“ über diese Differenzen dar, denn „[m]any of its provisions do not attempt to resolve differences so much as paper them over, either through formulations that preserved the positions of all sides, that were deliberately ambiguous, or that deferred issues until the first meeting of the conference of the parties“ (ebd.). Im Rahmen der UNCED in Rio 1992 wurde das Ergebnis der Verhandlungen des INC von mehr als 150 Staaten unterzeichnet. Zwei Jahre später – am 21. März 1994 95

Zur ausführlichen Darstellung der Geschichte der Verhandlungen des INC vgl. Bodansky (1994: 60ff.) und Hecht und Tirpak (1995: 387ff.).

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– trat die UNFCCC in Kraft, nachdem der erforderte 50. Staat die Konvention ratifiziert hatte (vgl. bspw. OTT & BROUNS 2002: 421f.; zu Zielsetzung, Struktur und Institutionen der UNFCCC vgl. Kap. IV.1.2). Gegenwärtig sind 194 Staaten sowie die Europäische Union Vertragsparteien UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC 2013c). Beginnend mit dem Inkrafttreten der Konvention steht in der post-agreement phase deren weitere Ausgestaltung im Vordergrund. Die Konvention verfolgt das „Endziel“, „die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird“ (UNFCCC 1992: Artikel 2). Die dazu festgelegten Emissionsziele (vgl. UNFCCC 1992: Artikel 4.2a, 4.2b) verbleiben jedoch auf einer allgemeinen und unverbindlichen Ebene. Bereits in der Konvention festgelegt wurde eine Prüfung der Angemessenheit dieser Ziele (UNFCCC 1992: Artikel 4.2d). Die Prüfung im Rahmen der ersten Vertragsstaatenkonferenz (Conference of the Parties – COP1) in Berlin 1995 fiel negativ aus, weshalb es „verpflichtender Reduktions- und Begrenzungsziele für die Emissionen der Industrieländer [bedurfte], um der Zielsetzung gerecht zu werden“ (OTT & BROUNS 2002: 323). Mit dem Berliner Mandat wird in diesem Sinne die Einrichtung eines „ad hoc committee“ beschlossen, dessen Funktion in der Aushandlung eines Protokolls „containing addition commitments for industrial countries for the post-2000 period“ bis zur COP3 in Kyoto besteht (BODANSKY 1996: 20). Das angestrebte Protokoll sollte verbindliche Reduktionsziele umfassen. Diese Stoßrichtung wurde durch die COP2 in Genf 1996 bekräftigt, deren Abschlusserklärung erstmals daraufhinwies, „that countries were willing to act in the absence of consensus“ (ebd.). Tatsächlich konnte in Kyoto 1997 – wenn auch nach offiziellen Abschluss der COP3 – ein ergänzendes Protokoll zur Konvention verabschiedet werden.96 Auch wenn mit dem Protokoll die groben Linien der Klimapolitik bestimmt wurden, so mangelte es an detaillierten „Ausführungsbestimmungen und Richtlinien“, welche „die Basis für die Ratifikation des Protokolls in den Parlamenten“ darstellte (OTT & BROUNS 2002: 324). Auf der COP4 in Buenos Aires wurde deshalb deren Aushandlung bis 2000 beschlossen. Aufgrund eines erschwerten Einigungsprozesses verzögerte sich jedoch dieser Zeitplan. Die Abkehr der USA vom Kyoto-Protokoll im Jahr 2001 wirkte als eine Art „Schocktherapie“, die eine „weltweite Solidarisierung mit dem Protokoll“ nach sich zog – vornehmlich der EU und der Mehrheit der Entwicklungsländer (ebd.: 325). Nach dem Scheitern der COP6 in Den Haag konnten mit den „Bonn Agreements“ die wesentlichen Züge der ausführenden Bestimmungen festgelegt werden und diese mit den „Marrakesh 96

Zu den Verhandlungen in Kyoto während der COP3 vgl. Oberthür und Ott (2000: 115ff.). Zum Einfluß von »NGOs« bei der Aushandlung des Kyoto-Protokolls vgl. Gulbrandsen und Andersen (2004).

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Accords“ während der COP7 als „völkerrechtlich wirksames Übereinkommen“ festgeschrieben werden (ebd.). Für das In-Krafttreten des Kyoto-Protokoll galt eine zweimalige 55-Prozent Regelung (vgl. bspw. ebd.): Erforderlich war die Ratifikation von 55 Staaten deren CO2-Emissionen mindestens 55 % der globalen Emissionen ausmachen. Ersteres wurde im Mai 2002 erreicht. Letzteres erst mit der Ratifkation des Protokolls durch Russland im Jahr 2005. „Russland – das mit seinen hohen Emissionen nach dem Ausstieg der USA das Zünglein an der Waage war – […] sicherte sich im Gegenzug die Unterstützung der EU beim Beitritt zur Welthandelsorganisation“ (BRUNNENGRÄBER 2009: 124). IV.1.2 Struktur Wie stellt sich die Klimarahmenkonvention und das Kyoto-Protokoll dar? Was sind ihre Zielsetzungen und was verbirgt sich hinter dem Begriff der ‚flexiblen Mechanismen‘? Im Folgenden soll hierzu ein Überblick gegeben werden. Ein solcher scheint für ein Verständnis von Auseinandersetzungen um Hegemonie im Feld der Global Climate Governance bzw. der mit ihnen einhergehenden Artikulationen unverzichtbar. In einem ersten Schritt wird auf Besonderheiten des Ansatzes einer Rahmenkonvention mit ergänzendem Protokoll eingegangen, wie er sich in der internationalen Klimapolitik durchgesetzt hat – ein Ansatz, der in der internationalen Umweltpolitik kein unbekannter ist. In einem zweiten Schritt werden Zielsetzung, zentrale Prinzipien und die Institutionen der UNFCCC dargestellt. Schließlich wird in einem dritten Schritt die Zielsetzung des Kyoto-Protokolls umrissen und seine ‚flexiblen Mechanismen‘ – Emissionshandel, Clean Development Mechanism (CDM) und Joint Implementation (JI) – in ihren Grundzügen skizziert. (1) Der Rahmenkonvention / Protokoll-Ansatz: Grundsätzlich wird mit der UNFCCC und dem Supplement des Kyoto-Protokolls „in völkerrechtlicher Hinsicht kein Neuland“ beschritten (OTT & BROUNS 2002: 322), sondern an Ansätze angeschlossen, denen in der internationalen Umweltpolitik bereits Erfolg beschieden war. Im Völkerrecht stellen Rahmenkonventionen einen Typus internationaler Abkommen dar. Mit ihnen erfolgt die Bereitstellung eines „general system of governance for a given subject area, including basic goals and principles, institutions, and decision-making procedures“ (BODANSKY 1995: 430). Der Prozess der Genese der Klimakonvention zielte schnell auf die Entwicklung einer „convention specifically on climate change“ und verdrängt damit eine alternative Stoßrichtung: „to develop a general framework agreement on the ‚law of the atmosphere‘, to parallel the UN Law of the Sea Convention, and then adress specific atmospheric issues such as acid rain, ozone depletion, and climate change in separate protocols“ (BODANSKY 1994: 53).

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Die Etablierung einer Rahmenkonvention mit ergänzenden Protokollen findet in der internationalen Umweltpolitik auch deshalb besonderen Anklang, da hier die Alternative einer Verabschiedung verbindlicher Regelungen aufgrund zwischenstaatlicher Gegensätze zunächst oft unrealisierbar scheint. Der Rahmenkonvention / Protokoll-Ansatz ermöglicht eine inkrementelle Vorgehensweise in internationalen Verhandlungen:97 „[T]hey first establish a framework of institutions and mechanisms that foster the development of consensus, and only later attempt to elaborate more substantive obligations“ (BODANSKY 1995: 430). Mit UNFCCC und KyotoProtokoll tritt ein solcher „stufenweiser Regelungsansatz“ in Erscheinung, bei dem zunächst durch die Konvention „Leitplanken für die zukünftige internationale Klimapolitik“ gesetzt und mit dem Protokoll die konkreten Ziele der Emissionsreduktion sowie die Mechanismen beschrieben werden (OTT & BROUNS 2002: 322). Die Konvention schafft einen Diskussionsraum, welcher die Herausbildung einer gemeinsam geteilten Sichtweise unterstützt (BODANSKY 1995: 432). Der Rahmenkonvention / Protokoll-Ansatz verbindet in diesem Sinne generell „two contrasting approaches to international law“ (BODANSKY 1996: 23): einerseits – mit der Konvention – weiche Ansätze, die eine internationale Kooperation ermöglichen sollen bzw. diese aktiv fördert, andererseits – mit den Protokollen – harte Ansätze, wie verpflichtende Regelungen. (2) Die Zielsetzung der Klimarahmenkonvention wird in Artikel 2 festgehalten: „Das Endziel dieses Übereinkommens und aller damit zusammenhängenden Rechtsinstrumente, welche die Konferenz der Vertragsparteien beschließt, ist es, […] die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird. Ein solches Niveau sollte innerhalb eines Zeitraums erreicht werden, der ausreicht, damit sich die Ökosysteme auf natürliche Weise den Klimaänderungen anpassen können, die Nahrungsmittelerzeugung nicht bedroht wird und die wirtschaftliche Entwicklung auf nachhaltige Weise fortgeführt werden kann.“ (UNFCCC 1992: Art. 2)

Mit der Konvention wird insofern eine Störung des Klimasystems anerkannt. Problematisiert wird bzw. verregelt werden soll hingegen eine ‚gefährliche Störung‘

97

Ein entsprechendes Vorgehen zeigt sich bereits bei dem – der Klimakonvention vorangehenden – Montrealer Protokoll zum Schutz der Ozonschicht von 1987, welches das Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht ergänzt. Zu seinen „Synergien und Konflikte[n]“ mit der FCCC bzw. dem Kyoto-Protokoll vgl. Oberthür und Ott (2000: 363).

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dieses Systems.98 Entsprechend ihrer Zielsetzung widmet sich die Konvention, wie Bodansky (1995: 433) hervorhebt, der Stabilisierung atmosphärischer – d.h. ‚nicht anthropogener‘ – Treibhausgaskonzentrationen und richtet ihre Aufmerksamkeit auf Veränderungsraten von Emissionen. Gegenüber „substantielle[n] Verpflichtungen“ bezüglich der Reduktion von Emissionen enthält die UNFCCC nur eine unpräzise Formulierung, wonach „sich die Industrieländer bemühen sollen, ihre Emissionen von CO2 und anderen Treibhausgasen bis 2000 auf das Niveau von 1990 zurückzuführen“99 (LOSKE 1996: 247, mit Verweis auf UNFCCC 1992: Art. 4.2.a und b). Die Zielsetzung kennzeichnet sich insofern durch eine Unbestimmtheit, die einer weiteren Ausformulierung bedarf, wenn es darum geht, „Zielkorridore … für den mittel- und langfristigen Klimaschutz“ zu bestimmen (OTT & BROUNS 2002: 323). Insbesondere zwei Fragen stehen dabei im Vordergrund: „(a) What concentration levels and rates of change are ‚safe‘? (b) What emission reductions are necessary to achieve these levels and in what time frame?“ (BODANSKY 1995: 433). Aufgrund konkurrierender Deutungen und Interessen muss die Beantwortung dieser Fragen eine politische bleiben. Um die Beantwortung dieser Fragen und damit die weitere Entwicklung substanzieller Klimaschutzmaßnahmen zu fördern verpflichten sich die Vertragsparteien der Konvention zu weitergehenden Forschungen zur globalen Erwärmung sowie zu kontinuierlichen Berichten, in denen anthropogene THG-Emissionen inventarisiert sowie umgesetzte Maßnahmen dargelegt werden.100 Bereits in der Zielsetzung der Konvention zeigt sich ein zentraler Stellenwert wirtschaftlicher Entwicklung, wenn es dort heißt, dass diese „auf nachhaltige Weise 98

Der Ansatz bzw. die Forderung nach der Verhinderung einer gefährlichen Störung des Klimasystems wurde 1977 mit einem Report der National Academy of Science zum Thema „Energy and Climate“ eingeführt (vgl. HECHT & TIRPAK 1995: 378f., 391).

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Diese Verpflichtung gilt für die in Annex 1 zur Konvention aufgenommenen Staaten. Annex 1 umfasst die 24 Gründungsmitglieder der OECD sowie die europäischen Transformationsländer. Im Rahmen der COP3 in Kyoto 1997 wurden einige weitere kleine europäische Länder dieser Liste hinzugefügt. Demgegenüber umfasst Annex 2 die Gründungsmitglieder der OECD sowie die EG. Die Konvention unterscheidet grundsätzlich hinsichtlich der festgelegten Verpflichtungen zwischen verschieden Staatengruppen: Allen Vertragsparteien, allen Industrieländern, den Gründungsmitgliedern der OECD und den europäischen Transformationsländern. (Vgl. OBERTHÜR & OTT 2000: 65f.)

100 Die in Annex II aufgelisteten Vertragsparteien unterliegen „besondere[n] Berichterstattungspflichten in Bezug auf ihre Aktivitäten zur finanziellen Unterstützung und zum Technologietransfer“ (ebd.: 66f.). Bei der Erstellung der THG-Inventare sollen die Entwicklungsländer finanziell wie auch technisch durch die Industrieländer unterstützt werden (HECHT & TIRPAK 1995: 372).

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fortgeführt werden“ soll (UNFCCC 1992: Art. 2). Eine Spezifizierung erfährt dieses Ziel mit Artikel 3.5 der Konvention, in dem es heißt: „Die Vertragsparteien sollen zusammenarbeiten, um ein tragfähiges und offenes internationales Wirtschaftssystem zu fördern, das zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum und nachhaltiger Entwicklung in allen Vertragsparteien […] führt und sie damit in die Lage versetzt, die Probleme der Klimaänderungen besser zu bewältigen. Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimaänderungen, einschließlich einseitiger Maßnahmen, sollen weder ein Mittel willkürlicher oder ungerechtfertigter Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des internationalen Handels sein.“ (UNFCCC 1992: Art. 3.5)

Die Förderung von wirtschaftlichem Wachstum bzw. die Priorität des freien Marktes wird insofern als ein (handlungsleitendes) Prinzip der Klimarahmenkonvention festgeschrieben. Die Konvention offenbart damit einen neoliberalen Charakter.101 Zu den weiteren Prinzipien – welche die Zielsetzung der Konvention ergänzen (vgl. hierzu auch BODANSKY 1995: 433f., 1996: 25f.; OTT & BROUNS 2002: 322f.) – zählen: - Das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung, das den Industrieländern aufgrund ihrer historischen Emissionen die wesentliche Verantwortung zuweist gegen die globale Erwärmung anzugehen. Sie sind es, die „bei der Bekämpfung der Klimaänderungen und ihrer nachteiligen Auswirkungen die Führung übernehmen“ sollen (UNFCCC 1992: Art. 3.1). Während die Industrieländer sich – zwar rechtlich unverbindlich – zur Reduktion von THG-Emissionen verpflichten, sind die Entwicklungsländern von solchen Verpflichtungen in der Konvention ausgenommen. - Das Gerechtigkeits-Prinzip – insbesondere der intergenerationalen Gerechtigkeit –, dem entsprechend die Vertragsparteien Klimaschutz betreiben sollen (UNFCCC 1992: Art. 3.1). - Das Prinzip, die besonderen Bedürfnisse und Gegebenheiten der Entwicklungsländer – insbesondere der stark vulnerablen – in vollem Umfang zu berücksichtigen (UNFCCC 1992: Art. 3.2). Anschließend an dieses Prinzip verpflichten sich die Industrieländer in der Konvention zu Finanz- und Technologietransfer gegenüber den Entwicklungsländern (UNFCCC 1992: Art. 4). - Das Vorsorgeprinzip, demzufolge „das Fehlen einer völligen wissenschaftlichen Gewißheit“ kein Anlass für das Unterlassen eines aktiven Klimaschutz sein darf (UNFCCC 1992: Art. 3.3).

101 Die Hegemonie des Neoliberalismus prägt die politische Bearbeitung des Klimawandels. In Kapitel IV.2 wird dies ausführlicher dargelegt.

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- Das Prinzip der Kosteneffizienz nach dem „Politiken und Maßnahmen zur Bewältigung der Klimaänderungen kostengünstig sein sollten“ (UNFCCC 1992: Art. 3.3). - Das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung, demzufolge die Vertragsparteien das Recht zugestanden wird bzw. empfohlen wird „eine nachhaltige Entwicklung zu fördern“ (UNFCCC 1992: Art. 3.4). Mit der Etablierung der Klimarahmenkonvention verbunden ist die Einrichtung verschiedener Institutionen, die im Folgenden umrissen werden sollen (vgl. ausführlicher hierzu bspw. BODANSKY 1995: 439ff.; OBERTHÜR & OTT 2000: 309ff.). Anzuführen ist hier zunächst das durch die UN Generalversammlung eingerichtete INC, in dessen Rahmen die internationalen Verhandlungen hin zur Konvention bis zur ersten Vertragsstaatenkonferenz 1995 in Berlin erfolgten. Die Vertragsstaatenkonferenz (Conference of the Parties – COP) wird durch die Konvention als „oberstes Gremium“ bestimmt, das „die Durchführung des Übereinkommens und aller damit zusammenhängenden Rechtsinstrumente, die sie beschließt, [überprüft] und […] im Rahmen ihres Auftrags die notwendigen Beschlüsse [fasst], um die wirksame Durchführung des Übereinkommens zu fördern“ (UNFCCC 1992: Art. 7.2). Die Beschlüsse im Rahmen der jährlich ausgerichteten COPs erfolgen konsensual.102 Neben den Verhandlungsdelegationen der Vertragsparteien ist es zivilgesellschaftlichen Gruppen – wie Unternehmen oder Umwelt- und Entwicklungsverbände – möglich, als sogenannte Observer-Organisationen die Verhandlungen zu begleiten und so auf diese zu versuchen Einfluss zu nehmen. Die adminstrativen Funktionen der Vertragsstaatenkonferenzen wie auch weiterer Institutionen der Konvention werden von einem Sekretariat übernommen (vgl. UNFCCC 1992: Art. 8). Über Administratives hinaus agiert das Sekretariat einerseits als Schlichter im Verhandlungsprozess, wenn es versucht Uneinigkeiten zwischen den Vertragsparteien zu überwinden, andererseits betreibt es ein kontinuierliches Review der Konvention (BODANSKY 1995: 441). In Ergänzung zur COP schafft die Konvention zwei Nebenorgane (vgl. UNFCCC 1992: Art. 9, 10): das Nebenorgan für wissenschaftliche und technologische Beratung (Subsidiary Body for Scientific and Technological Advice – SBSTA), „in dem laufend neue Ergebnisse evaluiert werden sollen“, sowie das Nebenorgan für die Durchführung des Übereinkommens (Subsidiary Body for Implementation – SBI), „das die Umsetzung der beschlossenen Maßnah102 Im Rahmen der COP16 in Cancun 2010 erfolgte erstmals eine Abweichung von dieser Regelung. Das Cancun Agreement wurde trotz dessen Ablehnung durch Bolivien von der COP angenommen. Die bolivianische Kritik wurde ausschließlich protokollarisch festgehalten. Die Gültigkeit des Cancun Agreements ist aus völkerrechtlicher Perspektive deshalb umstritten. Nach bisherigem Verfahren sind nur konsensuale Entscheidungen der COP rechtskräftig.

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men in den Vertragsstaaten bewerten soll“ (LOSKE 1996: 292). Mit der Konvention wird im Weiteren ein Finanzmechansimus etabliert – „ein Mechanismus zur Bereitstellung finanzieller Mittel in Form unentgeltlicher Zuschüsse oder zu Vorzugsbedingungen, auch für die Weitergabe von Technologie“ (UNFCCC 1992: Art. 11) –, der von der Global Environment Facility (GEF) verwaltet wird (vgl. im Weiteren BODANSKY 1995: 441ff.). Ergänzung finden die Institutionen der Klimarahmenkonvention durch Ad hoc-Arbeitsgruppen, die ihr Mandat durch die COP verliehen bekommen und themenspezifisch arbeiten.103 Auch das IPCC kann aufgrund seiner gegenüber den Vertragsparteien beratenden Funktion als „Quasi-Gremium der Konvention“ bezeichnet werden (LOSKE 1996: 292). Eine wesentliche Bedeutung hat das IPCC „in legitimizing the climate change issue and laying the foundations for the FCCC negotiations“ (BODANSKY 1995: 443). (3) Die Zielsetzung des Kyoto-Protokolls: Mit der Annahme des ‚Protokolls von Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen‘ durch die COP3 erhält die Klimarahmenkonvention ein ergänzendes Protokoll, das substanzielle Reduktions-Verpflichtungen umfasst. Es verpflichtet 38 Industrieund Transformationsstaaten (und die Europäische Union) – entsprechend Anlage B des Protokolls – bis zum Jahr 2012 ihre anthropogenen THG-Emissionen104 um 5,2 Prozent (Basisjahr 1990) zu reduzieren (KP 1997: Art. 3.1). Zur Erreichung der Reduktions-Verpflichtungen ermöglicht das Protokoll den Vertragsstaaten neben der Emissionsreduktion im eigenen Land die Nutzung sogenannter ‚flexibler‘ Mechanismen, denen „der Gedanke zugrunde [liegt], durch Flexibilität bei der Wahl des Ortes der Emissionsvermeidung deren Kosten zu senken“ (OTT & BROUNS 2002: 327). Diese Mechanismen setzen auf die Fähigkeit des Marktes zur Umsetzung effektiven Klimaschutzes105 (für eine Einführung in die 103 Bislang bestanden Ad-hoc-Arbeitsgruppen zum Berliner Mandat (AGBM) bzw. zu Artikel 13 der Konvention (AG13), deren Mandate bereits erloschen sind. Hinsichtlich der Verhandlungen über ein Nachfolgeabkommen zum 2012 auslaufenden Kyoto-Protokoll (vgl. Kap. IV.4) bzw. der langfristigen Umsetzung der Klimarahmenkonvention wurde von der COP im Jahr 2005 die Einrichtung der Ad Hoc Working Group on Further Commitments for Annex I Parties under the Kyoto Protocol (AWG-KP) sowie im Jahr 2007 der Ad Hoc Working Group on Long-term Cooperative Action under the Convention (AWG-LCA) beschlossen. 104 Neben Kohlendioxid listet das Kyoto-Protokoll Methan, Distickstoffoxid, teilhalogenierte Fluorkohlenwasserstoffe, perfluorierte Kohlenwasserstoffe und Schwefelhexafluorid auf (KP 1997: Anlage A). Gemessen werden die Reduktionen der verschiedenen THG-Emissionen in Kohlenstoffdioxid-Äquivalenten (KP 1997: Art. 3.1). 105 Die Idee, Umweltprobleme mit marktbasierten Mechanismen zu bearbeiten, wurde Ende der 1980er Jahre prominent mit dem Buch des britischen Ökonoms David Pearce

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Idee und Geschichte des Carbon Trading vgl. BÖHM & DABHI 2009b; 2009a; GILBERTSON & REYES 2009, LOHMANN 2006, 2010). Zu diesen Mechanismen zählt neben dem Emissionshandel (Emissions Trading – ET), der Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (Clean Development Mechanism – CDM) sowie die Gemeinsame Umsetzung (Joint Implementation – JI). Bei den erstrebten Klimaschutzmaßnahmen im eigenen Land sowie im Rahmen der flexiblen Mechanismen verfolgt das Kyoto-Protokoll „das primäre Ziel der Förderung nachhaltiger Technologien“, jedoch sind ebenso „weitere spezifische Maßnahmen“ – die Nutzung der Senkenkapazität, das Sequestrieren bzw. das Impfen – vorgesehen (BRUNNENGRÄBER 2009: 135, s.a. 135ff.). Mit der Festlegung auf die flexiblen Mechanismen erfolgte eine Entscheidung gegen ordnungspolitische Maßnahmen, beispielsweise einer Besteuerung bzw. einem Verbot von Emissionen oder Substanzen; hingegen wurde „die Dominanz einer martkwirtschaftlich-technischen Herangehensweise festgeschrieben“ (ebd.: 122, vgl. im Weiteren Kap. IV.2). Zum Abschluss dieses Kapitels sollen die flexiblen Mechanismen in ihren Grundzügen dargestellt werden. Eingegangen wird dabei auf ihre Funktionweise, erste Erfahrungen und an ihnen geäußerte Kritik. Zunächst zum Emissionshandel106 (Artikel 17 des Kyoto-Protokolls; für eine Einführung vgl. bspw. PTAK 2008): Seine Grundidee ist es, dass entsprechend einer definierten Emissionsobergrenze eine bestimmte Menge an Emissionsrechten an Emittenten verteilt werden. Die Emittenten erhalten die Möglichkeit, die Emissionsrechte untereinander zu handeln. Emittenten, die höhere Emissionen vorweisen als sie über Emissionsrechte verfügen, können entsprechend Rechte von solchen hinzukaufen, die nicht auf diese angewiesen sind. Ein entsprechender Handel zielt auf die Schaffung eines Anreizes – in Gestalt von Kosten-Einsparungen (durch nicht weiter benötigten Zukauf von Rechten) bzw. Gewinnaussichten (durch den Verkauf nicht benötigter Rechte) – für die Senkung von Emissionen. Der Emissiund Kollegen ‚Blueprint for a Green Environment‘ vorangetrieben (PEARCE ET AL. 1989). 1996 während der COP2 in Genf werden Handelsmechanismen erstmals von der US-Delegation unter Clinton in die Verhandlung eingebracht. Sie können entsprechend als eine „amerikanische Erfindung“ (BRUNNENGRÄBER 2009: 125) begriffen werden, deren Erfolg ohne die unbeständige Rolle der USA in den Klimaverhandlungen nicht denkbar wäre. Erst die Abkehr der USA vom Kyoto-Protokoll führte zum Siegeszug der Handelsmechanismen. (Vgl. LOHMANN 2006: 49f., 52f.; BRUNNENGRÄBER 2009: 125f.) 106 Mit dem Emissionshandel wird hinsichtlich des Problems globaler Erwärmung an das Coase-Theorem angeschlossen (LOHMANN 2006: 55f.; PTAK 2008: 38). Dieses geht davon aus, dass Marktkräfte Probleme, die durch Externalitäten hervorgerufen werden, durch eigenes Agieren lösen können: durch die Verhandlung über die Allokation von Ressourcen bzw. deren Tausch (COASE 1960).

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onshandel verlagert den Fokus von der Problematik grundsätzlicher Emissionen hin zur Frage, ob Rechte für entsprechende Emissionen vorliegen. Mit dem Emissionshandel „wird die Atmosphäre in Wert gesetzt, sie wird quasi zur Deponie, für deren Nutzung zu zahlen ist“ (BRUNNENGRÄBER 2009: 126). Der Emissionshandel im Rahmen des Kyoto-Protokolls teilt Staaten107 (entsprechend Anlage B) eine spezifische Menge an THG-Emissionen in Kohlenstoffdioxid-Äquivalenten zu (Emissionsbudgets). Es liegt in der Entscheidung der einzelnen Staaten, wie sie mit diesen Budgets verfahren, d.h. welche Mengen an Emissionsrechten bestimmte Industriesparten zugewiesen bekommen bzw. welche Mengen gegebenenfalls an weitere Staaten verkauft werden (ebd.). Am Handel mit Kyoto-Emissionsrechten der im Jahr 2008 begonnen hat beteiligen können sich ausschließlich die Anhang-B-Länder (ALTVATER & BRUNNENGRÄBER 2008: 13). Die grundsätzliche Effizienz des Emissionshandels als Klimaschutzmaßnahme ist umstritten. Der Kyoto-Emissionshandel ist mit der Problematik ‚heißer Luft‘ konfrontiert: Den Transformationsstaaten des vormaligen Ostblocks (insbesondere Russland und der Ukraine) wurden im Kyoto-Protokoll auf der Basis des Jahres 1990 eine spezifische Menge an Emissionsrechte zugeteilt, die aufgrund des Zusammenbruchs von Industrien in den Folgejahren die aktuell vorliegenden Emissionen deutlich übersteigen. Im Resultat kann dieser Umstand gar einen Anstieg der absoluten Emissionen der am Handel beteiligten Länder bewirken (vgl. bspw. BRUNNENGRÄBER 2009: 129; OTT & BROUNS 2002: 327). Ersten Erfahrungen mit dem Mechanismus scheinen zu bekräftigen,108 dass nur eine eng beschränkte Menge an Zertifikaten, welche zu einem deutlichen Preis gehandelt werden eine effiziente Funktion garantieren kann (BRUNNENGRÄBER 2009: 128). Darüber, ob der Emissionshandel derzeit an einer „Kinderkrankheit“ leide, wie es „marktwirtschaftliche Verfechter“ vertreten (so PTAK 2008: 45), oder ob er grundsätzlich „eine Reduktion von Treibhausgasen […] nicht garantieren kann“109 (BRUNNENGRÄBER 2009: 128), 107 Parallel zum Kyoto-Emissionshandel zwischen Staaten wird seit 2005 das Europäische Emissionshandelssystem (EU-ETS) betrieben, bei dem Betreiber von Anlagen mit hoher Energieintensität Emissionsrechte untereinander handeln (vgl. bspw. ALTVATER & BRUNNENGRÄBER 2008: 13; BRUNNENGRÄBER 2009: 126f.). 108 Für die erste Phase des EU-ETS (2005-2007), die „ohne Polemik als Phase der Bereicherung einzelner Unternehmen“ bezeichnet werden kann, diagnostiziert Ptak ein „deutliches Versagen des Preismechanismus“ (PTAK 2008: 44, vgl. auch BRUNNENGRÄBER 2009:

127).

109 Brunnengräber führt vier Argumente auf, die eine Skepsis an der grundsätzlichen emissions-reduzierenden Wirkung des Emissionshandels unterstreichen (vgl. hierzu ebd.: 128): 1) das Recht auf Handel führe zu einer ausschließlich bilanztechnischen Emissionsreduktion, 2) der Emissionshandel umfasse nicht alle der hinsichtlich Emissionen relevanten privatwirtschaftlichen Bereiche, 3) am Emissionshandel sind die Entwick-

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wird gestritten. Sicher hingegen ist, dass mit dem Emissionshandel eine Möglichkeit der Kapitalakkumulation geschaffen wurde. Am Emissionshandel festgehalten wird entsprechend nicht nur von Teilen der an effektivem Klimaschutz interessierten Akteure, sondern ebenso von einer Vielzahl an Marktakteuren, welche sein „potential as a new market“ (NEWELL & PATERSON 2010: 28) erkannt haben. Der grundsätzliche Gedanke der zwei weiteren Mechanismen – Joint Implementation und Clean Development Mechanism – ist es, den mit dem Kyoto-Protokoll verpflichteten Ländern die Möglichkeit zu geben, Emissionsreduktionen in anderen Ländern vorzunehmen, in denen diese mit geringeren Kosten verbunden sind (für eine detaillierte Darstellung der Joint Implementation vgl. OBERTHÜR & OTT 2000: 205ff. sowie LOSKE 1994; des CDM vgl. OBERTHÜR & OTT 2000: 221ff.; STRIPPLE & LÖVBRAND 2010; STRECK 2004). Es sind Unterschiede in der Energieeffizienz in den verschiedenen Ländern, aufgrund denen entsprechende Reduktionsmaßnahmen unterschiedliche finanzielle Ressourcen erfordern. Beide Mechanismen unterscheiden sich vom Emissionshandel dadurch, dass sie „an konkrete Projekte gebunden“ sind (OTT & BROUNS 2002: 327) – beispielsweise an Modernisierungsmaßnahmen von Industrieanlagen oder Kraftwerken, an den Bau eines Windparks oder einer Solaranlage. Anhand dieser projekt-orientierten Mechanismen können die verpflichteten Länder Unternehmen dazu anhalten, Emissionsreduktionen vorzunehmen. Hinsichtlich der Länder, in denen die Projekte umgesetzt werden sollen unterscheiden sich Joint Implementation und CDM. Joint Implementation110 (Artikel 6 des Kyoto-Protokolls) umfasst Projekte, die die durch das Kyoto-Protokoll verpflichteten Industrieländern in anderen Industrieländern durchführen. Mit dem CDM (Artikel 12 des Kyoto-Protokolls) ist es Industrieländer hingegen möglich, Projekte in Entwicklungsländern umzusetzen. Joint Implementation und CDM zielen auf einen beidseitigen Vorteil der beteiligten Länder: einerseits einen Finanz- und Technologietransfer in die Länder, in denen Projekte durchgeführt werden, andererseits die Möglichkeit für Länder bzw. Unternehmen, die Projekte finanzieren, eigene erforderliche Emissionsreduktionen kosten-effizient vorzunehmen. Die projekt-orientierten Mechanismen – insbesondere CDM – unterliegen jedoch einer fundamentalen Kritik111: Mit dem CDM erfolge lungsländer nicht beteiligt und 4) die Preise der Zertifikate sind bislang volatil und verhindern eine effektive Lenkung. 110 Der Begriff Joint Implementation fällt im Vertragstext des Protokolls selbst nicht. Auch wenn der CDM dem Wortsinn nach ebenso eine „gemeinsame Umsetzung“ verschiedener Länder darstellt, wird der Begriff Joint Implementation für den in Artikel 6 beschriebenen Mechanismus verwendet. (OBERTHÜR & OTT 2000: 205) 111 Für eine ausführliche Kritik des CDM vgl. allgemein Witt und Moritz (2008), Cabello (2009) bzw. anhand detaillierter Fallstudien Gilbertson und Reyes (2009: 53ff.) und Böhm und Dabhi (2009b).

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eine Verschiebung der „Problembearbeitung in die Entwicklungsländer“ (BRUNNENGRÄBER 2009: 131) – es drohe ein „carbon colonialism“, wenn „the North could simply pay the South to act as a sink for its emissions“ (GOODMAN 2009: 501, mit Verweis auf Bond 2007). Formell liegt mit dem CDM ein Mechanismus vor, der den durch Reduktionszielen verpflichteten Industrieländern Reduktionsmaßnahmen in den Entwicklungsländern ermöglicht, denen jedoch selbst keine entsprechenden Ziele gesetzt sind. Vor allem auch deshalb ist die Umsetzung des CDM im Sinne eines effektiven Klimaschutzes eine – für viele Kritiker_innen als unlösbar eingeschätzte – verfahrenstechnische Herausforderung. Es sind von Seiten der UNFCCC für CDM-Projekte formulierte Kriterien wie das der Zusätzlichkeit (‚additionality‘) oder das eines nachweislichen Beitrags zur nachhaltigen Entwicklung, die eine effektive Umsetzung des Mechanismus gewährleisten sollen (BÖHM & DABHI 2009a: 13). Aktuelle CDM-Projekte offenbaren jedoch „manifold human rights violations and negative social, economic, political as well as environmental implications“, weshalb Kritiker_innen zur Einschätzung kommen, es handele sich bei dem Mechanismus um „nothing more than a money making opportunity for polluting industries“ (ebd.: 17, vgl. auch IEN 2009: 5). Nachdem die Struktur der Global Climate Governance in ihren Grundzügen dargestellt wurde, wird im Folgenden ein Überblick über die Vielzahl an Akteuren gegeben, die in diesem Gefüge in Erscheinung treten. Damit erfolgt eine Verortung der in der vorliegenden Studie fokussierten »NGOs« und »sozialen Bewegungen«. IV.1.3 Akteursfeld Die spezifische Materialität der Global Climate Governance – mit Poulatzas – als eine Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse zu begreifen (vgl. Kap. II.1.2), bedeutet, den Blick nicht auf die Ebene der Staaten (im engeren Sinne) zu verengen. Soziale Kräfteverhältnisse und ihre Verdichtung sind Ausdruck eines Konsenses, der sich auf dem Terrain der Zivilgesellschaft herausbildet. Es gilt insofern neben dem ‚Staat im engeren Sinne‘ (den nationalstaatlichen Delegationen und den zwischenstaatlichen Organisationen) das gesamte Gefüge sozialer Kräfte zu berücksichtigen, welches durch spezifisch machtvolle Artikulationen den klimapolitischen Diskurs der Global Climate Governance (re-)produziert bzw. anficht. Neben den an den Verhandlungen teilnehmenden Staaten und internationalen Organisationen handelt es sich um nicht-staatliche Akteure wie umwelt- und entwicklungspolitische »NGOs«, »soziale Bewegungen« oder privatwirtschaftliche Akteure. Im Folgenden soll ein knapper Überblick über diese Akteure gegeben werden. Ermöglicht werden soll so eine Verortung der mit der vorliegenden Studie fokussierten Akteure – den transnationalen »NGOs« und Netzwerken »sozialer Bewegungen«. Eine detailliertere Diskussion der Begriffe der NGO und der sozialen Bewegung erfolgte

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in Kapitel III. Ein historischer Abriss über das Wirken entsprechender Akteure im Umfeld der UN-Klimaverhandlungen wird in Kapitel IV.3.1 vorgenommen. Die an den Verhandlungen teilnehmenden Staaten können anhand ihrer Interessen in verschiedenen Gruppen zusammengefasst werden (vgl. hierzu BRUNNENGRÄBER 2009: 150f. mit Verweis auf Krägenow 1996: 45ff.; OBERTHÜR & OTT 2000: 39f.). Einerseits in die Gruppe der Industrieländer, welche die Staaten der Europäischen Union, die nicht-europäischen OECD-Länder – hervorzuheben ist hier die spezifischen Bedeutung der USA – und die Transformationsstaaten Mittel- und Osteuropas umfasst, andererseits in die Gruppe der Entwicklungsländer. Innerhalb derer kommt Ländern wie China, Indien und Brasilien eine besondere Bedeutung zu. Sie umfasst wiederum spezifische Zusammenschlüsse, wie die Allianz der kleinen Inselstaaten (Alliance of Small Island States – AOSIS) und die der Staaten der Organisation der Erdöl exportierenden Länder (OPEC). Auf die Politik dieser Staatengruppen soll hier nicht detailliert eingegangen werden (vgl. hierzu im Weiteren bspw. BODANSKY 1996: 15ff.; NEWELL 2000: 13ff.; OBERTHÜR & OTT 2000: 40ff., 101ff.; BRUNNENGRÄBER 2009: 151ff.). Internationale Organisationen begleiten in einer Vielzahl den Prozess der UNFCCC seit ihrem Beginn „durch Hintergrundinformationen und fachliche Beratung auf ihren jeweiligen Gebieten“ (OBERTHÜR & OTT 2000: 58). Zu diesen Organisationen zählen erstens Sekretariate und Körperschaften der Vereinten Nationen, wie das Sekretariat der Konvention zur biologischen Vielfalt (CBD), das UNUmweltprogramm (UNEP), das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) oder die UNWelthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD). Zweitens gehören spezialisierte Einrichtungen und Organisationen des Systems der Vereinten Nationen zu diesen Organisationen, wie die Welthandelsorganisation (WTO), die Weltbank (WB), die Welt-Gesundheitsorganisation (WHO) oder der zwischenstaatliche Ausschuss über Klimaveränderungen (IPCC). Schließlich sind es zwischenstaatliche Organisationen, wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) oder die internationale Energieagentur (IEA), die zu den internationalen Organisationen gezählt werden. Die Gruppe der nicht-staatlichen Akteure umfasst umwelt- und entwicklungspolitisch orientierte Organisationen, Forschungseinrichtungen sowie Wirtschafts- und Gewerkschaftsverbände. Einen Überblick über die Entwicklung der Anzahl der entsprechenden an den Vertragsstaatenkonferenzen teilnehmenden Akteure sowie der internationalen Organisationen – die Vereinten Nationen fassen diese unter dem Begriff der Beobachterorganisationen (Observer Organisations) zusammen – gibt Tabelle 3.112 Ergänzt wird die Gruppe der nicht-staatlichen Akteure durch Netzwer112 Die Zahlen beziehen sich auf die an den Konferenzen teilnehmenden Organisationen. Die Zahlen fallen höher aus, werden die von den Vereinten Nationen anerkannten Organisationen in den Blick genommen. So sind entsprechend der UN-Klassifikation von

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ke transnationale »sozialer Bewegungen«, die – da zumeist nicht akkreditiert – mit Protestkampagnen im Umfeld des offiziellen Verhandlungsprozesses versuchen Einfluss zu nehmen. Insbesondere die nicht-staatlichen Organisationen und Verbände tragen zu einer erhöhten Legitimität der UNFCCC als Institution bei. Einerseits betrifft dies die Input-Legitimität zwischenstaatlicher Politik, die sie dadurch stärken, dass sie eine Vielzahl von Interessen in die internationalen Verhandlungen einfließen lassen bzw. dass sie ihre nationalen Mitglieder wie auch die Öffentlichkeit mit Aktivitäten informiert und mobilisiert (BEISHEIM 2005: 251ff.). Andererseits betrifft dies die Output-Legitimität, die entsprechende Akteure insofern erhöhen, als sie ihr Fachwissen in den Verhandlungsprozess einbringen und ihre Mitglieder über dessen Ergebnisse informiert (ebd.: 254f.). Es sind insbesondere auch die side-events während der Vertragsstaatenkonferenzen, welche die Input-Legitimität erhöhen (HJERPE & LINNÉR 2010). Ihr Großteil wird – betrachtet man die einzelnen COPs – von nicht-staatlichen Akteuren durchgeführt, gefolgt von den Delegationen der Staaten bzw. UN-Einrichtungen (ebd.: 169). Die nicht-staatlichen Akteure im Kontext der UN-Klimaverhandlungen sind nicht einheitlich strukturiert. Zunächst unterscheiden sie sich hinsichtlich ihres räumlichen Fokus, d.h. ihrer Ansiedlung auf lokaler oder internationaler Ebene bzw. ihres lokalen oder internationalen Anliegens (SPRINZ & LUTERBACHER 1996: 57). Es sind dabei insbesondere die Akteure, die ein internationales Anliegen verfolgen und auf internationaler Ebene angesiedelt sind, die am einflussreichsten sind (ebd.). Im Weiteren unterscheiden sich die nicht-staatlichen Akteure hinsichtlich der Forderung nach verbindlichen Klimaschutzmaßnahmen – „pro-environment“ bzw. „pro-development“ (ebd.) – bzw. deren Ablehnung. Homogen hinsichtlich dieser Dimension ist – mit ihrer unterstützenden Einstellung – die Gruppe umweltund entwicklungspolitischer Organisationen. Kein solch einheitliches Bild zeigt sich jedoch bei den Wirtschaftsverbänden (vgl. OBERTHÜR & OTT 2000: 60f.; WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 61ff.; BRUNNENGRÄBER 2009: 187ff.) sowie den Gewerkschaften (vgl. WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 68ff.).

NGO und IGO bspw. vor der COP19 1598 NGOs und 99 IGOs als Observer registriert (UNFCCC 2013a). Hinzuweisen ist hier, dass die Vereinten Nationen anhand des Begriffs der Non-Governmental Organisation (NGO – Nicht-Regierungsorganisationen) neben umwelt- und entwicklungspolitisch orientierten Organisationen und Wirtschaftsund Gewerkschaftsverbände ebenso Forschungseinrichtungen klassifizieren. (Zum Begriff der »NGO« und dem der »sozialen Bewegung« vgl. Kapitel III.)

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Tabelle 3 Beobachterorganisationen im UNFCCC-Prozess NGOs

Internationale Organisationen Zwischenstaatliche Organisationen

Sekretariate der Vereinten Nationen und nahestehende Körperschaften

spezialisierte Behörden der Vereinten Nationen und nahestehende Organisationen des Systems der Vereinten Nationen

COP1

170

11

8

9

COP2

106

9

9

11

COP3

236

15

15

12

COP4

196

15

13

12

COP5

212

11

12

13

COP6

275

22

14

12

COP6-bis

219

16

14

5

COP7

194

20

8

12

COP8

168

23

14

8

COP9

267

25

10

10

COP10

226

25

11

10

COP11

362

35

12

11

COP12

246

23

18

11

COP13

335

35

25

18

COP14

384

36

26

18

COP15

794

53

34

19

COP16

594

47

28

18

COP17

665

50

26

20

COP18

536

52

24

19

Lists of participants, COP 1-18 verfügbar unter UNFCCC 2013b

Durch eine Ablehnung verbindlicher Maßnahmen zeichnen sich die Wirtschaftsverbände der Öl- und Gasproduzenten und der energieintensiven Industrien aus, die Klimaschutzmaßnahmen als Bedrohung der Interessen der von ihnen vertretenen Unternehmen verstehen.113 Ihnen gegenüber stehen die Verbände der Versiche113 Brunnengräber weist darauf hin, dass auch bei diesen Verbänden eine Abkehr von der vollständigen Ablehnung von Maßnahmen festzustellen ist, die auf veränderte Rahmen-

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rungswirtschaft sowie ‚grüner‘ Unternehmen, die regulierende Maßnahmen befürworten – sei es wegen andernfalls befürchteten finanziellen Schäden aufgrund des Klimawandels oder aber der Hoffnung, Marktchancen der vertretenen Unternehmen zu stärken. (BRUNNENGRÄBER 2009: 187ff.) Auch das Lager der Gewerkschaftsverbände stellt sich als heterogen dar: Klimaschutzmaßnahmen werden in erster Linie von den Verbänden als ein Widerspruch zum primären gewerkschaftlichen Ziel des Arbeitsplatzerhalts verstanden. Im Gesamtkontext weniger einflussreiche Gewerkschaftsverbände der ‚grünen‘ Sparten unterstützen hingegen Emissionsreduktionen, einige Verbände treten gar für eine just-transition – eine sozial-ökologische Transformation der Industriegesellschaften – ein. Entsprechend ihrer Interessen gehen Gewerkschaftsverbände strategische Bündnisse mit Verbänden der Wirtschaft ein. (WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 68f.) Verglichen mit den umwelt- und entwicklungspolitischen Organisationen und »sozialen Bewegungen« haben die Wirtschaftsverbände in den internationalen Verhandlungen einen deutlich stärkeren Einfluss (BRUNNENGRÄBER 2009: 191). Zentrale Ursache hierfür ist die „exit-Option“ (WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 69, Hvb. im Original) – die potentielle Verlagerung von Standorten – die von den Wirtschaftsverbänden als Drohung im Verhandlungsprozess eingesetzt werden kann. Gegenüber den Wirtschaftsverbänden verfügen die Gewerkschaften wiederum nicht über diese dritte Verhandlungsoption, sondern können sich ausschließlich der „loyality-option“ und der „voice-option“ bedienen (ebd.: 70, Hvb. im Original). Die umwelt- und entwicklungspolitischen »NGOs« und »sozialen Bewegungen« stellen für sich wiederum ein vielfältiges Spektrum dar. Im Kontext der UNKlimaverhandlungen greifen diese Akteure auf ein Repertoire von Handlungsansätzen114 zurück: „Erstens die Öffentlichkeitsarbeit, die direkt mittels eigener Broschüren und zunehmend dem Internet sowie indirekt mittels der Pressearbeit stattfindet. Zweitens die Aktionen im Umfeld der Konferenzbeeinflussung, die sich im engeren Sinne mit den Begriffen lobbying und monitoring umschreiben lassen. Drittens die auf klare Problemdefinitionen zugeschnittenen internationalen Kampagnen und viertens die Intervention mittels Expertisen.“ (Ebd.: 157, Hvb. im Original) bedingungen und eine veränderte Einschätzung sich ergebender Chance zurückzuführen sei. Insbesondere das Kyoto-Protokoll würde zunehmend von vielen Unternehmensnetzwerken anerkannt. Grundsätzlich bleiben es jedoch ausschließlich marktbasierte Mechanismen, die von den Verbänden als Regulationsmaßnahmen akzeptiert werden. (BRUNNENGRÄBER 2009: 188f.) 114 Detailliertere Ausführungen zu den unterschiedlichen Aktionsformen finden sich bei Walk und Brunnengräber (2000: 157ff.).

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Primär sind es die transnationalen Organisationen – wie beispielsweise Greenpeace, WWF oder Friends of the Earth International –, denen es möglich ist, diese Aktionsformen für die Vermittlung eigener politischer Inhalte in den Verhandlungsprozess zu nutzen, denn sie sind es, die über die Ressourcen – d.h. Finanzausstattung und Personal – verfügen, um die Klimakonferenzen kontinuierlich zu begleiten bzw. internationale Kampagnen umzusetzen (ebd.: 107). Grundsätzlich zeigt sich ein Ungleichheitsverhältnis zwischen Organisationen aus dem globalen Norden und denen aus dem globalen Süden bzw. den Transformationsländern – einerseits hinsichtlich der verfügbaren Ressourcen, andererseits hinsichtlich ihres geringen Anteils an der Gesamtheit der an den COPs vertretenen umwelt- und entwicklungspolitischen Organisationen (ebd.: 119f., vgl. auch ebd.: 141ff.; MISSBACH 1999: 274f. und Seite 142ff. in Kap. IV.3.1.3). Zum Ausdruck kommt dieses Ungleichheitsverhältnis insbesondere in den Netzwerken, die die Organisationen im Umfeld der UN-Klimaverhandlungen ausbilden. Zwei Typen von Netzwerken können hier unterschieden werden (vgl. WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 137f., 255f.; zu den Netzwerktypen vgl. RHODES 1996): die single-issue- und die policy-Netze. Bei den ersteren handelt es sich um auf einzelne Ereignisse orientierte, befristete Netzwerke. Sie kennzeichnen sich „durch eine große Anzahl von Mitgliedern, durch Instabilität, geringe Kontinuität und geringe Interdependenz zwischen den Mitgliedern“ (WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 225, mit Verweis auf Heclo 1978). Insbesondere die sich zu den einzelnen Vertragsstaatenkonferenzen ausbildenden Netzwerke (oftmals verbunden mit der Ausrichtung von zivilgesellschaftlichen Foren parallel zu den offiziellen Verhandlungen) können diesem Typus zugeordnet werden. Policy-Netzwerke kennzeichnen sich hingegen „durch Kontinuität, eine höhere Interdependenz und eine größere Übereinstimmung hinsichtlich der Ziele“ (ebd.: 225). Diesem Typus kann das Climate Action Network (CAN) zugerechnet werden, der zentrale, 1989 gegründete, Zusammenschluss von aktuell über 700 Organisationen (CAN 2013a). Zu den treibenden Kräften innerhalb CANs, das sich in verschiedene Regional Netzwerkknoten untergliedert, zählen die Organisationen Greenpeace, der WWF und Germanwatch. In CAN (vgl. hierzu detaillierter LIPSCHUTZ & MCKENDRY 2011: 375ff.) dominieren diese ressourcenstarken Organisationen des globalen Nordens (MISSBACH 1999: 274). Das im Kontext der Vertragsstaatenkonferenz in Bali 2007 (COP13) in Abgrenzung zu CAN formierte Climate Justice Now!-Netzwerk (CJN!) stellt ebenfalls ein policy-Netzwerk dar. Zu den treibenden Kräften innerhalb CJN! gehören die Organisationen Focus on the Global South, Global Justice Ecology Project und La Via Campesina. Im Vergleich zu CAN verfügt CJN! über deutlich geringere finanzielle und personelle Mittel. Im März 2009 wurde CJN! vom Sekretariat der UNFCCC als zentrales und hinsichtlich der formellen Ressourcenzuwei-

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sung (bspw. bzgl. Sprechplätzen) gleichberechtigtes Netzwerk neben CAN115 anerkannt (CJN! 2010a). Im November 2010 umfasst das Netzwerk über 700 Mitgliedsorganisationen (CJN! 2010b). Insbesondere im Kontext der Post-Kyoto-Verhandlungen (vgl. Kap. IV.4) kann die Mobilisierung von Netzwerken »sozialer Bewegungen«, die auf die internationalen Verhandlungen Bezug nehmen, ausgemacht werden – ein Phänomen, das noch im Jahr 2000 nicht wahrnehmbar war.116 Mit „auf Gegenmacht abzielenden Protestaktionen“ denen im Kontext umwelt- und entwicklungspolitischen Organisationen „nur eine marginale Bedeutung“ zukommt (WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 157), bedienen sie sich einer weiteren Aktionsform. Die Ausrichtung der einzelnen umwelt- und entwicklungspolitischen »NGOs« bzw. der Netzwerke transnationaler »sozialen Bewegungen« ist heterogen. Grundsätzlich lassen sich hinsichtlich ihrer strategischen Perspektive vier Ansätze unterscheiden: „Die einen sind der Überzeugung, dass Umweltverbände, Kommunen, Wirtschaftsverbände oder auch Gewerkschaften zusammenarbeiten müssen, um dem Klimawandel zu begegnen (Kooperationsansatz). Andere wollen durch Mobilisierung und Demonstrationen den Druck 115 Auf die beiden Netzwerke wird in Kapitel IV.3.1 näher eingegangen. 116 Walk und Brunnengräber kommen in ihrer Arbeit aus dem Jahr 2000 noch zu dem Schluss, dass „[d]as Fehlen klarer Konfliktlinien […] langfristige Mobilisierungsprozesse [globaler Bewegungen verhindert], weshalb in der internationalen Politik nicht von globalen Bewegungen gesprochen werden kann. Stattdessen treten Organisationen und Netzwerke in den Vordergrund“ (ebd.: 212). Dass in der internationalen Politik globale Bewegungen grundsätzlich möglich sind, haben die Proteste im Zusammenhang mit der WTO-Ministerkonferenz in Seattle 1999, dem Treffen des IWF und der Weltbank in Prag 2000 oder den G8-Gipfeln – erstmals 2001 in Genua – deutlich gemacht (vgl. NOTES FROM NOWHERE 2007). Die zu diesen Mobilisierungsereignissen in Erscheinung tretende globalisierungskritische / altermondialistische Bewegung konstituiert sich eher als ein globales Netzwerk von Netzwerken bzw. des globalen Protests (vgl. für einen Überblick bspw. BRUNNENGRÄBER 2005; zur Entwicklung und Struktur dieser Bewegungen bspw. CHESTERS & WELSH 2006; JURIS 2008). Insbesondere im Zusammenhang mit den Post-Kyoto-Verhandlungen ist auch hinsichtlich der internationalen Klimapolitik eine Mobilisierung »sozialer Bewegungen« von bis dato unbekannter Qualität auszumachen (siehe auch Seite 172 in Kapitel IV.3.3.1). Ob diesbezüglich von einer globalen, sich durch Kontinuität auszeichnenden, Bewegung gesprochen werden kann, die bislang nicht auszumachen war (WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 272) oder es sich bei beobachtbaren Phänomenen eher um Einzel-Aktivitäten handelt, ist umstritten (vgl. AGYEMAN ET AL. 2007; NULLMEIER & DIETZ 2010: 42ff.; BEDALL ET AL. 2011;

BRICKE & MÜLLER 2011; DIETZ 2011).

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auf die Regierungen erhöhen, endlich Klimaschutz ernst zu nehmen und zu handeln (appellativer Ansatz). Und wiederum andere Initiativen sehen keinen Sinn darin, mit denjenigen staatlichen Akteuren zu kooperieren oder an die Regierungen ihre Forderungen zu adressieren, die für das klimapolitische Desaster letztendlich die Verantwortung tragen. Sie setzen auf eigenständige Lebensentwürfe (Selbsthilfe-Ansatz). In einem vierten Ansatz finden politische Kämpfe um die Deutungsmacht statt, mit dem Ziel, alternative Denkansätze in die Gesellschaft zu tragen (Diskurs-Ansatz).“ (BRUNNENGRÄBER 2011a: 28, Hvb. im Original)

Die hier umrissenen Akteure – Staaten, internationale Organisationen und nichtstaatliche Akteure – sind Teil der Auseinandersetzungen um Hegemonie. Diese Auseinandersetzungen manifestieren sich in einer spezifischen Materialität der Global Climate Governance. Auf diese soll im Folgenden näher eingegangen werden.

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IV.2 H EGEMONIE

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Das vorliegende Kapitel widmet sich dem hegemonialen Charakter der Global Climate Governance. Als konstitutiv für die hier materiell verdichteten Kräfteverhältnisse wird hier die Hegemonie des Neoliberalismus rekonstruiert. Das Kapitel gliedert sich in zwei Abschnitte: Zunächst wird die Genese der spezifischen Materialität der Global Climate Governance zum Zeitpunkt der Klimaverhandlungen in Kopenhagen nachgezeichnet117 (Kap. IV.2.1). Eingegangen wird dabei auf wesentliche Veränderungen der globalen Ökonomie, wie sie seit den 1970er Jahren zu beobachten sind und mit denen die Herausbildung des Dogmas des Neoliberalismus einhergeht. Dargestellt wird, wie dieses Dogma die politische Bearbeitung des Klimawandels prägt – die »Neoliberalisierung des Klimas« – und sich in der internationalen Klimapolitik ein neues globales Regulierungssystem zur Reproduktion der Ökonomie formiert. In diesem Zusammenhang werden die Selektivitäten der politischen Bearbeitung des Klimawandels herausgearbeitet, die dieses Regulierungssystem stützen. Vor dem Hintergrund dieser Darstellungen und anknüpfend an die diskurstheoretischen Vorüberlegungen kann von der Artikulation des hegemonialen Projekts (vgl. zum Begriff Kap. II.2.4) der »Neoliberalisierung des Klimas« gesprochen werden: Beständig re-artikuliert wird in der Global Climate Governance ein spezifisches Set von Forderungen, das in einem Narrativ repräsentiert werden kann. Im zweiten Abschnitt des Kapitels (Kap. IV.2.2) wird die Fantasie dieses Narrativs konzentriert dargestellt. IV.2.1 Die Neoliberalisierung des Klimas Die politische Bearbeitung des Klimawandels kennzeichnet sich durch einen zentralen Stellenwert von Wettbewerb und wirtschaftlichem Wachstum, der sich in der Marktorientierung des Kyoto-Protokolls – seinen flexiblen Mechanismen – manifestiert. Diese Ausrichtung kommt nicht von ungefähr: „Part of its success is owed to the fact that it is part of a larger, more longstanding historical wave of neoliberalism“ (LOHMANN 2006: 54) – eine Welle, die ab den 1970er Jahren wesentliche Veränderungen der globalen Ökonomie hervorrief (vgl. ausführlicher HARVEY 2005; SAAD-FILHO & JOHNSTON 2005; KLEIN 2007). Zentrales Ereignis im Kontext dieser Veränderungen ist der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems im Jahr 1971 (dem auf festen Wechselkursen und dem Dollar als Leitwährung basierenden globalen Währungssystem), mit dem die Ära der – bis dahin vorherrschendenen –

117 Teile dieses Kapitel-Abschnitts wurden bereits von mir veröffentlicht in BEDALL 2011 (Seite 68ff.) und BEDALL 2013 (Seite 203ff.).

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keynesianischen Wirtschaftspolitik erschüttert wurde (vgl. bspw. NEWELL & PATERSON 2010: 18). Kennzeichnend für diese wirtschaftspolitische Krise wurde der Zustand der ‚stagflation‘, d.h. das Zusammengehen von volkswirtschaftlicher Stagnation und Inflation, verbunden mit einem gebremsten Wachstum. Im Kontext der Krise entfaltete sich eine Kritik, die sich gegen jede staatliche Intervention in den Markt richtete. Derartige Interventionen würden unweigerlich – wie es Friedrich von Hayek bereits 1944 im Zusammenhang mit seiner ökonomischen Theorie formulierte – auf den Weg in die Knechtschaft (‚The road to serfdom‘ – so auch der Titel seiner Arbeit aus diesem Jahr) führen. Der Wettbewerb des Marktes hingegen, so das Versprechen des aufkommenden Neoliberalismus, stellt „the means of transforming the self-interest of individuals into a social welfare optimum for the collective good“ dar (ALTVATER 2007: 348). Dem neoliberalen Denken folgend müssen Märkte, so sie nicht vorhanden sind, geschaffen werden118 – dies ggf. auch durch staatliches Handeln (HARVEY 2005: 2). Über diese Forderung hinaus lassen sich grundsätzliche Charakteristika des Neoliberalismus aufführen. „What seems like a tightly defined proposal to expand the frontiers of ‘the market’ actually amounts to a set of paradigmatic changes in the relations between economy, state bodies, society and […] the non-human world.“ (CASTREE 2010: 1728)

Entsprechende grundsätzliche Merkmale119 des Neoliberalismus werden – im Sinne einer ‚ideal-typischen Charakterisierung‘ – in Box 1 dargestellt (entnommen aus ebd.). Auch wenn eine derartige ideal-typische Charakterisierung analytisch hilfreich ist, so muss hervorgehoben werden, dass sich der Neoliberalismus im Empirischen nicht als ein „homogenous and universal thing“ darstellt, sondern vielmehr als „a spatiotemporally differentiated process“ (CASTREE 2008a: 155) – ein „perplexingly amorphous political economic phenomena“ (Peck 2004: 394, zitiert nach

118 Die ideologische Öffnung hin zum Markt stellt für Newell und Paterson (2010: 19ff.) eine von vier Entwicklungen dar, die sich in Folge der Krise der 1970er Jahre herausarbeiten lassen. Daneben zeige sich eine Machtverschiebung vom Produktions- zum Finanzkapital – von der Öl- und Automobilindustrie hin zu Finanz- und Informationstechnologie. Eine sich verschärfende globale ökonomische Ungleichheit („making the economic crisis a social one“, ebd.: 21), die in einer sozialen Krise resultiert, zählt ebenso zu diesen Entwicklungen wie die sich wandelnde Organisationsform von Unternehmen, »NGOs« oder Regierungen hin zu Netzwerken bzw. Governance (insbesondere sogenannten public-private partnerships). 119 Noel Castree zeigt diese Charakteristika des Neoliberalismus anhand einer Reihe von empirischen Studien aus dem Feld der Critical Geography, welche sich mit der Neoliberalisierung von Natur auseinandersetzen, auf (vgl. CASTREE 2011).

