Machtvolle Verhandlungen: Zur Kulturgeschichte der deutschen Strafjustiz 1879-1924 9783666370359, 9783525370353, 9783647370354

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Machtvolle Verhandlungen: Zur Kulturgeschichte der deutschen Strafjustiz 1879-1924
 9783666370359, 9783525370353, 9783647370354

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann Frühere Herausgeber Helmut Berding, Hans-Ulrich Wehler (1972–2011) und Jürgen Kocka (1972–2013)

Band 215

Vandenhoeck & Ruprecht

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Alexandra Ortmann

Machtvolle Verhandlungen Zur Kulturgeschichte der deutschen Strafjustiz 1879–1924

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-37035-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds der VG Wort. Mit 5 Abbildungen Umschlagabbildung: Ausschnitt aus ›Bauern vor Gericht‹ (1880). Gemälde von Benjamin Vautier (1829–1898) © akg-images © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Satz: PTP-Berlin Protago TEX-Production GmbH, Berlin (www.ptp-berlin.eu) Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I: Das Selbstbild der Strafjustiz im Kaiserreich und in der frühen Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Wahrheit und Form als widerstreitende Verfahrensziele . . . . . . . . . 1.1 Die Suche nach der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Religion als Fundament der juristischen Wahrheitssuche . . 1.1.2 Die Wahrheit im Meineidsverfahren – Fallbeispiel I aus dem ländlichen Allgäu: Der gestohlene Deichel . . . . . . . . . . 1.2 Die Suche nach dem formal korrekten Verfahren . . . . . . . . . . 1.2.1 Die Uneindeutigkeit der Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Die ›juristische Varianz‹ – ein methodisches Plädoyer am Beispiel der Voruntersuchung . . . . . . . . . . . . . . .

. 24 . 25 . 27 . 32 . 37 . 38 . 46

2. Die Multiperspektivität der Gerichtsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die juristische Logik der Gerichtsakte . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die Akte als Beweis – Ziele der Aktenführung . . . . . . . . 2.1.2 Aufbau der Akte – Fallbeispiel II aus dem ländlichen Allgäu: Die ermordete Magd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Protokolle als Verschriftlichung von Dialogen . . . . . . . . 2.1.4 Das juristische Narrativ der Akte . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Gerichtsakte als vielstimmige historische Quelle . . . . . . . .

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3. Die juristische Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Abgrenzung der juristischen Profession . . . . . . . . . 3.1.1 Die Abwehr von robentragenden Frauen . . . . . . . 3.1.2 Rechtskonsulenten als »Winkeljuristen« . . . . . . . 3.1.3 »Laienrichter« – Geschworene und Schöffen . . . . . 3.2 Arbeitsteilung und Konflikte im Gerichtssaal . . . . . . . . 3.2.1 Unabhängig, leitend, gerecht? Der Strafrichter . . . . 3.2.2 Richtend, verteidigend, anklagend? Der Staatsanwalt 3.2.3 Objektiv, genau, einseitig? Der Untersuchungsrichter

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3.2.4 Ehrenhaft, unparteiisch, verdächtig? Der Verteidiger . . . . . 95 3.2.5 Sorgfältig und vielseitig: Der Gerichtsschreiber . . . . . . . . 101 4. Das juristische Selbstbild – ein Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Teil II: Die Öffentlichkeit als Machtfaktor im Kaiserreich

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1. Orte der Kommunikation in strafgerichtlichen Verfahren . . . . . . . 1.1 Justizpaläste als Orte von Macht, Religion und Hierarchie . . . . 1.2 Die Öffentlichkeit des juristisch Geheimen . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Geheimnis und Öffentlichkeit im Gerichtssaal . . . . . . . 1.2.2 Die geheime Voruntersuchung im öffentlichen Raum – Schwäbische Gaststätten als Orte gerichtlicher Handlungen 1.2.3 Die sicht- und hörbaren Recherchen vor Ort . . . . . . . .

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2. Das mediale Bild des Gerichts – lokale und überregionale Informationen 2.1 Das Gericht als Nachbar – der Nachbar vor Gericht . . . . . . . . . . 2.1.1 Alltagsjustiz in der schwäbischen Lokalpresse . . . . . . . . . 2.1.2 Juristische Logiken und personenbezogene Informationen in der schwäbischen Lokalpresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Sensationelle und Unterhaltende der Strafjustiz . . . . . . . . . 2.2.1 Prozesse auf der Titelseite – die überregionale Gerichtsberichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Justiz als Objekt der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Verbrechen und Gericht im Film . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konflikte zwischen Juristen und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . 3.1 Lauter werdende und vielfältige Kritik an der Justiz . . . . . . . . . 3.2 Die Einschränkung der Öffentlichkeit als Reaktion auf Kritik . . . 3.2.1 Die Öffentlichkeit als Enttäuschung . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Schleichende Rückkehr nicht-öffentlicher Verhandlungen ab den 1880ern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Rechtsberatung als lokale und reichsweite gesellschaftliche Partizipation um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Wenig Hilfe für mittellose Angeklagte . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Kampf gegen die Männerjustiz . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Gerichtssäle als Ort des Klassenkampfes . . . . . . . . . . .

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4. Öffentlichkeit, Partizipation und Konflikte – ein Fazit . . . . . . . . . . . 185 6

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Teil III: Die Partizipationschancen der ›Laien‹ vor Gericht – eine Fallstudie aus Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1. Die Zeugenvernehmung – informativ und gefürchtet . . . . . . . 1.1 Vernehmungen als Orte der Information . . . . . . . . . . . 1.1.1 Fragekorsette statt freier Rede . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Wissenserwerb der Zeugen durch die Fragetechniken . 1.1.3 Schweigen und Reden als machtvolles Zeugenverhalten 1.2 ›Laien‹ als Gefahr für die Wahrheitssuche . . . . . . . . . . . 1.2.1 Die juristische Furcht vor lügenden Zeugen . . . . . . 1.2.2 Die abgeschafften Beweisregeln als Hilfsmittel . . . . .

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2. Das unverzichtbare Verhör . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der äußere Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das asymmetrische Gespräch . . . . . . . . . . . 2.2.1 Paternalismus und Misstrauen der Juristen . 2.2.2 Das Geständnis als Ziel? . . . . . . . . . . . 2.2.3 Die juristische Varianz des Paragraphen 136 Reichsstrafprozessordnung . . . . . . . . .

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3. Die juristischen Kenntnisse der ›Laien‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3.1 Von Delikten, Strafen und Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 3.2 Gleiche Kriterien der Glaubwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 233 4. Aktives Prozessieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Anzeige als Mittel im dispute process . . . . . . . . 4.1.1 Die Anzeige als Abwägungsprozess . . . . . . . 4.1.2 Die Meineidsanzeige als Frage der Ehre . . . . . 4.2 Wissen wird Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Eingaben, Recherchen, Briefe und Annoncen . 4.2.2 Die Beeinflussung von Zeuginnen und Zeugen . 4.3 Die Gefahr selbstbewussten Prozessierens . . . . . . . 4.3.1 Die beleidigende Beschwerde . . . . . . . . . . 4.3.2 Die Pathologisierung der Beschwerde . . . . . . 4.3.3 Partizipation trotz Repressionsansätzen . . . .

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5. ›Laien‹ zwischen Partizipation und Hemmnissen – ein Fazit . . . . . . . 269 Zusammenfassung: Staatsbürger vor Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Zeitleisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 7

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Quellen- und Literaturverzeichnis Ungedruckte Quellen . . . . . Gedruckte Quellen . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . .

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Register . . . . . . Personenregister Ortsregister . . Sachregister . .

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Einleitung

»Wie viel tausend mal in meiner Praxis und in meinem Leben habe ich erfahren müssen, daß auch der Gebildete […] oft gar keine Ahnung hatte, wo das Gesetz Pflichten und wo es Rechte für ihn geschaffen […]. Der Wissende aber hält sich mit seiner Kenntniß absichtlich zurück; wo er allenfalls spricht, verfehlt er die Sprache des Volkes. Und so weiß eigentlich Niemand, was er dem Staate gegenüber fordern und was er verweigern darf.«1 »Der Gesetzgeber kann nur mit wenigen Worten die Form regeln; den Inhalt zu finden muss dem Wissen und Können des Einzelnen überlassen bleiben.«2

Die Strafjustiz spielte für das Kaiserreich eine zentrale Rolle: Kulturkampf, Sozialistengesetze und zahllose Skandalprozesse prägten die innenpolitischen Auseinandersetzungen. Der Gerichtssaal war eine Bühne der gesellschaftlichen Konflikte. Aber es gilt auch das Umgekehrte – das Kaiserreich ist für die Justizgeschichte eine wichtige Epoche: Die Jahrzehnte andauernden Reformbemühungen des Liberalismus mündeten in die reichsweiten Kodifikationen von Strafgesetzbuch (1871), Strafprozessordnung (1879), Gerichtsverfassungsgesetz (1879) und Bürgerlichem Gesetzbuch (1900). Diese bilden bis heute die Grundlage der deutschen Justiz. Gleichzeitig entwickelte sich eine Justizkritik, die mit dem Schlagwort »Klassenjustiz« eine jahrzehntelang wirkmächtige Figur schuf. Das geschichtswissenschaftliche Bild der Strafjustiz des Kaiserreichs ist entsprechend widersprüchlich: Sie gilt sowohl als Beginn eines modernen, rechtsstaatlichen Verfahrens als auch als prägnantes Beispiel eines obrigkeitlichen Systems, das wesentliche Teile der Bevölkerung benachteiligt habe. Trotz des Spannungsverhältnisses verfügen beide Erzählungen über Gemeinsamkeiten: Sie knüpfen an zeitgenössische Diagnosen an, zeichnen dabei ein eindimensionales Bild und reproduzieren den Fokus auf die großstädtischen Skandalprozesse Preußens, die mit den Namen »Eulenburg«, »Köpenickiade« oder »Heinze« verbunden waren. Vor allem aber weisen beide Erzählungen der Bevölkerung eine mehr oder weniger passive und ohnmächtige Rolle zu. Die Berufsgruppe der Juristen, ihre Normen und ihre Deutungen bilden den Referenzrahmen. Das Handeln der Bevölkerung scheint außerhalb dieses »Juristischen« zu liegen. Zwar 1 Friedmann: Was darf ich?, Vorwort. 2 Gross: Handbuch (1894), S. 53.

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war es in Einzelfällen widerständig, kritisierend oder einfallsreich, aber es entsprach einer Logik, die von der Juristischen klar getrennt erschien und dieser nicht gerecht werden konnte. Dass die Deutungen der Juristen nicht die als einzig legitim anzusehende Interpretation darstellen, soll in dieser Mikrostudie zum Allgäu in den Vordergrund treten. Denn jeder einzelne Prozessteilnehmer, Vereine, Kirchen, Politiker und Medien trugen dazu bei zu bestimmen, welche Funktionen der Strafjustiz gesellschaftlich zukamen und wie ein Verfahren insgesamt verlief. Die Perspektiven dieser Akteure wichen vom Blick der bürgerlichen, studierten, hauptberuflich im Justizdienst stehenden Männer ab, waren mit ihm aber doch verwoben.3 Die Kulturgeschichte der deutschen Strafjustiz analysiert diese Vielstimmigkeit auf den Ebenen des Reiches, des Königreichs Bayern sowie anhand von Gerichtsprozessen aus dem Allgäu und fragt im Kern, wie das Strafverfahren im Alltag ablief und welche Macht den einzelnen Beteiligten zukam. Am Beispiel der Strafjustiz lassen sich dabei Aussagen über innergesellschaftliche Machtkonflikte und das Verhältnis der Bevölkerung zum Staat im Kaiserreich treffen, deren Ausläufer z.T. bis in die frühe Weimarer Republik untersucht werden. Macht wird dabei als dezentrales und relationales Kräfteverhältnis, das durch soziale Praxis verkörpert wird, und nicht als Top-down-Prozess der Herrschaft verstanden.4 Zwei Thesen durchziehen die Studie: Erstens gelang es der Bevölkerung entgegen der zeitgenössischen Wahrnehmung und der bislang dominierenden Perspektive der Forschung die Justizpolitik zu beeinflussen und sich dank eines durchaus guten Wissens um die juristischen Logiken machtvoll in der Strafjustiz zu bewegen. Strukturell war die Strafjustiz des Kaiserreichs von Machtasymmetrien bestimmt, in denen die Berufsjuristen dominierten und insbesondere ärmere und bildungsferne Personen benachteiligt waren. Dennoch gelang es der Bevölkerung entgegen der zeitgenössischen Wahrnehmung und der auf Skandalprozesse fokussierten geschichtswissenschaftlichen Forschung, die gerichtlichen Prozesse und die Justizpolitik deutlich zu beeinflussen. Sie wusste um die Funktion der Justiz, forderte ihre Rechte ein und setzte ihre Interessen durch. Ihre Einstellung gegenüber der Strafjustiz als Ort der legitimen Konfliktlösung war bei aller Vorsicht durchaus vertrauensvoll. Diese Haltung entsprach nicht der eines Untertanen, der sich hilfesuchend und bittend an die Obrigkeit wandte. Im Gegenteil, was sich hier beobachten lässt war die Erwartung eines selbstbewussten Staatsbürgers an die Justiz, seine Rechte auszuüben und als gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft betrachtet zu werden.5 Dieser Teilhabewunsch rief jedoch Konflikte mit den Juristen hervor, die keineswegs bereit waren, ihre Stellung als Elite im Prozess oder in der Gesellschaft aufzugeben. 3 Soweit nicht anders angegeben wird unter Bürgertum eine vom Adel und der Arbeiterschaft zu unterscheidende Sozialgruppe verstanden, die in Anlehnung an Kocka: Das europäische Muster, über Wertungen, Mentalität und Kultur verbunden war. 4 Vgl. Maset, S. 80–93. Vgl. zu Gerichtsprozessen als Analyseobjekt zur Erforschung kolonialer Machtverhältnisse Schaper, v.a. S. 11. 5 Zum Konzept des Staatsbürgers vgl. Appelt, S. 15 f. und 43–130.

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Das Beispiel der Strafjustiz, in der sich Staat und Bevölkerung in hierarchisch geprägten Rollen gegenüber traten und in der staatliche Macht ausgeübt wurde, eignet sich für eine Analyse, wie die Eliten mit kollektiven Emanzipationsbewegungen einerseits und individuellen Staatsbürgern andererseits um Einfluss im Staat rangen, besonders gut. Nicht umsonst galt schon den Zeitgenossen die Auseinandersetzung um die Gerichtsverfassung im gesamten 19. Jahrhundert immer auch als pars pro toto für die staatliche Machtverteilung. Schon bei Montesquieu wurde das Schwurgericht als Beispiel für die Gewaltenteilung angeführt, und sie galt von Beginn an Anhängern wie Kritikern als Beitrag zum Ende der absoluten und zum Einstieg in die konstitutionelle Monarchie.6 Die Analyse fügt der historischen Verortung des Kaiserreichs zwischen Obrigkeitsstaat und liberaler Gesellschaft eine weitere Facette hinzu und erweitert die Einschätzung des Kaiserreichs als Phase, in der demokratische Haltungen und Praktiken eingeübt wurden (»practicing democracy«, Anderson). Wie am Beispiel der politischen Kultur und der Rolle der Medien gezeigt worden ist, lässt sich eine Mobilisierung der Bevölkerung sowie ein Selbstverständnis als Staatsbürger beobachten, die nicht mit den proto-demokratischen Strukturen des Kaiserreichs in Einklang standen.7 Die Kulturgeschichte der deutschen Strafjustiz zeigt dabei, wie eine durch soziale Ungleichheit geprägte Gesellschaft die neuen liberalen Gesetze und Freiheiten anzuwenden wusste, um miteinander konkurrierend die individuelle wie kollektive Lage und Macht zu verbessern. Der daraus entstehende Konflikt zwischen bewahrenden, abwehrenden, fordernden und verändernden Kräften war selbst Ausdruck einer praktizierten Demokratisierung. Diese unterminierte obrigkeitliche Tendenzen, die in staatlichen Strukturen und politischen Haltungen weiterhin erhalten blieben und zuweilen an Gewicht gewannen. Denn entgegen der in der Forschung und zeitgenössischen Debatte vielfach anzutreffenden Auffassung – so die Grundlage der zweiten These – ist die Geschichte der Strafjustiz im Kaiserreich weder durch Brüche noch durch ein teleologisches Fortschrittsmodell gekennzeichnet. Vielmehr zeigte sich ein kontinuierlicher Aushandlungsprozess, der sich in einem steten Spannungsverhältnis zwischen Wandel und Persistenz niederschlug. Der reformierte Strafprozess stattete den Beklagten mit eigenen Rechten und einem Verteidiger aus, dessen Anwesenheit vom Beginn der Ermittlungen an grundsätzlich zugestanden wurde. Die Unabhängigkeit und Gesetzesbindung der Richter, die Beteiligung von Schöffen und Geschworenen sowie die öffentlichen Gerichtsverhandlungen lösten das Gerichtshandeln aus dem Nimbus des »Geheimen« und der obrigkeitlichen Beeinflussung. Die Einführung der Staatsanwaltschaft trug darüber hinaus dazu bei, die Ermittlung und Beurteilung einer Tat in

6 Vgl. Wilhelm, S. 39 f.; Klaere: Entstehung; Blasius: Geschworenengerichte; Nörr, S. 802 f.; Habermas: Diebe vor Gericht, S. 167 f. 7 Vgl. dazu Anderson: Practicing Democracy; Mergel, v.a. S. 41–51, und Bösch: Öffentliche Geheimnisse. Zur Kaiserreichsforschung im Überblick: Chickering; Kühne: Political culture and democratization; Retallack; Ullmann: Politik, S. 53–62.

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getrennte Hände zu legen.8 Doch diese Prozessform bedeutete keine vollständige Loslösung von Traditionen. In den letzten Jahren ist ein derartiges Fortschrittsnarrativ des liberalen Prozesses relativiert worden. Denn das Bild des ›überholten‹ willkürlichen frühneuzeitlichen Inquisitionsprozesses war mehr eine Projektionsfläche der Juristen des 19. Jahrhunderts als den Normen und Ausgestaltungen des frühneuzeitlichen Prozesses geschuldet.9 Darüber hinaus hat insbesondere die Geschichte der Kriminologie die Ambivalenz liberaler Reformen gezeigt.10 Im Untersuchungszeitraum konnten nun Positionen und Praktiken einflussreich werden, die seit den Reformen von 1848 und 1879 als historisch überlebt galten. Trotz der Bedeutung der Reichsjustizgesetze als Symbol der nationalen Einheit fand die rechtspolitische Debatte um die angestrebte Ausgestaltung des Prozessrechts mit der Kodifikation 1879 kein Ende, sondern wurde in Jahrzehnte anhaltende Reformdiskussionen transformiert.11 Mit Blick auf die Debatten zur Öffentlichkeit, zum Schwurgericht oder zum religiösen Eid zeigt sich, dass – so die zweite These – die Etablierung der liberalen Konzepte es in der normativen Debatte ermöglichte, die antiliberalen Argumente des Vormärzes mit dem rhetorischen Verweis auf gemachte Erfahrung zu aktualisieren. Die Verschiebung im fachpolitischen Diskurs führte mittelbar auch zu einer veränderten Praxis, ohne dass es zu einer Änderung des Gesetzes kommen musste. Die prozessrechtlichen Diskussionslinien liefen dabei nicht parallel zu jenen im Strafrecht,12 bei dem sich die »moderne Schule« und die »klassische Schule« an der Frage des Strafzwecks entzweiten.13 Die Strafjustiz des Kaiserreichs war – so zusammenfassend der Titel – ein Ort der »machtvollen Verhandlungen«, also der Verhandlungen, durchzogen von Macht und über Macht. Denn in Strafprozessen und im Strafprozessrecht wurden sowohl individuelle und kollektive Macht als auch gesellschaftliche Positionen und Konflikte verhandelt. Diese Gerichtsprozesse waren von Machtverhältnissen geprägt; die Menschen konnten in ihnen z.T. unerwartet machtvoll agieren und mithilfe der Prozesse zusätzliche Macht erhalten. Die von Historikerinnen und Historikern betriebene Justizgeschichte hat sich traditionell und mit wenigen Ausnahmen14 auf die Strafrechtsgeschichte konzentriert, was sich terminologisch – und in methodischer Abgrenzung von der durch Juristen betriebenen Strafrechtsgeschichte – im Begriff der Kriminalitätsgeschichte

8 Vgl. zu den Reformen des 19. Jahrhunderts: Ignor; Rieß; Herrmann: Reform; Kern; Schmidt: Strafrechtspflege; als jüngster Überblick: Wilhelm, S. 27–34. 9 Vgl. Habermas: Feuerbach, S. 130 f.; Schwerhoff : Aktenkundig, und ders.: Kriminalitätsforschung. 10 So etwa Verurteilungen mit unbestimmter Haftdauer, vgl. Wetzell; Galassi; Frommel. 11 Vgl. dazu umfassend Wilhelm. Als Überblick: Landau: Reichsjustizgesetz und die deutsche Rechtseinheit, und Kern, S. 126–160. 12 Nobili, S. 190–210, hingegen konstatiert eine antiliberale Verfahrenspolitik der »Modernen« und widerspricht damit Schmidt: Strafrechtspflege, S. 423 f., der die »Modernen«, zu denen er als von Liszt-Schüler ebenfalls zählt, für besonders rechtsstaatlich hält. 13 Zur Reformgeschichte des Strafrechts vgl. Kesper-Biermann. 14 Schwerhoff : Kriminalitätsforschung, v.a. S. 73 f.; exemplarisch: Wienfort: Patrimonialgerichte in Preußen.

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niedergeschlagen hat.15 Diese hat sich dem 19. Jahrhundert vergleichsweise spät zugewandt und sich dabei lange auf die erste Hälfte des Jahrhunderts konzentriert.16 Daher bietet vor allem die seit über 20 Jahren etablierte Forschung zur frühneuzeitlichen Justiz Anknüpfungspunkte und methodische Anregungen.17 Gleiches gilt für die interdisziplinäre Law- and Society-Bewegung, die die Verwobenheit von Justiz und Gesellschaft zum Programm erhoben hat.18 Gerade die Skandale des Kaiserreichs haben die Verknüpfung von Strafjustiz und Gesellschaft vor Augen geführt. Zumeist boten öffentliche Gerichtsverhandlungen Anlass und Informationsgrundlage, um ein Verhalten öffentlich zu brandmarken, und gaben damit den Blick auf jene Normen frei, deren Bruch die Empörung hervorrief. Hierzu gehörten wiederum auch die Regeln und Praktiken rund um die gerichtlichen Prozesse: Im Zuge seiner Analyse, wie sich im Kaiserreich latenter Antisemitismus manifestierte, hat Helmut W. Smith an einem vermeintlichen Ritualmordfall in Konitz aufgezeigt, wie einerseits die lokale Bevölkerung durch Gerüchte, Denunziationen und Selbstjustiz und andererseits eine antisemitische Pressekampagne den Verlauf der Ermittlungen beeinflussen konnten.19 Anders als die auf die Skandalforschung fokussierenden Studien20 untersuchen Benjamin C. Hett und Philipp Müller dezidiert die im Strafprozess entstehenden Dynamiken.21 Während Hett die Positionskämpfe der sich sozial verändernden Juristenschaft analysiert, verweist Müller auf die komplexe Rolle der Massenmedien. Doch als per definitionem außergewöhnliche Ereignisse ermöglichen Skandalprozesse keine repräsentative Analyse der Strafjustiz: Nicht im Skandal, sondern im alltäglichen Geschehen lassen sich die Feinheiten zeitgenössischer Praktiken ablesen und bewerten. Die Kriminalitätsgeschichte hat die alltäglichen Prozesse bislang v.a. genutzt, um kulturelle Deutungen oder den ländlichen Lebensalltag zu rekonstruieren. Diesem Ansatz sind die beiden Pionierstudien für die Kriminalitätsgeschichte des Kaiserreichs von Tanja Hommen und Regina Schulte verpflichtet. Ihre Arbeiten haben die Bedeutung der »Laien« als Untersuchungsobjekt betont, auch wenn bei ihrer Analyse von Gerichtsverfahren im ländlichen Bayern der Fokus nicht auf dem Verfahren selbst liegt.22 Ann Goldberg hat anhand alltäglicher preußischer Beleidigungsklagen die Relevanz der Kategorie »Ehre« in kaiserzeitlichen Prozessen hervorgehoben und dabei auf die Gleichzeitigkeit demokratisierender und unterdrückender Nutzungen verwiesen.23 Der Schwerpunkt der kriminalitätshisto15 Exemplarisch die Historiographiegeschichte bei Schwerhoff : Aktenkundig, S. 15–23. 16 Vgl. etwa die Pionierarbeit von Blasius: Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität, sowie Kienitz und Habermas: Diebe vor Gericht. 17 Im Überblick: Schwerhoff : Kriminalitätsforschung; ders.: Aktenkundig; Habermas/Schwerhoff. 18 Vgl. Munger; zur Abgrenzung von der deutschen Rechtssoziologie Wrase. 19 Smith: Geschichte des Schlachters. 20 Kohlrausch, S. 186–228; Bösch: Öffentliche Geheimnisse; Domeier. 21 Hett; Müller: Auf der Suche. 22 Schulte; Hommen. 23 Goldberg.

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rischen Forschung zum Kaiserreich lag damit in den vergangenen Jahren auf der Geschichte des Strafens,24 der Kriminologie,25 der Strafrechtsnormengeschichte26 und einzelner Deliktdefinitionen.27 Die Studien zum Strafverfahren konzentrieren sich auf Berliner Skandalprozesse, die Ausdifferenzierung einer Akteursgruppe, die Analyse des zumeist konfliktreichen Aufeinandertreffens zweier Gruppen oder die Normengeschichte des Verfahrensrechts28 . Die vorliegende Studie zeigt jedoch in Erweiterung dieser Ansätze, dass der Aushandlungsprozess über die Justiz und im Rahmen der Justiz vielstimmiger und vielgestaltiger war. Auf mehreren Untersuchungsebenen wird der Frage nach der alltäglichen Machtverteilung vor Gericht und der Bedeutung der Justiz nachgegangen und das Zusammenspiel der Akteure berücksichtigt.29 Als Mikrostudie untersucht sie nicht nur reichsweite Diskurse und normative Entwicklungen, sondern spitzt die Beobachtungsebene – etwa zur Justizverwaltung – auf das Königreich Bayern und – für die Frage der Gerichtspraktiken – auf den Oberlandesgerichtsbezirk Augsburg zu. Diese Ebenen werden in der Analyse verwoben und mit den bislang vorliegenden Forschungsergebnissen zu anderen und z.T. großstädtischen Regionen, insbesondere Berlin und Köln, verknüpft.30 Der Fokus auf eine ländliche Gesellschaft bietet dabei mehr als nur eine komplementäre Beobachtungsebene zu den bisherigen Berlin-zentrierten Studien, deren Ergebnisse im Zuge der Arbeit durchgehend mit einbezogen werden. Angesichts der Bevölkerungsverteilung im Kaiserreich, in dem 1871 über 60 Prozent und 1919 noch über 40 Prozent in ländlichen Regionen wohnten, wendet sich die Studie zwar auch einem relevanten Teil des zeitgenössischen Alltags zu.31 Forschungsleitend ist aber, dass die ländliche Bevölkerung durch persönliche Kontakte, durch Binnenmigration und Briefe sowie Vereine und Medien mit den städtischen Diskursen eng verknüpft war.32 Diese Verwobenheit widerspricht agrarromantisch geprägten Erklärungsmustern, die in den Dörfern des Kaiserreichs eine Rückständigkeit verorten wollen.33 Jenseits von graduellen Unterschieden, die zwischen Regionen mit differierender politischer Tradition, Bevölkerungsstruktur und -größe unver24 Vgl. Evans; Overath: Todesstrafe; Martschukat; Nutz; Bretschneider; Rosenblum; Schauz; Henze; Müller: Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. 25 Als Literaturüberblick vgl. Schauz/Freitag. 26 Vgl. oben sowie die im Umfeld von Thomas Vormbaum erscheinende Reihe kritisch-historischer Kommentare zum Reichsstrafgesetzbuch. 27 Mit dem Kindsmord, dem Giftmord und dem Sexualmord handelt es sich auch hier um exzeptionelle Kriminalfälle. Dreier; Schulte, S. 121–178; Weiler; Siebenpfeiffer; Kompisch. 28 Kern; Wilhelm; Nörr; Vormbaum: Lex Emminger. 29 Wienfort: Recht und Bürgertum, S. 287, sieht genau darin ein Forschungsdesiderat. 30 Vgl. grundlegend zum »jeux d’échelles« Revel. 31 Vgl. Kocka: Das lange 19. Jahrhundert, S. 78, der die in der Statistik übliche Grenzziehung von 2000 Einwohnern verwendet. 32 Zu den Reichweiten der Arbeitsbinnenmigration: Weber-Kellermann, S. 375; zur grundsätzlichen Verwobenheit: Troßbach/Zimmermann, S. 177 f., 201–205, v.a. S. 219–230; Habermas: Mission im 19. Jahrhundert; Zimmermann: Kommunikationsmedien; Tenfelde: Welt als Stadt, S. 316. 33 Farr; Schulte, S. 9–38; von See, S. 29 ff.

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meidbar sind, werden die Ergebnisse der lokalen Fälle durch die Verknüpfung mit der Auswertung des reichsweiten Diskurses sowie der Forschung zu Städten aufgrund dieser zeitgenössischen Verwobenheit bzw. Ähnlichkeit mit überregionalen und städtischen Gegebenheiten auf andere Regionen übertragbar, was an drei Beispielen illustriert werden soll: Zum ersten kann im Hinblick auf die sozialstrukturellen Bedingungen von einer vergleichbaren Abhängigkeit der ländlichen Unterschichten im Vergleich zu städtischen Arbeitern ausgegangen werden. Auch wenn das Modell des ›ganzen Hauses‹ im Alltag präsenter gewesen sein mag, konnten sich die Landarbeiter angesichts eines Arbeitskräftemangels und ihrer hohen Mobilität ggf. problematischen Umfeldern entziehen. Die Urbanisierung mag zu unterschiedlichen Herrschaftsbeziehungen in Stadt und Land geführt haben – es blieben aber lokale Macht- und Ungleichheitsverhältnisse.34 Zum zweiten zieht etwa die Anonymität einer Großstadt nur auf den ersten Blick eine andere Öffentlichkeitskultur nach sich – denn auch hier waren Nachbarschaften, Kollegen- und Familienkreise sowie die mediale Berichterstattung eng genug, um die in der Studie für die dörflichen Kommunikationsstrukturen belegten Wirkungen grundsätzlich übertragbar zu machen. Es ist kein Zufall, dass etwa die Wirkung von Gerüchten bei Gerichtsprozessen sowohl für Dörfer, Kleinstädte als auch Großstädte mit ähnlichen Ergebnissen erforscht ist.35 Zum dritten sind viele der Beobachtungen, etwa die Analyse von Befragungstechniken, nur auf der lokalen Ebene möglich und werden v.a. hinsichtlich des juristischen Handelns an überregionale Regelungen und Diskurse und – soweit vorliegend – Ergebnisse zu anderen Regionen rückgebunden. Die Studie erhebt daher den Anspruch, Aussagen für die gesamte Strafjustiz des Kaiserreichs zu treffen.36 Den zeitlichen Rahmen dieser Kulturgeschichte des Strafjustiz bilden die Reformen der Strafprozessordnung: 1879 wurde das Strafverfahrensrecht vereinheitlicht und blieb bis zur Emminger-Reform 1924 weitgehend unverändert.37 Die normativen Regeln, personellen Zuständigkeiten, Abläufe und Protokolle sind daher relativ homogen. Auch wenn der Diskurs über das Verfahren bis zur Reform 1924 rekonstruiert wird, liegt der Schwerpunkt der Analyse aus Überlieferungsgründen auf dem Kaiserreich. Es geht um die Ausgestaltung und den Wandel innerhalb dieser Zeitspanne, weshalb auch die gesellschaftliche – und z.T. normative – Sondersituation des Ersten Weltkrieges nicht thematisiert wird.38

34 Troßbach/Zimmermann, S. 208–210; Tenfelde: Welt als Stadt, v.a. S. 328 f. 35 Schulte; Nonn; Müller: Auf der Suche; zur Anonymität als einem zentralen Unterschied vgl. Tenfelde: Welt als Stadt, S. 319. 36 Vgl. das berühmte Diktum der Mikrogeschichte, dass Historiker nicht über, sondern in Dörfern forschen, Levi, S. 93. 37 Vormbaum: Lex Emminger. 38 Vgl. Bornhorst. Dass die Studie dennoch den Anspruch erhebt, eine Analyse bis 1924 vorzunehmen, ist dadurch begründet, dass sich erst 1924 mit der großen Reform der RStPO ein weitgehender Wandel im Strafverfahrensrecht und im Aufbau der Strafprozessakten nachweisen lässt. Es würden wesentliche Aspekte aus dem Blick geraten, wenn der Untersuchungszeitraum mit Verweis auf die politische, aber nicht strafrechtshistorische Zäsur des Jahres 1914 verkürzt worden wäre.

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Das Quellenkorpus umfasst vier Gruppen: Zunächst wurde der reichsweite juristische Fachdiskurs rekonstruiert, indem neben den Strafprozesskommentaren und -handbüchern insbesondere die wichtigsten Fachzeitschriften systematisch ausgewertet wurden: der Gerichtssaal, die Deutsche Juristenzeitung, die Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft und das Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik.39 Mit ihrer Hilfe ließen sich sowohl die normativen Vorschriften des Verfahrens als auch juristische Logiken re- und dekonstruieren. Eine zweite Gruppe bildeten die reichsweit erschienenen Publikationen von Vereinen und Kirchen. Hinzu kam der für die Lokalpresse des Kaiserreichs exemplarisch ausgewertete Oberdorfer Landbote. Dieser erschien in Marktoberdorf und kann für die Region der beiden zentralen Allgäuer Fallbeispiele zeitgenössisch als eine der wichtigsten Zeitungen betrachtet werden. Auf ihn wird in den ausgewerteten Gerichtsakten von den Beteiligten wiederholt verwiesen.40 Teile des Oberdorfer Landboten sind im Stadtarchiv Marktoberdorf erhalten. Der überwiegende Teil befindet sich jedoch im Archiv der Allgäuer Zeitung und konnte dort dank Zustimmung der Familie Schnitzer eingesehen werden. Anhand dieser Quellen ließ sich ein Bild der Justiz rekonstruieren, welches sowohl Ausdruck als auch Deutungsangebot für das Alltagswissen der Bevölkerung darstellte.41 Die räumliche und personelle Ausstattung der Gerichte, Verwaltungsvorschriften und ministerielle Reformvorstellungen wurden mithilfe juristischen Verwaltungsschriftgutes der staatlichen Ebene – Bayern – und bezirklichen Ebene – Gerichtsbezirk Augsburg in Schwaben – nachgezeichnet. Dazu sind insbesondere die umfangreichen Überlieferungen des bayerischen Justizministeriums im Hauptstaatsarchiv München42 und die lokalen Unterlagen des Rentamtes, der Staatsanwaltschaft und der Landgerichtsleitung von Kempten und Augsburg zu zählen.43 Die materialreichste Quellengrundlage bildeten die bayerisch-schwäbischen Gerichtsakten, die im Staatsarchiv Augsburg für die Strafkammern der Landgerichte Kempten und Augsburg sowie für das Schwurgericht Augsburg vorhanden sind. Für den Untersuchungszeitraum umfassen diese Bestände deutlich mehr als 1000 Akten, die zumeist von der ersten Anzeige bis zum Urteil oder dem GefängnisEntlassungsschein jedes Schriftstück enthalten, das im Zuge des Strafverfahrens zusammengetragen worden war. Zunächst wurde eine thematische Eingrenzung auf Gewalt- und Meineidsdelikte vorgenommen.44 Die über 150 Meineidsakten wurden für die quantitative Analyse systematisch ausgewertet. Um eine dichte Lesart der Prozessabläufe und eine soziale Kontextualisierung zu ermöglichen, erfolgte dann eine regionale Zuspitzung auf die Region des Bezirksamtes Marktoberdorf. 39 Zur Relevanz dieser Zeitschriften vgl. Roth: Zeitschriften. 40 Ausführlicher zum Oberdorfer Landboten vgl. Kap. II.2.1. 41 Definition bei Lüdtke, S. 57 f.; zur Wechselwirkung von Alltagswissen, Literatur, Justiz und Deliktdefinitionen vgl. Löschper; Frommel; Harris; Weiler; Walkowitz. 42 Das Hauptstaatsarchiv München wird im Folgenden mit HStAM bezeichnet. 43 Das Staatsarchiv Augsburg wird im Folgenden mit StAA bezeichnet. 44 Aussortiert wurden angesichts von Hommen alle Sittlichkeitsverfahren.

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Diese rund 50 Akten zu Gewalt- oder Meineidsprozessen bilden den Kern der tieferen quantitativen wie qualitativen Analyse. In einem dritten Schritt wurden hieraus zwei Fallbeispiele – ein Mord- und ein Meineidsfall – aus der ländlichen Region des Allgäus ausgewählt, die den narrativen Faden der Arbeit bilden.45 Dabei wird der Terminus »Fall« nicht analog zur juristischen Logik verwendet, nach der die Anzeige den Fall in Form einer gerichtlichen Auseinandersetzung konstituiert, die erst durch ein Urteil beendet ist. Erstens gehören auch die Ereignisse vor und nach der gerichtlichen Untersuchung zum Kern des Fallbeispiels, zweitens wird unter einem Fall im Sinne der case studies ein Fallbeispiel verstanden, dessen Analyse Antworten auf Forschungsfragen und neue Forschungshypothesen liefert, die mithilfe des weiteren Quellenmaterials überprüft werden.46 Zusätzlich wurden Informationen über die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung, über Netzwerke und Wohnverhältnisse mithilfe der Steuerlisten, Kirchenbücher und Gemeindeunterlagen gewonnen.47 Die Studie ist als historisch-anthropologische Mikrostudie angelegt, die die sich wandelnden kulturellen Normen, Verhaltens- und Umgangsweisen (mit) der Strafjustiz im Kaiserreich thematisiert.48 Dies bedeutet, agency in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen,49 ohne die Rolle von Symbolen oder sozialen Strukturen zu vernachlässigen. Dazu gehört gerade bei dem zeitgenössisch männlich dominierten Feld der Justiz auch, die Kategorie Geschlecht empirisch wie sprachlich fortlaufend in den Blick zu nehmen. Zentral ist, die Multiperspektivität der Akteure in Analyse und Darstellung zu berücksichtigen.50 Verknüpft wird dieser Ansatz mit klassisch diskursgeschichtlichen Herangehensweisen. Unter einem Diskurs wird dabei in 45 Vgl. zu den Fallbeispielen ausführlicher Kap. I.1.1.2 und I.2.1.2. Narrativ wären beide Fallbeispiele ohne eine Namensnennung nicht zu verwenden. Im Fließtext und in den Zitaten wurde der Name durch den Alias-Namen oder Initialen ersetzt. Die Amtsträger – also Gendarmen, Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte – wurden nicht anonymisiert. 46 Vgl. Passeron/Revel; Richter; Süßmann u. a.; Gersmann/Meier, S. 21. 47 Während die Steuerunterlagen im Staatsarchiv Augsburg und die Kirchenbücher im Bistumsarchiv Augsburg [im Folgenden: BA] bis 1875 zugänglich sind, ist die lokale Überlieferung der Gemeinden Ob und Reinhardsried/Kraftisried kompliziert. Das für Ob zuständige Stadtarchiv in Kaufbeuren verfügt lediglich über Familienstandsbögen, in denen Personen bei einem Aufenthalt in Kaufbeuren vermerkt wurden. Die Unterlagen des Dorfes Ob und der übergeordneten Gemeinden Bidingen und Bernbach lagern unsortiert in einem Aktenraum des Rathauses in Bidingen und wurden für die Untersuchung freundlicherweise freigegeben. Der Bestand dieses »Gemeindearchivs« Bidingen wird im Folgenden als GAB abgekürzt. Die Gemeindeüberlieferung von Reinhardsried und Kraftisried wird ehrenamtlich betreut und verfügt über keine Unterlagen zum Untersuchungszeitraum. Herrn Wilhelm Weber danke ich für seine diesbezügliche Recherche. 48 Vgl. Burghartz und Tanner. Für die vorliegende Untersuchung wird das damit verbundene Forschungsprogramm vor allem als Haltung gegenüber dem Untersuchungsobjekt und als Art der Fragestellung interpretiert und nicht über den Untersuchungsgegenstand definiert, vgl. Medick: Quo vadis. 49 Klassisch: Thompson. 50 Die Multiperspektivität der Akteure wurde von der Historischen Anthropologie immer betont. Zusätzliche Anregungen bieten die Literaturwissenschaften; inspirierend Nünning/Nünning: Multiperspektivisches Erzählen.

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Anlehnung an die Foucaultsche Tradition die Gesamtheit der zeitgenössisch logisch und angemessen erscheinenden sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen verstanden.51 Es gilt, sowohl nach einer zeitgenössischen sozio-kulturellen Praxis als auch nach den Bedeutungen, die Menschen ihren Handlungen zuschrieben, zu fragen.52 Dies heißt, die juristischen Regeln und Begrifflichkeiten zu dekonstruieren – selbst wenn es sich um bis heute übliche Verfahrensweisen oder Fachtermini handelt.53 Für die Dekonstruktion ist jedoch zunächst eine Rekonstruktion der juristischen Logiken notwendig. Es ist daher ein Ziel der Arbeit, die juristischen Vorschriften für den Justizalltag darzustellen, um sie auf dieser Grundlage historisieren zu können. Die Begriffe »Recht«, »Gericht« und »Justiz« sind im allgemeinen Sprachgebrauch relativ opak und umfassen neben einem Regelsystem auch eine staatliche Institution, einen thematischen Diskurs, eine berufliche Personenkonstellation und einen topographischen Ort. Im Folgenden wird daher mit »Gericht« und »Justiz« im Sinne des space ein gedachter Ort des Handelns bezeichnet, der neben Berufsjuristen und Verfahrensregeln auch den zugehörigen Diskurs umfasst. Ist das »Gericht« im Sinne eines place als physikalischer Ort gemeint, dann wird entweder von »Gerichtsgebäude« oder »Gerichtssaal« gesprochen.54 Angelehnt an das bislang vorrangig von der Frühneuzeitforschung rezipierte Modell des dispute processing wird darüber hinaus im Gerichtsverfahren nur eine von vielen Möglichkeiten gesehen, die gesellschaftlich zur Konfliktbeilegung zur Verfügung standen.55 Dieses Konfliktmodell ist nicht linear, die Stufe des Konflikts kann übersprungen werden, eine De-Eskalation ist auf jeder der Stufen ebenso möglich wie eine Vermengung mit anderen Konflikten. Das Konzept des dispute processing betont das prozedurale Element der sozialen Auseinandersetzung und die gesellschaftliche Einbettung des Strafprozesses. Es wendet sich von strukturfunktionalistischen Ansätzen ab, in denen aus der Beziehung zwischen Konfliktparteien zwingende Schlüsse auf deren Streitschlichtungsstrategien gezogen wurden.56 Auch muss das Ziel einer gerichtlichen Auseinandersetzung nicht primär in der Lösung des infrage stehenden Konfliktes liegen57 – eine These, die in ähnlicher Form in der deutschen Forschung unter dem Begriff der »Justiznutzung« bekannt 51 Vgl. die einschlägigen Überblicke Landwehr und Sarasin, gestützt auf Foucault: Archäologie, und ders.: Ordnung. 52 In den letzten Jahren wurde der linguistic turn methodisch durch eine Rückkehr des Materiellen erweitert, vgl. Canning und die Darstellungen der als graduellen Wandel zu begreifenden nachfolgenden turns bei Bachmann-Medick. 53 Zum ethnologisch geprägten Blick Medick: Missionare im Ruderboot. 54 Lefebvre, S. 1–67; trotz des französischen Grundlagentextes des spacial turns wird hier auf die etablierten englischen Begriffe zurückgegriffen. Soweit nicht anders angegeben beziehen sich die Begriffe »Recht«, »Gericht« und »Justiz« im Folgenden auf die Strafjustiz. 55 Vgl. zum dispute processing grundlegend Nader/Todd, v.a. S. 4–16, soweit nicht anders angegeben. Auch für staatsseitig eingeleitete Verfahren gilt die prozedurale Dynamik der weiteren Verfahrensschritte. 56 Nader: The Life of the Law, S. 51. 57 Nader/Todd, S. 21.

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geworden ist.58 Recht wird dabei in einem andauernden, machtdurchzogenen, konfliktreichen und vielschichtigen Aushandlungsprozess von einer Vielzahl an Akteuren produziert und performativ inszeniert.59 Dennoch soll der Blick auf die individuellen Handlungsoptionen nicht die sozialen, historischen und politischen Bedingungen vergessen machen.60 Die gerade in der Justiz zu beobachtende Dominanz des Formalen sowie die dominierende Stellung der Juristen setzten dem Aushandlungsprozess Grenzen. Nicht über alles ließ sich verhandeln, wenige Handlungen waren wirklich disponibel, das materielle Ergebnis eines Prozesses häufig kaum abzuändern. Doch gerade die Frage, wo die Grenzen des akzeptablen Verhaltens im Gericht zu ziehen waren und welche Bedeutung einer Handlung innerhalb des juristischen Feldes zukam, war umstritten und bildete den Kern von Debatten und Konflikten. Die Gerichtsakten enthalten entsprechend konkurrierende Perspektiven sowie mehrere Analyse- und Zeitebenen.61 Wie sich das zugrundeliegende Ereignis tatsächlich abgespielt hat, ist für die hier vorgenommene historische Analyse nicht ermittelbar und weitgehend unbedeutend.62 Die Schilderungen sind vielmehr als Deutungen der Aussagenden zum Zeitpunkt der Protokollierung anzusehen und geben Aufschluss über die als adäquat angesehene Darstellung und Kontextualisierung. Gleichzeitig dokumentiert die Gerichtsakte explizit und implizit einen Teil der Handlungen, die um ein gerichtliches Verfahren herum erfolgten, und ermöglicht damit eine Rekonstruktion der Logiken und Strategien, derer sich Juristen und Nichtjuristen bedienten. Der Fokus der Arbeit liegt damit auf der Bedeutung und Funktion des Strafgerichts in seiner zeitgenössischen Wahrnehmung. Neben der Beantwortung der Forschungsfragen ist es auch ein Anliegen der Studie, einen Überblick über die Abläufe der Verfahren, die Laufbahnen der Juristen oder die räumliche Ausgestaltung der Gerichtsgebäude zu geben. Anders formuliert: Für die Frage, wie ein Strafverfahren im Kaiserreich typischerweise ablief, ist etwa die Feststellung, dass Gerichtshandlungen in einer Gaststätte stattfanden, nicht nur Ausgangslage für weitergehende Analysen, sondern ein empirischer Befund, der einen informatorischen Eigenwert besitzt. Zu der Kulturgeschichte der deutschen Strafjustiz gehört es somit auch, ein plastisches Bild der Justiz im Kaiserreich zu liefern.63 Die Kulturgeschichte der deutschen Strafjustiz geht dem Verhältnis von Justiz und Gesellschaft, von Macht und Wandel in drei Schritten nach: Im ersten Teil werden für die Zeit zwischen 1879 und 1924 Regeln und Logiken der Justiz re58 Der Begriff geht zurück auf Dinges; im Überblick: Schwerhoff : Aktenkundig, S. 90 f. 59 Das zugrundeliegende Modell des Doing Recht von Habermas: Diebe vor Gericht, S. 19–22, ist wesentlich inspiriert von Foucault: Wahrheit. 60 Vgl. das mahnende Plädoyer von Mather. 61 Zur Quellenkritik ausführlicher Kap. I.2. 62 Habermas: Diebe vor Gericht, S. 24. 63 Hier besteht eine methodische Analogie zur neueren Biographieforschung, die über das Leben der analysierten Person Auskunft zu geben sucht, obwohl diese als Prisma einer Gesellschaftsanalyse genutzt wird. Vgl. dazu: Maynes u. a.

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und dekonstruiert, wie sie die zeitgenössischen Juristen in ihrer Fachliteratur formulierten oder in den bayerischen Gerichtsprozessen exemplarisch zum Ausdruck brachten. Diese Analyse umfasst die wesentlichen Elemente der Strafjustiz – die Akteure, die vorgesehenen Prozessabläufe, -ziele und -zuständigkeiten sowie die zentralen Handlungen der Gesetzesauslegung und Aktenanfertigung. Dabei wird eine Logik der Juristen deutlich, die zwischen Form und Inhalt scharf trennte. Das Ziel der Wahrheitssuche und das Primat des formal korrekten Vorgehens konnten in einem Spannungsverhältnis stehen. Es lässt sich zeigen, dass die Berufsjuristen in zunehmendem Maße betonten, als einzige mit den Anforderungen einer modernen Justiz angemessen umgehen zu können. Durch zahlreiche Abgrenzungsdiskurse gegenüber den »Laien«64 schärften sie eine professionelle Identität, die sich über formale Bildung, Männlichkeit und Erfahrung definierte und eine herausgehobene Stellung im Prozess wie in der Gesellschaft beanspruchte. Mit der Analyse der juristischen Handlungsweisen bei der Anfertigung und dem Umgang mit der Gerichtsakte sowie bei der Auslegung von Gesetzen wird darüber hinaus auch die Grundlage für eine Quellenkritik gelegt, die zeigt, wie die Vielstimmigkeit der Akteurinnen und Akteure fruchtbar gemacht werden kann. Dass es sich bei der Justiz trotz dieser Eigenlogik der Juristen um keine von der Gesellschaft zu trennende Sphäre handelte, wird im zweiten Teil der Studie vertieft. Die Analyse der reichsweiten rechtspolitischen Debatten in den Reihen der Emanzipationsbewegungen, der Medien sowie der religiösen Gruppen und Kirchen zeigt, dass es konkurrierende Bilder darüber gab, welche Bedeutung und Funktion der Strafjustiz zukam oder zukommen sollte, die aber durch die Fachvorstellungen geprägt waren. Zentral für den zweiten Teil ist die auch anhand von lokalen Medien und Gerichtsakten getroffene Feststellung, dass die Öffentlichkeit der Verhandlungen ein Wissen in der Bevölkerung erzeugte, das rechtspolitische Partizipationsforderungen hervorbrachte und erfolgreich werden ließ. Dabei geriet das Verhalten der Bevölkerung in Konflikt mit den Juristen, die ihre eigene Vormachtstellung gefährdet sahen. Der Streit um die Machtverteilung im Staat zwischen Emanzipationsbewegungen, Kirchen und einer bürgerlichen Elite rief neue Abgrenzungen durch die Juristen hervor und ließ das Konzept der Öffentlichkeit in die Kritik geraten. Der dritte Teil der Studie schließlich zeigt, wie stark die Strafprozesse im Alltag durch strukturelle Machtasymmetrien zuungunsten der »Laien« geprägt waren und dass diese dennoch in den gesetzten Grenzen erfolgreich ihre Interessen vertreten konnten. Das anhand der bayerischen Fallbeispiele ermittelte vielfältige Handlungsrepertoire umfasste dabei nicht nur die von den Juristen formal vorge64 Trotz der problematischen Begriffsgeschichte, die im Untersuchungszeitraum als diffamierende Bezeichnung einsetzt (Kap. I.3.1.3), wird im Folgenden zur Vereinfachung der Begriff des Laien benutzt. Er bildet dabei das Gegenstück zu den Berufsjuristen, also einer Personengruppe, die als Professoren, Staatsanwalt, Richter oder Anwalt mit der Justiz dauerhaft verbunden war und in den Akten in der entsprechenden Rolle auftrat. Die »Laien« können im Einzelfall durchaus Juristen sein und werden zur Distanzierung vom zeitgenössischen Begriff ausschließlich in Anführungsstrichen verwendet.

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sehenen Verfahrensweisen, was jedoch von den zeitgenössischen Juristen wie auch der historischen Forschung bislang übersehen wurde. Diese Handlungen sollen nicht analog zur juristischen Definition als listige oder illegale Praktiken, sondern als Erweiterung des Handlungsfeldes betrachtet werden. Im Ergebnis zeigt sich ein selbstbewusstes Auftreten der »Laien«, die in überraschendem Maße über die juristischen Logiken und ihre eigenen Rechte im Verfahren informiert waren: Das Gericht war nicht nur ein akzeptierter, sondern es war gerade auch für Personen mit geringem sozialen Kapital ein zuweilen hilfreicher Ort der Konfliktaustragung. Im Fazit werden die zwei Leitthesen der Arbeit zusammenfassend diskutiert: Die am Beispiel der Justiz zu beobachtenden Konflikte zwischen einer Elite und der breiten Bevölkerung werden als Ausdruck zeitgenössischer Gesellschaftskonflikte interpretiert. Zu betonen sind dabei insbesondere die Inklusion breiter Bevölkerungsschichten und deren Partizipationsansprüche sowie die komplexe Entwicklungslinie gesellschaftlicher Reformprozesse. Durch den kulturhistorisch geprägten, erweiterten Blick auf die Akteure und die bislang nicht vorliegende Tiefe in der Analyse der Alltagsjustiz zeigt sich, dass die Bevölkerung, anders als Friedmann es im einleitenden Zitat einschätzte, trotz aller Hürden über ein breites Wissen über die Strafjustiz verfügte, ihre Rechte selbstbewusst einforderte und die Justiz als selbstverständlichen und legitimen staatlichen Ort der Konfliktlösung auch bei scheinbar geringfügigen Anlässen nutzte. Das Kaiserreich sah Staatsbürger vor Gericht, wo Juristen Untertanen erwarteten.

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Teil I

Das Selbstbild der Strafjustiz im Kaiserreich und in der frühen Weimarer Republik

Die Strafjustiz des Kaiserreichs wurde von den Berufsjuristen dominiert: Sie schrieben die Gesetze und wandten diese an. Sie definierten die Regeln des Sag- und Machbaren, das Ideal gerichtlicher Verhandlungsführung und adäquaten Verhaltens. Zentral für das juristische Selbstverständnis war dabei ein Anspruch auf Wahrheit, der zwischen dem aufzudeckenden Ereignis und einer durch ein ritualisiertes Verfahren zu ermittelnden Näherung unterschied, was besonders bei den für die Studie empirisch grundlegenden Meineidsverfahren deutlich wird. In ihren Logiken und Identitätsdebatten diffamierten Juristen andere Sichtweisen als unzulänglich. Doch divergierende rechtspolitische Leitbilder führten innerhalb der Juristen zu anhaltenden Reformdebatten und wirkten sich auch bei der täglichen Anwendung der Gesetze aus. Die durch den Auslegungsspielraum des Gesetzes zum Tragen kommende Handlungsvielfalt zwingt zu einem sensibilisierten und differenzierten Umgang der historischen Forschung mit juristischen Fachtexten dieser Zeit. Dieser dekonstruktivistische Blick auf die Quellen lässt auch bei den Gerichtsakten die Vielstimmigkeit der Akteure wieder zum Vorschein kommen, die durch die juristischen Verfahren gerade zugunsten einer homogenen Erzählung in den Hintergrund gedrängt wurde. Die Analyse der juristischen Techniken und Handlungen sowie der elementaren Rollenbilder lässt abschließend das personelle Selbstverständnis der Juristen deutlich werden. Ihre Identität definierte sich über formale Bildung, bürgerliche Männlichkeit und Erfahrung und grenzte sich von weiblichen Juristen, Rechtskonsulenten und »Laien« immer schärfer ab. Der Professionalisierungsanspruch war dabei Ausdruck einer verunsicherten Elite, die ihre Stellung nach außen mit Verweis auf ihre »Erfahrung« und »Professionalität« zu sichern suchte und sich intern um Details der Identität stritt. Angesichts ihrer privilegierten Stellung im juristischen Feld ist die Dekonstruktion ihres Justizmodells bereits Teil der empirischen Analyse und zeigt, wie die Juristen im Strafverfahrensrecht ihre individuelle und kollektive Macht verhandelten.

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1. Wahrheit und Form als widerstreitende Verfahrensziele

Die juristische Aufgabe eines Strafgerichts – so könnte man meinen – sei einfach zu definieren und habe darin bestanden, Personen, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatten, zu einer Strafe zu verurteilen. Dass diese Aufgabe jedoch zahlreiche Variablen enthält, hat die Forschung mit Verweis auf die soziale Konstruktion von Delinquenz,1 das Rückwirkungsverbot,2 den Wandel von Strafzweck und -form sowie die Notwendigkeit einer eindeutig zurechenbaren persönlichen Schuld3 detailliert aufgezeigt. Auch die Suche nach der »Wahrheit« als Ziel eines Strafprozesses bedarf weiterer Präzisierungen. Im Strafverfahrensrecht des Kaiserreichs wurde davon ausgegangen, dass es eine eindeutige Wahrheit über das infrage stehende Geschehen gebe, die von den Juristen als »materielle Wahrheit« bezeichnet wurde.4 Das Ziel der vor Gericht vorgenommenen Untersuchung war eine »›juristische‹ Gewißheit, welche so hohe Wahrscheinlichkeit in sich trägt, daß es unvernünftig wäre, der entgegengesetzten Annahme zu folgen.«5 Die Suche nach der juristischen Wahrheit kann als eine Technik der Homogenisierung und Komplexitätsreduktion beschrieben werden. Jeder einzelne Verfahrensschritt – von der Anzeige bis zum Urteil – löste die infrage stehenden Geschehnisse aus ihren sozialen Kontexten, ordnete sie in ein juristisches Raster von Relevanzkriterien ein und überdeckte konkurrierende Erzählungen.6 Die juristische Suche nach der ›Wahrheit‹ musste die gesetzlichen Vorschriften über die Ausgestaltung des Strafverfahrens unbedingt befolgen. Nur dies schuf eine legitime, »formelle Gewissheit«,7 die idealerweise möglichst deckungsgleich 1 Schwerhoff : Aktenkundig, S. 77 f. Ein konstruktivistischer Kriminalitätsbegriff lag der Justiz im 19. Jahrhundert jedoch nicht zugrunde. Hier galt Kriminalität als eine Handlung, an die strafrechtliche Sanktionen geknüpft waren. Vgl. Kesper-Biermann, S. 15. 2 Schreiber. 3 Kaufmann; zur Geschichte des Strafens vgl. oben. 4 Geyer: Beweis, S. 187–193. Der Begriff findet sich etwa bei von Schwarze: Rechtsmittel, S. 242, und Binding: Grundriss (1881), S. 113. 5 Geyer: Beweis, S. 191. 6 Vgl. Habermas: Diebe vor Gericht, S. 75–161, deren Analyse auch auf das Kaiserreich übertragen werden kann. Die Kontextualisierung gilt bis heute als wesentlicher Unterschied zwischen juristischer und historischer Erkenntnis; Ginzburg: Richter, S. 97 f. 7 Der Begriff wird etwa verwendet bei Heinze, S. 26.