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ebd.: 156). Als Idealtypen werden hier, den Max-Weberschen Begriff modifizierend, theoretische Konstrukte begriffen, „formed by the one-sided accentuation of empirically observable features of […] reality to construct objectively feasible configurations […]. These configurations are never found in pure form, but their conceptual construction may still be useful for heuristic, descriptive or explanatory purposes.“ (Jessop 2002: 460, zitiert in CASTREE 2008b: 142)

Die Idealtypen beruhen auf Gemeinsamkeiten, die sich hinsichtlich Prozessen der Neoliberalisierung ausmachen lassen.120 Einerseits sind diese Gemeinsamkeiten Ergebnis eines „‘fast policy transfer’ between national and international policy elites“, andererseits schlagen sich die gleichen translokalen bzw. transnationalen

120 Anhand eines systematischen Reviews von Forschungsliteratur der Critical Geography stellt Noel Castree dar, dass einzelne Fallstudien zur Neoliberalisierung von Natur für mehr als sich selbst sprechen (vgl. CASTREE 2008a; 2008b). Es verbleibe zunächst unklar, wo die Gemeinsamkeiten liegen, d.h. auf welchen „geographical scales and levels of theoretical abstraction we can identify neoliberalism substantively“ (CASTREE 2008a: 156). Hinsichtlich der Frage nach den Ursachen der Neoliberalisierung von Natur könnten noch allgemeine Rationalitäten abstrahiert werden die Kapitalfraktionen bzw. den Staat dazu bewegen eine Neoliberalisierung von Natur voranzutreiben (Castree führt diesbzgl. vier „environmental fixes“ auf: „free market environmentalism“, „extending capital’s subsumption of nature“, „degrading nature for profit“, „adressing or avoiding contradictions internal to the state“, CASTREE 2008b: 146ff.). Bei der Beantwortung der Fragen nach Prozess, Folgen und Evaluation der Neoliberalisierung von Natur würden sich hinsichtlich einer solchen Abstraktion Schwierigkeiten zeigen (vgl. CASTREE 2008a: 171f.), denn: In diversen Studien ist erstens die Definition des Prozess der Neoliberalisierung von Natur nicht geklärt bzw. Definitionen sind schwer miteinander vergleichbar. Zweitens erfolgt die Messung der Folgen der Neoliberalisierung von Natur bei verschiedenen Autor_innen auf sehr unterschiedliche Weise. Drittens wird die Bewertung der Neoliberalisierung von Natur nicht in ausreichendem Maße artikuliert bzw. ist kaum vergleichbar. Grundsätzlich ließen sich jedoch hinsichtlich der Prozesse der Neoliberalisierung Gemeinsamkeiten über verschiedener Fallstudien ausmachen. Die Herausforderung, die sich der Forschende stellen muss, so Castree, ist es, ein Verständnis der gemeinsamen „neoliberalen“ Elemente der verschiedenen Fallstudien zu entwickeln und zu klären, wie diese jeweils im konkreten spezifschen raum-zeitlichen Setting mit anderen Phänomenen in Wechselwirkung stehen (ebd.: 156f.). Einzelne Fallstudien seien als qualitativ eigenständige Phänomene zu begreifen, d.h. als „an articulation between certain neoliberal policies organised at certain scales and a raft of other social and natural phenomena“ (ebd.: 157).

IV.2 H EGEMONIE

Box 1

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Grundsätzliche Charakteristika des Neoliberalismus

• Privatisation (i.e. assigning clear, legally enforceable, private property rights to hitherto unowned, government owned or communally owned aspects of the social and natural worlds). • Marketisation (i.e. rendering alienable and exchangeable things that might not previously have been subject to a market calculus lubricated by monetary transactions within and between nation states). • State roll back or deregulation (i.e. the withdrawal or diminution of government intervention in certain areas of social and environmental life in order to enable firms and consumers to exercise ‘freedom of choice’; and the creation of new quasi-state or state-sanctioned actors to take on functions that states themselves could otherwise perform in theory or practice). • Market-friendly reregulation (i.e. a reconfiguration of state ⁄ governmental policies so as to extend the frontiers of privatisation and marketisation. Here, then, the state in its various forms becomes ‘market manager’ or ‘night watchman’, and less of a ‘provider’ to the citizenry or special interests therein: it intervenes for the economy not, as it were, in it. This entails fiscal discipline, a focus on supply side investments, entrepreneur- and consumer-friendly tax policies, firm-friendly labour market policies, and measures to enable ‘free’ movements of money capital and also other less ‘fluid’ commodities). • Use of market proxies in the residual governmental sector (i.e. making remaining state services more market-like in their operation through the use of measures like internal markets, cost-recovery and budget-capping). • The strong encouragement of ‘flanking mechanisms’ in civil society (i.e. stateled measures to promote the growth of voluntary, charitable, ‘third sector’ and community groups who are seen as being able to fill the vacuum created by the absence ⁄ diminution of direct state-support in the social and environmental domains. This is linked to formal state encouragement, where appropriate, of the so-called ‘informal’ and ‘social’ economies whose functioning relies only partly, or not at all, on monetary transactions). • The creation of ‘self-sufficient’ individuals and communities (i.e. the cultivation of an ethic among persons and communities that emphasises less, and ultimately limited, reliance on state-provided services for life’s necessities. For neoliberals this ethic is almost a ‘natural’ good. It encapsulates the individual’s right to maximum freedom and their responsibility for their own affairs). CASTREE 2010, Seite 1728, vgl. auch CASTREE 2008b, Seite 142f.

Prozesse, Mechanismen und Regeln an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten nieder (CASTREE 2008a: 156). Oder, um es in Stuart Halls Worten auszudrücken:

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„Der Neoliberalismus ist also nicht aus einem Guss. […] Und doch gewinnen neoliberale Ideen, Politiken und Strategien geopolitisch und im globalen Maßstab an Boden.“ (HALL 2011: 653)

Das neoliberale Dogma durchdrang bis in die 1990er Jahre zunehmend alle Bereiche des Sozialen: „[I]t became a far broader project of regulating social life through market imperatives […]. Neoliberalism had become the political form in which political and social relations are reproduced at the local as well as the national level of the state, and across the international state system.“ (ALBO 2007: 356)

Der Neoliberalismus prägte entsprechend ebenso die Ausgestaltung der Umweltpolitik (vgl. NEWELL 2008b) und so die politische Bearbeitung des Klimawandels (vgl. ausführlich NEWELL & PATERSON 2010: 23ff., s.a. NEWELL 1998; NEWELL & PATERSON 2009). Zum Ausdruck kommt dies in der Popularität der marktbasierten Mechanismen, insbesondere des Emissionshandel in der internationalen Klimapolitik. Die neoliberale Lösung aller Probleme und somit auch des Klimaproblems liegt in Märkten, „because markets are […] held to be the best available method of making discoveries and thus of making technical and organizational innovations“ (ALTVATER 2007: 351). In den UN-Klimaverhandlungen werden erste Ansätze von Handelsmechanismen Mitte der 1990er Jahre wesentlich von free market environmentalists der US-Administration unter Bill Clinton durchgesetzt (LOHMANN 2006: 49). Die anfängliche Opposition von Europäern und Südländern weicht der sich zunehmend herausbildenden Auffassung der Alternativlosigkeit von Marktmechanismen:121 Ein „global consensus“, der Marktmechanismen als „the ‘only show in town’“ begreift – gerade auch ab dem Zeitpunkt, an dem die USA unter Georg W. Bush 2001 das Kyoto-Protokoll aufkündigt (ebd.: 50). In der internationalen Klimapolitik bildet sich so ein „neues globales Regulierungssystem“ heraus (BRUNNENGRÄBER ET AL. 2008b: 191), dass die Reproduktion der Ökonomie garantiert und dabei – entsprechend des neoliberalen Dogmas – wirtschaftliches Wachstum bzw. den Wettbewerb auf freien Märkten in keiner

121 Ein entsprechender Wandel hinsichtlich der Positionierung gegenüber markt-basierten Mechanismen kann ebenso im Feld der umwelt- und entwicklungspolitischen »NGOs« ausgemacht werden (vgl. bspw. BRUNNENGRÄBER 2009: 183ff.). Die Etablierung von Kohlenstoff-Märkten sowie die aktuelle Ausgestaltung der Mechanismen ist durch die Forderungen dieser Gruppen geprägt (LOHMANN 2006: 58; PATERSON 2009; siehe auch Seite 138f. in Kapitel IV.3.1.1).

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Weise in Frage stellt.122 „Regulation“ bezeichnet hier die Stabilisierung von grundsätzlich widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnissen, ohne dass die Widersprüche selbst gelöst werden (LIPIETZ 1985 vgl. zur Regulationstheorie im Weiteren AGLIETTA 1979; ESSER ET AL. 1994): Einerseits gewährleistet die gegenwärtige politische Bearbeitung anhand von Marktmechanismen des Klimawandels den Zugang zu und den Verbrauch von fossilen Rohstoffen, andererseits dient sie dazu, die Externalitäten – die Treibhausgasemissionen – politisch im Sinne der Konfliktreduktion zu bearbeiten, wenn auch im Wesentlichen symbolisch (BRUNNEN123 GRÄBER 2008: 32). Ermöglicht wird dies durch die „strategische Selektivität“124 der politischen Bearbeitung des Klimawandels (BRUNNENGRÄBER 2007; BRUNNENGRÄBER ET AL. 2008b: 188). Diese strategische Selektivität ist es, die die Regulation der sozial-ökologischen Krise mit der Regulation des fossilistisch ausgerichteten 122 Vgl. diesbzgl. die Ausführungen zur Zielsetzung der UN-Klimarahmenkonvention und der dort festgeschriebenen Förderung nach wirtschaftlichem Wachstum bzw. der Priorität des freien Marktes auf Seite 103 (Kap. IV.1.2). 123 In Bezug auf die Bearbeitung der externen Effekte hat die hegemoniale Klimapolitik einen im Wesentlichen symbolischen Charakter. Der emissionsmindernde Effekt bspw. des Kyoto-Protokoll selbst ist höchst zweifelhaft: “It has produced no demonstrable reductions in emissions or even in anticipated emissions growth“ (PRINS & RAYNER 2007: 973). Ein wesentlicher Anteil der Emissions-Reduktion im Zeitraum von 1990 bis 2005 in den Vertragsstaaten ist auf externe Effekte, vor allem den Zusammenbruch von Industrien in den Transformationsstaaten, zurückzuführen. Im Zeitraum von 1998 bis 2005 sind Emissionen in den entsprechenden Ländern um 10 % gestiegen (ZIESING 2006: 486). Die symbolische Bearbeitung erfolgt gegenwärtig jedoch ausreichend konfliktreduzierend. Auch wenn soziales, ökologisches und ökonomisches Konfliktpotential in den Zentren der Ökonomie zunimmt und damit Bruchstellen durchscheinen – bspw. wenn sich die Bedingungen des europäischen Wintersports drastisch verändern –, so ist die Reproduktion der Ökonomie derzeit nicht gefährdet. Mittel- bis langfristig ist von einer Zunahme der durch externe Effekte bewirkten Krisenhaftigkeit gesellschaftlicher (Natur-)Verhältnisse auszugehen, die zu einer Instabilisierung des Regulationssystems – einer Dislokation der Hegemonie – beitragen kann. Unter solchen entsprechend veränderten Bedingungen bleibt fraglich, ob die Reproduktion der Ökonomie ausschließlich mit Symbolik gewährleistet werden kann oder ob sie mit Mitteln des Zwangs zu untermauern sein wird. Bereits heute kann eine Zuwendung der Sicherheitspolitik zum Klimawandel ausgemacht werden (CENTER FOR NAVAL ANALYSES 2007; SCHWARTZ & RANDALL 2003). 124 Mit dem Begriff der ‚strategischen Selektivität‘ beziehen sich Brunnengräber et al. auf Bob Jessop (2004: 70; vgl. auch 1990b). Dieser schließt damit an Nicos Poulantzas’ Ausführungen zu strukturellen Selektivitäten staatlicher Apparate an (vgl. POULANTZAS 1978: 124f.).

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Wettbewerbs in Kohärenz bringt (BRUNNENGRÄBER ET AL. 2008b: 188, vgl. auch PATERSON 2007). Sie betrifft im wesentlichen zwei Aspekte: die vorherrschende Problemwahrnehmung sowie die bevorzugten Lösungsansätzen in der internationalen Klimapolitik (vgl. hierzu im Folgenden BRUNNENGRÄBER ET AL. 2008b: 188ff.). Darüber hinaus zeigt sich die strategisch selektive Bearbeitung des Klimawandels jedoch ebenso im Verhältnis der internationalen Klimapolitik zur internationalen Handelspolitik: Hinsichtlich der Problemwahrnehmung erfolgt eine Reduktion der Komplexität des anthropogenen Klimawandels: Der Klimawandel wird nicht als Ausdruck einer Krise der herrschenden gesellschaftlich vermittelten Naturverhältnisse begriffen, sondern als eine Krise der Ökologie, die der Gesellschaft äußerlich ist, als ein „globales Umweltproblem“ (ebd.: 188; siehe auch LUTES 1998: 160, 165ff.). Tatsächlich ist unabhängig davon, wo Treibhausgas-Emissionen stattfinden, deren Anstieg in der Atmosphäre ein globales Phänomen, insofern, als er dort „keiner räumlichen oder sozialen Bindung unterliegt“ (DIETZ & ENGELS 2011: 15). Mit dem dominierenden Verständnis des Kimawandels als eines globalen Umweltproblems wird jedoch außer Acht gelassen, dass die Krise eine soziale, politische und ökonomische Dimension hat, d.h., dass sie sich lokal, regional bzw. national, aber auch zeitlich-historisch konkretisieren lässt (BUKO 2008: 152f.; AGRAWAL & NARAIN 1991). „At the symbolic level, apocalyptic imaginaries are extraordinarily powerful in disavowing or displacing social conflict and antagonisms. […] [T]he presentation of climate change as a global humanitarian cause produces a thoroughly depoliticized imaginary, one that does not revolve around choosing one trajectory rather than another, one that is not articulated with specific political programs or socio-ecological project or revolutions.“ (SWYNGEDOUW 2010: 219)

Die Krise wird verengt auf die Überbeanspruchung des globalen Kohlenstoffhaushalts. Es ist dieses Ungleichgewicht des globalen Kohlenstoffhaushalts, was als Bedrohung zukünftigen wirtschaftlichen Wachstums und damit der Harmonie von Gesellschaften verstanden wird. Wesentliche Bedeutung für die diskursive Verbreitung dieser These vom Klimawandel als einer Bedrohung des neoliberalen Dogmas wirtschaftlichen Wachstums hat im Jahr 2006 der Report des britischen Ökonomen Sir Nicholas Stern (vgl. STERN 2006). Der Fokus auf den Kohlenstoffhaushalt bedingt, dass die (globalen) Emissionen und nicht spezifische gesellschaftliche Verhältnisse als primäre Ursache der Krise verstanden werden (SWYNGEDOUW 2010: 216ff.). Gefragt wird nicht danach, von wem, an welchem Ort und zu welcher Zeit bzw. unter welchen Bedingungen Emissionen verantwortet werden bzw. wo und wer unter welchen Bedingungen von Klimaveränderungen betroffen ist.

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Bestimmte Strategien zur Lösung des Klimawandels werden ausgehend von dieser Problemwahrnehmung bevorzugt (vgl. hierzu auch DEMERITT 2001). So wird einseitig auf die Verregelung der Emission von Treibhausgasen gesetzt. Ausgeklammert wird damit die Frage der Energieproduktion. Diese „institutionelle Trennung zwischen input- und output-Seite“ des fossilistischen Energieregimes (BRUNNENGRÄBER ET AL. 2008b: 188) wird insbesondere in den Strategien der Inwertsetzung von Treibhausgasemissionen anhand der sogenannten flexiblen Mechanismen des Kyoto-Protokolls (Emissionshandel, Clean Development Mechanism und Joint Implementation) und der technologischen Lösungsansätze wie Effizienzstrategien oder Sequestrierung deutlich, die allesamt ausschließlich auf die Reduktion von CO2-Emissionen zielen und nicht auf eine Transformation des Energieregimes an sich.125 Mit dem Fokus auf die atmosphärische THG-Emissionen steht die internationale Klimapolitik beispielhaft für die Durchsetzung eines Ansatzes „globalen Umweltmanagements“ (GÖRG & BRAND 2002, s.a. GÖRG 2003b: 200) wie er sich in der internationalen Umweltpolitik seit der Jahrtausendwende ausmachen lässt. Grundlegend für diesen Ansatz ist das Vorherrschen einer Perspektive globaler Allgemeingüter (global commons) und deren Management anhand der Logik des Marktes. In der internationalen Klimapolitik ist es die Atmosphäre, die als EmissionsSenke zu einem solchen globalen Allgemeingut wird: „On the threshold of the twenty-first century, as the globe and its resources seem to be shrinking, local environmental problems are now presented as fundamentally global problems. According to the prevailing global commons perspective, the world is becoming small and interconnected very fast, and we need to develop a global science to match these changes“ (GOLDMAN 1998: 3).

Entsprechend dem neoliberalen Dogma der Schaffung von Märkten verbergen sich hinter der Forderung nach einem Management der global commons vielfach Interessen an deren Inwertsetzung (ebd.). Die strategisch selektive Bearbeitung des Klimawandels offenbart sich im Weiteren, wenn ein Blick auf das Verhältnis der internationalen Klimapolitik zur internationalen Handelspolitik geworfen wird. Konflikte mit der in der internationalen Politik dominierenden Handelspolitik werden in der Klimapolitik vermieden. Einer125 Es kann als ein Merkmal der Geschichte der Umweltpolitik bezeichnet werden, dass diese in Problemlösungsstrategien die input- von der output-Seite trennt und auf letztere fokussiert: „Historically, environmental policy has been rather output-orientated, thus focusing on those parts of the socioeconomic system where materials were returned to the environment in the form of waste, emissions, wastewater and so on.“ (BRINGEZU ET AL. 2009:

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seits ist es die „spezifische Ausgestaltung der Vertragswerke der Klimapolitik“, d.h. das Setzen auf flexible – markt-basierte – Mechanismen anstatt auf ordnungsrechtliche Maßnahmen, andererseits die „strategische Trennung von Freihandels- und Klimapolitik“, die diese Konfliktreduktion bedingt (BRUNNENGRÄBER 2009: 175f.). Formell haben die Bereiche Handel und Klimawandel126 im Völkerrecht einen äquivalenten Status. Die politische Bearbeitung der Themenfelder erfolgt jedoch separiert voneinander. Ihren Grund hat dies Brunnengräber zufolge in „widerstreitenden ideologischen Grundannahmen“ beider Politikbereiche, aus denen ein „grundsätzlicher inhaltlicher Zielkonflikt“ resultiere (ebd.: 175): Entsprechend dem neoliberalen Dogma richte sich die vorherrschende Kritik in der (Frei-)Handelspolitik gegen jede Art des staatlichen Eingriffes in den freien Markt.127 Ziel der internationalen Klimapolitik sei es hingegen, den Markt so zu gestalten, dass dieser dem Schutz des Klimas gerecht wird. Die Grundidee des Emissionshandels, eine Obergrenze der in den Handel gegebenen Zertifikate festzulegen, stellt ein Beispiel für den klimapolitischen Vorsatz dar, den Markt zu gestalten. Der Forderung in der Handelspolitik nach der Entschränkung des Marktes steht insofern in der Klimapolitik der Anspruch nach einer Intervention in den Markt gegenüber. Auch wenn dies eine Erklärung für die Separierung beider Politikbereiche liefert, so unterscheidet sich die Praxis der Marktmechanismen in der internationalen Klimapolitik deutlich von deren Anspruch (bspw. bei der Festlegung von wirkungsvollen Emissions-Obergrenzen; vgl. hierzu auch die Darstellungen zur Bewertung der Marktmechanismen der internationalen Klimapolitik auf Seite 107ff. in Kap. IV.1.2) und kommt der Ideologie der (Frei-)Handelspolitik sehr nahe. Trotz des formell gleichberechtigten Status von internationaler Handels- und Klimapolitik offenbart sich eine Dominanz der Handelspolitik im Feld internationaler Politik. Diese zeigt sich einerseits, wenn die Welthandelsorganisation (WTO) souverän ihre Rolle gegenüber umweltpolitischen Abkommen definiert (ebd.: 177, mit Verweis auf Santarius 2003: 30). Andererseits zeigt sie sich dann, wenn handelspolitische Entscheidungen wesentlichen Einfluss auf die internationale Umweltpolitik erlangen (NEWELL 2008a: 129), Entscheidungen, bei denen „ökologische Kriterien […] keine Rolle“ spielen (LOSKE 1996: 296) und die – gegenüber der ‚inklusiven‘ internationalen Umweltpolitik – eine Beteiligung zivilgesellschaftliche Akteure stark beschränken bzw. diese ausschließen (NEWELL 2008a: 128f.). 126 Zum Verhältnis der internationalen Klimapolitik zur Handelspolitik vgl. Oberthür und Ott (2000: 359ff.). 127 Als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf auch der freie Markt Regelungen, ohne die er nicht gewährleistet wäre. Darauf weist bereits Karl Polanyi hin: „The road to the free market [had to be] opened and kept open by an enormous increase in continuous, centrally-organised and controlled interventionism... laissez-faire economy was the product of deliberate state action“ (Polanyi zitiert nach LOHMANN 2006: 74).

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Eine „integrierte Problemlösung“ (BRUNNENGRÄBER 2009: 177), welche die Verwobenheit von Welthandel und Klimawandel durch das – für das eine grundsätzliche, für das andere ursächliche – fossilistische Energieregime anerkennt und daraus (an sozial-ökologischer Gerechtigkeit orientierte) Politiken ableitet, die in beiden Politikfelder Wirkmächtigkeit erlangen, wird mit der strategisch selektiven internationalen Klimapolitik bislang nicht erzielt. Auch wenn sich die politische Bearbeitung des Klimawandels durch eine Zentralität von Handelsmechanismen (ET, CDM, JI) auszeichnet, so sind diese nicht in der Lage, merklichen Einfluss auf die Freihandelspolitik als Ganzes zu nehmen. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Die – strategisch selektive – politische Bearbeitung der sozial-ökologischen Problemlage des Klimawandels trägt zu einer Sicherung von wirtschaftlichem Wachstum und des Wettbewerbs des freien Marktes bei. Es sind die internationalen klimapolitischen Institutionen, die die gesellschaftlichen Bedingungen schaffen, die eine beständige Kapitalakkumulation weiterhin zulassen bzw. diese noch verbessern (BRUNNENGRÄBER 2008: 32).128 Die Institutionen der internationalen Klimapolitik sichern in diesem Sinne die neoliberale Hegemonie „nun auch im ökologischen Bereich“ ab (BRUNNENGRÄBER ET AL. 2008b: 198, vgl. auch BRUNNENGRÄBER 2006: 219f.).129 Sie bilden ein neues globales Regulierungssystem, das die kontinuierliche Verwertung fossiler Ressourcen gewährleistet und so den fossilistischen Kapitalismus und damit bestehende Machtund Herrschaftsverhältnisse absichert. Die Institutionen der internationalen Klimapolitik wirken so stabilisierend auf die Reproduktion der Ökonomie. IV.2.2

Das hegemoniale Projekt

Die Ausführungen zur politischen Bearbeitung des Klimawandels im vorherigen Kapitelabschnitt (IV.2.1) machen deutlich, dass die Global Climate Governance im Vorfeld der Kopenhagener Klimaverhandlungen durch die beständige Reproduktion spezifischer Deutung und Handlung gekennzeichnet ist. Diese Artikulationen wer-

128 Dieser Umstand ist es, der kritische Stimmen dazu verleitet, die These aufzustellen, dass „the Kyoto Protocol and the UN Framework Convention on Climate Change (FCCC) may be the most important economic agreement penned in the 20th century“ (Cosbey zitiert in CARBON TRADE WATCH 2005: 37). 129 Brand spricht sich demgegenüber dagegen aus, die gegenwärtige Konstellation als eine hegemoniale zu betrachten. Statt von Hegemonie könne eher von Vorherrschaft gesprochen werden (BRAND 2007: 175f. mit Verweis auf Gill). Dennoch lässt sich auf der internationalen Ebene im Kontext einer „Ausdifferenzierung“ staatlicher Apparate und der „Fragmentierung der Gesellschaft“ eine „Form fragmentierter Hegemonie“ ausmachen: Herrschaft durch einen „zumindest passiven Konsens“ (ebd.: 176).

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den seit Mitte der 1990er Jahre wiederholt von einer Vielzahl von Akteuren aus unterschiedlichen Positionen vorgebracht. Anschließend an die diskurstheoretischen Vorüberlegungen kann insofern von der Artikulation eines hegemonialen Projekts (vgl. hierzu insb. Kap. II.2.4) gesprochen werden: des hegemonialen Projekts der »Neoliberalisierung des Klimas«. Scheinbar universalisiert wird mit dem hegemonialen Projekt ein spezifischer Antagonismus: der Antagonismus einer spezifischen gesellschaftlichen Harmonie und Vollkommenheit und eines ihr entgegenstehenden Hemmnisses (eines spezifischen ‚Grauens‘). Die Artikulation des hegemonialen Projekts ist insofern die Artikulation einer spezifischen Fantasie. Das Projekt konstituiert sich durch die spezifische Artikulation eines Hemmnisses (und seiner Ursachen) bzw. einer gesellschaftlichen Harmonie und Vollkommenheit (und der sie aufrechterhaltenden und bekräftigenden Faktoren). Abbildung 6 gibt einen Überblick über die Fantasie des hegemonialen Projekts der »Neoliberalisierung des Klimas«. Anhand der beiden Dimensionen der Fantasie – der Dimension des ‚Glückseligmachenden‘ und der Dimension des ‚Grauens‘ – werden die das hegemoniale Projekt konstituierenden beständig vorgebrachte Artikulationen zusammengestellt. Die identifizierten Artikulationen sind auch hier im Sinne von Idealtypen zu begreifen (vgl. hierzu die Ausführungen auf Seite 119). Die Artikulation von (Wirtschafts-)Wachstum kommt im hegemonialen Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas« die Funktion des symbolischen Repräsentanten des ‚Glückseligmachenden‘ zu (der ‚gesellschaftlichen Harmonie und Vollkommenheit‘, vgl. hierzu die diskurstheoretischen Grundlagen in Kap. II.2.2). Wachstum bedeutet Prosperität der Marktwirtschaft, ein individuelles Glücksversprechen und ebenso die Lösung des Problems des Klimawandels, das als Krise des globalen Kohlenstoffhaushalts naturalisiert wird.

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Abbildung 6

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Idealtypische Charakteristika des hegemonialen Projekts



         



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Eigene Darstellung

Eine Vielzahl partikularer Forderungen wird darüber hinaus zusammen mit der Forderung nach Wachstum artikuliert und so mit ihr äquivalent gesetzt. D.h. die Forderung nach Wachstum wird durch hegemoniale Artikulation aufgefüllt. Äquivalent gesetzt wird die Forderung nach Wachstum zu der nach einer ökologischen Modernisierung der Gesellschaft auf der Grundlage technologischer Ansätze – der Verbesserung der Effizienz von Technologien oder dem Ansatz der Kohlenstoffs-

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Abscheidung und Speicherung (CCS). Darüber hinaus ist es die Forderung nach einem globalen Umweltmanagement im Kontext der UNFCCC, die äquivalent zur Forderung nach Wachstum artikuliert wird. Ein derartiges Umweltmanagement habe freie Märkte zu fördern, d.h. ein offenes internationales Wirtschaftssystems ohne Handelsbeschränkungen.130 Äquivalent zur Forderung nach Wachstum gesetzt wird darüber hinaus die Forderung nach einer Reduktion von TreibhausgasEmissionen durch Verregelung der Output-Seite des fossilistischen Energieregimes, der Emissionen (ausgeblendet wird die Input-Seite, die Frage der Energieproduktion). Konkret gefordert wird ein Management der Atmosphäre anhand der Logik des Marktes und damit die Inwertsetzung von Treibhausgas-Emissionen. Gefordert wird, dass die Marktmechanismen Treibhausgas-Emissionen durch das Setzen von Obergrenzen regulieren. Es gehört zur Fantasie des hegemonialen Projekts, die Forderung nach einer derartigen Reglementierung und die Forderung nach freien Märkten nicht als Widerspruch zu artikulieren. Dies gründet auch darin, dass – gegenüber dem artikulierten Anspruch an Marktmechanismen – die mit der Global Climate Governance artikulierte Praxis nicht in Widerspruch mit dem Dogma des freien Marktes steht. Die Implementierung der flexiblen Mechanismen (ETS, CDM, JI) selbst zeigt keine wirkungsvollen Eingriffe in den durch Inwertsetzung etablierten Markt, sondern geht mit einer fortschreitenden Krise des globalen Kohlenstoffhaushalts einher.131 Mit ihnen wird die Kontinuität freier Märkte artikuliert – ein Freihandel mit Emissions-Zertifikaten. Der hegemoniale Konsens über derartige marktbasierte Klimapolitik beruht wesentlich darauf, die Dysfunktionalität hinsichtlich der Reduktion von Treibhausgas-Emissionen als ‚Kinderkrankheit‘ zu artikulieren, die in der Zukunft überwunden werde. So wird Kohärenz zwischen dem Anspruch an die Marktmechanismen und deren vorherrschenden Ausgestaltung hergestellt. Es ist die Stagnation, die im hegemonialen Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas« als symbolischer Repräsentant des ‚Grauens‘ fungiert. Stagnation stellt das Hemmnis zur Erlangung gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit dar, d.h.

130 Vgl. Artikel 3.5 der UNFCCC (1992) in dem es heißt: „Die Vertragsparteien sollen zusammenarbeiten, um ein tragfähiges und offenes internationales Wirtschaftssystem zu fördern, das zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum und nachhaltiger Entwicklung in allen Vertragsparteien […] führt und sie damit in die Lage versetzt, die Probleme der Klimaänderungen besser zu bewältigen. Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimaänderungen, einschließlich einseitiger Maßnahmen, sollen weder ein Mittel willkürlicher oder ungerechtfertigter Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des internationalen Handels sein.“ 131 Vgl. hierzu bspw. Ptak (2008: 44), Brunnengräber (2009: 128), Witt und Moritz (2008) und Cabello (2009).

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sie wird als Bedrohung (zukünftigen) wirtschaftlichen Wachstum artikuliert. Stagnation bedeutet wachsende Armut in der Gesellschaft und individuelles Unglück. Der Signifikant der ‚Stagnation‘ wird darüber hinaus durch weitere hegemoniale Artikulation aufgefüllt. So wird die Krise des globalen Kohlenstoffhaushalts, die bedingt ist durch überhöhte Emissionen von CO2, äquivalent zu wirtschaftlicher Stagnation artikuliert. Das (globale) Umweltproblem des Klimawandels wird als Bedrohung des wirtschaftlichen Wachstums gedeutet.132 Als weitere Bedrohung werden daneben Eingriffe in den freien Markt artikuliert. Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass das hegemoniale Projekt – entgegen diesem neoliberalen Dogma – (zwischen-)staatliche Regulierung durch Obergrenzen (sog. ‚Caps‘) im Handel mit Emissionen oder die Begrenzung von Emissionsmengen nicht als Bedrohung artikuliert. Auf dem Terrain politischer Auseinandersetzungen um Hegemonie wird nicht nur das Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas« artikuliert. Permanent werden hier kritische Artikulationen (vgl. Kap. II.2.5, insb. Seite 62f.) vorgebracht. Bereits in der Dekade vor den UN-Klimaverhandlungen in Kopenhagen artikulieren eine Vielzahl von Akteuren ein Set von kritischen Artikulationen. Es kann dabei von der Konstitution eines antagonistisch zur Hegemonie orientierten Projekts gesprochen werden, dass verknüpft ist mit der Forderung nach Climate Justice. Im Folgenden soll die Konstitution dieses Projekts in den Blick genommen wird.

132 Prominent vorgebracht wird die These vom Klimawandel als einer Bedrohung des wirtschaftlichen Wachstums im Report des britischen Ökonomen Sir Nicholas Stern (vgl. STERN 2006), der nach seiner Publikation eine hohe diskursive Verbreitung erfährt, d.h. eine beständige Reartikulation innerhalb der Global Climate Governance.

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IV.3 G EGEN -H EGEMONIE IN DER G LOBAL C LIMATE G OVERNANCE Die Reproduktion der neoliberalen Hegemonie ist in der Global Climate Governance nicht unangefochten. In der Zivilgesellschaft und insbesondere dem mit der vorliegenden Studie fokussierten Akteursspektrum werden durchgängig kritische Forderungen (vgl. Kap. II.2.5) artikuliert. Im Vorfeld der Kopenhagener Verhandlungen (COP15), so wird im Folgenden argumentiert, kann die Genese eines Hegemonieprojekts ausgemacht werden, welches offensiv gegen die Hegemonie des Neoliberalismus gerichtet ist: ein „gegen“-hegemoniales Projekt. Der Forderung nach Climate Justice kommt in diesem Ensemble von Forderungen die Rolle eines leeren Signifikanten zu (vgl. zum Konzept des leeren Signifikanten Kap. II.2.2). Im folgenden Kapitel wird zunächst die Genese dieses Ensembles kritischer Forderungen nachgezeichnet (siehe die Kapitel-Abschnitte IV.3.1 bis IV.3.3).133 Diese Darstellung beruht auf der Auswertung von Webdokumenten sowie Sekundärliteratur. Daran anschließend erfolgt die konzentrierte Darstellung der Fantasie des Narrativs, mit der das Hegemonieprojekt um »Climate Justice« in Erscheinung tritt (Kap. IV.3.4). Mit dieser Darstellung wird, das Hegemonieprojekt um »Climate Justice« dem hegemonialen Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas« – siehe Kap. IV.2.2 – gegenübergestellt. Die Genese der kritischen, „gegen“-hegemonialen Programmatik wird im Kapitel anhand zweier – miteinander verknüpfter – Entwicklungen dargestellt. Zunächst wird auf den Ausschluss bzw. die Marginalisierung von gegenüber der neoliberalen Bearbeitung des Klimawandels kritischen Perspektiven eingegangen (Kap. IV.3.1), eine Entwicklung, die in der Global Climate Governance wesentlich vom Jahr 1997 an – der Verabschiedung des Kyoto-Protokolls – auszumachen ist.134 Dieser Prozess

133 Diese von mir erarbeiteten Darstellungen zur Genese der kritisch-antagonistischen Programmatik um »Climate Justice« wurde von mir bereits in Teilen veröffentlicht in GÖRG & BEDALL 2013. 134 Bereits in den Jahren zuvor ist die internationale Umweltpolitik durch das Vorherrschen eines spezifischen Hegemonieprojekts geprägt, das bestimmte Artikulationen der Problemwahrnehmung und möglicher Lösungsansätze präferiert sowie andere marginalisiert. Dieses Projekt, dass Maarten Hajer mit dem Begriff der ökologischen Modernisierung fasst, geht von einer möglichen Problemlösung im Rahmen des hegemonialen Arrangements aus politischen, ökonomischen und sozialen Institutionen aus (HAJER 1995: 3). Das Projekt der ökologischen Modernisierung wird ab den 1980er Jahren verbreitet artikuliert und verdichtet sich in den 1990er Jahren in den umweltpolitischen Institutionen (HAJER 1997: 110). Für den in der vorliegenden Arbeit beschriebenen Prozess der

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der Universalisierung der »Neoliberalisierung des Klimas«135 und des Ausschlusses eines ihr gegenüber ‚radikal Anderen‘ geht im Akteursfeld von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« mit der Ausbildung eines hinsichtlich des offiziellen Verhandlungsprozesses affirmativen Politikstils einher. Es ist die Artikulation einer multiplen Krise ab dem Jahr 2005, die das Politische konstituiert (Kap. IV.3.2). Sie offenbart die Partikularität des Neoliberalismus – seine nur scheinbare Universalität – und macht eine verstärkte Artikulation von Alternativen möglich bzw. begünstigt die Organisation von kritischen Akteursnetzwerken, die einen antagonistischkonfrontativen Politikstil vertreten (Kap. IV.3.3), eine Entwicklung, die ab dem Jahr 2005 ihr Hoch erfährt. IV.3.1 Konstitutiv: Die Neoliberalisierung des Klimas und der Ausschluss eines ‚radikal Anderen‘ Die Universalisierung der neoliberalen Bearbeitung des Klimawandels in der Global Climate Governance geht einher mit dem Vorherrschen und zugleich dem Ausschluss bzw. der Marginalisierung spezifischer Perspektiven. Gerade auch im Akteursspektrum von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« kann dieser Exklusionsund Universalisierungsprozess nachgezeichnet werden.136 Insbesondere drei ins Abseits gedrängte thematische Felder können hervorgehoben werden: erstens die Kritik an marktorientierten Regulierungsmechanismen und die Formulierung von Alternativen, zweitens die Betonung der sozial-ökologischen Dimension des Klimawandels sowie drittens eine Nord-Südperspektive auf den Klimawandel. Betrifft ersteres die Artikulation von Lösungsansätzen der Klimakrise, so beziehen sich die beiden letzteren auf die Wahrnehmung des Klimawandels. Die Exklusion und Universalisierung von Lösungsansätzen sowie Problemwahrnehmungen kennzeichnet die ‚strategisch selektive‘ politische Bearbeitung des Klimawandels, die sich in der

Neoliberalisierung des Klimas ist der Diskurs der ökologischen Modernisierung eine Voraussetzung (vgl. im Weiteren HAJER 1995). 135 Es handelt sich vielmehr um den Versuch einer Universalisierung. Eine Universalisierung des Neoliberalismus im Sinne einer endgültigen, ultimativen Sinnfixierung bleibt mit der hier zugrunde gelegten Ontologie des Sozialen eine Unmöglichkeit (vgl. im Weiteren hierzu Kap. II.2.1). 136 Im Akteursfeld von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« werden durchweg gegenüber der hegemonialen (neoliberalen) Bearbeitung des Klimawandels alternative Perspektiven artikuliert. Die Existenz entsprechender Artikulationen soll hier nicht negiert werden, sondern vielmehr geht es darum ihre marginale Bedeutung bzw. ihren für den (re-)prodzierten hegemonialen Konsens konstitutiven Ausschluss darzustellen.

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Global Climate Governance herausgebildet hat (vgl. Kap. IV.2.1). Anhand der folgenden Darstellungen wird das Akteursspektrum von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« als Terrain von Exklusions- bzw. Universalisierungsprozessen erfahrbar. Artikulationen dieser Akteure tragen zur (Re-)Produktion des hegemonialen Konsenses (vgl. zum Begriff Seite 25) bei und damit zu einer spezifischen, strategisch selektiven, Problembearbeitung. Die Exklusionsprozesse bezüglich der drei thematischen Felder werden im Folgenden mit Fokus auf das betrachtete Akteursfeld dargestellt (Kap. IV.3.1.1 bis IV.3.1.3). Erklärbar wird die (Re-)Produktion des hegemonialen Konsenses im Akteursspektrum klimapolitisch aktiver »NGOs« und »sozialen Bewegungen« mit dem sich dort herausbildenden affirmativen Politikstil.137 Walk und Brunnengräber fassen diesen Politikstil unter dem Begriff der „konfliktiven Kooperation“ (WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 276, Hvb. im Original): ein „entlang der politischen und herrschaftsförmigen Restriktionen“ orientierter Politikstil, der sich „als skeptisch befürwortend und kritisch begleitend beschreiben“ lässt (ebd.).138 „Zeitlich, terminologisch, inhaltlich und von ihren Aktionen her beziehen sich die NGOs affirmativ auf den entstandenen institutionellen Rahmen und arbeiten sich in die jeweiligen inhaltlichen Themenvorgaben ein, um gezielte Vorschläge in den internationalen Verhandlungen platzieren zu können. […] Eine professionelle Pressearbeit, internationale Kampagnen oder öffentlichkeitswirksame Aktionen transportieren zwar die Kritik an der öffentlichen Agenda, weitgehend aber wird der Klimaprozess produktiv begleitet.“ (BRUNNENGRÄBER ET AL. 2008b:

105)

Der affirmative Politikstil kennzeichnet sich durch einen Prozess des Auslotens von „systemimmanenten Spielräumen“ (WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 138) des offiziellen Verhandlungsprozesses. Die Möglichkeit einer Verschlechterung des eigenen Status – bspw. des „Ausschluss[es] von den Verhandlungen“ (ebd.: 140) – setzt den »NGOs« eine Grenze139 hinsichtlich der Artikulation grundsätzlicher Kritik bzw. eines klar konfrontativen Auftretens. 137 Einen affirmativen Politikstil versteht Gebauer (2013) als ein grundsätzliches und kritikwürdiges Phänomen zahlreicher »NGOs«. 138 Der von Walk und Brunnengräber herausgearbeitete Politikstil der ‚konfliktiven Kooperation‘ ähnelt dem von Robert Cox beschriebene Ansatz des ‚problem solving‘: „[Problem-solving] takes the world […with its] prevailing social and political relations and […] institutions […] as the given framework for action“ (Cox 1981 zitiert in de LUCIA 2009: 234). 139 Während der UN-Klimaverhandlungen in Kopenhagen kam es zu einem entsprechenden Ausschluss zivilgesellschaftlicher Gruppen von den Verhandlungen, wie er bis dahin nicht erfahren wurde. Der zunächst für alle akkreditierten Organisationen freie Zu-

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Der Wille zur Teilnahme am offiziellen Verhandlungsprozess bestimmt dabei die Grenzen der politischen Forderungen und Protestaktionen. Mit der „deutliche[n] Bezugnahme“ der »NGOs« auf den Verhandlungsprozess einher geht die „Angleichung“ von Forderungen und Strategien (ebd.: 169). Es kann in diesem Sinn von einer „grundsätzlichen Befürwortung des Prozesses“ gesprochen werden (ebd.: 139). Fundamentale Kritik an der inhaltlichen Ausrichtung des Prozesses bzw. der Verfahren wird kaum mehr geäußert. Dieser affirmative Politikstil bekräftigt die Feststellung Lohmanns, die Etablierung von Kohlenstoff-Märkten sei „no corporate conspiracy, but rather a joint invention of civil society, business and the state. Non-governmental organisations (NGOs) have been nearly as prominent in its development as private corporations“ (LOHMANN 2006: 58).

Die Organisationen tragen zur (Re-)Produktion des hegemonialen Konsenses bei und können als Teil der die Neoliberalisierung des Klimawandels vorantreibenden Diskurskoalition140 verstanden werden (vgl. zum Begriff der Diskurskoalition Kap. II.2.3). Indem sie mit ihren Forderungen und Strategien auf den internationalen klimapolitischen Verhandlungsprozess Bezug nehmen und sich mit ihren Forderungen und Strategien an ihn angleichen, kommt ihnen eine legitimierende Funktion zu (vgl. WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 182; BRUNNENGRÄBER ET AL. 2001; gang wurde Im Verhandlungsverlauf zunehmend eingeschränkt. Begründet wurde dies von Seiten der UNFCCC mit eingeschränkter Logistik (siehe auch MEDALYE 2010: 97ff.) bzw. verschärften Sicherheitsmaßnahmen aufgrund der Teilnahme der Regierungschefs an den Verhandlungen. Von den ausgeschlossenen »NGOs« wurde der Ausschluss jedoch oft als Folge durchgeführter bzw. angekündigter Proteste verstanden. 140 Eine gegenüber dem Konzept der ‚Diskurskoalition‘ alternative Betrachtung liegt mit Haas’ Verständnis von ‚epistemic communities‘ vor (vgl. ADLER & HAAS 1992; HAAS 1992): Demnach könnten die hier behandelten »NGOs« als Teil einer epistemic community verstanden werden, die sich den Zielen des Kyoto-Protokolls verpflichtet hat (vgl. GOUGH & SHACKLEY 2001). Die sich in den »NGOs« herausbildende Expertise sowie ihr kooperativer Politikansatz lässt sie Teil dieser community werden, zu der neben Regierungen und Wissenschaftler_innen auch Akteure aus der Wirtschaft zählen. Haas versteht unter einer „epistemic community […] a network of professionals with recognized expertise and competence in a particular domain and an authoritative claim to policy-relevant knowledge within that domain or issue-area. […] [T]hey have (1) a shared set of normative and principled beliefs, […] (2) shared causal beliefs, […] (3) shared notions of validity […] and (4) a common policy enterprise—that is, a set of common practices associated with a set of problems to which their professional competence is directed […]“ (HAAS 1992: 3).

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PATERSON 2007, 2010). Die Organisationen können als eine „Legitimationsressource“141 begriffen werden (BRUNNENGRÄBER ET AL. 2001). „In der internationalen Klimapolitik zeigt sich […] eine spezifische Rekonfiguration gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Nach radikalen Forderungen, die gerade in der Entstehungsphase der internationalen Klimapolitik formuliert wurden, setzten sich diejenigen Kräfte durch, die die bestehenden Produktions- und Konsummuster nicht grundsätzlich infrage stellen. […] Zivilgesellschaftliche Kräfte begleiten den Prozess dieser Rekonfiguration und verschaffen sowohl der Internationalisierung von Staatlichkeit als auch der Ökonomisierung des Klimas Legitimation.“ (BRUNNENGRÄBER 2009: 52)

Lohmann spricht in diesem Zusammenhang von der Herausbildung eines Klientensystems („patron-client system“ – LOHMANN 2012: 313ff.). Die »NGOs« erfahren in diesem System Unterstützung durch finanzielle Ressourcen und politische Netzwerke und erlangen zugleich Ansehen. Technisch und moralisch unterstützen die »NGOs« die Klimapolitik des Patrons, d.h. der Regierungen der EU und USA und Unternehmen. Damit findet eine Abkehr von den zuvor von den »NGOs« verfolgten Klimazielen statt. Die »NGO«-Klienten gebieten dem Patron gegenüber Loyalität. (Ebd.: 314) IV.3.1.1 Die Exklusion von Kritik an marktbasierten Mechanismen Die Positionierung von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« gegenüber marktorientierten Lösungsansätzen im Vorfeld der Verabschiedung des Kyoto-Protokolls im Jahr 1997 ist vielfältig. Der Verhandlungsprozess stellt sich hier zunächst als zieloffen dar. Nicht festgelegt ist, wie die politische Bearbeitung des Klimawandels erfolgen soll – ob anhand ordnungsrechtlicher Maßnahmen oder marktbasierter Instrumente. In dieser Phase wird auch aus dem Climate Action Network (CAN), das den Großteil der auf die UN-Klimaverhandlungen orientierten »NGOs« umfasst und in dem Akteure wie Greenpeace oder WWF eine zentrale Rolle zukommt, starke Kritik an marktbasierten Ansätzen geäußert.142 So tritt CAN zu Beginn der 141 Die Rolle der »NGOs« als Legitimationsressource, wird insbesondere von Akteuren aus dem Feld »sozialer Bewegungen« und »NGOs«, die sich gegenüber der neoliberalen Hegemonie antagonistisch orientieren (auf diese wird später ausführlicher eingegangen; vgl. Kap. IV.3.3.1) scharf kritisiert (UNMÜßIG 2011: 53). 142 Innerhalb CAN sind es »NGOs« aus den USA, die marktbasierte Ansätze forcieren, wohingegen europäische »NGOs« vielfach für staatliche Lenkungsmaßnahmen eintreten (OBERTHÜR & OTT 2000: 114). So heißt es beispielsweise beim Natural Resource Defence Council: „We believe that capitalism can work for the planet [...] By combining corporate leadership with policy and product innovation, we convert today’s marketplace failures into tomorrow’s solutions for the planet“ (zitiert nach RISING TIDE

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Verhandlungen im Rahmen der UNFCCC für „eine andere, das Klima schützende Wirtschaftsweise“ ein (BRUNNENGRÄBER ET AL. 2008b: 97) und stellt die Forderung „[to] avoid any emission trading schemes which only superficially adress climate change problems, perpetuate or worsen inequities hidden behind the problem, or have an negative ecological impact“ (The NGO Alternative Treaties at Rio de Janeiro, zitiert nach BRUNNENGRÄBER 2009:

183).

Gegenüber den weiteren marktorientierten Mechanismen, dem Clean Development Mechanism und insbesondere gegenüber dem Joint Implementation, herrscht zu Beginn der klimapolitischen Verhandlungen über den Entwurf einer Klimarahmenkonvention im Rahmen des INC unter »NGOs« – insbesondere aus den Ländern des globalen Südens (RAHMAN & RONCEREL 1994: 256, 261) – eine Oppositionshaltung vor. Zu den »NGOs«, die Joint Implementation fundamental ablehnend gegenüberstehen, zählten zu diesem Zeitpunkt neben Friends of the Earth ebenso Greenpeace (ARTS 1998: 142). Auch CAN als Netzwerk lehnt – trotz heterogener Positionen seiner Mitgliedsorganisationen – Joint Implementation als eine Option vor dem Jahr 2005 (dem Jahr, in dem die von CAN angestrebten Torontoziele erreicht sein sollten) ab (ebd.). Die Abkehr der G77-Nationen und Chinas von ihrer anfänglichen Unterstützung von Joint Implementation im Rahmen der Verhandlungen des INC hat gar seine Ursache in einer Intervention durch »NGOs« (ebd.: 138ff.; NEWELL 2000: 142). Mit der Verabschiedung konkreter Reduktionsziele während der Vertragsstaatenkonferenz in Kyoto und der daran anschließenden Einigung auf drei das Protokoll ausgestaltende und auf Marktmechanismen setzende Instrumente (vgl. Kap. IV.1.2), ist im Akteursfeld ein Wandel hinsichtlich dieser kritisch-ablehnenden Positionierung zu beobachten. Kritische Perspektiven treten nur noch vereinzelt in Erscheinung. Der Großteil der »NGOs« wendet sich nun der Debatte um die Ausgestaltung der Instrumente zu. Auf eine anfänglich verbreitete grundsätzliche Ablehnung der Instrumente folgt damit deren mehrheitliche Akzeptanz (WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 150ff.; LOHMANN 2006: 53, 59, 2012: 314f.; BRUNNENGRÄBER 2009: 125, 183f.; BOND & DORSEY 2010: 287). Für die »NGOs« stehen im Folgenden Fragen zu technischen Details im Vordergrund (WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 150; UNMÜßIG 2011: 48). „[D]ie Vertreter der Zivilgesellschaft“ befinden sich damit, wie es Oberthür und Ott (2000: 385) ausdrücken, „in der Komplexitätsfalle. Sie sind […] in einem Mikrokosmos technischer Details gefangen“. Die Positionen des Großteils der »NGOs« in CAN prägen sich „entlang der flexiNORTH AMERICA 2010: 5). Insbesondere die US-NGOs Environmental Defense Fund und Nature Conservancy tragen bei der Etablierung des Emissionshandels in den USA wie auch in Europa zu dessen erhöhter Legitimation bei (PEARSE 2010: 176).

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blen Mechanismen“ (WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 152) des Kyoto-Protokoll aus,143 welches von ihnen als „alternativlos“144 betrachtet wird (BRUNNENGRÄBER ET AL. 2008b: 97). Ausdruck des Wandels der »NGO«-Positionierung von der Kritik hin zur Akzeptanz von Marktmechanismen zur Lösung des Klimawandels sind drei Aspekte. Erstens, die Einbindung der »NGOs« in die Ausgestaltung der Mechanismen mit der die Akzeptanz der Mechanismen deutlich wird. So gehört der WWF – eines der einflussreichsten Mitglieder CANs – zu den Gründern des ‚Gold Standards‘,145 eines Labels zur Kennzeichnung der Umweltverträglichkeit146 von CDM-Projekten (LOHMANN 2006: 182ff., 296; de LUCIA 2009: 234; PEARSE 2010: 177). Zweitens, ist es – damit verbunden – die Etablierung entsprechender Forderungen bei »NGOs«. So ist bspw. die Einrichtung eines Marktes für Kohlenstoff ein fester Bestandteil des von CAN geforderten dreispurigen Lösungsansatzes147 (‚three track approach‘) der Klimakrise (de LUCIA 2009: 235). Ebenso werden von Greenpeace trotz vereinzelt geäußerter Kritik an der Ausgestaltung der Marktmechanismen – bspw. der Forderung nach strikteren Regeln hinsichtlich des CDM (ebd.) – die Mechanismen selbst nicht mehr in Frage gestellt (ebd.; LOHMANN 2006: 58). Zuletzt sind es die sich herausbildende Allianzen von »NGOs« und Unternehmen bzw. 143 Ein ebensolcher affirmativer Wandel des Großteils der klimapolitischen »NGOs« kann hinsichtlich deren Orientierung auf bestimmte Reduktionsziele ausgemacht werden: Herrschte unter den »NGOs« zunächst mit dem AOSIS-Protokoll-Entwurf (vgl. ARTS 1998: 133ff.) noch ein „Minimalkonsens“ (Stephan Singer zitiert nach WALK & BRUNNENGRÄBER

2000: 149) zu einem 20%-Reduktionsziel für die Industrieländer vor, so

verlor das AOSIS-Protokoll mit der Verabschiedung der Kyoto-Reduktionsziele seine Funktion als „Bindemittel“ unter den »NGOs«, die sich von da an vielfach auf die mit dem Protokoll gesetzten Reduktionsziele bezogen (ebd.: 150). 144 Ein affirmativer Bezug CANs auf die flexiblen Mechanismen zeigt sich auch nach Aufkündigung des Kyoto-Protokolls durch die USA unter Georg Bush senior im Jahr 2001. CAN trägt weiterhin den „global consensus“, der marktbasierte Mechanismen als „the ‘only show in town’“ begreift (LOHMANN 2006: 50). 145 Aktuell wird der ‚Gold Standard‘ von über 80 »NGOs«, darunter bspw. CAN Mitglieder wie CARE International, Germanwatch und Greenpeace International, unterstützt (GSF 2013). 146 Mit dem Gold-Standard ausgezeichnete Projekte seien, so kritisiert Larry Lohmann, nicht notwendiger Weise nachhaltig, da die zugrundgelegten Kriterien soziale Aspekte aus dem Blick verlieren (LOHMANN 2006: 296). 147 Die drei »Spuren« nehmen dabei jeweils unterschiedliche Länder in den Blick: der „Kyoto track“ die Industrieländer, der „greening track“ die Entwicklungsländer und der „adaptation track“ die Länder, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind (NURSEY-BRAY 2012a:

270; im Weiteren CAN 2007).

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Unternehmensverbänden (vgl. NEWELL 2000: 135f.; WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 175ff.; DORSEY 2007: 10), die die Akzeptanz der Marktmechanismen deutlich machen. Diese Allianzen betreiben Lobbying für marktorientierte Regulierungsansätze. Die US-amerikanische »NGO« World Resource Institute setzte sich so beispielsweise zusammen mit dem World Business Council for Sustainable Development und weiteren Unternehmensverbänden vehement für einen Kohlenstoff-Handel an (LOHMANN 2006: 58). Im Streben, das EU-Emissionshandelssystem zu forcieren, bildete der WWF Allianzen148 mit dem European Roundtable of Industrialists (UNICE) oder dem Centre for European Policy Studies, das eine Nähe zu US think-tanks aufweist (ebd.). Auch bei dem 2007 gegründeten US Climate Action Partnership (USCAP) handelt es sich um eine Lobby-Allianz – bestehend aus 24 Unternehmen und vier »NGOs« (Environmental Defense Fund, Nature Conservancy, Pew Centre on Global Climate Change and World Resources Institute), die für Marktmechanismen zum Klimaschutz eintritt (PEARSE 2010: 176f.). IV.3.1.2 Die Exklusion des Klimawandels als sozial-ökologisches Problem Im zivilgesellschaftlichen Akteursfeld von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« spiegelt sich die Herausbildung einer strategisch selektiven – ‚neoliberalen‘ – Bearbeitung des Klimawandels in der Global Climate Governance nicht nur in dem mehrheitlich affirmativen Bezug auf marktbasierte Lösungsansätze wieder. Ebenso zeigt sich die der Global Climate Governance zugrunde liegende selektive Problemwahrnehmung als einem ‚globalen Umweltproblem‘ im Akteursfeld verankert. (Re-)Produziert wird insbesondere in CAN ein Verständnis des Problems als einer primär ökologischen. Eine Verschränkung sozialer mit ökologischen Aspekten findet hier nur selten statt. Einer der wesentlichen Antriebe für die Vernetzung der einzelnen Organisationen innerhalb CANs ab dem Jahr 1989, darauf weisen Walk und Brunnengräber hin, war die Verknüpfung der Themen Umwelt und Entwicklung, woraus jedoch ebenso die Konfliktlinien innerhalb des Vernetzungsprozesses erwuchsen (WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 148). »NGOs« aus dem globalen Norden fokussieren 148 Anhand eines Beispiels geht Habermann auf die sozialen Auswirkungen dieser Politik des WWFs für lokale Gemeinschaften ein (vgl. HABERMANN 2011: 243f.). Grundsätzlich kennzeichnet sich die Politik des WWF durch eine Nähe zu Unternehmen die hinsichtlich der sozialen und ökologischen Implikationen umstritten ist (vgl. HUISMANN 2012). Im klimapolitischen Kontext steht insbesondere die Beteiligung des WWF zusammen mit dem transnationalen Agrar-Konzern Monsanto am Roundtable on Responsible Soy in der Kritik (ebd.: 174ff.). Der Konzern nutzt den Runden Tisch für Lobbyarbeit dazu, dass der Anbau genetisch veränderten Sojas als Klimaschutzmaßnahme im Rahmen des Kohlenstoffhandels etabliert wird (SANDBERG & SANDBERG 2010: 51f.).

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tendenziell stärker auf umweltpolitische Aspekte, wohingegen Organisationen aus dem globalen Süden „die Frage nach der entwicklungspolitischen Bedeutung der Kyoto-Instrumente oder die Frage nach sozialer Gerechtigkeit wesentlich stärker“ hervorheben149 (BRUNNENGRÄBER ET AL. 2008b: 105, vgl. auch RAHMAN & RONCEREL 1994: 244, 246f.; PETTIT 2004: 102). Die entwicklungspolitischen »NGOs« treten „mit radikaleren politischen und gesellschaftskritischen Positionen“ in Erscheinung und stehen den stärker umweltpolitisch ausgerichteten »NGOs« gegenüber, die „vor allem moderate Positionen vertreten“ (WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 148). Eine „organisatorische Verzahnung der Themen Umwelt und Entwicklung“ zeigte sich in CAN jedoch als schwierig (ebd.: 148f.). Die führende Rolle der primär umweltpolitisch orientierten internationalen Organisationen wie des WWF oder von Greenpeace im Netzwerk steht symptomatisch für die sich herausbildende umweltpolitische Fokussierung CANs (REITAN 2011: 60). Brachte die UN-Konferenz zu Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 – als dem Geburtsort der Klimarahmenkonvention – noch eine beträchtliche Zahl umwelt- wie auch entwicklungspolitischer »NGOs« zusammen, so veränderte sich die Zusammensetzung der auf die internationalen Klimaverhandlungen unter dem Dach der UN orientierten »NGOs« in den folgenden Jahren deutlich. Spätestens nach den Verhandlungen in Kyoto 1997 wandte sich ein Großteil der »NGOs« von diesen Verhandlungen ab (UNMÜßIG 2011: 47). Es sind die stärker entwicklungspolitisch orientierten Organisationen, die sich aus dem Klimaprozess zurückziehen und ihren Fokus verstärkt auf die Themen Armut und Handel, hier insbesondere den WTO-Prozess, legen (ebd.). War bei der Konferenz der Vereinten Nationen in Rio die Verknüpfung von Umwelt und Entwicklung bereits im Namen verankert, so nahm eine gemeinsame Diskussion von Sozialem und Ökologischem anschließend zunächst deutlich ab. In den Folgejahren sind die umweltpolitisch ausgerichteten Organisationen auf den internationalen klimapolitischen Verhandlungen nahezu unter sich (ebd.: 48). Erst ab Mitte der 2000er ist eine verstärkte Re-Orientierung von entwicklungspolitischen Gruppen bzw. Gruppen auszumachen, die in ihren Forderungen die Verschränkung der ökologischen Dimension des Klimawandels mit der sozialen hervorheben. Auch in der sich ab Ende der 1990er Jahre entfaltenden globalisierungskritischen Bewegung findet eine Verschränkung der Themen Umwelt und Entwicklung zunächst nicht statt. Diese »soziale Bewegung« widmet sich im ersten Jahrzehnt

149 Der Fokus der Süd-NGOs auf entwicklungspolitische Fragestellungen sei eine Folge ihrer Orientierung an den nationalen Kontexten, so heben Walk und Brunnengräber hervor. Das Klimathema als ökologisches Problem sei hier politisch nicht relevant, wenn nicht zugleich eine Betonung von Fragen der Gerechtigkeit und damit von ökonomischen und sozialen Aspekten stattfindet. (WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 146)

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ihres Bestehens nur selten dem Thema Ökologie, sondern konzentriert sich, wenn es um Verteilung oder Gerechtigkeit geht, auf soziale Aspekte (ebd.: 47f.): „Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen wurden stärker mit der sozialen denn mit der ökologischen Frage verknüpft. Umwelt und Entwicklung zusammen zu diskutieren, hatte nicht mehr die gleiche Fundierung im zivilgesellschaftlichen Engagement wie in den 1990er Jahren.“ (Ebd.: 48)

Hinsichtlich des Akteursfelds von auf die internationalen klimapolitischen Verhandlungen orientierten »NGOs« und »sozialen Bewegungen« zeigt sich insofern „eine klare umweltpolitische Schwerpunktsetzung“ (WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 149). Verbunden mit dem umweltpolitischen Fokus ist eine naturalisierende Perspektive auf den Klimawandel. Im Vordergrund steht die Emission von Treibhausgasen. Sie gilt es zu verregeln. Eine solche Problemdeutung orientiert auf den Output des Energiesystems, die Input-Seite – die Energieproduktion – hingegen wird ausgeklammert (BRUNNENGRÄBER ET AL. 2008b: 188). Der Klimawandel wird von den Akteuren entsprechend nicht als Ausdruck einer Krise der herrschenden gesellschaftlich vermittelten Naturverhältnisse begriffen, sondern als eine Krise der Ökologie, die der Gesellschaft äußerlich ist. IV.3.1.3 Die Exklusion einer Nord-Süd-Perspektive auf den Klimawandel Insbesondere in der ersten Dekade der Klimarahmenkonvention zeigt sich im Akteursfeld von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« die selektive Problemwahrnehmung des Klimawandels, die der Global Climate Governance zugrunde liegt, hinsichtlich eines weiteren Aspektes verankert: Eine Nord-Süd-Perspektive auf den Klimawandel – d.h. eine Perspektive, die Fragen globaler Gerechtigkeit hervorhebt – ist weitestgehend marginalisiert. Dieser Umstand gründet zum einen auf der naturalisierenden Perspektive auf den Klimawandel (siehe die Darstellungen in Kap. IV.3.1.2). Mit dieser Perspektive geraten soziale Fragen und damit Fragen globaler Gerechtigkeit im Nord-Süd-Verhältnis aus dem Blick. Zum anderen gründet die Marginalisierung einer Nord-Süd-Perspektive in einer spezifischen Struktur des Akteursfeldes von »NGOs« und »sozialen Bewegungen«. Die Verursachung des Klimawandels bzw. die resultierende Vulnerabilität (Betroffenheit) ist sozial differenziert. Die vom Klimawandel Betroffenen verfügen über ungleiche Anpassungskapazitäten (vgl. bspw. GULLIVER 2010). Ein Blick auf die Betroffenheit durch Umweltgefahren macht grundsätzlich deutlich, dass diese ungleich verteilt wirken. Von den Gefahren, die mit der chemischen Industrie, der Urbanisierung oder der industriellen Landwirtschaft einhergehen, sind insbesondere Menschen im globalen Süden in erhöhtem Maße ausgesetzt (vgl. bspw. ROBERTS & PARKS 2007; KASPERSON & KASPERSON 2001). Hinsichtlich des Klimawandels

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kommt auch der IPCC zu dem Schluss, das gerade die an Zugriff zu natürlichen und finanziellen Ressourcen arme Bevölkerung – insbesondere im globalen Süden – verstärkt von den Folgen des Klimawandels betroffen ist und von zukünftigen Folgen betroffen sein wird (PARRY ET AL. 2007; CARDONA ET AL. 2012; LAVELL ET AL. 2012: 33). Aus einer Nord-Süd-Perspektive variiert die Betroffenheit durch den Klimawandel und seine Verursachung erheblich (vgl. bspw. MISSBACH 1999: 24ff.). Die besondere historische Verantwortung des globalen Nordens hinsichtlich des Großteils der bislang absolut emittierten Treibhausgase ist von den unterzeichnenden Staaten der Klimarahmenkonvention anerkannt (UNFCCC 1992: Art. 3.1). Gruppen, v.a. aus dem globalen Süden, die vor diesem Hintergrund im Umfeld der UN-Klimaverhandlungen Fragen globaler Gerechtigkeit aufwerfen – insbesondere die Betroffenen selbst – haben jedoch nur selten eine Stimme im Verhandlungsprozess (SAGAR & BANURI 1999). Eine entsprechende Marginalisierung zeigt sich hinsichtlich des Akteursfelds von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« in zweifacher Hinsicht; auf beides soll im Weiteren eingegangen werden: Zum einen wird die Marginalisierung deutlich, wenn die im Rahmen der internationalen Verhandlungen vertretenen Gruppen bzw. deren jeweilige Bedeutung in den Blick genommen werden. Zum anderen zeigt sie sich ebenso in der Struktur der Netzwerke von »NGOs« und deren Positionierung und Forderungskataloge. Grundsätzlich sind im Umfeld der Verhandlungen die »NGOs« aus dem globalen Süden gegenüber denen aus dem globalen Norden in der Minderheit (MISSBACH 1999: 274). Es ist dabei auch der Mangel an Ressourcen sowie an Kenntnissen über die Funktionsweise der UN-Bürokratie, der Süd-»NGOs« aus dem Prozess ausschließt (NEWELL 2000: 138). Die bei den internationalen Verhandlungen vertretenen »NGOs« stellen insofern keine repräsentative Auswahl der klimapolitisch aktiven Gruppen dar. Newell hebt hervor, dass „only a certain number of groups campaigning on global warming are involved in lobbying at this level, and that less organised or powerful »NGOs« are ‘screened out’“ (ebd.: 138, mit Verweis auf Finger 1993: 46). Conca schlägt für eine analytische Betrachtung des Akteursfeldes vor, die »NGOs« bezüglich ihres Zugangs zu den Verhandlungen im Rahmen der UN und ihrer Bedeutung anhand von konzentrischen Kreisen anzuordnen (CONCA 1995: 444). Deutlich würde so die ungleiche Verteilung von »NGOs« aus dem globalen Norden gegenüber denen aus dem globalen Süden.150 „Roughly speaking, the further one moves out from the centre circle, the more difficult it becomes to have effective access to the United Nations system. And the further from the

150 Zur Verbreitung transnational vernetzter zivilgesellschaftlicher Gruppen in Ländern des globalen Südens selbst und den Ungleichheiten gegenüber Ländern des globalen Nordens vgl. Smith und Wiest (2005).