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mit der »materiellen Gewissheit« sein sollte.8 Die Wahrheitssuche als Kern des Verfahrens wurde durch Rituale, Symbole und Regeln betont. War das Urteil rechtskräftig, verblasste die »materielle« hinter der »formellen Wahrheit«, die nun nahezu absolut gesetzt wurde. Dies fand seinen Ausdruck insbesondere darin, dass das Strafverfahrensrecht des Kaiserreichs Berufungsverfahren fast nur bei formellen Fehlern zuließ. Hinweise, dass die Ereignisse sich anders abgespielt haben könnten, oder neue Beweise waren hingegen kein Grund, ein Urteil überprüfen zu lassen.9 Das Primat des formal korrekten Verfahrens konnte im Spannungsverhältnis zur Aufklärung einer Straftat – zur Wahrheitssuche – stehen. Die widerstreitenden Leitbilder der Juristen – die ›Inquisition‹ und das ›Parteiverfahren‹ – räumten denselben jeweils unterschiedliche Bedeutungen ein. Im Kaiserreich resultierten daraus Reformdebatten, in denen keine der Seiten durchgehend diskursdominant war. Die Differenzen führten auch in der Rechtspraxis zu konkurrierenden Handlungsoptionen. Dieser Auslegungsspielraum war für die Machtverhältnisse im Gerichtsprozess von eminenter Bedeutung und verlangt einen methodisch sensibilisierten Umgang bei der historischen Rekonstruktion von Rechtspraktiken.

1.1 Die Suche nach der Wahrheit Bestand das Ziel eines Gerichtsprozesses im Kaiserreich in einer Suche nach den tatsächlichen Ereignissen, so musste sichergestellt werden, dass die Indizien und Aussagen dies auch ermöglichten. Hierzu gehörte neben einer sich immer weiter ausbildenden kriminalistischen Methode im Umgang mit Sachbeweisen der Anspruch, dass die Beteiligten ihr Wissen vollständig und wahrhaft mitteilten.10 Die Juristen hatten über die Jahrhunderte Kriterien entwickelt, um zu entscheiden, ob die Aussage einer Person glaubwürdig war.11 Insbesondere aber versuchten sie, Zeuginnen und Zeugen sowie Angeklagte dazu zu bringen, in ihren Aussagen keine falschen Angaben zu machen. Bei den Angeklagten war man im Kaiserreich davon abgerückt, sie durch die direkte Androhung von Sanktionen vom Lügen abzuhalten, galten die früheren Lügenstrafen doch insbesondere Reformern wie Franz von Liszt als Form oder Ersatz der Tortur.12 Indirekt jedoch wurde auch 8 Die Unterscheidung des »Formellen« und »Materiellen« ist für die juristische Begrifflichkeit des Kaiserreichs ebenso üblich wie heute. Zur Verdeutlichung der beiden Wahrheitsbegriffe und um die Analogien zur grundsätzlichen juristischen Unterscheidung dieser beiden Ebenen deutlich zu machen, wird an dieser Stelle die juristische Begrifflichkeit als Beschreibungskategorie übernommen. 9 Kern, S. 127, und Wilhelm, S. 62 f. 10 Vgl. Becker: Täter auf der Spur; und ausführlicher: Kap. III.1 und III.2. 11 Die juristische Unterscheidung zwischen »Glaubwürdigkeit« einer Person und »Glaubhaftigkeit« einer Aussage wird im Weiteren nicht übernommen, sondern unter dem alltagssprachlichen Begriff der Glaubwürdigkeit subsummiert. 12 Zur Geschichte der Lügenstrafen Mauss.

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weiterhin der Anspruch erhoben, dass Angeklagte bei ihren Aussagen nicht lügten. Explizit beibehalten war der Anspruch an die Zeuginnen und Zeugen, durch ihre Aussage bei der Wahrheitssuche mitzuwirken. Die Zeuginnen und Zeugen wurden unter Einhaltung von Formalien zu ihrer gerichtlichen Aussage einbestellt – sie erhielten in juristischen Worten eine ›Vorladung‹. Sie waren gesetzlich verpflichtet, zu erscheinen und ihr Wissen vollständig und wahrheitsgemäß darzulegen. Eine analoge Pflicht bestand nicht gegenüber der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder Anwälten.13 Unentschuldigtes Ausbleiben oder Schweigen wurde mit Strafen belegt; zusätzlich konnte versucht werden, eine Aussage etwa durch Haft zu erzwingen. Ausgenommen von der Pflicht zur Aussage, nicht jedoch vom Erscheinen, war ein eng umrissener Personenkreis, dessen familiäre Bindungen oder berufliche Verpflichtungen nicht zu Loyalitätskonflikten führen sollten. Die Aussage durfte auch verweigert werden, wenn sich die betreffende Person selbst eines Vergehens beschuldigen würde.14 Als Entschädigung für ihren Zeitverlust und die Reisekosten erhielten die Zeuginnen und Zeugen – nicht aber die Beschuldigten – eine Zeugengebühr.15 Als Druckmittel zur wahrheitsgemäßen Aussage wurde der Zeugen-Eid angewendet. Während dem Eid im Zivilverfahren eine Funktion als Beweis zukam,16 sollte der Eid im Strafverfahren die Wahrheit zum Vorschein bringen. Entsprechend hielt das Gerichtsprotokoll dann fest: »Zur Herbeiführung einer wahrheitsgemäßen Aussage wird vereidigt«. Entsprechend war nicht die falsche Aussage an sich, sondern der Eidbruch strafrechtlich sanktioniert.17 Die Bedeutung des Eides wurde durch rituelle Handlungen abgebildet; dabei bestand konzeptionell wie auch performativ eine essentielle Verknüpfung mit dem Religiösen. Seit 1879 wurde die Vereidigung der Zeugen in Strafverfahren in der Form durchgeführt, dass alle Anwesenden aufstanden18 und der Zeuge und die Zeugin19 mit erhobener rechter Hand die Eidesformel des Paragraphen 61 der Reichsstrafprozessordnung, die ihnen der Richter vortrug, nachsprachen: »daß der Zeuge nach bestem Wissen die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde.« Bei dieser Gelegenheit sei es zu einer hohen Anzahl an 13 Zu den Details der Vorladung vgl. Kap. III.1.1. 14 Geyer: Beweis, S. 265–281; Binding: Grundriss (1881), S. 106, 113–119. Vgl. zum Verweigerungsrecht auch Feddersen, S. 71 ff. 15 Vgl. die Orts-Entfernungstabelle samt Gebühren-Berechnung für Sachverständige, Zeugen und Geschworene für das Amtsgericht Oberdorf aus dem Jahre 1864 (StAA Rentamt Marktoberdorf : 1178). Dies kann auch der Quittierung von Gebühren entnommen werden, vgl. exemplarisch StAA LG Ke - SK: 21/1902, Vernehmungen am 10.6., 25.6. und 20.9.1902. 16 Durch einen Schwur konnte man sich etwa vom Verdacht der Vaterschaft befreien, wenn es keine anderen Beweise als die Aussage der Kindsmutter gab. 17 Exemplarisch von Slupecki, S. 26; Hamburger, S. 364. Die Strafbarkeit der falschen Aussage wurde im gesamten Untersuchungszeitraum angestrebt, aber erst 1943 normiert, vgl. Vormbaum: Meineid, v.a. S. 1, 81–84, 91, 95 f. 18 Kade: Recht auf Wahrheit, S. 15. 19 Vor 1879 hatten einzelne Prozessordnungen geregelt, dass Frauen die Hand aufs Herz legen sollten, vgl. Brandt, S. 13–15, was die Reichstagskommission bei der Kodifikation bewusst ablehnte, vgl. Hahn: Materialien, S. 596.

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Versprechern gekommen, was die Bindungskraft des Eides nicht mehr senkte,20 jedoch aus Sicht der Juristen den feierlichen Verlauf der Sitzung störte.21 Eine insgesamt mangelnde Feierlichkeit wurde durch einzelne Juristen und insbesondere religiöse Kreise bemängelt, die stärkere staatliche22 oder religiöse23 Rituale einforderten: Man verwies darauf, dass in – nicht genau definierten – ›früheren‹ Zeiten zunächst die Geistlichen die Zeuginnen und Zeugen über die Bedeutung des Eides belehrt hätten. Die Vereidigung selbst sei dann vor einem schwarz verhangenen Tisch erfolgt, auf welchem zwischen zwei brennenden Kerzen ein Kruzifix und die Bibel gelegen habe.24 Die Eidesformel sei in bedächtiger und feierlicher Form gesprochen worden, so dass auch der »unbeteiligte Zuhörer vom Ernste der Handlung ergriffen wurde.«25 Diese von Reichenbach beschriebenen Handlungen scheinen tatsächlich einer Verordnung des preußischen Königs vom 8.1.1840 zu entsprechen, an deren Anwendung jedoch bereits 1844 gezweifelt wurde.26 Die Religiosität der Aussage wurde in der ersten Jahrhunderthälfte durch konfessionelle Unterscheidungen betont: Während Katholiken ihren Schwur vor einer Bibel, einem Kruzifix und Kerzen ablegen sollten, würden Protestanten lediglich vor einem aufgeschlagenen Evangelium schwören. Beiden gemeinsam seien jedoch die erhobenen drei Schwurfinger.27 Dass die Belehrung nach 1879 durch den Richter und ohne derartig aufwändige Zeremonien erfolgte, wurde in der zeitgenössischen Debatte als wesentliche Ursache für den im vermeintlich zunehmenden Eidbruch zum Ausdruck kommenden Verlust an wahren Aussagen vor Gericht gesehen.28

1.1.1 Religion als Fundament der juristischen Wahrheitssuche Auch wenn die religiöse Ausgestaltung im Kaiserreich weitgehend beseitigt war, blieb der Gerichtseid konzeptionell mit der religiösen Bedeutung verbunden. Denn trotz divergierender Traditionen in den Ländern hatten sich bei der Kodifikation der Reichsstrafprozessordnung die Anhänger der religiösen Eidesformel durch-

20 Vgl. Hellwig: Aberglaube, S. 512, und ders.: Mystische Zeremonien. Die von ihm zusammengetragenen ›abergläubischen‹ Praktiken dürften ihren Ursprung im mittelalterlichen Christentum haben, demzufolge Eide eine »rituelle Exaktheit« zwingend benötigten, vgl. Esders/Scharff, S. 23; Crosby, S. 222; Hofmeister, S. 222. 21 Kulemann: Eidesfrage, S. 74 f.; Bartolomäus: Fassung des Zeugeneides, S. 136. 22 Reichenbach: Eidesfrage, S. 55. 23 So Forderungen der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft 1887, vgl. Schauz, S. 268 f. 24 Hierbei handelte es sich offenbar um die Alternative zum Schwören in der Kirche, bei welchem vor dem Altar gekniet wurde, vgl. Bähr, S. 290. Zu noch älteren Traditionen vgl. Bauer, S. 30 f. 25 Reichenbach: Eidesfrage, S. 18. 26 Offene Gedanken 1844: S. 90 und 92. 27 Von Jagemann, S. 532 f. 28 Reichenbach: Eidesfrage, S. 23 f.

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gesetzt.29 Orientiert an den preußischen Vorschriften enthielt der Gerichtseid im Kaiserreich einen einleitenden und abschließenden Gottesbezug:30 Der Schwur begann mit den Worten »Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden« und endete mit dem Zusatz »So wahr mir Gott helfe« (§ 62 RStPO). Gegner einer religiösen Schwurformel wie der Nationalliberale Eduard Lasker hatten bereits während der Kodifikation versucht, eine Verkürzung der Formel auf ein einfaches »Ich schwöre« zu erreichen,31 und Sozialdemokraten und Freireligiöse wurden nicht müde, eine ›Laisierung‹ der Eidesformel einzufordern und sandten zahlreiche Petitionen an Landtage und den Reichstag. Doch auch wenn die Forderung nach einer fakultativen oder vollständigen Umwandlung der Eidesformel große publizistische Aufmerksamkeit fand, gelangte sie im Reichstag nicht zur Verhandlung.32 Erst die Weimarer Verfassung schaffte den Zwang zur religiösen Eidformel formal – wohl nicht faktisch33 – durch Art. 177 vorübergehend ab.34 Die anhaltende politische Auseinandersetzung um den religiösen Gerichtseid macht dabei dreierlei deutlich: Erstens war die Justiz für weite Teile der Gesellschaft konzeptionell noch immer untrennbar mit einem religiösen Fundament verbunden; zweitens hatte die religiöse Konnotation konfessionelle Differenzierungen und richtete sich vermehrt gegen die jüdische Bevölkerung; drittens wurde in dieser Auseinandersetzung auch das grundsätzliche Verhältnis von Kirche bzw. Religion und Staat verhandelt. Über Jahrhunderte hatte sich die christliche Theologie mit dem Schwur beschäftigt.35 Seit dem Spätmittelalter lag der Fokus dabei auf dem Druck, durch die Auskunft das Seelenheil nicht zu gefährden.36 In der Anwendung bedeutete dies vor allem, dass der Eid durch seine Rückbindung an Gott alle bestehenden weltlichen Loyalitäten und Ängste überwinden und dadurch der Wahrheit zur Geltung verhelfen würde.37 Im Zuge der aufklärerischen Debatte wurde eine Vorstellung verbreitet, die in ihm ein weltlich-staatliches Instrument zur Wahrheitserforschung sehen wollte.38 Als zentral kann insbesondere die Kritik gelten, welche Immanuel

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Kulemann: Eidesfrage, S. 10–12. Zur Debatte vgl. Hahn: Materialien, S. 595 f. Vormbaum: Judeneid, S. 189 f. Prüfer, S. 124, Fn. 339. Ebd., S. 123. Petitionen ergingen 1872, 1873, 1874, 1880, 1881, 1882, 1887, 1892, 1898, 1905, 1910, vgl. u.a. Reichstagsprotokoll 5.4.1905, Bd. 1903/05.8, S. 5872–5875; Reichstagsprotokoll 15.1.1910, Bd. 1909/10, S. 565. So jedenfalls: Vormbaum: Meineid, S. 97–101. Zwischen 1945 und 1972 war der Gottesbezug dann erneut zwingend, vgl. Müller: Religion und Strafrecht, S. 212 f. Zur Geschichte des Eides im Folgenden Esders/Scharff, S. 23–30, Crosby, S. 222–237. Zu den theologischen Aspekten vor allem Gensichen u. a.; Hörl, S. 7–44; Holenstein: Seelenheil. Ebd., S. 61, der sich auf Prodi bezieht. Esders/Scharff, S. 11–47, v.a. 28 f. Holenstein: Seelenheil, S. 56. Vgl. zur »Eideskrise« Gensichen u. a., S. 392. Grundlegend zur aufklärerischen Debatte um den politischen Eid Prodi, S. 375–406.

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Kant in mehreren seiner Schriften am Gerichtseid äußerte.39 Er beklagte, der religiöse Eid zwinge den Menschen, sich öffentlich zu einem Glauben zu bekennen, unabhängig von seiner persönlichen Überzeugung. Diesen ›Gewissenszwang‹ nannte Kant eine »tortura spritualis«, Geistesfolter – offenkundig eine rhetorische Überspitzung in Anlehnung an die zeitgenössische Abkehr von der peinlichen Befragung. Zwar blieb die aufklärerische Kritik an der Religiosität der Justiz nicht ohne Wirkung, und aus dem Eid wurde konzeptionell eine sittliche Selbstverpflichtung, deren Bruch ein Staats- und nicht länger Religionsdelikt darstellte.40 Dennoch führte ein Erstarken religiöser Strömungen unter Juristen,41 für die der christliche Glaube als Richtschnur des bürgerlichen Staates galt, zur einer wachsenden juristischen Bedeutung des Meineides.42 Denn die neu kodifizierten Strafgesetzbücher im 19. Jahrhundert stellten nicht länger die falsche Aussage an sich, sondern die beschworene falsche Aussage unter Strafe und rückten den Eid statt der Lüge in den Mittelpunkt.43 Es ließ sich somit in der Justiz weder eine Teleologie hin zu einer Säkularisierung noch zur Verkirchlichung beobachten.44 Die aufklärerische Kritik am Gerichtseid schlug sich noch im Kaiserreich auf Seiten der Gegner des religiösen Eides nieder.45 Zum einen wurde dabei religiös argumentiert: Man sah das Kaiserreich als zunehmend religionslosen Staat, bemängelte die serielle und profanierte Vereidigungszeremonie vor Gericht und lehnte den Gerichtseid gerade ab, weil dieser den religiösen Eid herabzusetzen drohe.46 Hierzu zählten insbesondere auch die in aufklärerischer Tradition stehenden Freikirchen,47 die die konzeptionelle Idee des Schwurs aus theologischen Gründen ablehnten und in Beschlüssen, Publikationen und Petitionen massiv dagegen arbeiteten.48 Als Verstoß gegen die Gewissensfreiheit sahen ihn zum anderen jene, die 39 Hüning; Twellmann, S. 219–229; Holenstein: Seelenheil, S. 46–49. 40 Ebd., S. 49 f.; Hörl, S. 33–35. 41 Haferkamp, der hierzu Moritz August von Bethmann-Hollweg, Friedrich Bluhme, Clemens Theodor Perthes, Georg Friedrich Puchta, Friedrich Julius Stahl, Friedrich W. J. Schelling zählt. 42 Gensichen u. a., S. 390. Vgl. zur Bestrafung des Meineids im Kaiserreich Kap. III.1.2.1. 43 So Hörl, S. 39–44. 44 Vormbaum: Judeneid, S. 191–193, jedoch ohne Quellenangaben für das Kaiserreich. Der Eindruck kontinuierlicher Säkularisierung hingegen bei Niehaus: Tortura spiritualis, S. 132 f.; Bergfeld, S. 161; Holenstein: Seelenheil. Die Darstellung bei Müller: Religion und Strafrecht, S. 208–213, lässt die Entwicklungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts leider aus. 45 Mit explizitem Bezug auf Kant und die aufklärerische Eiddebatte Kade: Recht auf Wahrheit, S. 33–42; ders.: Abschaffung; Geyer: Beweis, S. 288; Bähr, S. 290. 46 So Kade: Recht auf Wahrheit, u.a. S. 43–46, hier 48; Thiele, S. 204 f.; Appelius, S. 239–241. Kritisch im Bezug: Bauer. Für eine Abschaffung der Eide auch der Kirchenrechtler Meyer auf der evangelischen Kirchenkonferenz 1892, die ihm darin folgte, vgl. Hubrich, S. 129 f., und Kulemann: Eidesfrage, S. 5–9; sowie das Gutachten Hartlieb. 47 Paletschek, u.a. S. 31–35, 96–103; Hölscher: Frömmigkeit, S. 356–365. 48 Sie lehnten »den Glauben an einen in das Leben und Geschick der Menschen persönlich eingreifenden Gott« ab, welcher aber die Voraussetzung für einen Eid unter der Anrufung – des persönlich strafenden – Gottes bildete; vgl. die Resolution der Süddeutschen freireligiösen Synode vom 11.11.1876, in: Reichenbach: Eid in seinem Wesen, S. 41; ders.: Eidesfrage.

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aus dem Kreis der Sozialdemokraten und Atheisten stammten und im Sinne der Aufklärung eine grundlegende Trennung von Religion und Staat anstrebten.49 Die Gegner des religiösen Eides forderten entweder seine komplette Abschaffung, seine Ergänzung durch einen Zivileid oder wollten die wahrheitsgemäße Aussage stattdessen durch eine einheitliche Bestrafung der uneidlichen Falschaussage befördern.50 Vorstöße, den religiösen Eid abzuschaffen, galten dessen Verfechtern als Beleg für die zunehmende Säkularisierung des Staates, zu welchem gerade auch die Sozialdemokratie beitrüge.51 Gegen eine Laisierung des Eides engagierten sich Juristen und Theologen beider christlicher Konfessionen.52 Ein Verzicht auf die religiöse Beteuerung sollte nur für spezielle christliche Personen – etwa Mennoniten – eingeräumt werden, nicht jedoch anderen Konfessionen oder Konfessionslosen. Eine alternative bürgerliche Formel lehnten sie ab, da bei der Mehrheit der Bevölkerung das moralische mit dem religiösen Gewissen so eng verwoben sei, dass der religiöse Eid besonders geeignet sei, sie zur Wahrheitsangabe zu verpflichten.53 Dass der religiöse Eid eine Gewissensnot herbeiführen könne, bestritten seine Befürworter und wandten sich dabei explizit gegen die aufklärerische Tradition.54 Eine Justiz ohne religiöse Rituale war für sie nicht denkbar. Die Auseinandersetzung um eine Säkularisierung des Eides kreiste im Kern um die Rolle, die der Religion im Staat zukam. Religion meinte dabei jedoch die beiden christlichen Konfessionen, denn die Justiz war kein »konfessionsfreier Raum«.55 Der oben zitierte Gottesbezug, der sich als Kompromiss zwischen den einzelnen Ländern etabliert hatte, überdeckte die konfessionellen Differenzen im Reich. Mit Verweis auf die eigene, vorrangig protestantische Konfession wurde nach einigen Jahren eine Re-Konfessionalisierung ins Gespräch gebracht, die sich im Kern gegen die Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung richtete. Denn nach der reichsweiten Abschaffung diskriminierender Sonderregelungen für die jüdische Bevölkerung regte sich Widerstand.56 Von konservativ-antisemitischer Seite um Hermann Ahlwardt, August Rohling und Adolf Stöcker wurde die Glaubwürdigkeit jüdischer 49 Exemplarisch: Debatte über den Antrag des Deutschen Monistenbundes, Reichstagsprotokoll 15.1.1910, Bd. 1909/10, S. 565. 50 Bartolomäus: Erzwingung; Markus; Kahl; Kade: Abschaffung; Kronecker: lex Salisch, S. 164, mit Verweis auf Binding. Kade: Recht auf Wahrheit, S. 47 f., mit Verweis auf von Liszt: Meineid, S. 14. Zurückhaltender Leisering; kritisch: Meisel. 51 Prüfer, S. 123, zur Ambivalenz der Sozialdemokraten zum religiösen Verfassungseid. 52 Vgl. die von Kade: Recht auf Wahrheit, S. 50–68, aufgeführten Unterstützer. Seiner – protestantischen – Einschätzung zufolge, seien vor allem die Katholiken für die Beibehaltung eingetreten. Die hier ausgewertete Literatur der Katholiken hat diesen Eindruck jedoch nicht bestätigt, sodass es sich hierbei auch um eine bewusste Diffamierung durch den bekennenden Eidgegner Kade handeln könnte. 53 Windelband, S. 161 f. 54 Vgl. Bähr, S. 293; Hubrich, S. 115–120. 55 So auch Blaschke, S. 17, der damit im Widerspruch zu Grimm, S. 183, steht. 56 Zur Auseinandersetzung im Kaiserreich vgl. im Folgenden Vormbaum: Judeneid, S. 201–211, der in seiner Studie insgesamt die Geschichte dieses Eides beleuchtet. Zeitgenössisch: Hubrich; abgeschwächt: Bauer, S. 88; Hartlieb, S. 35; Sohnrey, S. 45.

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Zeuginnen und Zeugen in stereotyper Weise bezweifelt und eine Rückkehr zu früheren Sonderregelungen eingefordert, die dadurch begründet worden waren, dass sich jüdische Zeugen vermeintlich nicht an einen von einem christlichen Richter abgenommenen Eid gebunden fühlen würden. Unter der Chiffre des »konfessionellen Eides« entstanden zahlreiche Petitionen und Debatten, in denen die Wiedereinführung der konfessionellen, ergo: christlichen Eidesformeln gefordert wurde. Man verwies darauf, dass die Wiedereinführung konfessioneller Eidesformeln und -riten ein Mittel sei, die ›Heiligkeit‹ und ›Feierlichkeit‹ wieder anzuheben und damit der angeblich wachsenden Zahl an Meineiden entgegen zu wirken.57 Die Debatte dauerte bis ins 20. Jahrhundert an. Inwieweit eine Gesetzesänderung notwendig war, erschien unklar, bis 1884 das Reichsgericht konfessionelle Zusätze bereits im geltenden Rechtsrahmen explizit erlaubte. Daher ist zu unterscheiden zwischen jenen Ansätzen, welche einen konfessionellen Zusatz ermöglichen und damit Wahlmöglichkeiten schaffen, und jenen, die obligatorische Differenzierungen bei jeder Vereidigung vorschreiben wollten. Der zweite Vorstoß ging dezidiert auf eine antisemitische Initiative zurück und war zumindest 1898 bei der Militärstrafgerichtsordnung auch erfolgreich.58 Zu einem Zeitpunkt, zu dem die jüdische Bevölkerung volle Staatsbürgerrechte erhalten hatte, wurde durch die Hintertür also eine erneute Diskriminierung angestrebt. Die Rechtspolitik war hier aufgrund ihrer religiösen Elemente Teil der gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Emanzipation der jüdischen Bevölkerung geworden.59 Die Auseinandersetzung um die Säkularisierung oder Rekonfessionalisierung des Gerichtseides im Kaiserreich übersetzte den Konflikt, welche Rolle Religion im Staat einnahm, in die konkrete Frage, ob der (christliche) Glaube das unabdingbare Fundament der gerichtlichen Wahrheitsfindung bildete. Während von protestantischer und katholischer Seite auf eine solche Untrennbarkeit verwiesen wurde, wiesen Sozialdemokraten und Freikirchler in aufklärerischer Tradition eine solche Vermengung zurück. Die Kirchen und insbesondere die Sittlichkeitsbewegung machten jedoch deutlich, dass ihnen die konzeptionelle und rituelle Verknüpfung beim Gerichtseid nicht ausreichte. Sie nutzten die Debatte um vermeintlich steigende Meineide, um sich als Experten für die Bekämpfung sinkender Moral und die Erziehung zum Respekt vor staatlicher Autorität zu inszenieren. Denn zunächst waren sich die protestantische Kirche,60 die Sittlichkeitsvereine, die Gefängnisgesellschaften und die Innere Mission mit zahlreichen Juristen einig, worin die Ursachen für steigende 57 Vgl. Reichstagsprotokolle 2.4.1897, Bd. 1897.7, S. 5454 f. und 5462. Die Gleichstellung der Konfessionen war dadurch erfolgt, dass nun alle den seit 1869 in Preußen für Juden vorgesehenen Eid ablegten, vgl. Vormbaum: Judeneid, S. 188 f. Zum Topos der steigenden Meineide vgl. Kap. III.1.2.1. 58 Ebd., S. 203 f. 59 Vgl. exemplarisch zur allgemeinen Debatte Smith: Authoritarian State, S. 309. 60 Die Studien stammen alle aus protestantischer Feder und die stichprobenartig ausgewertete Juristische Rundschau für das katholische Deutschland sowie die Historisch-politischen Blätter enthalten keinen Hinweis auf die Eidesfrage. Eine intensive Aufarbeitung katholischer Sozialarbeit im Rahmen der Caritas steht bisher noch aus.

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Meineide zu suchen seien und was dagegen zu tun wäre: Der Respekt vor christlichen Symbolen, das Wissen über die theologischen Konsequenzen des Meineides seien gesunken, und die neuen Zeremonien seien nicht feierlich genug.61 In der Frage des Eides entwickelte sich daher eine Form des religiösen Lobbyismus, bei dem die Justizministerien und der Bundesrat durch Petitionen zur Senkung der gerichtlichen Eide überschwemmt wurden und der anknüpfungsfähig an die innerjuristische Debatte war.62 Die Kirchen und Vereine erhoben jedoch nicht nur den Anspruch, rechtspolitische Änderungen aktiv herbei zu führen, sondern betonten ihre Kompetenz zur moralischen Erziehung.63 Durch Belehrungen in der Schule, jährliche Eidpredigten, den Konfirmandenunterricht und volkstümliche Schriften sowie die Seelsorge vor Ort sollten Gottes- und Wahrheitsliebe gestärkt und über die theologischen Gefahren des Meineides aufgeklärt werden – insbesondere wenn Gemeindemitglieder zu Gericht müssten.64 In einer Zeit, in der Kriminalität ganz wesentlich auch als Ergebnis sinkender gesellschaftlicher Moral galt, konnte kaum jemand so große Expertise beanspruchen wie die Kirchen und die religiösen Vereine. Gleichzeitig verfügten sie über ein traditionelles Instrumentarium zur Bekämpfung dieses Problems. Im Kern nahmen sie damit für sich eine fundamentale Stellung bei der Stützung der staatlichen Herrschaft in Anspruch. Auch wenn ihnen diese von Seiten des Staates und der Juristen nicht uneingeschränkt eingeräumt wurde, so war die Bedeutung der Religion jenseits aller Säkularisierungstendenzen gerade im Zusammenhang mit dem Gerichtseid und seiner Bedeutung für die Wahrheitssuche weiterhin essentiell. An der Strafjustiz lässt sich somit zum einen die (umstrittene) Religiosität staatlicher Macht auch im Kaiserreich ablesen, zum anderen zeigt sich der Anspruch der Kirchen und religiöser Vereine, den Staat mit zu gestalten.

1.1.2 Die Wahrheit im Meineidsverfahren – Fallbeispiel I aus dem ländlichen Allgäu: Der gestohlene Deichel Das Spannungsverhältnis der beiden juristischen Wahrheitsbegriffe kann durch eine Analyse der zeitgenössischen Debatten um die Eidesleistung und den kaum davon zu trennenden Umgang der Juristen mit Meineidsvorwürfen besonders scharf nachgezeichnet werden. Denn in einem Meineidsverfahren wurden die 61 Vgl. die summarische Auflistung der evangelischen Synodalbeschlüsse bei Kulemann: Eidesfrage, S. 3–5. Zur Ambivalenz der Juristen: Bartolomäus: Erzwingung, S. 416. 62 Vgl. die Darstellung bei HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 13130, Schreiben des bayerischen Justizministeriums vom 13.4.1897. Das entsprechende Gesetz zur Bestrafung auch des uneidlichen falschen Zeugnisses scheiterte letztlich an der Auflösung des Reichstags. Unter Lobbyismus wird in Anlehnung an Lösche, S. 20: »die Beeinflussung von primär staatlichen Repräsentanten […], um im eigenen partikularen Interesse die Gesetzgebung beziehungsweise […] die Implementation der Gesetze mitzugestalten« verstanden. 63 Vgl. Schauz, S. 268. 64 Anonymus: Kampf wider den Meineid, Vortrag Pastor Petersen, S. 29–36, sowie Vortrag Landgerichtsrat Schmidt, S. 5–27, 25; Löwenheim; Kulemann: Eidesfrage, S. 5.

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›materielle Wahrheit‹ einer früheren Aussage und damit die mit dem Eid verbundene ›formelle Wahrheit‹ des gesamten vorhergehenden Verfahrens verhandelt. Das auf Grundlage der beeidigten Aussage gefällte Urteil hatte dabei eine ambivalente Funktion. Einerseits war in ihm bereits eine legitimierte Interpretation der Ereignisse festgelegt, an der die kritische Aussage sich messen lassen musste. Andererseits konnte das Urteil gerade auf einer falschen beschworenen Aussage beruhen, weshalb Meineidsverfahren formal zu Revisionsverfahren des ersten Urteils führen konnten.65 Beide Funktionen des Urteils wurden in Meineidsverfahren in unterschiedlichen Kontexten verwendet. Die erste Logik, welche das gerichtliche Urteil als Maßstab heranzog, lässt sich ausschließlich bei der Erstattung der Anzeige bzw. der Einleitung eines Verfahrens wegen Meineids beobachten. In diesen Fällen wurde die Tatsache, dass ein Zeuge oder eine Zeugin im Verfahren etwas ausgesagt hatte, was im Widerspruch zum später ergangenen Urteil stand, als ausreichender Anhaltspunkt gewertet, um einen ersten Verdacht aufkommen zu lassen. Dieses Vorgehen fand sich insbesondere in jenen Fällen, die von Seiten des polizeilichen oder gerichtlichen Personals – insbesondere des Staatsanwaltes – eingeleitet wurden.66 Darüber hinaus schlug sich diese Argumentation dann nieder, wenn der freigesprochene Angeklagte oder sein Umfeld einen der Belastungszeugen wegen Meineids anzeigten.67 In anderen Fällen hingegen, wurde – mit Rückgriff auf die zweite Logik – argumentiert, dass die Wahrheit des Urteils falsch sei, da es sich auf falsche Eide stütze. Wie in Meineidsverfahren überprüft wurde, ob das vorige Urteil auf richtigen oder falschen Annahmen fußte, welche Wahrheitsbegriffe verwendet wurden, soll nachfolgend am ersten für die Studie maßgeblichen Fallbeispiel illustriert werden. Das Fallbeispiel nahm seinen aktenkundigen Ausgang um die Jahrhundertwende im Weiher Ob, der damals 209 Einwohnerinnen und Einwohner und 37 Wohngebäude umfasste. Der Weiher Ob liegt in der ländlich geprägten Region des Allgäus, gehörte zum Landgerichtsbezirk Kempten und zur politischen Gemeinde Bernbach, war zu 100% katholisch und lag 4,5 km von der Bernbacher Kirche entfernt.68 Die nächstgelegene Gendarmeriestation war bis 1904 in Biesenhofen, einem Ort der etwa neun Kilometer westlich von Ob an der Bahnstrecke zwischen Kempten und Kaufbeuren lag. Die Gendarmerie bestand vermutlich aus zwei bis drei Personen69 und verfügte über keine konstanten Räumlichkeiten.70 Südwestlich von Ob lag die namensgebende Stadt und das Verwaltungszentrum

65 Viebig; Ditzen. 66 Exemplarisch StAA LG Ke - SK: 117/1904, Vermerk vom 24.10.1904; StAA LG A - SK: 382/1891, Vermerk vom 16.4.1891. Zur Häufigkeit dieser und der nachfolgenden Anzeigeformen vgl. Kap. III.4.1.2. 67 StAA LG Ke - SK: 81/1902, Gendarmeriebericht vom 4.8.1902. 68 Alle statistischen Angaben aus Königlich Bayerisches Statistisches Bureau: Ortschaften-Verzeichnis. 69 Diese Besetzung war jedenfalls als durchschnittlich anzusehen, vgl. StAA Bezirksamt Marktoberdorf, Abg. 1985; Generalakten und Spezialakten: VII/76, Briefwechsel 6.11. bis 30.11.1900. 70 Vgl. dazu auch Kap. II.1.2.

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des Bezirksamtes: Oberdorf – seit 1898 Marktoberdorf – mit dem zuständigen Amtsgericht.71 Für die ermittelnden Juristen lagen im Fallbeispiel nicht ein, sondern drei ›Fälle‹ vor. Beim ersten handelte es sich um einen Diebstahlsprozess gegen den Ökonomen Fidel Steck, der verdächtigt wurde, dem Gastwirt Fleschutz zwei hölzerne Wasserröhren, so genannte Deicheln, für seine Wasserleitung entwendet zu haben.72 Steck wurde wegen dieses Diebstahls im August 1901 angezeigt, am 13.11.1901 – dem zweiten Verhandlungstag – vor dem Schöffengericht Marktoberdorf zu drei Tagen Gefängnis verurteilt und im Berufungsverfahren am 21.2.1902 vor der Strafkammer des Landgerichts Kempten freigesprochen.73 Kurz darauf zeigte Steck die zentralen Belastungszeugen Wespe, seine unmittelbaren Nachbarn, an, in den Verfahren gegen ihn Meineide geleistet zu haben. Seine Anzeige folgte also der ersten oben genannten Logik. Die Voruntersuchung gegen das Ehepaar dauerte vom 13.3.1902 bis 16.1.1903 und wurde schließlich ohne Anklageerhebung eingestellt. Kurz darauf zeigte der lokale Gendarm74 Otto Drexel den Dienstknecht Anton Schmidt an, der als Entlastungszeuge seines früheren Chefs Steck fungiert hatte, einen Eid in diesen Verfahren gebrochen zu haben. Die erneut eingeleitete Voruntersuchung folgte der zweiten Logik, dauerte von März 1903 bis August 1903, und es kam zur Anklage, dennoch wurde das Hauptverfahren nicht eröffnet. Im Fokus der gerichtlichen Recherchen stand die Frage, ob Schmidt für seinen Chef einen oder zwei Deicheln aus dem lokalen Weiher geholt hatte, ob diese alt oder neu waren und ob dies im Sommer oder im Dezember passiert war. Denn an diesen Kriterien unterschieden sich die beiden widersprüchlichen Erzählungen zum vermeintlichen Diebstahl: Entweder hatte Schmidt nur einen älteren, seinem Chef gehörenden Deichel aus dem Weiher genommen und diesen bei der anschließenden Leitungsreparatur durch einen noch älteren, im Hof befindlichen ergänzt. Mit dem Hinweis, dass genau dies passiert sei, als Schmidt im September einen Deichel aus dem Weiher geholt habe, widersprach Steck dem Diebstahlsvorwurf. Die andere Seite hingegen behauptete, dass Schmidt im Dezember zwei relativ neue Deicheln, die dann nur dem Fleschutz gehört haben konnten, aus dem Weiher abtransportiert hätte.75 In beiden Meineidsuntersuchungen wurde zunächst ermittelt, ob Fidel Steck gestohlen hatte. Es ging in diesem Verfahren keineswegs darum zu ermitteln, wer den Diebstahl begangen hatte, sondern es wurde danach geforscht, ob der Freispruch zu Recht ergangen war oder nicht und – daraus folgend – ob die Aussagen 71 Heydenreuter, S. 46. 72 Die nachfolgende juristische Schilderung bezieht sich auf die beiden überlieferten Gerichtsakten der Meineidsverfahren: StAA LG Ke - SK: 21/1902, und dass.: 35/1903. Die Akten aus dem Diebstahlsverfahren sind nicht erhalten. 73 Zu den jeweiligen Urteilen: Oberdorfer Landbote vom 14.11.1901 und 25.2.1902. 74 Dieser wird in den Quellen mal als »Gendarm«, mal als »Sergent« bezeichnet. Die nachfolgende Titulierung orientiert sich an den jeweiligen Begriffen, wobei »Gendarm« subsummierend verwendet wird. 75 Zur besseren Orientierung wird im Anhang eine Zeitleiste angefügt.

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des Entlastungszeugen Anton Schmidt oder die belastenden Aussagen des Ehepaars Wespe korrekt gewesen waren.76 Die Recherchen bauten damit nicht auf der ›formellen Wahrheit‹ des ersten Urteils auf, sondern konzentrierten sich darauf, erneut die ›materielle Wahrheit‹ zu ermitteln. Hierzu wurden die wesentlichen Gesichtspunkte des Ursprungsverfahrens ein weiteres Mal durch Aussagen, Indizien etc. zusammengetragen und bewertet. Um die Glaubwürdigkeit der in Frage stehenden beschworenen Aussagen zu beurteilen, wurde zusätzlich auch danach geforscht, ob es Motive für eine falsche Aussage oder Hinweise auf eine Beeinflussung der fraglichen Zeugin bzw. der Zeugen gab. Es wurden im Falle Steck entsprechend Personen gesucht, die Absprachen beobachtet haben wollten oder die angaben, dass Anton Schmidt vor der Gerichtsverhandlung seinem Umfeld immer das genaue Gegenteil seiner gerichtlichen Aussage mitgeteilt hatte. Im Vordergrund des Interesses stand jedoch die Frage nach der ›materiellen Wahrheit‹ des ersten Verfahrens, die nicht auf Grundlage der vorhandenen Akten beurteilt wurde. Nachdem in den vorangehenden Diebstahlsprozessen über 20 Zeuginnen und Zeugen gerichtlich vernommen worden waren,77 wurden nun über sechzig Personen befragt, davon stammten gut 40 aus Ob. Faktisch wurde das Meineidsverfahren so zu einer inhaltlichen Neubewertung des ersten Verfahrens. Auch wenn es formal keine Revisionsinstanz darstellte, hatte das Meineidsverfahren damit dennoch unter sozialen Gesichtspunkten eine ähnliche Funktion.78 Um das Verhalten des verdächtigten Zeugen zu bewerten, musste der genaue Wortlaut der Aussage feststehen, er musste vereidigt worden sein und ihm musste bewusst gewesen sein, was eine Vereidigung bedeutete. Das heißt, er musste nicht nur gesundheitlich und psychisch in der Lage sein, die Bedeutung eines Eides zu begreifen, sondern vom Richter darüber auch Erläuterungen erhalten haben. Nur wenn diese Elemente durch das Protokoll, die Aussage des Beschuldigten oder die Aussagen von Dritten bestätigt worden waren, konnte das Verhalten auch strafrechtlich sanktioniert werden.79 Dass der Anspruch auf eine wahrheitsgemäße Aussage darüber hinausging, zeigt sich in einer weiteren Form der Sanktion. Bestraft wurde nicht nur das vorsätzli76 Die Schilderung und Analyse beruht auf dass.: 21/1902, und dass.: 35/1903, ließ sich jedoch mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung bei der Protokollierung in allen untersuchten Meineidsfällen beobachten. Oftmals beinhalten die Protokolle sogar ausschließlich Angaben zu den fraglichen, ursprünglichen Ereignissen und geben keine Auskunft über mögliche Absprachen oder Abläufe im Umfeld des ersten Prozesses. Exemplarisch: StAA LG A - SG: 74/1895. 77 OL 25.2.1902. 78 Zur Funktion eines faktischen Berufungsprozesses vgl. Kap. III.4.1.2. Damit ähnelt es den Beleidigungsverfahren, in denen die Person des Beleidigten zum Verhandlungsgegenstand wird, vgl. Wilhelm, S. 355. 79 Die Überprüfung der Geschehnisse zeigt sich bei StAA LG Ke - SK: 88/1906, Vernehmungen am 21.8.1906 und 23.11.1906; Verlesen und Bestätigen des Protokolls der ersten Gerichtsverhandlung bei StAA LG A - SG: 51/1895, Vernehmung des C.K. am 23.2.1895, der auch bestätigt, dass er vom Vorsitzenden zur Wahrheit ermahnt worden war. Ebenso: dass.: 74/1895, Hauptverhandlungsprotokoll vom 11.2.1896; dass.: 25/1893, Hauptverhandlungsprotokoll vom 21.9.1893, dort bestätigt auch der frühere Verteidiger den Wortlaut der Aussage.

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che Lügen, sondern seit 1871 jede beschworene, der Wahrheit widersprechende Aussage, sofern davon ausgegangen werden konnte, dass der Zeuge es hätte besser wissen müssen.80 Damit lag auch eine Schuld des Zeugen vor, wenn dieser bei der Aussage nicht sorgfältig genug war.81 Konnte er sich etwa nicht mehr an das genaue Datum eines Geschehens erinnern, so hatte er dieses vor seiner Aussage herauszufinden. Auch wenn ein Zeuge davon überzeugt war, dass seine Aussage die Wahrheit wiedergab, sollte ihn dies nicht vor Strafe schützen.82 Die Sanktionierungsanlässe machen deutlich, dass die Juristen sicherzustellen versuchten, dass zumindest jene Aussagen, welchen formal ein hoher Wahrheitsanspruch zugewiesen wurde, auch möglichst nahe an der ›materiellen Wahrheit‹ lagen. Sie erwarteten, dass Zeuginnen, Zeugen und in Maßen auch Angeklagte keine falschen oder fehlerhaften Angaben machten. Nur so konnte im juristischen Ideal die Suche nach der einen Wahrheit gelingen. Die juristische Wahrheit umfasste – zusammengefasst – zwei Komponenten. Sie beruhte auf der Fiktion einer klar rekonstruierbaren Eindeutigkeit vergangener Ereignisse, welche es zu bewerten galt. Diese ›materielle Wahrheit‹ musste jedoch in einer klar definierten Form ermittelt werden. Erst das Verfahren der Wahrheitssuche legitimierte als ›formelle Wahrheit‹ die homogenisierte und absolut gesetzte Interpretation der Ereignisse. Beide Wahrheitsformen waren untrennbar aufeinander bezogen und sollten möglichst deckungsgleich sein. Um die Fiktion einer erreichbaren Wahrheitsrekonstruktion aufrechterhalten zu können, musste durch das Verfahren der Anspruch formuliert werden, dass alle Beteiligten nur wahre Informationen beitrugen. Dieser Anspruch wurde nicht zuletzt durch den religiös fundierten Gerichtseid zum Ausdruck gebracht. Meineide unterliefen die Wahrheitskonstruktion der Prozesse, weshalb ihre Analyse einen besonders scharfen Blick auf die juristische Logik der Wahrheit ermöglicht. Der Eigenwert der formellen Regeln und die Vorstellung von zwei nicht identischen, aber interdependenten Wahrheiten im Prozess unterschied die juristische Herangehensweise von einer alltäglichen Vorstellung davon, was ›wahr/falsch‹ oder ›gerecht/ungerecht‹ war. Welches Verhältnis zwischen dem Verfahren als Weg und der Wahrheit als Ziel jedoch bestehen sollte, war auch unter den zeitgenössischen Juristen umstritten.

80 Das RStGB orientierte sich hier an den früheren preußischen Regelungen, der fahrlässige Meineid hatte in vielen Ländern, so auch in Bayern, zuvor nicht unter Strafe gestanden; Vormbaum: Meineid, S. 28; Schweisthal, S. 123. 81 Vgl. dazu Martin: Strafbarkeit, S. 70–75, der sich kritisch mit Oppenhof auseinandersetzt. Ähnlich: Schneikert: Psychologie, S. 37; Birkenfeld; Liepmann. 82 Oetker: Rezension Liepmann.

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1.2 Die Suche nach dem formal korrekten Verfahren Im Jahre 1884 sah sich das bayerische Justizministerium genötigt, in einem Rundschreiben darauf zu verweisen, dass die Öffentlichkeit eines Verfahrens nicht hergestellt sei, wenn das Verfahren statt im Sitzungssaal »in dem Geschäftszimmer des zur Leitung der Verhandlung berufenen Richters« abgehalten werde.83 Zu diesem Zeitpunkt handelte es sich bei den öffentlichen Verfahren mitnichten um eine Neuerung, die diesen Hinweis erklärte, sondern um eine Vorschrift, die bereits seit 15 Jahren in Bayern und seit fünf Jahren reichsweit gültig war. Wenige Jahre zuvor berichtete ein preußischer Staatsanwalt im Hinblick auf die Schutzrechte des Angeklagten, die Gerichte seien meistens »›so praktisch und vernünftig, unpraktische Bestimmungen cum grano salis zu interpretieren und dadurch wenigstens theilweise die nachtheiligen Folgen abzuwenden‹, die ›sonst unleugbar für die öffentliche Sicherheit‹ erwachsen würden.«84 Er bestätigte damit eine Befürchtung des Ministers von Mittnacht aus der Kodifikationsphase, dass die Praxis zu weite Schutzrechte als unpraktikabel ablehnen und entsprechend behandeln würde.85 Diese beiden Szenen verweisen auf die Frage, was es genau bedeutete, wenn ein Gesetz auf einen konkreten Fall angewendet werden musste und welche Zielkonflikte dabei entstehen konnten. Anstatt jedoch nach gesetzeswidrigen Praktiken zu fragen, steht eine andere Perspektive der Implementationsforschung im Vordergrund:86 Wie weit war der Spielraum gesetzeskonformen Verhaltens, wenn Juristen das Gesetz »cum grano salis« interpretierten? Die Auslegung der Strafprozessordnung konnte – so das Ergebnis – zu entgegen gesetzten Ansichten darüber führen, wie das geltende Verfahren aussah. Im Extremfall konnten dadurch sogar Handlungen als gesetzeskonform betrachtet werden, die der Gesetzgeber dezidiert abgelehnt, aber nicht verboten hatte, weil er sie für historisch überholt hielt. Diese vergrößerte ›juristische Varianz‹87 ist für die Kulturgeschichte der deutschen Strafjustiz in zweierlei Hinsicht zentral. Zum einen erhöhte sie die Machtstellung der einzelnen Juristen im Verfahren und erschwerte ›Laien‹ ungewollt die Orientierung. Denn durch die Handlungsvielfalt war der Verlauf des gerichtlichen Geschehens im Detail unvorhersehbar und komplex. Zum anderen muss die historische Forschung die ›juristische Varianz‹ bei der Rekonstruktion von einzelnen Verfahren wie bei der Darstellung von Rechtssystemen in methodischer Hinsicht berücksichtigen. Es kann immer nur eine Wahrschein-

83 StAA Landgericht Kempten nO, Schreiben des Königlich Bayerischen Staatsministeriums der Justiz vom 17.10.1884. Bereits seit 1870 mussten alle öffentlichen Verhandlungen im Sitzungszimmer stattfinden, anders lautende Privilegien waren aufgehoben. 84 Bericht eines Staatsanwaltes im März 1881, zit. nach: Schubert, S. 40. 85 Vgl. dazu Ortmann: Wahrheitsanspruch, o.S. [im Druck]. 86 Zur historischen Implementationsforschung vgl. Haas, S. 27–39. 87 Das Modell der »juristischen Varianz« wurde in Grundzügen entwickelt in: Ortmann: Vom ›Motiv‹ zum ›Zweck‹.

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lichkeitsprognose hinsichtlich der Frage geben, welche Handlungen im konkreten oder abstrakten Fall erfolgt sein mögen.

1.2.1 Die Uneindeutigkeit der Gesetze Durch die Reichsgründung 1871 konnte mit der Schaffung eines nationalen Rechtsraumes ein zentrales Projekt der Liberalen begonnen werden. Auf Grundlage jahrzehntelanger Vorbereitungen konnten nach dem Strafgesetzbuch vom 1.1.1872 auch die so genannten Reichsjustizgesetze 1877 kodifiziert werden: Das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) regelte den Aufbau der Justiz und die Zuständigkeiten der neuen Gerichtsformen. Die Reichsstrafprozessordnung (RStPO) gestaltete das Strafverfahren aus. Beide definierten den Rahmen, in dem künftig die ›materielle‹ und ›formelle‹ Wahrheit gefunden werden sollten. Es kann davon ausgegangen werden, dass die nationale Symbolkraft das Zustandekommen der Gesetze überhaupt ermöglichte.88 Denn die Kompromissfindung zwischen den Ländern,89 dem Reichstag und dem Bundesrat sowie innerhalb des Reichstages war komplex und fragil.90 Der Kompromisscharakter führte bereits unmittelbar nach dem Inkrafttreten der Gesetze zu umfangreichen Parlamentsund Fachdebatten, die in divergierende Richtungen zum Teil weitreichende Änderungen forderten und bis zum Ende des Kaiserreichs nicht verstummten. Im Zentrum der Debatte standen sowohl bei der Kodifikation als auch in der sich anschließenden Reformdebatte neben der Pressefreiheit, der Schwur- bzw. Schöffengerichtsbarkeit91 und der Berufung die Schutzrechte des Beschuldigten bzw. Angeklagten92 und die Abschaffung bzw. Reform der sogenannten Voruntersuchung93 .

88 Zur symbolischen Bedeutung der einheitlichen Reichsjustiz-Gesetzgebung vgl. die Darstellung bei Nipperdey, S. 182 f.; Schubert, S. 39 und passim; Lauterbach, S. 222–236; Sellert, S. 789; Hartwich; diese Bedeutung durch die Art der Darstellung selbst betonend: Landau: Reichsjustizgesetz und die deutsche Rechtseinheit, S. 161 und 210 f. 89 Zu den länderspezifischen Änderungen vgl. Glaser: geschichtliche Grundlagen, S. 69–76; exemplarisch für Bayern: Berlin und Biebl. 90 Die Protokolle der beteiligten Körperschaften sind komplementär ediert bei Hahn: Materialien, und Schubert/Regge. Eine vollständige Aufarbeitung der Debatte ist bisher nicht erfolgt. Einen ersten Einstieg bieten Schubert; Kern, S. 86–93, und Wilhelm, S. 110–144; zeitgenössisch: Glaser: geschichtliche Grundlagen, S. 109–119; John: Strafprozeßordnung, Bd. 1, S. 1–72. Ausführlicher zu den parteipolitischen Positionen Ortmann: Wahrheitsanspruch. Für die Debatte um die Hauptverhandlung vgl. auch Herrmann: Reform, S. 64–88. Literaturhinweise bei von Hippel, S. 65–67. 91 Vgl. Kap. I.3.1.3. 92 Hierzu zusammenfassend Steinhauer; Schwaiger. 93 Linnemann, S. 59–87; Haug; Meiners; Krauß, S. 9–26; Nagel. Polzin mit Vergleich zum Partikularrecht vor 1877.

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Aus juristischer Perspektive kollidierten hier die Leitbilder des Anklage- und des Inquisitionsprozesses miteinander.94 Während die öffentliche und mündliche Hauptverhandlung ab 1879 dem Anklageprinzip folgte, behielt die Phase der Anklageerhebung mit einem schriftlichen, richterdominierten Verfahren weitgehend inquisitorische Elemente – im historischen wie im idealtypischen Sinne.95 Die juristischen Differenzen über das Strafverfahren entwickelten ihre Dynamik – so soll in Anlehnung an eine Studie zu Italien96 argumentiert werden – auch aus der Frage, wie man Freiheitsrechte und Strafanspruch gegeneinander abwägen sollte, und waren untrennbar mit dem zeitgenössischen staatsrechtlichen Grundrechtsdiskurs verknüpft. Konkret formuliert: Sind die individuellen Schutzrechte eines Bürgers vorstaatliche Rechte, die vom Staat respektiert werden müssen, oder werden sie vom Staat gewährt und können immer dann eingeschränkt werden, wenn es um das Wohl der gesamten Gesellschaft geht, wenn also etwa ein Verbrechen aufzuklären ist?97 Das Spannungsverhältnis zwischen den Schutzrechten des Beschuldigten und einem geregelten Verfahren – also: der Form – einerseits und dem Strafanspruch des Staates und der juristischen Suche nach Wahrheit andererseits durchzog die Kodifikationsdebatte vom ersten bis zum letzten Tag.98 Neben den regelmäßigen Neuwahlen lag in dem grundlegenden rechtspolitischen Dissens eine Ursache, dass es trotz mehrerer intensiver Kommissionsanläufe bis 1924 nie zu einer grundlegenden Novelle kam. Stattdessen führte der Dissens zu einer divergierenden Auslegung des Gesetzes und damit einer veränderten Anwendung des Rechtes. Denn zu diesem Zeitpunkt unterlag die Methode, wie Juristen ein Gesetz auszulegen hatten, einem theoretischen Wandel. Dieser hatte – anders als bislang von der Forschung behauptet – bereits Ende der 1870er Jahre gravierende Auswirkungen auch auf die strafjustizielle Praxis. Entscheidend war angesichts einer personellen Kontinuität im Justizdienst die juristische Fachliteratur, die die neuen Normen für die Anwendung erläuterte. Die historische Forschung und die Rechtssoziologie haben den sich ab den 1880er Jahren entwickelnden Methodenstreit mit einem – wie bei den Zeit-

94 Diese zeitgenössischen und juristisch geprägten Begriffe müssen sorgsam in der historischen Analyse verwendet werden. Insbesondere der Begriff des ›inquisitorischen‹ nimmt in den Quellen eine nicht immer eindeutige Bedeutung ein. In Anlehnung an Salas, S. 136–144, wird im Rahmen der Studie zwischen einer historischen, einer analytischen und einer ethischen Ebene unterschieden. 95 Vgl. zur Vermischung der beiden Idealtypen im 19. Jahrhundert Küper, S. 190–213. 96 Nobili. 97 Grundlegend Suppé, v.a. S. 242–308, und Stolleis, S. 371–375. Rieß, S. 433, hingegen sieht die gewandelte Rolle der Grundrechte als zu vernachlässigende Ursache. Vgl. dazu ausführlicher Ortmann: Wahrheitsanspruch. 98 Schubert, S. 20 und 35 f.; Biebl, S. 275–279. Vgl. zu den Reichstagsdebatten rund um die Freiheitsrechte ausführlicher: Ortmann: Wahrheitsanspruch.

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genossen99 — Fokus auf dem Zivilrecht ausgiebig dokumentiert.100 Gewandelte Richterleitbilder oder die sogenannte Freirechtsbewegung wurden außerdem mit Blick auf das ›materielle‹ Ergebnis – sprich: Urteil – eines Prozesses historisiert.101 Ob und gegebenenfalls wie sich der neue Spielraum auch auf den Ablauf des Verfahrens auswirkte, ist bislang hingegen nicht untersucht. Diese Lücke soll hier in Teilen geschlossen werden. Dabei wird auch der Annahme Regina Ogoreks in ihrer wegweisenden geistesgeschichtlichen Studie widersprochen, dass die Theoriedebatte zeitnah kaum »Auswirkungen auf die Praxis in der Weise hatte, daß diese […] nun tatsächlich freier mit dem Gesetz umgegangen wäre.« Lediglich aus einem veränderten richterlichen Selbstverständnis sei langfristig eine andere Gesetzesauslegung in der Praxis gefolgt.102 Die modernen Gesetze sind anders als ihre frühneuzeitlichen Vorgänger nicht nur interpretationsfähig, sondern auch interpretationsbedürftig. Nach einer langen Phase von Kommentierverboten103 und einzelfallregulierender Gesetzesbindung der Juristen durch den Staat gerade im Strafrecht wurde im 19. Jahrhundert die Rolle der Juristen bei der Anwendung der Gesetze wieder gestärkt.104 Die Gesetze wurden erneut allgemeiner formuliert, eine Auslegung war zwingend notwendig – und so selbstverständlich, dass Gesetze sie nicht mehr explizit erlaubten.105 Es wurde sogar zuerkannt, durch analoge Anwendung auch solche Einzelfälle zu entscheiden, die vom Gesetz nicht abgedeckt worden waren, und dadurch das Gesetz weiterzubilden. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts übliche juristische Auslegungsmethode orientierte sich am sogenannten ›subjektiven Willen des Gesetzgebers‹.106 Dazu bediente man sich der ›Gesetzesmotive‹ – also der offiziellen Erläuterung des Gesetzentwurfes – und der weiteren ›Materialien‹ – etwa den Protokollen der Reichstagskommission und der Reichstagsdebatten.107 Das Ziel war, das Gesetz

99 Bsph.: Stampe; Michaelis; Schneider; wenige Autoren verwendeten Beispiele aus dem Strafrecht: Mittelstädt und eine Artikelfolge in der Deutschen Juristenzeitung 1905 und 1906. 100 Heine; Schröder: Methodendiskussion; Klemmer: Gesetzesbindung; Pauly, S. 101–104, geht auch auf das Reichsgericht ein, konzentriert sich aber weitgehend auf das Verwaltungsrecht. 101 Falk: Von Dienern des Staates; Hattenhauer; Hempel. Vgl. auch die summarische Darstellung zur ›Praxis‹ des 19. Jahrhunderts bei Vogenauer, S. 483–487. 102 Ogorek, S. 161. 103 Vogenauer, S. 456 f.; Becker: Art. Kommentier- und Auslegungsverbot, S. 963–967. 104 Hempel; Hagg, S. 98–121; Ogorek; Vogenauer, v.a. S. 430–435 und 560–570. 105 Becker: Art. Kommentier- und Auslegungsverbot, S. 971, zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871. Dass es sich dabei um eine Rückkehr zu früheren Freiheiten und Theorieansätzen handelt, betont v.a. Vogenauer, S. 453–455. 106 Für die inhaltliche Gegenüberstellung von ›subjektiver‹ und ›objektiver‹ Methode im Folgenden grundlegend vgl. Puppe, S. 75–88, und Vogenauer, S. 213 f.; zur historischen Einordnung vgl. Ogorek, S. 158–169, und Vogenauer, S. 435–438. Daneben spielten die sprachliche (nach ›Wortlaut‹) und die systematische Exegese (nach ›Zusammenhang‹) eine zentrale Rolle, vgl. ebd., S. 465–604. 107 Zur Geschichte der Materialien vgl. ebd., S. 443 f. und 592 f. Die offizielle Publikation der RStPO erfolgte bei Hahn: Materialien.