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centre, the fuzzier the issue-area boundaries become between the environment and other concerns.“ (Ebd.: 445)

Dem inneren Kreis ordnet Conca »NGOs« wie Greenpeace, den WWF oder das World Resource Institute sowie Friends of the Earth oder das Third World Network zu (ebd.: 444), d.h. »NGOs«, die sich meist durch hohe Mitgliederzahl, umfangreiche personelle und finanzielle Ressourcen und ausgebildete Netzwerkstrukturen auszeichnen und größtenteils aus dem globalen Norden stammen und eine primär umweltpolitische Ausrichtung aufweisen. Auf dem äußersten Kreis hingegen ist der Großteil an »NGOs« anzuordnen. Zu ihm gehören die Mehrheit der Süd-»NGOs«: vielfach basisorientierte Initiativen – in Graswurzel-Bewegungen verankert –, deren Fokus nicht ausschließlich auf umweltpolitische Aspekte abzielt, sondern wesentlich auch soziale Fragen betrifft (ebd.: 445). Gruppen von Betroffenen des Klimawandels, die Gerechtigkeitsfragen thematisieren, sind in diesem äußersten Kreis zu verorten. Ihnen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Zugang zu den Verhandlungen verwehrt. Hinsichtlich der Klimapolitik nach Kyoto kommt Unmüßig gar zu der Einschätzung, „dass außer über die transnationalen Netzwerke wie Climate Action Network oder Friends of the Earth International hinaus, die zivilgesellschaftliche Präsenz aus den Ländern des globalen Südens eher gegen Null tendierte.“ (UNMÜßIG 2011: 48)

Jedoch auch innerhalb dieser Netzwerke ist nicht von einem ausgewogenen NordSüd-Verhältnis auszugehen, was sich in der Existenz bestimmter bedeutenderen das Netzwerk führenden Organisationen, aber auch in der Positionierung und den Forderungskatalogen der Netzwerke widerspiegelt. So dominieren im CAN die großen, westeuropäischen und amerikanischen »NGOs« gegenüber süd- oder osteuropäischen (BRUNNENGRÄBER 2009: 180). »NGOs« aus dem globalen Norden, wie Greenpeace, der WWF oder der Environmental Defense Fund kommt hier eine zentrale Rolle zu (MISSBACH 1999: 274). Grundsätzlich bestärkt das UNCEDSystem Interessengruppen darin, gemeinsame Positionen vorzubringen (NEWELL 2000: 139). Die Positionierung und Forderungskataloge entsprechender Gruppen, den »NGO«-Netzwerken, ist jedoch ebenso von den ungleichen Einflussmöglichkeiten der einzelnen Mitglieder geprägt: „The amalgamation of »NGO« positions favours the more predominant Western interpretation of the issue, given the greater presence of Western groups at international meetings“ (ebd.).

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IV.3.2 Dislozierend: Die Artikulation einer multiplen Krise Die Artikulation einer multiplen Krise (vgl. DEMIROVIC ET AL. 2011) ab Mitte der 2000er Jahre bewirkt im hegemonialen Konfliktfeld der Global Climate Governance neben den UN-Verhandlungen um eine institutionelle Bearbeitung des Klimawandels Post-2012 (siehe hierzu detaillierter in Kap. IV.4) eine Politisierung. Die Artikulation der multiplen Krise kann als Dislokation begriffen werden, die das Terrain von Auseinandersetzungen um Hegemonie – das Politische – konstituiert (vgl. hierzu Seite 44f. in Kap. II.2). Die Krisenphänomene stellen „Ereignisse [dar], die nicht in der bestehenden [hegemonialen] Struktur verarbeitet werden können“ (GLASZE & MATTISSEK 2009: 161). Das hegemoniale Projekt des Neoliberalismus ist mit der Herausforderung konfrontiert, sie in das Bedeutungsgefüge des Projektes zu integrieren. Zunächst ist das Projekt zu dieser Integration jedoch nicht in der Lage. Die Hegemonie des Neoliberalismus offenbart damit seinen kontingenten Charakter – der Neoliberalismus als ultimative Totalität offenbart sich als eine Illusion. Einerseits lockern die Dislokationen bislang im hegemonialen Konsens fest eingebettete Begriffe. Die Re-Integration dieser Begriffe in das hegemoniale Bedeutungsgefüge unterliegt Auseinandersetzungen um Hegemonie. Andererseits bricht in Folge der Dislokationen das durch die Neoliberalisierung des Klimas ausgeschlossene Andere in das Bedeutungsgefüge des hegemonialen Diskurses ein. Im Folgenden soll auf die Artikulation der multiplen Krise näher eingegangen werden. Von wesentlicher Bedeutung für die Politisierung des hegemonialen Konfliktfeldes der Global Climate Governance ist die verstärkte Artikulation der Klimakrise.151 Zunächst zählt hierzu die Veröffentlichung verschiedener Studien, in denen einerseits das vehemente Voranschreiten des Klimawandels sowie andererseits die damit einhergehenden Folgen hervorgehoben werden: Der sogenannten Stern-Report stellt im Jahr 2006 potentielle zukünftige wirtschaftliche Folgen eines unregulierten Klimawandels den Kosten gegenüber, die mit sofortigen Maßnahmen einhergehen würden (STERN 2006). Im Jahr 2007 veröffentlicht der IPCC seinen vierten Sachstandsbericht über Klimaänderungen und hebt darin neben dem wissenschaftlichen Konsens152 über die anthropogene Verursachung der globalen Erwär-

151 Die zunehmende Wahrnehmung der ökologischen Krise hat bereits ab den 1960er Jahren in den Industriegesellschaften des globalen Nordens dislokatorische Effekte auf hegemoniale Diskurse um unbegrenztes Wachstum oder Fortschritt durch Technik. Die Artikulation der ökologischen Krise trägt zur Herausbildung ‚grüner‘ Diskurse bei, die Aspekte wie die Grenzen des Wachstums forcieren (STAVRAKAKIS 2000). 152 Von wesentlicher Bedeutung in diesem Bericht ist der Konsens der Wissenschaftler im Hinblick darauf, dass „der größte Anteil des seit Mitte des 20. Jahrhunderts beobachte-

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mung seit Mitte des 20. Jahrhunderts die drohenden dramatischen Folgen eines ungebremsten Temperatur-Anstiegs hervor (IPCC 2007). Neben der Veröffentlichung der Studien hat die verstärkte Artikulation der Klimakrise ihren Ausdruck in der medialen Rezeption von Extremwetterereignissen wie dem europäischen Hitzesommer des Jahres 2003 oder dem Hurrikan Katrina an der Golfküste der USA im August 2005. Insbesondere in Ländern des globalen Südens kommt es zu einer Intensivierung von Ressourcenkonflikten in Folge von Umweltereignissen oder politischen Entscheidungen (BRAND 2009a: 107), die oftmals in Zusammenhang mit der Klimakrise gestellt werden. Es ist dieser diskursive Kontext, in dem sich das Stockholmer Nobel-Komitee zur Vergabe des Friedensnobelpreises153 an die Klimaforscher_innen des IPCC und den ehemaligen US-Vize-Präsidenten Al Gore entschließt. Auch die Politik erkennt die Bedeutung des Klimathemas. So hebt die G8 (die Gruppe der acht größten Industrienationen) das Thema Klimawandel im Jahr 2005 sowie im Jahr 2007 auf die Tagesordnung ihrer Gipfel im schottischen Gleneagels und in Heiligendamm. Neben der Klimakrise tragen weitere Krisenartikulationen zur Politisierung der neoliberalen Hegemonie und damit verbunden der neoliberalen Bearbeitung des Klimawandels bei. Einerseits ist es die globale Finanzkrise, die – beginnend mit der Immobilienkrise in den USA – ab dem Jahr 2007 neoliberale Grundsätze ins Wanken bringt. Nach dem Zusammenbruch der Großbank Lehmann Brothers im Herbst 2008 in den USA sehen sich zahlreiche Regierungen dazu veranlasst, verschiedene Finanzdienstleister mit staatlichen Kapital-Hilfen zu stützen. Mit Quasi-Verstaatlichungen einzelner Banken handeln einzelne Regierungen gegen die von ihnen bis dahin vehement verfolgten marktliberalen Grundsätze. Zur Politisierung der neoliberalen Hegemonie trägt neben der Finanzkrise andererseits eine sich verschärfende soziale Ungleichheit bei, die sich in vielen der Staaten zeigt, in denen neoliberale Dogmen die Politik bestimmen (vgl. BERGER & WEIß 2008; CASTEL & DÖRRE 2009). In der Mehrheit der OECD-Staaten hat sich die ungleiche Verteilung der Einkommen beispielsweise seit den 1970er Jahren erhöht (NOLLMANN 2008: 284). Die Klimakrise, die Finanzkrise sowie die soziale Krise können der Kategorie „crises of functioning“ zugeordnet werden, das heißt, es handelt sich um

ten Anstieges der globalen Durchschnittstemperaturen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die beobachtete Zunahme der anthropogenen THG[Treibhausgas]-Konzentrationen zurückzuführen ist“ (JOHNSTON & KLANDERMANS 1995). 153 Das Nobel-Komitee verleiht den Preis für „their efforts to build up and disseminate greater knowledge about man-made climate change, and to lay the foundations for the measures that are needed to counteract such change“ (NORWEGIAN NOBEL INSTITUTE 2011).

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„problems for the dominant forces themselves and of societal reproduction which, according to form, affect the weaker and more vulnerable social groups and regions most.“ (BRAND 2009a: 108)

In diesen Krisenartikulationen offenbart sich ein Moment des Scheiterns der Hegemonie: Die Klimakrise kann in zweifacher Hinsicht als eine Funktionskrise des Neoliberalismus begriffen werden. Einerseits als Krise einer spezifischen Form der Naturaneignung – der Klimawandel als Folge der neoliberalen Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse.154 Andererseits als Krise der Regulation der globalen Erwärmung, die sich offenbart, wenn die Bearbeitung des Klimawandels anhand von marktorientierten Mechanismen bislang kaum Erfolg vorweisen kann. Mit dem Scheitern von Marktmechanismen und neoliberalen Grundannahmen, wie der nach einem Rückzug des intervenierenden Staates, stellt sich auch die Finanzkrise als eine Funktionskrise dar. Entsprechend Artikulationen finden sich gar in Kommentaren der Financial Times, die sich zuvor lange Zeit als Vorkämpfer neoliberaler Ideen präsentierte: „Ein weiterer ideologischer Gott hat versagt. Die [marktliberalen] Annahmen, die drei Jahrzehnte lang Policy und Politik bestimmt haben erscheinen plötzlich ebenso überholt wie der revolutionäre Sozialismus.“ (Financial Times vom 9.3.2009, zitiert nach KAUFMANN & MÜLLER 2009: 14)

Ebenso zeigt sich mit der sozialen Krise eine Funktionskrise des Neoliberalismus insofern, als sich das Versprechen des Neoliberalismus durch Wettbewerb des Marktes zu einem Optimum öffentlicher Wohlfahrt zu gelangen als unrealisiert präsentiert. Von den Funktionskrisen unterschieden werden können „crises of legitimation“ (BRAND 2009a: 108). Diese kennzeichnen sich durch „social struggles and criticism which delegitimise the existing forms of the appropriation of nature“ (ebd.), „through the continuing conceptual and practical criticism undertaken by intellectuals, scientists and critical media, social movements and NGOs“ (BRAND & SEKLER 2009a: 6).

154 Theorien der gesellschaftlichen Naturverhältnisse begreifen die ökologischen Krise nicht als isolierte Umweltprobleme, sondern vielmehr als eine ‚Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse‘ (vgl. GÖRG 1999; BECKER & JAHN 2006). Die Theorien kritisieren naturalistische wie auch kulturalistische Konzeptionen der Beziehung von Gesellschaft und Natur und stellen diesen die Figur der dialektischen Vermittlung (GÖRG 1999: 9) bzw. der Komplementarität (BECKER ET AL. 2006: 189) entgegen.

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Sinnvoll ist es, Funktions- und Legitimationskrisen als miteinander vermittelt zu begreifen: Die Artikulation von Funktionskrisen konstituiert das Terrain des Politischen155 – das Terrain von Auseinandersetzungen um Hegemonie, auf dem die Artikulation antagonistischer Forderungen möglich wird und sich eine Legitimationskrise der Hegemonie herausbilden kann. Zugleich hat die Artikulation von Kritik156 bzw. eine Legitimationskrise selbst dislokatorische Effekte auf die Hegemonie, das heißt sie trägt zu einer verstärkten Politisierung bei. Hinsichtlich der neoliberalen Bearbeitung des Klimawandels wird eine Legitimationskrise einerseits deutlich, wenn der Glaube an marktliberale Grundsätze in Politik, Medien und Öffentlichkeit zunehmender Skepsis ausgesetzt ist. Andererseits zeigt sich eine derartige Krise, wenn die Angemessenheit der vorherrschenden politischen Bearbeitung sozial-ökologischer Problemlagen nicht nur in der Wissenschaft hinterfragt wird: „The dominant forms of global environmental governance – for example, at the international level, the Kyoto Protocol of the Framework Convention on Climate Change or the Convention on Biological Diversity, environmental political institutions and processes at the regional, national and local levels – are more and more considered inadequate by scientists as well as the wider public (…).“ (BRAND 2009a: 107; vgl. im Weiteren hierzu PARK ET AL. 2008)

Die Dislokationen durch Artikulation der hier dargestellten multiplen Krise ziehen eine Reihe von Effekte nach sich. Der hegemoniale Konsens wird gelockert. Das Krisen-Konglomerat trägt zu einer temporären Destabilisierung der Neoliberalismus bei und eröffnet ein Terrain von Auseinandersetzungen um dessen Aufrechterhaltung bzw. Anfechtung (vgl. BRAND & SEKLER 2009b; BRAND 2011). Auf diesem sich herausgebildeten Terrain des Politischen werden zuvor ausgeschlossene Perspektiven artikulierbar. „Begriffe wie ‚Markt‘, ‚Wachstum‘, ‚Wohlstand‘ oder ‚Stabilität‘, die vorher fest in den neoliberalen Konsens eingebettet waren, wurden erheblich gelockert und in ihrem bisherigen 155 Insofern besteht kein funktionaler Zusammenhang zwischen Funktionskrise und Reproduktion der Hegemonie oder gesellschaftlichem Wandel. Bereits Gramsci kritisiert eine derartige funktionalistische Betrachtungsweise hinsichtlich ökonomischer Strukturveränderungen: „Ausgeschlossen kann werden, daß die unmittelbaren Wirtschaftskrisen von sich aus fundamentale Ereignisse hervorbringen; sie können nur einen günstigeren Boden für die Verbreitung bestimmter Weisen bereiten, die für die ganze weitere Entwicklung des staatlichen Lebens entscheidenden Fragen zu denken, zu stellen und zu lösen“ (Gramsci 1991ff.: 1563 zitiert in BORG 2001a: 103). 156 Zu den dislokatorischen Effekten antagonistischer Artikulationen (Forderungen) siehe auch Kapitel II.2.5.

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Bedeutungsgefüge erschüttert. Natürlich hat dies auch Auswirkungen auf den klimapolitischen Diskurs, in dem solche Begriffe eine ähnlich prominente Rolle besetzen. Und diese dislocation hat sozialen Kräften Handlungsspielraum eröffnet.“ (METHMANN 2011: 120)

Auf dem Terrain des Politischen agiert eine Vielzahl von sozialen Kräften, darunter „emancipatory, liberal social democratic, (market) liberal, conservative, reactionary and other actors“ (BRAND 2009a: 108). Formiert in Diskurskoalitionen ringen sie um die Hegemonialisierung konkurrierender Hegemonieprojekte.157 Auf dem politisierten Terrain treten dabei neue Akteure in Erscheinung. Hinsichtlich der UN-Klimaverhandlungen lässt sich so beispielsweise mit der Politisierung eine Zuwendung von entwicklungspolitischen Organisationen ausmachen. Organisationen, die sich zuvor mit der Neoliberalisierung des Klimas vom Klimathema abgewendet hatten (OTT ET AL. 2008: 94; UNMÜßIG 2011: 49): „Oxfam, Christian Aid oder in Deutschland Misereor und Brot für die Welt sind nun wieder klimapolitisch aktiv, ob in der neugegründeten deutschen Klima-Allianz oder in Entwicklungsländern mit entsprechenden Programmen und PartnerInnen.“

Mit diesen neuen zivilgesellschaftlichen Akteuren sind ‚vergessene‘ oder vernachlässigte Themen wie Klimagerechtigkeit und Armut auch in die Verhandlungsprozesse zurück gekehrt.“ (UNMÜßIG 2011: 49) Das folgende Kapitel geht näher auf Effekte der Dislokationen – d.h. auf Effekte der Krisenartikulationen – ein. Im Vordergrund der Ausführungen steht die Formierung eines „gegen“-hegemonialen Projektes. Das Kapitel widmet sich dabei insbesondere der Konstituierung von kritischen Akteursnetzen und deren Artikulation von – gegenüber der neoliberalen Hegemonie – antagonistischen Forderungen, d.h. der Artikulation des mit der Neoliberalisierung des Klimas ausgeschlossenen radikal Anderen.

157 Brand fasst entsprechende Projekte hingegen analytisch unter dem Begriff der „postneoliberal strategies and politics concerning the appropriation of nature“ (BRAND 2009a: 108, Hvb. P.B.). Eine postneoliberale Strategie muss sich jedoch nicht notwendigerweise als Bruch mit dem Neoliberalismus darstellen. Der Begriff soll hingegen dazu beitragen Kontinuitäten und Diskontinuitöten offenzulegen (ebd.: 108). Eine Verwendung des Begriffs Postneoliberalismus in einem strategischen bzw. politischen Sinn ist umstritten (SEKLER 2009: 69).

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IV.3.3 Formierend: Dislokatorische Effekte der multiplen Krise – der Einbruch des ‚radikal Anderen‘ in den Diskurs Dislokationen in Gestalt von Krisenartikulationen politisieren die Global Climate Governance; dies wurde im vorherigen Kapitel dargestellt. Das sich konstituierende Terrain des Politischen öffnet Handlungsspielraum für eine Vielzahl sozialer Kräfte. Möglich wird eine verstärkte Artikulation kritischer – antagonistischer – Forderungen. Zugleich wird die Organisation von kritischen Netzwerken begünstigt. Im vorliegenden Kapitel soll näher auf spezifische dieser an den verstärkten Auseinandersetzungen um Hegemonie beteiligten Kräfte und die von ihnen vorgebrachten Forderungen eingegangen werden. In den Blick genommen werden die Akteursnetze von »sozialen Bewegungen« und »NGOs«, die die Forderung nach Climate Justice artikulieren. Die Konstituierung entsprechender Netze kann grundsätzlich bereits ab Ende der 1990er Jahre ausgemacht werden. Ab Mitte der 2000er Jahre verstärkt jedoch die oben umrissene Politisierung die Konstituierungs-Prozesse. Deutlich wird dies anhand der Vielzahl von Ereignissen seit diesen Jahren, die für die Formierung eines Hegemonieprojekts um »Climate Justice« von Bedeutung sind. Das Kapitel gliedert sich in zwei Abschnitte. In einem ersten Teil des Kapitels (IV.3.3.1) wird auf die Konstituierung von Akteuren und Akteursnetzen eingegangen, die sich durch einen antagonistischkonfliktiven Politikstil auszeichnen. Dargestellt werden hierbei neben historischen Bezugspunkten und prägenden Ereignissen, die Heterogenität der sich neu herausbildenden Netze sowie grundsätzliche Veränderungen, die sie im zivilgesellschaftlichen Feld anzeigen. Der zweite Teil des Kapitels (IV.3.3.2) widmet sich der durch die Akteursnetze vorangetriebenen Programmatik. Zusammen mit der Forderung nach Climate Justice werden wiederkehrend bestimmte – gegenüber der Hegemonie des Neoliberalismus antagonistische – Forderungen artikuliert. Die Forderung nach Gerechtigkeit ist nun keineswegs mehr auf unterschiedliche Reduktionsverpflichtungen von Entwicklungsländern in Bezug auf ihre Treibhausgasemissionen begrenzt,158 sondern sie zielt auf die gesellschaftliche Verursachung und sozialen Folgen des Klimawandels. Mit dieser Programmatik um Climate Justice bricht das

158 In gewisser Weise ist schon die Formulierung in der UN-Klimarahmenkonvention von 1992, dass die Vertragsparteien „auf der Grundlage der Gerechtigkeit und ihren gemeinsamen aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten“ (UNFCCC 1992: Art. 3) das Klimasystem schützen sollen, eine Referenz auf die Forderung nach Gerechtigkeit im Klimawandel. Diese Forderung bleibt in der Konvention jedoch sehr unpräzise und wird im Wesentlichen auf die unterschiedlichen Reduktionsverpflichtungen bezogen.

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mit der Neoliberalisierung des Klimas ausgeschlossene ‚radikal Andere‘ (vgl. Kap. IV.3.1) in den hegemonialen Diskurs ein. IV.3.3.1 Die Konstituierung antagonistisch-konfliktiver Akteursnetze Dargestellt wird im Folgenden die Herausbildung antagonistisch-konfliktiver Akteursnetze »sozialer Bewegungen« und »NGOs«, die die Forderung nach Climate Justice artikulieren. Dies erfolgt in vier Schritten: Eingegangen wird erstens auf die Debatte um Environmental Justice als einem historischen Bezugspunkt der Akteursnetze (a). Nachgezeichnet wird, wie das zunächst lokal und national verankerte Konzept der »Environmental Justice« ab Ende der 1990er Jahre eine Internationalisierung erfährt, die sich insbesondere in der Zuwendung zum Klimathema – zur Forderung nach Climate Justice – zeigt. Resümiert werden zweitens für diesen Prozess prägende Ereignisse (b) – darunter Konferenzen, Statements und Berichte. Daran anschließend wird auf einzelne der sich konstituierenden Netze selbst eingegangen – darunter die »NGO«-Koalition Climate Justice Now! bzw. das Phänomen der Klimacamps. Skizziert wird drittens die Heterogenität der Akteursnetze (c), d.h. die Unterschiede hinsichtlich ihrer Zusammensetzung, ihrer zeitlichen Befristung, ihrer Strategien sowie hinsichtlich der räumlichen Ebenen (scales), auf denen sie an sozialen Auseinandersetzungen beteiligt sind. Die Konstitution der sich heterogen darstellenden Akteursnetze zeigt grundsätzliche Veränderungen im zivilgesellschaftlichen Akteursfeld (d), das auf die Klimapolitik ausgerichtet ist, an. Diese Veränderungen werden zum Abschluss des ersten Teils dargestellt. Eingegangen wird dabei insbesondere auf eine Verschiebung von institutionalisierten hin zu weniger institutionalisierten Akteuren, auf das Auftreten eines neuartigen konfliktiven Politikstils und die Bereitschaft zivilgesellschaftlicher Akteure zum Schulterschluss zwischen verschiedenen Strömungen (inside / outside; »NGOs« / »Bewegungen«). (a) Die Debatte um Environmental Justice als historischer Bezugspunkt Geht es um die Darstellung der Genese der »Climate Justice«-Programmatik und der sie vorantreibenden Akteursnetze, so macht es Sinn, einen Blick auf die »soziale Bewegung« zu Environmental Justice zu richten, die in den 1980er und 1990er Jahren in Amerika in Erscheinung tritt (vgl. BULLARD 1990, 1994; COLE & FOSTER 2001; CHECKER 2005: 20ff.), denn die »Climate Justice«-Programmatik fußt, wie es Dawson ausdrückt, „on the deep and powerful roots of the environmental justice movement“ (DAWSON 2010: 316). In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wird der Ursprung der »Environmental Justice«-Bewegung in einem Ereignis im Jahr 1982 in North Carolina (USA) gesehen. Das Vorhaben, dort eine Giftmüll-Deponie auf dem Gebiet einer „rural, poor, and mostly African American community“ einzurichten, stieß auf

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vehementen öffentlichen Protest (CHECKER 2005: 20). Zwei für die weitere Bewegungsdynamik bedeutende Studien, die im Anschluss an dieses Ereignis veröffentlicht wurden, kamen zu dem Ergebnis, dass „race“ – und nicht das Einkommen – die signifikante Variable159 bei der Festlegung von Abfalldeponien in den USA bzw. dem globalen Süden sei (ebd.). Zunächst formierte sich in den USA die Protest-Bewegung – vielfach konstituiert durch Betroffene – entsprechend unter der Definition des „environmental racism“ (ROBERTS 2007: 285). Die Öffnung der »sozialen Bewegung« hin zur Forderung nach Environmental Justice erweiterte ihr Mobilisierungspotential hin zu anderen Menschen – beispielsweise indigenen und armen –, die sich mit einer als ungerecht erfahrenen Verteilung von Umweltgefahren konfrontiert sahen (ebd.; PEZZULLO & SANDLER 2007: 5). „[E]nvironmental justice embraces the concept that every individual – regardless of race, ethnicity, or class – has the right to be free from ecological destruction and deserves equal protection of his or her environment, health, employment, housing, and transportation.“ (ROBERTS 2007: 288)

Die »Environmental Justice«-Bewegung grenzt sich hinsichtlich verschiedener Aspekte deutlich von der traditionellen Umweltbewegung ab (PEZZULLO & SANDLER 2007: 7ff.; SANDLER & PEZZULLO 2007, vgl. im Folgenden DAWSON 2010: 324): In ihrem Protest-Repertoire orientiert sie sich an der Bürgerrechtsbewegung; es sind wesentlich Frauen, die die »soziale Bewegung« tragen – vielfach wegen ihres Anliegens, Familie und Gemeinschaft zu schützen; die Bewegung entspringt und widmet sich den Anliegen der armen Bevölkerungsteile und – schlussendlich – verschränkt die Bewegung die Forderung nach ökologischer Gerechtigkeit mit der nach sozialer Gerechtigkeit. „Environmental justice advocates hence called not just for freedom from contamination but also for access to environmental and social goods such as safe, well-paying jobs. Arguably the most significant aspect of the environmental justice movement, however, was its challenge to the wilderness ethic that underlay the efforts of mainstream environmental organizations.“ (Ebd.: 324, Hvb. im Original)

Auch über die USA hinaus hat sich das Phänomen der »Environmental Justice«Bewegung verbreitet. Deutlich wird dies bereits an den für die Konstituierung der

159 Roberts hebt hervor, dass der mit der Idee von »Environmental Justice« thematisierte Rassismus bewusst und unbewusst sowie beabsichtigt und unbeabsichtigt sein kann (ROBERTS 2007: 289).

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Bewegung bedeutenden „Seventeen Principles of Environmental Justice“160 aus dem Jahr 1991, an deren Formulierung während des People of Color Environmental Leadership Summit über 700 Aktivist_innen aus den USA, Mittel- und Lateinamerika und Kanada mitwirkten (CHECKER 2005: 21; PEZZULLO & SANDLER 2007: 4ff.). Mit den Prinzipien beschlossen die Aktivist_innen, Aktivitäten auf der GraswurzelEbene zu initiieren (CHECKER 2005: 21). Die Idee der Environmental Justice verbreitet sich in den Folgejahren zunehmend auch international (AGYEMAN ET AL. 2007: 136; ROBERTS 2007; WALKER 2009): Aktivist_innen an verschiedenen Orten der Welt greifen so erstens den Begriff der Environmental Justice auf, um Gerechtigkeitsaspekte der von ihnen auf lokaler Ebene geführten sozialen Auseinandersetzungen hervorzuheben – seien es beispielsweise die »soziale Bewegung« der Ogoni gegen die Ölförderung durch Shell in Nigeria (OSUOKA 2010) oder der U‘Wa in Kolumbien: „[I]n broad terms, these struggles frequently feature indigenous populations displaced by huge dams and other megaprojects that are built by governments and corporations“ (ROBERTS 2007: 291). Diese Auseinandersetzungen betreffen „environmental distributional conflicts“, die im gesamten globalen Süden weitverbreitet sind161 (ebd.: 291, mit Verweis auf Guha & Martinez-Alier 1997, s.a. ADEOLA 2000). Zweitens beziehen sich Aktivist_innen aus einer strategischen Perspektive auf Environmental Justice, um die Trennung zwischen Umweltaktivist_innen und Social Justice-Aktivist_innen zu überwinden (ROBERTS 2007: 298f.). Diese zwei Aspekte der Globalisierung von Environmental Justice können einer „‘horizontal’ diffusion“ zugerechnet werden, das heißt dem Auftreten von „language and rhetoric of environmental justice in new settings around the world“ (WALKER 2009: 355, 356). Ergänzt wird die horizontale Diffusion durch eine vertikale Ausbreitung (ebd.). Einerseits kommt es zur Herausbildung von transnationalen Solidaritäts-Netzwerken, die Bezug auf Environmental Justice nehmen, denn bei den oben thematisierten Verteilungskonflikten handelt es sich vielfach um Auseinandersetzungen, in denen lokale Gemeinschaften globalen Unternehmen und deren Aktivitäten gegenüberstehen (ROBERTS 2007: 286, 291f.). Die vertikale Ausbreitung betrifft also zum einen „concerns that do not end at national borders but that involve relations between countries“ (WALKER 160 Siehe unter EJRC 1996. Auf der Grundlage der siebzehn Prinzipien und ihnen zugrunde liegenden Themen erarbeitet Taylor einen „Environmental Justice Master Frame“ (TAYLOR 2000: 537ff.). 161 Die weite Verbreitung von Auseinandersetzungen im globalen Süden, in denen Gerechtigkeitsfragen mit Fragen der Ökologie verbunden werden, findet ihren Ausdruck in der wissenschaftlichen Debatte. Wissenschaftliche Studien, die die Auseinandersetzungen zu greifen versuchen, verwenden zu deren Beschreibung vielfältige Begrifflichkeiten wie „‘livelihood ecology’, ‘liberation ecology’, ‘subaltern environmentalism’ and the so-called environmentalism of the poor“ (ROBERTS 2007: 291).

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2009: 355, 356), zum anderen betrifft sie die Übertragung der Idee von Environmental Justice von der lokalen Ebene auf globale Themen wie „trade agreements, transfers of wastes and climate change“ (ebd.: 355, vgl. auch ROBERTS 2007: 293ff.). Die Übertragung von Environmental Justice auf das Thema Klimawandel findet ihren Ausdruck in der Forderung nach Climate Justice.162 Erstmals formuliert wird diese Forderung durch indigene Gruppen in den USA Mitte der 1990er Jahre163 (KAUFMANN & MÜLLER 2009: 195; TOKAR 2010: 46). Auf lokaler Ebene städtischer Politik wird die Forderung in den USA zunehmend von der dort breit verankerten »Environmental Justice«-Bewegung aufgegriffen (TOKAR 2010: 30; DAYANENI 2009: 82f.). Auf internationaler Ebene sind es Aktivist_innen des Indigenous Environmental Networks, denen hinsichtlich der Artikulation von Climate Justice eine wesentliche Rolle zukommt (TOKAR 2010: 30). Die Herausbildung von Akteursnetzen um Climate Justice erfolgt insofern, so kann festgestellt werden, auf zwei miteinander verschränkten Ebenen: zum einen auf der nationalen – US-amerikanischen – sowie zum anderen auf der internationalen Ebene. Dies soll im Weiteren näher dargestellt werden. (b) Prägende Ereignisse Eine Reihe von Ereignissen ab Ende der 1990er Jahre unterstützen eine inhaltliche Füllung der Forderung nach Climate Justice und die Herausbildung von sie tragenden Akteursnetzen. Bedeutend ist zunächst ein Bericht der US-»NGO« CorpWatch aus dem Jahr 1999, mit dem der Klimawandel anhand von Gerechtigkeitsfragen eine Neudefinition erfährt (ROBERTS & PARKS 2009: 395; DAWSON 2010: 327). Der Bericht wendet sich vor allem gegen die Ölindustrie sowie Institutionen wie der Weltbank, denen eine wesentliche Verantwortung für den Klimawandel und seine politisch unangemessene Bearbeitung zugesprochen wird (ROBERTS 2007: 294). Hinsichtlich der Lösung der Klimakrise werden mit dem Bericht KohlenstoffMärkte als eine Illusion kritisiert (DAWSON 2010: 330) – und dies noch vor deren Einführung. In dem Bericht mit dem Titel „Greenhouse Gangsters vs. Climate 162 Walker weist darauf hin, dass mit der Forderung nach Climate Justice nicht erstmalig Gerechtigkeitsaspekte des Klimawandels thematisiert werden (vgl. auch Fußnote 158 auf Seite 149): „While as for other international concerns, environmental justice collective action has not newly ‘discovered’ the justice implications of climate change mitigation and adaptation, it is significant that these have increasingly been positioned within an environmental justice frame“ (WALKER 2009: 373). 163 Tokar schreibt die erstmalige Artikulation der Forderung nach Climate Justice Mitte der 1990er Jahre dem Gründer des Indigenous Environmental Network Tom Goldtooth zu (TOKAR 2010: 45f.).

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Justice“ (BRUNO ET AL. 1999) wird Climate Justice als Bezugspunkt einer breit aufgestellten »sozialen Bewegung« konzipiert: „The ranks of those fighting for Climate Justice are filled by democracy movements struggling against oil interests around the world. They include communities polluted by refineries and working for environmental justice in the United States, as well as Indigenous people trying to maintain their cultures and their lands. Residents of smog-filled cities, and students seeking to reign in unaccountable university investments all can be advocates for Climate Justice. Activists working to generate democratic control over corporations and to reverse the destructive dynamics of globalization, along with those fighting the environmentally destructive policies of the World Bank and the World Trade Organization, are also advocates of Climate Justice.“ (BRUNO ET AL. 1999: 3)

Der von CorpWatch veröffentlichte Bericht erfährt eine weite Rezeption im Feld von »Environmental Justice«-Aktivist_innen. Er dient als Grundlage für eine Resolution zu Climate Justice, die im Jahr 2002 im Rahmen des – für die »Environmental Justice«-Bewegung bedeutenden – internationalen „Second People of Color Environmental Leadership Summit“ verabschiedet wird (TOKAR 2010: 46). Neben den indigenen Aktivist_innen ist CorpWatch eine treibende Kraft164 für die Mobilisierung internationaler – auf die Forderung nach Climate Justice orientierter – Akteurszusammenschlüsse. CorpWatch zielt darauf, die auf lokaler bzw. nationaler Ebene geführten Auseinandersetzungen um Environmental und Climate Justice auf die globale Ebene zu heben und unterstützt hierzu die Organisation »sozialer Bewegung« (DAWSON 2010: 328). Ein Blick auf die nationale Ebene: In den USA kommt es im Jahr 2001 zur Bildung der ‚Environmental Justice and Climate Change Initiative‘ (EJCC), eines Zusammenschlusses von 28 auf lokaler bzw. nationaler Ebene aktiver Gruppierungen (ROBERTS 2007: 295; DAWSON 2010: 330; vgl. ausführlicher zur Initiative AGYEMAN ET AL. 2007: 139ff.). Die Initiative umfasst gegenüber Gruppen des Mainstream der Umweltbewegung ausschließlich Zusammenschlüsse von »Environmental Justice«-Aktivist_innen (ROBERTS 2007: 295). Mit der Ausrichtung einer Konferenz zum Thema ‚Environmental Justice and Climate Change‘ an der Universtität von Michigan im Jahr 2004 wird durch die EJCC-Initiative eine Auseinandersetzung über das Verständnis von Climate Justice und mögliche Strategien einer »sozialen Bewegung« initiiert, die in der Verabschiedung einer Climate Justice-

164 Neben der Veröffentlichung des Berichts ist CorpWatch unter anderem Mitorganistor des ersten ‚Climate Justice Summit‘ 2000 in Den Haag (KARLINER 2000; ROBERTS 2007: 294) und zählt zu den Initiatoren der Delhi Climate Justice Declaration sowie der Bali Principles on Climate Justice.

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Declaration mündet (ebd.). Ebenso wie CorpWatch hebt die Initiative den zerstörerischen Einfluss von Kohlenstoff-Märkten hervor (DAWSON 2010: 330). Auf internationaler Ebene trägt die Ausrichtung einer Reihe alternativer Gipfel im Umfeld der UN-Klimaverhandlungen zur Verbreitung der Forderung nach Climate Justice und der Vernetzung von Akteuren bei.165 Das erste Climate JusticeSummit zeitgleich zur COP6 in Den Haag im Jahr 2000 bringt GrawurzelAktivist_innen aus dem globalen Norden sowie dem globalen Süden zusammen, darunter eine Vielzahl von »Environmental Justice«-Aktivist_innen aus Nordamerika (KARLINER 2000; PETTIT 2004: 104; AGYEMAN ET AL. 2007: 137): „More than 500 grassroots leaders from Asia, Africa, Latin America, and North America gathered to build bridges across borders and thematic issues. Regional and international networks quickly merged, building the foundation of a global grassroots movement to tackle climate change.“ (CHAWLA 2009: 119)

Der Großteil der Aktivist_innen begreift marktorientierte Lösungsansätze als Teil des Problems und nicht der Lösung und lehnt das im offiziellen Prozess verhandelte Kyoto-Protokoll als Projekt des globalen Nordens ab, weil er sich damit von grundsätzlichen Veränderungen seiner Produktions- und Konsumtionsweisen freikaufe (PETTIT 2004: 103). Insbesondere die »Environmental Justice«-Aktivist_innen aus dem globalen Norden treten jedoch in Den Haag und darüber hinaus für das KyotoProtokoll und dessen Unterzeichnung durch die USA ein (ebd.: 104).166 Trotz der geteilten Meinung über das Kyoto-Protokoll besteht jedoch unter den Teilnehmer_innen des Summits Einigkeit über die Bedeutung von Gerechtigkeitsaspekten des Klimawandels: „All of them emphasise the hugely disproportionate effects of climate change on their poverty and marginalisation, which they remind us is not a new issue and which they frame in the language of rights.“ (Ebd.)

Ähnliche Divergenzen und Gemeinsamkeiten zeigen sich beim Climate Justice Summit in Neu Delhi im Jahr 2002 (ebd.: 103). Während der COP8 versammelt das Summit über 1500 Teilnehmer_innen, darunter neben Angehörigen internationaler Gruppen – wie beispielsweise dem Indigenous Environmental Network, dem World Rainforest Movement, Oilwatch International oder Friends of the Earth Internatio165 Zur grundsätzlichen Bedeutung solcher „convergence spaces“ siehe auch Routledge (2003). 166 Ein Grund dafür ist auch, dass in den USA neo-konservative Gruppierungen die die historisch konstituierten politischen Gegnern der Environmental-Justice-Bewegung darstellen, das Kyoto-Protokoll grundsätzlich ablehnen (PETTIT 2004: 103).

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nal – zahlreiche Aktivist_innen aus Indien: „fishworkers, farmers, Indigenous Peoples, Dalits [Unberüherbare, P.B.], the poor and the youth“ (INDIA CLIMATE JUSTICE FORUM 2002). Das Summit versteht sich als „platform for people and communities most affected by climate change who have been left out of the UN negotiations“ (KHASTAGIR 2002). In ihrer gemeinsamen Erklärung bekunden die Teilnehmer_innen des Summits den Willen, eine »soziale Bewegung« zu erschaffen. Zukünftig sollen transnationale Allianzen gebildet werden, um das Klimathema aus einer Perspektive sozialer Gerechtigkeit bzw. der Menschenrechte anzugehen (INDIA CLIMATE JUSTICE FORUM 2002). Während der Konferenz in Delhi demonstrieren die Aktivist_innen ihre breite Aufstellung mit einem Marsch für Climate Justice, an dem über 5000 Personen teilnehmen (CORPWATCH 2002). Mit den Bali Principles of Climate Justice aus dem Jahr 2002 sowie der Durban Declaration on Carbon Trading aus dem Jahr 2004 erfährt die Forderung nach Climate Justice eine weitere inhaltliche Füllung. Für zahlreiche klimapolitisch orientierte »soziale Bewegungen« und »NGOs« stellen die beiden Erklärungen bedeutende Bezugspunkte dar. Anhand des mit den Erklärungen gemeinsam getragenen Konsenses bilden sich Akteursnetze heraus. Die Bali Principles of Climate Justice wurden im Rahmen der Verhandlungen zur Vorbereitung des Weltgipfels zu Nachhaltiger Entwicklung in Johannesburg (United Nations World Summit on Sustainable Development) von einer Gruppe von 14 »NGOs« aus dem globalen Norden und Süden formuliert, darunter CorpWatch (USA), Friends of the Earth International, Greenpeace International, das Indigenous Environmental Network (Nordamerika) und das Third World Network (Malaysia)167 (vgl. INTERNATIONAL CLIMATE JUSTICE NETWORK 2002). Die Breite des Bündnisses – insbesondere die Unterstützung durch Greenpeace – hat mit ihren Grund in der Positionierung gegenüber Marktmechanismen. Zwar werden diese in den Principles in der Art, wie sie von transnationalen Unternehmen vorangetrieben werden, abgelehnt (INTERNATIONAL CLIMATE JUSTICE NETWORK 2002). Eine grundsätzliche Absage wird ihnen jedoch nicht erteilt (vgl. auch GOODMAN 2009: 502): „Climate Justice affirms that any market-based or technological solution to climate change, such as carbon-trading and carbon sequestration, should be subject to principles of democratic accountability, ecological sustainability and social justice.“ (INTERNATIONAL CLIMATE JUSTICE NETWORK 2002) 167 Im Weiteren zählen zur Gruppe: Global Resistance, groundwork (Süd Afrika), das Indigenous Information Network, (Kenya), die National Alliance of People’s Movements (Indien), das National Fishworkers Forum (Indien), OilWatch Africa, OilWatch International, das Southwest Network for Environmental and Economic Justice (USA), das Third World Network (Malaysia) und das World Rainforest Movement (Uruguay). (Vgl. INTERNATIONAL CLIMATE JUSTICE NETWORK 2002)

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Mit der Durban Declaration on Carbon Trading hingegen wird eine grundsätzliche Kritik an verschiedenen, insbesondere marktorientierten, Lösungsansätzen formuliert:168 „As representatives of people’s movements and independent organisations, we reject the claim that carbon trading will halt the climate crisis. This crisis has been caused more than anything else by the mining of fossil fuels and the release of their carbon to the oceans, air, soil and living things.“ (DURBAN GROUP FOR CLIMATE JUSTICE 2004)

Im Rahmen des durch die Organisation Carbon Trade Watch ausgerichteten Durban Climate Justice Summit kommen etwa „30 scientists, experts and representatives from universities, environmental, development, and human rights organizations“ zusammen, um die vorherrschenden Lösungsansätze kritisch zu diskutieren und Alternativen hervorzuheben (DORSEY 2007: 17). Verabschiedet wird die Durban Declaration von 20 Organisationen aus Europa, den USA, Lateinamerika, Indien und Afrika (GOODMAN 2009: 502; TOKAR 2010: 46), darunter Carbon Trade Watch, das Indigenous Environmental Network und das Global Justice Ecology Project (USA).169 Unterzeichnet wird die Erklärung im Anschluss an das Summit von mehr als 160 weiteren Gruppierungen (DURBAN GROUP FOR CLIMATE JUSTICE 2004). (c) Zur Heterogenität der Akteursnetze Im Kontext der hier skizzierten Ereignisse ab Ende der 1990er Jahre kommt es zur Konstituierung verschiedener Akteursnetze, die sich der Forderung nach Climate Justice verpflichten. Die sich konstituierenden Akteursnetze unterscheiden sich in vier Aspekten: in ihrer Zusammensetzung, ihrer zeitlichen Befristung, ihren Strate168 Weiter fundiert wird die mit der Durban Declaration formulierte Kritik anhand des Berichts ‚The Sky is Not the Limit‘ von Carbon Trade Watch (2003) sowie der Studie ‚Carbon Trading‘ von Larry Lohmann (LOHMANN 2006). (Vgl. auch BOND 2012a: 695) 169 Im Weiteren zählen zu den Erstunterzeichnenden Organisationen: Climate & Development Initiatives (Uganda), Coecoceiba-Amigos de la Tierra (Costa Rica), CORE Centre for Organisation Research & Education (Manipur, Indien), Delhi Forum, (Indien), Earthlife Africa (ELA – eThekwini Branch, Süd Afrika), FERN (EU), FASE-ES / Green Desert Network (Brasilien), groundwork (Süd Afrika), National Forum of Forest People And Forest Workers (NFFPFW – Indien), Patrick Bond, Professor, University of KwaZulu Natal School of Development Studies (Süd Afrika), O le Siosiomaga Society (Samoa), South Durban Community Alliance (SDCEA – Süd Afrika), Sustainable Energy & Economy Network (USA), The Corner House (UK), Timberwatch Coalition (Süd Afrika), World Rainforest Movement (Uruguay). (Vgl. DURBAN GROUP FOR CLIMATE JUSTICE 2004)

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gien sowie – auch damit verbunden – den räumlichen Ebenen (scales), auf denen sie an sozialen Auseinandersetzungen beteiligt sind. Erstens stehen Netzwerken, die sich primär aus Gruppierungen zusammensetzen, die sich durch eine formale Organisation kennzeichnen, Netzwerken aus stärker basisorientierten Gruppen gegenüber. Zweitens können single-issue-Netze, die auf einzelne Ereignisse orientiert und damit zeitlich befristet sind, von policy-Netzen abgegrenzt werden, die sich durch Kontinuität auszeichnen (vgl. WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 137f., 255f.; zu den Netzwerktypen vgl. RHODES 1996). Drittens unterscheiden sich die Netzwerke in ihrer strategischen Ausrichtung – ihrer Orientierung hin auf den offiziellen Verhandlungsprozess im Kontext der UNFCCC. Unterschieden werden können Netzwerke, die primär innerhalb (‚inside‘) des UNFCCC-Prozesses agieren von solchen die primär außerhalb (‚outside‘) davon in Erscheinung treten (vgl. DRYZEK & STEVENSON 2010: 20ff.; LONG ET AL. 2010: 226) – wobei bereits hier darauf hinzuweisen ist, dass es ein Merkmal der Akteursnetze um Climate Justice ist, den scheinbaren Gegensatz von inside- und outside-Orientierung zu transzendieren (vgl. im Weiteren hierzu Seite 174 in Kap. IV.3.3.1). ‚Inside‘ der UNFCCC agieren Netzwerke aus Gruppierungen, die als akkreditierte sogenannte Observer-Organisationen den Verhandlungsprozess kritisch begleiten und versuchen, auf dessen Ergebnisse Einfluss zu nehmen. ‚Outside‘ des offiziellen Prozesses versuchen Netzwerke einen „alternative political space“ zu erschaffen (LONG ET AL. 2010: 226), in dem sie eigene und oftmals marginalisierte Inhalte versuchen stark zu machen. Schließlich agieren Netzwerke auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen: Unterschieden werden können Netzwerke, die im Umfeld der internationalen Verhandlungen wirken von solchen, die lokale Auseinandersetzungen in den Blick nehmen. Während für erstere Climate Justice für einen „rights-based / justice-based approach to climate policy“ steht (DAYANENI 2009: 81f.), verbindet für letztere Climate Justice eine Vielzahl von lokalen Auseinandersetzungen. Gesprochen werden kann hier vielmehr von einer „struggles-based climate justice“ (ebd.: 82f.). Im Folgenden sollen einzelne der sich konstituierenden Netzwerke, die auf Climate Justice Bezug nehmen, anhand des letzten Unterscheidungsmerkmals – den räumlichen Maßstabsebenen – geordnet und näher dargestellt werden. Begonnen werden soll zunächst mit den Netzwerken, die im Umfeld der internationalen Verhandlungen agieren. Für die sich hier konstituierenden Akteursnetze kommt der Vertragsstaatenkonferenz der UNFCCC in Bali 2007 (COP13) eine zentrale Bedeutung zu. Aufgrund von politisch-strategischen Differenzen kommt es dort zu einer Abspaltung170 aus dem größten (policy-)Netzwerk klimapolitisch 170 Ein Ausgangspunkt für die Vernetzung der sich sich gegenüber CAN kritisch positionierenden Gruppen stellte das Alternativ-Forum „solidarity village for a cool planet“ während der UN-Verhandlungen in Bali dar. Die Organisation gemeinsamer Aktionen dieser Gruppen innerhalb des offiziellen Prozesses resultierte in der Erfahrung einer gu-

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orientierter Gruppierungen, die innerhalb des offiziellen Verhandlungsprozesses als akkreditierte Gruppen agieren, dem Climate Action Network (CAN – vgl. auch Seite 115f. in Kap. IV.1.3). Einzelne Akteure innerhalb des Netzwerkes lehnen den affirmativen Politikstil (vgl. hierzu Seite 134ff. in Kap. IV.3.1) der führenden Organisationen in CAN vehement ab – einen Politikstil, der den institutionelle Rahmen wie auch den abgesteckten Weg der marktorientierten und technologiefixierten Instrumente nicht in Frage stellt. „CAN members, including Friends of the Earth International and some national affiliates, voiced concerns about lead Northern NGOs promoting their own governments‘ interests over those of the developing countries. They also accused them of blocking the network from adopting more critical and activist stances against powerful governmental and economic actors and in defence of the planet and its majority of people. These critiques resonated with some Southern-based networks and embedded partisan NGOs who were coming to the climate talks for the first time.“ (REITAN 2011: 60, Hvb. im Original)

Aus dem politisch-strategischen Dissens in CAN geht das Netzwerk Climate Justice Now! (CJN!) hervor (vgl. ausführlicher bei REST 2011: 88ff.; BYRD 2012: 75ff., 107ff.; GIBSON 2011: 103ff., 2012a). „It was a sort of a little bit anti-CAN, alter-CAN space. It was for people, who either didn’t wanna join CAN or were having such difficulties in their discussions with CAN that they wanna to like have at least a separate caucus. A group of people that they could talk together.“ (Interview »Focus«: 16-20)

CJN! gründet auf einer Vielzahl von Gruppen, die bereits innerhalb CANs gegenüber dessen vorherrschenden umweltpolitischen Ausrichtung Perspektiven sozialer Gerechtigkeit hervorgehoben hatten.171 Diese Gruppen legen gegenüber den affirmativen »NGOs« in CAN einen konfrontativeren bzw. transformativen Politikstil an den Tag – „tactics and strategies the old-style NGO eschew and at times openly denounce“ (REITAN 2011: 59). Es sind im Wesentlichen zwei Überlegungen, die zur Gründung von CJN! führen:

ten Zusammenarbeit und schlussendlich in der Gründung von CJN!. (vgl. Interview mit Nicola Bullard / Focus on the Global South 2009) 171 Auch nach der Abspaltung von CAN bleiben einige Mitglieder von CJN! in CAN organisiert. Dazu zählt beispielsweise Friends of the Earth International – die erst nach der Kopenhagener Vertragsstaatenkonferenz aus CAN ausgetreten sind (UNMÜßIG 2011: 50) –, Gender CC – Women for Climate Justice oder 350.org (CJN! 2010b).

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„The first was to ensure a space for ‘the people’s voices’, especially those voices from the global South, to be heard within the UNFCCC process, and the second to facilitate an open and autonomous process for building solidarity and planning common activities; a process that, symbolically and in reality, was established in contradiction to the organizing process facilitated by CAN at the Bali meeting.“ (BYRD 2012: 48)

Zahlreiche der in CJN! versammelten Organisationen zählten im Vorfeld zu den Unterzeichnern von Climate Justice-Erklärungen (GOODMAN 2009: 503) oder sind Mitglied der Durban Group for Climate Justice (CJN! 2007). Zu den das Netzwerk vorantreibenden Organisationen zählen neben Focus on the Global South das Kleinbäuer_innen-Netzwerk La Via Campesina und das Global Justice Ecology Project.172 Diesen Organisationen kam bereits bei der Mobilisierung globalisierungskritischer Bewegung ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eine zentrale Bedeutung zu (GOODMAN 2009: 503; REST 2011: 91). CJN! zeigt eine grundsätzlich „große Schnittmenge“ mit dem Netzwerk ‚Our World is Not for Sale‘ (OWINFS), welches aus Protesten gegen das Freihandelsabkommen MAI (Multilaterales Investitionsabkommen) in den Jahren 1997/98 hervorging und darüber hinaus Widerstand gegen eine marktliberale Globalisierung formierte (PASSADAKIS & MÜLLER 2009b: 27). Derzeit schließt CJN! über 700 Organisationen173 zusammen (CJN! 2010b). Zu den zahlreichen Zusammenhängen aus dem globalen Süden innerhalb von CJN! gehören auch viele indigene Gruppen. Mit der Gründung von CJN! verliert CAN jedoch sein „de facto Monopol [...] auf die Vernetzung der international aktiven klimapolitischen Umweltszene bei den UN-Verhandlungsprozessen“ (PASSADAKIS & MÜLLER 2009a: 60). Die Bedeutung von CAN innerhalb des offiziellen Prozesses wird mit der Anerkennung CJN!s durch die UNFCCC als zusätzlicher sogenannter „focal point“ der Umwelt»NGOs« (CJN! 2010a) geschwächt. Die Verschiebung des Kräfteverhältnisses unter den akkreditierten Observer-Organisationen findet ihren Ausdruck darin, dass 172 Gründungsmitglieder von CJN! sind darüber hinaus Carbon Trade Watch – Transnational Institute, Center for Environmental Concerns, Freedom from Debt Coalition (Philippinen), Friends of the Earth International; GenderCC – Women for Climate Justice, Global Forest Coalition, International Forum on Globalization, Kalikasan-Peoples Network for the Environment, Mitglieder der Durban Group for Climate Justice, Oilwatch, Pacific Indigenous Peoples Environment Coalition (Aotearoa / Neuseeland), Sustainable Energy and Economy Network, Indigenous Environmental Network, Third World Network, WALHI / Friends of the Earth Indonesia, World Development Movement und das World Rainforest Movement (vgl. CJN! 2007). 173 Bei den hier gezählten Organisationen handelt es sich vielfach um Zusammenschlüsse von Gruppierungen auf nationaler Ebene. Oft sind die gezählten Organisationen auch Teil eines Zusammenschlusses, der Mitglied bei CJN! ist (CJN! 2010b).

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zur Vertragsstaatenkonferenz in Kopenhagen 40 Prozent der im Lager der Umwelt»NGOs« vergebenen Akkreditierungen an CJN! fielen und CAN mit CJN! in Austausch über die nun geteilten Ressourcen wie nutzbare Räume und Zeiten von Pressekonferenzen treten musste (REITAN 2011: 60). Manche Beobachter kommen zu der Einschätzung, dass sich „[m]it Climate Justice Now! […] eine bisher hier und da vereinzelt am UNFCCC-Prozess und an Kyoto geäußerte Kritik zu einer programmatischen Alternative […] verdichte[t], die zudem von einer breiten sozialen Basis vor allem im Süden getragen wird.“ (PASSADAKIS & MÜLLER 2009a: 61)174

Ein antagonistisches Verhältnis von CJN! zum hegemonialen Konsens der Global Climate Governance wird darin deutlich, dass sich CJN! gegen die strategisch selektive Bearbeitung des Klimawandels richtet – gegen die Diskussion und Umsetzung falscher Lösungsansätze wie „carbon offsetting, carbon trading for forests, agrofuels, trade liberalization and privatization pushed by governments, financial institutions and multinational corporations“ (CJN! 2007). Im Umfeld der Vertragsstaatenkonferenz in Bali tritt neben CJN! ein weiteres Netzwerk in Erscheinung, das sich ebenfalls der Forderung nach Climate Justice auf internationaler Ebene verschreibt: das People’s Movement on Climate Change (PMCC). Gegenüber CJN!, dass sich aus akkreditierten Gruppen konstituiert, die innerhalb des UNFCCC-Prozess agieren, zielt das PMCC von Beginn an auf die Einbindung von Zusammenhängen außerhalb des offiziellen Prozesses in die klimapolitische Debatte. Das People’s Movement agiert jedoch nicht ausschließlich außerhalb des offiziellen Verhandlungsprozesses, sondern versucht auch innerhalb des UN-Prozesses (insbesondere während der COP15) Einfluss zu nehmen, wenn es dort eine Reihe von Veranstaltungen ausrichtet (PMCC 2009b). Das Netzwerk formiert sich im Anschluss an eine Konferenz des Asia Pacific Research Network in Bangkok im Oktober 2007, an der etwa 170 Teilnehmer_innen aus dem Asien-Pazifik-Raum teilnehmen (PMCC 2008). Es umfasst zahlreiche Organisationen und Einzelpersonen – vorwiegend aus dem süd-ost-asiatischen Raum – und wird von einer Facilitation Group koordiniert, in der der »NGO« IBON International eine zentrale Bedeutung zukommt (PMCC 2009b).175 174 So wird bspw. während des Weltsozialforums in Belem im Jahr 2009 von der dort tagenden und insbesondere von Akteuren aus CJN! vorangetriebenen ‚Climate Justice Assembly‘ eine Climate-Justice-Deklaration verabschiedet (vgl. WSF 2009), die diese Programmatik zusammenfasst. 175 Zu dieser Gruppe zählen neben IBON das Asia Pacific Research Network (APRN), die Peoples’ Coalition on Food Sovereignty (PCFS), das Institute for National and Democratic Studies (INDIES), das International NGO Forum on Indonesian Development

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Im Rahmen der Konferenz wird der Beschluss gefasst, bis zur Klimakonferenz in Kopenhagen (COP15) ein People’s Protocol on Climate Change (PPCC) zu erarbeiten (PMCC 2008; zum verabschiedeten Protokoll-Dokument vgl. PMCC 2009d). Mit der Formierung dieses zentralen Ziels kann das People’s Movement on Climate Change als ein single-issue-Netzwerk begriffen werden. Mit der Fokussierung auf Gruppen außerhalb des offiziellen Prozesses zielt das PMCC auf den Einbezug von Perspektiven und Wünschen aus GraswurzelBewegungen in die Verhandlungen um eine Kyoto-Nachfolge-Abkommen (PMCC 2009b). Eine erste vom PMCC ausgehende Aktivität ist dementsprechend im Kontext der Vertragsstaatenkonferenz in Bali die Verabschiedung einer People’s Declaration for Climate Justice durch einen Zusammenschluss von Kleinbäuer_innen, Fischer_innen und indigenen Gruppen aus dem süd-ost-asiatischen Raum (der Sumberklampok Declaration, PMCC 2007). Das Problem des Klimawandels begreift das Netzwerk als eines sozialer Ungerechtigkeit (PMCC 2009e), dessen Lösung eine weitreichende soziale Transformation erfordere. Nicht „adaptation and mitigation but changing the whole economic framework into one of eco-sufficiency and adaptability“ sei die Herausforderung, der es zu begegnen gilt (PMCC 2009e). Echte Lösungsansätze, so das PMCC, müssen über technologische bzw. marktorientierte Ansätze hinaus gehen (PMCC 2009c). Eine soziale Transformation muss in politischen Auseinandersetzungen erkämpft werden, für die es einer Graswurzel-Bewegung bedarf – einer „grassroots-based people’s movement on climate change to promote the people’s agenda on climate action and social transformation, fight for solutions that secure justice and democratic rights for the people, and challenge efforts from powerful elite and corporate interests“ (PMCC 2009c).

Neben CJN! und dem PMCC kommt es auch unter Gruppen die ausschließlich außerhalb des offiziellen Verhandlungsprozesses agieren zur Herausbildung von Akteursnetzen, die die Forderung nach Climate Justice vorantreiben. Bereits während der COP6 in Den Haag im Jahr 2000 formiert sich so die Rising Tide Coalition for Climate Justice176 (ROBERTS & PARKS 2009: 394) als ein international orientiertes policy-Netz. Es vereint eine Vielzahl von Graswurzel-Gruppen aus verschiedenen Regionen des Globus mit einem Schwerpunkt in Europa (RISING TIDE 2002). Mit der Forderung nach Climate Justice verknüpft das Netzwerk die Ablehnung der (INFID), das Asia Pacific Forum on Women, Law and Development (APWLD), das Arab NGO Network on Development (ANND), IBON Europe, das Global Justice Ecology Project, das Kenya Debt Relief Network (KENDREN), das Green Movement of Sri Lanka (GMSL) und AidWatch (PMCC 2009b). 176 Zum Netzwerk Rising Tide siehe im Weiteren auch Tokar (2013b).