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genauso zu verwenden, wie dies der Gesetzgeber angedacht hatte.108 Da unterstellt wurde, dass der Gesetzgeber widerspruchsfreie Gesetze erlassen hatte, musste aus dieser Methode eine klar definierte Anwendung folgen. Doch die auf den ›subjektiven Willen‹ des Gesetzgebers abzielende Auslegungsmethode – retrospektiv als ›subjektiv-teleologisch‹ bezeichnet – hatte bei der Kodifikation der Reichsstrafprozessordnung 1879 ihren Höhepunkt bereits überschritten. In den 1880er Jahren wurde zeitgleich durch den Strafrechtler Binding, den Prozessrechtler Wach und den Zivilrechtler Kohler die sogenannte ›objektivteleologische‹ Methode begründet.109 Nach dieser Theorie war nur danach zu fragen, was das »Gesetz zur Anwendungszeit vernünftigerweise sagen sollte«.110 Zeitlich wurde nicht mehr nach dem Zweck des Gesetzes bei seinem Entstehen, sondern zum Zeitpunkt seiner Anwendung gefragt; sachlich stand statt der Intention des Gesetzgebers die aktuelle Kontextualisierung der Norm im Vordergrund. Entscheidend war also nicht der Gesetzgeber, sondern der Gesetzestext.111 Ein Rückgriff auf die ›Motive‹ und ›Materialien‹ erschien dann entbehrlich. Es liegt auf der Hand, dass eine Gesetzesinterpretation, die sich von den Intentionen des Gesetzgebers dezidiert lossagte, um eigene Wertmaßstäbe anzulegen, die Tür für politische Interpretationen öffnete.112 Ein wesentliches Einfallstor zur pluralistischen Gesetzesinterpretation bildeten in der Folge gerade jene Äußerungen, die als vermeintliche Selbstverständlichkeiten keinen Eingang in das Gesetz gefunden hatten: »Wenn beispielsweise die Gesetzesfactoren einen Gesetzessatz aus irgend einem Grunde abgelehnt haben, so ist in diesem Punkte eben nichts Gesetzliches zu Stande gekommen […] mögen sie etwa einen solchen Satz für überflüssig, für selbstverständlich erachtet haben – was ihnen überflüssig erschien, erscheint uns vielleicht nicht als überflüssig; Thatsache ist, dass es an einem betreffenden Gesetzessatze fehlt.«113

Nach alter Lehre wären diese ›Selbstverständlichkeiten‹ als Teil der parlamentarischen Debatte oder Regierungsstellungnahmen bei der Auslegung des Gesetzes zu berücksichtigen gewesen. Die Tatsache, dass sie nicht normiert worden waren, schmälerte im Rahmen der neuen Auslegungslehre ihre Wirksamkeit drastisch.114 Alle drei theoriebegründenden Schriften von Binding, Wach und Kohler waren fast zeitgleich zu den großen Kodifikationswellen verfasst worden. Ihre ablehnende Haltung den neuen Gesetzestexten gegenüber habe – so Ogorek – dazu beigetragen, die Juristen erneut vom Gesetzgeber zu emanzipieren.115 Denn das 108 Vogenauer, S. 115–120, v.a. 116. Mittelstädt, S. 6 geht auf die Kritik an dieser Auslegungstheorie ein. 109 Binding: Strafgesetzgebung; Wach: Handbuch; Kohler. 110 Schröder: Methodenlehre, S. 172. 111 Kohler, S. 1 f. 112 Ogorek, S. 166. 113 Kohler, S. 20. 114 Vgl. Kap. III.2.2, das dies am Beispiel der Beschuldigtenvernehmung illustriert. 115 Ogorek, S. 166 f.

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parlamentarische Gesetzgebungsverfahren schien die Ermittlung des einen Willen des Gesetzgebers nicht mehr zu ermöglichen, sondern dokumentierte lediglich Meinungen »einzelne[r] Mitglieder […] der gesetzgebenden Faktoren«.116 Da der Gesetzgeber pluralistisch geworden sei, werde zwangsläufig auch die Interpretation des Gesetzes pluralistischer. Wenn auch die Kritik am parlamentarischen Verfahren oftmals geteilt wurde, wurden Erklärungen dieser Art dennoch mit dem Hinweis kritisiert, dass die Beratungsprotokolle »der Schlüssel für die Lösung sonst unentwirrbarer Schwierigkeiten bei der Gesetzesinterpretation« seien.117 Die Forschung hat betont, dass der Verweis auf die Vielstimmigkeit des Gesetzgebungsverfahrens lediglich den Kampf gegen die ›subjektive Theorie‹, nicht aber die Grundausrichtung der ›objektiven Theorie‹ erklärt habe.118 Neben einer geänderten Hermeneutik, bei der sich das Interesse weg vom individualpsychologischen Erforschen des Autors hin zu im Hintergrund wirkenden allgemeinen geistigen Faktoren (»Volksgeist«, Ideen etc.) verlagerte, verweist Schröder auf ein gewandeltes Richterleitbild: Da der Richter nicht nur »Diener, sondern auch ›Hüter‹ des Gesetzes und seiner Anwendung durch die anderen Staatsgewalten wird«, hätte der Gesetzgeber sein Normeninterpretationsmonopol verloren. Der Richter sei nun nicht mehr gezwungen gewesen, »die ihm ›vernünftig‹ erscheinende Deutung des Gesetzes im Hinblick auf […] abweichende gesetzgeberische Absichten zurückzustellen.«119 Die freiere Auslegung von Gesetzen ist ein Symbol für eine unabhängigere und selbstständigere Stellung der Juristen. Dass diese Emanzipation zeitgleich mit der Parlamentarisierung erfolgte, kann auch als Abgrenzung von demokratischen Entwicklungen gelesen werden. Dabei brachten die Theoretiker mit ihren Schriften eine Haltung gegenüber dem Gesetz zum Ausdruck, deren Auswirkungen sich in der Praxis bereits seit einigen Jahren beobachten ließen: Für das Strafprozessrecht dokumentierte E. A. Voitus bereits 1881 Differenzen bei der Auslegung der neuen Verfahrensordnung und führte diese auf den unterschiedlichen Umgang mit den Gesetzesmaterialien zurück.120 Eine vergleichende Rezension von 1879 betonte fortwährend die jeweilige methodische Ausrichtung der fünf analysierten, als einschlägig zu wertenden RStPO-Kommentare,121 und auch von Schwarze ging in seinem Kommentar schon 1878 ausführlich auf die Frage der Methodik und den Auslegungsstreit ein.122 Bereits zum Zeitpunkt der Kodifikation und damit zumeist knapp vor dem 116 Von Liszt: Lehrbuch, S. 72, der den Wert der von ihm verwendeten Motive daher relativiert; ähnlich: Ullmann: Lehrbuch, S. 73. Zur Erosion des ›einheitlichen Willens‹ vgl. Stolleis, S. 458. 117 Mittelstädt, S. 6 f. 118 Schröder: Gesetzesauslegung, S. 88–92; sofern nicht anders angegeben zum Folgenden ebd., S. 49–86. 119 Zitate: ebd., S. 84 f. 120 Voitus: Kontroversen Bd. 1, S. IV–VIII, v.a. IV f. 121 N. Auch Binding: Strafgesetzgebung, S. 22 f., klassifiziert Kommentare anhand ihres methodischen Aufbaus, macht aber ganz deutlich, dass »diese Kommentierung aus den Materialien methodisch unzulässig ist.« (S. 23). 122 Von Schwarze: Commentar, S. I–XXIV, hier: VI.

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Erscheinen der ›Gründungsschriften‹ von Binding, Wach und Kohler zwischen 1881 und 1886 war die methodische Frage der Gesetzesauslegung also ein zentrales Thema für die einschlägigen Autoren praxisbezogener Literatur. Abgeleitet aus dieser Beobachtung wird der bisherige konzeptionelle Umgang der Forschung mit der juristischen Literatur auf den Kopf gestellt: Anstatt allein nach Auswirkungen der theoretischen Schriften in der Praxis zu suchen, wird die – theoretisch wie praktisch ausgerichtete – juristische Literatur auch als Verschriftlichung einer in der Praxis beobachtbaren Veränderung gewertet. Die anwendungsbezogene Funktion der Literatur ist dafür entscheidend, dass die methodisch bedingten Auslegungsdifferenzen für die Gerichtspraxis auch von Bedeutung waren. Sie stellten das Scharnier zwischen Theorie und Praxis dar. Die Reichsstrafprozessordnung war anders als das Bürgerliche Gesetzbuch nicht als komplett neues Gesetzeswerk konzipiert. Vielmehr stellte sie eine Zusammenführung zuvor bestehender Regelungen der Länder dar.123 Die vollständige Neuorganisation der Gerichtsverfassung durch das zeitgleich erlassene Gerichtsverfassungsgesetz brachte jedoch nur eine geringe personelle Umstrukturierung mit sich.124 Der bayerische Justizminister von Fäustle etwa ließ sämtliche gerichtliche Personalverhältnisse überprüfen, bevor er auf dieser Grundlage seinen Entwurf für die Besetzung der künftigen Gerichte erstellte. Trotz der dabei erfolgenden Einsparung von 50 Landgerichts-Richterstellen und der gleichzeitigen Aufstockung der Amtsrichter um 60 und der Gerichtsschreiber um 70 Stellen,125 blieb die personelle Kontinuität insgesamt ziemlich hoch.126 Wie bereits bei anderen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts entstand durch diese personelle Kontinuität ein großer Bedarf an erläuternder Literatur. Zahlreiche Gesetzeskommentare, Handbücher und Fachzeitschriften wurden neu gegründet oder überarbeitet und bedienten mit ihren Texten diverse juristische Anforderungen:127 Manche Kommentare enthielten nur kurze Anmerkungen, manche konzentrierten sich auf die für eine bestimmte Berufsgruppe (etwa die Gerichtsschreiber) wesentlichen Regelungen.128 Viele lieferten umfangreiche Erläuterungen zu einzelnen Paragraphen, führten in Verfahrensschritte ein, bereiteten sie für die praktische Arbeit auf und setzten sie in Bezug zum regional oder überregional zuvor geltenden Recht. Die Handbücher wiederum orientierten sich im Aufbau zumeist am Ablauf des Verfahrens oder der Gliederung des Gesetzes. Manche der Zeitschriften 123 Vgl. Schubert, S. 8 f. und 37; zeitgenössisch: Glaser: geschichtliche Grundlagen, S. 106–108. 124 Die Umsetzungsdetails regelte insbesondere das Ausführungsgesetz vom 23.3.1879. 125 Die Einsparungen wurden v.a. durch Pensionierungen umgesetzt: Anonymus: DienstesNachrichten vom 23.8.1879, S. 529–532; Biebl, S. 310; zu Preußen: von Sydow, S. 51; Ormond: Richterwürde, S. 401. Eine größere Welle erfolgte erst mit dem BGB: Aschrott: Versetzung. 126 Ein Vergleich im Oberlandesgerichtsbezirk Augsburg zeigt, dass auf der Ebene der Landgerichte neuer Ordnung wie des Oberlandesgerichts 90 Prozent der Richter bereits vor der Reform auf der jeweils entsprechenden Gerichtsebene tätig gewesen war – heißt: an Bezirksgerichten oder dem Appellationsgericht –, 70 Prozent sogar am selben Gerichtsort. Vgl. Königlich Bayerisches Statistisches Bureau: Hof- und Staatshandbuch, sowie Anonymus: Dienstes-Nachrichten vom 23.8.1879. 127 Roth: Zeitschriften; Henne. 128 Schmidt: Handbuch für das Gerichtsschreiber-Amt; Feddersen.

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verfügten über einen strafrechtlichen – sogar strafverfahrensrechtlichen – Schwerpunkt und entstanden mit dem Anspruch, sich auf wissenschaftlichem Niveau mit dem Zustand und Reformbedarf der Rechtspflege zu beschäftigen. Hierfür wurden sowohl dogmatische Probleme als auch einzelne Urteile besprochen.129 Die Kommentare, Fachzeitschriften und Handbücher stellten ein doppeltes Scharnier zwischen den abstrakten Debatten und dem Geschehen vor Gericht dar: Zum einen betonten die meisten Autoren ihre praktische, berufliche Erfahrung bereits im Untertitel oder im Vorwort,130 galt selbige doch als zusätzliches Qualitätsmerkmal. Während Hand- bzw. Lehrbücher sowohl von Professoren131 als auch von praktizierenden Juristen132 geschrieben wurden, stammte die überwiegende Anzahl der Kommentare von Richtern133 oder Staatsanwälten134 . Nur sehr wenige wurden von Professoren oder Anwälten verfasst.135 Zum anderen richteten sich gerade die Kommentare explizit an »Praktiker«.136 Für sie sollte das Gesetz in einer Form dargestellt werden, dass es problemlos und ohne umfangreiche Recherchetätigkeit anwendbar war.137 In der Regel wurde daher auf wissenschaftliche Erörterungen verzichtet, was durchaus zu Kritik führte.138 Die Lehrbücher fokussierten auf die Aus- und Fortbildung der Juristen – vereinzelt auch der »Laien«139 . Indem sie (zukünftigen) Richtern, Staatsanwälten und Anwälten den Ablauf des Strafverfahrens detailliert darlegten, nahmen sie Einfluss auf das künftige Geschehen vor Gericht. Die Zeitschriften wiederum zielten auch mithilfe von Fallbeispielen auf eine anspruchsvolle Weiterbildung der Juristen und gerade Zeitschriften wie Der Gerichtssaal oder Goltdammers Archiv entwickelten sich zu angesehenen Hilfsmitteln bei Staatsanwälten und Richtern.140 Insgesamt diente die erläuternde Literatur dazu, die Verfahrensrechte plastisch zu erklären respektive als Nachschlagewerk zu dienen. Sie bildeten damit

129 Roth: Zeitschriften, darin auch Porträts der zentralen Reihen. 130 Die Nennung der beruflichen Tätigkeit gehörte zur Konvention, bei einigen kam noch die Mitgliedschaft in einer der vorbereitenden Kommissionen hinzu; Staudinger, und von Schwarze: Commentar; Daude: Strafprozeßordnung (1893); Kolisch. 131 Dochow, Geyer, John, Rosenfeld, von Kries, von Holtzendorff (als Herausgeber), Bennecke, Ullmann. 132 Gross; Meltzing, Meves, Delius. 133 So die Kommentatoren: Krah, Kolisch, Keller, Staudinger, Stenglein, Löwe, Hellweg, Rosenberg, Voitus, von Bomhard, Koller, Puchelt. 134 Bspw. Daude, Dalcke, von Schwarze. 135 So auch die Einschätzung Binding: Strafgesetzgebung, S. 22. Ausnahmen waren etwa der Anwalt Mamroth und der Professor John. 136 Vgl. beispielhaft das Vorwort von Dalcke, der sich an den »preußischen Praktiker« wendet. Vgl. auch Voitus: Kommentar; Keller: Strafprozess-Ordnung (1882); Mamroth: Strafprozeßordnung. 137 Dies betonte etwa Daude: Strafprozeßordnung (1893), Vorwort zur 1. Auflage. 138 Vgl. die Reaktion bei Stenglein: Strafprozeß-Ordnung, Vorwort zur 1. Auflage 1884. 139 Delius schrieb seine Übersicht explizit für Nicht-Juristen. 140 Roth: Zeitschriften, S. 329.

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nicht nur gängige Auslegungspraktiken ab, sondern formten diese in Ausbildung, wissenschaftlicher Diskussion und im lokalen Gericht.141 Viele der Kommentare und Handbücher, die in zeitlicher Nähe zur Kodifikation veröffentlicht wurden, verwendeten die ›Motive‹ und ›Materialien‹ ganz selbstverständlich zur Erläuterung einzelner Paragraphen und sahen eine Notwendigkeit, in der Einleitung darauf auch hinzuweisen: »Das wesentlichste Interpretationsmaterial boten die Motive zu dem Entwurf, die Protokolle über die Verhandlungen der Reichs-Justiz-Kommission und die Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, und diese Quellen sind […] in umfassender Weise benutzt worden«142

Der Hinweis auf die Verwendung der ›Materialien‹ erscheint hier nicht nur als Ausweis von Kompetenz, sondern kann als Positionierung in der beginnenden Theoriedebatte gelesen werden. Dabei gab es Stimmen, die die methodische Bedeutung der ›Materialien‹ betonten,143 aber zu einem vorsichtigen Umgang mit diesen mahnten.144 Wieder andere schränkten die Benutzung derselben stark ein und machten sie vom Grad des ihnen zugrunde liegenden Konsenses abhängig.145 Dritte zogen ergänzend146 , hauptsächlich147 oder ausschließlich148 die Rechtsprechung v.a. des Reichsgerichtes heran, um die Norm zu interpretieren.149 Am deutlichsten ließ sich die neue, ›objektiv-teleologische‹ Methode im Lehrbuch von Emanuel Ullmann nachweisen, der ausführlich zwischen dem »objectivirten Gesetzeswillen« einerseits und dem »Willen des Gesetzgebers« andererseits unterschied und explizit auf Wach verwies. Auf die Strafprozessordnung bezogen machte er deutlich, dass die ›Materialien‹ zwar ein gutes Hilfsmittel bei der

141 Zur Präsenz der Bücher vgl. etwa die Inventarlisten des LG Kempten: StAA Landgericht Kempten (nO): B 94, und dass.: B 95. 142 Dalcke, Vorwort. Ähnlich: Krah, Vorwort; Keller: Strafprozess-Ordnung (1882), Vorwort; Staudinger, Vorwort; Thilo, Vorwort; Delius, Vorwort. Ohne Hinweise in der Einleitung: John: Strafprozeßordnung, Bd. 1, bspw. S. 927, 933. 143 Puchelt, S. 16–18, spricht sich deutlich für eine bindende Wirkung aus; auch Geyer: Lehrbuch, S. 207 f. 144 Bennecke, S. 30 f. 145 Voitus: Kommentar, S. XXVIII–XXX, unterscheidet dezidiert zwischen einzelnen, widerspruchsfrei gebliebenen Äußerungen, Konsensen und Motiven. Ähnlich bei von Bomhard/Koller, Vorwort. 146 Kolisch, Vorwort; Rosenfeld: Reichs-Strafprozeß (1905). 147 Meltzing, Vorwort, dessen Handbuch die RStPO anhand von angeblich authentischen Fällen erläutert und die ›Motive‹ nur hinzuzieht. 148 Daude: Strafprozeßordnung (1904); Mamroth: Strafprozeßordnung; Stenglein: StrafprozeßOrdnung 149 Zum Zeitpunkt der Kodifikation wurde in Ermangelung einer reichsgerichtlichen Rechtsprechung dabei mehrfach auf die preußische Rechtsprechung von vor 1877 zurückgegriffen, so Dalcke und Keller: Strafprozess-Ordnung (1882). Dieses Vorgehen wird von Juristen als Heranziehen der »Vorgeschichte der Norm« bezeichnet und ist eine bis heute gültige Auslegungsmethode, vgl. Vogenauer, S. 444–447.

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Auslegung seien, doch »bindende Kraft besitzen sie nicht«, da »die einzig legitime Grundlage der Auslegung der Gesetzestext ist.«150 Die methodische Positionierung war dabei keine primäre Frage des Zeitpunktes: Bereits im unmittelbaren Anschluss an die Kodifikation griffen einzelne Autoren auf Gerichtsurteile zurück151 oder distanzierten sich von einer dominanten Bedeutung der ›Motive‹.152 Auf der anderen Seite sprach sich beispielsweise Benneckes Lehrbuch noch 1895, also 16 Jahre nach der Kodifikation, klar für die Verwendung der Materialien aus, und der Kommentar von Löwe blieb bis zur Überarbeitung durch Rosenberg 1912 in seiner Grundausrichtung unverändert.153 »Praktiker« und »Theoretiker«, ältere und jüngere Juristen verwendeten die Methoden jeweils ohne erkennbare Regelhaftigkeit.154 Ob die Schulbildung durch einzelne Lehrer oder landesrechtliche Traditionen eine Rolle spielten, wäre noch zu klären. Fest steht: Die ›subjektive Methode‹ war kein Übergangsphänomen der Kodifikationszeit, sie resultierte nicht aus einem Mangel an anderweitigen Interpretationshilfen, und sie wurde noch 1914 auf theoretischer Ebene vertreten.155 Den Juristen des Kaiserreichs stand durch die sich etablierende ›objektive‹ Interpretationsmethode aber eine freiere, politischere Auslegung der neuen Norm offen. Ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, was eine Norm für Vorschriften beinhaltete, konnten gleichberechtigt nebeneinander bestehen. Damit lag es auch in der Hand des einzelnen Juristen, welche Ausgestaltung ein konkretes Strafverfahren im Detail bekam und wie er seine eigene Rolle darin definierte. Die Grenzen ›gesetzeskonformen‹ Verhaltens waren dehnbar geworden. Auch wenn die grundsätzlichen Abläufe und Formalia unabänderlich waren, ergab sich durch eine Vielzahl an Detailfragen bei der Umsetzung der Formalia ein breites Handlungsfeld, das für die weitere Studie unter dem Begriff der ›juristischen Varianz‹ von zentraler Bedeutung ist. Im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens mussten sich die Akteure mehr als einmal (bewusst oder unbewusst) für eine der sich ihnen jeweils bietenden Interpretationsmöglichkeiten entscheiden. In der Summe konnte diese ›juristische Varianz‹ zu höchst unterschiedlichen Verfahrensabläufen führen.

1.2.2 Die ›juristische Varianz‹ – ein methodisches Plädoyer am Beispiel der Voruntersuchung Zentral für die Frage, wie ein Gesetz im konkreten Fall angewendet wurde, waren der methodische Ansatz und die rechtspolitische Grundeinstellung des jeweiligen Juristen. Je weiter die rechtspolitischen Ansichten darüber auseinanderlagen, wie 150 151 152 153 154

Ullmann: Lehrbuch, S. 69–74, hier: 72 f. Z. B. Dalcke. Fuchs: Vorverfahren. Vgl. Willms, S. 485 f. So das Ergebnis eines systematischen Abgleichs der oben angeführten Autoren mit den von ihnen angegebenen Berufsbezeichnungen und den Lebensdaten. 155 Vgl. die Darstellung bei Schröder: Methodenlehre, S. 173, der hier auf Heck verweist.

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ein einzelner Verfahrensschritt idealerweise ausgestaltet sein sollte, desto größer war auch die Varianz des geltenden Rechtes. Dieser empirische Befund führt zu einem konstruktivistischen Umgang mit Gesetzestexten und juristischer Fachliteratur in der historischen Forschung. Denn die Heterogenität der Auslegung war nicht nur die Quelle von Konflikten im Justizalltag, sondern begrenzt auch die Reichweite historischer Rekonstruktionen. Wie sich der grundsätzliche rechtspolitische Dissens dank der Auslegungsmethodik im Detail niederschlug, wird am Beispiel der Voruntersuchung aufgezeigt, da in diesem umstrittenen Verfahrensabschnitt der Großteil der in der Studie ausgewerteten Gerichtsunterlagen entstanden ist. Dabei wird deutlich werden, dass in konsequenter Ausführung des von Kohler thematisierten Umgangs mit ›Selbstverständlichkeiten‹ jene Interpretationen, die sich im Gesetzgebungsverfahren nicht hatten durchsetzen können, als gesetzeskonform deklariert werden konnten. Bei der Voruntersuchung handelte es sich um eine Phase der Ermittlung, die von einem Richter – dem Untersuchungsrichter – geleitet wurde.156 Die Voruntersuchung war im Zuge der Rechtsreformen in der Mitte des Jahrhunderts als geheime Phase zur Ergänzung der nun öffentlichen Gerichtsverhandlungen eingeführt worden.157 In ihr wurden die Vernehmungen durch eine zweiköpfige Gerichtskommission durchgeführt, weitere Zuschauer sowie Staatsanwalt und Verteidiger durften explizit nicht anwesend sein. Die Rechte des Verteidigers, der seit 1879 vom Beschuldigten hinzugezogen werden durfte, waren im Vergleich zur Hauptverhandlung eingeschränkt.158 In Fällen, die vor dem Reichs- oder Schwurgericht zu verhandeln waren, war sie zwingend vorgeschrieben, bei einer Zuständigkeit des Landgerichts konnte sie zudem auf Antrag durchgeführt werden. Obwohl sie zwischen 1881 und 1901 nur 26 bis 40 Prozent der Prozesse vor Landgerichten vorbereitete und insgesamt nur 3,6 bis 6,8 Prozent aller Vorbereitungsverfahren ausmachte, symbolisierte die Voruntersuchung die Widersprüchlichkeit des Verfahrensrechts und wurde für viele Jahre zum zentralen Reformthema.159 Ihren Kritikern galt sie als anachronistisches Überbleibsel, weshalb in der Debatte die historisch-idealtypische mit der ethischen Bezeichnung häufig in eins gesetzt wurde und man von »inquisitorischen Überresten« sprach.160 In ihren

156 Eine kurze Schilderung des Ablaufs findet sich bei Hommen, S. 99 f. Grundlegend für das Folgende: Schwaiger, S. 21–23; Glaser: Handbuch, Bd. 2, S. 381–402; Fuchs: Vorverfahren. Vgl. auch Kap. I.3.2.3. 157 Zur Jahrhundertmitte vgl. Habermas: Diebe vor Gericht, S. 159–161. 158 Vgl. die Zusammenfassungen der Debatte nach 1877 bei Haug; Meiners; Sprenger, S. 3–18; Krauß, S. 11–46; Schwaiger, mit einer detaillierten Auflistung der Argumente. Sofern nicht anders angegeben stützt sich die nachfolgende Darstellung auf diese Texte. Vgl. auch Kap. I.3.2.4. 159 Vgl. die Zahlen in Reichsjustizamt, S. 205, wobei eine kontinuierliche Abnahme festgestellt wurde; diese dezidierten Angaben sind in der Reichsstatistik 1913 nicht mehr vorhanden und können daher nicht weiter verglichen werden. 160 Benedict, S. 6. Am umfangreichsten findet sich die Gleichsetzung bei Henschel: Vernehmung; vgl. auch die summarische Darstellung bei Linnemann, S. 73 f., dessen Liste jedoch nicht immer

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wesentlichen Argumenten unterschieden sich die Kritik und die Unterstützung der Voruntersuchung vor und nach der Kodifikation 1877 jeweils jedoch nicht. Neben der Rolle der Öffentlichkeit161 standen drei Fragen zur Ausgestaltung bzw. grundsätzlichen Einschätzung im Mittelpunkt. Erstens: Kann der Untersuchungsrichter als Ermittlungsleiter eine unparteiische Funktion ausüben162 oder wird er zwangsläufig den Schwerpunkt seiner Ermittlungen auf eine Überführung des Beschuldigten legen?163 Zweitens: Ist ein Beschuldigter rechtlich oder moralisch verpflichtet, zur Aufklärung und gegebenenfalls zu seiner eigenen Überführung beizutragen, oder steht er der Staatsanwaltschaft als gleichberechtigter Gegner gegenüber, der dann über Schutzrechte verfügen und das Recht haben muss, lediglich seine eigenen Interessen zu verfolgen?164 Drittens: Ist das Ziel der Voruntersuchung die lückenlose Aufklärung und die Überführung des Täters165 oder soll sie lediglich eine Grundlage schaffen, auf der dann entschieden werden kann, ob ein Gerichtsverfahren ein Ergebnis bringen könnte?166 Es ging im Kern also um das Spannungsverhältnis zwischen individuellen Freiheitsrechten und dem Strafanspruch der Gesellschaft bzw. der Suche nach der materiellen Wahrheit.167 Im Zuge der Kodifikation wurde der Zweck der Voruntersuchung eingeschränkt. Sie sollte künftig nicht mehr einen Fall vollständig aufklären, sondern war nach § 188 der Reichsstrafprozessordnung »nicht weiter auszudehnen, als erforderlich ist, um eine Entscheidung darüber zu begründen, ob das Hauptverfahren zu eröffnen oder der Angeschuldigte außer Verfolgung zu setzen sei.« Eine erschöpfende Beweiserhebung durch den zuständigen Untersuchungsrichter sollte explizit nicht mehr stattfinden, wie sich in den ›Gesetzesmotiven‹ nachlesen lässt: Es sei keinesfalls »der Zweck des Vorverfahrens, […] schon eine Ueberzeugung von der Schuld oder Unschuld des Beschuldigten zu begründen. Darum sind Maßnahmen, welche darüber hinausgehen, die Möglichkeit zur Prüfung der Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit des angeregten Verdachts zu gewähren […] schädlich.«168

Die Frage jedoch, was »erforderlich ist, um eine Entscheidung […] zu begründen«, stellte ein Einfallstor für die unterschiedlichsten Interpretationen dar. Die Fachliteratur ging mit der Frage, welchem Grad der Wahrheitsfindung die Voruntersuchung diente und wie sie daher auszugestalten sei, sehr unterschiedlich

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eindeutig zu entnehmen ist, welche der analysierten Texte auch explizit den Begriff verwendet haben bzw. ob sie ihn als historische oder als ethische Kategorie verwendeten. Vgl. insbesondere Kap. II.1.2 und Kap. II.3.2. So v.a. Gross: Handbuch (1894), S. 18–22; Ortloff : Vorverfahren, S. 116–195, v.a. 117–125; Delbrück: Betrachtungen, S. 442, und Massmann, S. 237–239. So bspw. die Kritik bei Kronecker: Reformbedürftigkeit, S. 421 f. Rieß gibt einen kondensierten Überblick über die dabei in Frage stehenden Teilrechte (u.a. rechtliches Gehör, anwaltlicher Beistand etc.). So noch vor 1879 in zahlreichen Ländern; vgl. Krauß, S. 7. Zur Gegenüberstellung vgl. Küper, S. 190–213. Ortmann: Wahrheitsanspruch. Hahn: Materialien, S. 162.

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um.169 Einige Juristen kommentierten die Norm nicht selbst, sondern druckten lediglich den Gesetzestext ab,170 andere zitierten wörtlich aus den ›Motiven‹171 . Dritte kommentierten den Paragraphen mit172 oder ohne173 expliziten Bezug auf dieselben mit dem Hinweis, dass es nicht der Zweck der Voruntersuchung sei, »schon eine Ueberzeugung von der Schuld oder Unschuld des Angeschuldigten zu begründen. […] die Zuverlässigkeit [der Ergebnisse der Hauptverhandlung soll] nicht durch Massnahmen beeinträchtigt werden, welche weiter gehen, als die Prüfung der Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit des angeregten Verdachtes zu gewähren.«174

Sie machten also in Übereinstimmung mit den schriftlich festgehaltenen Intentionen des Gesetzgebers deutlich, dass es nicht die Aufgabe der Voruntersuchung sei, »die Wahrheit zu erforschen, sondern nur die Beweismittel herbeizuschaffen, damit in der Hauptverhandlung durch Erhebung des Beweises die Wahrheit ermittelt werden kann.«175

Die sogenannte ›materielle Wahrheit‹ – also eine als absolut verstandene Rekonstruktion der Ereignisse – sollte keine zentrale Rolle spielen. Die im Zuge formal korrekten Vorgehens zum Ende der Voruntersuchung erhaltenen Informationen – die ›formelle Wahrheit‹ –, auf deren Grundlage gegebenenfalls eine Anklageschrift erstellt werden würde, mussten nicht die ganze ›materielle Wahrheit‹ beinhalten. Stattdessen sollte die Voruntersuchung eine Grundlage dafür legen, dass diese Übereinstimmung im Urteil des anschließenden Hauptverfahrens hergestellt werden könnte. Neben diese Interpretationen traten aber auch Stimmen, die eine ausgedehnte Voruntersuchung befürworteten: »Denn die Aufgabe der Voruntersuchung besteht auch […] in der Vorbereitung der Hauptverhandlung […]. Hiernach läßt sich […] keineswegs aufstellen, daß eine erschöpfende Erhebung des Beweises in der Voruntersuchung nicht erfolgen dürfe; eine solche wird vielmehr oftmals […] geboten sein.«176 169 Stenglein: Kommentar (Deutsches Reich), S. 329. 170 Hellweg: Strafprozeßordnung (1908), S. 261; ders.: Strafprozeßordnung (1912), S. 217 f.; Voitus: Kommentar, S. 225 f. 171 Puchelt, S. 339; Dalcke, S. 123 f.; von Bomhard/Koller, S. 135; Kolisch, S. 356; Höinghaus, S. 71 f. 172 Stenglein: Kommentar (Deutsches Reich), S. 340; Bennecke, S. 479; von Schwarze: Commentar, S. 337 f.; Meves: Strafverfahren, S. 121; Vonschott, S. 271; Glaser: Handbuch, Bd. 2, S. 315 f. 173 Mamroth: Strafprozeßordnung, S. 187; Thilo, S. 206; Rosenfeld: Reichs-Strafprozeß (1905), S. 295 f.; Delius, S. 328. 174 Keller: Strafprozess-Ordnung (1882), S. 216. 175 Delius, S. 328. 176 Löwe/Hellwig, S. 505. Wortgleich Löwe: Strafprozeßordnung (1914), S. 389 f.; ders.: Strafprozeßordnung (1922), S. 421. Ähnlich: Fuchs: Vorverfahren, S. 462; von Kries, S. 496; John: Strafprozeßrecht (systematisch), S. 52 f. Ortloff : Untersuchungsrichter im Strafprocesse, S. 263, aber mit grundsätzlicher Zustimmung zur Beschränkung des Untersuchungsrichters. Auch Hoppe, S. 145, hält eine Ausdehnung der Voruntersuchung gerade in Schwurgerichtsfällen über den Rahmen der ›Motive‹ hinaus für notwendig.

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Im Gegensatz zu jenen Interpretationen, die den Zweck gerade nicht in einer umfassenden Wahrheitsermittlung sahen, konnte mit dieser leichten Verschiebung der Auslegungspraxis eine »erschöpfende Erhebung« plötzlich »geboten sein«. Während Löwe diese Forderung noch insofern einschränkt, als dies nur für schwere Verbrechen gelte, fordert das einschlägige »Handbuch für Untersuchungsrichter« von Hanns Gross, alles »Menschenmögliche« zu leisten und über die »Grenze des Erreichbaren« noch hinauszugehen.177 Nach Gross Auffassung war die Arbeit des Untersuchungsrichters erst dann tatsächlich beendet, wenn der Fall vollständig aufgeklärt sei. Selbst eine Aufklärung bis hinein in die »kleinsten, einfachsten Einzelheiten« wurde vertreten: »Worin besteht denn das Wesen und Ziel des Untersuchungsverfahrens? Darin, daß die Wahrheit, die reine und volle Wahrheit, zu Tage gefördert werde; mit der bloßen Wahrscheinlichkeit darf sich der Strafrichter nicht begnügen.«178

Obwohl sich der Gesetzgeber 1877 in einem langen und kontroversen Prozess dezidiert gegen die traditionelle Voruntersuchung entschieden hatte, bei der die Wahrheitssuche möglichst weit hatte vorangetrieben werden sollen, lassen sich somit Texte nachweisen, die genau diese Form der Voruntersuchung für geltendes Recht erklärten.179 Je nach eigener Überzeugung über die ideale Ausgestaltung des Verfahrens, des Verhältnisses von Form und Wahrheit und der methodologischen Verortung erklärten die Autoren kommentierender Literatur entweder vorbereitende Recherchen für ausreichend oder eine lückenlose Aufklärung für erforderlich. Bedenkt man die Bedeutung dieser Texte für Ausbildung und Gerichtspraxis, dann sind die Auslegungsdifferenzen in derselben nicht nur Ausdruck von, sondern auch Grundlage für divergierende Praktiken vor Ort. Die Anwendung des Gesetzes war somit eine politische Angelegenheit. Wie der Spielraum individuell genutzt wurde, war davon abhängig, welche rechtspolitische Leitidee von der Funktion des Strafverfahrens der jeweilige Jurist hatte. Diese Beobachtung führt zu drei empirischen und einer methodologischen Schlussfolgerung. Empirisch lässt sich erstens konstatieren, dass Handlungsweisen denkbar wurden, die vom Gesetzgeber dezidiert abgelehnt, jedoch nicht verboten worden waren. Die Norm war damit im Kleinen täglicher Aushandlung und faktischer Reform unterzogen, ohne dass es zu Veränderungen im Gesetzestext kommen musste. Diese Beobachtung widerspricht dezidiert einer Perspektive, welche Normengeschichte in erster Linie als Fortschrittsnarrativ erzählt. Sie betont vielmehr, wie fluide Normen bei ihrer Implementation waren. Zweitens konnte es aufgrund der divergierenden Auslegungen in der Strafrechtspraxis zu Konflikten zwischen den Juristen kommen. Dies wird nachfolgend besonders deutlich, wenn es um die Abgrenzung der den Juristen jeweils zustehenden Kompetenzen 177 Gross: Handbuch (1894), S. 10. 178 Seefeld, S. 277. 179 Bennecke, S. 480 f., Fn. 33, erklärt entsprechende Interpretation als einziger hingegen für nicht mehr mit dem Gesetz vereinbar.

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im Gerichtsverfahren ging.180 Drittens senkte die ›juristische Varianz‹ die Wahrscheinlichkeit identischer Handlungsabläufe in der Verfahrensführung und drohte, bei nicht-juristischen Akteuren den Eindruck der Willkür zu erwecken. Diese empirischen Beobachtungen über die juristische Logik im Kaiserreich sind jedoch auch bei der historischen Analyse zu berücksichtigen. Wahrheit und Form als widerstreitende Ziele im Strafverfahren – ein Kapitelfazit Wahrheit war das erklärte Ziel des Verfahrens, und es wurde ein staatlicher Anspruch auf diese Wahrheit formuliert, der durch Rituale und Sanktionen zum Ausdruck gebracht wurde. Die juristische Wahrheit hatte jedoch zwei Ebenen: die inhaltliche und die formale. Beide besaßen eine zentrale Bedeutung, nur wenn beide vorlagen, erfüllte der Strafprozess seinen Zweck. In wie weit die staatliche Wahrheitssuche im Gericht noch oder wieder auf die Unterstützung durch Religion und Kirche setzen sollte, wurde zeitgenössisch am Beispiel des Gerichtseides intensiv diskutiert. Dabei ging es auch um das grundsätzliche Verhältnis von Staat und Religion. Für die Juristen des Kaiserreichs war klar, dass die Aufklärung und Bewertung einer Straftat zwingend im Rahmen der gesetzlichen Verfahrensvorschriften erfolgen musste. Wie dieses Verfahren jedoch im Detail auszugestalten sei und welchem Idealtyp es folgen sollte, war weniger eindeutig. Sowohl bei der Kodifikation der Reichsjustizgesetze 1877 als auch in den nachfolgenden 50 Jahren des Untersuchungszeitraumes gab es hierüber Differenzen innerhalb der Juristen und der rechtspolitischen Akteure. Grundlegend waren hierfür in erster Linie die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen zwischen garantierten, individuellen Freiheitsrechten und dem gesellschaftlichen Strafanspruch bzw. der effektiven Wahrheitssuche der Justiz. In juristischen Diskussionen über die Ausgestaltung der Strafprozesse spielten somit immer auch das Verhältnis von Staat und Individuum, die Verfassungsfrage der Freiheitsrechte und des Untertanenverhältnisses eine wesentliche Rolle. Die rechtspolitischen Differenzen führten jedoch nicht nur zu Meinungsverschiedenheiten in der Frage, wie das Strafverfahren zukünftig ausgestaltet werden sollte. Vielmehr kam es angesichts von Auslegungsspielräumen auch zu Konflikten darüber, wie das geltende Verfahren der Reichsstrafprozessordnung im Konkreten aussah. Für die Durchführung einer Beschuldigtenvernehmung war etwa entscheidend, ob der Untersuchungsrichter eher der Wahrheitssuche oder den Schutzrechten des Verdächtigen den Vorrang gab.181 Die Vielstimmigkeit der Justiz, wie sie der Historikerin bei der Lektüre juristischer Fachliteratur entgegen tritt, birgt ein von der historischen Forschung ernst zu nehmendes Potential. Durch die genaue Lektüre der zeitgenössischen Kommentare und der darin enthaltenden Differenzen und Widersprüche kann etwa für eine 180 Vgl. Kap. I.3.2. 181 Ortmann: Wahrheitsanspruch.

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Normen- oder Geistesgeschichte der Justiz ermittelt werden, welche rechtspolitischen Leitbilder im Fachdiskurs wirkmächtig waren und wie sich dieselben veränderten. Um den Wandel und die Persistenz rechtspolitischer Anschauungen zu untersuchen, können somit die theoretische Reformliteratur sowie die Gesetzgebungsprotokolle durch eine stärker von ›Praktikern‹ verfasste Textsorte ergänzt werden. Die Berücksichtigung der ›juristischen Varianz‹ führt zu einer veränderten Rekonstruktion sowohl der gesetzlichen Grundlagen als auch der in Strafprozessakten dokumentierten Handlungen bei der historischen Analyse justizieller Praktiken. Wenn eine Gerichtsakte festhält, dass der Beschuldigte »gemäß § 136 RStPO befragt wurde«, dann ist keineswegs eindeutig, was für eine Bedeutung der entsprechende Paragraph für die zeitgenössischen Juristen hatte. Dass ihm das Recht der Aussageverweigerung zustand, sagte etwa noch nichts darüber aus, ob er darüber auch informiert wurde oder wie sich die Befragung gestaltete. Die Rekonstruktion der juristischen Handlungen kann eben nicht auf eine eigene Interpretation des Gesetzestextes oder lediglich eine einzige erläuternde zeitgenössische Quelle gestützt werden. Es bedarf vielmehr einer Sensibilisierung und ggf. stichprobenartigen Prüfung, ob die zeitgenössischen Juristen sich bei der Interpretation des Gesetzes in der konkreten Frage weitgehend einig waren. Zeigen sich dabei grundlegende oder für die konkrete Fragestellung wichtige Differenzen, sind diese durch das Hinzuziehen eines umfangreichen Korpus an kommentierenden Texten herauszuarbeiten. Die Multiperspektivität der Akteure in einem gerichtlichen Verfahren ernst zu nehmen, bedeutet daher, sich dem wahrscheinlichen juristischen Alltag durch eine dichte Analyse der Texte so weit wie möglich zu nähern, in dem die Handlungsmöglichkeiten – die ›juristische Varianz‹ – offen gelegt werden. Zusätzlich lassen sich mithilfe der Gerichtsakten weiter gehende Angaben machen, inwieweit sich die unterschiedlichen Auslegungen des Gesetzes in der Praxis niederschlugen. Für viele Aspekte wird aufgrund der Überformung der Gerichtsakte oder lückenhafter Überlieferungen eine abschließende Aussage nicht möglich sein. Hier kann sich der Frage durch das Benennen der Varianz nur angenähert werden. Es ist dann dar zu legen, welchen möglichen Ablauf die Handlung genommen hat und wo die Grenzen der Rekonstruktion liegen. Denn obwohl die Gerichtsakten zum Teil sehr detailliert und umfangreich sind, enthalten auch sie Lücken und Widersprüchlichkeiten, die nicht aufzulösen sind.

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2. Die Multiperspektivität der Gerichtsakte

Im Gasthaus zur neuen Post in Marktoberdorf wurde im Oktober 1900 der dortige Amtsrichter Ammann vom Kemptener Untersuchungsrichter Vollmuth als Zeuge vernommen. Vollmuth untersuchte einen Meineidsfall, in dem Ammann den zentralen Verdächtigen vernommen hatte. Ammann versicherte, dass dieser seine Aussage genau so gemacht habe, wie es im von ihm diktierten Protokoll vermerkt war. Welche Fragen er dem Zeugen damals gestellt habe, könne er nicht mehr sicher angeben. Dennoch stellte er klar, dass er sicher wisse, dass der Zeuge die infrage stehende Aussage nicht gemacht habe, denn »sonst hätte ich das ja in das Protokoll ganz sicher aufgenommen«.1 Diese kurze Szene, die durchaus kein Einzelfall war,2 lässt erahnen, welche Bedeutung die Juristen den Protokollen und Akten zuwiesen. Es handelte sich in der juristischen Logik um Dokumente, die originalgetreu das in ihnen dargelegte Geschehen wiedergaben. Protokolle beglaubigten, dass etwas (nicht) geschehen war, und überführten Sprechakte und Handlungen in eine anerkannte und archivierbare Wahrheit.3 Durch die Betonung, dass man das Protokoll anders abgefasst hätte, wenn die Ereignisse sich anders zugetragen hätten, und dass die Ereignisse nun nicht anders gewesen sein könnten, weil man es sonst anders protokolliert hätte, versicherten sich die vernehmenden und vernommenen Juristen (und Gendarmen) des geteilten Verständnisses über die ihnen eindeutig erscheinenden Maßstäbe des Protokollierens. Der Umgang der Historikerin mit der Gerichtsakte muss notwendigerweise ein anderer sein. Das Fehlen von Dokumenten kann schon aus Gründen der Archivüberlieferung kein Beweis dafür sein, dass eine Handlung nicht stattgefunden hat. Auch wird ein Protokoll nicht als authentischer Spiegel historischer Ereignisse verstanden. Die nachfolgende Beschreibung, welche juristische Logik sich im Umgang mit Akten niederschlug, gewährt einen ersten Blick in den Alltag der Strafjustiz im Kaiserreich und führt in das zweite Fallbeispiel ein, das der Studie maßgeblich zugrunde liegt. Die Rekonstruktion der Aktenführung ermöglicht nicht nur ein besseres Verständnis für juristisches Handeln, sondern legt den Grundstein für eine Quellenkritik, die für einen differenzierteren Umgang mit Gerichtsakten plädiert. 1 StAA LG Ke - SK: 192/1900, Vernehmung des H.A. am 18.10.1900. 2 Dass.: 28/1899, Vernehmung des E.S. am 29.5.1899; dass.: 103/1901, Vernehmung des J.J. am 2.5.1902; StAA LG A - SG: 51/1895, Vernehmung des F.S. am 29.4.1895. 3 Zum performativen Akt des Protokollierens: Niehaus/Schmidt-Hannisa.

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2.1 Die juristische Logik der Gerichtsakte Die in den Gerichtsakten vermerkten Notizen besaßen für die Juristen Beweiswert – ihnen wurde ein formaler Wahrheitsanspruch zugewiesen, der Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Der Aufbau war orientiert an den juristischen Relevanzkriterien von Schuld, Deliktdefinition und Strafe und unterstützte die Suche nach einer eindeutigen, ›materiellen‹ Wahrheit, wobei zu dokumentieren war, dass diese auf formal korrektem Wege erlangt wurde.

2.1.1 Die Akte als Beweis – Ziele der Aktenführung Der Authentizitätsanspruch ließ sich im alltäglichen Umgang mit der Akte in unterschiedlichen Zusammenhängen beobachten. Insbesondere zählt hierzu der kurze, oft durch Kürzel erfolgende Verweis auf frühere Schriftstücke. So wurde etwa in einem Vernehmungsprotokoll festgehalten, dass der Zeuge »wie seine Ehefrau aussagte«, oder es war in der Anklageschrift vermerkt, durch welche Aussage eine Handlung belegt sei.4 Diese Verweisungstechnik verband nicht nur Vernehmungen miteinander sowie die Voruntersuchung mit der Anklage und der Hauptverhandlung.5 Es wurde auch in Berufungsverfahren, bei neuen Verdächtigen oder in Meineidsverfahren auf die früheren Akten, Berichte und Protokolle verwiesen.6 Eine zentrale Technik war das Unterzeichnen, Siegeln und Stempeln der Dokumente.7 Insbesondere bei Protokollen mussten Richter und Schreiber die Authentizität durch ihre Unterschrift bestätigen. Nachträgliche Änderungen mussten abgezeichnet werden,8 und auch einzelne Verfahrensschritte, die in den Akten angeordnet oder dokumentiert wurden, wurden zumindest durch ein Namenskürzel autorisiert.9 Trotz oder vielleicht gerade wegen des hohen Wahrheitsanspruches, der der Akte durch die Juristen zugewiesen wurde, kam es über die Zuverlässigkeit der Protokolle wiederholt zu Differenzen. Immer wieder verwiesen Zeuginnen und Zeugen sowie Beschuldigte darauf, dass ihre Aussage nicht korrekt im Protokoll wiedergegeben sei – und es erscheint fraglich, ob es sich hierbei tatsächlich nur um Schutzbehauptungen handelte.10 Anton Schmidt, der wegen Meineids im ersten Fallbeispiel Beschuldigte, stellte etwa klar: 4 StAA LG Ke - SK: 21/1902, Vernehmung des S.H. am 25.6.1902; dass.: 103/1901, Anklageschrift vom 27.8.1902. 5 Beispielhaft: StAA LG A - SG: 25/1893, Hauptverhandlungsprotokoll vom 21.9.1892. Dazu ausführlich Habermas: Diebe vor Gericht, S. 176–180; diese Verwobenheit wurde zeitgenössisch scharf kritisiert, vgl. im Überblick: Meiners, §9, o.S. 6 Vgl. StAA LG Ke - SK: 35/1903, Gendarmerieanzeige vom 21.3.1903. 7 Exemplarisch: dass.: 103/1901, Vernehmungen am 2.1.1902. 8 Lunglmayr, S. 400. 9 Vgl. etwa StAA LG Ke - SK: 103/1901, Requisitionsaufforderung am 2.1.1902. 10 Dass.: 71/1905, Vernehmung des J.P. am 30.8.1905; dass.: 88/1906, Vernehmung des B.K. am 23.11.1906.

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»und wurde vielleicht deshalb, weil man 2en unter ›paar‹ bei uns versteht, im Sitzungsprotokolle niedergeschrieben ›2 alte Deicheln‹.«11

Von Seiten der Juristen wurde auch im Abstrakten über eine Fehlerhäufigkeit geklagt.12 Insbesondere für weiterführende Verfahren – Berufungen und Meineidsprozesse – wurde dies als problematisch kritisiert,13 Abhilfe erhoffte man sich durch die Stenographie, da es sich bei den Protokollen nicht um wörtliche Mitschriften handelte.14 Welchen Umfang die Protokolle hatten bzw. was Eingang in die Gerichtsakte fand, war davon abhängig, was jeweils als juristisch relevant angesehen wurde. Das zentrale Kriterium war die weitere Verwendung des archivierten Wissens: Sollte es – wie insbesondere bei schriftlichen Verfahren – die Grundlage für eine inhaltlich urteilende Entscheidung bilden, dann musste die Dokumentation umfangreich sein. Sollte die Akte jedoch ausschließlich belegen, dass ein Verfahren formal korrekt abgelaufen war, reichte es aus, das Einhalten desselben stichpunktartig zu dokumentieren. Da bei der Urteilsfassung in Hauptverhandlungen die Akten nicht verwendet werden durften und da eine Revision gegen Urteile des Landgerichtes (Strafkammer und Schwurgericht) nur bei formalen Verstößen möglich war,15 dokumentierten deren Verhandlungsprotokolle im Wesentlichen nur Formalia:16 die Namen der Verfahrensbeteiligten sowie grundlegende Verfahrensschritte, etwa den Ausschluss der Öffentlichkeit, die Beeidigung der Zeuginnen und Zeugen oder die Erstellung einer Frageliste an die Geschworenen. Hierfür wurden gedruckte Formulare verwendet.17 In der vorigen Verfahrensphase erfolgten hingegen sowohl die Anklageerhebung des Staatsanwaltes, die Entgegnung des Verteidigers als auch die darauf folgende Entscheidung der gerichtlichen Kommission,18 ob das Verfahren gegen den Beschuldigten eröffnet oder eingestellt würde, ausschließlich auf Grundlage der Aktenkenntnis. Denn in der Voruntersuchung durfte in der Regel keiner von ihnen Untersuchungshandlungen beiwohnen,19 so dass alle Rechercheergebnisse, Vernehmungen und Formalia umfassend dokumentiert sein mussten. Welche 11 Dass.: 21/1902, Vernehmung des A.S. am 30.5.1902. 12 Schwaiger, S. 21, weist diese Klagen jedoch zurück. 13 Kronecker: Reformbedürftigkeit, S. 427–430; Karsten, S. 435 f.; Lafrenz, S. 726 f.; Boehm, S. 382; Lunglmayr, S. 409; Lucas: Anleitung, Bd. 1, S. 34. Lohsing, S. 83, verweist auf eine diesbezügliche Debatte im Gross’schen Archiv, Bd. 14. 14 Exemplarisch: von Slupecki, S. 20 f.; Becker: »Recht schreiben«, S. 49–55. 15 Reichling, S. 31–38. Ausführlich aufgelistet bei Meyer: Protokoll, S. 44–49; Ortloff : Hauptverhandlungsprotokolle, S. 99. Anders bei Schöffengerichten, wo auch Aussagen und Beweise protokolliert wurden, vgl. Meyer: Protokoll, S. 44 f. und 49 f. 16 Reichling, S. 31–38; Braum, S. 60 f. Vgl. exemplarisch: StAA LG A - SG: 11/1884, Hauptverhandlungsprotokoll vom 8.5.1884 (Schwurgericht); StAA LG A - SK: 382/1891, Hauptverhandlungsprotokoll vom 18.12.1892, und StAA LG Ke - SK: 114/1918, Hauptverhandlungsprotokoll vom 20.7.1918 (Strafkammer). Fiktive Beispiele finden sich bei Bretzfeld: Anleitung. 17 Vgl. Anonymus: Bekanntmachung vom 13.9.1879, insbesondere Nr. XXII–XXVII. 18 Vgl. exemplarisch: StAA LG A - SG: 74/1895, Eröffnungsbeschluss vom 23.9.1895. 19 Geyer: Lehrbuch, S. 437–441; von Holtzendorff : Vertheidigung, S. 409–423.

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Ereignisse bei einer detaillierten Protokollierung erfasst wurden, orientierte sich an der zeitgenössischen Beweislehre und der Definition der Delikte, die durch die Anzeige vorstrukturiert waren.20 Die richterliche Entscheidung schließlich musste im Urteil zwar darlegen, was als bewiesen betrachtet wurde. Im Sinne der ›freien Beweiswürdigung musste das Urteil jedoch nicht detailliert ausführen, wodurch es als belegt angesehen wurde.21

2.1.2 Aufbau der Akte – Fallbeispiel II aus dem ländlichen Allgäu: Die ermordete Magd Anhand des Fallbeispiels II soll exemplarisch die Akte in ihrer Chronologie, Narration und Materialität beschrieben werden. Damit werden zwei Ziele verfolgt: Zum einen wird die juristische Bedeutung des formal korrekten Ablaufs deutlich. Zum anderen bildet das Fallbeispiel II eine narrative wie empirische Grundlage der vorliegenden Mikrostudie, weshalb eine kurze Einführung in die wesentlichen Orte, Personen und Geschehnisse für das weitere Verständnis grundlegend ist.22 Zentrale Orte sind die Gemeinden Kraftisried und Reinhardsried, welche über 585 Einwohner und 106 Wohngebäude in neun Orten bzw. 450 Einwohner und 88 Wohngebäude in sieben Ortschaften verfügten. Beide Gemeinden waren nahezu ausschließlich katholisch. Kraftisried lag etwa zehn Kilometer von Kempten entfernt,23 die nächstgelegene katholische Pfarrei befand sich in Unterthingau, etwa 3,5 km entfernt. Am 14.11.1890 informierte die Gendarmerie Unterthingau das zuständige Amtsgericht in Obergünzburg, dass die seit mehreren Tagen vermisste Dienstmagd Therese Gast aus Westenried (Gemeinde Kraftisried) soeben tot und mit einer großen Schnittwunde am Hals aufgefunden worden war.24 Anzeigen über Verbrechen oder – wie hier – Leichenfunde konnten sowohl bei der Gendarmerie als auch bei der Staatsanwaltschaft oder den Amtsgerichten mündlich und schriftlich erstattet werden. Sie wurden dann an die jeweils zuständigen Behörden weitergeleitet.25 Damit die juristisch zumeist nicht vorgebildeten Gendarmen alle aus juristischer Sicht notwendigen Informationen notierten und dabei auch eine als angemessen betrachtete Sprache verwendeten, war das Verfassen der Anzeigen und Berichte Teil ihrer Ausbildung.26

20 Hommen, S. 101. 21 Lunglmayr, S. 473; Meyer: Protokoll, S. 135 f. Exemplarisch: StAA LG Ke - SK: 97/1906, Urteil vom 19.1.21906; detaillierter auf einzelne Aussagen geht dass.: 83/1901, Urteil vom 28.12.1901, ein. 22 Eine Zeitleiste über die wichtigsten Geschehnisse ist im Anhang angefügt. Vgl. III.5. 23 Alle statistischen Angaben aus Königlich Bayerisches Statistisches Bureau: Ortschaften-Verzeichnis; Petzet, S. 114 f. 24 StAA LG Ke - SK: 124/1890, Anzeige vom 14.11.1890. 25 Bretzfeld: Behandlung, S. 105–110; Genzmer, S. 21–27; Stieber, S. 78–81. 26 Vgl. Schähle mit Beispieltexten.

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Bereits am 16.11. informierte der lokale Amtmann den Staatsanwalt in Kempten, dass vor Ort der Arbeitgeber der Dienstmagd, Bauer Anton Fichtl, verdächtigt werde, woraufhin der Staatsanwalt eine sofortige Hausdurchsuchung nach der Tatwaffe anordnete.27 Ursächlich war, dass die Ermordete schwanger war und in ihrem Arbeitgeber der Schwängerer vermutet wurde. Über einen anderen Liebhaber war nichts bekannt, und Fichtl hatte bereits früher eine seiner Dienstmägde geschwängert. Das Schreiben wurde – wie alle einlaufenden Schreiben – mit einem Eingangs-Datumsstempel versehen.28 Die Anzeige wurde vom Staatsanwalt in das durchnummerierte Anzeigeregister des Landgerichtes aufgenommen.29 Diese Nummer (AVZ 1469) trugen von nun an alle Schriftstücke, die in der Akte abgelegt wurden. Dadurch war der ›Fall‹ als verwaltungstechnischer Akt konstituiert. Offenbar – darauf deutet die gleichbleibende Handschrift hin – wurde diese Signatur bei der Ablage auf den einzelnen Schriftstücken vermerkt. Die Anzeige und die weiteren Schriftstücke wurden mit einem Papierumschlag zusammengefasst, auf dem die zuständige Staatsanwaltschaft, der Name des Beschuldigten, die Tat, das Jahr und die Anzeigeverzeichnisnummer aufgeführt wurden.30 In den folgenden Tagen kam es zu einem Briefwechsel zwischen dem Staatsanwalt und dem Stationskommandanten der lokalen Gendarmerie, Alexius Färber. Während erster Anweisungen gab, berichtete zweiter über Recherchen, Wahrnehmungen und Gerüchte; schließlich wurde vermerkt, dass beim Untersuchungsrichter beantragt worden sei, gegen Anton Fichtl wegen Mordverdachts die Voruntersuchung zu eröffnen.31 Am 22.11.1890 erfolgte der »Eröffnungsbeschluß«, mit dem die Zuständigkeit an den Untersuchungsrichter überging. Der ›Fall‹ erhielt eine neue Nummer (124), die das offizielle Aktenzeichen wurde. Jetzt wurde ein roter Aktendeckel angelegt, der mit dem Namen des Beschuldigten, dem Delikt und der Aktensignatur versehen war.32 In diesem Akt wurden alle Unterlagen in chronologischer Reihenfolge ihres Einganges abgeheftet und durchlaufend paginiert. Die Akte enthielt vorne ein Inhaltsverzeichnis, das die Daten des Falles (Name, Delikt, Signatur) wiederholte und in drei Abteilungen unterteilt war: Zunächst wurden unter »Bezeichnung der Schriftstücke« in chronologischer Reihenfolge und durchnummeriert33 alle Dokumente verzeichnet, die in der Akte abgelegt wurden.34 Angeführt wurden 27 StAA LG Ke - SK: 124/1890, Schreiben vom 16.11.1890. 28 Anonymus: Dienstvorschriften vom 14.9.1879, S. 746 f. 29 Vgl. Bretzfeld: Behandlung, S. 2–8; Anonymus: Bekanntmachung vom 3.9.1879, S. 566. Die Anzeigeregister der Staatsanwaltschaft sind für den Untersuchungszeitraum nicht überliefert. 30 Ebd., S. 569. 31 StAA LG Ke - SK: 124/1890, Schreiben vom 16.–21.11.1890. 32 Kam es nicht zu einer Voruntersuchung, wurde mit Einreichung der Anklage ein solcher Aktendeckel angelegt. Anonymus: Bekanntmachung vom 3.9.1879, S. 569. 33 Abweichend von der Seitenzahl wurden hier Dokumentnummern angeführt, eine Nummer konnte also mehrere Seiten umfassen. 34 Vgl. zur Paginierung und Anlage des Inhaltsverzeichnisses in Untersuchungsakten HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 9377, Anordnung des Bayerischen Justizministeriums vom 25.6.1881 (abgedruckt in: JMBl By 1881, S. 303).