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Mechanismen des Kyoto-Protokolls aufgrund von deren Begünstigung von Unternehmensinteressen, die Forderung nach globaler Gerechtigkeit oder auch die Forderung nach der Begleichung der ökologischen Schulden des Nordens gegenüber dem Süden (RISING TIDE 2002). Die Zuwendung transnationaler »sozialer Bewegung« zur internationalen Klimapolitik markiert im Vorfeld der klimapolitischen Verhandlungen in Kopenhagen im Jahr 2009 (COP15) die Konstitution zweier single-issue-Netzwerke: Climate Justice Action (CJA) und Never Trust A COP (NTAC). Beide Netzwerke177 agieren ausschließlich außerhalb des offiziellen Verhandlungsprozesses. Mit ihnen tritt die globalisierungskritische- bzw. altermondialistische Bewegung (vgl. CHESTERS & WELSH 2006; NOTES FROM NOWHERE 2007; JURIS 2008) – für die die Proteste in Seattle 1999 oder Genua 2001 wesentliche Bezugspunkte sind – im klimapolitischen Feld in Erscheinung. Es kommt zur „diffusion of ideas, activists, and tactics“ der globalisierungskritischen Bewegung ins klimapolitische Feld (vgl. HADDEN 2013). Mit der Forderung nach Climate Justice machen diese Netzwerke eine Perspektive globaler sozialer Gerechtigkeit stark, wie sie bereits von »sozialen Bewegungen« im Kontext von Auseinandersetzungen um Handelsabkommen und Globalisierung seit Mitte der 1990er Jahre artikuliert wurde178 (PETTIT 2004: 103; JAMISON 2010: 817; GOODMAN 2009) – Anknüpfungspunkte, die deutlich werden, wenn es beispielsweise bei CJA heißt: „Ten years ago at the protests against the WTO in Seattle, a global movement emerged to proclaim that another world was possible. Today, this world is not just possible – it is necessary“ (CJA 2009d). Gegenüber CJN! oder CAN handelt es sich bei den beiden Netzwerken um bottom-up-Netzwerke aus primär basisorientierten Gruppen179, die in geringerem Maße institutionalisiert und vielfach regional oder lokal tätig sind. In ihnen kumulieren anti-kapitalistische ausgerichtete Gruppen, die das Klimathema als Feld von Auseinandersetzungen um Hegemonie entdecken, sowie Aktivist_innen aus den ab 2006 im globalen Norden in Erscheinung tretenden, vielfach anarchistisch geprägten, Klimacamps (auf die im Weiteren noch eingegangen wird). Daneben sind in CJA ebenso Gruppen treibende Kräfte, die im Rahmen von CJN! innerhalb des 177 Eine detaillierte Darstellung dieser Netzwerke – die sie tragenden Akteurskonstellationen, ihre Programmatik, ihre Politikstil und ihre Aktionsformen – gibt Rest (2011: 91ff.). 178 Goodman stellt die globalisierungskritische Bewegung und die von ihr vorangetriebene Forderung nach Global Justice den Akteuren und Forderungen um Climate Justice gegenüber (vgl. GOODMAN 2009). 179 CJA vereint über 50 Gruppen aus dem globalen Norden und dem globalen Süden. Schwerpunktmäßig stammen die Mitgliedsgruppen jedoch aus dem Norden, insbesondere aus Europa. Eine Übersicht über die Mitgliedsgruppen CJAs gibt CJA 2009c. NTAC muss als ein europäisches Netzwerk verstanden werden.

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offiziellen UNFCCC-Prozesses agieren.180 In CJA zeigt sich insofern die „Neuorganisation der bewegungsorientierten NGOs“ (REST 2011: 92). Die klimapolitischen Forderungen und die Kritik von CJA stehen der von CJN! nahe, insofern diese frustriert davon sind, wie die Verhandlungen von Unternehmensinteressen dominiert werden und dort die von ihnen als gescheitert beurteilten Marktmechanismen unbeirrt weiter vorangetrieben werden (SMITH 2009). CJA hebt die Rolle von „false and market-based climate ‘solutions’ as well as corporate domination of climate negotiations in worsening the climate crisis“ hervor und will Alternativen starkmachen, die „real and just solutions to the climate crisis“ bieten (CJA 2009a). Das stärker anarchistisch ausgerichtete Netzwerk NTAC hingegen spricht den Verhandelnden bzw. dem Verhandlungsprozess jedwede Legitimation ab: „Es ist Zeit festzustellen, dass wir die Strukturen, welche den COP15 unterstützen, in vollem Bewusstsein angreifen werden: Wir werden ihre Polizeiketten durchbrechen; wir werden uns weigern mit kriegstreiberischen Regierungen und eingebetteten Medien zu verhandeln; wir werden uns weigern, mit ausverkauften NGOs und all den Möchtegern-Managern des Protests gemeinsame Sache zu machen; wir weisen alle Regierungen und alle Formen von Governance zurück und wollen nicht lediglich die gegenwärtigen delegitimieren.“ (NTAC 2009)

Zweck der Verhandlungen in Kopenhagen sei es, „[d]ie Legitimität des globalen Kapitalismus durch Einläuten einer Ära des ‚grünen‘ Kapitalismus wieder herzustellen“ (NTAC 2009). In ihrer Mobilisierung konzentrieren sich CJA und NTAC auf die COP15 und können insofern unter dem Begriff der single-issue Netze gefasst werden. Unter dem Schlagwort ‚Reclaim Power!‘ zielt CJA auf eine Massen-Aktion zivilen Ungehorsams (zur Aktion vgl. GIBSON 2011: 188ff., 2012a: 290).181 CJA versucht so, die „Protestpraxis der Klimacamp-Prozesse bzw. anti-kapitalistischer Teile der globalisierungskritischen Bewegung auch auf den UN-Klimagipfel zu übertragen“ (REST 2011: 94; vgl. auch HADDEN 2013). CJA begreift zivilen Ungehorsam als strategisches Mittel zur Politisierung des hegemonialen Konfliktfeldes (REST 2011: 94). Ausdruck findet der zivile Ungehorsam CJAs in einem ‚Marsch der Ausgeschlossenen‘ auf das Konferenzgelände, der zeitgleich zu den UN-Verhandlungen in Ko180 Zu diesen Gruppen zählen Focus on the Global South, das Global Justice Ecology Project, das Indigenous Environmental Network oder La Via Campesina. 181 Im Aufruf zur Aktion konkretisiert das Netzwerk den Charakter von zivilem Ungehorsam: „Reclaim Power! is a confrontational mass action of non-violent civil disobedience. We will overcome any physical barriers that stand in our way – but we will not respond with violence if the police try to escalate the situation, nor create unsafe situations; we will be there to make our voices heard!“ (CJA 2009d)

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penhagen stattfindet.182 Die Tagesordnung der COP15 soll auf diese Weise mit der eigenen Agenda besetzt werden, die die strategische Selektivität der hegemonialen Klimapolitik hervorhebt (CJA 2009d). Auch NTAC schließt an die Protestpraxis antikapitalistischer bzw. globalisierungskritischer Bewegung an. Eine Politisierung erhoffen sich die hier organisierten, primär in ihrer politischen Ausrichtung ‚autonomen‘ Zusammenschlüsse, von direkten Aktionsformen. Auch auf der Ebene lokaler Auseinandersetzungen treten ab etwa dem Jahr 2000 Akteursnetze in Erscheinung, die die Forderung nach Climate Justice vorantreiben. Es handelt sich dabei um policy-Netze von basisorientierten Gruppierungen – also um Netzwerke, die über singuläre Ereignisse hinaus Bestand haben. Gegenüber den Netzwerken, die im Umfeld der internationalen Klimaverhandlungen aktiv sind, fokussieren diese Netzwerke auf eine Vielzahl von lokalen Auseinandersetzungen. Sie kontextualisieren ihre Politik „passgenauer für nationale wie regionale Gegebenheiten“ und können als Ausdruck einer „Re-Nationalisierung von Protestereignissen“183 begriffen werden (BRUNNENGRÄBER 2012: 44). Prägte die 1990er Jahre die Zuwendung zivilgesellschaftlicher Gruppen hin zu internationalen Institutionen, so geraten mit den sich verschärfenden Funktions- und Legitimationskrisen dieser Institutionen (vgl. Kap. IV.3.2) ortsspezifische Auseinandersetzungen in den Blick. Hinsichtlich der lokale Auseinandersetzungen verbindenden Akteursnetze184 lassen sich nationale bzw. transnationale Climate Justice-Netze von weiteren Net-

182 Die dänische Polizei reagiert auf die Vorbereitungen und Durchführung der Aktion mit Repression (CJA 2009b). Bereits im Vorfeld der Kopenhagener Verhandlungen wird das dänische Polizeirecht erweitert und erlaubt präventive Masseningewahrsamnahmen. Deren Durchführung während der COP15 wird im Anschluss gerichtlich als Verstoß gegen die europäische Menschenrechtskonvention gewertet (K!BN 2010b). 183 Damit könne, so Brunnengräber (2012: 44), im zivilgesellschaftlichen Feld eine Parallele zur weltpolitischen Entwicklung ausgemacht werden, die Bob Jessop begrifflich als „the ‘return’ of the national state“ fasst (JESSOP 2010). Für die zivilgesellschaftlichen Gruppierungen bedeutet diese Wiederkehr des Staates jedoch nicht notwendigerweise eine appellative (Erwartungs-)Haltung dem Staat gegenüber, sondern vielfach ein „antagonistic engagement with the state“ (REITAN 2011: 66). Die Politik der Netzwerke und ebenso die von ihnen entwickelten, als „emanzipatorisch“ begriffenen, Konzeptionen von Staat kennzeichnen sich oftmals durch ein antagonistisches Verhältnis gegenüber dem Staat in seiner hegemonialen Form. Im Abschnitt zu Verschiebungen im Akteursfeld wird hierauf weiter eingegangen (siehe Seite 177). 184 Chatterton und Kollegen verwenden diesbezüglich den Begriff „translocal to refer to the connections, relations, and campaigns between different placed-based (but not placerestricted) social movements and other grassroots actors“ (CHATTERTON ET AL. 2013: 618f., vgl. auch ROUTLEDGE 2011).

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zen abgrenzen, die sich um die sogenannten Klimacamps formieren. Im Folgenden soll auf diese unterschiedlichen Typen näher eingegangen werden. Auf nationaler Ebene formieren sich insbesondere in den USA ab Anfang der 2000er Jahre Netzwerke, die die Forderung nach Climate Justice als verbindende Forderung ihrer Kämpfe nutzen (vgl. auch 2013c). Vielfach handelt es sich um „people of colour and indigenous peoples“, die gegen „the root causes of climate change in their own backyards / frontyards“ kämpfen und sich in Tradition der »Environmental Justice«-Bewegung sehen (DAYANENI 2009: 82, 83). Die Auseinandersetzungen sind dabei vielfältig: „Examples are the struggle against ‘mountain top removal’ in Appalachia (the practice of blowing off entire mountaintops to reach underlying mineral deposits), coal mining on indigenous lands and tar sands development in Canada. These struggles have long been fought locally and are now flashpoints of climate justice as local fights to address the root causes of climate change, while fighting for concrete improvements in the daily lives of communities.“ (Ebd.: 83)

In den USA organisieren sich diese lokalen Kämpfe in Netzwerken wie der bereits angesprochenen ‚Environmental Justice and Climate Change Initiative‘ (EJCC), einem Zusammenschluss von 28 in den USA auf lokaler bzw. nationaler Ebene aktiven Gruppierungen (vgl. auch Seite 154), oder der Mobilization for Climate Justice,185 dem Indigenous Environmental Network oder dem Environmental Justice Leadership Forum on Climate Change (ebd.: 83f.). Auch in anderen Ländern, wie beispielsweise Australien186 oder Deutschland,187 kommt es zur Herausbildung von 185 Die Mobilization for Climate Justice hat sich das Ziel gesetzt, die klimapolitischen Auseinandersetzungen in den USA mit der sich international zu Climate Justice formierenden Bewegung zu verknüpfen. Insbesondere im Vorfeld der Klimaverhandlungen in Kopenhagen ist es in Proteste involviert. (TOKAR 2010: 48f.) 186 In Australien zählt hierzu das Netzwerk Rising Tide Australia, das seinen Schwerpunkt in Protesten gegen die Kohleindustrie hat (EVANS 2010). Einen Einblick in zentrale Ereignisse der aufkommenden »Climate Justice«-Bewegung in Australien gibt Baer (2009; 2013b). 187 In Deutschland (vgl. auch KÖSSLER 2013a) geht aus dem Folgeprozess des ersten deutschen Klimacamps in Hamburg im August 2008 das Klima!Bewegungsnetzwerk (K!BN) hervor. Das K!BN ist im Kontext des Netzwerks CJA in die Mobilisierung zu Protesten im Umfeld der COP15 eingebunden. Im Anschluss an die Auswertung der Kopenhagener Proteste fällt das K!BN die strategische Richtungsentscheidung, sich vor allem in lokalen Auseinandersetzungen zu engagieren: „Die Orte, an denen die Weichen für die Zukunft gestellt werden, sind deshalb nicht in erster Linie Kopenhagen, Bonn oder Mexiko. Wir wollen lokale Kämpfe bei uns angehen, denn die massiven Un-

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nationalen Netzwerken. Darüber hinaus vereint das transnationale Netzwerk La Via Campesina188 Kleinbäuer_innen aus über 80 Ländern (TOKAR 2010: 48), die vom Klimawandel bzw. der vorherrschenden Klimapolitik besonders betroffen und in lokale Auseinandersetzungen involviert sind. Insbesondere infolge der gescheiterten Verhandlungen in Kopenhagen ist eine Verlagerung der klimapolitischen Auseinandersetzungen um Climate Justice auf die lokale Ebene auszumachen. Anstatt auf eine „global reform agenda“ zu setzen wird sich verstärkt auf „direct action“ orientiert (BOND 2012b: 186). In einer Vielzahl von Ländern – in erster Linie des globalen Nordens – treten ab dem Jahr 2006 sogenannte Klimacamps in Erscheinung. Die Camps führen lokal, regional und national organisierte Gruppierungen zusammen und gehen mit der Herausbildung eigener Netzwerke auf nationaler wie auch internationaler Ebene einher. Dem Klimacamp-Aktivismus kommt bei der Verbreitung und der Verankerung der Forderung nach Climate Justice auf lokaler Ebene eine wesentliche Rolle zu. Auch deshalb soll hier ausführlicher auf das Klimacamp-Phänomen eingegangen werden. Die Form des Camping als Protestform ist keine Erfindung klimapolitischer Aktivist_innen, sondern weist insbesondere in den Industrieländern eine längere Geschichte auf (vgl. FRENZEL 2009: 114ff.; FEIGENBAUM ET AL. 2013). So bediente sich die Friedensbewegung der 1980er Jahre, die Anti-Roads-Bewegung im Großbritannien der 1990er und die globalisierungskritische Bewegung ab Ende der 1990er der Camps als Teil ihrer Mobilisierungen (FRENZEL 2009: 114). Auf der Suche nach dem ‚Geburtsort‘ der Klimacamp-Idee führen die Spuren zum Ökodorf (‚Horizone‘ bzw. ‚Ecovillage‘) im schottischen Stirling, das während des G8Gipfels 2005 in Gleneagles als eine Art »Basislager« für Aktivist_innen dient (BRICKE 2008: 16; PLOWS 2008: 101; SCHLEMBACH 2011: 197). Die Initialzündung für antikapitalistisches Engagement zum Klimathema gab hier ein Kreis von Aktivist_innen aus der globalisierungskritischen Bewegung und der radikalen Umweltbewegung Großbritanniens, die u.a. im Zusammenhang mit den Anti-Roads-, den Reclaim the Streets- oder Earth First-Auseinandersetzungen auf intensive Mobilisierungserfahrung zurückblickten (BRICKE 2008: 15f.; SCHLEMBACH 2011: 196). Es sind Erfahrungen aus den Gipfelprotesten, die die Hinwendung dieser als autonom bzw. post-autonom einzuordnenden Aktivist_innen zum Klimathema bewirken. In der medialen Rezeption der sich auf Gipfel fokussierenden Proteste189 – so gerechtigkeiten werden weiterhin hier im globalen Norden produziert“ (K!BN 2010a). Die Gründung der Gruppe GegenstromBerlin (vgl. 2013b) ist Ausdruck dieser Strategie. 188 Zum Netzwerk La Via Campesina siehe im Weiteren auch Dietz (2013b). 189 Einen Überblick über die globalisierungskritischen Gipfelproteste seit Ende der 1990er Jahre findet bei Gipfelsoli (GIPFELSOLI 2013). Vgl. auch Notes from Nowhere (2007).

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die Einschätzung der Aktivist_innen – drang die radikale Kritik an den (internationalen) Institutionen und ihrer Politik oftmals nicht durch. Insbesondere in Gleneagels 2005 vermissten die Aktivist_innen die Rezeption ihrer antagonistischen Position gegenüber den hegemonialen Verhältnissen, als ihre Proteste als appellativ gegenüber den von ihnen kritisierten Akteuren und damit als diese legitimierend wiedergegeben wurden (TROTT & DOWLING 2007). Zugleich mussten die Aktivist_innen in Gleneagles feststellen, dass die Regierungen der G8 mit der Zuwendung zum Klimawandel Legitimation zurückerlangten – „[they] managed to present themselves as ‘climate saviours’ and had more or less ‘hijacked’ the issue of climate change“ (BRICKE 2008: 15). Im Ökodorf in Stirling führte die Reflexion der Aktivist_innen über diese Situation zum Beschluss, eine antikapitalistisch orientierte »soziale Bewegung« um das Thema Klimawandel anzustoßen (BRICKE 2008: 16). Anhand der Auseinandersetzung mit diesem bis dahin in der globalisierungskritischen Bewegung kaum beachteten Thema (KAUFMANN & MÜLLER 2009: 191) schien die eigene politische Agenda erneuerbar: „[A]s much as there’s a movement without a story, there’s also a story without a movement: climate change“ (MÜLLER 2008). Protestcamps zum Klimathema, so die zugrunde liegende Idee, ermögliche es den Aktivist_innen, ihre eigene Agenda und den Ort der Auseinandersetzung zu bestimmen, anstatt im Fahrwasser der Gipfel zu treiben (SCHLEMBACH 2011: 197). Inspiration für die Ausgestaltung solcher Camps – ihr antagonistisches Moment – gaben den Aktivist_innen erfolgreiche (Massen-)Aktionen zivilen Ungehorsams während der Gipfelproteste (BRICKE 2008: 15). Das erste britische Klimacamp (Camp for Climate Action) findet im August 2006 nahe der Drax Power Station, dem größten britischen CO2-Emittenten und Europas größtem Kohlekraftwerk (SAUNDERS & PRICE 2009: 117), statt. Im Jahr 2007 folgt eines am Flughafen Heathrow190, 2008 am Kohlekraftwerk in Kingsnorth und im Jahr 2009 finden gar drei Camps in Wales, Schottland und London statt (CFCA 2012b). Als basisorientierte Zusammenkünfte richten die Camps ihre Aufmerksamkeit auf die Blindstellen hegemonialer Klimapolitik. Sie kritisieren die fossilistische Energieproduktion, die Inwertsetzung von Treibhausgasemissionen bzw. die Technik der CO2-Sequestrierung. Einerseits stellen sie Orte gelebter Alternativen für eine kohlenstoff-neutrale Gesellschaft dar, andererseits sind sie Ausgangspunkt direkter Aktionen gegen zentrale Treibhausgas-Emittenten. Diese zeitlich und örtlich begrenzten Aktionen zivilen Ungehorsams191 unterbrechen die 190 Einen umfangreichen Erfahrungsbericht über Zielsetzung, Vorbereitung und Durchführung dieses Camps und die staatlichen Repressionsmaßnahmen gibt Fremeaux und Jordan (2012: 9–38). 191 Konfrontative Aktionskonzepte, wie sie von den Klimacamps aufgegriffen werden, sind vielfach Ziel staatlicher Repression (vgl. beispielsweise SAUNDERS & PRICE 2009: 118f., allgmein DELLA PORTA & REITER 2011).

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Kontinuität der auf fossilen Ressourcen beruhenden Industrie, stellen jedoch für diese keine strukturelle Herausforderung192 dar (PEARSE 2010: 186f.). Neben der instrumentellen Funktion der Aktionen kommt ihnen eine bedeutende Rolle für die Bewegungsbildung bei (ebd.: 187) – der Herausbildung einer kollektiven Identität der Aktivist_innen (vgl. HELLMANN 1998: 19f.). Vier Funktionen der Camps heben die Aktivist_innen in diesem Sinne hervor: „education, direct action, sustainable living, and building a movement to effectively tackle climate change both resisting climate crimes and developing sustainable solutions“ (CFCA 2012a, vgl. auch FRENZEL 2011: 176). Die Camps stellen Orte dar, an denen Alternativen gegenüber der hegemonialen Wirklichkeit geschaffen werden, und zwar einerseits hinsichtlich der hegemonialen Klimapolitik – ihrer Problemanalyse oder ihren marktwirtschaftlich orientierten Ansätzen –, andererseits auch hinsichtlich der sozialen Beziehungen unter den Teilnehmer_innen. „Offene und freie Willensbildungsprozesse, die Transparenz der Entscheidungsfindung, demokratische Organisationsformen, der Abbau patriarchaler Herrschaft und die Gleichstellung der Geschlechter können unmittelbar gelebt und mit allen Problemen, die die Mühen des emanzipativen Alltags mit sich bringen, erfahren werden.“ (BRUNNENGRÄBER 2013: 367f.)

Die Idee einer Utopie, d.h. die Vorstellungen einer idealen Gesellschaft, steht dabei jedoch in einem ambivalenten Verhältnis zur hegemonialen Wirklichkeit. Aufgrund der Widersprüchlichkeiten zwischen „outside world and its ideal self“ können die Camps als „heterotopia“193 gefasst werden (SAUNDERS & PRICE 2009: 118, mit Verweis auf Hetherington 1997: 41). Der Begriff geht auf Michel Foucault zurück, der Heterotopien von Utopien wie folgt abgrenzt: „Utopias are sites with no real place. They are sites that have a general relation of direct or inverted analogy with the real space of Society. They present society itself in a perfected form, or else society turned upside down, but in any case these utopias are fundamentally unreal spaces. There are also, probably in every culture, in every civilization, real places – places that do exist and that are formed in the very founding of society – which are something like counter192 Auch wenn das Handeln der Klimacamp-Proteste zunächst eine temporär begrenzte Wirkung hat, so erzielen die sie in den Deutungskämpfen teils deutliche Effekte. Die Proteste in Kingsnorth trugen so beispielsweise dazu bei, dass der Energiekonzern E.ON seine Pläne für einen dort geplanten Neubau stoppte (ENGLER 2009). 193 Eine andere, treffende Begrifflichkeit um die Verfangenheit von Alternativen im (hegemonialen) Diskurs hervorzuheben stellt der Begriff der „Halbinseln gegen den Strom“ dar (HABERMANN 2009b).

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sites, a kind of effectively enacted utopia in which the real sites, all the other real sites that can be found within the culture, are simultaneously represented, contested, and inverted. Places of this kind are outside of all places, even though it may be possible to indicate their location in reality.“ (FOUCAULT 1967)

In diesem Sinne ist ein Klimacamp keine „eu-topian island in peaceful seas. Rather, it is a heterotopia in troubled, contested, waters“ (SAUNDERS & PRICE 2009: 121).194 Im Anschluss an das Camp 2006 in Großbritannien kommt es zur Verbreitung der Klimacamp-Idee – ihrer Internationalisierung. Insbesondere dem G8-Gipfel in Heiligendamm kommt hierfür eine wesentliche Bedeutung zu. Einerseits befeuert dieser die Debatte innerhalb des globalisierungskritischen Spektrums über eine verstärkte Zuwendung zur ökologischen Frage,195 denn in Heiligendamm – so die Wahrnehmung vieler Aktivist_innen – erfolgte ein weiterer Versuch der G8 sich anhand des Klimathemas zu re-legimieren. Andererseits war Heiligendamm zugleich der Ort, an dem mit der Strategie der Fünf-Finger-Taktik eine Massenblockade erfolgreich umgesetzt wurde (FRENZEL 2009: 175f.; KAMPAGNE BLOCK G8 2008) und damit das Aktionskonzept massenhaften zivilen Ungehorsams Sympathie in der bewegungspolitischen Landschaft erhielt. Neben dieser ausstrahlenden Wirkung Heiligendamms sind es nicht zuletzt die an britischen Camps teilnehmenden Aktivist_innen aus anderen Ländern, die ihre Erfahrung in die bewegungspolitische Debatte an anderen Orten einbringen und auf diese Weise weitere Camps initiieren (vgl. beispielsweise SCHUMACHER 22.08.2008; SCHLEMBACH 2011: 8f.). Die Verbreitung der Camps in Zahlen: Im Zeitraum von 2006 bis zum Kopenhagener Klimagipfel 2009 finden etwa 19 Klimacamps statt (FRENZEL 2011: 163, mit Verweis auf Climate Camp NZ 2009). Ausgerichtet werden diese Camps dabei in mindestens 12 Länder – darunter die USA, Australien, Neuseeland, Frankreich und Deutschland196 – und auch im Folgejahr 2010 gibt es in mindestens zehn Ländern weitere Camps (vgl. CLIMATECONVERGENCE 2009, 2010). Neben der Internationalisierung lässt sich eine zunehmende Professionalisierung der Camps ausmachen. Diese ist jedoch nicht gleichzusetzen mit „Institutiona194 Frenzel spricht von Klimacamps als „entlegene[n] Orte[n] in der Mitte der Gesellschaft“ (FRENZEL 2011) 195 Ausdruck der verstärkten Diskussion der Klimapolitik im globalisierungskritischen Spektrum im deutschsprachigen Raum sind die zahlreichen entsprechenden Veröffentlichungen ab 2007 in bewegungsnahen Medien (vgl. beispielsweise ALASKA 2008; ANTI ATOM AKTUELL 2008; ARRANCA & SUL SERIO 2008; IZ3W 2008; PHASE 2 2008 oder eine Debattenreihe in der Zeitschrift AK zusammengefasst in ANALYSE & KRITIK 2009). 196 Eine vergleichende Gegenüberstellung der Entstehungsgeschichte der Klimacamps in Großbritannien und Deutschland findet sich bei Bricke (2008: 14ff.).

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lisierung oder Integration in die Logik des Status Quo“. Professionalisierung bedeutet vielmehr, „dass der notwendige Balanceakt zwischen den radikalen Forderungen des Camps einerseits und einer offenen Herausforderung des Status Quo immer besser bewältigt wird“ (FRENZEL 2011: 181). Den Klimacamps gelingt es immer besser, ihr politisches Umfeld in die Proteste zu integrieren (ebd.: 175; PLOWS 2008). Dies kann als Erfolg eines interventionistischen Politikansatzes verstanden werden, der auf Auseinandersetzungen um Hegemonie zielt.197 Die radikale Kritik des Camps trifft zunehmend auf reform-orientierte Ansätze (BRICKE 2008: 209f.). (d) Verschiebungen im Akteursfeld Die Konstitution der Akteursnetze um Climate Justice markiert eine neue Phase im zyklischen Wandel der im klimapolitischen Feld in Erscheinung tretenden zivilgesellschaftlichen Akteure. Zum einen kennzeichnet sich diese Phase durch eine Verschiebung von institutionalisierten hin zu weniger institutionalisierten Akteuren, d.h. durch einen Wandel, der über das klimapolitische Politikfeld hinaus zivilgesellschaftliches Engagement prägt und als ein neuer „Bewegungszyklus“ (BRUNNENGRÄBER 2012) bezeichnet werden kann. Damit verbunden ist zum anderen auch die Herausbildung neuartiger Netzwerkstrukturen, die sich unter anderem durch Polyzentrismus und eine verstärkte Inklusivität auszeichnen (vgl. REITAN 2011: 58ff.). Wie sich beide Prozesse hinsichtlich der auf die Klimapolitik Bezug nehmenden umwelt- und entwicklungspolitischen zivilgesellschaftlichen Akteure darstellen, soll im Folgenden umrissen werden. In den ersten 15 Jahren der Klimapolitik im Kontext der UNFCCC dominieren Akteure das zivilgesellschaftliche Feld, die sich durch eine starke Institutionalisierung auszeichnen (vgl. ausführlicher bspw. WALK & BRUNNENGRÄBER 2000; NEWELL 2000: 128ff.). In Erscheinung treten insbesondere internationale bzw. nationale »NGOs«, vorwiegend aus dem globalen Norden, die anhand von Lobby197 Neben einem solchen interventionistischen Ansatzes ist es insbesondere ein ökoanarchistisch libertärer Ansatz, der die Entwicklung der Klimacamps kennzeichnete. Letzterer prägte Bricke zufolge die Camps in Großbritannien, wohingegen der Vorbereitungsprozess des Camps 2008 in Deutschland von einer Auseinandersetzung zwischen beiden Lagern – dem im deutschen Bewegungsspektrum prominenten interventionistischem Zugang und dem stark aus Großbritannien ‚importierten‘ ökoanarchistischen Ansatz – geprägt war BRICKE 2008: 29. Unterschiede zwischen der politischen Kultur der Aktivist_innen in beiden Ländern bringt ein Aktivist pointiert zum Ausdruck: „The Germans, when they see climate change, they just want to throw copies of Adorno and Foucault at it and hope that it goes away. […] The Brits are the activist types: if they see a major social crisis coming, they throw a few compost toilets at it.“ (Interview zitiert nach SCHLEMBACH 2011: 23)

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ismus einen Politikwandel erzielen wollen. Ihre Stärke markiert „in der Klimapolitik die Phase der Ablösung von Neuen Sozialen Bewegungen, die im Umweltbereich in den 1970er und 1980er Jahren so erfolgreich waren“ (BRUNNENGRÄBER 2011a: 26). Diese Phase zeichnet sich durch die Herausbildung eines bestimmten Typus von Netzwerken aus, der als „transnational advocacy network“198 gefasst werden kann (KECK & SIKKINK 1998: 8ff.). Die transnational advocacy networks weisen eine hierarchische Netzwerkstruktur sowie eine gewisse paternalistische Ausrichtung auf, die mit ihrem advocacyFokus verknüpft ist: „they are organized to promote causes, principled ideas, and norms, and they often involve individuals advocating policy changes that cannot be easily linked to a rationalist understanding of their ‘interests’.“ (Ebd.: 8f.)

In den Netzwerken dominieren ressourcenstarke Akteure aus dem globalen Norden. Sie erheben in der internationalen Politik ihre Stimme für Betroffene, während die Betroffenen in den Netzwerken selbst kaum Einfluss haben (vgl. auch Seite 142ff. Kap. IV.3.1.3). Die Struktur der Netzwerke zeigt Ähnlichkeiten mit den hegemonialen Verhältnissen in der Weltpolitik, oder – wie es Ruth Reitan ausdrückt – „[t]his network structure […], thus, mirrors the unequal, hierarchical and commandist power logic of the nascent neo-liberal global polity in which they are embedded“ (REITAN 2011: 58). Ab Mitte 00er Jahre lässt sich ein verstärktes Auftreten von basisorientierten Gruppen im klimapolitischen Feld feststellen. Es sind insbesondere die Proteste gegen eine neoliberale Globalisierung der Weltwirtschaft, aus denen eine Vielzahl dieser Gruppen hervorgeht. Eine Besonderheit dieser globalisierungskritischen Proteste ab Mitte der 1990er Jahre ist es, dass diese von »sozialen Bewegungen« getragen werden, die sich auf Graswurzel-Ebene konstituieren und transnational miteinander vernetzen (vgl. BATLIWALA 2002; SMITH 2004; CHESTERS & WELSH 2006; TARROW 2005; DELLA PORTA 2007; ROUTLEDGE & CUMBERS 2009; OLESEN 2011). Ab Ende der 1990er Jahre wenden sich Zusammenhänge aus diesem Spektrum mehr und mehr dem Klimathema zu und beginnen die internationale Politik zu

198 Zu den Akteuren, die diese Netzwerke konstituieren – auch wenn nicht in jedem Netzwerk alle dieser Akteure vertreten sind – zählen Keck und Sikkink „(1) international and domestic nongovernmental research and advocacy organizations; (2) local social movements; (3) foundations; (4) the media; (5) churches, trade unions, consumer organizations, and intellectuals; (6) parts of regional and international intergovernmental organizations; and (7) parts of the executive and / or parliamentary branches of governments“ (KECK & SIKKINK 1998: 9).

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diesem Themenfeld zu begleiten (NEWELL & PATERSON 2010: 31f.; ROUTLEDGE 2011: 385). Im Feld globalen, transnationalen Aktivismus kann ab Mitte der 1990er Jahre grundsätzlich die Herausbildung neuartiger, hybrider Netzwerkstrukturen ausgemacht werden, die sich deutlich vom beschriebenen Modell transnationaler advocacy-Netze unterscheiden (REITAN 2011: 58f.; vgl. auch 2007). Die Netzwerke zeichnen sich durch das Zusammenspiel von Graswurzel-Bewegungen und institutionalisierten Gruppen aus (JURIS 2008; ROTH & RUCHT 2008). Wie ihre Vorgänger – die advocacy-Netze – zielen auch die Netze des neuen Typs auf die Beeinflussung von „powerful actors and some form of organizational apparatus“, jedoch betonen sie ihnen gegenüber wesentlich „internal democracy and transparency“ (REITAN 2011: 58). Kennzeichnend für diese Netze ist (1) ihr hybrider Charakter, d.h. ihre hohe Inklusivität hinsichtlich Themen wie auch Akteuren,199 (2) polyzentrische Strukturen, die sich in einer Vielfalt an Orten und Themen von Auseinandersetzungen um das Soziale ausdrücken, sowie (3) eine grundsätzlich antagonistische Ausrichtung gegenüber einer Vielzahl von Herrschaftsverhältnissen (vgl. ebd.). Verbunden mit der besonderen Inklusivität der neuartigen Netzwerke ist ein neuer Internationalismus, der im Gegensatz zum Paternalismus der advocacy-Netzwerke steht. Auf diese Merkmale – wie sie sich darstellen und warum sie sich derart ausbilden – werde ich im Folgenden eingehen. Zwei miteinander verschränkte Prozesse können hervorgehoben werden, um die Hybridität der neuartigen Netzwerkstrukturen zu erklären: Erstens die Wendung von stärker institutionalisierten Gruppierungen hin zu Graswurzel-Bewegungen bzw. anarchistischen, autonomen oder post-autonomen Gruppierungen. Seine Ursache hat dieser Prozess darin, dass auch im Feld der advocacy-Netze zunehmend Lobbying als die primäre Strategie, eigene Ziele zu erreichen, abgelehnt wird. Gesetzt wird hingegen von entsprechenden Akteuren – beispielsweise in CJN! – auf „die Veränderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse durch Prozesse gesellschaftlicher Mobilisierung und Organisierung im Rahmen des Aufbaus von sozialen Bewegungen“ (REST 2011: 91). Zweitens zeigt sich in den Hybriden ein weiterer Prozess: die „Wiederentdeckung des Staates“ im zivilgesellschaftlichen Bereich (BRUNNENGRÄBER 2012: 49).

199 Die Spannung zwischen verschiedenen Akteuren ist nicht aufgelöst. Anders als in der Geschichte politischer Auseinandersetzungen der Linken handelt es sich jedoch nicht um Sektierertum, sondern die Akteure der hybriden Netzwerke zielen in ihrer widerständigen Praxis auf die Verknüpfung ihrer Vielfalt zu Gestaltung einer anderen Welt (REITAN 2011: 52). Zentral ist die „Betonung und Bejahung von Differenz“ (HIERLMEIER

2007).

2006: 160, vgl. im Weiteren auch HOLLOWAY 2006; NOTES FROM NOWHERE

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Diese ist als Folge von Erfahrungen zu verstehen, die Aktivist_innen der globalisierungskritischen Bewegung im Verlauf zahlreicher Gipfelproteste sammelten. „Where a crass anti-institutionalism used to reign in the alter-globalisation movements – which, to be clear, was entirely appropriate to the situation, as the international financial institutions are one which lack any democratic legitimacy – today we encounter openness, questions, and new connections.“ (MÜLLER 2010)

In der bewegungsinternen Auseinandersetzung wird dem grundsätzlich antiinstitutionellen Politikansatz zunehmend Skepsis entgegengebracht. Die Stoßrichtung der hier artikulierten Kritik bringt der französische Philosoph Daniel Bensaid zum Ausdruck: „Those who thought they could ignore state power and its conquest have often been its victims: they didn’t want to take power, so power took them“ (zitiert nach REITAN 2011: 65). Im zivilgesellschaftlichen Feld der Global Climate Governance kann mit den hybriden Netzwerkstrukturen ein Aufbrechen des bis dahin vorherrschenden Gegensatzes von inside- versus outside-Orientierung von Akteuren beobachtet werden. Hinsichtlich ihres Politikstils – der verfolgten Strategien und aufgegriffenen Aktionsformen – unterscheiden sich Akteure mit insider-Status, die mit einer Akkreditierung durch die UN als sogenannte Observer den offiziellen (UNFCCC-)Prozesses begleiten, von solchen Akteuren, die außerhalb dieses Prozesses agieren (vgl. hierzu im Folgenden DRYZEK & STEVENSON 2010: 20f.). Die Akteure mit insiderStatus zielen durch Teilnahme an Plenarsitzungen, Workshops und Side-events auf eine Beeinflussung der Verhandlungen. Dabei bündeln sie Informationen in Newslettern oder versuchen, Delegierten durch Lobbying ihre Forderungen zu vermitteln. Einzelne nationale Regierungen werden dabei mitunter zu Bündnispartnerinnen: Den zivilgesellschaftlichen Akteuren verschaffen diese einerseits Zugang zu Verhandlungen, andererseits werden die Regierungsdelegationen von ihnen mit Informationen oder Ressourcen200 unterstützt. Die Akteure außerhalb hingegen setzen auf Protestaktionen und die (mediale) Öffentlichkeit. Oftmals zielen diese Akteure auf die Beeinflussung nationaler Regierungen im Vorfeld der internationalen Verhandlungen. Mit den hybriden Netzwerkstrukturen, so kann also konstatiert werden, gehen vormals hinsichtlich ihrer politischen Strategien getrennte Akteure einen Schulterschluss ein.201 In den Hybriden verbinden sich die Strategien202 von inside-orien200 Ein Beispiel ist die Finanzierung von einzelnen Delegierten der ansonsten schwach ausgestatteten LDCs (DRYZEK & STEVENSON 2010: 21). 201 Hervorzuheben ist, dass nicht alle Akteure des zuvor dominanten advocacy-Typus sich in hybriden Netzwerken in der geschilderten Form einbetten. Ein Teil der Akteure hält an der mit dem klassischen advocacy-Typus einhergehenden privilegierten Position fest

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tierten und outside-orientierten Akteuren (ROBERTS & PARKS 2009: 396ff.; REITAN 2011: 58; LONG ET AL. 2010: 226). Neben „popular education and lobbying of key government actors“ kommt es auch zu „direct, non-violent action and mass mobilization“ auf (REITAN 2011: 58). Beispielhaft zeigt sich die Bereitschaft zur Verknüpfung der strategischen Ansätze in einem der Gründungsdokumente des CJN!Netzwerks, wo es heißt: „We will take our struggle forward not just in the talks, but on the ground and in the streets – Climate Justice Now!“ (CJN! 2007). Einen deutlichen Ausdruck findet der neuartige Schulterschluss zwischen zuvor primär auf den offiziellen Prozess orientierten Gruppen und Gruppierungen, die primär außerhalb davon agieren, in der Massen-Aktion zivilen Ungehorsams „Reclaim Power! Pushing for Climate Justice“ (CJA 2009d; CJN! 2009) während der Vertragsstaatenkonfernz in Kopenhagen 2009203 (vgl. auch de MARCELLUS 24.01.2010; BEDALL ET AL. 2011: 43f.; GIBSON 2011: 188ff.; RUSSELL ET AL. 2012: 21f.; CHATTERTON ET AL. 2013: 615f.; zur Kritik an der Aktion SIMONS & TONAK 2010). Akkreditierte Gruppierungen insbesondere aus CJN! mobilisierten zusammen mit Aktivist_innen von außerhalb – insbesondere aus CJA aber auch dem PMCC und anderen Zusammenhängen204 – dazu, auf dem von Polizeikräften gesicherten Konferenzgelände eine Climate Justice-Assembly abzuhalten. Auf diese Weise sollte die Agenda der Verhandlungen verschoben werden – hin zu den in der Klimapolitik marginalisierten Forderung »sozialer Bewegungen«, insbesondere aus dem globalen Süden.

(REITAN 2011: 59). Die geschilderte Akzeptanz und Anpassung von institutionalisierten Akteuren an die neuen Strukturen ist, wenn es um die Reaktion der Akteure auf die Veränderungen geht, nur einer von zwei Polen eines Kontinuums. Dem in den neuartigen Netzen aufgehenden Akteurs-Typus „embedded partisan“ stellt Reitan einen strukturkonservativen Typus gegenüber, den sie unter dem Begriff „commandist advocate“ fasst (ebd.: 59, Hvb. im Original). Einige der dargestellten klimapolitischen Netzwerke, wie CJN!, CJA oder NTAC, schließen Akteure des letzteren Typus aus. Der Prozess des Ausschlusses erfolgt dabei einerseits explizit, anhand von „‘identity-group only’ rules“, andererseits implizit, aufgrund der Ablehnung des konfliktiven und damit für entsprechende Akteure inakzeptablen Politikstils der Netzwerke (ebd.: 59). 202 Vgl. zur Diskussion der unterschiedlichen Strategien die Übersicht über relevante Literatur bei Schmidt (2012: 82f.). 203 Zur Bewertung der Proteste siehe die Artikelsammlung bei Avanti (2010). 204 Insbesondere zu nennen ist hier auch eine Gruppe von Aktivist_innen sozialer Bewegungen aus dem globalen Süden, die im Rahmen der sogenannten Klima-Macht-Handel-Karawane ihre Forderungen vorbringen (vgl. SOCIAL AND CLIMATE JUSTICE CARAVAN

2009; BURTON 2011; HABERMANN 2011). Ausgehend von einer Konferenz der

WTO in Genf und mit dem Ziel der UN-Klimaverhandlungen in Kopenhagen tragen sie an zahlreichen Orten ihren Protest vor.

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Bestandteil der hybriden Netzwerkstrukturen im klimapolitischen Feld sind vereinzelt auch Regierungsakteure. Zwischen den »NGOs« und »sozialen Bewegungen« und einer kleinen aber wachsenden Zahl von Staaten zeigen sich Synergien beim Vorantreiben von „people-inspired and -backed alternative proposals“ (DORSEY 2010). Insbesondere die Regierungen der ALBA-Staaten Lateinamerikas forcieren mit dem von ihnen vorangetriebenen „post-neoliberalen“ Diskurs strategische Bündnisse mit den zivilgesellschaftlichen Akteuren (DRYZEK & STEVENSON 2010: 21). Darüber hinaus arbeiten einzelne Akteure wie beispielsweise das Third World Network mit dem Staatenbündnis der Gruppe der 77 und China zusammen, um so Perspektiven des globalen Südens zu stärken (LONG ET AL. 2010: 239). Bei der Konstitution der hybriden Netzwerkstrukturen kommt Akteuren, die zuvor in advocacy-Netzen organisiert waren, die Rolle von „key facilitators, brokers, and supporters of popular, grassroots-based, Southern-led movements and networks“ zu (REITAN 2011: 59). Sie erlangen diese Rolle aufgrund von „listening and learning, hard-won trust, mutual respect, reciprocal solidarity, joint action and promoting bottom-up power“ (ebd.). Für die Konstituierung des CJA-Netzwerks im Vorfeld der Vertragsstaatenkonferenz in Kopenhagen kommt beispielsweise Akteuren wie Focus on the Global South, dem Global Justice Ecology Project oder dem World Development Movement eine solche bedeutende Rolle zu. Neben ihrem hybriden Charakter weisen die neuartigen Akteurs-Netze einen Polyzentrismus auf: Auseinandersetzungen um das Soziale werden an einer Vielzahl von Orten geführt – einer Vielzahl von Orten, an denen die (Re-)Produktion der (Klima-)Krise ausgemacht wird. Die Netzwerke agieren dabei auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen („scales“): Unterschieden werden können die Netzwerke, die im Umfeld der internationalen Verhandlungen wirken, von solchen, die lokale Auseinandersetzungen in den Blick nehmen. In der Forderung nach Climate Justice finden sich insofern diverse Aktivitäten zusammen (BEDALL & AUSTEN 2010; CHATTERTON ET AL. 2013: 613ff.) – seien es Klimacamps, die ihre Aufmerksamkeit auf zentrale Treibhausgas-Emittenten wie Kohlekraftwerke oder auf die Geschäftspolitik bestimmter Unternehmen legen (vgl. FRENZEL 2011), die Kämpfe von Kleinbäuer_innen in Lateinamerika gegen ihre Vertreibung von Subsistenz-Flächen und für ein Recht auf Ernährungssouveränität oder die Vielzahl weiterer basisorientierter Gruppen, die lokale Kämpfe vorantreiben (vgl. bspw. RISING TIDE 2002; K!BN 2010a; EVANS 2010). Die neuartigen Netze kennzeichnet die antagonistische Ausrichtung gegenüber einer Vielzahl von Herrschaftsverhältnissen. Zu diesen Herrschaftsverhältnissen zählt der Staat in seiner hegemonialen (neoliberalen) Form sowie die gerade in der Klimapolitik zum Ausdruck kommende Form der Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse und die in ihnen angelegte Herrschaft über die Natur. Die neuen Netze greifen auf konfliktive Formen des Protests zurück (vgl. ausführlich bei GIBSON 2011). Im klimapolitischen Feld sind nun auch „Formen politischen Enga-

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gements“ auszumachen, „die nicht an bestehenden politischen Strukturen anknüpfen, sondern diese in Frage stellen bzw. sich in anderen Formen der politischen Entscheidungsfindung üben“ (WALK 2008: 221, mit Verweis auf Haug et al. 2007). Gegenüber der globalisierungskritischen Bewegung lässt sich eine Umakzentuierung beobachten: Zeichnete sich diese durch den Widerstand gegen internationale Institutionen wie die WTO, die Weltbank oder den IWF aus, so lassen sich die neuartigen Netze auf ein Engagement mit diesen Institutionen ein – im Falle der Global Climate Governance mit dem offiziellen Prozess der UNFCCC (vgl. hierzu auch REITAN 2011: 66). Im Vordergrund steht nicht die Ablehnung der Institutionen, sondern ihre Transformation: Globalisierungskritische Aktivist_innen selbst heben die Notwendigkeit dieser Akzentverschiebung vom Widerstand hin zum Engagement so hervor: „[W]hen the crisis of neoliberalism irrupted, it became apparent that […] antagonism against institutions as an end in itself is a dead end […]. Moments of antagonism are either part of ongoing processes of building autonomy and constituting new forms of power, or they risk dissipation, or even worse, backlashes.“ (Turbulence 2009: 6-7, zitiert nach ebd.)

Die Strategie des antagonistischen Engagements mit den politischen Institutionen hat sich bspw. in einzelnen Ländern Lateinamerikas (insbesondere den ALBAStaaten) niedergeschlagen, in denen indigene Bewegungen wesentlich daran beteiligt waren, Verfassungen einiger Staaten zu transformieren.205 Innerhalb der Netzwerke um Climate Justice sind es diese Bewegungen, die eine solche Strategie beflügeln. Das antagonistische Engagement mit Institutionen ist ein von sich aus hinsichtlich der politischen Praxis ambivalenter Ansatz. Aus dem Spagat von Kooperation und Widerstand ergeben sich zahlreiche Herausforderungen – dies beschreiben Aktivist_innen, die einen solchen Ansatz in der Klimapolitik aufgreifen, folgendermaßen: „Resistance campaigning within the UNFCCC is a very difficult campaign strategy, where it is easy to lose sight of the long term goals as day to day activists become mired in UNFCCCisms and what has been, and particularly in the lead up to Copenhagen, a seemingly endless negotiating process. We have largely found our involvement in the UNFCCC disempowering 205 In einzelnen Ländern Lateinamerikas waren Bewegungen wesentlich daran beteiligt, Konzepte von Staat zu entwickeln, die auf strukturelle Transformationen zielen und sich deutlich vom zuvor hegemonialen neoliberalen Staat unterscheiden. Zu nennen sind hierbei vor allem die Pluri-Nationalität Boliviens (vgl. zum Konzept der Plurinationalität RADHUBER 2012: 76ff.; BRAND ET AL. 2012) oder aber die auf das gute Leben (sumak kausay) zielende Verfassung Ecuadors (vgl. ACOSTA 2009).

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and demoralising because the UNFCCC continues to operate in a seemingly parallel universe.“ (LONG ET AL. 2010: 239)

Ein Engagement innerhalb des offiziellen Prozesses der UNFCCC erscheint den Aktivist_innen jedoch erforderlich, um negativen Folgen eines internationalen Klimaabkommens vorzubeugen. Bei einem solchen Engagement handele sich um keinen „abstract idealism“, sondern es gehe darum zu verhindern, „that people lose legal rights and ownership over land and resources that are vital to their self-determination and survival“ (ebd.). Gegenüber den advocacy-Netzen zeigt sich in den neuartigen Netzen ein neuer Institutionalismus. Der in den advocacy-Netzen tendenziell auffindbare Paternalismus – das Sprechen für die Betroffenen, die selbst kaum über Einflussmöglichkeiten und Ressourcen verfügen – scheint in dem Augenblick im Zerfall zu sein, wo die Betroffenen selbst die Stimme für sich ergreifen (KECK & SIKKINK 1998: 78). Der Ausgangspunkt des alten Internationalismus war der einer „imaginären Einheit der Unterdrückten“ (BUKO o.J.) mit der es Solidarität zu üben galt – „the victim as an unproblematic ‘other’ who needed […] assistance“ (KECK & SIKKINK 1998: 78). Der neue Internationalismus (vgl. detaillierter hierzu HIERLMEIER 2006: 159ff.; HABERMANN 2011: 249ff.) hingegen geht nicht von einer einseitigen Solidarität mit Unterdrückten als dem Anderen aus, sondern hebt die Eigenständigkeit der Akteure als politische Subjekte und damit verbunden die „Widersprüche und Machtverhältnisse zwischen den Unterdrückten“ hervor (BUKO o.J.). Auf der Grundlage einer Vielzahl von Auseinandersetzungen auf lokaler Ebene (FEATHERSTONE 2012: 52ff.) bilden sich mit den neuen ‚translokalen‘ Netzen translokale Solidaritäten heraus („translocal solidarities“, vgl. hierzu ROUTLEDGE 2011). In den neuartigen Netzen bedeutet Internationalismus in sozialen Auseinandersetzungen einen solidarischen Bezug von Akteuren und ihren (spezifischen lokalen) Kämpfen aufeinander, mit dem Ziel der Schaffung einer anderen, gerechteren Welt. IV.3.3.2 Die Artikulation kritischer Forderungen Im Kontext der (Re-)Politisierung des Konfliktfelds der Global Climate Governance (vgl. Kap. IV.3.2) kommt es im Akteursfeld von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« im Vorfeld der Kopenhagener Klimaverhandlungen zur Entfaltung einer gegenüber dem hegemonialen (neoliberalen) Konsens antagonistischen Programmatik, die verknüpft ist mit der Forderung nach Climate Justice. Mit dieser Programmatik, die im Folgenden detaillierter behandelt werden soll, bricht das mit der Neoliberalisierung des Klimas ausgeschlossene ‚Andere‘ (vgl. Kap. IV.3.1) in den hegemonialen Diskurs in der Zivilgesellschaft ein. Die sich entfaltende Programmatik um Climate Justice muss als das Ergebnis von „debates, discussions and conflicts“ begriffen werden (SCHLEMBACH 2011: 211). Die im Akteursfeld von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« vorangetriebe-

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nen Forderungen und Strategien sind hier grundsätzlich umkämpft. Auch innerhalb dieses Akteursfelds kommt es zur Herausbildung von hegemonialen Deutungen. Hinsichtlich der Forderung nach Climate Justice und der damit verbundenen Programmatik kann zum Zeitpunkt der Mobilisierung nach Kopenhagen um das Jahr 2008 von einer hegemonialen Deutung206 gesprochen werden: Eine spezifische Verknüpfung einer Reihe von Forderungen – ein Ensemble von Forderungen – wird wiederholt von einer Vielzahl von Akteuren artikuliert.207 Dieses Ensemble ist antagonistisch gegenüber dem Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas« positioniert (vgl. hierzu auch FEATHERSTONE 2013). Es ist dabei eine sich aus den – auf verschiedenen räumlichen Ebenen herausbildenden – Akteursnetzen zu Climate Justice (siehe Seite 157ff. in Kap. IV.3.3.1) zusammensetzende Diskurskoalition, die durch kontinuierliche Re-Artikulation bestimmter Forderungen die Ausbildung der hegemonialen Deutung208 von Climate Justice bewirkt. Von diesem re-artikulierten Ensemble von Forderungen um Climate Justice wird im Folgenden auch als dem Hegemonieprojekt (zum Begriff vgl. Kap. II.2.4) um »Climate Justice« gesprochen. Dieses Ensemble von Forderungen konkurriert mit anderen Ensembles – allen voran dem Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas« (siehe Kap. IV.2.2) – in der Global Climate Governance um Hegemonie. Einen Überblick über die das Hegemonieprojekt um »Climate Justice« konstituierende Fantasie gibt im Anschluss Kapitel IV.3.4. Hinter Climate Justice steht die Feststellung, dass die Menschen, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind und sein werden, die Menschen sind, die am wenigsten zu seiner Verursachung beigetragen haben. Insbesondere werden hierzu die von Armut betroffenen Menschen des globalen Südens gezählt.209 Zu dem reartikulierten Ensemble von Forderungen um Climate Justice gehören unter anderem Forderungen danach 206 Dies schließt ein, dass neben dem hegemonialen Verständnis grundsätzlich auch weitere Ausfüllungen der Forderung nach Climate Justice vorliegen können. Zu entsprechenden alternativen Ausfüllungen vgl. bspw. bei de Lucia (2009: 231f.), Bond (2012b: 196f.) und Chatterton et al. (2013: 607). 207 Anders ausgedrückt: Hegemonial wird eine spezifische Deutung, wenn sie einen hohen „diskursiven ‚Verbreitungsgrad‘“ (NONHOFF 2006: 141) aufweist (siehe auch die detaillierteren Darstellungen hierzu in Kap. II.2.4). 208 Goodman spricht von der Herausbildung eines spezifischen ideologischen Feldes („a distinct ideological field“, GOODMAN 2009: 503) um den Begriff ‚Climate Justice‘. 209 Diese Menschen sind in vielerlei Hinsicht von Ungerechtigkeiten betroffen: „They are victims of resource conflicts generated by capitalism’s search for profits; they are located at the frontline of the effects of climate change; they possess small carbon footprints; and they do not have the resources to mitigate against its effects.“ (ROUTLEDGE 2011: 385)

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„fossile Ressourcen im Boden zu lassen; ökologische Schulden des Nordens an den Süden anzuerkennen und Reparationen zu leisten; der Kampf für Energie-, Ressourcen- und Ernährungssouveränität; und die Reduktion von Überkonsumtion und Überproduktion, vor allem im globalen Norden“ (KAUFMANN & MÜLLER 2009: 194, vgl. auch ANGUS 2009).

Das artikulierte Ensemble von Forderungen um Climate Justice umfasst grundsätzlich sowohl eine reaktive als auch eine proaktive Agenda (PEARSE 2010: 185): Einerseits richtet es sich gegen ein Set von technologischen und marktorientierten Ansätzen zur Bearbeitung des Klimawandels. Gefasst werden unter diesen als ‚false solutions‘ bezeichneten Ansätzen unter anderem „carbon offsetting, carbon trading for forests, agrofuels, trade liberalization and privatization pushed by governments, financial institutions and multinational corporations“ (CJN! 2007). Andererseits werden eine Reihe von alternativen Ansätzen – sogenannte ‚real solutions‘ – forciert, die gegen die Hegemonie des Marktes gerichtet sind und zugleich einen gesellschaftlichen Wandel ermöglichen sollen: „In contrast to such corporate, market and state-driven solutions, the movement advocates community-led responses to the climate crisis and the promotion of localised, community sovereignty over food, energy and other resources“ (LONG ET AL. 2010: 225).

Drei zentrale Perspektiven kennzeichnen die antagonistische Ausrichtung des Hegemonieprojektes um »Climate Justice« gegenüber dem hegemonialen Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas«: (a) die Artikulation von Kritik an der Orientierung am Markt, (b) die Artikulation des Klimawandels als sozial-ökologischer Krise und (c) die Artikulation einer Nord-Süd-Perspektive. Auf diese drei Dimensionen soll nun im Folgenden näher eingegangen werden. (a) Die Artikulation von Kritik an der Orientierung am Markt Der »Climate Justice«-Programmatik immanent ist eine Kritik an der vorherrschenden Marktorientierung der internationalen Klimapolitik. Diese Kritik findet ihren Ausdruck in der grundsätzliche Ablehnung von Marktmechanismen zur politischen Bearbeitung des Klimawandels. Beschränkte sich in ersten Deklarationen zu Climate Justice die Kritik an Marktmechanismen noch auf ihre spezifische Umsetzung durch transnationale Unternehmen, so setzt sich mit der Verabschiedung der Durban Declaration on Carbon Trading im Jahr 2004 und der vielfältigen Bezugnahme auf diese Deklaration eine grundsätzliche Gegnerschaft gegenüber diesen Mechanismen210 durch (siehe auch Seite 176f. in Kap. IV.3.3.1). Die Marktmechanismen 210 Schon vor Verabschiedung der Durban Declaration wird vereinzelt eine solche grundsätzliche Kritik geäußert. So heißt es in der Delhi Climate Justice-Declaration bei-

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werden dabei als Teil des Problems und nicht der Lösung begriffen (DURBAN GROUP FOR CLIMATE JUSTICE 2004, vgl. zur Kritik auch 2003; LOHMANN 2006; LEONARD 2010). Das Kyoto-Protokoll der UNFCCC, das entsprechende Mechanismen etabliert, wird als ein Projekt des globalen Nordens aufgefasst, der sich damit von grundsätzlichen Veränderungen seiner Produktions- und Konsumtionsweisen freikauft (PETTIT 2004: 103). Mit der »Climate Justice«-Programmatik wird dem neoliberalen Konsens eine Alternative gegenübergestellt. Die Akteure der »Climate Justice«-Koalition verbindet die Überzeugung, dass „present doxas are insufficient to resolve the crisis of climate change, and other paths are both necessary and possible“ (DORSEY 2007: 20). Sie zielen auf einen Wandel, der ohne Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen, wie sie in Staat und Markt eingeschrieben sind, einhergeht (ebd.). Climate Justice zielt in diesem Sinne – wie es Alex Foti ausdrückt – auf „a new postcapitalist ideology“ (FOTI 2009a). Für die antagonistische Artikulation von Climate Justice von wesentlicher Bedeutung ist der Bezug auf das Konzept der Gemeingüter (»the commons« – vgl. hierzu auch CHATTERTON ET AL. 2013). Damit knüpft die »Climate Justice«Programmatik an die globalisierungskritische Bewegung an, die sich auf vielfältige Weise gegen die Privatisierung der Gemeingüter richtete – für Naomi Klein ist gar „a radical reclaiming of the commons“ der gemeinsame Geist dieser heterogenen »sozialen Bewegung« (KLEIN 2004: 220). Auch das hegemoniale Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas« setzt eine Privatisierung – die der Atmosphäre – als eine Notwendigkeit zur Problemlösung voraus. Climate Justice erteilt den aus diesem Dogma abgeleiteten Marktmechanismen wie Emissionshandel, CDM oder Joint Implementation auch mit dem Bezug auf ‚the commons‘ eine Absage. Die Atmosphäre wird als Gemeingut begriffen, dessen Nutzung mit der Logik des Marktes unvereinbar ist, da Gemeingüter soziale Bedürfnisse erfüllen: „In a nutshell, commons suggest alternative, non-commodified means to fulfill social needs, e.g. to obtain social wealth and to organise social production. Commons are necessarily created and sustained by communities, i.e. by social networks of mutual aid, solidarity, and practices of human exchange that are not reduced to the market form.“ (de ANGELIS 2003: 5)

Das Verständnis der Atmosphäre als Gemeingut liegt ebenso der Forderung nach Begleichung der Klimaschuld (‚Climate Debt‘) des globalen Nordens gegenüber dem globalen Süden zugrunde (vgl. zum Konzept de LUCIA 2012) – eine Forderung, die vielfach mit der nach Climate Justice verknüpft wird. Aufgrund seiner historispielsweise: „We reject the market based principles that guide the current negotiations to solve the climate crisis: Our World is Not for Sale!“ (INDIA CLIMATE JUSTICE FORUM 2002).

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schen Emissionen – bedingt durch die Industrialisierung und (damit verbunden) einer spezifischen Produktions- und Konsumweise – sei der globale Norden verpflichtet, Reparationen gegenüber dem globalen Süden zu leisten, der in erster Linie von Folgen des Klimawandels betroffen sei (vgl. hierzu bspw. KLEIN 2010). Mit der Forderung nach Begleichung der Klimaschuld wird das Konzept der ökologischen Schuld (‚Ecological Debt‘) in die Klimapolitik eingebracht. In den frühen 1990er Jahren wurde dieses Konzept von »NGOs« aus dem globalen Süden entwickelt und bei der UN-Konferenz zu Umwelt und Entwicklung 1992 eingeführt (RICE 2009: 227). Die Forderung nach der Begleichung der ökologischen Schuld beruht auf dem Argument, dass die Entwicklung der industrialisierten Länder wesentlich auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen der weniger entwickelten Länder bzw. der ungleichen Inwertsetzung der globalen Allgemeingüter beruhte (ebd.: 226). Verschiedene »NGOs« verbindete dieses Konzept in ihren diversen Forderungen – Rice (2009: 226) spricht in diesem Zusammenhang von dem Konzept der ökologischen Schuld als „a unifying discourse“.211 Dieser Diskurs212 sei insofern gegenhegemonial orientiert, als mit ihm kritische Forderungen gegenüber der „mainstream ‘development as globalization’ rhetoric“ artikuliert werden (ebd.).213 211 Im Sinne der diskurstheoretischen Terminologie Laclaus und Mouffes kann ‚ökologische Schuld‘ als leerer Signifikant (vgl. Kap. II.2.2) begriffen werden, anhand dessen diverse Forderungen der artikulierenden »NGOs« äquivalent zueinander gesetzt werden. 212 Auch wenn keine eindeutige Definition des Konzepts der ökologischen Schuld existiere, so mein Rice ein grundlegendes Verständnis ausmachen zu können. Auf der Basis einer Analyse verschiedener Positionspapiere von »NGOs« arbeitet er vier miteinander verknüpfte Forderungen heraus: „1) Northern historical development and present disproportionate production and consumption are founded on a socio-ecological subsidy or the underpayment and, at times, explicit looting of the natural resource assets of Southern countries; 2) the Southern external financial debt should be cancelled because it promotes the socio-ecological subsidy; 3) levels of Northern production and consumption are unsustainable over the long term because they are predicated on the North– South socio-ecological subsidy; 4) equity for present and rational obligations to future generations demands Northern countries begin paying back the accrued socioecological subsidy, an obligation defined as the ecological debt.“ (RICE 2009: 225) 213 Für Simons und Tonak treibt das Konzept der Klimaschulden die kapitalistische Entwicklung voran. Forderungen nach Begleichung der Klimaschulden trügen einerseits zu verstärkten grünen Investments des transnationalen Kapitals im Globalen Süden bei, andererseits würde mit ihnen nicht davon abgerückt, Natur einen finanziellen Wert zuzuweisen (SIMONS & TONAK 2010). Damit stehe das Konzept der Klimaschulden „entirely antithetical to the antiglobalization movement that placed at its heart the conviction that ‘the world is not for sale’“ (SIMONS & TONAK 2010).