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das Datum des Eingangs bzw. der Ablage sowie die Seitenzahl. Dieses Inhaltsverzeichnis führte neben diversen »Gendarmerie Anzeigen« – also polizeilichen Berichten – Augenscheinprotokolle, Schreiben, Leumunds- und Vermögenszeugnisse, Haftbefehle, gerichtliche Beschlüsse und Gutachten an.35 Hiervon getrennt verzeichnet waren die vier Vernehmungsprotokolle mit dem Beschuldigten, der dafür erneut namentlich – bzw. im Falle von mehreren Tätern einzeln – angegeben wurde36 und es wurden für jede Vernehmung die laufende Nummer und die Seitenzahl vermerkt. Anschließend verzeichnete die Liste die Zeug(inn)envernehmungen nach dem analogen System. Nicht im Inhaltsverzeichnis aufgelistet waren die untersuchungsrichterlichen Anweisungen wie etwa Vorladungen, welche aber als Aktennotiz oder Duplikat des Zustellscheins dokumentiert gewesen sein müssen, sind sie doch zum Teil noch erhalten. Auf diese Weise wuchs die Akte im Verlauf der Voruntersuchung, welche der Untersuchungsrichter Reiner gemeinsam mit dem Gerichtsschreiber Knauer durchführte, auf etwa 200 Blatt an, bevor er sie am 20.3.1891 schloss und an den Staatsanwalt zurückleitete. Zu den Kernpunkten der Untersuchung gehörte, ob ein im Fichtlschen Hause gefundenes Messer die Tatwaffe gewesen war und ob Fichtl ein ausreichendes Alibi für den vermuteten Tatabend hatte. Der genaue Todeszeitpunkt konnte aber ebenso wenig festgelegt werden, wie ein eindeutiger Beweis gefunden werden konnte, dass Fichtl der Vater des ungeborenen Kindes war. Der Staatsanwalt beantragte noch am selben Tag, aus Mangel an Beweisen kein Verfahren zu eröffnen. Diesem Antrag wurde vier Tage später entsprochen.37 In den nachfolgenden Jahren wurden wiederholt Gendarmerieberichte nachgetragen, die über neue Verdächtige berichteten. Die darauf folgenden Recherchen wurde in eigenen Akten abgeheftet, da sich Akten ebenso wie die Voruntersuchung an der Person des vermeintlichen Täters und nicht an der Tat orientierten.38 So kam es, dass neben der Akte mit der Nummer »124/1890« im Laufe von zehn Jahren noch drei weitere angelegt wurden, die jeweils über eigene Signaturen und Aktenzeichen verfügten. Die erste dieser drei Akten wurde bereits im Februar 1891, also noch während der Untersuchung gegen Fichtl, angelegt. Obwohl von Beginn an Zweifel an dem zweiten Verdacht dokumentiert wurden, wurde eine Voruntersuchung eröffnet, die schnell beendet war.39 Deutlich umfangreicher fielen hingegen die Recherchen aus, die in der Voruntersuchung gegen den Ökonomen Konrad Hörmüller eingeleitet wurden, nachdem am 15.4.1891 Alexius Färber

35 Zu diesen im 19. Jahrhundert ausgebildeten Beweismitteln vgl. Habermas: Diebe vor Gericht, S. 91–119. 36 So im Folgeverfahren StAA LG Ke - SK: 103/1901. 37 Dass.: 124/1890, Verfügungen vom 20. und 24.3.1891. 38 Die Ausnahme von der Regel bildet StAA LG A - SK: 490/1889, in der sich die Abschrift einer Beschuldigtenvernehmung befindet, obwohl für diesen neuen Verdächtigen eine eigene Akte vorhanden war 39 StAA LG Ke - SK: 16/1891.

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dem Staatsanwalt über neue Gerüchte und daraufhin durchgeführte Recherchen berichtet hatte.40 Es war bekannt geworden, dass Sophie Masch die ermordete Dienstmagd noch am Tag nach ihrem Verschwinden im Hause der Familie Rosalie Winkler gesehen haben wollte. Dies war insofern bemerkenswert, als das Gericht bis dahin davon ausgegangen war, dass Gast zu diesem Zeitpunkt bereits tot gewesen war. Sämtliche Alibifragen und Tattheorien gerieten ins Wanken. Ins Visier der Ermittlung geriet der Bruder von Rosalie Winkler, Konrad Hörmüller. Nun wurde kolportiert, dass er ein Verhältnis mit der Ermordeten gehabt haben sollte, wobei insbesondere der vormalige Verdächtige Fichtl diesen Verdacht nährte. Neben dem Gerichtsschreiber Knauer war dieses Mal der Untersuchungsrichter Hantmann tätig, der nach 25 Zeugenvernehmungen an insgesamt fünf Terminen vor Ort und umfangreichen Gendarmerierecherchen das Verfahren am 7.7.1891 beendete. Der Staatsanwalt beantragte vier Wochen später, auch dieses Verfahren nicht zur Anklage zu bringen. Im Oktober 1901 ging dann ein weiterer Gendarmeriebericht bei der Staatsanwaltschaft in Kempten ein, der einen neuen Zeugen gegen Konrad Hörmüller benannte, woraufhin sofort die Voruntersuchung gegen ihn unter einem neuen Aktenzeichen wieder eröffnet wurde.41 Der frühere Postbote hatte erklärt, er hätte bei seinen Fahrten Konrad Hörmüller des Öfteren gemeinsam mit Therese Gast spazieren gehen sehen – ein Indiz für ein Verhältnis und damit ein Motiv. Er teilte dies erst nach seiner Versetzung mit, da er sich vor Hörmüller nun nicht mehr fürchten müsste. Wieder saß der Gerichtsschreiber Knauer dabei, während der jetzt amtierende Untersuchungsrichter Karl in den nachfolgenden Monaten über 150 Vernehmungen an etwa 30 Terminen durchführte und die Untersuchung auf einzelne Geschwister des Verdächtigen ausdehnte. Nun galt der Fundort der Leiche nicht mehr als Tatort, sondern es wurde vermutet, dass Therese Gast im Hause der Winklers ermordet und dann nachts mit einer Schubkarre auf die Wiese gebracht worden war. Im August 1902 erhob der Staatsanwalt auf der Grundlage der Voruntersuchung zum ersten Mal Anklage. Die zehnseitige Anklageschrift führte für alle Angeklagten einzeln auf, welches Verbrechens sie schuldig sein sollten und welche Beweise für den Hergang der Ereignisse sprächen. Dabei wurden abgekürzte Querverweise – »II/421« für Seite 421 in Akte II – vorgenommen, die auf die Aussagen verwiesen. Konrad Hörmüller wurde des vorsätzlichen Mordes beschuldigt. Der Bruder, Otto Hörmüller, wurde wegen »Beihilfe« angeklagt. Er sollte Gast festgehalten haben, während sein Bruder den tödlichen Schnitt ausgeführt habe. Auch habe er beim Verstecken der Leiche geholfen. Ihre Schwester Rosalie Winkler wurde ebenfalls 40 Dass.: 42/1891, Gendarmerieanzeige vom 15.4.1891. Alle weiteren Informationen beziehen sich auf diese Akte und werden nicht separat aufgeführt. 41 Dass.: 103/1901, Gendarmerieanzeige vom 13.10.1901 und Beschluss vom 15.10.1901. Dieses neue Aktenzeichen ist bemerkenswert, da die frühere Untersuchung nur »außer Verfolgung« gesetzt war, man hätte die bisherige Akte einfach weiterführen können. Es ist aus den Unterlagen nicht ersichtlich, warum dies nicht erfolgte, auch sind keine justizinternen Vorschriften bekannt, die dies begründet haben.

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der Beihilfe beschuldigt, indem sie zum einen Therese Gast mit dem Versprechen, ihr bei der Entbindung zu helfen, ins Haus gelockt und damit den Mord ermöglicht und zum anderen gemeinsam mit ihren beiden Brüdern die Leiche versteckt habe. Alle drei Angeklagten befanden sich zu diesem Zeitpunkt in Untersuchungshaft. Außerdem wurden in der Anklageschrift tabellarisch alle zu hörenden Zeuginnen und Zeugen sowie die als Beweise angeführten Gegenstände aufgeführt.42 Kurz gesagt: Die Anklageschrift präsentierte eine in sich geschlossene, argumentative Variante des Ablaufs, die in Anspruch nahm, eine eindeutige Wahrheit der Ereignisse zu rekonstruieren.43 Erst jetzt wurden den Beschuldigten Pflichtverteidiger zugewiesen, deren Stellungnahmen im September eingingen und betonten, dass zentrale Zeuginnen und Zeugen unglaubwürdige oder widersprüchliche Angaben gemacht hätten. Auch sei durch ein früheres medizinisches Gutachten belegt, dass die Tat am Fundort begangen worden sei; bei Hörmüller handele es sich zudem nicht um den Kindsvater, weshalb er auch kein Motiv habe.44 Die Schreiben der Rechtsanwälte stellten kein Gegennarrativ dar – schließlich mussten sie lediglich die vorliegenden Beweise entkräften, diesen aber keinen alternativen Täter entgegenstellen.45 Auf dieser Grundlage wurde durch das Gericht das Verfahren trotz »dringender Verdachtsgründe« eingestellt. Die dagegen eingelegte Beschwerde des Staatsanwaltes wurde am 11.10.1902 vom Oberlandesgericht abgelehnt.46 Damit schloss auch diese Akte, die inzwischen auf etwa 700 Seiten und drei Aktendeckel angewachsen war. Wäre es zu einer Verhandlung oder gar einer Verurteilung gekommen, dann wäre die Akte um einen zusätzlichen Aktendeckel erweitert worden. Die Akten der Voruntersuchung trugen dann den Vermerk »VU« oder »Voruntersuchung«. Die zusätzliche Akte enthielt in solchen Fällen den Beschluss über die Eröffnung der Hauptverhandlung, das Protokoll der Hauptverhandlung, das Urteil, mögliche Schriftwechsel über Beschwerden oder psychiatrische Gutachten.47 Im Falle einer Verurteilung ließen sich auch Bestätigungen über die Zahlung einer Geldstrafe, den Haftantritt und das Ende der Haft – im Einzelfall über den Tod eines Häftlings – finden. Die Aktenführung endete mit dem Ende der Gefängnisstrafe.48 Insbesondere aber hätte man wie in anderen Fällen wahrnehmen können, dass die Verteidiger, die in der Voruntersuchung eine Stellungnahme abgegeben hatten, im Hauptverfahren durch andere Rechtsbeistände ersetzt wurden.49 Sowohl der Eröffnungsbeschluss als auch die Urteilsbegründung hätten ihrerseits eine weitere 42 Vgl. StAA LG Ke - SK: 103/1901, Anklageschrift vom 27.8.1902. 43 Vgl. auch StAA LG A - SG: 25/1893, Anklageschrift vom 10.2.1893. Zum Wahrheitsbegriff vgl. Kap. I.1. 44 StAA LG Ke - SK: 103/1901, Rechtsanwalts-Schreiben vom 6.9. und 24.9.1902. 45 Vgl. StAA LG A - SG: 44/1890, Schreiben vom 29.7.1890. 46 StAA LG Ke - SK: 103/1901, Briefwechsel zwischen 29.9. und 11.10.1902. 47 Soweit nicht anders angegeben exemplarisch die Hauptverhandlungsakten aus StAA LG A - SG: 102/1895, und dass.: 74/1895. 48 StAA LG Ke - SK: 108/1920, enthält sogar noch die Strafvollzugsakte. 49 Exemplarisch dass.: 351/1906, Vollmacht vom 25.9.1906.

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in sich kohärente und auf die juristische Bewertung fokussierte Schilderung der Ereignisse enthalten, der nun anders als noch der argumentativen Anklageschrift zumeist nur noch sporadisch entnommen werden konnte, durch welche Aussage oder welches Indiz etwas als bewiesen gelten könne.50

2.1.3 Protokolle als Verschriftlichung von Dialogen Neben den Gendarmerieberichten, der Anklageschrift und den anwaltlichen Stellungnahmen bildeten die Vernehmungsprotokolle der Zeuginnen und Zeugen wie der Beschuldigten aus der Voruntersuchung quantitativ wie qualitativ die zentralen Schriftstücke der Gerichtsakte. Da die Protokolle für die Quellenauswertung dieser Studie von wesentlicher Bedeutung sind, werden sie in Aufbau und Protokolltechnik näher beschrieben, um darauf aufbauend ihre juristische Logik zu dekonstruieren.51 Die Vernehmung war eine Interaktion, für deren Gelingen eine gemeinsame – nicht identische – Basis sozialer Wissensbestände von Vernehmenden, Vernommenen und Protokollierenden notwendig war.52 Die Untersuchungsrichter eröffneten die Vernehmung mit einem Hinweis, worum es bei der Befragung gehe, und stellten dann im weiteren Verlauf gezielte Fragen.53 Das vorherrschende Frage-AntwortSchema entschied dabei nicht nur über die Relevanz des Ausgesagten und damit darüber, was wann ausgesagt werden konnte;54 Anordnung und Art der Fragen konnten bereits Antworten und Interpretationen implizieren, die in einer spontanen Erzählung nicht in gleicher Form verwendet worden wären.55 Dennoch folgten die Narrationen nicht nur juristischen Fragen des unmittelbaren Tatzusammenhangs, sondern es lassen sich in den Protokollen auch Hinweise finden, welche Aspekte von den Aussagenden als wichtig empfunden wurden.56 Der Aufbau der Protokolle folgte einem festen Schema: Im Kopf standen Aktenzeichen, Ort, Datum, Fall und Namen der Gerichtskommission. Außerdem wurde angegeben, ob Zeugen oder Beschuldigte vernommen wurden. Der Hauptteil

50 Vgl. StAA LG A - SG: 74/1895, Eröffnungsbeschluss vom 23.9.1895; dass.: 107/1894, Eröffnungsbeschluss vom 27.11.1894; StAA LG Ke - SK: 83/1901, Urteilsgründe; dass.: 97/1906, Urteilsgründe. 51 Die Forschung hat über Jahrzehnte eine ausgefeilte Quellenkritik für Vernehmungsprotokolle erarbeitet. Auch wenn sich diese weitgehend auf die Protokolle der Frühen Neuzeit bezieht, ist die Quellenkritik soweit nicht anders angegeben durch folgende Schriften inspiriert: Davis; Seibert; Fuchs/Schulze; Ulbrich; Behringer; Schnabel-Schüle: Ego-Dokumente; Schulze; Gersmann; Schunka. Für das 19. Jahrhundert speziell: Töngi; Hommen, S. 100–103; Habermas: Diebe vor Gericht, S. 152–159. 52 Vgl. Loetz. 53 Töngi, S. 66; Gleixner: »Das Mensch«, S. 73 ff. Vgl. auch Kap. III.1.1. 54 Zum Frage-Antwort-Schema vgl. Hoffmann: Vom Ereignis zum Fall, S. 93–97. 55 Vgl. die Darstellung bei Schulte, S. 94–96; zu Suggestivfragen Ulbricht: Kindsmord, S. 162 f. 56 So auch Töngi, S. 64–67; Hommen, S. 101 f.

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begann dann durch eine – meist formelhafte – Einleitung, welche die Formalia der Belehrung oder Beeidigung festhielt.57 So hieß es etwa: »Zeugschaftlich werden unter Hinweis auf den ev[entuell] zu leistenden Eid nach Ermahnung zur Wahrheitsangabe vernommen«

Bzw.: »Angeschuldigter nach Bekanntgabe des staatsanwaltschaftlichen Antrages und des hierauf ergangenen Beschlusses des Untersuchungsrichters auf Eröffnung der Voruntersuchung verhört, erklärt«

War der Zeuge bereits in der Voruntersuchung beeidigt worden, so wurde dies in der Einleitung festgehalten.58 Die mit einer Ordnungsnummer versehenen Texte enthielten zunächst die »Generalia«, also zumeist Name, Alter, Konfession, Familienstand, Beruf bzw. Beruf des Ehemannes oder der Eltern und Wohnort oder Heimatgemeinde. Um ein mögliches Recht zur Aussageverweigerung zu dokumentieren, notierte man auch engere Verwandtschaftsverhältnisse zu dem Verdächtigen. Die nachfolgenden Absätze wurden durch den Zusatz »Zur Sache« oder »ZS« optisch abgesetzt. Die Aussage stand in der Ersten Person Singular. Das Protokoll folgte zwar dem Verlauf der Vernehmung, dennoch ermöglicht es keinen direkten Blick auf die Aussagen, da es sich nicht um eine wörtliche Wiedergabe des Geschehens handelte und auch die Fragen in der Regel nicht dokumentierte.59 Stattdessen wurde durch einen fortlaufenden Text der Eindruck erweckt, der Vernommene habe die Aussage ohne größere Unterbrechungen geleistet. Lediglich, dass ihm frühere Aussagen oder Widersprüche vorgeworfen – zeitgenössisch »vorgehalten« – wurden, vermerkte man gelegentlich.60 Obwohl sich die Juristen der Gefahr suggestiver Fragen bewusst waren, sahen sie in der Befragung selbst offenbar keine Gefahr der Verfälschung, wurde doch der interaktive Aspekt der Vernehmung zum Verschwinden gebracht. Durch die Protokollierung erfolgte eine ›Übertragung‹ des gesprochenen Wortes in die Logik und Sprache der Justiz.61 Drehte sich die Vernehmung um den Wortlaut einzelner Äußerungen – insbesondere in einem Beleidigungs- oder Meineidsfall –, wurden die von den Aussagenden wiedergegebenen Varianten in Anführungsstriche gesetzt. Es entstand der Eindruck, als ob im Protokoll ein direktes Zitat der ursprünglichen Aussage direkt vermerkt würde:

57 Für das Weitere exemplarisch: StAA LG Ke - SK: 103/1901, Vernehmung des G.M. und anderer Zeugen am 3.12.1901 und Verhör des K.H. am 19.1.1902 58 Exemplarisch: ebd., Vernehmung des M.O. am 18.1.1902. 59 Anders im schriftlichen Verfahren bis Mitte des 19. Jahrhunderts, vgl. Gleixner: Geschlechterdifferenzen, S. 66. 60 StAA LG A - SG: 102/1895, Vernehmung des J.S. am 25.8.1895. 61 Töngi, S. 69; Sabean: Distanzierungen; Hommen, S. 21; Göttsch; Becker: »Recht schreiben«, S. 64 f.

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»Deshalb sagte ich zu ihr: ›Wir lassen es am Leben‹, worauf sie mir entgegnete: ›es ist ja tot‹.«62

Gleichzeitig hatte die Authentizitätsinszenierung der Protokolle eine sprachliche Grenze: Sie waren auch im ländlichen Bayern des Kaiserreichs in hochdeutsch verfasst.63 Durch Dialekt eingefärbte Begriffe finden sich selten und sind dann zumeist hervorgehoben oder übersetzt: So erläuterte das Vernehmungsprotokoll in einer Raubmordermittlung, es »kam zur bezeichneten Zeit herum einmal ein sog. Krainer – Hausirer – und von diesem kaufte ich ihn.«64 Die Übertragung der Aussage in einen hochdeutschen Fließtext barg die Gefahr von Sinnverschiebungen und Missverständnissen, wie am Beispiel von »2« und »paar« bereits illustriert.65 Dabei wurde gleichzeitig eine zeitliche Unterscheidung zwischen den berichteten Ereignissen und dem Geschehen während der Vernehmung markiert: Die Schilderungen wurden in der Vergangenheitsform niedergeschrieben, Anmerkungen des Protokolls und das Verhalten des Aussagenden hingegen im Präsens vermerkt.66 Die Aussage wurde dem Aussagenden am Ende vorgelesen, zum Lesen überreicht – was zu dokumentieren war – und von diesem zur Bestätigung unterschrieben,67 zuweilen auch nur mit einem Handzeichen versehen.68 Am Ende aller Vernehmungen eines Sitzungsintervalls schloss das Protokoll mit den Unterschriften des Untersuchungsrichters und des Gerichtsschreibers sowie des Siegels. Am Rande der Protokolle wurden zumeist die anfallenden Zeugengebühren sowie die Dauer der Vernehmung vermerkt.69 Nachträge, etwa über das Verhalten des Vernommenen,70 und Korrekturen wurden zur Beglaubigung durch beide gerichtlichen Personen abgezeichnet.71 Zum Ende des Kaiserreichs finden sich vereinzelt auch Protokolle, die maschinengeschrieben und nicht mehr handschriftlich verfasst sind. Dies trifft jedoch nur auf Vernehmungen zu, die am Sitz der Landgerichte angefertigt worden waren.72 62 StAA LG A - SG: 11/1884, Vernehmung des P.F. am 15.11.1883. 63 Meyer: Protokoll, S. 6, nennt die Wiedergabe plattdeutscher Ausdrücke in einem Protokoll einen Fehler. 64 StAA LG Ke - SK: 217/1898, Vernehmung des R.G. am 19.1.1898, Hervorhebung d. Vf. 65 Vgl. Kap. I.2.1.1. Dazu bereits zeitgenössisch: Henschel: Vernehmung, S. 88 f. 66 Vgl. Sabean: Peasant Voices, der für das 18. Jahrhundert kein »temporal break« (S. 74) feststellt. 67 Selle, S. 41. 68 Vgl. StAA LG A - SG: 44/1890, Vernehmung der C.K. am 1.4.1890; dass.: 102/1895, Vernehmung des B.H., des J.B. am 5.9.1895. 69 Vgl. Dass.: 51/1895, Vernehmung der C.K. am 23.2.1895, die »1 2/3 Stunden« dauerte; sowie: dass.: 44/1890, Vernehmung der C.K. am 1.4.1890: 1 Stunde. In beiden Fällen handelte es sich um die Vernehmung der Beschuldigten. Zeugenvernehmung: dass.: 33/1894, Vernehmung des J.G. am 28.2.1894; dass.: 102/1895, Vernehmungen am 5.9.1895. 70 Dieses war eigentlich nach Abschaffung der Gebärdenprotokolle nicht mehr üblicher Teil der Protokolle. 71 Bretzfeld: Anleitung, S. III; Anonymus: Dienstvorschriften vom 14.9.1879, S. 744. Vgl. grundsätzlich zur Pflicht der doppelten Unterschrift Lunglmayr, S. 400 f. 72 StAA LG Ke - SK: 108/1920, Vernehmung der F.M. am 7.4.1920; dass.: 32b/1913, Vernehmung des M.K. am 6.6.1913.

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Obwohl die Texte der Vernehmungsprotokolle die Illusion eines direkten Blicks auf die Aussage des Vernommenen erweckten, handelte es sich um die Worte und um die Deutungen einer anderen Person – des Gerichtsschreibers oder des Richters. Die Erzählung wurde durch den Untersuchungsrichter und seinen Gerichtsschreiber überformt. Dennoch brachte die Protokolltechnik die Perspektive des Vernommenen nicht gänzlich zum Verschwinden.73 Während teilweise erst im Nachhinein ein Protokoll auf der Grundlage von Notizen des Schreibers oder durch richterliches Diktat angefertigt wurde,74 handelte es sich bei den meisten hier ausgewerteten Protokollen um direkte Mitschriften. Dies hing vor allem damit zusammen, dass das Protokoll vom Vernommenen selbst an Ort und Stelle – und das meinte zumeist nicht im Gerichtsgebäude – unterschrieben werden musste.75 Auch die Beschaffenheit der Protokolle legt nahe, dass diese sukzessive während der Vernehmung entstanden. Ein Großteil der im Rahmen der Studie ausgewerteten Protokolle stammte aus der Feder des Gerichtsschreibers Knauer, der einzelne Antwortkomplexe summarisch protokollierte, vermutlich bevor der Untersuchungsrichter die nächste Frage stellte. Hierauf deuten einerseits die strukturierenden Absätze bzw. das regelmäßige Verwenden einer neuen Zeile hin,76 andererseits zeigen Fehler,77 Korrekturen von Schreibfehlern und Missverständnissen78 sowie die korrigierenden Antworten der Vernommenen,79 dass die Schriftstücke nicht mehr nachträglich auf eine einheitliche narrative wie ästhetische Form gebracht wurden.80 Dass insbesondere Knauer einzelne Aussagen bereits während der Aussage paraphrasierte, zeigt sich an seiner Handschrift, die zuweilen sehr groß wird, so als ob in großer Eile geschrieben wurde;81 außerdem sind alle von ihm verfertigten Protokolle mit einem ähnlichen – also wohl seinem – Sprachduktus verfasst. In Fällen, in denen die Vernehmungen in den Landgerichtsorten Kempten oder Augsburg erfolgten, oder einzelne von einem damit beauftragten Amtsrichter durchgeführt wurden, unterscheiden sich die Protokolle äußerlich von jenen, die vor Ort in der Nähe des Tatorts erstellt wurden. Es handelte sich um säuberlich verfasste Fließtexte mit verschachtelten Sätzen und ohne Korrekturen. Die Aussage 73 Die nachfolgende Quellenkritik lehnt sich an die literaturwissenschaftliche Theorie multiperspektivischer Texte von Nünning/Nünning: Erzählperspektive, S. 16–19, an. 74 Lunglmayr, S. 401. Grundsätzlich zum Diktieren von Protokollen Meyer: Protokoll, S. 5. Von einem solchen Diktieren berichtet: StAA LG Ke - SK: 83/1901, Vernehmung des J.H. am 23.8.1901. 75 Lunglmayr, S. 401 und 405. Zu den Orten der Gerichtshandlungen vgl. Kap. II.1.2.2. 76 Vgl. Kap. III.1.1.1. 77 StAA LG Ke - SK: 21/1902, Vernehmung der J.S. am 20.9.1902, enthält im Verlauf fälschlicherweise einmal statt des Namens der Zeugin den ihres Ehemanns. 78 Hierzu wurde das fehlerhafte Wort mit dem Zusatz »lies« versehen und in Klammern gesetzt, vgl. Bretzfeld: Anleitung, S. III. Exemplarisch StAA LG Ke - SK: 103/1901, Vernehmung der R.W. am 7.1.1902: »Zeugenvernehmung in der Untersuchung gegen H[…] (: Otto lies:) Konrad Oekonom in Schotten«. 79 Exemplarisch ebd., Vernehmung des M.S. am 18.1.1902. 80 Fehlende Hinweise auf Korrektur sieht Sabean: Peasant Voices, S. 70, als Beleg für eine nachträgliche Reinschrift an. 81 Exemplarisch: StAA LG Ke - SK: 103/1901, Vernehmungen am 24.4.1902.