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In dem mit Climate Justice verknüpften Set von Forderungen findet der Bezug auf ‚the commons‘ darüber hinaus in verschiedener Hinsicht einen Ausdruck. Zum einen in der Forderung danach, marginalisierte Gruppen mögen Zugang und Kontrolle zu Gemeingütern auf lokaler Ebene (zurück-)erlangen. Beispielhaft hierfür stehen die Forderungen nach dezentraler, entprivatisierter Energieversorgung, nach freier Mobilität für alle oder die nach Ernährungssouveränität. Zum anderen findet der Bezug auf Gemeingüter Ausdruck in der Forderung nach veränderten Machtverhältnissen auf globaler Ebene – der internationalen Politik. Derartige Veränderungen – insbesondere der Einbezug von marginalisierten Gruppen und Graswurzel-Bewegungen – seien für die politische Bearbeitung der Gemeingüter erforderlich. (CHATTERTON ET AL. 2013: 610ff.) Thematisiert wird der Umgang mit den Gemeingütern in der reaktiven wie auch proaktiven Agenda der »Climate Justice«-Programmatik. So richtet sich Kritik an ‚false solutions‘ vielfach gegen eine Privatisierung von Gemeingütern – sei es von Atmosphäre, Energie(versorgung) oder Landflächen und ihrer Nutzung. In der Formulierung der ‚real solutions‘ erfolgt daneben ein positiver Bezug auf das Gemeingut, das es zu verteidigen und als Konzept zu verbreiten gilt. Dieser doppelte Bezug der »Climate Justice«-Programmatik auf Gemeingüter kommt beispielsweise in der Forderung nach Ernährungssouveränität zum Ausdruck: Die hegemoniale Bearbeitung des Klimawandels wird einerseits als Bedrohung der Ernährungssouveränität begriffen. Durch den Anbau von Agrar-Treibstoffen als CDM-Maßnahme auf zuvor von Kleinbäuer_innen subsistenzwirtschaftlich genutzten Flächen wird die Aufrechterhaltung der »commons« unmöglich gemacht. Andererseits wird Ernährungssouveränität als einer der (bottom-up) Lösungsansätze der Klimakrise artikuliert. (b) Die Artikulation des Klimawandels als sozial-ökologischer Krise In diesen Forderungen drückt sich ein Verständnis des Klimawandels aus, das diesen als Krise des gesellschaftlicher Naturverhältnisse fasst – als sozial-ökologische Krise.214 Als ursächlich für den Klimawandel werden eine ungerechte Wirtschaftsweise und nicht-nachhaltige Konsummuster einer globalen Elite begriffen (PETTIT 2004: 104). Dieses Verständnis der gesellschaftlichen Reproduktion des Klimawandels durch spezifische Produktions- und Konsummuster grenzt die »Climate Justice«-Programmatik von naturalisierenden Sichtweisen im Akteursfeld ab. Ebenso wie Aktivist_innen aus strategischer Perspektive auf Environmental Justice Bezug nehmen, um die Trennung zwischen Umwelt- und Social Justice214 Dieses Verständnis des Klimawandels kommt dem Krisenverständnis von TheorieAnsätzen der politischen Ökologie nahe (vgl. GÖRG & BEDALL 2013; im Weiteren beispielsweise GÖRG 1999 und BECKER & JAHN 2006).

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Aktivist_innen zu überwinden (ROBERTS 2007: 298f.), zielt Climate Justice insofern auf die Verschränkung beider Themenspektren. In den Blick genommen wird nicht primär der Output des Energiesystems (die Emissionen)215, sondern „our inherited systems of materials extraction, transport and distribution, energy-generation, production of goods and services, consumption, disposal and financing“ (BOND 2012b: 194f.). Insbesondere diese Verschränkung unterscheidet die Akteure, welche die »Environmental«- bzw. »Climate Justice«-Programmatik vorantreiben, von denen der primär auf ökologische Aspekte fokussierten Umweltbewegung (SANDLER & PEZZULLO 2007). (c) Die Artikulation einer Nord-Süd-Perspektive Mit der Artikulation der sozialen Dimension des Klimawandels in der »Climate Justice«-Programmatik einher geht eine Perspektive globaler Gerechtigkeit. Gerechtigkeit zwischen globalem Norden und globalem Süden wird dabei nicht ausschließlich als Überwindung eines Herrschaftsverhältnis zwischen Gesellschaften begriffen, sondern ebenso als Überwindung von Herrschaftsverhältnisse innerhalb von Gesellschaften – d.h. von „vast inequalities […] along the lines of class, gender and race for example in terms of contribution to the problem on the one hand, and vulnerability to its effects on the other“ (NEWELL & PATERSON 2010: 157). Für die Lösung der Klimakrise in einer nicht-herrschaftsförmigen und gerechten Weise sei es erforderlich, die ausgeschlossenen Menschen und ihre Praktiken einzubeziehen. So heißt es in einer Deklaration des Netzwerks Climate Justice Now!: „Indigenous Peoples, peasant communities, fisherfolk, and especially women in these communities, have been living harmoniously and sustainably with the Earth for millennia. They are not only the most affected by climate change, but also its false solutions, such as agrofuels, megadams, genetic modification, tree plantations and carbon offset schemes. Instead of market led schemes, their sustainable practices should be seen as offering the real solutions to climate change.“ (CJN! 2008)

Innerhalb der die »Climate Justice«-Programmatik vorantreibenden Netzwerke haben Gruppen aus dem globalen Süden tatsächlich einen erhöhten Anteil (vgl. auch Seite 157ff. in Kap. IV.3.3.1) – insbesondere, wenn der Begriff des „globalen Südens“ nicht ausschließlich geographisch verstanden wird, sondern an vielfältigen Herrschaftsverhältnissen festgemacht wird: Prägende Akteure im Netzwerk Climate Justice Now! sind so beispielsweise die Kleinbäuer_innen-Organisation La Via 215 Symptomatisch für eine output-orientierte Betrachtung ist die Forderung der Organisation 350.org, den Volumenanteil CO2 auf einen bestimmten Wert – maximal 350 parts per million – zu begrenzen.

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Campesina oder das Indigenous Environmental Network. Das People’s Movement on Climate Change vereint daneben eine Vielzahl von Graswurzel-Aktivist_innen aus Süd-Ost-Asien. Vor diesem Hintergrund kann eine verstärkte Integration von zuvor ausgeschlossenen bzw. marginalisierten Akteuren216 in die klimapolitische Auseinandersetzung konstatiert werden. IV.3.4 Das Hegemonieprojekt um »Climate Justice« In den bisherigen Ausführungen konnte dargestellt werden, dass im Vorfeld der Kopenhagener Klimaverhandlungen von einer Vielzahl von Akteuren im zivilgesellschaftlichen Akteursfeld der Global Climate Governance wiederholt ein spezifisches Set von Forderungen reartikuliert wird, das verknüpft ist mit der Forderung nach Climate Justice (vgl. Kap. IV.3.3). Dieses beständig reartikulierte Set von Forderungen – das Hegemonieprojekt um »Climate Justice« – kann in einem Narrativ repräsentiert werden. Anschließend an die diskurstheoretischen Vorüberlegungen wird im Folgenden die Fantasie dieses Narrativs konzentriert dargestellt.217 Ebenso wie mit dem hegemonialen Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas« wird auch mit dem Hegemonieprojekt um »Climate Justice« ein spezifischer Antagonismus einer gesellschaftlichen Harmonie und Vollkommenheit (und der sie bekräftigenden Faktoren) sowie eines ihr entgegenstehenden Hemmnisses (und seiner Ursachen) artikuliert. Einen Überblick über die Fantasie des Hegemonieprojekts um »Climate Justice« gibt Abbildung 7. Die das Projekt konstituierenden, beständig vorgebrachten Artikulationen werden hier anhand der beiden Dimensionen der Fantasie – der Dimension des ‚Glückseligmachenden‘ und der Dimension des ‚Grauens‘ – zusammengestellt. Die Identifikation spezifischer Artikulationen erfüllt eine heuristi-

216 Mit der »Climate Justice«-Koalition und den sie tragenden Akteursnetzen ist gegenüber der Zusammensetzung von CAN insofern eine deutliche Veränderung auszumachen. Kritische Stimmen äußern jedoch, dass in der »Climate Justice«-Koalition Solidarität mit dem globalen Süden misinterpretiert wird, da „a whole hemisphere has been equated with a handful of NGO bureaucrats and allied government leaders who do not necessarily have the same interests as the members of the underclasses in the countries that they claim to represent“ (SIMONS & TONAK 2010). In den »Climate Justice«Netzen zeige sich „a simplistic North-South dichotomy that mistakes working with state and NGO bureaucrats from the Global South for real solidarity with grassroots social movements struggling in the most exploited and oppressed areas of the world“ (SIMONS & TONAK 2010). 217 Die Fantasie des hegemonialen Projekts der »Neoliberalisierung des Klimas« wurde bereits in Kapitel IV.2.2 dargestellt.

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sche, deskriptive und erklärende Funktion. Die dargestellten Artikulationen müssen als theoretische Konstrukte218 begriffen werden, die zu einem gewissen Grad die Heterogenität von im Akteursfeld vorgebrachten Artikulationen (vgl. Kap. IV.3.3) glätten. Der Artikulation von Climate Justice kommt im Hegemonieprojekt die Funktion des symbolischen Repräsentanten des ‚Glückseligmachenden‘ zu (vgl. hierzu die diskurstheoretischen Grundlagen in Kap. II.2.2). Climate Justice repräsentiert hier gesellschaftliche Harmonie und Vollkommenheit. Climate Justice bedeutet mit der Fantasie des Projekts eine umfassende Transformation der Gesellschaft, die mit der Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, der Gewährleistung demokratischer Rechte und Gerechtigkeit zwischen globalem Norden und globalem Süden219 einhergeht. Climate Justice beseitige die Ursachen des anthropogenen Klimawandels. Zugleich gehe mit der gesellschaftlichen Transformation eine Veränderung von Machtverhältnissen auf globaler Ebene einher, da mit ihr Interessen der herrschenden Elite sowie der Unternehmen angefochten werden.

218 Es handelt sich insofern um Idealtypen (vgl. Seite 119 in Kap. IV.2.1), „formed by the one-sided accentuation of empirically observable features of […] reality to construct objectively feasible configurations […]. These configurations are never found in pure form, but their conceptual construction may still be useful for heuristic, descriptive or explanatory purposes.“ (Jessop 2002: 460, zitiert in CASTREE 2008b: 142) 219 Globale Gerechtigkeit wird dabei nicht ausschließlich als Überwindung eines Herrschaftsverhältnis zwischen Gesellschaften begriffen, sondern ebenso als Überwindung von Herrschaftsverhältnisse innerhalb von Gesellschaften (bspw. entlang der Herrschaftskategorien von class, race und gender).

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Abbildung 7

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Idealtypische Charakteristika des Hegemonieprojekts um »Climate Justice«



     



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Eigene Darstellung



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Darüber hinaus wird eine Vielzahl von partikularen Forderungen zusammen mit der Forderung nach Climate Justice artikuliert und so mit ihr äquivalent gesetzt. Die Forderung nach Climate Justice wird also durch hegemoniale Artikulation aufgefüllt: Climate Justice zu erreichen bedeutet mit der Fantasie des Projekts Produktions- und Konsumtionsweisen zu verändern, insb. Überkonsumtion und Überproduktion primär im globalen Norden zu reduzieren. Climate Justice bedeutet die Abkehr von fossilistischer Energieproduktion und die Förderung erneuerbarer und dezentraler Energien. Climate Justice bedeutet darüber hinaus Gemeingüter zurückzufordern. Die Nutzung von Gemeingütern sei grundsätzlich unvereinbar mit der Logik des Marktes, da sie der Erfüllung sozialer Bedürfnisse diene. Marginalisierte Gruppen von Menschen müssten Zugang zu diesen Gütern auf lokaler Ebene sowie das Recht zu deren Kontrolle erhalten. Climate Justice bedeutet mit der Fantasie des Projekts Energie-, Ressourcen- und Ernährungssouveränität zu realisieren sowie das Recht auf freie öffentliche Mobilität für alle durchzusetzen. Grundsätzlich bedürfe es bei der politischen Bearbeitung der Gemeingüter des Einbezugs bislang ausgeschlossener Menschen (insb. aus dem globalen Süden) und ihrer Praktiken und damit u.a. auch des Wandels des UNFCCC-Prozesses. Der globale Norden müsse seine durch Übernutzung des globalen Gemeinguts der Atmosphäre entstandene Klimaschuld gegenüber dem globalen Süden begleichen. Die Forderung nach Climate Justice fällt im Weiteren mit der Forderung nach zivilem Ungehorsam als einem strategischen Mittel zur Politisierung des Konfliktfeldes zusammen. Um Climate Justice zu erreichen bedürfe es einer an lokalen bis hin zu regionalen Gegebenheiten orientierten Politik. Im Hegemonieprojekt um »Climate Justice« ist es die gegenwärtige (globale) Wirtschaftsweise, die als symbolischer Repräsentant des ‚Grauens‘ fungiert. Die Wirtschaftsweise stellt das artikulierte Hemmnis zur Erlangung gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit dar. Sie bedeutet die Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen sowie eine krisenhafte Vermittlung von Gesellschaft und Natur (eine sozial-ökologische Krise), d.h. sie führt zu sozialer Ungerechtigkeit und wirkt ökologisch verheerend. Ausdruck der sozial-ökologischen Krise – so die Fantasie des Projekts – sei insbesondere der Klimawandel, der gerade die Menschen am stärksten beträfe, die am wenigsten zu seiner Verursachung beigetragen haben (insbesondere die von Armut betroffenen Menschen des globalen Südens). Der Signifikant der ‚Wirtschaftsweise‘ wird durch hegemoniale Artikulation aufgefüllt. Die Wirtschaftsweise fällt so zusammen mit einem spezifischen Produktions- und Konsummuster einer globalen Mittelschicht, der fossilistischen Energieproduktion sowie dem Management des globalen Gemeinguts der Atmosphäre als Emissions-Senke nach der Logik des Marktes. In Äquivalenz zur Wirtschaftsweise wird darüber hinaus die Privatisierung von Gemeingütern (wie der Atmosphäre, der Energie(versorgung), der Landflächen, der Mobilität und anderer Ressourcen) sowie die Inwertsetzung von THG-Emissionen und die Einführung von Marktmecha-

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nismen artikuliert. Schlussendlich ist es eine ökologische Modernisierung, die als Bestandteil des Hemmnisses der Erlangung gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit vorgebracht wird. Die ökologische Modernisierung auf der Grundlage der Substitution fossiler Treibstoffe durch Agrartreibstoffe oder auf der Grundlage technologischer Ansätze zur Bearbeitung des Klimawandels bekräftige die gegenwärtige Wirtschaftsweise. Das Hegemonieprojekt um »Climate Justice« konkurriert mit anderen Projekten wie dem der »Neoliberalisierung des Klimas« um Hegemonie. Verstärkt werden die Auseinandersetzungen um Hegemonie insbesondere mit den Verhandlungen um ein Klimaabkommen ab dem Jahr 2012. Hierauf soll im folgenden detaillierter eingegangen werden.

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| IV. D IE K ONSTITUTION DES K ONFLIKTFELDS

IV.4 D IE P OST -K YOTO -V ERHANDLUNGEN – A USEINANDERSETZUNG ÜBER DIE E RNEUERUNG NEOLIBERALEN H EGEMONIE

DER

Die Verhandlungen darüber, in welcher Weise über das Jahr 2012 hinausgehend unter dem Dach der Vereinten Nationen der Klimawandel bearbeitet wird, politisieren das Konfliktfeld der Global Climate Governance. Zusammen mit der Artikulation einer multipler Krise ab Mitte der 2000er Jahre – der ökologischen Krise, der Finanzkrise bzw. der sich verschärfenden sozialen Ungleichheit (vgl. Kap. IV.3.2) – wird ein Terrain verstärkter Auseinandersetzungen um Hegemonie eröffnet. Auf diesem Terrain wird um die Reproduktion der neoliberalen Hegemonie in der Global Climate Governance gefochten. Zur Disposition steht die Kontinuität des globalen Regulierungssystems, wie es sich mit dem Rahmenkonvention / ProtokollAnsatz formiert hat (vgl. Kap. IV.1.2). Zu Beginn der post-2012-Verhandlungen scheint eine Vielzahl von Entwicklungen möglich. Der Umstand der verstärkten Politisierung begründet die Wahl des Untersuchungszeitraums für die empirische Analyse der vorliegenden Studie: den Zeitraum der Post-2012-Verhandlungen bzw. konkreter, das zunächst für diese Verhandlungen angelegte Zeitfenster, beginnend in Bali 2007 (COP13) und endend in Kopenhagen 2009 (COP15). Im Folgenden soll zunächst auf das Verfahren zur Genese einer institutionellen Bearbeitung des Klimawandels ‚post-2012‘ eingegangen werden, wie es sich im Rahmen der Konvention herausgebildet hat – Verhandlungen, die parallel in zwei Strängen organisiert sind. In diesem Zusammenhang werden wesentliche Aspekte thematisiert, die einen erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen zu einer Herausforderung für die Beteiligten machen. Die erste, 2008 begonnene, Verpflichtungsperiode des Kyoto-Protokolls ist auf das Jahr 2012 befristet. Auch wenn das Kyoto-Protokoll selbst eine grundsätzlich kontinuierliche Gültigkeit über 2012 hinaus aufweist, so erfordert es die Festlegung von zukünftigen Verpflichtungszeiträumen und gültigen Reduktionszielen. Darüber hinausgehend beziehen sich die konkreten Verpflichtungen des bisherigen Rahmenkonvention / Protokoll-Ansatz ausschließlich auf spezifische Länder (die Annex I-Länder – siehe auch Kap. IV.1.2). Eine zentrale Herausforderung der internationalen Gemeinschaft in den internationalen Klimaverhandlungen stellt insofern die Frage nach der Etablierung eines internationalen Klimaschutzes für die Zeit nach 2012 dar – im Rahmen von Protokoll wie auch Konvention – bzw. die Frage nach dem Einbezug der Entwicklungsländer in konkrete Reduktions-Verpflichtungen. Begegnet wurde dieser Herausforderung mit zwei Verhandlungssträngen: Einerseits beschloss die Konferenz der Vertragsparteien des Protokolls in Montreal 2005 (COP11 / MOP1) gemäß ihrer Verpflichtung in Artikel 3.9 des Kyoto-

IV.4 D IE P OST -K YOTO -V ERHANDLUNGEN

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Protokolls (vgl. KP 1997: Art. 3.9) Verhandlungen über eine zweite Verpflichtungsperiode einzuleiten. Eingerichtet wurde eine Ad-hoc Arbeitsgruppe für die Aushandlungen von Reduktions-Verpflichtungen der Annex I-Staaten über das Jahr 2012 hinaus (Ad Hoc Working Group on Further Commitments for Annex I Parties under the Kyoto Protocol – AWG-KP). Andererseits erlangte die Vertragsstaatenkonferenz der Konvention in Bali im Jahr 2007 (COP13) mit der dort verabschiedeten ‚Bali Road Map‘ – einem Konglomerat von Entscheidungen, deren Kern der ‚Bali Action Plan‘ darstellt (vgl. UNFCCC 2007) – zentrale Bedeutung für Verhandlungen über ein umfassendes zukünftiges Klimaschutzabkommen. Im Action Plan beschließt die Konferenz „to launch a comprehensive process to enable the full, effective and sustained implementation of the Convention through long-term cooperative action, now, up to and beyond 2012“ (UNFCCC 2007: 3). Für die weiteren Verhandlungen wird eine Adhoc Arbeitsgruppe eingerichtet (Ad Hoc Working Group on Long-term Cooperative Action under the Convention – AWG-LCA). Mit dem Bali Action Plan werden erstmals seit Beginn der Klimaverhandlungen die Entwicklungsländer dazu verpflichtet, Verhandlungen über „substantially new actions over and above their Convention commitments“ zu führen220 (GRUBB 2008: 4). Entsprechende messbare, berichtspflichtige und überprüfbare Maßnahmen, so hebt es der Bali Action Plan vor, bedürfen dabei der Unterstützung von Seiten der industrialisierten Länder hinsichtlich Technologie, Finanzierung und Capacity-Building (UNFCCC 2007: 3): „The nature of those plans will depend – as they should – on actions by the industrialized countries that have caused the vast majority of global warming pollution to date. Steps to address emissions growth in developing countries will reflect the imperative of lifting desperate people from poverty.“ (SANDALOW 2007)

Mit der Verwendung der Begriffe „developed country parties“ und „developing country parties“ übergeht der Bali Action Plan die Unterscheidung zwischen Annex I- und non-Annex I-Ländern und ermöglicht so eine Auseinandersetzung über zukünftige Verpflichtungen, die sich an den spezifischen Verhältnissen einzelner Länder orientieren und neue Bündelungen möglich machen (OTT ET AL. 2008: 92). Über Verhandlung von Klimaschutzmaßnahmen der ‚developing country Parties‘ hinaus weist der Bali Action Plan der AWG-LCA weitere zentrale Verhandlungsthemen zu (UNFCCC 2007 vgl. auch SANDALOW 2007; GRUBB 2008: 4): Die Reduktion von

220 Dies stellt gegenüber den Verhandlungen zum Kyoto-Protokoll Anfang der 1990er Jahre einen Erfolg dar. Von Seiten der G77 und China wurde zu diesem Zeitpunkt vehement daraufhingewirkt, dass das Protokoll „‘no new commitments’ for developing countries“ umfasse. (SANDALOW 2007)

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Emissionen durch Prozesse der Entwaldung, die Anpassung an den Klimawandel (Adaptation) sowie Finanz- und Technologietransfer. Mit der Einrichtung der AWG-LCA verlaufen die Verhandlungen über einen internationalen Klimaschutz ‚post-2012‘ parallel in zwei Strängen. Beide Stränge zielen ursprünglich darauf zur Vertragsstaatenkonferenz in Kopenhagen 2009 (vgl. GIBSON 2012b) ein neues Abkommen vorzulegen. Der durch die Bali Road Map gezeichnete Weg ist jedoch – wie es Ott bereits 2008 beschreibt – „not a highway but a rather bumpy road filled with potholes and obstacles“ (OTT ET AL. 2008: 93).221 Fünf Aspekte, die die Auseinandersetzungen um ein neues Abkommen beeinflussen, führt Ott auf (vgl. im Folgenden ebd.: 93f.): Erstens sind die Verhandlungen durch Komplexität und einen beträchtlichen Umfang gekennzeichnet. Geführt werden sie in sechs unterschiedlichen „arenas“ – „the COP and the CMP of Convention and Protocol, the two subsidiary bodies of both treaties and the Ad-hoc Working Groups under the Convention and the Protocol“ (ebd.: 93). Grubb spricht in diesem Zusammenhang von „the most complicated and interrelated set of global negotiations in diplomatic history“ (GRUBB 2008: 4). Zweitens haben die zu treffenden Entscheidungen weitreichende politische Konsequenzen. Drittens ist das Verhandlungsergebnis stark von der (nationalen) politischen Entwicklung in den USA abhängig. Viertens zeige sich mit dem Auftreten von Akteuren der Social Justice-Bewegung auf dem klimapolitischen Parkett eine Veränderung von Verhandlungsinhalten und Verhandlungston, die sich teils auf die Entwicklungsländer auswirkt. Fünftens ist es eine Herausforderung, eine Allianz zwischen Norden und Süden zu bilden, welche aufstrebende Ökonomien zu Mitigationsmaßnahmen verpflichtet und armen Ländern Anpassung ermöglicht. Mit der ‚Bali Road Map‘ wird der Debatte um eine zukünftige Klimapolitik unter dem Dach der UN eine formelle Struktur gegeben. Einer Debatte die, wie es Bäckstrand und Lövbrand ausdrücken, „propelled the discursive contestation over future climate governance options and, once more, opened up the process for a struggle over meaning in the climate domain. This discursive struggle includes broader normative debates on North-South fairness, burden-sharing, poverty alleviation, participatory democracy and sustainable development in the making of future climate governance.“ (BÄCKSTRAND & LÖVBRAND 2007: 124)

Die Verabschiedung der ‚Road Map‘ markiert den Beginn intensiver Verhandlungen und damit den Zeitabschnitt verstärkter Auseinandersetzungen um die Ausge221 Dies ist der Hintergrund, vor dem es nicht gelingt, dem ursprünglichen Zeitplan zu folgen. Die COP15 in Kopenhagen und ebenso die COP16 in Cancun sehen sich deshalb dazu veranlasst, eine Verlängerung des Mandats der AWG-LCA um jeweils ein Jahr zu beschließen (vgl. UNFCCC 2009b, 2010c).

IV.4 D IE P OST -K YOTO -V ERHANDLUNGEN

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staltung zukünftiger Klimapolitik unter dem Dach der UN, d.h. Auseinandersetzungen um Hegemonie. Die empirische Untersuchung der vorliegenden Studie – die Diskursanalyse – nimmt diese Verhandlungen im Zeitfenster von Bali bis Kopenhagen in den Blick. Aufgrund der ursprünglichen Ausrichtung der Nachfolgeverhandlungen fokussieren sich die Auseinandersetzungen um Hegemonie in Kopenhagen. Auch wenn dort kein abschließendes Ergebnis erlangt werden konnte, so kommt den anschließenden Vertragsstaatenkonferenzen keine vergleichbare Bedeutung zu, was in der wesentlich geringeren Beachtung durch Akteure – sei es hochrangige Politiker, »NGOs«, »soziale Bewegungen« oder Medien – einen Ausdruck findet.

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P ASSAGE Mit Kapitel IV wurde das mit der Studie in den Blick genommene Konfliktfeld skizziert. Es erfolgte damit eine Kontextualisierung für die folgende empirische Untersuchung. Anders ausgedrückt wurde hier die Genealogie des Diskurses dargestellt – die Formierung des Diskurses, der mit der empirischen Untersuchung der Studie einer archäologischen Betrachtung unterzogen wird.222 In den Blick genommen wurden also die Veränderungen, Brüche und Diskontinuitäten im Diskurs der Global Climate Governance, während die folgende empirische Untersuchung anhand einer Interview-Studie auf die Regelhaftigkeit dieses Diskurses, nämlich die (Re-)Produktion von Hegemonie durch Artikulation von Forderungen und Narrativen in einem bestimmten Akteursfeld (dem der »NGOs« und »sozialen Bewegungen«) zu einem bestimmten Zeitpunkt (dem zeitlichen Umfeld der UN-Klimaverhandlungen in Kopenhagen 2009) abhebt. Im ersten Teil wurde Genese, Struktur und Akteursfeld der Global Climate Governance, wie sie sich zu Beginn der Post-2012-Verhandlungen darstellt, umrissen. Damit erfolgte eine Kontextualisierung der mit der Studie fokussierten »NGOs« und »sozialen Bewegungen« im Akteursfeld der GCG. Kontextualisierbar werden so auch Artikulationen dieser Akteure, die auf die Strukturen der GCG Bezug nehmen bzw. teils in diesen hervorgebracht werden. Der zweite Teil widmete sich der Hegemonie in der Global Climate Governance. Dargestellt wurde – im Sinne einer ideal-typischen Charakterisierung – der Neoliberalismus und seine spezifische Materialität in der Global Climate Governance. Die neoliberale Bearbeitung des Klimawandels, so wurde gezeigt, kennzeichnet sich durch eine strategische Selektivität hinsichtlich Problemwahrnehmung, Lösungsansätzen sowie dem Verhältnis der internationalen Klimapolitik gegenüber der internationalen Handelspolitik. In der Global Climate Governance hat sich so eine globales Regulierungssystem herausgebildet, dass den Zugang zu und den Verbrauch von fossilen Rohstoffen gewährleistet und zugleich dazu dient, die Externalitäten (die Emissionen) politisch im Sinne der Konfliktreduktion zu bearbeiten. Die diskurstheoretischen Überlegungen aus Kapitel II.2 aufgreifend wurde diesen Teil abschliessend das Narrativ des hegemonialen Projekts der »Neoliberalisierung des Klimas« dargestellt. Ein dritter Teil behandelt die Genese eines Ensembles kritischer Forderungen: des gegen-hegemonial orientierten Projektes um »Climate Justice«. Dargestellt wurde die Herausbildung dieses Projektes in Form eines Dreischritts: Konstituierend (1) für die Genese ist der Ausschluss bzw. die Marginalisierung von kritischen

222 Zu den auf Michel Foucault zurückgehenden Begriffen der Genealogie und Archäolgie des Diskurses siehe beispielsweise Bublitz (2001).

P ASSAGE

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Perspektiven gegenüber der neoliberalen Bearbeitung des Klimawandels – insbesondere im Akteursfeld klimapolitisch orientierter »NGOs« und »sozialer Bewegungen« selbst. Während zu Beginn der klimapolitischen Verhandlungen im Rahmen der UNFCCC kritische Positionierungen in diesem Akteursfeld noch weit verbreitet sind, kommt es mit der Verabschiedung des Kyoto-Protokolls unter diesen Akteuren zur Herausbildung eines – vorherrschenden – affirmativen Politikstils, der den hegemonialen Konsens einer politischen Bearbeitung des Klimawandels über den Markt (re-)produziert. Dislozierend (2) hinsichtlich dieses hegemonialen Diskurses wirken die Verhandlungen um eine UN-Klimapolitik Post-2012 sowie die Artikulation einer multiplen Krise ab Mitte der 2000er Jahre. Auf dem so politisierten Terrain lässt sich die Formierung (3) von Akteursnetzen ausmachen, die eine gegenüber dem hegemonialen Konsens antagonistisch orientierte Programmatik vorantreiben. Dargestellt wurde zunächst die Heterogenität dieser Akteursnetze, die sich durch einen konfliktiven Politikstil auszeichnen, der sich vom zuvor vorherrschenden affirmativen unterscheidet. Trotz der Unterschiede dieser Netze hinsichtlich Zusammensetzung, zeitlicher Befristung, Strategien und räumlichen Ebenen, auf denen sie an sozialen Auseinandersetzungen beteiligt sind, weisen sie grundlegende Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihrer Netzwerkstrukturen auf: einen hybriden und polyzentrischen Charakter sowie eine grundsätzlich antagonistische Ausrichtung gegenüber dem Staat in seiner hegemonialen (neoliberalen) Form. Die neuartigen Akteursnetze verknüpfen anhand der Forderung nach Climate Justice eine Reihe von antagonistischen Forderungen zu einem Ensemble. Mit der »Climate Justice«-Programmatik wird dem lange Zeit unangefochtenen hegemonialen Konsens der »Neoliberalisierung des Klimas« eine umfassende Alternative gegenübergestellt. Zum Abschluss dieses Teils wurde das Narrativ, mit dem das Hegemonieprojekt um »Climate Justice« in Erscheinung tritt, skizziert und so dem zuvor umrissenen hegemonialen Projekt gegenüber gestellt. Im letzten Teil des Kapitels wurden die Verhandlungen um ein KyotoNachfolge-Abkommen in den Blick gerückt. Sie konstituieren ein Terrain verstärkter Auseinandersetzung über die Aufrechterhaltung bzw. Erneuerung der neoliberalen Hegemonie in der Global Climate Governance. Als Untersuchungszeitraum für die folgende empirische Analyse der vorliegenden Studie wurde deshalb das zeitliche Umfeld der COP15 gewählt.

Teil B: Die empirische Untersuchung

V. Methodologie

Mit dem Aufgreifen der diskurstheoretischen Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe wird eine poststrukturalistische Forschungsperspektive eingenommen. Doch was bedeutet eine solche Perspektive für die Forschungspraxis? Gibt es so etwas wie eine Methodologie poststrukturalistischer Diskurstheorie, die Orientierung bietet? Die Diskurstheorie, wie sie vor etwa vier Jahrzehnten aufkam, verstand sich von Beginn an mehr als „a new analytical perspective“ denn als „a new theoretical apparatus, consisting of a set of core assumptions, some clearly defined concepts and taxonomies, and a series of ready-made arguments“ (TORFING 2005: 1). Es sind eine Reihe von Vorannahmen, die diese Analyseperspektive ausmachen (vgl. auch Kap. II.2): „The kernel […] centres on the idea that all objects and practices are meaningful, and that social meanings are contextual, relational, and contingent. [...] [S]ocial relations exhibit four properties – contingency, historicity, power, and the primacy of politics (Laclau 1990: 31ff.) – while the identities of social agents are constituted within structures of articulatory practice, and political subjects arise when agents are identified anew under conditions of dislocation.“ (HOWARTH 2005: 317)

Diskurstheorie formuliert – so lässt sich resümieren – grundlegende Annahmen über das Soziale, auf denen die Durchführung von Diskursanalysen am empirischen Material beruht. Oder, wie es David Howarth ausdrückt: „in Heideggerian terms, discourse theory corresponds to the ontological level, [...] while discourse analysis operates at the ontical level“ (ebd.: 336). Ein Blick auf Publikationen der Diskursforschung zeigt, dass eine Vielzahl von ihnen ausschließlich theoretisch oder ausschließlich empirisch ausgerichtet sind. Nur wenige versuchen sich in einer Verbindung von theoretischen und empirischen Studien, und gerade diese „often fail to reflect on methodological issues“ (TORFING 2005: 2). Insbesondere die Behandlung der konkreten methodischen Operationalisierung der hegemonietheoretischen Diskurstheorie Laclaus und Mouffes verbleibt

200

| V. M ETHODOLOGIE

in diskursanalytischen Studien vielfach schemenhaft. Was die ontologischen Vorannahmen für die Forschungspraxis implizieren, wird selten thematisiert. Dieser Umstand scheint dabei ebenso wie der, die eigene Methodologie in empirischen Studien kaum mehr darzustellen, ein grundsätzliches Phänomen interpretativer Forschung zu sein (YANOV & SCHWARTZ-SHEA 2006: xi, xiii). Ein Phänomen, das seine Ursache darin hat, dass von Seiten interpretativer Forschung Methodologie, verstanden als „unchanging, quasi-universal set of rules of procedure for social scientific research“, lange Zeit dem abgelehnten positivistischen Wissenschaftsverständnis zugerechnet wurde (METHMANN ET AL. 2013b: 9): „Most reasearchers using interpretive methods have just set about doing the work, writing the tale, without explicit reflection on their methodological considerations, choices, and decisions.“ (YANOV & SCHWARTZ-SHEA 2006: xiii)

Jacob Torfing bezeichnet es deshalb als die drängendste Herausforderung der Diskurstheorie „to reflect more on methodological issues“ (TORFING 2005: 26). Eine Aufforderung, die nicht nur der wiederholten Kritik des Mainstream sozialwissenschaftlicher Forschung entspringt, in interpretativer Forschung sei alles möglich, sondern ebenso der zunehmenden Unzufriedenheit gegenüber der grundsätzlichen Ablehnung von Methodologie jeder Art unter interpretativen Forscher_innen – wie Torfing – selbst (METHMANN ET AL. 2013b: 9). Im vorliegenden Kapitel soll die Konzeption und das Auswertungsverfahren der empirischen Untersuchung in den wesentlichen Zügen skizziert werden. Damit wird zunächst dem vielfachen Transparenzdefizit hinsichtlich des methodologischen Vorgehens in Studien der interpretativen Forschung begegnet. Die im Kapitel dargelegten Überlegungen schließen an die begonnene Auseinandersetzung über eine post-positivistische Methodologie an (vgl. hierzu bspw. GLYNOS ET AL. 2009; HOWARTH & TORFING 2005; GLYNOS & HOWARTH 2007; METHMANN ET AL. 2013a). Aufgegriffen werden erste Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen – Auseinandersetzungen um Prinzipien, die eine poststrukturalistische Forschung anleiten können und die zugleich die Offenheit und Kontextabhängigkeit verwendeter Methoden gewährleisten (vgl. auch METHMANN ET AL. 2013b: 8ff.). Mit der Darstellung der Methodologie der empirischen Untersuchung wird zugleich ein eigener Beitrag zur Operationalisierung poststrukturalistischer Theorie – konkret: der diskurstheoretischen Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes – geleistet. Das Kapitel ist in zwei Abschnitte gegliedert: In Teil eins werden Vorüberlegungen zur Operationalisierung eines poststrukturalistischen Theoriezugangs in der Forschungspraxis angestellt (Kap. V.1). Diskutiert wird hier, was eine entsprechend informierte Forschung leisten und entlang welcher Prinzipien sich ein Forschungsprogramm darstellen kann. Teil zwei des Kapitels widmet sich der Operationalisierung in der Studie, insb. der einzelnen Untersuchungs- Schritte (Kap. V.2).

V.1 V ORÜBERLEGUNGEN

ZUR

O PERATIONALISIERUNG

DES

T HEORIEZUGANGS

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V.1 V ORÜBERLEGUNGEN

ZUR O PERATIONALISIERUNG DES POSTSTRUKTURALISTISCHEN T HEORIEZUGANGS

Wie kann sich die Forschungspraxis poststrukturalistisch informierter Wissenschaft darstellen? Hierzu werden im Folgenden grundsätzliche Überlegungen angestellt. Zunächst wird die Frage nach einer poststrukturalistischen Methodologie behandelt und das Konzept der artikulatorischen Praxis als mögliche Perspektive vorgestellt (Kap. V.1.1). Anschließend daran wird auf die Besonderheit des Erkenntnisprozesses in poststrukturalistisch informierter Wissenschaft eingegangen (Kap. V.1.2). Die Generierung von Erkenntnis folgt hier – gegenüber einem induktiv bzw. deduktiven Vorgehen – einer retroduktiven Zirkel-Bewegung. V.1.1 Poststrukturalistische Forschung und Methodologie Aus einem traditionellen – positivistischen – Wissenschaftsverständnis ist es die Funktion der Methodologie, in empirischen Untersuchungen für inter-subjektive Nachvollziehbarkeit zu sorgen und grundsätzlich die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten. Ein derartiges Verständnis der Funktion von Methodologie223 wird in poststrukturalistisch informierter Wissenschaft, wie sie hier verfolgt wird, abgelehnt. Es impliziere, so Ernesto Laclau, den Tod des Subjekts („the death of the subject“, Laclau 1996 zitiert in HANSEN & SØRENSEN 2005: 98), wenn es davon ausgeht, dass generiertes Wissen unbeeinflusst von den Produzent_innen sei. Forscher_innen beeinflussen jedoch im gesamten Verlauf des Forschungsprozesses immer auch selbst ihre Forschung: „[T]he steps taken are not neutral vis-à-vis the theoretical point of departure, but always include an element of construction. This consideration applies equally to the operationalism of theoretical concepts and problems, for selection of data, and the analysis of the collected data (Taylor 2001: 11ff.).“ (Ebd.)

Methodologie kann insofern nicht als ein „neutral set of rules and techniques“ begriffen werden (HOWARTH 2005: 317). Gegenüber einem positivistischen Verständnis von Methodologie wird hier davon ausgegangen, dass es immer eine Vielzahl

223 Ein Anspruch an inter-subjektive Nachvollziehbarkeit der verfolgten Forschungspraxis bzw. der wissenschaftlichen Erkenntnis wird hingegen nicht abgelehnt. Jedoch wird die Überzeugung nicht geteilt, dass Methodologie es sei, die diese Nachvollziehbarkeit sichert. Inter-subjektive Nachvollziehbarkeit kann hingegen durch das Offenlegen der vielfältigen im Forschungsprozess getroffenen Entscheidungen gewährleistet werden – insbesondere eingeschlossen sind dabei Entscheidungen über methodologische Fragen.

202

| V. M ETHODOLOGIE

von – implizit oder explizit artikulierten – „ontologischen Annahmen und Setzungen“ ist, auf denen eine Methodologie beruht (WULLWEBER 2010: 45). Wie jede Artikulation im Diskurs ist auch die Ontologie als kontingent zu begreifen (vgl. Kap. II.2.1). Damit kann es für eine poststrukturalistisch informierte Wissenschaft „kein ahistorisches, transzendentes Explanans“ geben (ebd.). Methodologie steht also grundsätzlich einerseits im Kontext eines „wider set of ontological and epistemological postulates“, andererseits steht sie jedoch ebenso „in relation to particular problems“ (HOWARTH 2005: 317). Nicht nur – wie dargestellt wurde – jedes Explanans, sondern ebenso jedwedes Explanandum muss als abhängig von einem spezifischen Kontext begriffen werden (vgl. WULLWEBER 2010: 45f.). Der Forschungsgegenstand einer Studie – das zu bearbeitende Problem – liegt keineswegs objektiv vor. Es ist nicht zuletzt die Formulierung der Forschungsfrage und die zeitlich-räumliche Eingrenzung der Betrachtung (vgl. hierzu auch Kap. I.2 und V.2.1), die offensichtlich machen, dass der Forschungsgegenstand Produkt (diskursiver) Artikulationen ist. Das im Forschungsprozess bearbeitete Problem ist kein Faktum: „There is no such thing as brute facts, but only theoretically informed and culturally shaped descriptions of a discursively constructed reality“ (TORFING 2005: 27). Entsprechend der Ausführungen wird Methodologie hier also als notwendigerweise kontextabhängig begriffen und dies in zweifacher Hinsicht: in Bezug auf Explanans sowie Explanandum. Für poststrukturalistisch informierte Wissenschaft bedeutet dies, dass es eine „all-purpose method“, die nur darauf wartet angewandt zu werden, im Sinne eines „complete user’s guide to discourse analysis“, nicht geben kann (ebd.). Methodologie hat sich an den ontologischen und epistemologischen Grundannahmen und zugleich am spezifischen Problem, das mit der Forschungsarbeit in den Blick genommen wird, zu orientieren. Einen Vorschlag für eine Methodologie, die der Anforderung der doppelten Kontextabhängigkeit begegnet, liefern Glynos und Howarth mit dem Konzept der artikulatorischen Praxis, das hier aufgegriffen wird (vgl. HOWARTH 2005; GLYNOS & HOWARTH 2007: 165ff.). Die Methode der Artikulation stellt einen Ansatz für eine poststrukturalistisch informierte Methodologie dar – einen Ansatz zur Erklärung von Ereignissen und Prozessen in diskursanalytischen Studien. Glynos und Howarth knüpfen in ihren Überlegungen an Laclaus und Mouffes Verständnis von Artikulation an (vgl. Seite 41 in Kap. II.2.1), das diese für die Erklärung sozialer Praktiken entwickeln. Unter einer Artikulation – um dies hier zu resümieren – verstehen Laclau und Mouffe alle Akte der Bedeutungsgenerierung durch diskursive Relationierung. Als drei wesentliche Merkmale artikulatorischer Praxis nach Laclau und Mouffe könne „contingency, singularity, and modification of elements“ festgehalten werden (GLYNOS & HOWARTH 2007: 180): Erstens ist die Beziehung zwischen artikulierten Elementen nicht-notwendig und kontingent, zweitens die Zusammenstellung hete-

V.1 V ORÜBERLEGUNGEN

ZUR

O PERATIONALISIERUNG

DES

T HEORIEZUGANGS

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rogener Elemente unter einem Namen grundsätzlich eine Singularität und drittens unterliegt jedes artikulierte Element als Ergebnis der Praxis der Artikulation einer Veränderung (ebd.). Das Konzept der Artikulation eignet sich – so Glynos’ und Howarths Überlegung – nicht nur für ein Verständnis der „practices being studied“, sondern auch für ein Verständnis der „practices of social scientists themselves“, denn Artikulation konstituiert das Soziale oder, anders ausgedrückt, Artikulation ist das, was „every social process of putting together elements“ ausmacht (ebd.). Eine Praktik von Sozialwissenschaftler_innen im Forschungsverlauf ist die Verknüpfung bestimmter theoretischer Konzepte und Logiken hinsichtlich eines spezifischen Forschungsfeldes. Sei es das Design einer Studie oder ihr Produkt – beides ist Resultat artikulatorischer Praxis. Sozialwissenschaftliche Erklärung ist dabei dann plausibel, wenn die verwendeten theoretischen Konzepte und Logiken konsistent und kompatibel zum einen zueinander und zum anderen mit den zugrunde liegenden ontologischen Annahmen sind (HOWARTH 2005: 327). Die artikulatorische Praxis ist es, die diese Konsistenz und Kompatibilität herstellen muss. Plausibilität kann jedoch nur dann erreicht werden, wenn die unterschiedlichen theoretischen Konzepte und Logiken zugleich auch innerhalb des spezifischen Untersuchungskontextes artikuliert werden – „within the particular context of understanding and explaining the particular object investigated“ (ebd.). Die Stoßrichtung der Methode der Artikulation ist schlussendlich die, eine „singular critical explanation of a problematized phenomenon“ zu liefern (GLYNOS & HOWARTH 2007: 180; Hvb. P.B.): „[T]he practice of articulation is predicated on the idea that all elements and relations are ultimately contingent and partial, and that their meaning and function is relative to the singular explanatory chain within which they are linked.“ (Ebd.: 180f.)

V.1.2 Der Ansatz retroduktiver Erklärung Poststrukturalistische Forschung geht von der sozialen Konstruktion des Forschungsgegenstands aus. Empirische Phänomene müssen als Problem artikuliert werden (ebd.: 167). Ausgangspunkt des Forschungsprozesses ist eine Irritation: Ein Gegenstand – sei er theoretisch oder empirisch – erhält Beachtung (WULLWEBER 2010: 46f.). Diskurstheoretisch argumentiert kann hinsichtlich der Irritation von einer Dislokation (vgl. Seite 44 in Kap. II.2.1) im hegemonialen Wissenschaftsdiskurs gesprochen werden. Das entsprechende Phänomen (die Irritation) kann von diesem Diskurs nicht integriert werden. In einem Forschungsprozess erfolgt an-

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| V. M ETHODOLOGIE

schließend an die Irritation die Problematisierung des Gegenstandes und damit die Genese des Problems (die Konstitution des Explanandums) (ebd.: 47). Im weiteren Forschungsverlauf wird eine erste – vorläufige – Erklärung (Explanans) entwickelt und damit verbunden Hypothesen formuliert (ebd.). Dieser Prozess der Hypothesenbildung ist an Theorien und damit an ontologische Annahmen geknüpft, die keine universelle Gültigkeit beanspruchen können, sondern sich durch Kontingenz auszeichnet. Im Verlauf des weiteren Forschungsprozesses kommt es zu einer Überprüfung dieser vorläufigen Erklärung am Untersuchungsgegenstand. Hier kann sich die Kontingenz der herangezogenen Theorie(n) offenbaren. Es kann sich zeigen, dass das Bedeutungsgefüge der Theorie nicht in der Lage ist, den Untersuchungsgegenstand zu integrieren und eine Erklärung zu generieren. Im Forschungsprozess resultiert dies in einer Veränderung der Theorie und damit verbunden der Hypothesen, was Auswirkungen auf das haben mag, was problematisiert wird, d.h. was als Problem formuliert wird. (Vgl. ebd.) Für einen entsprechenden zirkulären Prozess der Generierung von Erkenntnis verwenden Glynos und Howarth den Begriff der Retroduktion („retroduction“ – GLYNOS & HOWARTH 2007: 18ff.). Mit dem Begriff erfolgt eine Abgrenzung von deduktivem wie auch induktivem Erkenntnisprozess, die beide implizieren, dass zur Erklärung des Sozialen kausale Gesetzmäßigkeiten greifen. Während es sich bei Artikulation, wie oben dargestellt wurde, um eine Methode handelt, kann Retroduktion als eine „overarching logic of investigation“ (ebd.: 19) verstanden werden. Mit dem Ansatz der Retroduktion wird davon ausgegangen, wie es Wullweber ausdrückt, „dass niemals eine ultimative und damit objektive, sondern immer nur eine plausible Erklärung gefunden werden kann und der Erkenntnisprozess niemals zu einem Ende führt“ (WULLWEBER 2010: 47) – auch wenn jedem Forschungsprojekt aus pragmatischen Gründen ein solches gesetzt ist. Im Kontext der retroduktiven Erklärung mag das Problem einer kontinuierlichen Reformulierung unterliegen, es ist jedoch das, was poststrukturalistische Forschung anleitet. Diese stellt sich grundsätzlich als Typus problem-geleiteter Forschung („problem-driven research“, vgl. HOWARTH 2005: 318f.) dar. Der Forschungstypus kann einerseits gegenüber methoden-geleiteter Forschung abgegrenzt werden, die von Techniken der Datenerhebung und Analyse angespornt wird, anstatt vom fokussierten empirischen Gegenstand, sowie andererseits gegenüber theorie-geleiteter Forschung, die auf die Verteidigung einer spezifischen Theorie zielt, anstatt vom Problem auszugehen (ebd.: 318).

V.2 D IE O PERATIONALISIERUNG

POSTSTRUKTURALISTISCHER

D ISKURSTHEORIE

| 205

V.2 D IE O PERATIONALISIERUNG POSTSTRUKTURALISTISCHER

D ISKURSTHEORIE

Das folgende Kapitel widmet sich der Operationalisierung der diskurstheoretischen Hegemonietheorie in der vorliegenden Studie. Dargelegt wird hier die Erklärungskette der Studie (Kap. V.2.2), d.h. die einzelnen Schritte des Forschungsprozesses. Eingegangen wird dabei auf die artikulatorische Praxis im Forschungsprozess, auf die Frage also, wie im Forschungsprozess die gewählten verschiedenen theoretischen Konzepte und Logiken zur Erklärung des mit der Studie problematisierten Phänomens miteinander verknüpft werden. Anschließend daran wird auf einzelne Aspekte der artikulatorischen Praxis näher eingegangen (Kap. V.2.3 und V.2.4): die Erhebung teil-narrativer Interviews bzw. das narrativ-analytische Auswertungsverfahren224. Bevor thematisiert wird, wie die Erklärung des mit der Studie problematisierten Phänomens erfolgt, wird jedoch zunächst der hier eingenommene spezifische Fokus der Hegemonieanalyse dargestellt (Kap. V.2.1). Begründet wird hier, warum eine Eingrenzung der analytischen Betrachtung von Hegemonie anhand spezifischer Dimensionen heuristische Funktionen erfüllt, forschungspragmatisch sinnvoll sein kann und kein Widerspruch zu den ontologischen Annahmen poststrukturalistisch informierter Diskurstheorie ist. V.2.1 Eingrenzung der Hegemonieanalyse anhand heuristischer Dimensionen Die empirische Untersuchung der Studie legt ihren Fokus auf Narrative von Angehörigen von »NGOs« bzw. »sozialen Bewegungen« im Umfeld der UN-Klimaverhandlungen. Diese Fokussierung mag einen Einwand hervorrufen: Lässt sich Hegemonie bzw. Auseinandersetzungen um sie auf bestimmte Bereiche (Akteursoder Politikfelder) eingrenzen? Widerspricht dies nicht dem poststrukturalistischen Theoriezugang? Ich möchte diesem möglichen Einwand im Folgenden begegnen. Die analytische Betrachtung von Auseinandersetzungen um Hegemonie bzw. Hegemonie selbst, so die von mir vertretene Auffassung, kann entlang einer heuristischen bzw. forschungspragmatischen Begründung anhand verschiedener Dimensionen konzeptualisiert werden: auf politischen Ebenen, zwischen verschiedenen Akteuren und in unterschiedlichen Politik-Arenen (seien es beispielsweise die der Klimapolitik, der Biodiversitätspolitik oder der Handelspolitik). Hinzu kommt die Dimension der Zeit.

224 Dieses Verfahren wurde bereits von mir veröffentlicht in BEDALL 2013 (siehe dort Seite 206ff.).

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In der vorliegenden Studie werden Hegemonie bzw. Auseinandersetzungen um sie als eine spezifische raum-zeitliche Organisation des Diskurses verstanden225, die sich – mit Gramsci gesprochen – im erweiterten Staat herausbildet. Die Analyse von Hegemonie wird damit zur Analyse des Diskurses (siehe auch die Darstellungen zur diskurstheoretischen Hegemonietheorie in Kap. II.2). Der Diskurs als die aus sprachlichen und nicht-sprachlichen Artikulationen hervorgehende strukturierte Totalität (vgl. auch LACLAU & MOUFFE 2006: 141, 145) ist „gesellschaftlich und historisch situiert“ (BUBLITZ 2003: 58). Wie es Dosse ausdrückt, bezieht sich ein Diskurs „auf einen bestimmten Raum, eine gegebene Zeit, ein gesellschaftliches, geographisches, ökonomisches oder sprachliches Areal“ (DOSSE 1997: 299). Neben dieser spezifischen Situiertheit eines jeden Diskurses ist es zugleich Diskurs, was bestimmt, was als eine Dimension begriffen wird, d.h. als ein spezifischer Raum226, als ein spezifisches gesellschaftliches, geographisches, ökonomisches oder sprachliches Areal. Im Sozialen liegen entsprechende Dimensionen nicht zufällig vor. Sie sind „vielmehr das Resultat präziser artikulatorischer Praxen“ (LACLAU & MOUFFE 2006: 182), artikulatorische Praxen der Zivilgesellschaft – sei es Wissenschaft, Verbände oder Medien – und staatlicher Institutionen.227 Die Dimensionen kennzeichnen sich durch Kontingenz. „Ihre Bedeutung“ erlangen entsprechende Dimensionen228 „in präzisen konjunkturellen und relationalen Zusammenhängen […]. Keine von ihnen besitzt aber absolute Gültigkeit im Sinne des Definierens eines Raumes oder eines strukturellen Moments, der oder das nicht seinerseits untergraben werden könnte.“ (Ebd.: 185)

225 Auch Scherrer weist darauf hin, dass für eine „empirische Erforschung des Vorhandenseins von Hegemonie“ eine „sachliche, räumliche und zeitliche Spezifizierung der Bezüge von Hegemonie“ notwendig ist (SCHERRER 2007: 77; vgl. auch 76f.). 226 Vgl. hierzu Ansätze der kritischen Raumforschung (bspw. SWYNGEDOUW 1997; BRENNER ET AL. 2003; WISSEN ET AL. 2008). Diese heben hervor, dass räumliche Maßstabsebenen konstitutiv sozial (re-)produziert sind und ihre Reproduktion sozialen Auseinandersetzungen unterliegt. 227 Politische Level, Akteure, Politikfelder oder eine spezifische Zeit sind insofern „Bereiche innerhalb der Diskursorganisation einer Gesellschaft, wie die Unterscheidung zwischen Staat, Ökonomie und (Zivil-)Gesellschaft“, die „hegemonial als separate Räume artikuliert“ werden (WULLWEBER 2009: 134). Sie besitzen „nur eine scheinbare Autonomie, da die Organisation der Diskurse jeden Tag, jeden Moment von einer Vielzahl von Subjekten reartikuliert werden muss, um Bestand zu haben“ (ebd.: 135). 228 Laclau und Mouffe beziehen sich an der hier zitierten Stelle auf die Begriffe „Zentrum“, „Macht“ und „Autonomie“.

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Die „Konstruktion eines [jeden] politischen Raumes“ muss immer bereits als „das Resultat hegemonialer Artikulationen“ verstanden werden (ebd.: 182). Während die diskursiv artikulierten Dimensionen eine Trennschärfe aufweisen, fällt die Reproduktion von Diskursen selbst nicht notwendiger Weise mit diesen Dimensionen in eins. Diskurse bzw. Hegemonieprojekte werden nicht anhand von Dimensionen – seien es politische Ebenen (bpsw. die lokale, nationale oder internationale), Akteure oder Politik-Arenen – separiert artikuliert. Die Reproduktion von Diskursen ist auf keine essentielle Identität beschränkt. Sei es der neoliberale Diskurs oder der Nachhaltigkeitsdiskurs: Diskurse werden von einer Vielzahl von Akteuren, quer zu unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen, (re-)produziert. Diskurs ist grundsätzlich multidimensional re-produziert (vgl. hierzu auch MCGUIRK 2004: 1024f.). Die Möglichkeit einer analytischen Betrachtung von Diskursen (bzw. Hegemonieprojekten) anhand spezifischer Dimensionen kann vom Umstand ihrer multi-dimensionalen Reproduktion unterschieden werden. Im Forschungsprozess kann eine Fokussierung der Untersuchung anhand von Dimensionen eine im Wesentlichen heuristische Funktion erfüllen. Eine Fokussierung auf Dimensionen kann ihre Begründung daneben auch in forschungspragmatischen Überlegungen haben. Das empirische Feld kann auf diese Weise begrenzt werden. Definiert werden (Untersuchungs-)Dimensionen durch das spezifische Erkenntnisinteresse der jeweiligen Studie, beispielsweise, wenn hier Fragen forschungsleitend sind wie: »Was ist auf einer spezifischen politischen Ebene hegemonial?« oder »Wie stellen sich Auseinandersetzungen um Hegemonie in einem spezifischen Akteursfeld bzw. in einem spezifischen Politikfeld, zu einem spezifischen Zeitpunkt bzw. in einem spezifischen Zeitabschnitt, dar?«. Mit entsprechenden Fragen unternimmt die Forscher_in eine archäologische Tätigkeit, die in der Deskription der diskursiven Struktur und damit in der Ermittlung der „Bedingung von deren Wiederholbarkeit“229 besteht (DOSSE 1997: 299). Die Festlegung heuristischer Dimensionen ist insofern in zweifacher Hinsicht bestimmt von der Logik der Kontingenz: Einerseits ist die Gesamtheit potentiell zu fokussierender Dimensionen kontingentes – also nicht beliebiges bzw. notwendiges – Resultat hegemonialer Artikulation (in einem spezifischen Diskurs wie beispielsweise dem wissenschaftlichen). Andererseits ist die schlussendlich in der Analyse vorgenommene Fokussierung der Betrachtung auf spezifische Dimensionen das Ergebnis einer kontingenten Entscheidung des – informierten – Forschenden.230 Die 229 Die Wiederholung des Diskurses selbst bleibt ein unrealisierbares Gedankenspiel. Die Ermittlung von Bedingungen einer Wiederholbarkeit ist eine analytische Aufgabe. 230 Die grundsätzliche Relevanz für die Betrachtung zivilgesellschaftlicher Akteure in hegemonialen Auseinandersetzungen im Feld der Climate Governance – wie sie mit der vorliegenen Arbeit erfolgt – wurde bereits anhand des gramscianischen Verständnis von

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Entscheidung der Forscher_in verbleibt eine Setzung – „[j]edes Forschungsdesign ist durch und durch politisch“ (WULLWEBER 2009: 141). Die Hegemonieanalyse in der vorliegenden Studie wird anhand der folgenden Dimensionen eingegrenzt: Mit ihrem Erkenntnisinteresse fokussiert die Studie auf Auseinandersetzungen um Hegemonie auf der internationalen Ebene im Akteursfeld transnationaler Netzwerke von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« in der klimapolitischen Politik-Arena im Zeitabschnitt der Verhandlungen zu einer UNKlimapolitik ‚post-2012‘ im Umfeld der COP15. Die Relevanz dieser gewählten Dimensionen – der politischen Ebene, dem Akteursfeld, der Politik-Arena und dem Zeitabschnitt – für die Analyse von Hegemonie(bildung) wurde in Kapitel IV. ausführlich dargestellt. V.2.2 Die Erklärungskette (singular explanatory chain) der Studie Die Beantwortung der Forschungsfragen der vorliegenden Studie (vgl. Kap. I.2) erfolgt anhand verschiedener Schritte. Entsprechend Glynos und Howarths Terminologie kann von der Konstruktion einer Erklärungskette – einer „singular explanatory chain“ – gesprochen werden (vgl. Kap. V.1.1), die dazu dient zu erklären und zu analysieren, ob (1) im Zusammenhang mit der Programmatik um »Climate Justice« von einem »gegen-hegemonialen« Projekt gesprochen werden kann. (2) es in den Auseinandersetzungen um eine internationale Klimapolitik ‚post2012‘ im Kontext der COP15 zu einer Verbreitung des kritischen Gehalts der »Climate Justice«-Programmatik im Akteursfeld der transnationalen »NGOs« und »sozialen Bewegungen« kommt bzw. ob (3) sich im Akteursfeld von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« Muster im Zusammenspiel spezifischer inhaltlicher Artikulationen und der Organisationsform ausmachen lassen. Die Erklärungskette umfasst vier Schritte: Zunächst erfolgt eine genealogische Darstellung des Diskurses der Global Climate Governance, wie er sich im Vorfeld der Klimaverhandlungen in Kopenhagen darstellt. Zum einen wird dabei seine hegemonialen Verfasstheit dargestellt (Kap. IV.2). Zum anderen wird rekonstruiert,

Hegemonie begründet. Es impliziert, dass Auseinandersetzungen um Hegemonie im Feld der Climate Governance nicht ausschließlich an internationalen Verhandlungstischen stattfinden. Welche Forderungen sich in der Klimapolitik durchsetzen oder welche marginalisiert werden, wird hingegen in Auseinandersetzungen um Hegemonie auf dem umfassenderen Terrain des erweiterten Staates (Gramsci) entschieden.

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wie sich verknüpft mit der Forderung nach Climate Justice eine antagonistische Programmatik herausbildet (Kap. IV.3). In einem zweiten Schritt erfolgt daran anschließend eine diskursarchäologische Betrachtung im Akteursspektrum von »NGOs« und »sozialer Bewegungen« während der Verhandlungen in Kopenhagen (Kap. VI). Identifiziert werden hier die durch Angehörige von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« (re-)artikulierten Hegemonieprojekte (Kap. VI.2) sowie insbesondere die spezifische Artikulation von Climate Justice (Kap. VI.4). Die Beurteilung dieser Artikulationen hinsichtlich ihrer kritischen bzw. affirmativen Positionierung stellt einen dritten Schritt der Erklärungskette dar, auch wenn die Darstellung dieses Schrittes eng mit der des vorherigen verbunden ist. Daran anschließend kann – dies ist der vierte abschließende Schritt – die Frage nach dem Verhältnis von gesellschaftspolitischer Praxis und Organisationsform im fokussierten Akteursfeld beantwortet werden (vgl. Kap. VII.1.2). Im Folgenden soll die artikulatorische Praxis im Forschungsprozess (vgl. Kap. V.1.1) skizziert werden, d.h. skizziert wird, anhand welcher Verfahren die Erklärung des Problems erfolgt: Grundlage für den ersten Schritt der genealogischen Darstellung des Diskurses ist das Studium von Primär- und Sekundärliteratur. Für die anschließende diskursarchäologische Betrachtung wurde eine empirische Untersuchung anhand von teil-narrativen Interviews durchgeführt. Im folgenden Kapitel wird das hierzu aufgegriffene Verfahren dargestellt, das in der Erstellung der Interviewtranskripte mündet – d.h. das Verfahren der Auswahl der interviewten Akteure, der Generierung der Interview-Leitfäden und der Erhebung der Interviews (Kap. V.2.3). Die Identifikation der Artikulationen von Climate Justice bzw. die Bewertung hinsichtlich ihres Charakters – d.h. die Erklärungsschritte zwei und drei – erfolgte anhand eines narrativ-analytischen Verfahren, das im Anschluss beschrieben wird (Kap. V.2.4). Die Ergebnisse aus diesen Erklärungsschritten werden im vierten Schritt, der Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Organisationsform der Akteure und der von ihnen hervorgebrachten Artikulationen, aufgegriffen. V.2.3 Die Erhebung teil-narrativer Interviews Grundlage der empirischen Studie sind Interviews mit Angehörigen von »NGOs« und »sozialen Bewegungen«. Für die Forschung zu Diskurs haben Interviews besondere Stärken (vgl. hierzu im Folgenden HANSEN & SØRENSEN 2005: 99): Gegenüber Dokumenten bieten Interviews ein in geringerem Maße sanktioniertes, formalisiertes oder rationalisiertes Bild der Welt. Die Befragten bieten individuelle, spontan geäußerte Eindrücke diskursiver Deutungsmuster, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Feld existieren. Anhand von Interviews kann Wissen darüber generiert werden, wie Individuen in unterschiedlichen Positionen eines

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Diskurses Bedeutung und Identität konstruieren – sei es über sich selbst oder andere Akteure – und wie sie Muster der Inklusion und Exklusion, d.h. Antagonismen (vgl. Kap. II), (re-)produzieren. Anhand von Interviews können im Forschungsprozess detailliertere und spezifische Informationen über die Artikulation bestimmter Aspekte durch spezifische Akteure erfasst werden.231 Zur Bestimmung des in den Blick genommenen Akteursfelds klimapolitisch aktiver transnationaler Netzwerke von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« (vgl. zu den Begriffen Kap. III.3), dienten festgelegte Ein- bzw. Ausschlusskriterien (vgl. Tabelle 4). Die Recherche erfolgte anhand der durch das Sekretariat der UNFCCC verwalteten Liste der zur UN-Klimakonferenz COP15 in Kopenhagen akkreditierten »NGOs«232 sowie anhand der Durchsicht von Webseiten »sozialer Bewegungen« und der teilnehmenden Beobachtung an der Vorbereitung »sozialer Bewegungen« auf die Konferenz. Das Akteursfeld umfasste insofern neben Akteuren, die innerhalb der Strukturen der Verhandlungen als akkreditierte ObserverOrganisationen agierten, ebenso Akteure, die außerhalb des offiziellen Prozesses in Erscheinung traten (zu den beiden unterschiedlichen Strategien von Akteuren siehe auch Seite 174 bzw. DRYZEK & STEVENSON 2010: 20f.).

231 Weitere Überlegungen zum Mehrwert der Integration von Interviewforschung in die Hegemonieanalyse – insbesondere für die Erhebung von Artikulationen bzw. die Beschreibung konkurrierender Hegemonieprojekte – siehe Kapitel VII.2.2. 232 Unter der Definition von NGO, wie sie die UNFCCC formuliert, werden neben den in den Blick genommenen Akteuren ebenso Unternehmen, Think Tanks, Stiftungen oder parteipolitische Organisationen und Netzwerke gefasst (vgl. UNFCCC 1992: Art. 7 §6). Bei der Vertragsstaatenkonferenz in Kopenhagen 2009 (COP15) akkreditiert waren über 1.200 solcher NGOs (UNFCCC 2009a).

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Tabelle 4 Kriterien zur Eingrenzung des Untersuchungsfeldes Einschlusskriterien

Ausschlusskriterien

• non-profit

• Netzwerke aus regierungs- bzw. internationalen Institutionen oder Organisationen

• non-governmental • transnationales Netzwerk • orientiert auf internationale Klimapolitik (UNFCCC / KyotoProzess) • klimapolitischer Schwerpunkt des Tätigkeitsbereichs • aktive Mitgliedsgruppen in mindestens fünf Nationen

• parteipolitische Organisationen / Netzwerke • Think-Tanks • Stiftungen • (national) zentralisierte Charitybzw. Conservation-Organisation mit internationalem Einsatzgebiet • Regionen-spezifisch Ausrichtung (Europa, Nord-Amerika, etc.) – berücksichtigt werden indigene Zusammenschlüsse • ausschließlich beratend / unternehmensberatend • ausschließlich capacity building als Tätigkeitsfeld

Für Interviews ausgewählt wurden Angehörige der Akteure im Untersuchungsfeld. Es wurde dabei angestrebt, Mitarbeiter_innen bzw. Angehörige des Arbeitsbereichs zum Klimawandel bzw. dort hauptverantwortliche Personen zu befragen bzw. in »sozialen Bewegungen« Personen, die dort wesentlich hervor treten. In den Wochen der Kopenhagener Konferenz konnten im abgesteckten Feld 14 persönliche Interviews anhand eines halbstrukturierten Leitfadens durchgeführt werden. Nach Abschluss der Konferenz wurde der Bedarf einer Nacherhebung geprüft. Der Bestand der erhobenen Interviews wurde hierzu anhand verschiedener Kriterien233 geclustert: Betrachtet wurde, inwieweit durch die geführten Interviews das Akteursspektrum des Untersuchungsfelds abgedeckt wird. Geclustert wurde nach politischen Zusammenhängen (einer Mitgliedschaft in den Netzwerken Climate Action Network (CAN), Climate Justice Now! (CJN!) und Climate Justice Action (CJA)) sowie nach der thematischen Ausrichtung der Akteure auf verschiedene Bereiche (Indigenes, Religiöses, Conservation, Gender, Entwicklung, Jugend, kommunaler Klimaschutz, Kohlenstoffmanagement, Autonome, Webaktivismus).

233 Tabelle A.1. im Anhang (online verfügbar unter: http://www.transcript-verlag.de/978-38376-2806-7) stellt dies detaillierter dar.

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Auf diese Weise konnten sechs weitere Akteure bestimmt werden, mit denen die Heterogenität des Akteursfeldes abgedeckt würde. Trotz intensiver Bemühungen konnte aufgrund der Verfügbarkeit nicht mit allen diesen Akteuren Interviews nacherhoben werden. Nicht abgedeckt wurden die Bereiche ‚Indigenes‘ und ‚Autonome‘ sowie die auf die Kopenhagener Verhandlungen konzentrierte Kampagne ‚tcktcktck – Time for Climate Justice‘. Schlussendlich wurden drei weitere telefonische Interviews erhoben. Eine Übersicht über die erhobenen Interviews gibt die Auflistung im Literatur- und Quellenverzeichnis (auf Seite 415). Die Interviews wurden für den weiteren Forschungsprozess transkribiert.234 Der Leitfaden für die Interviews wurde anhand des von Cornelia Hellferich (2005: 182ff.) vorgeschlagenen Stufen-Verfahrens – „SPSS“235 – in der Weiterentwicklung durch Jan Kruse (2009: 73ff.) erstellt. Der verwendete Leitfaden gliedert sich in fünf Fragenkomplexe. Diese betreffen (1) die spezifische »NGO« bzw. »soziale Bewegung« der die interviewte Person angehört, (2) Ziele und Forderungen, (3) die Bewertung der Klimaverhandlungen, (4) die Bewertung von Handlungsformen von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« sowie (5) die Akteurskonstellation. In ihrer Struktur umfassen die Fragenkomplexe jeweils eine offene, thematisch fokussierende Frage (siehe Tabelle 5). Diesen Leitfragen wurden Anschluss- bzw. Nachfragen zu einzelnen inhaltlichen Aspekten zugeordnet, die stärker fokussieren und dem Gesprächsverlauf entsprechend an die jeweiligen befragten Personen angepasst wurden.236

234 Die Transkripte der Interviews sind in Anhang A.3 einsehbar (online verfügbar unter: http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2806-7). 235 Die Abkürzung steht für vier zentrale, zirkulär miteinander verknüpfte, Arbeitsschritte bei der Erstellung des Leitfadens: das offene Brainstorming von Fragen (Sammeln), das Prüfen der Fragen auf ihre Geeignetheit (und ggf. das Streichen ungeeigneter Fragen), das Sortieren der Fragen nach Inhalt und Fragetyp (Erzählaufforderung, Aufrechterhaltungsfrage und konkrete Nachfrage), das Subsumieren der Fragen in den Leitfaden (d.h. ihr ein- bzw. unterordnen). (Vgl. HELFFERICH 2005: 182ff.) 236 Der Leitfaden ist in vollem Umfang in Anhang A.2 einsehbar (online verfügbar unter: http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2806-7).

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Tabelle 5 Struktur des Interviewleitfadens       

 

  

  



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V.2.4 Ein narrativ-analytisches Auswertungsverfahren In der vorliegenden Studie wird eine Mikroperspektive237 auf die (Re-)Produktion von Hegemonie eingenommen, wenn die von spezifischen Akteuren artikulierten (konkurrierenden) Forderungen und die sich mit ihnen konstituierenden Narrative zum Klimawandel in den Blick genommen werden. Rekonstruiert wird die ‚hegemoniale Struktur‘ (vgl. zum Begriff Seite 58 in Kap. II.2.5) von Interviews und die mit den Interviews auf Diskursebene (re-)artikulierten Hegemonieprojekte. Das hierfür entwickelte narrativ-analytische Verfahren wird im Folgenden dargestellt. Für das Verfahren herangezogen und mit der hegemonietheoretischen Diskurstheorie Laclaus und Mouffes (vgl. Kap. II) verknüpft werden Aspekte der NarrativAnalyse, wie sie von Feldman et al. (2004) beschrieben wird. Das Verfahren gliedert sich in drei Schritte: 1) die Segmentierung des Interviews in Stories; 2) die Rekonstruktion der den Stories zugrunde liegenden Argumentation anhand der 237 Johnston weist darauf hin, dass poststrukturalistische Diskursforschung mehrheitlichen eine makroskopische Perspektive auf Diskurs einnimmt, wenn die Reproduktion breiterer Diskursstränge in den Blick genommen werden (JOHNSTON 1995: 219). Eine „micro-discourse analysis“ hingegen, so sein Verständnis, „takes a specific example of written text or bounded speech and seeks to explain why the words, sentences, and concepts are put together the way they are“ (ebd.).

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verwendetet – expliziten wie impliziten – Syllogismen sowie 3) die Kodierung der festgehaltenen Syllogismen anhand der Dimensionen der Fantasie und damit die Rekonstruktion der Narrative auf Ebene des Einzeltextes bzw. des Diskurses sowie die Einordnung der diese Narrative konstituierenden Artikulationen hinsichtlich ihrer affirmativen bzw. kritischen Positionierung. In dem grundlegenden ersten Schritt – der Identifikation – werden ‚Stories‘ im Textmaterial identifiziert, d.h. es werden bestimmte Textsequenzen der InterviewTranskripte238 intuitiv segmentiert: „Stories are instantiations, particular exemplars, of the grand conception. They respond to the questions of ‘And then what happened?’ or ‘What do you mean?’“ (ebd.: 149). Ein Beispiel für eine identifizierte Story stellt das folgende Segment aus einem Interview mit einer Vertreterin der Kampagne ‚Hopenhagen‘ dar239: [Die ‚It’s Going to be Companies Not Countries‘-Story:] I think the right solutions to climate change they – I’ll start with what they can’t be. I don’t think that they can come [above] […] mandate[d] from any authoritative intergovernmental body. You know, [this] kind of rules out the United Nations’ ability to truly »solve climate change«. Solutions to climate change are going to come from market forces. From free competition to really capitalise on the growth opportunities of finding the solutions to global warming and finding the ways to limit greenhouse gases without hurting productivity and it’s going to be companies not countries, but companies that really drive this and really create the innovation that will allow us to achieve a carbon neutral economy.

Der zweite Schritt – die Rekonstruktion – dient dazu, die den Stories zugrunde liegende Argumentation herauszuarbeiten. Dieser Schritt beruht auf der Annahme, „that an argument could be identified and represented in an inferential, logical form“ (ebd.: 155). Konkreter: Die Grundüberlegung ist es, dass die Story in Form von Syllogismen reproduziert werden kann (ebd.). Syllogismen bilden den Kern der aristotelischen Logik. Ein Syllogismus kennzeichnet sich durch eine erste Prämisse (propositio maior), eine zweite Prämisse (propositio minor) und eine Schlussfolgerung (conclusio). Ein oft angeführtes Beispiel für einen Syllogismus ist: Alle Menschen sind sterblich (erste Prämisse). Alle Griechen sind Menschen (zweite Prämisse). Alle Griechen sind sterblich (Schlussfolgerung).

238 Die Transkripte der Interviews sind in Anhang A.3 einsehbar (online verfügbar unter: http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2806-7). 239 Die gesamten im Untersuchungsmaterial identifizierten Stories finden sich in Anhang A.4 (online verfügbar unter: http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2806-7).

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Aus dem Textmaterial lassen sich Syllogismen anhand von expliziten, aber auch impliziten Statements rekonstruieren. Bei der Analyse finden insbesondere auch intertextuelle Bezüge Beachtung. Mit dem Konzept des Enthymems können die den Stories zugrunde liegenden implizit geäußerten Argumente dargestellt werden. Die rhetorische Figur des Enthymems ist ein verkürzter Syllogismus, bei dem eine Prämisse oder die Konklusion nicht explizit ist.240 „The concept of the enthymeme provides the researcher with a tool to transform the implicit parts of the arguments into explicit and analyzable data. Because stories often have multiple arguments, this form of analysis facilitates disentangling the various arguments in a story. Often one syllogism serves as a stepping-stone to other arguments in the story.“ (Ebd.: 152)

Aufschluss über implizite Statements geben „impressions of the stories as a whole and [...] deduction from the explicit elements of the argument that appear more readily“ (ebd.: 158). Feldman et al. weisen darauf hin, dass sich gerade in den impliziten Bestandteilen der Syllogismen zeigt, „what is either controversial or taken for granted“ (ebd.: 167).241 Die oben angeführte Story kann in Form der folgenden Syllogismen reproduziert werden242 (implizite Prämissen oder Konklusionen werden in Großschrift dargestellt): The right solutions to climate change cannot come as a mandate from any intergovernmental body. MARKET FORCES ARE NOT MANDATED. Therefore, solutions to climate change can come from market forces. The right solutions to climate change can not come as a mandate from any intergovernmental body. The rules of the United Nations are like a mandate. THEREFORE THE RIGHT SOLUTIONS TO CLIMATE CHANGE WILL NOT COME FROM THE UNITED NATIONS. Free competition capitalizes on the growth opportunities. Capitalizing on the growth opportunities means finding solutions to global warming and limiting greenhouse gases without

240 Meist ist es die erste Prämisse, die nicht erscheint (FELDMAN ET AL. 2004: 152). 241 Die Analyse impliziter Statements bietet insofern Erkenntnispotential für weitere empirische Forschungsarbeit. Indem implizite Statements bspw. in weiteren Interviews zur Diskussion gebracht werden, kann ein besseres Verständnis des Diskurses erzielt werden. 242 Die Darstellung der im Untersuchungsmaterial identifizierten Stories anhand von Syllogismen erfolgt in Anhang A.4 (online einsehbar unter: http://www.transcript-verlag.de/ 978-3-8376-2806-7).

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hurting productivity. Therefore, free competition means finding solutions to global warming and limiting greenhouse gases without hurting productivity. Companies will create innovation. Innovation will allow us to achieve a carbon neutral economy. THEREFORE, COMPANIES WILL ALLOW US TO ACHIEVE A CARBON NEUTRAL ECONOMY. Countries will not create innovation. Innovation will allow us to achieve a carbon neutral economy. THEREFORE, COUNTRIES WILL NOT ALLOW US TO ACHIEVE A CARBON NEUTRAL ECONOMY.

In einem dritten Schritt – der Auswertung – werden die Syllogismen zur weiteren Interpretation kodiert.243 Dabei werden ihre einzelnen Bestandteile – Prämissen und Konklusion – als Texteinheiten betrachtet. Anknüpfend an die diskurstheoretischen Vorüberlegungen werden diese Texteinheiten hier als die das Interview-Narrativ konstituierenden Artikulationen verstanden (vgl. zum Begriff der Artikulation Seite 41). Die thematische Kodierung der Syllogismen der Interviews – d.h. I (a) bis I (n), vgl. Box 2 – erfolgt anhand „a list of relatively concrete, descriptive categories focusing on specific content“ (vgl. auch ebd.: 165). Die Kodierung erfolgt zunächst im Rahmen einer Längsauswertung der Interviews. Hier greife ich die zwei Dimensionen der Fantasie auf, in denen jeweils Forderungen zu Äquivalenzketten verknüpft werden – die Dimension des ‚Glückseligmachenden‘ (the beatific) bzw. die Dimension des ‚Grauens‘ (the horrific); vgl. auch Seite 42, 48 und 55. Orientiert an diese fantasmatische Struktur bestimme ich die Kategorien B1 und B2 sowie H1 und H2 (vgl. Box 2), mit denen ich das Mate243 Bei der Kodierung anhand von Kategorien handelt es sich um eine Inhaltsanalyse. Die Anwendung dieses Verfahrens in poststrukturalistisch informierter Diskursforschung wird problematisiert, da der Inhaltsanalyse die Annahme zugrunde liegt, dass analysierte Textabschnitte jeweils einen spezifischen „Inhalt“ und damit eine „Bedeutung“ umfassen, die „erschlossen werden kann“ (GLASZE 2007: 29). Die Inhaltsanalyse geht von einem „Repräsentationsmodell“ (ebd.: 20) aus, d.h davon, dass ein Textabschnitt zugleich auch eine Bedeutung repräsentiert, was in Widerspruch zur poststrukturalistischen Ontologie steht (vgl. Kap. II). Gegenüber der klassischen Inhaltsanalyse erfolgt in der vorliegenden Arbeit jedoch keine Kodierung eines Primärtextes, sondern eines Sekundärtextes – der Bestandteile der rhetorischen Figur des Syllogismus (der Prämissen und der Konklusionen). ‚Bedeutung‘ wurde im Primärtext bereits vor der Kodierung anhand der narrativen Muster der Syllogismen erschlossen. Die grundsätzliche Problematik der Inhaltsanalyse in poststrukturalistisch verorteten Studien wird hier erkannt. Jedoch wird der Auffassung gefolgt, dass eine inhaltsanalytische Kodierung als ein Teil-Schritt der im Übrigen poststrukturalistisch fundierten Analyse der hegemonialen Struktur einen Mehrwert bietet, der die erkenntnistheoretische Problematik aufwiegt.

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rial kodiere und die artikulierten Forderungen244 erhebe: Was wird als ‚Grauen‘ beschrieben (Kategorie H1), d.h. welche Attribute (Eigenschaften und Folgen) werden ihm zugewiesen? Was sind Faktoren, die das ‚Grauen‘ bekräftigen (Kategorie H2)? Was wird als ‚Glückseligmachendes‘ skizziert (Kategorie B1) und welche Attribute (Eigenschaften und Folgen) werden ihm zugewiesen? Und: Was wird als Faktoren artikuliert, die die Verwirklichung des ‚Glückseligmachenden‘ bekräftigen (Kategorie B2)? Bei der Kodierung des Interviewmaterials differenziere ich hinsichtlich der Kategorien H2 und B2 jeweils zwischen bekräftigenden Faktoren allgemein (H2.1, B2.1) und der Agency von »NGOs« bzw. »sozialen Bewegungen« (H2.2, B2.2). Den Kategorien kommt die Rolle einer heuristischen Brille zu, mit der das empirische Feld betrachtet wird – der Diskurs.

244 Johannes Angermüller hinterfragt, ob Forderungen als „unhintergehbare Einheiten“ verstanden werden können, „deren Bedeutung in unmittelbarer Evidenz zugänglich“ sei (ANGERMÜLLER 2007: 165). Bei der Operationalisierung der diskurstheoretischen Hegemonietheorie im empirischen Material – und hier bei der Erhebung von Forderungen – zeige sich eine bereits in ihrer Ontologie angelegte Widersprüchlichkeit: Obwohl Laclau und Mouffe Kontingenz als ein Wesensmerkmal diskursiver Praxis verstehen, d.h. obwohl sie Struktur als eine unabschließbare Offenheit begreifen, würden von ihnen all die diskursiven Elemente, die nicht sogenannte flottierende oder leere Signifikanten darstellen, essenzialisiert. Angermüller leitet aus seiner Kritik an diesem Essentialismus der kleinsten Einheit (der Forderung) die Schlussfolgerung ab, dass in der Analyse des Diskurses vielschichtige Bedeutungsebenen und Sprechperspektiven berücksichtig werden müssen (ebd.: 164). Wenn in der vorliegenden Untersuchung Forderungen empirisch erhoben werden, wird sich an Martin Nonhoff gehalten, der darauf hinweist, dass mit dem „Begriff der Forderung die Materialität des politischen Diskurses“ in den Blick genommen wird, die mit einer „rein linguistischen Analyse“, die Angermüllers Ansprüchen gerecht würde, in den Hintergrund geraten würde (NONHOFF 2008: 304).

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Box 2

Kategorien zur thematischen Kodierung – Längs- und Querauswertung

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Als Ergebnis der thematischen Kodierung können je Interview einzelne Fallexzerpte245 erstellt werden, in denen die artikulierten Forderungen strukturiert gesammelt und zugehörige symbolische Repräsentanten des ‚Glückseligmachenden‘ bzw. des ‚Grauens‘ abstrahiert werden (vgl. hierzu das in Kap. II.2.2 eingeführte Konzept des leeren Signifikanten). Ein Fallexzerpt stellt insofern die hegemoniale Struktur eines Interviews dar. Auf der Grundlage der Fallexzerpte und Stories können die Narrative der Interviews anhand einer einheitlichen Gliederung246 als Fließtext ausformuliert werden (vgl. Kap. VI.2.1.3, VI.2.2.3, VI.2.3.3 und VI.2.4.3). Die mit der Längsauswertung erstellten Fallexzerpte dienen im Weiteren als Grundlage für die Querauswertung der verschiedenen Interviews, d.h. für eine vergleichende Analyse der Interviews, in der typologische Muster herausgearbeitet werden. Bei der Querauswertung werden die in den Fallexzerpten gebündelten Forderungen einerseits induktiv inhaltsanalytisch kodiert. Anhand von Kategorien wie bspw. „Forderung nach Marktmechanismen“, „Ablehnung von Marktmechanismen“, „Forderung nach Veränderung des Lebensstils“, etc. können Übereinstimmungen, Ähnlichkeiten und Unterschiede bei der Artikulation von Forderungen zwischen den verschiedenen Interviews erfasst werden. Diese inhaltsanalytische Kodierung der Forderungen ist Grundlage für die Herausarbeitung von Sets von Forderungen (Äquivalenzketten), die mit verschiedenen Interview-Narrativen (re-)artikuliert werden. D.h. die Kodierung ist die Grundlage dafür, Konturen von Hegemonieprojekten und die mit ihnen verbundenen Varianten der Artikulation von Climate Justice herauszuarbeiten. Andererseits dient die Querauswertung dazu, die Forderungen daraufhin zu befragen, von welchem Terrain aus sie artikuliert werden: vom Terrain der etablierten (neoliberalen) Hegemonie oder dem des radikal Anderen. Die Forderungen werden dazu anhand der Kategorien A1 und A2 kodiert (vgl. Box 2). Entsprechend den Überlegungen in Kapitel II.2.5 kann so die affirmative (A1) bzw. kritische (A2) Positionierung der Artikulationen bestimmt werden. 245 Die Fallexzerpte zu den einzelnen Interviews können in Anhang A.5 eingesehen werden (online verfügbar unter: http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2806-7). 246 Im Fließtext des Narrativs werden zunächst die symbolischen Repräsentanten des Glückseligmachenden bzw. des Grauens hervorgehoben. Daran anschließend werden die im Interview artikulierten ‚Eigenschaften und Folgen‘ des ‚Glückseligmachenden‘ bzw. des ‚Grauens‘ dargelegt. Davon abgesetzt erfolgt die Darstellung der das ‚Grauen‘ bzw. das ‚Glückseligmachende‘ bekräftigenden Faktoren. Diese Faktoren werden in den Narrativ-Texten anhand von Themenbereichen präsentiert: Zunächst werden grundsätzliche Faktoren aufgeführt. Daran anschließend werden die Artikulationen zur Rolle der Klimaverhandlungen dargelegt. Nachdem darauf folgend die präferierten bzw. abgelehnten Ansätze zur Bearbeitung des Klimawandels präsentiert werden, werden zum Abschluss Artikulationen gebündelt, die die Rolle der Zivilgesellschaft allgemein bzw. von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« im Besonderen betreffen.

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Abbildung 8 gibt einen visuellen Überblick über das Verhältnis von InterviewTranskripten, Stories und Syllogismen, Fallexzerpten und Hegemonieprojekten. Abbildung 8

Zum Verhältnis von Transkripten, Stories und Syllogismen, Fallexzerpten und Hegemonieprojekten

Eigene Darstellung

P ASSAGE

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PASSAGE Dieses Kapitel diente zum einen dazu, die Methodologie der empirischen Untersuchung transparent zu machen und damit einem Defizit vieler Studien der interpretativen Forschung zu begegnen. Zum anderen wurde mit dem Kapitel ein Beitrag zur Operationalisierung der diskurstheoretischen Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes geleistet. Bevor die Methodologie der Studie dargestellt wurde, wurde zunächst auf Implikationen poststrukturalistisch informierter Wissenschaft für eine Forschungspraxis eingegangen. Methodologie, so wurde dargestellt, muss der Anforderung einer doppelten Kontextabhängigkeit begegnen – hinsichtlich zugrunde gelegter ontologischer und epistemologischer Grundannahmen sowie hinsichtlich des spezifischen Problems, das mit der Forschungsarbeit in den Blick genommen wird. Als Ansatz für eine poststrukturalistisch informierte Methodologie wurde das Konzept der artikulatorischen Praxis eingeführt, das Glynos und Howarth anknüpfend an Laclaus und Mouffes Verständnis der Artikulation entwickeln. Die artikulatorische Praxis der Wissenschaftler_in ist es, die die Konsistenz und Kompatibilität unterschiedlicher theoretischer Konzepte und Logiken innerhalb des spezifischen Untersuchungskontextes herstellen muss. Auf diese Weise kann eine plausible, aber singuläre Erklärung des mit einem Forschungsvorhaben problematisierten Phänomens geleistet werden. Dargestellt wurde weiter, dass der Prozess der Erkenntnisgenerierung in poststrukturalistisch informierter Wissenschaft grundsätzlich einer retroduktiven Zirkel-Bewegung folgt. Von diesen grundsätzlichen Vorüberlegungen ausgehend wurde anschließend auf die Operationalisierung der poststrukturalistischen Diskurstheorie in der vorliegenden Studie eingegangen. Vor der Darstellung der artikulatorischen Praxis der Studie wurde die vorgenommene Eingrenzung der Hegemonieanalyse skizziert. Dargestellt wurde, dass die analytische Betrachtung von (Auseinandersetzungen um) Hegemonie in der Studie anhand spezifischer Dimensionen konzeptualisiert wird: anhand ‚politischer Level‘ (der internationalen Ebene), zwischen verschiedenen ‚Akteuren‘ (dem Akteursfeld transnationaler Netzwerke von »NGOs« und »sozialen Bewegungen«), in unterschiedlichen ‚Politik-Arenen‘ (der Klimapolitik) sowie zu einer bestimmten ‚Zeit‘ (im Zeitabschnitt der Verhandlungen zu einer internationalen Klimapolitik ‚post-2012‘ im Umfeld der COP15). Eine derartige Eingrenzung, so wurde argumentiert, stellt keinen Widerspruch zu den ontologischen Annahmen poststrukturalistisch informierter Diskurstheorie dar, erfüllt heuristische Funktionen und ist forschungspragmatisch sinnvoll. Wie die Erklärung des behandelten Problems erfolgt, wurde anhand der Erklärungskette der Studie beschrieben, in der verschiedene theoretische Konzepte und Logiken durch Artikulation verknüpft werden. Auf einzelne Bestandteile der Erklä-

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rungskette wurde näher eingegangen: auf das Verfahren der Erhebung teil-narrativer Interviews bzw. auf das Verfahren zur Rekonstruktion der hegemonialen Struktur der Interviews. Letzteres ermöglicht Aussagen darüber, wie bestimmte Akteure Hegemonie anhand spezifischer Forderungen bzw. Narrative (re-)produzieren oder anfechten. Mit dem Verfahren wurde dargestellt, wie das in Kapitel II.2.5 entwickelte Konzept von Kritik bei der Analyse von Einzeltexten Eingang finden kann. Damit wurde eine Perspektive eröffnet, wie diskurstheoretische Hegemonietheorie in einer empirischen Studie operationalisiert werden kann.

VI. Ergebnisse der Interviewstudie

Das folgende Kapitel stellt die Ergebnisse der Interview-Studie im Akteursspektrum von »NGOs« und »sozialen Bewegungen« im Umfeld der Kopenhagener UNKlimaverhandlungen dar. Damit erfolgt hier gegenüber der in Kapitel IV eingenommenen genealogischen Perspektive auf den Diskurs der Global Climate Governance eine diskursarchäologische Betrachtung. Die bislang offen gebliebenen Forschungsfragen (vgl. zu den Forschungsfragen Kap. I.2) können so beantwortet werden: einerseits der Frage nach der Verbreitung des kritischen Gehalts der »Climate Justice«-Programmatik innerhalb des betrachteten Akteursspektrum sowie andererseits der Frage nach spezifischen Zusammenhängen zwischen gesellschaftspolitischer Praxis und Organisationsform der betrachteten Akteure. Im Vordergrund des Kapitels steht die Ebene des Diskurses. Herausgearbeitet werden diskursive Muster – Muster von Artikulationen, die von Koalitionen von Akteuren getragen werden und als Konturen konkurrierender Hegemonieprojekte begriffen werden. Bei der hier vorgenommenen Darstellung der Untersuchungsergebnisse sind Diskursebene und Ebene des Einzeltextes insofern aufs engste miteinander verknüpft, als die diskursiven Muster anhand der Narrative der einzelnen Interviews bzw. der sie konstituierenden (hegemonialen) Struktur von Artikulationen rekonstruiert werden. Die Darstellung der diskursiven Muster beruht darauf, die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, die mehrere Narrative übergreifen (d.h. die (Re-)Artikulation spezifischer Forderungen). Das Kapitel gliedert sich in vier Abschnitte. Zunächst wird ein Überblick über die Gesamtheit der sich im Untersuchungsfeld abzeichnenden Hegemonieprojekte gegeben247 (Kap. VI.1). Rekapituliert wird in diesem ersten Abschnitt auch das Verfahren der Rekonstruktion diskursiver Muster aus den Einzeltexten, d.h. der Rekonstruktion von Hegemonieprojekten aus den Transkripten der Interviews. Daran anschließend werden die Konturen der konkurrierenden Hegemonieprojekte

247 Einen derartigen Überblick über die sich im Untersuchungsmaterial konturierenden Hegemonieprojekte habe ich bereits veröffentlicht in BEDALL 2013 (Seite 211ff.).

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und Diskurskoalitionen jeweils detaillierter in den Blick genommen (Kap. VI.2). Es geht dabei auch darum, die Rolle der Hegemonieprojekte in den Auseinandersetzungen um Hegemonie zu beurteilen. Die Artikulationen, die die Hegemonieprojekte konstituieren, werden hierzu hinsichtlich ihrer kritischen bzw. affirmativen Postionierung (vgl. Kap. II.2.5) gegenüber der neoliberalen Ausgestaltung der Global Climate Governance untersucht. In der Analyse zeigt sich, dass ein binäres Modell von ‚Kritik versus Affirmation‘ bzw. ‚Reform versus Revolution‘ qualitative Unterschiede auf der Ebene der Artikulationen homogenisiert. Im anschließenden Kapitel-Abschnitt (Kap. VI.3) wird mit der Methode der Dekonstruktion ein Ansatz dargestellt, der es ermöglicht, die hegemonie-anfechtende bzw. hegemoniereproduzierende Qualität von Artikulationen differenzierter zu beurteilen. Im abschließenden Abschnitt des Kapitels wird betrachtet, ob es im Untersuchungsmaterial zur Reartikulation des im Vorfeld der Kopenhagener Verhandlungen artikulierten gegen-hegemonialen Projekts um »Climate Justice« kommt (Kap. VI.4). Einerseits geht es dabei darum, ob es in den rekonstruierten Hegemonieprojekten zur Reartikulation von Forderungen des gegen-hegemonialen Projekts kommt. Andererseits wird auf die Deutung des Signifikanten Climate Justice im Untersuchungsfeld eingegangen.

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Mit den in der Untersuchung erhobenen Narrativen werden spezifische diskursive Muster re-artikuliert. Zunächst soll hier ein Überblick über diese Muster gegeben werden, bevor sie im folgenden Kapitelabschnitt (VI.2) ausführlicher anhand des empirischen Materials dargestellt werden. Die einzelnen Interviewtranskripte weisen eine ihnen eigene hegemoniale Struktur auf (zum Begriff der hegemonialen Struktur vgl. Seite 58 in Kapitel II.2.5). Die hegemoniale Struktur eines Interviews konstituiert sich durch die spezifische Herausbildung zweier konträr zueinander liegenden Äquivalenzketten von Forderungen und damit verbunden der Herausbildung symbolischer Repräsentanten (vgl. Kap. II.2.2). Anhand der hegemonialen Struktur eines Interview-Narrativs kann seine spezifische Fantasie abgebildet werden – d.h. die je spezifische Artikulation eines ‚Glückseligmachenden‘ sowie eines ‚Grauens‘ (vgl. Seite 55 in Kap. II.2.4). Im Auswertungsprozess der vorliegenden Untersuchung wurde die hegemoniale Struktur der Interviews anhand von Fallexzerpten248 erfasst. Hierzu wurden die mit einem Narrativ artikulierten Forderungen auf der Grundlage der Dimensionen der Fantasie kodiert (vgl. zur Kodierung auch Kap. V.2.4). Aus den so rekonstruierten Äquivalenzketten können vor dem Hintergrund des Eindrucks des Narrativs als eines Gesamtzusammenhangs, je Narrativ symbolische Repräsentanten des ‚Glückseligmachenden‘ bzw. des ‚Grauens‘ abstrahiert werden. In einem entsprechenden interpretatorischen Schritt konnte so beispielsweise hinsichtlich des ‚Hopenhagen‘Narrativs die ‚Green Economy‘ als Repräsentant des ‚Glückseligmachenden‘ bzw. ‚Intergovernmental Regulation and Mandating‘ als smbolischer Repräsentant des ‚Grauens‘ identifiziert werden. Tabelle 6 bietet einen Überblick über die symbolischen Repräsentanten, die im Rahmen der Untersuchung bestimmt wurden. Mit ihnen abgedeckt wird ein weites Feld zwischen einem stärker populistischen / revolutionären hin zu einem institutionalistischen / reformistischen Pol (angeordnet in Tabelle 6 von Oben nach Unten; zur Klassifizierung von Hegemonieprojekten vgl. Seite 60 in Kap. II.2.5). Ein Blick auf die Ebene des Diskurses wird dann möglich, wenn eine vergleichende Analyse der Einzeltext-Narrative vorgenommen wird (d.h. eine Querauswertung – vgl. Kap. V.2.4). Im Fokus einer solchen Analyse liegt die Frage, ob es in den Interviews zur Reartikulation spezifischer Sets von Forderungen kommt. Mit der Querauswertung der Interviews wird es so möglich, Konturen von Hegemonieprojekten herauszuarbeiten. In Tabelle 6 werden entsprechende Konturen durch die

248 Die Fallexzerpte zu den einzelnen Interviews können in Anhang A.5 eingesehen werden (online verfügbar unter: http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2806-7).

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| VI. E RGEBNISSE DER INTERVIEWSTUDIE

Gruppierung der Narrative anhand ihrer symbolischen Repräsentanten verdeutlicht. Im Folgenden wird ein erster grober Überblick über diese sich im betrachteten Akteursspektrum abzeichnenden Hegemonieprojekte gegeben. Eine detailliertere Darstellung dessen, wie sich entsprechende diskursive Muster darstellen bzw. wie sie in den einzelnen Interviews mit Artikulationen reproduziert werden, wird im anschließenden Kapitelabschnitt (VI.2) geleistet. Hinsichtlich der Dimension des ‚Glückseligmachenden‘ reproduzieren verschiedene der Narrative eine revolutionäre Fantasie, d.h. eine Fantasie, die gesellschaftliche Harmonie und Vollkommenheit als etwas Zukünftiges artikuliert, das sich vom gegenwärtigen Gesellschaftlichen deutlich unterscheidet. Eine erste Gruppe von Narrativen reproduziert dabei eine Fantasie, die eine gesellschaftliche Harmonie und Vollkommenheit anhand einer umfassenden Transformation verspricht. Die Narrative der Interviews mit Angehörigen des People’s Movement on Climate Change, des Global Justice Ecology Projects, von Focus on the Global South, des Klima-Bündnisses, des International Youth Climate Movement sowie von GenderCC sind sich darin ähnlich, dass in ihrer Fantasie der Klimawandel als ein sozial-ökologisches Problem begriffen wird. Artikulierte Forderungen richten sich entsprechend auf eine Transformation des Sozialen und zugleich auf eine Transformation des Ökologischen. In den Narrativen zeichnet sich damit die Kontur eines ersten Hegemonieprojekts ab, dass sich deutlich vom Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas«, das in der Global Climate Governance Hegemonie erlangt hat, unterscheidet: Reartikuliert wird in den Interview-Narrativen das ForderungenSet des Hegemonieprojekts um »Climate Justice« (vgl. Kap. IV.3.4). In den Interview-Narrativen ist es die Forderung nach einer umfassenden Transformation249, die dieses Set symbolisch repräsentiert, während im Vorfeld der Kopenhagener Verhandlungen der Forderung nach Climate Justice eine solche Repräsentationsfunktion zukommt. Climate Justice bedeutet jedoch hier wie dort eine umfassende gesellschaftliche Transformation (vgl. Abbildung 7 auf Seite 187). Das sich in der ersten Gruppe von Interview-Narrativen konturierende Hegemonieprojekt kann insofern als das einer »umfassenden Transformation« bezeichnet werden oder eben synonym als das Projekt um »Climate Justice«. Diesem Hegemonieprojekt gegenüber begrenzt das hegemoniale Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas« das Problem des Klimawandels und seine Lösungen auf die Ebene des Ökologischen: Der Klimawandel wird als Krise des globalen Kohlenstoffhaushalts naturalisiert. Erforderlich sei ein verbessertes Management dieses Haushalts, d.h. der THG-Emissionen (vgl. auch Kap. IV.2). Im untersuchten 249 Während alle Interview-Narrative ihre Forderungen äquivalent zu der nach einer Transformation gesellschaftlicher (Natur-)Verhältnisse artikulieren, kommt der Forderung nach Climate Justice in den Narrativen ein geringerer Stellenwert zu (mit Ausnahme des Narrativs des International Youth Climate Movements).

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Material werden das Problem des Klimawandels und Lösungsansätze zum einen im »Hopenhagen«-Narrativ auf das Ökologische begrenzt. In nahezu idealtypischer Form treibt dieses Narrativ das hegemoniale Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas« voran, wenn es die Green Economy als symbolischen Repräsentanten gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit artikuliert. Verbesserungen im Bereich des Ökologischen werden – so die Fantasie dieses Narrativs – entsprechend durch Kräfte des freien Marktes erzielt. Die Verengung des Problems des Klimawandels und entsprechender Lösungsansätzen auf die Ebene des Ökologischen wird im untersuchten Material zum anderen durch eine weitere Diskurskoalition reartikuliert. Diese Diskurskoalition betont Verbesserungen im Bereich des Ökologischen anhand ein aktiven Managements – eines Umweltmanagements. Alle Narrative der Koalition verbindet die Forderung nach einer Verbesserung im Bereich des Ökologischen, jedoch unterscheiden sie sich in dem, worauf sie setzen, um eine derartige Verbesserung zu erreichen. Verschiedene Stränge des Hegemonieprojekts können in dieser Hinsicht herausgearbeitet werden: Während 350.org das Management von CO2-Emissionen (ein Kohlenstoffmanagement) hervorhebt, betonen andere – Greenpeace, das Climate Action Network, das Global Footprint Network und der WWF – die Verbesserung der Effizienz von Energieerzeugung, Infrastruktur und Produkten anhand grüner Technologien (eine ökologische Modernisierung) oder den Schutz von Ökosystemen weltweit (d.h. Naturschutz) – wie Wetlands International. Konturen eines vierten Hegemonieprojekts werden im Untersuchungsmaterial dann sichtbar, wenn die Narrative der Interviews mit Angehörigen von Oxfam, CIDSE, GROOTS und des World Council of Churches in den Blick genommen werden. In diesen Narrativen wird bei der Artikulation des Problems des Klimawandels und seiner Lösungen die Ebene des Sozialen besonders betont. Die Koalition von entwicklungspolitisch orientierten Akteuren knüpft ihre Forderungen an einen Paradigmenwechsel. Um gesellschaftliche Harmonie und Vollkommenheit zu erlangen, gilt es in erster Linie auf die Art und Weise der Entwicklung zu fokussieren.

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| VI. E RGEBNISSE DER INTERVIEWSTUDIE

Tabelle 6 Symbolische Repräsentanten des ‚Glückseligmachenden‘ und des ‚Grauens‘ in den Einzeltexten der Interviews Konturen von Hegemonieprojekten

Gruppierung der Repräsentanten

Symbolische Repräsentanten des Glückseligmachenden

Eine gesellschaftliche Transformation

Eine gesellschaftliche Transformation / Ein systemischer Wandel

Die kapitalistische Ordnung

‚Klimabündnis'

Die globale Wirtschaft

Climate Justice (Klimagerechtigkeit)

‚International Youth Climate Movement

Ein korruptes System

‚GenderCC'

Der Androzentrismus

Ein Wandel des Entwicklungsmodells

‚Oxfam'

Eine Entwicklungskrise

Ein Paradigmenwechsel

‚CIDSE'

Das gegenwärtige Paradigma von Entwicklung und Wohlbefinden

Ein verändertes Entwicklungsparadigma

‚GROOTS'

Ein Paradigmenwechsel

‚World Council of Churches'

Das gegenwärtige Paradigma von Entwicklung und Wohlbefinden

‚350.org'

Eine CO2-Konzentration über 350 ppm

Eine CO2-Konzentration von 350 ppm 

Eine kohlenstoff-neutrale Gesellschaft Eine Welt mit einem nachhaltigen ökologischen Fußabdruck

‚Greenpeace'

‚Global Footprint Network'

Das alte Entwicklungsparadigma

Die überhöhte CO2Konzentration in der Atmosphäre  Das Überschreiten der Reproduktionsrate der biologischen Kapazität

Eine ökologische Modernisierung

‚CAN'

Überhöhte Treibhausgasemissionen

Ein Ein-Planeten-Lebensstil

‚WWF'

Ein Drei-Planeten-Lebensstil

Eine Green Economy

Geschützte Ökosysteme weltweit

‚Wetlands International'

Degradierte Ökosysteme weltweit

Eine Green Economy

‚Hopenhagen'

Eingriffe in die freien Märkte (insb. (zwischen)staatliche Regulierung und Verpflichtung)

Ein (globales) Umweltproblem

Eine ökologische Modernisierung

Umweltmanagement

Neoliberalisierung des Klimas

‚Focus on the Global South'

Die kapitalistische Ökonomie / Das System

Das Entwicklungsparadigma

Ein Paradigmenwechsel

Paradigmenwechsel

Naturschutz

‚Global Justice Ecology Project'

Gruppierung der Repräsentanten

Die internationale Wirtschaftsordnung / Das System

Ein radikaler Wandel auf kommunaler/ lokaler Ebene

Eine transformierte Gesellschaft

Kohlenstoffmanagement

‚People's Movement on Climate Change'

Symbolische Repräsentanten des Grauens

Die Ökonomie

Climate Justice

Eine umfassende Transformation

Ein ganz neues System / Eine neue soziale Struktur

Das Narrativ

Regulierung

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DER HEGEMONIALEN

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ZU DISKURSIVEN

M USTERN

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Die Gruppierung der untersuchten Interview-Narrative anhand ihrer fantasmatischen Dimension des ‚Glückseligmachenden‘ entspricht fast durchweg der Gruppierung anhand ihrer Dimension des ‚Grauens‘. Ausschließlich das Narrativ des Interviews mit GenderCC weicht von dieser Beobachtung ab (vgl. Tabelle 6). Der Großteil der Narrative, die das diskursive Muster der »umfassenden Transformation« reproduzieren, sehen in der (gegenwärtigen) Ökonomie das zu überwindende Hemmnis. Hier unterscheidet sich das GenderCC-Narrativ, wenn es das androzentrische Entwicklungsmodell als das zu überwindende Hemmnis benennt. Damit steht das GenderCC-Narrativ hinsichtlich seiner Fantasie des ‚Grauens‘ in Übereinstimmung mit dem diskursiven Muster des »Paradigmenwechsels«, das das gegenwärtige Entwicklungsmodell problematisiert. Mit dem GenderCC-Narrativ zeigt sich insofern, dass einzelne Narrative als einzigartige Sets von Forderungen mehrere Hegemonieprojekte reproduzieren können. Unterstrichen wird damit, dass ein Hegemonieprojekt als eine analytische Einheit verstanden werden muss, die nicht notwendigerweise mit empirischen Einheiten wie einzelnen Texten oder Akteuren zusammenzufallen hat.

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| VI.2 K ONTUREN KONKURRIERENDER H EGEMONIEPROJEKTE UND D ISKURSKOALITIONEN

VI.2 K ONTUREN KONKURRIERENDER H EGEMONIEPROJEKTE UND D ISKURSKOALITIONEN Im Folgenden wird detaillierter auf die Hegemonieprojekte eingegangen, deren Reartikulation sich im untersuchten Interviewmaterial abzeichnet.250 In Kapitel VI.2.1 bis VI.2.4 werden diese Projekte in jeweils drei Schritten dargestellt, bevor sie daran anschließend in Kapitel VI.2.5 zwischen den Polen »institutionalistisch / reformistisch« und »populistisch / revolutionär« verortet werden.251 Bei der Darstellung der Projekte wird in einem ersten Schritt jeweils auf die Akteure eingegangen, die im untersuchten Material das entsprechende Hegemonieprojekt vorantreiben. Damit werden erste Konturen der die Hegemonieprojekte reartikulierenden Diskurskoalitionen erkennbar (vgl. zum Konzept der Diskurskoalition Kap. II.2.3). Deutlich hervorgehoben werden muss hier jedoch, dass damit nicht der Anspruch erhoben wird, Diskurskoalitionen umfassend zu beschreiben. Die sich im Untersuchungsmaterial abzeichnenden Hegemonieprojekte können grundsätzlich auch von weiteren Akteuren außerhalb des untersuchten Feldes reartikuliert werden. In einem zweiten Schritt wird die Fantasie des Projekts dargestellt (vgl. zur Fantasie eines Hegemonieprojekts Kap. II.2.4 und II.2.5), d.h. die in verschiedenen, jedoch jeweils für sich spezifischen Interviews übergreifend reartikulierte Fantasie. Begonnen wird dabei damit, die Fantasie des Hegemonieprojekts in den Grundzügen zu umreißen. Die dargestellte Fantasie muss dabei als idealtypische252 Charakterisierung begriffen werden. Denn auch wenn Gruppen bestimmter InterviewNarrative deutliche Übereinstimmungen bzw. Ähnlichkeiten hinsichtlich der vorgebrachten Artikulationen aufweisen, so bleiben die mit den Interviews vorgebrachten Artikulationen heterogen. Die Darstellung einer homogenen – einzelne InterviewNarrative übergreifenden – Fantasie glättet diese Heterogenität und bleibt insofern zu einem gewissen Grad ein theoretisches Konstrukt. Anschließend an die idealtypische Charakterisierung wird darauf eingegangen, wie die Fantasie in den einzelnen Narrativen artikuliert wird, wie also ein spezifisches ‚Glückseligmachendes‘ bzw. ein spezifisches ‚Grauen‘ vorgebracht wird. Die Darstellung erfolgt anhand des Interviewmaterials. Vorgebrachte Artikulationen werden, um die Rolle des Hegemonieprojekts in den Auseinandersetzungen um Hegemonie zu beurteilen,

250 Vielfach wird dabei auf die Transkripte der Interviews verwiesen, die in Anhang A.3 einsehbar sind (online verfügbar unter: http://www.transcript-verlag.de/978-3-83762806-7). Verwiesen wird jeweils auf die Zeilennummer(n) des entsprechenden Transkripts. 251 Vgl. die Klassifizierung nach Glynos und Howarth (2007: 150f.) auf Seite 60f. in Kapitel II.2.5. 252 Zum Konzept der Idealtypen vgl. Seite 119 in Kapitel IV.2.1.

VI.2 K ONTUREN

KONKURRIERENDER

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UND

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hinsichtlich ihrer kritischen bzw. affirmativen Positionierung gegenüber dem hegemonialen Projekt befragt. Im dritten Schritt werden die Narrative der einzelnen Interviews dargestellt. Gegenüber den ersten beiden auf die Diskursebene zielenden Schritten fokussiert der dritte insofern auf die Ebene des Einzeltextes. Sichtbar gemacht werden soll damit auch die Heterogenität der Interviews, d.h. ihre Verschiedenheit, vor deren Hintergrund das Gemeinsame (die Hegemonieprojekte) reartikuliert wird. Es sollen – anders ausgedrückt – so die unterschiedlichen Kontexte deutlich werden, in denen Hegemonieprojekte durch Artikulationen reproduziert werden. Die Narrative der einzelnen Interviews werden anhand der fantasmatischen Dimensionen des ‚Glückseligmachenden‘ bzw. des ‚Grauens‘ gegliedert. Grundlage für die Generierung der Narrativ-Texte sind insbesondere die Fallexzerpte der Interviews253, die die ‚hegemoniale Struktur‘254 der mit einem Interview artikulierten Forderungen darstellen (zum Verfahren der Generierung der Interview-Narrative siehe im Weiteren die Darstellungen in Kap. V.2.4 und dort insbesondere auf Seite 219 und 220).

253 Die Fallexzerpte zu den einzelnen Interviews können in Anhang A.5 eingesehen werden (online verfügbar unter: http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2806-7). 254 Zum Begriff der hegemonialen Struktur eines Textes siehe Seite 58 in Kap. II.2.5.

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| VI.2.1 D AS H EGEMONIEPROJEKT DER »N EOLIBERALISIERUNG DES K LIMAS«

VI.2.1 Das Hegemonieprojekt der »Neoliberalisierung des Klimas« VI.2.1.1 Die Diskurskoalition Im untersuchten Material (den Interviews) ist die mit dem »Hopenhagen«-Narrativ verknüpfte Fantasie einzigartig. Das mit ihm artikulierte Deutungsmuster unterscheidet sich deutlich von den Narrativen der anderen Interviews. Dies wird als ausreichend dafür erachtet, hier von sich abzeichnenden Konturen einer eigenen Diskurskoalition zu sprechen – auch dann, wenn als Grundbedingung für das Vorliegen einer Diskurskoalition die gemeinsame (Re-)Artikulation eines spezifischen Deutungsmusters durch mehrere Akteure verstanden wird (vgl. Kap. II.2.3). Grundsätzlich wird hier davon ausgegangen, dass die mit der empirischen Untersuchung rekonstruierten Hegemonieprojekte über die in den Blick genommenen Akteure hinaus von weiteren Akteuren (re-)artikuliert werden. Bei »Hopenhagen« handelt es sich um eine im Vorfeld der Kopenhagener Klimaverhandlungen von der Werbeindustrie initiierte Kampagne, die sich als eine globale »soziale Bewegung« darstellt – als eine globale Graswurzelbewegung. Entsprechend präsentierte die Kampagne auf ihrer – professionellen und umfangreichen – Website ihr Selbstverständnis: „To connect every person, every city, and every nation to Copenhagen. To give everyone hope, and a platform from which to act. To create a grassroots movement that’s powerful enough to influence change.“ (HOPENHAGEN 2009c, Hvb. P.B.)

Diese Selbstdarstellung und die entsprechende Außenwirkung zusammen mit der medialen Präsenz der Kampagne ist es, die über die Aufnahme der Kampagne in das zu untersuchende Material entschied. Im Zeitraum zivilgesellschaftlicher Mobilisierung nach Kopenhagen bzw. während der dortigen UN-Klimaverhandlungen selbst war die Kampagne weitläufig medial präsent – sei es durch Nutzung von Websites, Weblogs und sozialen Netzwerken255, durch Plakatierungen, Medienauftritte oder (während der Verhandlungen) die Gestaltung des sog. ‚Hopenhagen Square‘ (mit einer Bühne und Informationsständen) im Zentrum Kopenhagens256

255 Die Kampagne nutze intensiv die sozialen Netzwerke facebook und twitter für „Meldungen zu den Verhandlungen und der allgemeinen Klimawandeldebatte“ (OGILVY & MATHER DEUTSCHLAND 2009). 256 Die dort eingerichteten sog. „Experience stations“ sollten Bürger_innen die Möglichkeit geben, „sich über saubere Energie [zu] informieren, Fahrräder ohne Ketten [zu] fahren und ihre Wünsche für eine bessere Welt, sowohl schriftlich als auch als VideoBotschaft, im Hopenhagen Studio aufnehmen [zu] können“ (OGILVY & MATHER DEUTSCHLAND 2009).

VI.2.1 D AS H EGEMONIEPROJEKT

DER

»N EOLIBERALISIERUNG

DES

K LIMAS «

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(OGILVY & MATHER DEUTSCHLAND 2009). Den Akkreditierungslisten des Sekretariats der UNFCCC nach zu urteilen, verfügte die Kampagne über keinen Status als Observerorganisation (UNFCCC 2010b, 2010a). Ebenso ist Hopenhagen nicht Mitglied des Climate Action Networks oder gar von Climate Justice Now! (CAN 2013a; CJN! 2010b). Der offiziell verlautbarte Zweck der Kampagne ist es, „die Arbeit der Vereinten Nationen und das Streben nach einem Klimaabkommen, das ‚ambitioniert, fair und effizient in der Emissionsreduzierung‘ ist“ zu unterstützen (OGILVY & MATHER DEUTSCHLAND 2009). Initiiert wurde die Kampagne „von der International Advertising Association (IAA) zusammen mit der Werbeagentur Ogilvy & Mather“ (OGILVY & MATHER DEUTSCHLAND 2009) als Reaktion auf einen Appell des UNGeneralsekretärs Ban Ki-moon, die UN in ihrem Streben nach einem starken Abkommen zu unterstützen (HOPENHAGEN 2009a; Interview »Hopenhagen«: 6-26). Mit ihren Inhalten und Forderungen zielte die Kampagne, die die UN nichts kostete, sondern wesentlich von transnationalen Unternehmen getragen wurde, jedoch vielmehr darauf, die Bedeutung von Unternehmen bzw. des freien Marktes zur Lösung des Problems des Klimawandels hervorzuheben.257 Im Folgenden wird hierauf ausführlicher eingegangen (siehe Kap. VI.2.1.2). Neben der Finanzierung durch Coca Cola258, SAP und Siemens („our sort of founding sponsors“, Interview »Hopenhagen«: 449-450, auch 582-584) – Unternehmen die die Kampagne auch für eigene Werbezwecke nutzen – wurde »Hopenhagen« durch eine Vielzahl weiterer Unternehmen259 unterstützt (HOPENHAGEN 2009d, 2009b). Das Auftreten von durch die Industrie geförderten Kampagnen und Gruppen, die sich als Bürger_innen-Engagement ausgeben („industry-sponsored ‚citizen groups‘“, PETTIT 2004: 104), ist in der Klimapolitik ein wiederkehrendes Phäno257 Dies wird deutlich, wenn die mit dem Interview erhobenen Forderungen der Kampagne in den Blick genommen werden. Sie zielen keinesfalls auf eine Regulierung des Marktes durch ein starkes Abkommen auf UN-Ebene, obwohl es auch im Interview heißt, die Kampagne habe den Zweck „[to] raise awareness about not only climate change but moreover about the UN’s role in creating the international standards and frameworks for combating it“ (Interview »Hopenhagen«: 23-26). 258 Dies ist nicht das erste Mal, dass Coca Cola Aktivitäten unterstützt, die sich gegen umweltpolitische Regulierung richten. Zusammen mit weiteren transnationalen Unternehmen wie Dow Chemicals, General Motors oder Philip Morris gehörte Coca Cola so bspw. 1994 zu den zentralen Geldgebern des mit einem 2-Millionen Dollar Budget ausgestatteten US-Think Tanks Corporate Enterprise Institute (CEI), das sich selbst als „pro-market, public policy group committed to advancing the principles of free enterprise and limited government“ versteht (zitiert nach BEDER 2002: 91). 259 Die „Supporting Partners“ der Kampagne sind „BMW, The Climate Group, DuPont, Gap Inc., Hub Culture, Method, [und] RecylceBank“ (HOPENHAGEN 2009d).

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| VI. E RGEBNISSE DER INTERVIEWSTUDIE

men. Es deutet darauf hin, dass Unternehmen die Auseinandersetzungen auf dem Terrain der Zivilgesellschaft ernst nehmen (vgl. auch Newell 2004 zititert in ebd.). Die »Hopenhagen«-Kampagne ist insofern Ausdruck einer sich veränderten Unternehmenspolitik: „TNCs, in part because of their enormous size and vast resources, have gone even further than just forging coalitions to proselytize the neoliberal path. They have also created various non-governmental organizations, engaged in extensive public relations campaigns through myriad trade associations and in cooperation with PR firms, and aggressively lobbied governments to support their positions.“ (DORSEY 2007: 10)

Unternehmen tragen wesentlich zur Herausbildung von Gruppen bei, die ihrem Namen nach ökologische Anliegen verfolgen, deren eigentlicher Zweck es jedoch ist, die Interessen der Unternehmen zu vertreten – Gruppen, die Dryzek (im Hinblick auf die Aktivitäten der Ölkonzerne) unter dem Begriff der „[c]orporate front groups“ fasst (DRYZEK 2005) und zu denen auch »Hopenhagen« gezählt werden kann. VI.2.1.2 Zur Fantasie des Hegemonieprojekts Dem Hopenhagen-Narrativ kommt in der Gesamtheit der erhobenen Narrative eine besondere Bedeutung zu. Das Narrativ reproduziert die Fantasie des hegemonialen Projekts.260 Es bekräftigt so die Hegemonie in der Global Climate Governance (vgl. Kap. IV.2) und treibt darüber hinaus sogar die Verstetigung neoliberaler Dogmen – die Neoliberalisierung – voran: Das Narrativ forciert die Verankerung der Forderung nach einem freien Markt in die Äquivalenzkette des hegemonialen Projekts (dies wird im Folgenden noch ausführlicher dargestellt). Eine besondere Rolle spielt hierbei die das Narrativ kennzeichnende grundlegende Ablehnung jeder Art von (zwischen-)staatlicher Regulierung, wie beispielsweise Obergrenzen für Emissionen. Zunächst soll die Fantasie des hegemonialen Projekts in ihren Grundzügen resümiert werden (eine ausführlichere Darstellung findet sich bereits in Kap. IV.2.2, siehe dort insb. Abbildung 6 auf Seite 129). Daran anschließend wird dargestellt, wie im Hopenhagen-Narrativ das hegemoniale Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas« reartikuliert wird. Zuletzt werden die mit dem Narrativ vorgebrachten Forderungen hinsichtlich ihrer kritischen bzw. affirmativen Positionierung beurteilt. Zur Fantasie des hegemonialen Projekts: Im hegemonialen Projekt wird gesellschaftliche Harmonie und Vollkommenheit (das ‚Glückseligmachende‘) durch (wirtschaftliches) Wachstum repräsentiert. Es ist Wachstum, das die Lösung des 260 Hopenhagen ist insofern Teil der Diskurskoalition, die das hegemoniale Projekt (re-)artikuliert.

VI.2.1 D AS H EGEMONIEPROJEKT

DER

»N EOLIBERALISIERUNG

DES

K LIMAS «

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Problems des Klimawandels – der als Krise des globalen Kohlenstoffhaushalts naturalisiert wird – verspricht. Als zentrale wachstumbekräftigende Faktoren wird neben der Förderung freier Märkte durch ein globales Umweltmanagement im Rahmen der UN-Klimarahmenkonvention das Management der Atmosphäre nach der Logik des Marktes (d.h. Inwertsetzung von THG-Emissionen und Einführung von Marktmechanismen) sowie eine ökologische Modernisierung auf der Grundlage technologischer Ansätze (d.h. bspw. Verbesserungen bei der Effizienz oder Kohlenstoffsabscheidung und -speicherung) artikuliert. Das Hemmnis gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit (das ‚Grauen‘) ist Stagnation. Stagnation bedroht Wachstum. Artikuliert werden als stagnationbekräftigende Faktoren der Klimawandel (d.h. überhöhte globale THG-Emissionen) und Eingriffe in den Markt. Reproduktion des hegemonialen Projekts: Der Blick auf die Artikulationen Im Folgenden soll anhand des Interviewmaterials dargestellt werden, wie im Hopenhagen-Narrativ die Fantasie des hegemonialen Projekts reartikuliert wird: Im Interview-Narrativ ist es die Green Economy, die als symbolischer Repräsentant des ‚Glückseligmachenden‘ fungiert: „[I]t’s the tide that lifts all boats […] it will create this groundswell of hope and enthusiasm and prosperity that is not just endorsed by the developed nations and the existing sort of economic aristocracy, but all people and the developing world.“ (Interview »Hopenhagen«: 102-107)

Die Green Economy wird dabei äquivalent zu wirtschaftlichem Wachstum artikuliert. Sie schafft Wachstumsmöglichkeiten für die krisenhafte Wirtschaft und ermöglicht so zugleich die Lösung des Problems des Klimawandels. „[The green economy will] capitalize on the growth opportunities of finding the solutions to global warming and finding the ways to limit ghgs without hurting productivity“ (Interview »Hopenhagen«: 162-166). „[T]he solutions to climate change, which are necessary and urgent are also the solutions to our economic issues.“ (Interview »Hopenhagen«: 98-101)

Insofern wird mit dem Hopenhagen-Narrativ das konstitutive Deutungsmuster des hegemonialen Projekts reproduziert: Wachstum führt zu gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit, d.h. insbesondere zur Prosperität der Wirtschaft und der Lösung des Problems des Klimawandels. Auch hinsichtlich der Faktoren die als wachstumsfördernd artikuliert werden, reproduziert das Hopenhagen-Narrativ die hegemoniale Fantasie. Der Wandel zu einer Green Economy beruhe einerseits auf einer ökologischen Modernisierung. Artikuliert werden im Narrativ diesbezüglich technologische Ansätze:

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„It’s about shifting from a status quo economic model to a new economic model based on renewable resources, low-carbon production and new technologies.“ (Interview »Hopenhagen«: 265-268)

Andererseits reartikuliert das Hopenhagen-Narrativ das neoliberale Dogma des freien Marktes, das ebenso konstitutiv für das hegemoniale Projekt ist. Dem freien Markt wird im Hopenhagen-Narrativ eine zentrale Rolle dabei zugewiesen, gesellschaftliche Harmonie und Vollkommenheit (d.h. die Green Economy und damit Wirtschaftswachstum) zu erlangen: „Solutions to climate change are going to come from market forces, from free competition […]. It’s going to be companies not countries but companies, that really drive this and really create the innovation that will allow us to achieve a carbon neutral economy“ (Interview »Hopenhagen«: 162-169). „The solutions to climate change will come from business innovation“ (Interview »Hopenhagen«: 184-185).

Entsprechend formuliert das Narrativ als Hemmnis, das der gesellschaftlichen Harmonie und Vollkommenheit entgegensteht, Eingriffe in den freien Markt. Eingriffe würden diesen daran hindern, in optimaler Weise zu funktionieren. Zugleich würden sie es nicht schaffen, den Anstieg der Treibhausgas-Emissionen und deren klimatische Folgen zu unterbinden: „The wrong solutions to climate change would first and foremost be mandating and regulating and artificially capping ghg emissions prior to the markets ability to bare them and still continue to function in an optimal level.“ (Interview »Hopenhagen«: 188-192)

Im Besonderen charakterisiert das Hopenhagen-Narrativ dabei, dass es auch die Festsetzung von Begrenzungen von Emissionen bzw. Emissionszertifikaten bei der Ausgestaltung der Marktmechanismen (ETS, CDM, JI) explizit als Eingriffe in den freien Markt ablehnt: „All that an international agreement about limiting and capping and penalizing would have done would have been to jeopardize (.) business’s ability to create and innovate.“ (Interview »Hopenhagen«: 331-334)

Mit dieser Artikulation – der Ablehnung jedes Ansatzes (zwischen-)staatlicher Regulierung – werden auch die Vereinten Nationen als Ort der Einigung über Regulierungsmaßnahmen abgelehnt, wenn es heißt: „The right solutions to climate change […] can [not] come on high from as a mandate from any authoritative intergovernmental body“ (Interview »Hopenhagen«: 156-159). Das Hopenhagen-Narrativ artikuliert die Schwäche der UN-Verhandlungen (um wirkungsvolle zwischenstaat-

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liche Regulierung) als eine Stärke (hinsichtlich der Aufrechterhaltung freier Märkte). Damit reproduziert das Interview-Narrativ im Grunde genommen den durch das hegemoniale Projekt artikulierten Zweck der UN-Verhandlungen, nämlich die Förderung freier Märkte (vgl. Kap. IV.2.2, insb. Fußnote 130 auf Seite 127).261 Freie Märkte werden dann am besten gefördert, wenn die UN-Verhandlungen schwach sind: „The absence of leadership from of the united nations is actually incredibly healthy for climate change and for our ability to solve it. because what it has done is, it left the market free enough to continue to innovate and to innovate as quickly as possible to gain leadership. so what we do (?now?) have is the sort of wonderful sort of space race happening again except this time between US technology firms and chinese technology firms.“ (Interview »Hopenhagen«: 320-328)

Beurteilung der Forderungen hinsichtlich ihrer Positionierung (kritisch/affirmativ) Es ließe sich vermuten, dass das Hopenhagen-Narrativ mit der Positionierung gegen jede Art der Regulierung (insbesondere gegen ein „international agreement about limiting and capping [emissions]“, Interview »Hopenhagen«: 331-332) kritischantagonistisch gegenüber dem hegemonialen Projekt steht. Gegenüber dem Hopenhagen-Narrativ wird im hegemonialen Projekt der »Neoliberalisierung des Klimas« ein Anspruch an Marktmechanismen artikuliert, mit ihnen den Handel mit Emissionen durch das Setzen von Obergrenzen zu regulieren. Die Ablehnung derartiger Begrenzungen im Interview-Narrativ muss jedoch vielmehr als eine Affirmation der Hegemonie verstanden werden – als eine Affirmation der Marktmechanismen in ihrer hegemonialen Ausprägung. Um dies darzustellen, d.h. um die Frage zu beantworten, warum es sich hier um keine antagonistische Artikulationen handelt, bedarf es nochmals eines Blicks auf die Hegemonie in der Global Climate Governance. Mit der Hegemonie der »Neoliberalisierung des Klimas« wird eine Klimapolitik reproduziert, die durch Etablierung der flexiblen Mechanismen (ETS, CDM und JI) Treibhausgase inwertsetzt und so einen Markt generiert. Wirkungsvolle Eingriffe in diesen Markt, insbesondere streng reglementierte Obergrenzen (‚Caps‘) beim Handel mit Emissionszertifikaten, gehen bislang jedoch nicht mit diesen Mechanismen einher. Die klimapolitisch hegemoniale Praxis kommt einem de-regulierten Emissionsmarkt gleich – einem ‚Freihandel mit Emissionen‘. Das Hopenhagen-Narrativ bekräftigt den Status Quo – hegemoniale Artikulation von Marktmechanismen – dadurch, Begrenzungen („limiting and capping [emissions]“, Interview »Hopenhagen«: 332) von Grunde auf abzulehnen. So wird das 261 Die Fantasie des Hopenhagen-Narrativs lässt sich hier derart überspitzen: Der Zweck der UNFCCC wird dann erfüllt, wenn sie nicht existiert.

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hegemoniale Projekt reartikuliert. Für Hopenhagen sind fehlende wirkmächtige Beschränkungen des Marktes keine Kinderkrankheit oder ein Missgeschick, sondern eine Notwendigkeit. Entsprechend der Fantasie des Narrativs ist die gegenwärtige Implementierung der Marktmechanismen – die hegemoniale Artikulation – insofern wie sie sein sollte. Während der hegemoniale Konsens über die marktorientierte Klimapolitik in der Zivilgesellschaft vielfach dadurch reproduziert wird, dass Kohärenz zwischen textlich-sprachlichen Artikulationen (dem Anspruch an die Marktmechanismen Emissionen zu reduzieren) und handlungspraktischen Artikulationen (der Schwäche bei der Implementierung der Marktmechanismen) hergestellt wird, gibt es im Hopenhagen-Narrativ also keine Differenz zwischen dem artikulierten Anspruch an die Marktmechanismen und deren Wirklichkeit. Reproduziert wird die Hegemonie der marktorientierten Klimapolitik jedoch in beiden Fällen. Ausschließlich die Fantasie des Hopenhagen-Narrativs, die jede Regulierung der Märkte ablehnt, wäre nicht in der Lage, den breiten hegemonialen Konsens herzustellen, auf dem die Hegemonie in der Global Climate Governance beruht. Ohne die Artikulation der Dysfunktionialität als ‚Kinderkrankheit‘ (vgl. Seite 130 in Kap. IV.2.2) würde der hegemoniale Konsens in der Zivilgesellschaft über die gegenwärtige Ausgestaltung marktorientierter Klimapolitik instabil. Das Hopenhagen-Narrativ unterscheidet sich also mit der Ablehnung von Obergrenzen für Emissionen auf der Ebene sprachlicher Artikulationen vom hegemonialen Projekt, das die Forderung nach derartigen Grenzen vorbringt. In der diskurstheoretischen Terminologie kann die Ablehnung von Obergrenzen im HopenhagenNarrativ als demokratische Forderung gefasst werden (vgl. zum Konzept der demokratischen Forderung vgl. Kap. II.2.5). Das Narrativ gliedert die Forderung in die Äquivalenzkette des hegemonialen Projekts ein. Die Fantasie des Hegemonieprojekts wird damit (zu einem gewissen Grad) transformiert, zugleich jedoch im Wesentlichen aufrechterhalten. Wie dargestellt wurde, ist der Großteil der mit dem Hopenhagen-Interview vorgebrachten Artikulationen in Bezug auf die Fantasie des hegemonialen Projekts der »Neoliberalisierung des Klimas« affirmativ positioniert (vgl. zur Beurteilung der Positionierung von Forderungen vgl. Kap. II.2.5). Dennoch kommt es auch im Hopenhagen-Interview zur vereinzelten Artikulation von kritischen Forderungen, d.h. von Forderungen, die in die Äquivalenzketten des hegemonialen Projekts intervenieren. Unter der Vielzahl von affirmativen Forderung findet sich so beispielsweise im Interview die Forderung danach „[to] raise awareness about not only climate change but moreover about the UN’s role in creating the international standards and frameworks for combating it“ (Interview »Hopenhagen«: 23-26) bzw. – an anderer Stelle – ein positiver Bezug auf die UN als „incredibly good at setting a large enough table that everyone can come and sit down and talk“ (Interview »Hopenhagen«: 425-427). Derartige Artikulationen stehen zunächst in Widerspruch zu

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der artikulierten Fantasie des Narrativs, die das neoliberal Dogma des freien Marktes ansonsten beständig wiederholt und eine Regulierung durch den Staat bzw. durch zwischenstaatliche Institutionen grundsätzlich ablehnt (siehe meine Ausführungen oben). Es zeigt sich, worauf Glynos und Howarth bereits hinweisen: „[F]antasies seek directly to conjure up […] an impossible union between incompatible elements“ (GLYNOS & HOWARTH 2007: 147). Wenn das Zusammenspiel der artikulierten Forderungen in den Blick genommen wird, offenbart sich der positive Bezug auf die UN als strategischer Akt, der dazu dient, das mit dem InterviewNarrativ vorgebrachte Deutungsmuster zu universalisieren. Der positive Bezug auf die UN erfüllt hier insofern einen anderen Zweck als die Anfechtung des neoliberalen Paradigmas. Anhand zweier Stellen des Interviews kann dies herausgearbeitet werden: Die Forderung danach, die UN als Regulierungsinstanz zu promoten, wird dann vorgebracht, wenn die Hopenhagen-Kampagne als eine Auftragsarbeit für die UN („on behalf of the united nations“ Interview »Hopenhagen«: 580-581, vgl. auch Seite 233 in Kap. VI.2.1) präsentiert wird. Der Zweck der Hopenhagen-Kampagne, so heißt es, sei es, das Bewusstsein über die UN als Regulierungsinstanz zu fördern. Das Interview-Narrativ selbst treibt hingegen im Weiteren durchweg eine Fantasie voran, die den freien Markt als Problemlösung hervorhebt.262 Dieser ‚informelle‘ Zweck wird dann besonders deutlich, wenn im Interview der eigentliche Erfolg der Kampagne benannt wird: die Förderung von „much, much greater awareness […] that solutions are possible“ (Interview »Hopenhagen«: 386-388), „[solutions that] are going to come from market forces, from free competition“ (Interview »Hopenhagen«: 162-163). Die kurzfristige Hervorhebung der UN als Regulierungsinstanz, die es zu stärken gilt, muss insofern als strategischer Akt begriffen werden, der Kampagne und der mit ihr artikulierten Fantasie (die Forcierung freier Märkte) Legitimität zu verschaffen und so ihre diskursive Verbreitung zu fördern (d.h. sie zu hegemonialisieren). Ebenso handelt es sich bei der positiven Bezugnahme auf die UN als inklusivem Ort um einen strategischen Akt. Die positive Bezugnahme auf die UN geht Hand in Hand mit der Marginalisierung anderer Akteure und deren Forderungen. Deutlich wird dies, wenn der Kontext der Artikulation im Narrativ in den Blick genommen wird:

262 Mit der Hopenhagen-Kampagne wird deutlich, dass der Staat bzw. zwischen-staatliche Institutionen bei der Bearbeitung öffentlicher Probleme nicht dieselbe Agenda verfolgen müssen. Damit wird die Skepsis gegenüber Public Private Partnerships (PPPs) – unter denen die Hopenhagen-Kampagne gefasst werden kann – befeuert, die oftmals genau dies voraussetzen.

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„You saw a lot of the protest and the anger coming from activists from the developing world […] all it did was discredit them as people, who would be unwilling to come to the table as equal partners in dialogue and as contributors to any solutions. […] The UN is incredibly good at setting a large enough table that everyone can come and sit down and talk. That’s what the UN does. […] So for groups to not take advantage of that i think it’s unfortunate. […] Protesting on that stage really does nothing but discredit one’s approach and one’s viewpoints.“ (Interview »Hopenhagen«: 408-424, Hvb. P.B.)

Die gegenüber dem hegemonialen Projekt kritisch positionierte Artikulation (der positive Bezugs auf die UN) dient hier also der Marginalisierung von alternativen Deutungen – dem Protest von Aktivist_innen aus dem globalen Süden – und damit schlussendlich der Universalisierung des artikulierten (partikularen) Deutungsmusters. Das Narrativ re-artikuliert dabei die Klimapolitik als post-politisch263: „[W]e’re all working for the same ultimate goals“ (Interview »Hopenhagen«: 491498). Die Klimapolitik wird depolitisiert. „Politics becomes something one can do without making decisions that divide and separate“ (Thomson 2003 zitiert nach SWYNGEDOUW 2010: 226). Kennzeichen dieser „post-political condition“ (ebd.: 225) ist das Negieren von Differenz und die Hervorhebung der Notwendigkeit eines gemeinsamen Willens zur Lösung gesellschaftlicher Probleme. Entsprechend heißt es im Narrativ: „[I]t’s time to believe that solutions are possible and solutions are incredibly beneficial and solutions come without a price and without compromise and it can be a win-win-win for everyone“ (Interview »Hopenhagen«: 459-467). Deutlich wird somit, dass es, wenn es darum geht die Qualität eines Narrativs hinsichtlich der Reproduktion (bzw. Anfechtung) der etablierten Hegemonie zu beurteilen, nicht ausreicht, ausschließlich die Positionierung artikulierter Forderungen in Bezug auf das hegemoniale Projekt zu analysieren. Darüber hinaus gilt es immer auch die spezifische Art und Weise ihrer Verknüpfung im Narrativ in den Blick zu nehmen.

263 „The post-political environmental consensus, therefore, is one that is radically reactionary, one that forestalls the articulation of divergent, conflicting and alternative trajectories of future socio-environmental possibilities and of human-human and human-nature articulations and assemblages“ (SWYNGEDOUW 2010: 228).

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VI.2.1.3 Seine (Re-)Artikulation im Untersuchungsfeld – das Narrativ des Interviews Im Folgenden wird das Narrativ des Interviews mit einer Angehörigen der »Hopenhagen«-Kampagne dargestellt. Während im vorherigen Kapitelabschnitt herausgearbeitet wurde, wie mit den im Interview artikulierten Forderungen die Fantasie des hegemonialen Projekts der »Neoliberalisierung des Klimas« reproduziert wird, geht es hier um die konzentrierte Darstellung der mit dem Interview vorgebrachten Artikulationen (zum Verfahren der Generierung des Narrativs bzw. zu dessen Gliederung siehe Kap. V.2.4, und dort insb. Seite 219 und 220).

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Box 3

Das Narrativ des »Hopenhagen«-Interviews

Die Utopie

Die Green Economy

In einer Green Economy wird es Wohlstand, Hoffnung und Begeisterung für alle geben. Sie ist die Flut, die alle Boote hebt („the tide that lifts all boats“). Die Green Economy löst das Problem des Klimawandels sowie die Wirtschaftskrise mit einem Wechsel weg von fossilen hin zu erneuerbaren Ressourcen. Mit ihr wird ein zerstörerischer Klimawandel verhindert und das Wirtschaftswachstum gesichert. Es ist die Fähigkeit des Marktes durch freien Wettbewerb zwischen Unternehmen Innovationen hervorzubringen. Eine Green Economy führt zu einer Art ‚Wettlauf um die Eroberung des Weltalls‘ („a space race“), d.h. einem Wettlauf um die beste und schnellste Lösung des Klimawandels. Der Markt belohnt Innovationen von Unternehmen und er wird daher die Emission von Treibhausgasen begrenzen (d.h. den Klimawandel lösen), ohne die Produktivität einzuschränken.

Für einen Übergang zu einer Green Economy muss die Fähigkeit des freien Marktes, Innovationen hervorzubringen ausgeweitet werden. Ein solcher Übergang wird nicht durch die UN angeführt. Sie stellt hierfür kein Bindeglied dar. Das Fehlen der Führung durch die UN hat die Ausdehnung freier Märkte zur Folge. Das Scheitern der COP15 schuf für Unternehmen einen ‚Rahmen der Freiheit‘ („a framework of freedom“) Innovationen anzuleiten. Für einen Übergang zu einer Green Economy sollten Unternehmenskräfte gestärkt werden und Geld, das zur Verfügung steht, für Investitionen in die Märkte an der Speerspitze der technischen Innovation genutzt werden. Es ist notwendig, den Status Quo zu akzeptieren und das höchste Innovationspotenzial und den größten technischen Fortschritt voranzutreiben. Um einen Übergang zu einer Green Economy zu erreichen, ist eine universelle Forderung der Weltbürger erforderlich. Wenn es eine solche Forderung nach einem neuen Wirtschaftsmodell gibt, werden die Staatschefs („the leaders“) diese umsetzen. Eine Voraussetzung für eine universelle Forderung ist das Bewusstsein der Menschen. Es kann dadurch erlangt werden, dass die Relevanz des Themas gezeigt wird und Inspiration gegeben wird. Der Klimawandel und dessen Lösungen können relevant gemacht, wenn beides mit der ersten Priorität der Menschen verknüpft wird – der Ökonomie. Da die Werbewirtschaft („the advertising community“) in der Lage ist, Bewusstsein zu schaffen und die UN selbst gegenwärtig jede Führung fehlt, erstellt „Ogilvy Sustainability Marketing Practices“ eine Strategie für eine Kampagne zur Bewusstseinsbildung. Die Hopenhagen-Kampagne versucht das Thema Klimawandel und Lösungen für den Klimawandel mit dem Thema Ökonomie zu verknüpfen. Damit wird das Thema inspirierend. Ogilvy treibt den Übergang zu einem neuen Wirtschaftsmodell voran und stärkt Unternehmenskräfte. Um die Krise zu lösen, sollten Umweltorganisationen kooperativer anstatt konkurrenzbetont agieren. Die Hopenhagen-Kampagne qualifiziert sich als Bindeglied für eine solche Gruppenanstrengung.

Das Glückseligmachende

Bekräftigende Faktoren

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Das Problem Eingriffe in die freien Märkte Eingriffe in freie Märkte hindern diese daran, in optimaler Weise zu funktionieren. Insbesondere ist es die (zwischenstaatliche) Regulierung und Verpflichtung, welche die Abhängigkeit von den endlichen fossilen Ressourcen nicht in Frage stellt und damit die Grundlage des Wirtschaftswachstums gefährdet. Die Regulierung und Verpflichtungen schaffen es nicht den Anstieg der Treibhausgas-Emissionen (dessen Ursache die Industrialisierung und der allgegenwärtige Materialismus der entwickelten Welt ist) und die klimatischen Folgen wie den steigenden Meeresspiegel oder andere Naturphänomene zu unterbinden. Die Regulierung, Verpflichtungen und die künstlich Deckelung der Treibhausgasemissionen sind Eingriffe in die Fähigkeit der Märkte, Neuerungen einzuführen und fortdauernd auf optimalem Niveau zu funktionieren. Zwischenstaatliche Regulierung ist mehr Wohltätigkeitsarbeit („charity“) als eine Problemlösung. Bekräftigende Faktoren

Das Grauen

Die Eingriffe in die Fähigkeit der Märkte, in optimaler Weise zu funktionieren, werden dadurch aufrechterhalten, dass es den Weltbürger an Bewusstsein darüber mangelt, dass ein alternatives Wirtschaftsmodell erforderlich ist, und sie es deshalb nicht fordern und es in der UN zugleich an jeglicher Führung für einen Wandel fehlt. Es sind vor allem Aktivist_innen, die die Eingriffe in die Märkte nicht in Frage stellen, wenn sie protestieren oder wenn sie sich weigern, den inklusiven Raum für gemeinsame Diskussionen über Veränderungen zu nutzen (insbesondere hin zu einer Green Economy), den die UN bei der COP15 bereitstellt. Diese Aktivist_innen verfolgen nicht das gemeinsame Ziel eines Wandels (hin zu einer Green Economy), sondern sind in ihren Forderungen konkurrenzbetont. Mit der Forderung nach Climate Justice beziehen sie sich auf eine rückwärts gewandte Idee.

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VI.2.2 Das Hegemonieprojekt des »Umweltmanagements« VI.2.2.1 Die Diskurskoalition Die Fantasie, die in den Narrativen einer weiteren Gruppe von Interviews artikuliert wird, unterscheidet sich deutlich vom Narrativ des Hopenhagen-Interviews. Die Gruppe von Interviews bringt ein – im Kontext der Gesamtheit aller erhobenen Interviews – spezifisches Deutungsmuster vor. Dieses Deutungsmuster wird hier als Kontur eines weiteren Hegemonieprojekts begriffen, dass auf dem politischen Terrain um Wirkmächtigkeit konkurriert: des Hegemonieprojekts des »Umweltmanagements«. Bevor auf die Fantasie dieses Projekts näher eingegangen wird, soll zunächst die Diskurskoalition dargestellt werden, die das Projekt im Untersuchungsmaterial reartikuliert: Die Gruppe der befragten Personen der transnationalen Netzwerke 350.org, Greenpeace, des Global Footprint Network (GFN), des Climate Action Network (CAN), des World Wide Fund for Nature (WWF) und Wetlands International. All die Organisationen nehmen an den Kopenhagener Klimaverhandlungen (COP15) als sog. Observerorganisationen teil (UNFCCC 2010b, 2010a). Akkreditiert durch das Sekretariat der UNFCCC agieren sie primär innerhalb des offiziellen Prozesses, während andere Akteure ihr Handeln außerhalb davon konzentrieren (vgl. zur Heterogenität der Akteursfeldes auch Seite 157ff. in Kap. IV.3.3.1 bzw. DRYZEK & STEVENSON 2010: 20ff.; LONG ET AL. 2010: 226). Insbesondere hinsichtlich dieses Aspekts weist die Diskurskoalition deutliche Unterschiede zur Diskurskoalition des Hegemonieprojekts der »umfassenden Transformation« auf, die zahlreiche Akteure umfasst, die zu großen Teilen außerhalb des offiziellen Prozesses agieren. Auf dem Terrain der Global Climate Governance treten die Akteure der Diskurskoalition in gemeinsamen Kontexten auf. So sind fast alle Organisationen – eine Ausnahme bildet das GFN – Teil des Climate Action Network International (CAN 2013a), das die internationalen Klimaverhandlungen seit deren Beginn an begleitet. In dem in Bali aufgrund politischer Differenzen aus dem CAN hervorgegangenen »Climate Justice Now!«-Netzwerk264, das neben CAN Observerorganisationen aus dem umwelt- und entwicklungspolitischen Spektrum vernetzt, ist hingegen ausschließlich 350.org Mitglied (CJN! 2010b). Alle Organisationen – ausgenommen Wetlands International – sind darüber hinaus Teil der im Vorfeld der Kopenhagener Verhandlungen vom ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan ins Leben gerufenen Kampagne ‚tcktcktck – The Global Campaign for Climate Action‘ (TCKTCKTCK 2011). Greenpeace, WWF und die US-Sektion des CAN gehören zu

264 Zum Netzwerk siehe auch Seite 159ff. in Kapitel IV.3.3.1.

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den Gründungsmitgliedern der tcktcktck-Kampagne265 (Interview »WCC«: 330332). CAN und die Kampagne ‚tcktcktck‘ verbindet eine moderate Haltung gegenüber den Verhandlungen, die in der gemeinsamen Forderung nach einem ‚fairen, ambitionierten und bindenden Klimaabkommen‘ ihren Ausdruck findet (CAN 2009; TCKTCKTCK 2009). Im Folgenden soll knapp auf die einzelnen Akteure eingegangen werden, die die Diskurskoalition des »Umweltmanagements« im Untersuchungsfeld konstituieren. 350.org wurde im Jahr 2008 in den USA vom Autor und Aktivisten Bill McKibben266 gegründet (vgl. im Folgenden 350.ORG 2013). Es handelt sich bei 350.org um eine Kampagne, die zahlreiche öffentlichkeitswirksame Einzelaktionen zum Thema Klimawandel verbindet. 350.org hebt eine in den USA erfolgreich umgesetzte Aktionsidee auf die internationale Ebene. So schaffte es die Kampagne ‚Step It Up‘ im Jahr 2007, an 50 Orten aller Staaten der USA Demonstrationen für Klimaschutz durchzuführen. Der ‚International Day of Climate Action‘ am 24. Oktober 2009, die erste Aktion von 350.org, vernetzte daran anschließend über 5200 Aktionen in 181 Ländern der Welt. Mit der Zahl 350 trägt die Kampagne ihre Zielforderung – eine CO2-Konzentration von 350 parts per million – bereits in ihrem Namen. 350.org finanziert sich durch Gelder von US-amerikanischen Stiftungen und Einzelspenden (Interview »350.org«: 444-448).267 CAN268 International wurde 1989 gegründet269 und legt das Hauptaugenmerk seiner politischen Kampagnenarbeit auf den Beitrag der Industrieländer zum Klimawandel (NEWELL 2000: 126). Dabei strebt das Netzwerk danach, den von ihm vertretenen Organisationen eine gemeinsame Stimme zu geben (ebd.). Derzeit umfasst das Netzwerk über 700 Organisationen aus mehr als 90 Ländern (CAN 2013a). Das CAN organisiert sich in zahlreichen regionalen bzw. nationalen Netzwerkknoten, die jeweils autonom voneinander agieren (CAN 2013b), und verfügt über ein Kampagnen-Budget von mehreren Millionen Dollar (BYRD 2012: 20). Die Gelder stammen im Wesentlichen aus privaten Stiftungen, den Mitgliedsorganisationen sowie – für einzelne Arbeitsbereiche (wie dem „southern capacity building program“) – von einzelnen europäischen Regierungen (Interview »CAN«: 531545). CAN fungiert im Kontext der UNFCCC seit deren Beginn als sog. ‚focal 265 Weitere Gründungsmitglieder sind Oxfam und der World Council of Churches (Interview »WCC«: 330-332). 266 Ein Profil Bill McKibbens liefert Baer (2013a). 267 Zum Netzwerk 350.org siehe im Weiteren auch Tokar (2013a). 268 Zum CAN vgl. auch Seite 115 in Kapitel IV.1.3, Kapitel IV.3.1 und im Weiteren Newell (2000: 126ff.), Walk und Brunnengräber (2000: 133ff.), Duwe (2001) sowie Nursey-Bray (2012a). 269 Eine ausführliche Darstellung der Entstehungsgeschichte des CAN findet sich bei Beisheim (2004: 266ff.).

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point‘ der ‚constituency‘270 der Umwelt-NGOs (environmental non-governmental organizations – ENGO). Während der internationalen Verhandlungen im Rahmen der UNFCCC veröffentlicht CAN den Newsletter ECO, der die Entwicklungen auf den Verhandlungen aktuell zusammenfasst und im Internet abrufbereit macht (CAN 2013c). ECO ist dabei „Sprachrohr und Integrationsprojekt des CAN“ (WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 136). Im CAN sind es „die großen Organisationen“ wie Greenpeace und WWF, „die den Ton angeben“ (MISSBACH 1999: 274). Seinen Grund hat dies in den umfangreichen Ressourcen, die diesen Organisationen zur Verfügung stehen (BRUNNENGRÄBER 2009: 179). Diese führende Rolle primär umweltpolitisch orientierter internationaler Organisationen im CAN ist mit ein Grund für dessen umweltpolitische Fokussierung, d.h. für den Fokus auf Fragen der Ökologie gegenüber Fragen sozialer Gerechtigkeit (vgl. auch Kap. IV.3.1.2). Das Global Footprint Network wurde 2003 gegründet und setzt sich dafür ein, den anthropogenen Einfluss auf die Natur anhand des Konzepts des ‚ökologischen Fußabdrucks‘ (vgl. MCMANUS 2012) zu messen und so eine nachhaltige Gesellschaft zu etablieren. Das Global Footprint Network betreibt Lobbyarbeit bei Regierungen, Finanzinstitutionen und internationalen Entwicklungsorganisationen. Dabei versucht es diese vom Mehrwert eines Agierens innerhalb des Haushalts der Natur zu überzeugen. Das GFN finanziert sich durch Einzelspenden, Stiftungsgelder und zweckgebundene Mittel von Regierungen sowie Großunternehmen (Interview »GFN«: 539-547). Neben »NGOs« und Wissenschaftler_innen arbeitet das Global Footprint Network gegenwärtig mit über 200 Städten, 23 Ländern und über 90 globalen Partnerorganisationen – »NGOs«, Kommunen, Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen – zusammen. (Vgl. GFN 2013.) Greenpeace und der WWF271 gehören zu den weltweit ressourcenstärksten umweltpolitischen »NGOs«. Gegründet 1971, verbindet Greenpeace über 30 regionale bzw. nationale Zweige (GREENPEACE 2007, 2013), der 1961 gegründete WWF über 270 Bei ‚constituencies‘ handelt es sich um lose Gruppen der die UNFCCC als Observer begleitenden Organisationen, die sich entlang gemeinsamer Interessen oder Perspektiven formieren. Neben der ENGO constituency existierte zunächst die constituency der ‚business and industry non-governmental organizations‘ (BINGO). Im Laufe der Jahre wurden weitere constituencies zu den Themenfeldern ‚local government and municipal authorities‘ (LGMA), ‚indigenous peoples organizations‘ (IPO), ‚research and independent‘ NGOs (RINGO), ‚trade union‘ NGOs (TUNGO), ‚farmers and agricultural‘ NGOs (Farmers), ‚women and gender‘ NGOs (Women and Gender) und youth NGOs (YOUNGO) eingerichtet. Die sog. ‚focal points‘ stellen die Kontaktstellen der entsprechenden constituency zum Sekretariat der UNFCCC dar. (UNFCCC 2006; vgl. auch UNFCCC 2011) 271 Detailliertere Informationen zu den jeweiligen Organisationen finden sich bei Corfield (2012) bzw. Whalen (2012).

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60 (WWF 2013b, 2013a). Beide Organisationen sind seit den Anfängen der Klimapolitik unter dem Dach der UN in diesem Politikfeld aktiv. In vielerlei Hinsicht zeigen beide Organisationen Ähnlichkeiten (vgl. im Weiteren WALK & BRUNNENGRÄBER 2000: 108ff.): Im Kontext der UN-Klimaverhandlungen treten sie mit Lobbyarbeit, Expertise, Öffentlichkeitsarbeit und Protesten in Erscheinung. Beide Organisationen finanzieren sich primär über Privatspenden. Während Greenpeace jede Art finanzieller Unterstützung durch die Wirtschaft ablehnt, nimmt der WWF auch finanzielle Einnahmen aus Allianzen mit Unternehmen bzw. Unternehmensverbänden an.272 Im Verlauf ihrer Mitwirkung im klimapolitischen Prozess bilden Greenpeace und WWF eine konfliktiven-kooperierenden Politikstil aus (ebd.: 276; vgl. auch Seite 134ff. in Kap. IV.3.1). Der Wille zur Teilnahme am offiziellen Prozess bestimmt dabei die Grenzen der politischen Forderungen und Protestaktionen der Organisationen. Wetlands International nimmt den Schutz von Feuchtgebiets-Ökosystemen in den Fokus seiner Arbeit. Gegründet wurde die Organisation im Jahr 1996 als Zusammenschluss dreier Organisationen (mit Fokus auf Großbritannien, Asien und Amerika), die sich bereits zuvor – teils seit Jahrzehnten – diesem Thema widmeten (WETLANDS INTERNATIONAL 2012a). Mit Hauptsitz in den Niederlanden umfasst die Organisation ein Netz von 18 zumeist unabhängigen regionalen bzw. nationalen Büros. Die Arbeit von Wetlands International konzentriert sich auf AdvocacyTätigkeit, die Anregung und Durchführung von Forschung sowie NaturschutzFeldarbeit (WETLANDS INTERNATIONAL 2012b). Im Kontext ihrer Advocacy-Arbeit begleitet Wetlands International die Klimaverhandlungen unter dem Dach der UNFCCC. Wetlands International finanziert sich durch Stiftungsgelder, Zuschüsse von Regierungen (insbesondere der Regierung der Niederlande), der UN sowie ebenso durch Mittel aus der Privatwirtschaft (Interview »Wetlands«: 331-338). VI.2.2.2 Zur Fantasie des Hegemonieprojekts Im Folgenden steht die Fantasie des Hegemonieprojekts des »Umweltmanagements« im Fokus, die mit den Narrativen der Interviews mit Angehörigen von 350.org, Greenpeace, dem Global Footprint Network (GFN), dem Climate Action Network (CAN), dem World Wide Fund for Nature (WWF) und Wetlands International artikuliert wird. Ein grundlegendes Differenzierungsmerkmal der Fantasie des Hegemonieprojekts gegenüber den anderen sich abzeichnenden Hegemonieprojekten ist eine besondere Hervorhebung des Ökologischen: Bei der Artikulation des Problems des Klimawandels sowie bei den artikulierten Lösungsansätze wird im Deutungsmuster das Ökologische besonders betont. Im vorliegenden Abschnitt soll zunächst die Fantasie des Hegemonieprojekts in ihren Grundzügen umrissen wer272 Auf diese Praxis des WWF insbesondere im Feld der Klimapolitik wurde bereits auf Seite 138 in Kapitel IV.3.1.1 eingegangen.

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den. Daran anschließend wird dargestellt, wie das Projekt in den Narrativen reproduziert wird. Zum Abschluss werden die das Hegemonieprojekt konstituierenden Forderungen hinsichtlich ihrer kritischen bzw. affirmativen Positionierung gegenüber dem hegemonialen Projekt beurteilt. In der Fantasie des Hegemonieprojekts des »Umweltmanagements« (vgl. auch Abbildung 9) ist es ein (globales) Umweltproblem, das das ‚Grauen‘ symbolisch repräsentiert. All die Interview-Narrative, die dieses Hegemonieprojekt reproduzieren, artikulieren eine derartige Fantasie, d.h. eine der Gesellschaft äußerlich verbleibende Krise der Ökologie273 – wenn sie als Hemmnis gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit eine überhöhte CO2-Konzentration in der Atmosphäre vorbringen, das Überschreiten der Reproduktionsrate der biologischen Kapazität, einen Drei-Planeten-Lebensstil oder degradierte Ökosysteme weltweit. Ein globales Umweltproblem bedeutet negative Auswirkungen auf die Ökologie wie die Degradierung von Ökosystemen oder einen Wandel des Klimas. Zugleich hat der negative Zustand der Ökologie (nachteilige) Auswirkungen auf das Soziale. Er impliziert ungleiche Lastenverteilung der lokalen Folgen. Betroffen sind insbesondere arme Menschen und solche, die für das Umweltproblem am wenigsten verantwortlich sind. Was als Faktoren artikuliert wird, die das globale Umweltproblem bekräftigen, darin finden sich in den Narrativen der Interviews in vielerlei Hinsicht Gemeinsamkeiten. Die bekräftigenden Faktoren werden in den Narrativen äquivalent zueinander artikuliert. Durch diese hegemoniale Artikulation wird der ‚leere Signifikant‘ ‚globales Umweltproblem‘ aufgefüllt.274 Im Wesentlichen ist es eine überhöhte Emission von Treibhausgasen (insbesondere CO2) aufgrund der Verbrennung fossiler Treibstoffe, die in der Fantasie des Projekts das Umweltproblem bekräftigt. Ursächlich für die Emissionen ist ein Lebensstil, der auf dem Überkonsum fossiler Ressourcen beruht. Die gegenwärtigen Regierungspolitiken erhalten diesen Status Quo und damit das Umweltproblem aufrecht. Insbesondere wirtschaftliche Interessen, vor allem die der fossilen Industrie, sind gegen einen Wandel gerichtet. Bekräftigt wird das Umweltproblem auch durch vermeintliche Lösungsansätze wie GeoEngineering, Kohlenstoff-Speicherung (CCS), Agrartreibstoffe oder Atomkraft. Diese – so die Artikulation in den Narrativen – setzen nicht an der Wurzel des Problems an, sondern reproduzieren es. Die UN-Klimaverhandlungen sind gegenwärtig 273 In dieser Hinsicht reartikuliert das Hegemonieprojekt des »Umweltmanagements« das hegemoniale Projekt (vgl. Kap. IV.2.2). Die das Hegemonieprojekt reproduzierenden Narrative heben sich deutlich von anderen Narrativen ab, die die Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse problematisieren (vgl. Kap. VI.2.4), also eine spezifische Vermittlung von Gesellschaft und Natur. 274 Zum Begriff der hegemonialen Artikulation vgl. Kapitel II.2.4, zum Begriff des leeren Signifikanten vgl. Kapitel II.2.2.

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aufgrund des starken Einflusses großer Emittenten (bestimmter Staaten und der fossilen Industrie) bzw. der Unterrepräsentierung bestimmter Stimmen (insbesondere indigener Menschen) in ihrem Handlungsspielraum beschränkt. Proteste, die sich der Gewalt bedienen, erzeugen nicht den breiten zivilgesellschaftlichen Druck auf die Verhandlungen, der für eine Lösung des Umweltproblems erforderlich wäre. Das (globale) Umweltproblem (das ‚Grauen‘) kann – so die Fantasie des Projekts – durch ein aktives Management des Ökologischen überwunden werden. Umweltmanagement symbolisiert in diesem Sinne das ‚Glückseligmachende‘. Umweltmanagement zielt auf eine nachhaltige Art und Weise der Nutzung der Umwelt ab. Es impliziert, dass negative Auswirkungen auf die Ökologie unterbunden werden und damit zugleich im Sozialen (insbesondere der Ökonomie) positive Auswirkungen spürbar werden. So wird die Degradierung von Ökosystemen verhindert und die Reproduktion des Klimawandels gestoppt, was Gesellschaften Schutz bietet und die Grundlage bestimmter zuvor bestehender sozialer Ungerechtigkeiten beseitigt. Eine nachhaltige Nutzung der Umwelt bietet Chancen für die Ökonomie, wie die Schaffung von Arbeitsplätzen oder von Investitionsmöglichkeiten. In den Narrativen der Interviews zeichnen sich drei Ausprägungen des »Umweltmanagements« ab, die jeweils bestimmte Aspekte – die auch in anderen Varianten artikuliert werden, jedoch dort weniger prominent sind – besonders betonen: Die Variante des »Kohlenstoffmanagements«, die im 350.org- artikuliert wird, hebt dabei das Management von CO2-Emissionen hervor – insbesondere die Begrenzung der CO2-Konzentration auf 350 ppm. Die »ökologische Modernisierung«, die im Greenpeace-, Global Footprint Network-, CAN- und WWF-Narrativ artikuliert wird, rückt den Wandel von fossilen zu erneuerbaren Energien sowie die Verbesserung der Effizienz von Energieerzeugung, Infrastruktur und Produkten anhand grüner Technologien in den Fokus. Die Variante des »Naturschutzes«, die im WetlandsInternational-Narrativ artikuliert wird, betont die nachhaltige Nutzung von Ökosystemen und den Schutz von Biodiversität weltweit.

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Abbildung 9

Idealtypische Charakteristika des Hegemonieprojekts des »Umweltmanagements«



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Eigene Darstellung



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Es ist eine Vielzahl von partikularen Forderungen, die zusammen mit der Forderung nach einem Management der Umwelt artikuliert und so mit ihr äquivalent gesetzt wird. Auf diese Weise wird der ‚leere Signifikant‘ des Umweltmanagements ausgefüllt. Zunächst wird die Forderung nach einer massiven Reduktion der Treibhausgas-Emissionen (insbesondere von CO2) äquivalent zum Umweltmanagement artikuliert. Umweltmanagement bedeutet daneben die Abkehr von fossilen Ressourcen und die Nutzung erneuerbarer Energien (Wind- und Sonnenkraft) sowie einen Wandel zu einem nachhaltigen Lebensstil, der nicht auf der Verschwendung von Ressourcen beruht. Umweltmanagement beruhe, so die Artikulation in den Narrativen, wesentlich auf (zwischen-)staatlicher Politik. Die Umwelt wird durch Regierungshandeln – insbesondere durch das Setzen von Grenzwerten und Rahmenvorgaben – gemanagt. Da die Etablierung des ‚Glückseligmachenden‘ wesentlich den regierenden Autoritäten zugewiesen wird, sind auch die Verhandlungen im Rahmen der UN für das Umweltmanagement bedeutend. Um das Umweltmanagement zu etablieren gilt es hier insbesondere ein ‚faires, ambitioniertes und bindendes‘ Klimaabkommen zu erzielen. Lobbyarbeit gegenüber Regierungen und zivilgesellschaftlicher Druck durch Proteste kann die Etablierung des Umweltmanagements vorantreiben. Reproduktion des Hegemonieprojekts: Der Blick auf die Artikulationen Wie in den Narrativen die Fantasie des Hegemonieprojekts reartikuliert wird, soll im Folgenden anhand des Interviewmaterials dargestellt werden. In allen Narrativen der Diskurskoalition symbolisiert, wie bereits hervorgehoben, ein globales Umweltproblem das ‚Grauen‘. Im Vordergrund rückt die Fantasie der Narrative damit den negativen Zustand des Ökologischen und nicht – wie in anderen Narrativen der Fall (vgl. insb. Kap. VI.2.4) – die Vermittlung von Gesellschaft und Natur. Für 350.org ist es entsprechend eine CO2-Konzentration über 350 parts per million – der „bottom line for CO2 for a safe, stable climate“ (Interview »350.org«: 56-57) –, die für das Umweltproblem steht, für Greenpeace und CAN ist es hingegen „der hohe Ausstoß von Treibhausgasen“ (Interview »GP«: 70-71, vgl. auch Interview »CAN«: 118). Das GFN stellt „problems of […] ‘overshoot’ or ‘demanding too much from the natural world’“ ins Zentrum seiner Fantasie, d.h. den Umstand von „more demand than there is annual production of natural capital or bio-capacity“ (Interview »GFN«: 92, 102-103), während im WWF-Narrativ ein „three-planet lifestyle“ problematisiert wird, der, wenn er auf die gesamte Weltbevölkerung verallgemeinert würde, die Ressourcen dreier Planeten erfordern würde (Interview »WWF«: 38-44). Im Wetlands-International-Narrativ ist die „degradation of ecosystems“ das Umweltproblem, das das ‚Grauen‘ symbolisiert (Interview »Wetlands«: 71). Alle Narrative verbindet, dass sie das Umweltproblem, das sie artikulieren, in Äquivalenz zur überhöhten Emission von Treibhausgasen (insbesondere CO2) auf-

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grund der Verbrennung fossiler Treibstoffe setzen, was beispielhaft in den beiden folgenden Zitaten zum Ausdruck kommt275: „Das Problem […] ist der hohe Ausstoß von Treibhausgasen die die Erdatmosphäre belasten.“ (Interview »GP«: 70-72) „Fossil fuels are by nature a problem in that they represent a source of carbon dioxide to the atmosphere that jeopardizes the balance between oxygen and CO2 on the planet.“ (Interview »GFN«: 154-157)

Als Ursachen der überhöhten Treibhausgas-Emissionen werden in den Narrativen wiederholt drei Aspekte vorgebracht: ein nicht-nachhaltiges Konsummuster in den Industrieländern, das Geschäftsmodell der fossilen Industrie sowie konkrete Regierungspolitiken. Erstens wird also betont, dass es gerade die westlichen, ressourcenverschwenderischen Konsummuster sind, die einen massiven Verbrauch fossiler Treibstoffe bedingen276 und mit der erforderlichen Reduktion von Emissionen unvereinbar sind (Interview »GP«: 290-294): „There is an enormous demand on the fossil fuels in order to satisfy the consumption patterns that western humans have become used to“ (Interview »GFN«: 167-178), „fundamentally the problem is the way we’re living of fossil fuels“ (Interview »WWF«: 138-139).

Hervorgehoben wird zweitens, dass zu erhöhten Treibhausgas-Emissionen eine Industrie beiträgt, die auf der Ausbeutung fossiler Ressourcen beruht. Insbesondere das Interesse der Kohle- und Ölindustrie, dieses Geschäftsmodell aufrechtzuerhalten, fördert die Reproduktion der schädlichen Konsummuster: „They are making profits on business models that all are causing climate change in a lot of ways […] they are addressing immense amounts of resources to try to avoid a change in those consumption patterns.“ (Interview »CAN«: 116-122, vgl. auch Interview »Wetlands«: 161163)

Drittens – so die Fantasie der Narrative – sind es spezifische Regierungspolitiken, die die schädlichen Geschäftsmodelle der fossilen Industrie ermöglichen (vgl. bspw. Interview »CAN«: 149-151). Dabei ist es insbesondere ein Mangel der durch die (internationale) Politik gesetzten Grenzwerte und Rahmenbedingungen, der die 275 Vgl. im Weiteren auch Interview »350.org« (92-94), Interview »CAN« (110-113), Interview »GFN« (159-162), Interview »GP« (200-215), Interview »Wetlands« (63-64) und Interview »WWF« (90-94, 138-139). 276 Vgl. hierzu Interview »CAN« (149-151), Interview »GFN« (167-178), Interview »GP« (290-294), Interview »Wetlands« (67-69), Interview »WWF« (138-139).

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Kontinuität der Geschäftsmodelle bedingt (vgl. bspw. Interview »350.org«: 108111). In den Narrativen werden die drei Aspekte (Konsummuster, Fossilismus und Regierungshandeln) als die eigentlichen Wurzeln des Problems überhöhter Emissionen artikuliert. Damit unterscheidet sich die gemeinsame Fantasie der Narrative wesentlich von der Fantasie anderer Hegemonieprojekte. So fasst das Hegemonieprojekt der »umfassenden Transformation« (vgl. Kap. VI.2.4) die drei Aspekte als Symptome einer grundlegenden Krise des Gesellschaftssytems bzw. der Wirtschaftsordnung. Im Hegemonieprojekt des »Umweltmanagements« werden Gesellschaftssystem bzw. Wirtschaftsordnung hingegen nicht als grundlegend krisenhaft bzw. transformationsbedürftig artikuliert.277 Verbunden mit dieser Art und Weise der Problemkonstruktion – der Artikulation des ‚Grauens‘ – ist, was in den Narrativen als adäquater Lösungsansatz vorgebracht wird bzw. was als mangelhafter Ansatz. Um adäquat zu sein – so die Fantasie des Hegemonieprojekts – müssen Lösungsansätze die artikulierten Wurzeln des Problems überhöhter Emissionen angehen. Es bedarf also der Förderung eines nachhaltigen Lebensstils278, der Abkehr vom Fossilismus279 oder der Implementierung spezifischer Regierungspolitiken. So wird das ‚glückseligmachende‘ Umweltmanagement etabliert. Entsprechend werden mit der gemeinsam artikulierten Fantasie Ansätze wie Geo-Engineering280, Kohlenstoffspeicherung281 oder Agrosprit282 als 277 Eine Ausnahme unter den Interviews stellt das Greenpeace-Narrativ dar, in dem der ökonomische Wachstumsimperativ als krisenhaft problematisiert wird, wenn die Reduktion von CO2-Emissionen als unvereinbar mit dem gegenwärtigen Wachstum bezeichnet wird (vgl. Interview »GP«: 284-296). Dennoch wird auch hier eine Transformation weg vom Wachstum nicht weiter thematisiert. Hingegen wird es als eine Stärke der UN-Klimaverhandlungen verstanden, „dass sie sich letztendlich […] auf die Reduktion von Treibhausgasen“ (372-373) beschränken und nicht versuchen „alle Probleme der Welt“ (395-396) zu lösen oder „ein ganz anderes Gesellschaftssystem“ (365-366) zu etablieren. 278 Vgl. zur Forderung nach der Förderung eines nachhaltigen Lebensstils Interview »350.org« (100-107), Interview »CAN« (149-151), Interview »GFN« (206-217), Interview »GP« (290-294), Interview »Wetlands« (67-69) und Interview »WWF« (36-46, 110-118). 279 Vgl. zur Forderung nach einer Abkehr vom Fossilismus Interview »350.org« (118-121), Interview »CAN« (222-225), Interview »GFN« (186-187), Interview »GP« (269-270) und Interview »WWF« (138-140). 280 Vgl. zur Ablehnung von Ansätzen des Geo-Engineerings Interview »GP« (97-100) und Interview »Wetlands« (95-98). 281 Vgl. zur Ablehnung der Kohlenstoffspeicherung Interview »GP« (92-96), Interview »CAN« (179-194, 204-225) und Interview »Wetlands« (77-81).

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„falsche Lösungen“ (Interview »GP«: 99-100) abgelehnt, da sie nicht an den Wurzeln des Problems ansetzen: „It would be ideal and wonderful if there was a kind of silver bullet. if there was a- something that we knew that we can do and that would mean that we can carry on living the way that we do and not have to change. People don’t like change fundamentally, so we could look for that silver bullet, but i think that’s short-sighted, because fundamentally the problem is the way we’re living of fossil fuels […].“ (Interview »WWF«: 132-139)

Als besonders wirkmächtige283, wenn nicht gar die bedeutendste284 Stellschraube für einen Wandel wird in den Narrativen das Handeln von Regierungen hervorgehoben. Insbesondere gegenüber Verhaltensänderungen von Individuen wird dem Regierungshandeln eine höhere Bedeutung dabei beigemessen, Reduktionen der überhöhten Treibhausgas-Emissionen zu erzielen: „There was a lot of emphasis on behavioral change, to people changing their light bulbs, buying (??), turning down their thermostat, unplugging their computers all of which are incredibly important things and will help, but will never get us to 350 because no matter how many good-natured people there are in the world and how many people you can convince that those are good things to do, it won’t have the amount of reduction we need. And so I think the alternative is government action that sets limits and sets standards by which an entire society can change much more rapidly, because it’s an agreed upon treaty or action.“ (Interview »350.org«: 100-111, vgl. auch Interview »CAN«: 144-160)

Die Verhandlungen im Rahmen der UN-Klimarahmenkonvention werden – so die gemeinsame Fantasie der Narrative – als das beste Forum gedeutet, um die erforderlichen Handlungen der Regierungen zu erzielen. Auch wenn vereinzelte Schwächen der Verhandlungen in den Narrativen artikuliert werden285, wiegen diese je282 Vgl. zur Ablehnung von Agrartreibstoffen Interview »350.org« (124-131) und Interview »Wetlands« (87-95). 283 Vgl. bspw. Interview »WWF« (118-124). 284 So heißt es im 350.org-Interview: „There’s a lot of solutions. The ones that have the most power at this point are strong smart government action“ (Interview »350.org«: 96111). Fast identisches wird im CAN-Interview artikuliert: „What I think is most important […] is fighting for a government policy“ (Interview »CAN«: 155-156). 285 Dies betrifft die Artikulationen, bei den Verhandlungen seien indigene Stimmen unterrepräsentiert (vgl. Interview »350.org«: 222-224, Interview »CAN«: 375-389 und Interview »GFN«: 408-417), bestimmte Staaten würden gegenüber anderen dominieren (vgl. Interview »350.org«: 184-195 und Interview »GP«: 181-191) bzw. die Industrielobby würde bei den Verhandlungen zunehmend präsent (vgl. Interview »GP«: 163-172).

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doch die grundsätzlich positive Bewertung der Verhandlungen nicht auf. Explizit wird entsprechend in zahlreichen Interviews286 geäußert: „The UNFCCC is the best […] venue for these negotiations to take place“ (Interview »CAN«: 449-453). Die Verhandlungen – so die Artikulation in den Narrativen – dienen dabei ausschließlich dem Management des globalen Umweltproblems. Die Aufgabe der Verhandlungen wird auf die ‚faire, ambitionierte und bindende‘287 Reduktion der überhöhten Treibhausgas-Emissionen beschränkt. Nach der Fantasie des Hegemonieprojekts ist die Emissions-Reduktion unabhängig von der Frage ökonomischen Wachstums verhandelbar288: „Eine ganz zentrale Frage ist sicherlich eine Frage des Wirtschaftswachstums, aber da muss man auch ganz klar sagen, dass es einerseits hier in den Verhandlungen um ein ganz zentrales Thema des Klimaschutzes und der CO2 Reduktion geht. Das ist auch eine Stärke der Verhandlung […].“ (Interview »GP«: 284-289) „[D]ie Stärke von den Klimaverhandlungen hier ist, dass sie sich letztendlich beschränken auf die Reduktion von Treibhausgasen. […] dass damit nicht alle Probleme der Welt gelöst sind ist automatisch auch klar.“ (Interview »GP«: 371-395, vgl. auch Interview »GFN«: 425-430)

Damit unterscheidet sich die Fantasie der Narrative von anderen, die an die Klimapolitik den Anspruch stellen, eine umfassende Transformation der Gesellschaft bzw. der sie kennzeichnenden Wirtschaftsordnung voranzutreiben (vgl. Kap. VI.2.4). Die Forderung nach einem „entire system change“ im 350.org-Narrativ (vgl. Interview »350.org«: 118-119) steht dementsprechend nicht für eine Transformation der Wirtschaftsordnung, sondern ist synonym mit der Forderung nach einer Reduktion von Emissionen – sei es durch Abschaffung von Subventionen für fossile Ressourcen

286 Vgl. auch Interview »350.org« (194-201: „I think this is the best forum we have in terms of assessing negotiations.“), Interview »GP« (181-191: „Wo wenn nicht unter dem Dach der UN sollten Verhandlungen stattfinden.“) und Interview »WWF« (235243: „Taking all those issues into this specific political event, negotiation arena, diplomatic arena, is gonna cause problems and difficulties, but it’s the pretty only way that we gonna get through this is by this countries talking together in the way they are doing here at copenhagen.“). 287 Vgl. Interview »350.org« (170-172), Interview »CAN« (261-264), Interview »GP« (145-149) und Interview »WWF« (267-297). 288 Auch wenn zugleich geäußert wird, dass „Wachstum wie es von vielen Industriegesellschaften gefordert ist, absolut unvereinbar ist mit dem Reduktionspfad von CO2“ (Interview »GROOTS«: 291-294), wird dies im entsprechenden Narrativ selbst nicht als Widerspruch benannt.

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oder Investitionen in grüne Technologien oder Anderes (vgl. Interview »350.org«: 119-121). Die Forderung nach dem Erfolg der UN-Verhandlungen289 kennzeichnet das Hegemonieprojekt des »Umweltmanagements«. In der Fantasie des Projekts ist ein Erfolg nicht nur notwendig, sondern erscheint auch möglich.290 Insbesondere die Zivilgesellschaft wird in den Narrativen als Kraft artikuliert, die die Verhandlungen positiv beeinflussen kann. Dabei wird ein Verständnis von Zivilgesellschaft artikuliert, dass sich auf deren appellative und advokatorische Funktion beschränkt (vgl. Kap. II.1.1.1, insb. Abbildung 1 auf Seite 29). Einerseits ist es die Lobbyarbeit der »NGOs«, die als ein bekräftigender Faktor auf dem Weg zur Etablierung des Umweltmanagements vorgebracht wird.291 Andererseits sind es Protestaktionen, die Druck auf Regierungen und die Verhandlungen aufbauen. Entsprechende Äußerungen finden sich in allen Interviews292 – „The delegates who negotiate this treaty need to feel that the entire world is watching them and they are under pressure to do it well“ (Interview »350.org«: 286-288). Proteste sind legitim, wenn es gewaltfreie Proteste sind293: „[Violent protests] will draw the world’s media certainly, but if we’re making radical demands, we want to bring […] as much of society with us as possible in making those radical demands. And I think in violent protests what you get is that much of society is on the fence that could come with you.“ (Interview »350.org«: 303-309)

In den Narrativen lassen sich drei Ausprägungen des Hegemonieprojekts des »Umweltmanagements« ausmachen – im Folgenden soll von Diskurssträngen gespro289 Vgl. bspw. Interview »350.org« (194-201: „I would very much like to see this process succeed“), Interview »GP« (142-143: „[D]ann muss es auch zum Schwur kommen.) und Interview »WWF« (239-243: „We gonna get through this […]. I hope they’ll be there by next thursday, friday but we’ll see.“). 290 Vgl. bspw. Interview »CAN« (451-453: „All the efforts that I’m putting forward are aimed at facilitating progress and encouraging progress in this negotiations“), Interview »GP« (143: „Sie können das machen und dieser Erfolg ist möglich.“) und Interview »WWF« (239-242: „We gonna get through this […] and I think they are slowly but shortly getting there.“). 291 Vgl. Interview »CAN« (399-401, 422-425), Interview »GP« (198-200), Interview »Wetlands« (119-139) und Interview »WWF« (260-264, 373-378). 292 Vgl. Interview »350.org« (203-206, 286-288, 291-300), Interview »CAN« (456-474), Interview »GFN« (422-425), Interview »GP« (221-222), Interview »Wetlands« (234243) und Interview »WWF« (395-398). 293 Vgl. Interview »350.org« (300-309), Interview »GP« (221-222), Interview »Wetlands« (244-254), Interview »WWF« (403-407).

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chen werden: das Kohlenstoffmanagement, die ökologische Modernisierung und der Naturschutz. In den einzelnen Diskurssträngen werden jeweils bestimmte Aspekte besonders betont, die teils auch in den anderen Strängen – jedoch dort weniger prominent – artikuliert werden. Bei den Diskurssträngen handelt es sich insofern um unterschiedliche Ausprägungen der Fantasie des Hegemonieprojekts. In den bisherigen Darstellungen wurde auf die gemeinsame Fantasie der Narrative eingegangen. Allen Narrativen ist gemeinsam, dass sie die Forderung nach einem Management der Umwelt vorbringen, d.h. danach einen negativen Zustand der Umwelt durch Management zu verbessern und so gesellschaftliche ‚Harmonie und Vollkommenheit‘ zu verwirklichen. Ebenso wie der ‚negative Zustand der Umwelt‘ wird in den Narrativen auch die ‚gesellschaftliche Harmonie und Vollkommenheit‘ unterschiedlich symbolisch repräsentiert (vgl. hierzu auch Tabelle 6 auf Seite 228). Die gemeinsame Fantasie der Narrative (das sich konturierende Hegemonieprojekt) beruht darauf, dass die Narrative eine Vielzahl bestimmter Artikulationen miteinander übereinstimmend vorbringen, auch wenn diese Artikulationen je Narrativ zu unterschiedlichen symbolischen Repräsentanten äquivalent gesetzt werden. Diskursstränge lassen sich dann beschreiben, wenn die unterschiedlichen symbolischen Repräsentanten in den Blick genommen werden. In den einzelnen Narrativen werden gemeinsam artikulierte Forderungen, wie die nach einem nachhaltigen Lebensstil, der Abkehr vom Fossilismus und der Implementierung nachhaltiger Regierungspolitiken, in Äquivalenz zu jeweils spezifischen symbolischen Repräsentanten des ‚Glückseligmachenden‘ gesetzt: Die Erfüllung der artikulierten Forderungen bedeutet eine ‚CO2-Konzentration von 350 ppm‘, eine ‚kohlenstoffneutrale Gesellschaft‘, eine ‚Welt mit einem nachhaltigen ökologischen Fußabdruck‘, etc. (vgl. Tabelle 6 auf Seite 228). Forderungen wie beispielsweise die nach einer ‚CO2-Konzentration von 350 ppm‘ im 350.org-Narrativ werden damit zu umfassenden Forderungen. Mit ihnen wird einerseits ein bestimmter Aspekt auf besondere Weise hervorgehoben – nämlich das, worin die anderen Forderungen äquivalent zu einander artikuliert werden. Andererseits wird die umfassende Forderung im Narrativ durch eine Vielzahl von Forderungen aufgefüllt – Forderungen, die teils die Diskursstränge übergreifen (siehe die Darstellung dieser Forderungen oben) sowie Forderungen, die ausschließlich oder in besonderer Intensität in bestimmten Diskursträngen artikuliert werden. Im Folgenden sollen die Diskursstränge des Hegemonieprojekts anhand beider Punkte dargestellt werden. Der Diskursstrang des Kohlenstoffmanagement wird im 350.org-Narrativ artikuliert. Es ist hier die ‚CO2-Konzentration von 350 parts per million‘, die im Narrativ gesellschaftliche ‚Harmonie und Vollkommenheit‘ repräsentiert. Entsprechend werden alle im Narrativ vorgebrachten Forderungen in Äquivalenz zur Forderung nach einer CO2-Konzentration von 350 ppm artikuliert. Umweltmanagement be-

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deutet im Narrativ ein Management von CO2-Emissionen. Nachhaltig wird die Umwelt genutzt, wenn die CO2-Konzentration auf 350 ppm begrenzt ist: „Anyone who cares about climate change should know that 350 is this new science and is this bottom line“, „a bottom line for CO2 for a safe, stable climate“ (Interview »350.org«: 88-89, 56-57).

Der Diskursstrang der ‚ökologische Modernisierung‘ wird im Greenpeace-, Global Footprint Network-, CAN- und WWF-Narrativ artikuliert. Der Fantasie der Narrative ist gemeinsam, dass sie zur Überwindung des artikulierten Umweltproblems – d.h. der überhöhten CO2-Konzentration (CAN, Greenpeace), dem Überschreiten der Reproduktionsrate der biologischen Kapazität (GFN) bzw. dem Drei-PlanetenLebensstil (WWF) – grüne Technologien hervorheben. Umweltmanagement wird in diesem Diskursstrang insofern als ökologische Modernisierung artikuliert. Einerseits wird die Forderung nach einem Wandel von fossilen zu erneuerbaren Energien294 vorgebracht. Zum anderen wird in den Narrativen gefordert, die Effizienz295 von Energieerzeugung, Infrastruktur und Produkten technologisch zu verbessern. Neben dem Management der Umwelt ermögliche dies die Aufrechterhaltung industrieller Produktion sowie ökonomischen Aufschwung: „That’s not to say that we have to stop using energy and stop being industrialized, but it means that we can do more efficient and we can use alternatives that are established within the environment.“ (Interview »WWF«: 98-101) „We need to see those green technologies internalized so that they can get up to the same level of economic feasibility and also attractiveness to investors in otherwise- see those technologies really be the way for the future. They can create jobs. They can make cleaner air. They can do all sorts of things in addition to helping to address global warming emission.“ (Interview »CAN«: 169-176)

Der Diskursstrang des ‚Naturschutzes‘ wird im Wetlands-International-Narrativ artikuliert. Es sind ‚weltweit geschützte Ökosysteme‘, die im Narrativ gesellschaftliche ‚Harmonie und Vollkommenheit‘ repräsentieren. Alle im Narrativ erhobenen Forderungen werden insofern in Äquivalenz zur Forderung nach weltweit geschützten Ökosystemen artikuliert. Im Narrativ bedeutet Umweltmanagement eine nachhaltige Nutzung von Ökosystemen und den Schutz von Biodiversität weltweit.

294 Vgl. Interview »CAN« (165-167), Interview »GFN« (197-200), Interview »GP« (8083) und Interview »WWF« (143-145). 295 Vgl. Interview »GFN« (186-196), Interview »CAN« (158-163, 169-176) und Interview »WWF« (96-101, 118-124).

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Beurteilung der Forderungen hinsichtlich ihrer Positionierung (kritisch/affirmativ) Im Folgenden sollen die mit dem Hegemonieprojekt des »Umweltmanagements« vorgebrachten Forderungen hinsichtlich ihrer kritischen bzw. affirmativen Positionierung gegenüber dem hegemonialen Projekt (vgl. Kap. II.2.5) beurteilt werden. Gefragt wird, von welchem Terrain aus die Forderungen artikuliert werden: vom Terrain der etablierten (neoliberalen) Hegemonie oder dem des radikal Anderen. Deutlich wird, dass die Fantasie des »Umweltmanagements« Forderungen die gegenüber der neoliberalen Hegemonie kritisch positioniert sind mit solchen verknüpft die auch im hegemonialen Projekt selbst artikuliert werden. Die Fantasie des »Umweltmanagements« bringt zahlreiche Forderungen hervor, die gegenüber dem hegemonialen Projekt kritisch ausgerichtet sind. Mit ihnen geht die Artikulation eines Antagonismus einher. Durch äquivalente Artikulation der im hegemonialen Projekt unerfüllten Forderungen296 kommt es zur antagonistischen Zweiteilung des diskursiven Raums. Artikuliert wird also ein spezifischer Antagonismus einer gesellschaftlichen Vollkommenheit und eines sie bedrohenden Hemmnisses, der sich vom hegemonialen Deutungsmuster unterscheidet. Im Folgenden sollen die artikulierten kritischen Forderungen dargestellt werden. Viele der mit dem Hegemonieprojekt des »Umweltmanagements« vorgebrachten Forderungen fokussieren auf die Input-Seite des Energiesystems. Damit artikuliert das Projekt Forderungen vom Terrain des ausgeschlossenen radikal Anderen des hegemonialen Projekts, denn das hegemoniale Projekt nimmt einseitig die Output-Seite (d.h. die Emissionen) in den Blick. Im Konkreten ist es die Forderung nach einer Abkehr vom Fossilismus und der Nutzung erneuerbarer Energien, mit der der Input des Energiesystems, d.h. die fossilen Energieträger (Kohle, Öl und Gas), thematisiert wird. Entsprechend fordert das Projekt Ansätze nicht zu verfolgen, die nur auf den Umgang mit der Output-Seite des Energiesystems abzielen – wie das Geo-Engineering oder die Kohlenstoffspeicherung (CCS). Die Forderung nach einem nachhaltigen Lebensstil, der den Überkonsum fossiler Ressourcen überwindet, nimmt darüber hinaus ebenso die Input-Seite des Energiesystems in den Blick. Vom Terrain des radikal Anderen des hegemonialen Projekts wird ebenso die Forderung nach (zwischen-)staatlicher Regulierung artikuliert. So zielt die Fantasie des »Umweltmanagements« auf die Implementierung spezifischer Regierungspolitiken – sei es das Setzen von Grenzwerten und Rahmenvorgaben im Allgemeinen, die Implementierung von regulierend wirkenden Marktmechanismen297 oder die 296 Es handelt sich insofern bei den kritischen Forderungen um populäre Forderungen (vgl. die Ausführungen zu Ernesto Laclaus Unterscheidung von populären und demokratischen Forderungen in Kapitel II.2.5). 297 Vgl. Interview »350.org«: 379-389.

260

| VI. E RGEBNISSE DER INTERVIEWSTUDIE

Unterbindung klimaschädlicher Geschäftsmodelle der fossilen Industrie.298 Die hegemoniale Praxis in der Global Climate Governance reproduziert hingegen einen Markt frei von Interventionen. Forderungen nach Regulierung, d.h. nach Eingriffen in den freien Markt, sind insofern kritisch positioniert gegenüber der artikulierten Praxis des hegemonialen Projektes – der beständigen Aufrechterhaltung eines ‚Freihandels mit Emissionen‘ (vgl. Seite 130 in Kap. IV.2.2). Neben den zahlreichen kritischen Forderungen werden im Hegemonieprojekt des »Umweltmanagements« auch Forderungen artikuliert, die affirmativ gegenüber dem hegemonialen Projekt positioniert sind – Forderungen also, die auch in den Äquivalenzketten des hegemonialen Projekts der »Neoliberalisierung des Klimas« artikuliert werden (vgl. Kap. IV.2.2). So ist die Forderung nach der UNFCCC als dem Rahmen zur Bearbeitung des Klimawandels Teil des hegemonialen Projekts und ebenso des Hegemonieprojekts des »Umweltmanagements«. In beiden Projekten werden die Vereinten Nationen als der Kontext verstanden, in dem ein globales Umweltmanagement vollzogen werden muss. Im Hegemonieprojekt des »Umweltmanagements« wird dies durch weitere Forderungen bekräftigt. So wird, um dem Umweltmanagement im Kontext der UN zum Erfolg zu verhelfen, Lobbyarbeit der »NGOs« und zivilgesellschaftlicher Druck durch friedliche Proteste gefordert. Die Forderung nach Marktmechanismen, wie sie in einzelnen der InterviewNarrative des »Umweltmanagement«-Projekts artikuliert wird, ist – wie dargestellt wurde – insofern kritisch gegenüber dem hegemonialen Projekt positioniert, als hier eine verstärkte Reglementierung der Marktmechanismen gefordert wird. Dennoch werden mit dieser Forderung Marktmechanismen grundsätzlich befürwortet. In diesem Sinne ist die Forderung affirmativ positioniert. Es wird damit eine Staffelung von Kritik bzw. Affirmation deutlich (vgl. hierzu auch die Darstellungen in Kap. VI.3): Die grundsätzliche Ablehnung von Marktmechanismen, die Forderung nach streng reglementierten und hinsichtlich der Reduktion von Treibhausgasen wirkungsvollen Mechanismen sowie die Forderung nach Marktmechanismen in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung. Im Hegemonieprojekt des »Umweltmanagements« sind darüber hinaus weitere Forderungen affirmativ gegenüber der hegemonialen Deutung positioniert. So umfasst die Fantasie des »Umweltmanagement«-Projekts ebenso wie die des hegemonialen Projekts die Forderung nach der Überwindung der Krise des globalen Kohlenstoffhaushalts. In beiden Projekten geht es primär um die Verbesserung eines negativen Zustands des Ökologischen – konkret um die Senkung überhöhter Emissionen. Die Forderung des »Umweltmanagement«-Projekts nach einer ökologischen Modernisierung ist affirmativ gegenüber dem hegemonialen Projekt positioniert, wenn sie auf die Verbesserung der Effizienz von Energieerzeugung, Infrastruktur

298 Vgl. Interview »CAN«: 113-123.

VI.2.2 D AS H EGEMONIEPROJEKT

DES

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und Produkten anhand grüner Technologien abzielt. Eine derartige Modernisierung wird ebenso im hegemonialen Projekt gefordert. VI.2.2.3 Seine (Re-)Artikulation im Untersuchungsfeld – die Narrative der Interviews Im vorherigen Kapitelabschnitt wurde der Blick auf die Fantasie des Hegemonieprojekts gerichtet und so das in den Narrativen gemeinsam Artikulierte fokussiert. Im Folgenden werden die einzelnen Narrative dargestellt, mit denen das Hegemonieprojekt des »Umweltmanagements« reproduziert werden, d.h. die Narrative der Interviews mit Angehörigen von 350.org, Greenpeace International, dem Global Footprint Network, dem CAN International, Wetlands International und WWF International. Mit den Interview-Narrativen werden die verschiedenen Kontexte deutlich, in denen die gemeinsamen Artikulationen vorgebracht werden. Zum Verfahren der Generierung der Narrative bzw. zu deren Gliederung siehe Kapitel V.2.4 und dort insbesondere Seite 219 und 220.

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| VI. E RGEBNISSE DER INTERVIEWSTUDIE

Box 4

Das Narrativ des »350.org«-Interviews

Die Utopie

Eine CO2-Konzentration von 350 ppm

Eine Konzentration von 350 ppm CO2 in der Atmosphäre zu erreichen kommt einem vollständigen Systemwechsel gleich. 350 ppm entspricht einem sicheren und stabilen Klima (d.h. der Vermeidung schlechter Dinge, wie des Schmelzens der Arktis oder der Toten in direkter oder indirekter Folge des Klimawandels).

Um das Ziel einer Konzentration von 350 ppm CO2 in der Atmosphäre zu erreichen, ist es erforderlich, rasch eine umfangreiche Menge an CO2-Emissionen zu reduzieren. Nur staatliche Maßnahmen können dieses Ziel schnell genug erreichen, indem sie Grenzen und Maßstäbe schaffen, nach denen sich die gesamte Gesellschaft verändern kann (auch Änderungen des individuellen Verhaltens sind wichtig – jedoch nur ergänzend –, um die notwendige Reduktion zu erreichen). Die Regierungen müssen alle Subventionen von fossilen Brennstoffen zurücknehmen oder in Technologien investieren, die Kohlenstoff reduzieren. Die Maßnahmen der Regierung müssen geschickt sein, d.h. sie müssen die Menschenrechte wie auch die Artenvielfalt schützen. Eine Absenkung der CO2Konzentration auf 350 ppm muss fair, kühn und ambitioniert sein und sie muss klimagerecht vonstatten gehen. Die Idee der Klimagerechtigkeit kombiniert einen pro-aktiv mit einem reaktiven Teil. Proaktiv bedeutet, dass sie die Anliegen unterdrückter Völker auf der ganzen Welt einbezieht, die besonders von Auswirkungen des Klimawandels betroffen sein werden. Reaktiv bedeutet Reparationen für Schäden zu leisten, die bereits verursacht wurden. Geleistet werden müssen Reparationen (mit Finanzierung oder Technologietransfer) von den Ländern, die die überwiegende Menge der Emissionen verursacht haben (bspw. den USA). Der Klimawandel als ein globales Problem erfordert zu seiner Lösung die Zusammenarbeit aller Länder. Die UN-Klimaverhandlungen sind das beste Forum für eine derartige Zusammenarbeit, da es eine der repräsentativsten globalen Institutionen ist, da hier jeder Staat einen Platz am Verhandlungstisch hat. Die Verhandlungen müssen jedoch derart verbessert werden, dass jeder Staat über genug Delegierte verfügt, um all die Rollen zu übernehmen, die es bei den Verhandlungen auszufüllen gilt. Im Allgemeinen ist Offsetting (wie beispielsweise im Emissionshandel oder bei CDM-Projekten) eine gute Idee. Um in den Verhandlungen Erfolg zu erzielen bedarf es zivilgesellschaftlichen Drucks auf die Entscheidungsträger_innen. Friedlicher Protest ist ein Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Nur ein solcher Protest ermöglicht es, den größtmöglichen Teil der Gesellschaft von den eigenen radikalen Forderungen zu überzeugen. In den Verhandlungen wie auch der Öffentlichkeit, die am Klimawandel interessiert ist, sollte der Grenzwert von 350 ppm berücksichtigt werden. Schwierige globale Prozesse wie die Klimaverhandlungen können durch eine Organisierung der Zivilgesellschaft dahingehend beeinflusst werden. Die zivilgesellschaftliche Organisierung von 350.org hat Zugang und Möglichkeiten, um die Debatte in den globalen (Klima-)Verhandlungen zu ändern. 350.org betätigt sich an der Bewegungsbildung (movement building) und dem Wachstum der Klimabewegung, da der Rückhalt in der Gesellschaft wichtig für einen Wandel ist. In diesem Zusammenhang bereitete 350.org den internationalen Tag des Klimaschutzes am 24. Oktober vor und versucht diese Arbeit in Kopenhagen fortzusetzen. Jeder, der bereit ist, die Ideen von 350.org zu unterstützen und die Idee des internationalen Tag des Klimaschutzes voranzutreiben, ist ein Partner von 350.org.

Das Glückseligmachende

Bekräftigende Faktoren

VI.2.2 D AS H EGEMONIEPROJEKT

DES

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Das Problem Eine CO2-Konzentration über 350 ppm Die aktuelle atmosphärische CO2-Konzentration, die die wissenschaftlich-fundierte kritische Grenze von 350 ppm (parts per million) übersteigt, ist die Ursache schlechter Dinge. Sie ist die Ursache des Schmelzens der Arktis, der 300.000 jährlichen Todesfälle, die direkt oder indirekt durch den Klimawandel verursacht werden oder der Klimaauswirkungen, die insbesondere arme Menschen betreffen. Bekräftigende Faktoren Die zu hohe Konzentration wird durch falsch definierte Grenzwerte in der Klimapolitik aufrechterhalten. Eine Stabilisierung des Temperaturanstiegs auf zwei Grad würde das Auftreten schlechter Dinge erhöhen. Ein Grenzwert von 450 ppm CO2 in der Atmosphäre gibt eine 50-prozentige Chance, den Temperaturanstieg auf zwei Grad zu begrenzen.

Das Grauen

Das Problem wird nicht gelöst, wenn Verhaltensänderung als primäre Lösung verstanden wird – d.h. wenn es primär gilt, Glühlampen auszutauschen, ökologisch einzukaufen, den Thermostat der Heizung runterzudrehen oder das Netzteil des Computers auszustecken. Die UN als Problemlösungsforum hat unglaubliche Mängel. Einerseits ist die Entscheidungsfindung in der gegenwärtigen Debatte um den Wortlaut eines klimapolitischen Abkommens nicht fair. Nicht jeder Staat hat genug Delegierte, um die Rollen, die bei den Verhandlungen ausgefüllt werden müssen, abzudecken. Die Regierungen sind diejenigen, die alle Entscheidungen treffen. Die Stimmen der indigenen Völker und der Jugendlichen sind unterrepräsentiert. Andererseits hat der Gedanke des Offsetting (wie des Emissionshandelsmechanismus und des CDM) viele Mängel. Seine Umsetzung durch die Regierungen ist bislang unglaublich schlecht. Beispielsweise geht sie Hand in Hand mit der Schaffung massiver Baum-Plantagen in Brasilien nachdem dort Regenwald abgeholzt wurde und dadurch Artenvielfalt verloren und indigene Bevölkerung vertrieben wurde. Protest, der in Gewalt umschlagen kann, wird radikale Forderungen der Klimabewegung nicht verwirklichen, da ihm der notwendige Rückhalt in der Gesellschaft verloren geht. Aktions-orientierte, lebendigere und konfrontative Taktiken werden in den Klimaverhandlungen gefürchtet. Deshalb kann die Zuweisung eines Constituency-Status durch das Sekretariat der UNFCCC als eine Strategie begriffen werden Gruppen, die derartige Taktiken verfolgen, zum Verstummen zu bringen.

264

| VI. E RGEBNISSE DER INTERVIEWSTUDIE

Box 5

Das Narrativ des »CAN International«-Interviews

Die Utopie

Eine ökologische Modernisierung

Eine ökologische Modernisierung bedeutet grüne Technologie und eine gesündere Lebensweise in der Gesellschaft zu verinnerlichen. Dies ist attraktiv für Investoren und schafft Arbeitsplätze und saubere Luft. Die Effizienz wird so gesteigert. Eine ökologische Modernisierung ist die billigste Lösung des Problems des Klimawandels. Es ermöglicht den Entwicklungsländern, wohlhabend zu werden, während sie sich zugleich von schmutzigen Technologien entfernen.

Regierungspolitiken sind wichtiger als das persönliche Handeln. Die Politiken der Regierung müssen grünere Technologien und gesündere Lebensstile verinnerlichen. Sie müssen sich hin zu Strom aus erneuerbaren Energiequellen (z. B. Wind-und Solarenergie) orientieren. Für eine solche ökologische Modernisierung, die Treibhausgasemissionen reduziert, haben die USA oder Europa einen großen Einfluss, da sie die Emissionen zu einem hohen Grad verursachen (im Vergleich zu den afrikanischen Ländern, die Emissionen zu einem geringen Grad verursachen). Die entwickelten Länder haben die Verantwortung, den Entwicklungsländern bei der ihnen zustehenden Entwicklung zu helfen, von schmutzigen Technologien wegzurücken. Erforderlich sind Anstrengungen, um einen Fortschritt bei den UNKlimaverhandlungen zu ermöglichen. Die UNFCCC stellt den besten Ort für Verhandlungen dar. Sie ist der transparenteste und offenste Prozess, der ermöglicht, dass die unterschiedlichsten Stimmen gehört werden. Diesem Prozess wurde von über 180 Ländern zugestimmt. Die in den Verhandlungen getroffenen Vereinbarungen würden gestärkt, wenn die Stimmen der indigenen Völker und die Stimmen derer, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind, in die Verhandlungen gebracht werden oder andere Möglichkeiten gefunden werden, um deren Stimmen im Dialog zu stärken. Aktivist_innen oder Expert_innen aus Entwicklungsländern könnten diese Stimmen repräsentieren, wenn sie in der Lage wäre in direkte Kommunikation mit den Regierungsdelegationen zu treten. CAN unterhält ein southern capacity building-Programm, das Entwicklungsländern und Partnern von CAN hilft, eine bessere Position zu erlangen, um ihre Interessen innerhalb der internationalen Verhandlungen zu vertreten. Um die ökologische Modernisierung voranzutreiben, muss die Zivilgesellschaft auf eine Änderung der Regierungspolitik zielen. Sie sollte grundsätzlich Prinzipien der Gleichheit, Gerechtigkeit und Fairness berücksichtigen. Spezielle Kampagnen und Lobby Bemühungen um verschiedene Ereignisse (z.B. die UN-Klimaverhandlungen, die G20 oder andere regionale Ereignisse) unterstützen dieses Ziel. Auf der einen Seite sollte die Zivilgesellschaft aktiv werden, wenn Regierungen ihre Positionen im Vorfeld der Verhandlungen in den Hauptstädten entwickeln. Auf der anderen Seite sollte die Zivilgesellschaft während der Verhandlungen aktiv werden. Die Förderung des Bewusstseins der Öffentlichkeit über die Dringlichkeit des Klimawandels oder den Mangel an akzeptabler Reaktion kann helfen, die Regierungen unter Druck zu setzen stärkere Maßnahmen zu ergreifen. Da die Zivilgesellschaft über begrenzte Ressourcen verfügt, ist es erforderlich, die Möglichkeiten zu identifizieren, in denen eine Zusammenarbeit am wirkungsvollsten sein kann, um die Investitionen der Ölindustrie anzugehen (in dieser Hinsicht hat CAN eine Strategie zur Isolierung der Politik der US-Regierung während der Klimaverhandlungen in Bali 2007 identifiziert, womit CAN wesentlich zur „Bali Road Map“ beitrug).

Das Glückseligmachende

Bekräftigende Faktoren

VI.2.2 D AS H EGEMONIEPROJEKT

DES

»U MWELTMANAGEMENTS «

| 265

Das Problem Überhöhte Treibhausgasemissionen Überhöhte Treibhausgasemissionen verursachen den Klimawandel. Dieser betrifft diejenigen am meisten, die am wenigsten für seine Verursachung verantwortlich sind. Länder, die die größte Verantwortung für den Klimawandel haben (wie die USA oder Europa), spüren seine Effekte nicht direkt. Dies erlaubt diesen Ländern, das Thema Klimawandel aus dem Blickfeld zu rücken.

Bekräftigende Faktoren Die Geschäftsmodelle der fossilen Industrie – zu einem hohen Grad in den USA oder Europa, in geringem Maße in Afrika – verursachen überhöhte Treibhausgasemissionen. Insbesondere sind es sehr schmutzige Technologien, mit denen die entwickelte Welt wohlhabend wurde. Die fossile Industrie strebt danach, diese Technologien zu erhalten. Daher wenden sie eine immense Menge an Ressourcen auf, um eine Änderung ihrer Geschäftsmodelle zu vermeiden.

Das Grauen

Regierungspolitiken erlauben der fossilen Industrie, ihre Geschäftsmodelle fortsetzen. In vielen Ländern stehen Subventionen für fossile Brennstoffe und andere Maßnahmen einer Verlagerung auf erneuerbare Energieressourcen (z. B. Wind-und Sonnenenergie) entgegen. In diesem Sinne treiben problematische Muster der Regierungspolitik den Anstieg von Emissionen voran. Die Ansätze der Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (der „grünen Kohle“) und der Kernkraft sind (zwei der größten) falsche Lösungsansätze. Sie unterbrechen nicht die Extraktion fossiler Brennstoffe sowie die Emission von Treibhausgasen. Zugleich sind sie sehr kostenintensiv und der Umgang mit ihren Abfällen ist bedenklich. Sie werden das Problem nicht lösen, sondern aufrechterhalten. Es besteht die Gefahr, dass der Status quo (der Geschäftsmodelle der Ölindustrie) aufrecht erhalten wird, wenn ausschließlich darauf abgezielt wird, die Regierungspositionen bei den Verhandlungen zu verändern und nicht ebenso in den Zeiträumen zwischen ihnen. Während der Verhandlungen sind den Verhandlungsführern in vielerlei Hinsicht die Hände gebunden. Da die UN-Verhandlungen der am besten geeignete Ort für Verhandlungen ist, tragen Versuche, die Verhandlungen zu stören bzw. diese als „Schande“ zu verrufen, zur Aufrechterhaltung des Status quo bei.

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| VI. E RGEBNISSE DER INTERVIEWSTUDIE

Box 6

Das Narrativ des »Global Footprint Network«-Interviews

Die Utopie

Eine Welt mit einem nachhaltigen ökologischen Fußabdruck

Wenn weltweit Menschen einen nachhaltigen ökologischen Fußabdruck haben, wird die Nachfrage nach natürlichem Kapital oder biologischer Kapazität, die jährliche (Re-)Produktion nicht überschreiten. Damit gibt es keine Ursache für Umweltauswirkungen oder für den Klimawandel. Mit ihm verknüpfte soziale Ungerechtigkeiten werden nicht mehr weiter bestehen. (Um einen gerechten Umgang mit dem Klimawandel, der sicherlich zu einem gewissen Grad eintreten wird, zu erreichen, müssen Anpassungsmaßnahmen durchgeführt werden.) Bekräftigende Faktoren

Um die Überschreitung der Reproduktionsrate der biologischen Kapazität zu beheben, bedarf es Anstrengungen auf der Angebots- und der Nachfrageseite von Energie. Dies beinhaltet eine klare Abkehr von fossilen Brennstoffen. Dies bedeutet die Nutzung alternativer Energiequellen wie erneuerbarer Energien oder der Atomkraft. Ebenso bedeutet es eine Reduktion des Kohlenstoff-Gehalts der menschlichen Emissionen, die mit kontinuierlichen Verbesserungen bei der Luftreinhaltung erreicht werden kann. Auf der Nachfrageseite müssen die Konsumgewohnheiten der Menschen optimiert werden. Dies ist ein längerfristiges Vorhaben bei dem es um die Veränderung des Verhaltens von Hunderten von Millionen oder Milliarden von Menschen geht. Regierungen, viele Unternehmen und Non-Profit-Gruppen können Menschen darin ermutigen, ihren Konsum zu optimieren. Ein erster Schritt, das Denken über Produktion und Konsum natürlichen Kapitals zu verändern, ist es, wenn Regierungen den Ansatz des ökologischen Fußabdrucks aufgreifen und in ihre Politik einbinden. Angemessene Investitionen in alternative Energie und der Wandel von Konsumverhalten und Nachfrage (vor 2020 / 2030) wird die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels verhindern. Bezüglich des Klimawandels ist eine Vereinbarung erforderlich, mit dem die führenden Politiker_innen der Welt („world leaders“) gemeinsam voranschreiten können. Eine straffe durchsetzbare Vereinbarung wäre das Beste. Aber auch eine Vereinbarung, die von allen Nationen getragen wird, wäre eine Option – eine Vereinbarung, die sichtbar wäre und die von allen Menschen beachtet wird. Auch eine freiwillig bleibende Vereinbarung zur Verringerung der Treibhausgasemissionen kann einen guten Dienst leisten. Die Idee, Nationen für die Wiederherstellung natürlichen Kapitals zu belohnen, wie sie beispielsweise der REDD-Vereinbarung zugrunde liegt, ist sinnvoll. Veranstaltungen wie die Klimakonferenz in Kopenhagen sind eine Chance, um Herausforderungen wie der des Klimawandels zu begegnen, denn ihre Teilnehmer_innen stellen einen Querschnitt durch die Menschheit dar. Seien es die führenden Politiker_innen der Welt, die Staatschef_innen, oder die Vertreter_innen von Regierungsbehörden und NGOs: Wer die Möglichkeit hat, die Klimakonferenzen zu begleiten, wird versuchen, so viele unterschiedliche Standpunkte wie möglich anzuhören (darunter die Erfahrung indigener Völker). Die Klimakonferenz bieten einen Raum, über viele gute Ideen zu sprechen (unter anderem die Ideen von NGOs, die ein breites Spektrum an Materialien einbringen). Dies wird letztlich zu den Lösungen führen. Es ist wichtig, dass es eine Chance für die Menschen gibt, Frustration mit den Verhandlungen zu äußern und Entscheidungsträger_innen den Klimawandel als dringende Situation bekannt zu machen. Protestaktionen können beides leisten.

Das Glückseligmachende

Die Überschreitung der Reproduktionsrate der biologischen Kapazität kann behoben werden, wenn die Energieeffizienz verbessert wird. Die Fragen nach der Verbesserung der Energieeffizient wie auch der grauen Energie müssen alle Arten von natürlichem Kapital neben Kohlenstoff berücksichtigen („a carbon-plus thinking is necessary“ – der Ansatz des ökologischen Fußabdruck zielt darauf). Hierzu bedarf es Bewusstseinsbildung.

VI.2.2 D AS H EGEMONIEPROJEKT

Das Problem

DES

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Das Überschreiten der Reproduktionsrate der biologischen Kapazität („the overshoot“)

Es besteht ein Ungleichgewicht zwischen der (Re-)Produktion biologischer Kapazität und deren Verbrauch. Die gegenwärtige Nachfrage nach natürlichem Kapital oder biologischer Kapazität übersteigt die jährliche (Re-)Produktion. Die aktuelle Nachfrage nach biologischer Kapazität ist problematisch, da sie Folgen für die Umwelt verursacht. Zu diesen Folgen zählt der Klimawandel, bei dem das globale Gleichgewicht zwischen Sauerstoff und CO2 auf der Erde in Ungleichgewicht gerät und alle Menschen Auswirkungen dieses Umstands spüren. Das Ungleichgewicht zwischen der (Re-)Produktion und dem Verbrauch biologischer Kapazität ist auch eine Ursache für soziale Ungerechtigkeiten (Climate Injustices). Emissionen und Verschmutzungen führen zu lokalen Folgen und ungleichen Lastenverteilungen. Beispiele hierfür sind die Verlagerung von Niederschlags- und Temperaturmustern oder dramatische Veränderungen der Bodenqualität für die Lebensmittelproduktion oder die Erfüllung anderer Grundbedürfnisse der Menschen. Die armen Gemeinschaften und die sich entwickelnden Länder, die instabil sind, sind diejenigen, die vom Klimawandel als erste betroffen sind.

Das Grauen

Bekräftigende Faktoren Das Ungleichgewicht zwischen (Re-)Produktion und Verbrauch biologischer Kapazität wird durch Aktivitäten erzeugt, die nicht energieeffizient sind und Auswirkungen auf die Umwelt haben. Ein solches Ungleichgewicht wird dann erzeugt, wenn die Themen der Energieeffizienz und der grauen Energie (d.h. die Energie, die für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen benötigt wird) auf den Umgang mit Kohlenstoff verengt und damit anderes natürliche Kapital und andere biologische Kapazität ausgeklammert werden. Das Ungleichgewicht ist Folge einer gesteigerten Nachfrage nach Energie, die mit einem bestimmten Konsummuster (dem westlichen) verbunden ist. Hinsichtlich Kohlenstoff wird das Ungleichgewicht durch die kontinuierliche Nachfrage nach fossilen Brennstoffen aufrechterhalten. Spezifische Handelsbeziehungen zwischen den afrikanischen Ländern und Ländern wie China bedingen einen Austausch biologischer Kapazität von einem Kontinent zum anderen und erhalten ein Ungleichgewicht zwischen (Re-)Produktion und Verbrauch biologischer Kapazität. Derartiger Handel steht in Widerspruch zur Idee von Climate Justice. Die gegenwärtigen Verhandlungen im Rahmen der UN-Klimaverhandlungen erhalten das Problem der Überschreitung der Reproduktionsrate aufrecht. Einerseits sind Akteure unterrepräsentiert, die die Überschreitung problematisieren – dazu zählen unterprivilegierte Länder oder Gemeinschaften, Entwicklungsländer und indigene Völker. Die UN-Verhandlungen sind insofern ungeeignet. Auf der anderen Seite nehmen zu viele Menschen an den großen Sitzungen / Sessions teil, weshalb die Arbeit ineffizient und schwierig wird. Durch die Debatte darum, ob der Klimawandel überhaupt stattfindet oder nicht, wird das Problem der Überschreitung der Reproduktionsrate der biologischen Kapazität beiseite geschoben. Protestaktionen bei den UN-Klimaverhandlungen sind nicht relevant, wenn sie nicht die Überschreitung der Reproduktionsrate in den Blick nehmen.

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| VI. E RGEBNISSE DER INTERVIEWSTUDIE

Box 7

Das Narrativ des »Greenpeace International«-Interviews

Die Utopie

Eine kohlenstoff-neutrale Gesellschaft

Eine CO2-neutrale Gesellschaft ist klimaverträglich. Sie ist technisch möglich und laut Wissenschaft klimapolitisch bis zum Jahr 2050 notwendig. Auf dem Weg zur Rettung der Umwelt ist sie ein Teilziel. Eine CO2-neutrale Gesellschaft löst nicht alle Probleme der Welt (wie bspw. das gegenwärtige Gesellschaftssystem). Eine CO2-neutrale Gesellschaft ist klimagerecht, d.h. jeder Mensch hat das gleiche Recht auf Zugang zu Ressourcen, zu Energieversorgung. Jeder Mensch hat (auf lange Sicht) die gleichen Rechte zur Emission von CO2 (nämlich das Recht auf Emission etwa einer Tonne CO2 pro Person).

Eine kohlenstoff-neutrale Gesellschaft wird durch Veränderung der Art der Energienutzung und der Ressourcenverschwendung erreicht, d.h. die Revolution des Energiesystems von fossilen hin zu erneuerbaren Energieträgern, die möglichst dezentrale Nutzung von Windenergie und Sonnenenergie und den Stopp der Ressourcenverschwendung. Die Treibhausgas-Emissionen müssen bis zur Mitte des Jahrhunderts auf Null reduziert werden. Notwendig ist politischer Druck für den Einsatz von Umweltschutztechnologien, für Gesetzesmaßnahmen und die Schaffung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Die Verabschiedung eines fairen, ambitionierten und rechtlich verbindlichen Klimaabkommens (eines „Kopenhagen-Protokolls“) ist notwendig. Die UN stellen den legitimen Ort von Verhandlungen über ein solches Abkommen dar. Hier sind alle 192 Staaten der Welt vertreten und haben Rederecht. Hier können die Ärmsten der Armen ihre Stimme erheben. Das Grundprinzip der UN ist, dass alle miteinander reden. Eine Stärke der UN-Klimaverhandlungen ist ihr Beschränkung auf die Frage der Reduktion von Treibhausgasen, d.h. dass sie nicht die Lösung aller Probleme der Welt anstreben. Die Verhandlungen müssen auf Klimagerechtigkeit zielen, was mit einer Fokussierung auf technische Konzepte leicht vernachlässigt wird bzw. in den Verhandlungen unterzugehen droht (Klimagerechtigkeit bedeutet dabei, dass jeder Mensch das gleiche Recht zum Zugang zu Ressourcen und die gleichen Pflichten zur Begrenzung von Emissionen hat). Einerseits bedarf es dazu, dass die Stimmen der armen Menschen und der Menschen die vom Klimawandel am meisten betroffen sind, bei den Verhandlungen gehört werden. Andererseits müssen die Industriestaaten drastische Treibhausgasreduktionen anbieten. Hierzu ist ein politischer Wille erforderlich. Der Einbezug von Staatschefs in die Verhandlungen kann politischen Willen schaffen und ist deshalb erforderlich. Erfolgreiche Klimaverhandlungen benötigen neben dem Raum der Verhandlungen ebenso auf gewaltfreie Aktionen fokussierten Protest außerhalb bei den Hauptemittenten wie bspw. bei Kohlekraftwerken.

Das Glückseligmachende

Bekräftigende Faktoren

VI.2.2 D AS H EGEMONIEPROJEKT

DES

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Das Problem Die überhöhte CO2-Konzentration in der Atmosphäre Die überhöhte CO2-Konzentration resultiert im Treibhauseffekt und schlussendlich im Klimawandel. Sie erzeugt ein Gerechtigkeitsproblem insofern, als sie zu enormen Klimaauswirkungen sowie zu sozialen Verwerfungen von Gesellschaftssystemen führt, bis hin zu Klimakriegen und Millionen von Klimaflüchtlingen.

Bekräftigende Faktoren

Das Grauen

Es ist die Art der Energienutzung und die Ressourcenverschwendung zusammen mit dem in vielen Industrieländern geforderten Wirtschaftswachstum, die das Problem der klimaschädlichen CO2-Konzentration in der Atmosphäre reproduzieren. In den Verhandlungen unter dem Dach der UN spielen bestimmte Staaten (die großen Emittenten wie bspw. die USA) eine dominierende Rolle, weshalb dort eine faire Verhandlung bzw. Lösung des Problems erschwert wird. Hinzu kommt die zugenommene Präsenz der Industrielobby im UN-Prozess, deren Interesse nicht unbedingt die Problemlösung ist. Die Stimmen der armen Menschen und der Menschen, die am meisten betroffen sind vom Klimawandel, finden hingegen auf den internationalen Verhandlungen wenig Gehör. Die Verhandlungen drohen zu einem Greenwashing zu werden. Es fehlt der politische Wille, die Treibhausgas-Emissionen bis zur Mitte des Jahrhunderts drastisch / auf Null zu reduzieren. Es ist insbesondere die Weigerung der Industriestaaten in Kopenhagen, drastische Treibhausgasreduktionen anzubieten, die den Verhandlungsprozess stocken lässt. Bei der CCS Technologie, Nukleartechnologie und Geotechnologien, die versuchen, Wetter über Geo-Engineering zu beeinflussen, handelt es sich um falsche Lösungsansätze. Die Ansätze packen das Problem nicht an der Wurzel bzw. wiegen ein Risiko mit einem anderen Risiko auf. Eine Klimabewegung trägt nicht hinreichend zur Lösung des Problems bei, wenn sie ausschließlich auf die Teilnahme an Konferenzen (Lobbying) setzt und Proteste gegen Hauptemittenten wie bspw. Kohlekraftwerke außer acht lässt. Ebenso ist es unzureichend, wenn sie auf technische Konzepte fokussiert und so das Gerechtigkeitsthema vernachlässigt. Mit der Forderung nach einem anderen Gesellschaftssystem (nach einem „ganz anderen Klima“) gerät das Problem aus dem Blick, dessen Lösung im Rahmen der UN-Verhandlungen leistbar ist (das Problem der überhöhten CO2Konzentration).

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| VI. E RGEBNISSE DER INTERVIEWSTUDIE

Box 8

Das Narrativ des »Wetlands International«-Interviews

Die Utopie

Geschützte Ökosysteme weltweit

Wenn Ökosysteme weltweit geschützt sind, werden die Wechselwirkung zwischen Ökosystemen und Menschen berücksichtigt. Die Menschen leben in Einklang mit der Natur. Ökosysteme werden in einer nachhaltigen Art und Weise genutzt und geben so Menschen Schutz, d.h. sie sind nicht degradiert und die Artenvielfalt bleibt erhalten.

Bekräftigende Faktoren

Die internationalen Klimaverhandlungen können den Schutz von Ökosystemen vorantreiben. Deshalb sollten Leute mit wirtschaftlichem Interesse (wie Vertreter_innen kohle-betriebener Fabriken oder anderer privater Sektoren) nicht bei den Verhandlungen sein. Die NGO-Vertreter_innen sollten mehr Einfluss erhalten. Klimapolitik könnte den Schutz von Ökosystemen befördern, indem Böden (wie Feuchtgebiete) als relevante Kohlenstoffsenken in den REDD-Mechanismus integriert werden (in dem bislang ausschließlich Wälder berücksichtigt werden). Die Klimapolitik kann den Ansatz der Kohlenstoffabscheidung aus der Atmosphäre aufgreifen, wenn diese in der Zukunft ausreichend leistungsfähig ist. Die Zivilgesellschaft kann den Schutz von Ökosystemen unterstützen. Erstens können NGOs, wenn sie den Prozess der Klimaverhandlungen für eine lange Zeit beeinflussen, bei der Aufnahme bestimmter Punkte in die offiziellen Texte erfolgreich sein. Wenn es keine Gelegenheit dafür gibt, neue Themen auf die Tagesordnung zu setzen, können NGOs sicherstellen, dass keine Änderungen an den Punkten vorgenommen werden, die zuvor in die Texten eingebracht wurden. Zweitens kann Protest Druck auf Delegationen und den privaten Sektor ausüben, den zivilgesellschaftlichen Organisationen, die dem Verhandlungsprozess beiwohnen, zuzuhören. Drittens müssen die zivilgesellschaftlichen Organisationen ihre Positionen miteinander abstimmen, um der Breite des Problems gerecht zu werden.

Das Glückseligmachende

Um Ökosysteme weltweit zu schützen muss das Zusammenspiel von Menschen und Ökosysteme berücksichtigt werden. Insbesondere muss die Art und Weise der Produktion und des Konsums geändert werden. Damit können Treibhausgasemissionen (und mit ihnen Kohlendioxid-Emissionen) reduziert und die globale Erwärmung verhindert werden.

VI.2.2 D AS H EGEMONIEPROJEKT

DES

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Das Problem Degradierte Ökosysteme weltweit Die Degradierung von Ökosystemen weltweit (insbesondere von Feuchtgebieten) zeigt, dass Menschen und Natur nicht in Einklang miteinander leben. Mit der Degradierung einher geht das Risiko einer Störung des Nährstoff-Regimes, der Verlust von Biodiversität sowie die Gefahr der Einführung exotischer Arten. Die Degradierung von Ökosystemen hat nachteilige Auswirkungen auf Menschen zur Folge.

Bekräftigende Faktoren

Das Grauen

Die Degradierung von Ökosystemen wird durch eine nicht-nachhaltige Nutzung von Ökosystemen durch Forst- und Landwirtschaft und andere Landnutzer vorangetrieben. Diese Nutzung führt zu zu hohen Treibhausgasemissionen und damit zur globalen Erwärmung. Die globale Erwärmung hat eine Degradierung der Ökosysteme zur Folge. Die nicht-nachhaltige Nutzung von Ökosystemen wird durch spezifische Art der Produktion und spezifische Konsummuster aufrechterhalten. Die gegenwärtigen internationalen Klimaverhandlungen reproduzieren die Degradierung der weltweiten Ökosysteme. Menschen mit wirtschaftlichen Interessen (wie Vertreter_innen kohle-betriebener Fabriken oder anderer privater Sektoren) zielen ausschließlich auf ihr eigenes Wohl und versuchen deshalb, den Verhandlungsprozess zu blockieren. NGO-Vertreter_innen haben nicht ausreichend Einfluss. Einige Ansätze zur Lösung des Problems des Klimawandels verursachen eine Degradierung von Ökosystemen. In vielen Fällen verursacht Politik zum Thema Palmöl erhebliche Emissionen von Treibhausgasen (z. B. wenn diese Politiken die Emissionen aus Böden nicht berücksichtigen). Insbesondere Agrarkraftstoffe der zweiten Generation riskieren die Störung des Nährstoffregimes oder die Einführung exotischer Arten. Auch die Kernenergie riskiert die Degradierung von Ökosystemen und ist somit nur eine vorübergehende Lösung des Problems des Klimawandels. Einige Anpassungsmaßnahmen wie Infrastruktur- oder die Entwicklungsmaßnahmen in Feuchtgebieten haben negative Auswirkungen auf Ökosysteme und damit auf den Menschen. Die Zivilgesellschaft erhält die Degradierung der Ökosysteme in verschiedener Weise aufrecht. Erstens, wenn Klimaskeptiker_innen Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen. Zweitens, gelingt es zivilgesellschaftlichen Organisationen nicht die Breite des Problems in den Griff zu bekommen, wenn sie nicht versuchen, ihre Positionen miteinander abzustimmen. Wenn Menschen, die nicht wissen, was in den Verhandlungen passiert, Fenster einschlagen (wie der schwarze Block) ist das für den Verhandlungsprozess nicht nützlich.

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| VI. E RGEBNISSE DER INTERVIEWSTUDIE

Box 9

Das Narrativ des »WWF International«-Interviews

Die Utopie

Ein Ein-Planeten-Lebensstil

Ein Ein-Planeten-Lebensstil ist nachhaltig. Er ist ein Lebensstil den jeder auf der Welt leben könnte ohne Ressourcen zu übernutzen. Ein Ein-Planeten-Lebensstil unterbricht die Reproduktion des Klimawandels.

Um eine Ein-Planeten-Welt zu erreichen, müssen die Ressourcen besser gemanagt werden. Dies bedeutet nicht, die Nutzung von Energie oder die Industrialisierung zu stoppen. Stattdessen müssen Energienutzung und Industrie einerseits durch die Schaffung von umweltgerechten Alternativen zum Status quo und andererseits durch eine Effizienzsteigerung verbessert werden. Kollektives Handeln auf verschiedenen Ebenen ist notwendig, um einen Ein-Planeten-Lebensstil zu erreichen. Sowohl Einzelpersonen als auch Unternehmen und Regierungen müssen Verantwortung zu gleichen Teilen übernehmen. Einzelne müssen die Art ändern, in der sie einkaufen, leben, zur Arbeit pendeln oder wie sie ihre Häuser isolieren. Unternehmen und Regierungen müssen die Infrastruktur und Energieversorgung effizienter gestalten und Gesetze auf den Weg bringen, die die Lebensweise grundsätzlich regeln. Industrieländer sind diejenigen, die die größte historische Verantwortung zum Handeln haben, denn sie haben sich als erste entwickelt. Sie müssen deshalb gegenüber denjenigen, die am meisten leiden und zugleich die geringste Verantwortung für die Verursachung des Klimawandels tragen, Reparationen und Entschädigungen leisten. Im Prozess der internationalen Klimapolitik aktiv zu werden, bedeutet zu versuchen, einen konstruktiven Dialog mit anderen Parteien wie Regierungen oder Unternehmen zu haben. Die Klimaverhandlungen sind ein demokratischer Prozess. In einem demokratischen Prozess entscheidet das Gewicht eines Arguments und Glaubwürdigkeit, ob eine Perspektive gehört werden soll oder nicht. Jeder / jede hat das Recht, seinem / ihrem Fall Gehör zu verschaffen. Die Verhandlungen müssen jedoch repräsentativer gemacht werden, indem sie sowohl Menschen, die an der Front des Klimawandels stehen und ihn in ihrem alltäglichen Leben erfahren, als auch Frauen und Gruppen, die genderspezifische Fragen des Klimawandel thematisieren, und die Jugend zu den Verhandlungen bringen. Der Wechsel zu einem Ein-Planeten-Lebensstil wird durch ein faires, ambitioniertes und verbindliches Abkommen bei den internationalen Klimaverhandlungen unterstützt. Fair bedeutet, dass die gemeinsame und differenzierte Verantwortung für das Problem sowie die unterschiedliche Fähigkeit, damit umzugehen, erkannt wird. Ambitioniert bedeutet, dass das Problem auf den Ergebnissen der jüngsten Forschung beruht. Rechtsverbindlich bedeutet, dass Länder sich dazu verpflichten, Einhaltungsregelung zu liefern und zu implementieren. Wenn ein Abkommen verzögert wird, ist es notwendig, nach Alternativen zu suchen. Die Zivilgesellschaft kann weiter den Wandel zu einem Ein-Planeten-Lebensstil unterstützen. Zivilgesellschaftliche Gruppen können bei den Verhandlungen Lobbyarbeit betreiben, da die UNFCCC einen Raum für Beobachter-Organisationen und NGOs schafft sich zu beteiligen, zu beobachten und zum Prozess beizutragen. Auch die Delegationen und andere an den Verhandlungen teilnehmende Gruppen ermöglichen einen guten Zugang für Lobbyarbeit von NGOs. Darüber hinaus können Gruppen der Zivilgesellschaft die Klimaverhandlungen für die Öffentlichkeit zugänglich machen. Sie können das Interesse der Medien wecken und Referent_innen zu bestimmten Politiken eine Plattform bieten. Die Zivilgesellschaft kann schließlich unterschiedliche Art von Protesttaktiken nutzen, soweit diese friedlich und konstruktiv bleiben.

Das Glückseligmachende

Bekräftigende Faktoren

VI.2.2 D AS H EGEMONIEPROJEKT

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Das Problem Ein Drei-Planeten-Lebensstil Ein Drei-Planeten-Lebensstil managt Ressourcen in nicht nachhaltiger Weise. Wenn jeder auf der Welt diesen Lebensstil leben würde, würden drei Planeten benötigt werden. Ein Drei-Planeten-Lebensstil verbraucht zu viele Ressourcen (vor allem fossile Brennstoffe). Er ist die Grundursache des Klimawandels, wenn er dazu führt, dass eine größere Menge von Treibhausgasen in die Atmosphäre emittiert werden als die Natursysteme der Erde wieder aus der Atmosphäre entnehmen können. Bekräftigende Faktoren Der Drei-Planeten-Lebensstil wird insbesondere von einem Teil der Weltbevölkerung (die industrialisierte Welt) vorangetrieben. Er wird reproduziert durch eine nichtnachhaltige Art des Einkaufens, des Wohnens, des Pendelns zur Arbeit oder der Isolierung von Häusern. Es ist vor allem die auf fossilen Brennstoffen basierende Energienutzung und Industrie, die Treibhausgase in die Atmosphäre emittiert. Jede Wunderwaffe, die nicht die Grundursache des Problems ändert (d.h. unseren Lebensstil), ist eine Maskierung des Problems.

Das Grauen

Bei den derzeitigen internationalen Klimaverhandlungen betreiben bestimmte Bereiche der Wirtschaft Lobbyismus für die Beibehaltung des Status quo (d.h. für ihren kurzfristigen Nutzen, statt dass sie eine langfristige Perspektive einnehmen). Die Menschen, die an der Front des Klimawandels stehen und ihn in ihrem alltäglichen Leben erfahren, sowie Frauen und Gruppen, die genderspezifische Fragen des Klimawandels in den Blick nehmen, oder die Jugend sind bei den Klimaverhandlungen unterrepräsentiert. Das Problem wird aufrechterhalten, wenn die Einigung auf ein Abkommen bei den Verhandlungen verzögert wird. Auch ein Abkommen, das nicht rechtsverbindlich ist, erhält das Problem aufrecht. Auch Einigkeit über das Problem und dessen Ausmaß und die Festlegung eines ambitionierten Vorhabenskatalogs dazu, was es zu tun gilt, können nur Versprechungen sein, die unter Umständen niemals erfüllt werden.

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VI.2.3 Das Hegemonieprojekt des »Paradigmenwechsels« VI.2.3.1 Die Diskurskoalition Die Kontur eines dritten Hegemonieprojekts wird sichtbar, wenn die Narrative einer weiteren Gruppe von Interviews in den Blick genommen werden – die Narrative der Interviews mit Angehörigen von CIDSE, GROOTS, Oxfam International und dem World Council of Churches. Diese Interviews bringen ein weiteres Deutungsmuster vor, dass auf dem politischen Terrain mit den anderen Hegemonieprojekten um Wirkmächtigkeit konkurriert: das Hegemonieprojekt des »Paradigmenwechsels«. Zunächst soll die Diskurskoalition dargestellt werden, bevor daran anschließend auf die Fantasie des Projekts und seine (Re-)Artikulation in den Interview-Narrativen eingegangen wird. Bei den Kopenhagener Klimaverhandlungen gehören die transnationalen Netzwerke CIDSE, GROOTS, Oxfam International und der World Council of Churches (WCC) zur Gruppe der sog. Observerorganisationen (UNFCCC 2010b, 2010a). Ihr Engagement im Rahmen der UNFCCC ist Ausdruck der ab Mitte der 2000er Jahre erneuten Zuwendung entwicklungspolitisch orientierter Organisationen zu den UNKlimaverhandlungen. Oxfam International – bei den Verhandlungen „jahrelang abstinent“ (UNMÜßIG 2011: 48) – verstärkt entsprechend seine Arbeit zu den UNVerhandlungen deutlich ab 2006 / 2007 (Interview »Oxfam«: 40-46). Auch CIDSE arbeitet erst seit dieser Zeit zum Thema (Interview »CIDSE«: 63-67, 169-170) und GROOTS ist erst kurz vor den Kopenhagener Verhandlungen dazugestossen (Interview »GROOTS«: 104-107). Der WCC beschäftigt sich hingegen bereits seit 1989 in einer Arbeitsgruppe mit dem Thema Klimawandel und internationaler Politik (Interview »WCC«: 18-22). Die Verhandlungen im Rahmen der UNFCCC begleitete er seit Beginn an durchgehend (WCC 2013a). In ihrem klimapolitischen Engagement konzentrieren sich alle vier Organisationen auf den offiziellen Verhandlungsprozess. Damit unterscheidet sich die Diskurskoalition des »Paradigmenwechsel«-Projekts ebenso wie die des »Umweltmanagement«-Projekts von der Diskurskoalition des Hegemonieprojekts der »umfassenden Transformation«, welche Akteuren vereint, die primär außerhalb des offiziellen Prozesses agieren (vgl. zur Heterogenität der Akteursfeldes auch Seite 157ff. in Kap. IV.3.3.1 bzw. DRYZEK & STEVENSON 2010: 20ff.; LONG ET AL. 2010: 226). Werden die großen Netzwerke in den Blick genommen, die Observerorganisationen aus dem umwelt- und entwicklungspolitischen Spektrum bei den UN-Verhandlungen vernetzen, so zeigt sich, dass mit Ausnahme von GROOTS alle Organisationen Teil des Climate Action Network International sowie der Kampagne »tcktcktck – The Global Campaign for Climate Action« sind (CAN 2013a; TCKTCKTCK 2011). Der WCC sowie Oxfam gehören zu den Gründungsmitgliedern der

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tcktcktck-Kampagne299 (Interview »WCC«: 330-332). Keine der Organisationen ist hingegen Mitglied des »Climate Justice Now!«-Netzwerks300 (CJN! 2010b). Auf die einzelnen Akteure, die die Diskurskoalition des Hegemonieprojekts des »Paradigmenwechsel« im Untersuchungsfeld konstituieren, soll im Folgenden knapp eingegangen werden. Das Netzwerk CIDSE wurde im Jahr 1967 gegründet (CIDSE 2013b). Die Bezeichnung steht für Coopération Internationale pour le Développement et la Solidarité (deutsch: Internationale Kooperation für Entwicklung und Solidarität). Die Arbeitsschwerpunkte von CIDSE liegen in den Bereichen „development finance; food; climate justice; and business & human rights“ sowie dem Themenkomplex „rethinking development“ (CIDSE 2013d). Das Netzwerk hat 17 Mitglieder in Europa und Nordamerika, die weltweit in nahezu 120 Ländern tätig sind (CIDSE 2013c). Es handelt sich dabei um katholische Entwicklungsorganisationen, die auf nationaler Ebene angesiedelt sind (CIDSE 2013d). Das Netzwerk finanziert sich über Mitgliedsbeiträge und erhält keinerlei weitere Unterstützung durch andere Quellen (CIDSE 2013b). CIDSE organisiert seine klimapolitische Arbeit in drei Bereichen: „Food and Climate“, „Climate Finance“ und „Mitigation“ (CIDSE 2013a). Im Rahmen der UNFCCC setzt sich CIDSE durch Advocacy, Lobby- und Kampagnenarbeit für „more effective and socially just international agreements“ ein (CIDSE 2013a). Das Netzwerk GROOTS – die Bezeichnung steht für ‚Grassroots Organizations Operating Together in Sisterhood‘ – wurde im Jahr 1989 gegründet. Seine Gründung ist eine Reaktion auf die festgestellte Abwesenheit von „grassroots women“ in Agenda-Setting Arenen in denen über Armutsreduktion verhandelt wird (GROOTS 2013a). Die Idee hinter GROOTS ist es, diese Frauen bzw. ihre Perspektiven an die Verhandlungstische zu bringen und in Entscheidungsfindungsprozesse einzubinden (Interview »GROOTS«: 13-15). GROOTS versteht sich als „a global network to support grassroots women’s organizations working across national and regional boundaries, sharing resources, information, and experiences and collectively forging and consolidating a grassroots women’s presence and perspective“ (GROOTS 2013a).

Die 23 Mitgliedsgruppen des Netzwerks decken alle Kontinente ab (GROOTS 2013b). Das Netzwerk finanziert sich durch Stiftungsgelder (GROOTS 2013a). Oxfam International301 wurde 1995 von einer Gruppe entwicklungspolitischer »NGOs« gegründet (OXFAM 2013b). Die Organisation widmet sich der Verbesse-

299 Weitere Gründungsmitglieder sind Greenpeace, der WWF und die US-Sektion des CAN (Interview »WCC«: 330-332). 300 Während Oxfam International nicht Mitglied von CJN! ist, ist es deren belgische Sektion schon (CJN! 2010b). Zum Netzwerk siehe auch Seite 159f. in Kapitel IV.3.3.1.

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rung der Lebensverhältnisse von Menschen, die von Armut betroffen sind – einerseits durch Arbeit mit betroffenen Gemeinschaften, andererseits durch Beeinflussung von Politikprozessen (OXFAM 2013a). In ihrer Arbeit verfolgt Oxfam fünf thematische Schwerpunkte: „Development“ (langfristige Programme zur Bekämpfung von Armut und Ungerechtigkeit), „Emergencies“ (Soforthilfe für von Naturkatastrophen oder Konflikten betroffene Menschen), „Campaigning“ (Bewusstseinsbildung in der Öffentlichkeit), „Advocacy“ (Lobbyarbeit in Politikprozessen) und „Policy Research“ (OXFAM 2013c). Oxfam International schließt 17 Organisationen zusammen, die in über 90 Ländern tätig sind (OXFAM 2013a). Die Finanzierung erfolgt dabei je Mitgliedsgruppe unterschiedlich, beruht jedoch auf individuellen Spenden und der Förderung durch Regierungen bzw. Stiftungen (Interview »Oxfam«: 479-496). Der World Council of Churches (WCC – deutsch: Ökumenische Rat der Kirchen) ist eine Vereinigung christlicher Kirchen, die sich selbst als die „umfassendste und repräsentativste“ Organisation „der modernen ökumenischen Bewegung, deren Ziel die Einheit der Christen ist“, bezeichnet (WCC 2013c). Der WCC vereint „mehr als 560 Millionen Christen in 349 Kirchen, Denominationen und kirchlichen Gemeinschaften aus über 110 Ländern“ (WCC 2013c).302 Finanziert wird er über Einnahmen aus der Inwertsetzung eigener Immobilien sowie Beiträgen von Mitgliedskirchen bzw. kirchlichen Einrichtungen (CHRISTIAN AID 2009). Der WCC wird oftmals unter den Sammelbegriff der RNGOs303 (religious NGOs) gefasst zu denen auch Caritas International, der World Jewish Congress und die International Muslim Union gezählt werden (NURSEY-BRAY 2012b: 1023). In seinem Programm304 „Gerechtigkeit, Diakonie und die Verantwortung für die Schöpfung“ widmet sich der WCC dem Projekt „Ökologische Gerechtigkeit“ (Eco-Justice). In 301 Der Name Oxfam geht auf das 1942 in Großbritannien gegründete Oxford Committee for Famine Relief zurück, eine Vorläuferorganisation, die sich während des zweiten Weltkriegs der Versorgung griechischer Frauen und Kinder widmete, die von einer Seeblockade betroffen waren (OXFAM 2013b). 302 Die Zusammensetzung des WCC unterlag dabei in seiner Geschichte einem Wandel: „Während die meisten ÖRK-Gründungsmitglieder europäische und nordamerikanische Kirchen waren, setzt sich die heutige Mitgliedschaft vorwiegend aus Kirchen in Afrika, Asien, der Karibik, Lateinamerika, dem Nahen und Mittleren Osten sowie dem pazifischen Raum zusammen“ (WCC 2013c). 303 Zur Rolle religiöser Gruppen in der politischen Auseinandersetzung mit Umweltthemen, insbesondere dem Klimawandel, vgl. Kearns (2011). 304 Die 9. Vollversammlung des WCC legte im Jahr 2006 sechs thematische Programme für die zukünftige Arbeit fest. Die Programme umfassen dabei im weiteren Themen wie den interreligiösen Dialog und Zusammenarbeit, Bildung und ökumenische Ausbildung oder auch Mission und Spiritualität. (Vgl. WCC 2013b)

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diesem Projekt verfolgt der WCC eine Kampagne zum Klimawandel305, die auf „die Bewahrung der Schöpfung und Gerechtigkeit“ zielt (WCC 2013a). Das klimapolitische Engagement des WCC hat seinen Ursprung bereits um das Jahr 1989 (Interview »WCC«: 18-22). Die Verhandlungen im Rahmen der UN-Klimarahmenkonvention begleitet der WCC seit ihrem Beginn. Im Vorfeld der Kopenhagener Klimaverhandlungen ist der WCC zusammen mit zahlreichen weiteren RNGOs an der Kampagne ‚Countdown to Copenhagen‘ beteiligt, mit der bei Bürger_innen um die Unterzeichnung einer Petition an die verhandelnden Regierungen geworben wurde (GENDERCC 2008). VI.2.3.2 Zur Fantasie des Hegemonieprojekts Im Folgenden wird die Fantasie des Hegemonieprojekts des »Paradigmenwechsels« dargestellt. Gegenüber den anderen sich im Untersuchungsfeld abzeichnenden Hegemonieprojekten betont damit die Fantasie dieses Projektes bei der Artikulation des Problems des Klimawandels und seiner Lösungen die Ebene des Sozialen. Die Darstellung der Fantasie im vorliegenden Abschnitt erfolgt in vier Schritten. Zunächst wird die Fantasie des Hegemonieprojekts in ihren Grundzügen umrissen. In einem zweiten Schritt wird dargestellt wie das Projekt in den Narrativen reproduziert wird. Daran anschließend werden in einem dritten Schritt die das Hegemonieprojekt konstituierenden Forderungen hinsichtlich ihrer kritischen bzw. affirmativen Positionierung gegenüber dem hegemonialen Projekt beurteilt. In der Fantasie des Hegemonieprojekts des »Paradigmenwechsels« (vgl. auch Abbildung 10) ist es das derzeitig vorherrschende Entwicklungsparadigma, das das ‚Grauen‘ symbolisch repräsentiert. In all den Interview-Narrativen, die das Hegemonieprojekt reproduzieren, wird eine derartige Fantasie artikuliert, mit der die Ebene des Sozialen besonders betont wird. Mit dem vorherrschenden Paradigma von Entwicklung – einer spezifischen Art des Denkens über Entwicklung, Wachstum, Gewinn, Glück und Wohlbefinden – gehen negative Auswirkungen einher, insbesondere auf die armen Länder und Gemeinschaften. Entwicklung bedeutet Wachstum, Gewinn, Glück und Wohlbefinden des globalen Nordens. Diese Entwicklung führt zu Armut des globalen Südens. Insbesondere führt sie zur Emission von Treibhausgasen und damit zum Klimawandel, dessen Auswirkungen diejenigen am stärksten betreffen, die am wenigsten zu seiner Verursachung beigetragen haben. Das herrschende Entwicklungsparadigma bringt mit sich, dass die Betroffenen im Prozess der Klimapolitik marginalisiert sind und kein Gehör finden. In den Narrativen der Interviews finden sich zahlreiche Übereinstimmungen darin, was als Faktoren vorgebracht wird, die das gegenwärtige Entwicklungsparadigma bekräftigen. Die einzelnen Faktoren werden äquivalent zueinander artiku305 Das Projekt umfasst daneben das „Ökumenische Wassernetzwerk“ sowie das Projekt „Armut, Reichtum und Umwelt“ (WCC 2013b).

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liert. Anders ausgedrückt: Der ‚leere Signifikant‘ des ‚gegenwärtigen Enwicklungsparadigmas‘ wird durch ‚hegemoniale‘ Artikulation verschiedener Faktoren aufgefüllt.306 Zunächst sind es der Lebensstil und die Konsummuster der globalen Mittelschicht (vertreten insbesondere in den Industrieländern), die als bekräftigende Faktoren des gegenwärtigen Paradigmas vorgebracht werden. Daneben ist es die fehlende Bereitschaft der Industrieländer, Verantwortung zu übernehmen und Veränderungen hinsichtlich ihres Entwicklungsmodells einzuleiten. Ein Mangel an gerechten und adäquaten Lösungen in den UN-Klimaverhandlungen bzw. die gegenwärtige Ausgestaltung der marktbasierten klimapolitischen Mechanismen, werden als weitere Faktoren vorgebracht, die das gegenwärtige Entwicklungsparadigma reproduzieren. Darüber hinaus ist es der unzureichende Einbezug der vom Klimawandel Betroffenen in den Verhandlungen selbst, der das Paradigma bekräftigt. In der Fantasie des Projekts ist es ein Wandel des vorherrschenden Entwicklungsparadigmas, mit dem das ‚Grauen‘ überwunden wird. Es ist insofern der Paradigmenwechsel, der das ‚Glückseligmachende‘ symbolisch repräsentiert. Ein Paradigmenwechsel bedeutet dabei eine grundlegende Änderung der Art des Denkens über Entwicklung, Wachstum, Gewinn, Glück und Wohlbefinden. Er impliziert positive Auswirkungen im Sozialen, insbesondere in den bislang von Armut betroffen Ländern und Gemeinschaften. Wohlstand und Lebensstandards – d.h. Lebensunterhalt, Ernährungssicherheit, Gesundheitsversorgung und Bildung – werden verbessert. Zugleich werden Treibhausgas-Emissionen drastisch reduziert. Ein Wandel des Entwicklungsparadigmas bedeutet, dass die Schädigung von Gemeinschaften, die am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben, aufgehalten wird. In Prozessen der klimapolitischen Entscheidungsfindung wird die Stimme der Betroffenen ernst genommen.

306 Zum Begriff der hegemonialen Artikulation vgl. Kapitel II.2.4, zum Begriff des leeren Signifikanten vgl. Kapitel II.2.2.

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Abbildung 10 Idealtypische Charakteristika des Hegemonieprojekts des »Paradigmenwechsels« 

         

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