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macht in ihnen einen in sich schlüssigen Eindruck.82 Sie entsprechen damit eher dem bisher von der Forschung gezeichneten Bild der ästhetisierten Narration und machen die Spezifik der hier vorwiegend vorliegenden Protokolle noch deutlicher. Die Hauptverhandlungsprotokolle wurden in der Regel nach Ende der Verhandlung angefertigt. Doch auch hier zeigen im Einzelfall Korrekturen und Nachträge, dass manche Protokolle bereits während des Verfahrens erstellt und nicht redigiert wurden.83

2.1.4 Das juristische Narrativ der Akte Vernehmungsprotokolle und andere zum Fall gehörende Schriftstücke wurden in einer Akte organisiert. Diese wurde durch die einleitende Anzeige strukturiert: Sie gab das Delikt vor, dessen juristische Definition die weitere Beweisaufnahme bestimmte. Das Ziel des Verfahrens und auch der Aktendokumentation war die Feststellung, ob eine konkrete Person mit großer Wahrscheinlichkeit die zur Last gelegte Tat begangen hatte und ob es zusätzliche Informationen gab, die zur juristischen Beurteilung der Tat relevant waren. Die Gerichtsakte dokumentierte in erster Linie, dass die gesetzlichen Verfahrensvorschriften eingehalten worden waren. Nur dort, wo aufgrund der Akten eine inhaltliche Entscheidung gefällt werden sollte, wurden die juristischen Handlungen auch ausführlicher dokumentiert. Wurde auf Grundlage der Akten durch den Staatsanwalt keine Anklage erhoben, waren die Verfahren »außer Verfolgung gesetzt«, das heißt, sie waren ergebnisoffen unterbrochen. Im Falle einer Anklage jedoch wurden die Informationen der Akte in eine eindeutige Narration gebracht, welche auf die Feststellung hinauslief, dass der Verdächtige die ihm zur Last gelegte Tat begangen habe. Da – wie im Falle Fichtl gezeigt – parallel verlaufende Ermittlungen gegen einen anderen Verdächtigen keinen großen Niederschlag in der jeweils anderen Akte fanden, wurde dieses Narrativ auch nicht herausgefordert, sondern durch die Beschlussfassung über eine mögliche Eröffnung des Hauptverfahrens reproduziert. Lediglich die Stellungnahme der Anwälte wandte sich gegen die staatsanwaltliche Erzählung, präsentierte jedoch in der Regel kein Gegennarrativ. Dass bereits die Auswahl der Zeuginnen und Zeugen und die Rechercheaufträge einem durch den Untersuchungsrichter geprägten Narrativ folgten, wurde besonders deutlich, wenn es beim selben Delikt zu mehreren Untersuchungen kam. Während ein Zeuge in der ersten Untersuchung mehrfach vernommen worden war und seinen Angaben immer weitergehende Recherchen gefolgt waren, wurde derselbe Zeuge in der nächsten Untersuchung gar nicht erst befragt.84 Schließlich musste der Untersuchungsrichter sich eine

82 Vgl. etwa StAA LG A - SK: 557/1884; dass.: 67/1888. 83 Beispielhaft: StAA LG A - SG: 25/1893, Hauptverhandlungsprotokoll vom 21.9.1892. 84 Vgl. den Zeugen Kneipp in Fall StAA LG Ke - SK: 21/1902, bzw. dass.: 35/1903.

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Arbeitshypothese zurechtlegen, um systematisch vorzugehen.85 Vergleicht man aber etwa die Akten im Falle der toten Gast, dann ist bemerkenswert, wie man sowohl bei der Lektüre der Akten gegen Fichtl als auch bei jenen gegen Hörmüller von der Schuld des jeweiligen Verdächtigen überzeugt wird. Dass der vormals Verdächtige Fichtl im Verfahren gegen Hörmüller plötzlich zum glaubwürdigen Belastungszeugen wurde, verdeutlicht diesen Effekt. Das juristische Ziel im Umgang mit der Gerichtsakte bestand darin – so lässt sich zusammenfassen –, aus den widersprüchlichen Informationen in einem formalen Verfahren eine eindeutige und am Strafgesetz orientierte, persönlich zurechenbare Wahrheit zu filtern.

2.2 Die Gerichtsakte als vielstimmige historische Quelle Das geschichtswissenschaftliche Erkenntnissinteresse folgt jedoch nicht der juristischen Anforderung an Gerichtsakten. Die Frage, ob eine Person im juristischen Sinne schuldig war, kann nicht Gegenstand der Analyse sein.86 Stattdessen sind die Akten seit Jahren erstens als Repräsentation juristischen Handelns und nichtjuristischer Narrationen über Kriminalität und Justiz87 und zweitens als sozialgeschichtliche »Sonde« in die ländliche Lebenswelt88 behandelt worden. In dieser Studie werden drei Analyseebenen angelegt. Erstens wird das in den Akten explizit dokumentierte juristische Handeln analysiert, welches sich in Schriftwechseln und internen Verwaltungsanmerkungen niederschlug. Diese auf den ersten Blick unscheinbaren Notizen liefern Informationen über das Vorgehen und die Logik der Juristen, die anders kaum zu erforschen wären. So wird deutlich, wie die Ladung der Zeuginnen und Zeugen erfolgte, wo Vernehmungen stattfanden und wie lange sie dauerten. Zweitens lässt sich das Verhalten der Verfahrensbeteiligten rekonstruieren. Hier zeigen sich auf juristischer Seite Recherchetechniken, Glaubwürdigkeitskriterien und auch Vernehmungslogiken. So ermöglichen etwa die strukturierenden Absätze in den Protokollen eine Annäherung an den Verlauf der Vernehmung.89 Sie wurden nicht nur verwendet, wenn die Befragung einen neuen Themenkomplex erreichte, sondern scheinen auch zu markieren, an welchen Stellen der Untersuchungsrichter nachfragte. Obwohl Fragen nur selten protokolliert sind, können sie daher teilweise rekonstruiert werden.90 Zum einen enthalten kurze Absätze häufig lediglich die 85 Vgl. dazu zeitgenössisch: Gross: Handbuch (1894), S. 11–18. Bereits zeitgenössisch wurde eine Einseitigkeit der Akte beklagt: Kronecker: Reformbedürftigkeit, S. 449; Kulemann: Voruntersuchung, S. 21. 86 Kienitz, S. 66 f., die sich auf Davis, S. 15 ff., und Hoffmann: Pragmatik, S. 32 f. und 36 f., stützt. 87 Für das 19. Jahrhundert vgl. insbesondere Hommen und Habermas: Diebe vor Gericht. 88 Klassisch für das Kaiserreich: Schulte, S. 22–24, hier: 24. 89 Dies gilt zumindest für jene Protokolle, die vermutlich keine Reinschrift darstellten. 90 Henschel: Vernehmung, S. 51, beklagt die Technik, die Fragen nicht zu notieren.

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Negation einer Aussage Dritter. Der Vernommene gibt zu Protokoll, dass es nicht so sei, wie ein Zeuge in seiner Aussage behaupte: »Ich habe auch nie, sei es zu Andreas S[…] oder zu sonst Jemand geäußert, daß wenn ich hineinkomme, auch die ,anderen Zwei‘ hinein müssen« oder »die mir von […] in den Mund gelegte Äußerung habe ich nicht gemacht«.91

In diesen Fällen ist deutlich erkennbar, dass die kommentierte Aussage zuvor vorgelesen worden war.92 Zum anderen können aus dem Kontext, den vorherstehenden und nachfolgenden Antworten sowie dem zu rekonstruierenden jeweiligen Wissensstand des Untersuchungsrichters die Fragen erahnt werden: »Von dort an sagte mein Sohn immer in gleicher Weise, so oft ich einschlägig mit ihm sprach, er habe nur 1 Deichel herunter. [vermutliche Frage: Was hatte er zuvor gesagt?] Früher hatten wir hiervon überhaupt nicht gesprochen. [vermutliche Frage: Warum hat ihr Sohn zuvor anderen gegenüber von 2 Deicheln gesprochen?] Daß er u warum er etwa zu verschiedenen anderen Personen anders sagte, nemlich, daß er 2 Deichel herunter hatte, weiß ich nicht.«93

Aufseiten der nicht-juristischen Akteure lassen sich außerdem durch die Angaben in den Aussagen und den Kopfzeilen der Protokolle sowie anhand von Leumundszeugnissen Sozialstrukturen und Verwandtschaftsgrade ansatzweise rekonstruieren. Es werden das direkte Beeinflussen der Verfahren durch Eingaben und Anzeigen sowie das indirekte Beeinflussen durch Gerüchte sichtbar. Drittens sind die protokollierten Aussagen – trotz Vernehmungs- und Protokolltechnik – als Narrative der Verfahrensbeteiligten zu betrachten. Die aussagenden Personen hatten die infrage stehenden Ereignisse jedoch unterschiedlich wahrgenommen und sie alle kannten aus eigener Anschauung nur einen Ausschnitt der Ereignisse. Darüber hinaus hatten sie durch Gespräche und Gerüchte zusätzliche Informationen hinzugewonnen. Dieses aus unterschiedlichen Quellen gespeiste fragmentierte Wissen wurde im Zuge der Vernehmung durch die Aussagestrategien, durch die Ko-Orientierung an der unterstellten Erwartungshaltung der Justiz und die Interaktion mit dem Richter verändert und nicht unmittelbar wiedergegeben. Trotz der homogenisierenden Protokolltechnik »bewahren [Protokolle] bis zu einem gewissen Grad die Vielstimmigkeit der vor Gericht sich begegnenden Instanzen und Personengruppen«.94 Dies wird besonders deutlich, wenn die Akte nicht chronologisch gelesen wird. Die Widersprüche zwischen den Aussagen wirken dann zunächst irritierend, erschienen die einzelnen Erzählungen doch für 91 StAA LG Ke - SK: 21/1902, Vernehmung der P.W. am 20.9.1902; dass.: 103/1901, Vernehmung der R.W. am 7.1.1902; sowie StAA LG A - SG: 41/1888, Vernehmung des X.W. am 21.3.1888; StAA LG Ke - SK: 108/1920, Vernehmung der F.M. am 7.4.1920. 92 Dies wurde teilweise auch vermerkt. Vgl. z.B. dass.: 124/1890, Vernehmung des C.W. am 20.12.1890. 93 Dass.: 21/1902, Vernehmung des J.S. am 3.9.1902; kursiv gesetzte Einschübe durch Vf. 94 Töngi, S. 66.

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sich jeweils überzeugend, was durch die Protokollierung in der vermeintlichen ›Ich-Perspektive‹ noch verstärkt wurde. Eben weil das Geschehen zeitgenössisch multiperspektivisch war, soll es aber auch in der historischen Analyse in dieser Komplexität erhalten bleiben.95 Die untersuchungsrichterliche bzw. staatsanwaltliche Narration des ›Falles‹ soll in dieser Studie als eine Narration von vielen gelten, wenn sie auch insbesondere in den Akten besonders machtvoll gewesen ist. Sie bildet weder den analytischen noch den narrativen Maßstab. Eine Fokussierung auf die Zeugin Masch, die Verdächtigen Fichtl oder Hörmüller, den Gerichtsschreiber oder den zweiten Untersuchungsrichter hätte beim Fallbeispiel Gast eine jeweils vollkommen andere Leserführung hervorgebracht. In allen diesen Erzählungen wäre das Narrativ nicht mit der oben dargelegten juristischen Perspektive identisch gewesen.96 Wie die Dokumentation juristischer Handlungen und Anordnungen sind auch die Narrationen als Sinnstiftungen zu betrachten und nicht als direkter Beleg für ein entsprechend vorangegangenes Verhalten. Wichtig ist, dass das geschilderte Verhalten in den Augen der Aussagenden oder Vernehmenden als logisches Verhalten erschienen sein muss. Für die Auswertung der Fälle ist daher beispielsweise von Interesse, dass es mehreren Personen plausibel erschien, dass Frau Wespe ihnen gegenüber erklärt habe, dass sie nichts über die »Deichelgeschichte« wisse und sich daher aus allem raushalten werde, und dass darin ein Beleg gesehen wurde, dass ihre spätere Aussage gelogen sein müsse. Ob dieses Gespräch tatsächlich stattgefunden hat, ist weder zu ermitteln noch relevant. Es sind bei der Analyse beide Varianten in Erwägung zu ziehen: Der Versuch, die Glaubwürdigkeit von Frau Wespe mit dem Verweis auf frühere, anderslautende Aussagen zu erschüttern, sowie der Wespe’sche Versuch, einer sozialen Exklusion offensiv zuvorzukommen.97 Die widersprüchlichen Bewertungen des Vorfalls bieten als Summe einen Einblick in das zeitgenössisch als sinnhaft empfundene Handlungsrepertoire. Im Folgenden werden daher die konkurrierenden Erzählungen als gleichberechtigte Handlungs- und Deutungsmöglichkeiten in die Analyse integriert. Natürlich dürfen die konkurrierenden Lesarten bei dieser konstruktivistischen Quellenlektüre nicht dazu herangezogen werden, eine These gleichzeitig zu belegen wie zu widerlegen. Zumeist werden die vielstimmigen Lesarten nebeneinander bestehen können. Beziehen sie sich jedoch auf dieselbe Fragestellung, dann wird deutlich zu machen sein, dass die Quellen hierauf keine eindeutigen Antworten geben. Einen Sonderfall stellen Aussagen über die Arbeitsweise der Justiz dar. Wenn ein Zeuge schildert, dass er bei seiner letzten Vernehmung mit anderen Zeuginnen oder Zeugen im Erdgeschoss des Gebäudes gewartet und geplaudert habe, und 95 Sabean: Peasant Voices, S. 89, plädiert für das Sichtbarmachen der Vielstimmigkeit, welche in den summarischen Protokollen zum Verschwinden gebracht worden war. 96 Ortmann: Staatsbürger, beinhaltet eine exemplarische multiperspektivische Rekonstruktion einer Gerichtsakte. Die Textanalyse ist wesentlich inspiriert von Nünning/Nünning: Multiperspektivisches Erzählen; insb. dies.: Multiperspektivität, S. 16–19. 97 Vgl. dazu Kap. III.1.1.3.

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der vernehmende Jurist keine Nachfragen stellte und auch das Protokoll keine Anmerkungen machte, dann kann davon ausgegangen werden, dass es für die Juristen ebenfalls alltäglich klang, dass die Zeugen aufeinandertrafen und gemeinsam warteten. In diesem Fall kann das Narrativ des Zeugen im klassischen Sinne als ›Sonde‹ in den Alltag der Justiz gewertet werden. Anders als für die juristische Wahrheitssuche sind für die historische Analyse die konkurrierenden Erzählungen kein Problem. Die Vielstimmigkeit öffnet den Blick auf die Breite des zeitgenössischen Deutungs- und Handlungsrepertoires und sie muss und soll nicht zugunsten einer einzelnen, homogenen Erzählung zum Verschwinden gebracht werden. Doch selbst durch die Auffächerung der Perspektiven bleiben Phasen der Prozesse und einzelne Handlungen im Unklaren. Eine eindeutige Analyse des juristischen und nicht-juristischen Handelns in einem konkreten Fall ist auch durch die komplementäre Verwendung von Gerichtsakten und juristischem Fachdiskurs nicht möglich. Die Historikerin kann sich eben nicht darauf verlassen, dass etwas nicht stattgefunden haben wird, weil es sonst »in das Protokoll ganz sicher aufgenommen« wäre.

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3. Die juristische Identität

Die von Juristen als legitim erachtete Vorgehensweise, ein Gesetz auf konkrete Handlungen zu beziehen, die formal korrekte Suche nach der Wahrheit und die penible Dokumentation dieses Prozesses waren komplexe Angelegenheiten, mit denen sich Wissenschaft und Literatur ausgiebig beschäftigten. Es kann daher nicht verwundern, dass die Juristen des Kaiserreichs immer wieder zu definieren versuchten, wer zu dieser schwierigen Tätigkeit befähigt – und wer damit überfordert wäre. Eine Ausgrenzung von Frauen und nicht-studierten Rechtsberatern, die Ablehnung einer weiteren sozialen Öffnung des Juristenberufs sowie die zunehmende Ablehnung der ›Laienrichter‹ waren dabei Ausdruck eines Professionalisierungsdiskurses, der in einer Abgrenzung nach außen hin die juristische Identität definierte.1 Dieser Diskurs kreiste um die Topoi ›Professionalität‹ und ›Erfahrung‹, über die dann nur Männer mit einer besonderen Ausbildung und einem bildungsbürgerlichen Habitus verfügten. Er ging Hand in Hand mit sozialen Abstiegsängsten der zur gesellschaftlichen Elite gehörenden Juristen. Zugleich differenzierte sich die Juristenschaft sozial und funktional und unter Konflikten aus. Wer welche Rechte und Pflichten im Prozess hatte, war im Einzelnen nicht immer unstreitig. Das Selbstverständnis und Fremdbild einzelner Berufe sowie der zugeschriebenen Aufgaben waren erstens essentiell für eine formal korrekt erstellte Wahrheit, zweitens beeinflusst von der rechtspolitischen Differenz und drittens entscheidend dafür, in welcher Weise die juristische Varianz im Einzelfall genutzt wurde. Die juristische Identität wurde wesentlich durch die berufliche Ausbildung und Sozialisation bestimmt.2 Während eines dreijährigen, eher theoretischen3 und häufig nicht sehr intensiven4 Jurastudiums lernten Juristen in erster Linie Normen des Straf- und Zivilrechts.5 Künftige Richter und Staatsanwälte wurden in dieser Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit in studentischen Verbindungen sozia-

1 Vgl. Anderson: Erfindung der Nation, S. 15 f.; Sarasin, S. 164–170. 2 Vgl. zu den Ausbildungswegen Wilhelm, S. 65–73, 141–146, 313–321, 604–618. 3 Vgl. die sicher nicht nur rhetorischen Begründungen der Handbücher für junge Juristen, exemplarisch: Finger, Einleitung. 4 Ormond: Richter im Kaiserreich, S. 88 und 90. 5 Vgl. Kühn, S. 97–99; Siegrist: Advokat, S. 557–559; Lunglmayr.

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lisiert.6 Das Studium wurde in der Regel an mehr als einer Universität absolviert, bevor im Alter von etwa 23 Jahren die erste Staatsprüfung abgelegt wurde. Im anschließenden drei- bis vierjährigen, unbesoldeten und stärker praxisbezogenen Referendariat durchliefen sie unterschiedliche Stationen bei Richtern, Anwälten und der Staatsanwaltschaft. Während dieser Zeit fanden sie Eingang in ihre späteren Gesellschaftskreise.7 Nach dem zweiten Staatsexamen trennten sich die beruflichen wie sozialen Wege: Bei guten Noten und nach einer mehrjährigen unbezahlten Assessorenzeit traten künftige Richter und Staatsanwälte in den Staatsdienst. Die Karrierewege von Staatsanwälten und Richtern blieben in Bayern verwoben, denn eine Beförderung ging mit einem Wechsel der Dienststelle einher: Der III. Staatsanwalt wurde Amtsrichter, dann II. Staatsanwalt, dann Landgerichtsrat usw.8 Anwälte hingegen ließen sich häufig direkt nach dem zweiten Staatsexamen nieder. Vor 1879 mussten sie eine der vom Justizminister oder König vergebenen Stellen als Advokat erlangen, ohne deswegen Staatsbeamter mit Gehalt oder Pensionsansprüchen zu werden.9 Nach der Einführung der freien Rechtsanwaltschaft 1878 benötigten Anwälte nur noch eine (zahlenmäßig nicht mehr limitierte) Zulassung an einem Gericht. Dieses wurde zum ausschließlichen Dienstort.10 Für Besprechungen mit Mandanten nutzte man eine eigene Kanzlei oder wenigstens Kanzleiräume in der eigenen Wohnung, deren Ausgestaltung mit Büchern und Möbeln dem bürgerlichen Habitus entsprach und in denen Schreiber, Buchhalter und Laufburschen arbeiteten. Seltener stieg man zunächst als Sozius bei einem älteren Kollegen ein.11 Sowohl der staatliche Justizdienst als auch die Rechtsanwaltschaft hatten ihre soziale Zusammensetzung im Kaiserreich ausgedehnt – nicht zuletzt durch die Zulassung jüdischer Juristen zum Staatsdienst seit 1862.12 Dennoch führten die Einstellungs- und Beförderungspraxis der Justizministerien einerseits und insbesondere die jahrelange Phase unbesoldeter Berufstätigkeit im Staatsdienst andererseits zu einer faktischen sozialen Differenzierung13 – und galten zeitgenössisch als Ursache einer ›Klassenjustiz‹14 . Reichsweit stammten Richter und Staatsanwälte aus deutlich höheren sozialen Kreisen des städtischen Bürgertums als Anwälte, 6 Kauffmann, S. 46–48; Siegrist: Advokat, S. 215 und 559 f.; Rottleuthner, S. 148. 7 Ormond: Richter im Kaiserreich, S. 89 f. und 562–564; Kolbeck, S. 88; Siegrist: Advokat, 560 und 564; Lucas: Anleitung, Bd. 1, S. 35; Lunglmayr, S. 132 f.; für Bayern: Schiedermair, S. 60 f. 8 Ungewitter; Hamm: Staatsanwalt und Richter, S. 108. Für Preußen hingegen war es üblicher, vom Staatsanwalt zum Richter ernannt zu werden als umgekehrt, vgl. Wilhelm, S. 54–60. 9 Wienfort: Recht und Bürgertum, S. 284 f. 10 Zur Rechtsanwaltsordnung 1878 vgl. Siegrist: Public Office; ders.: Advokat, S. 389–406. Zur ausschließlichen Zulassung bei einem einzigen Gericht: Rücker, S. 25–28. 11 Siegrist: Verrechtlichung, S. 121 f.; ders.: Advokat, S. 565, 584–590. 12 Dieses badische Datum gilt als das früheste, Kißener, S. 38. 13 Johnson, S. 46 f.; Hett, S. 108–110, 134–144; Siegrist: Advokat, S. 561. Die von der älteren Literatur vertretene These, dass insbesondere das preußische Justizministerium auf politische, konservative Willfährigkeit geachtet habe (so z.B. Simon, S. 43 f.), wurde u.a. von Ormond: Richterwürde, S. 398–411, relativiert. Dennoch waren z.B. bekennende Sozialdemokraten seit den 1890ern von Berufsbeamtenstellen ausgeschlossen, vgl. Ders.: Richter im Kaiserreich, S. 91. 14 Vgl. Kap. II.3.1.

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auch der Anteil des Adels blieb hoch.15 Zusätzlich spielte bei Einstellung und Beförderung in den Beamtenberufen die konfessionelle Übereinstimmung mit der Landeskrone eine große Rolle und personelle Wechsel ließen die Richterschaft in der Breite ab 1890 zunehmend konservativer werden.16 Die Anwaltschaft war sozial heterogener, im Durchschnitt liberaler und zunächst auch staatsferner als die verbeamteten Kollegen: Weiter gefasste Teile des Bürgertums fanden hier ebenso ihr Auskommen wie die Mehrzahl der jüdischen Juristen, Sozialdemokraten und später vereinzelte Juristinnen. Das ober- und zunehmend mittelschichtige Herkommen konnte durch eine Niederlassung am Heimatort mit höherem sozialen Kapital verbundenen werden, war man mit den lokalen Verhältnissen doch vertraut und konnte oft auf ein juristisches Prestige der Verwandtschaft zurückgreifen. Ein Aufsteigerberuf für die Unterschichten war der Anwaltsberuf nicht.17 Trotz dieser relativen sozialen und politischen Unterschiede besaßen die Juristen über Studium, Herkunft und Habitus eine gemeinsame Identität, die ihren symbolischen Ausdruck in der seit 1849 zunächst in Preußen und seit 1879 auch reichsweit im Gerichtssaal vorgeschriebenen schwarzen Robe fand. Diese Ziviluniform machte deutlich, dass sie eine Einheit bildeten, die sich von den weiteren im Gerichtssaal Anwesenden deutlich unterschied.18 Gemeinsam war den Juristen eine Jahrzehnte andauernde Furcht vor steigender Konkurrenz, sinkenden Aufstiegschancen durch die Öffnung der jeweiligen Berufe und die Klage über zu geringe oder gar sinkende Einkommen.19 Richter und Staatsanwälte forderten höhere Hürden beim Zugang zum Jurastudium und bei den Examina;20 ein Teil der Anwälte sprach sich für eine erneute Beschränkung der Anwaltszulassung aus.21 Und auch gegen die Tätigkeit jüdischer Richter wurden erneut Stimmen laut.22 15 Johnson, S. 46 f.; Wilhelm, S. 627 f.; Siegrist: Advokat, S. 812–818. 16 Ormond: Richter im Kaiserreich, S. 93 und 98 f., und ders.: Richterwürde, S. 488–500. Der Eindruck, dass es sich dabei um eine Diskriminierung der Katholiken handelte, wird v.a. durch die preußenzentrierte Historiographie erweckt. 17 Siegrist: Advokat, S. 626, 791–845, 868–871; Hett, S. 108–110; Ormond: Richter im Kaiserreich, S. 99; ders.: Richterwürde, S. 489–502, 563 f. 1879 verzeichnete Preußen bereits 99 jüdische Richter, jedoch keinen Staatsanwalt; ab den 1890er bis etwa 1905 wurde ihnen dieser Karriereweg zunehmend versperrt. 18 Vgl. zur Ziviluniform im 19. Jahrhundert: Hackspiel-Mikosch; Hackspiel-Mikosch/Haas, S. 13–18; Haas, S. 354–396. 19 Schröder: Richterschaft, S. 224–244. Zeitgenössisch: Aschrott: Personalverhältnisse (1896); ders.: Personalverhältnisse (1904); ders.: Personalverhältnisse (1907); Hertel: Personalverhältnisse (1905); ders.: Personalverhältnisse (1908), für Preußen. Wachinger; Anonymus: Personalverhältnisse Bayern, für Bayern. Vgl. auch Ormond: Richter im Kaiserreich, S. 93, der betont, dass diese Klagen kaum mit der Einkommenslage übereinstimmten. 20 Aschrott: Personalverhältnisse (1896); Wachinger, vgl. auch Schröder: Richterschaft, S. 231. 21 Exemplarisch: Croner, S. 5–14. Vgl. Ledford, S. 177–211, 291–299; Kolbeck, S. 89. Siegrist: Verrechtlichung, S. 109 f.; ders.: Advokat, S. 407 und 675–683. 22 Dabei bildete die Debatte um den Zeugeneid (Kap. I.1.1.1) ein Ventil. Vgl. Ormond: Richterwürde, S. 492; Vormbaum: Judeneid, S. 201–211.

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3.1 Die Abgrenzung der juristischen Profession Wie zentral die formale Ausbildung durch ein Jurastudium sowie männliche Bürgertumseigenschaften aus Sicht der Juristen für die eigene Identität waren, wird durch die Analyse ihrer Abgrenzungsdiskurse gegenüber Frauen, Rechtsberatern und ›Laienrichtern‹ deutlich.

3.1.1 Die Abwehr von robentragenden Frauen Der Zugang zu juristischen Berufen musste von der Frauenbewegung in einem langen Kampf erstritten werden. Frauenvereine argumentierten für ein Gegengewicht zur sogenannten »Männerjustiz«, womit sie ausdrückten, dass Frauen in der rein männlichen Sphäre des Gerichts qua Geschlecht diskriminiert würden.23 Man mahnte, dass gerade in Fragen der Sittlichkeit und der Eheprozesse aber auch bei weiblichen Angeklagten ein weiblicher Rechtsbeistand sowie Richterinnen besser geeignet seien, die inneren Beweggründe zu erfassen und eine der Schamhaftigkeit angemessene Atmosphäre zu schaffen. Eine juristische Ausbildung konnten deutsche Frauen zunächst nur im Ausland erhalten, eine Zulassung zum Jurastudium erfolgte im Deutschen Reich sukzessive erst nach 1900.24 Finanziell erlauben konnten sich dieses Studium nur Frauen, die finanziell unabhängig waren. Denn die Zulassung zum Studium war nicht gleichbedeutend mit der Möglichkeit einer juristischen Berufsausübung: Als Bayern 1912 den ersten Frauen das Ablegen des ersten Staatsexamens erlaubte, handelte es sich um ein Novum.25 Der für die Tätigkeit als Richterin oder Staatsanwältin notwendige Vorbereitungsdienst blieb bis in die Weimarer Republik Männern vorbehalten.26 Frauen waren somit auf das Gebiet der Rechtsberatung und Anwaltschaft verwiesen. Zwar fanden sich die Kollegen bald damit ab, dass Frauen als Wahlverteidigerinnen gewählt wurden und unterstützten auch deren Mitarbeit in der Jugendgerichtsbarkeit. Nichtsdestotrotz wurde ihnen die Mitgliedschaft in der Rechtsanwaltschaft und damit eine gleichberechtigte Anerkennung verwehrt. Dies hatte zur Folge, dass sie nicht als Pflichtverteidigerinnen vom Gericht bestellt werden konnten. Dennoch gelang es ab 1914 einzelnen Frauen, wie Maria Otto, Pflichtverteidigungen

23 Grundlegend für das Nachfolgende: von Soden; Kuhn; Glaser: Vorurteile; dies.: Die erste Studentinnengeneration; Geisel: Garantinnen gegen ›Männerjustiz‹?, S. 333; dies.: Klasse, S. 203–205. 24 Baden 1900, Bayern 1903, Württemberg 1904, Sachsen 1906, Thüringen 1907, Preußen und Hessen 1908, Mecklenburg 1909. Die Studentinnen waren weiterhin von der Zustimmung der Professoren abhängig, den Kurs besuchen zu dürfen. Rust, S. 343–346; Gilde, S. 62. 25 Wagner: Frauen in der Justiz, S. 217. 26 Baden als Vorreiter 1919; 1921 ließ Preußen Frauen zum 2. Staatsexamen zu, 1922 folgten Thüringen, Sachsen, Baden, Württemberg, Oldenburg, Bayern und Braunschweig, vgl. Gilde, S. 63; Jellinek: Frauen, S. 75; Böhm.

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zu übernehmen,27 wogegen sich energischer Protest der örtlichen Richter regte. So warnte ein Münchener Landgerichtsrat 1917 nachdrücklich: »Ist eine Frau als Verteidigerin bestellt und tätig geworden, so liegt ein absoluter Revisionsgrund vor«, da die Hauptverhandlung in Abwesenheit der gesetzlich vorgeschriebenen Rechtsvertretung stattgefunden habe.28 Eine Anwältin galt ihm also trotz ihrer professionellen Ausbildung formal gesehen nicht als ausreichender Rechtsbeistand. Die Befähigung zum Richteramt wurde Frauen mit Verweis auf die klassischen Argumente abgesprochen: Sie seien zu emotional, unaufmerksam, schwach und könnten – insbesondere bei Periode, Schwangerschaft und Klimakterium – keine objektiven, rationalen Urteile fällen. Hinzu komme, dass es geradezu unnatürlich sei, wenn ein Mann einem weiblichen Urteil unterworfen würde. Eine Zulassung zum Richteramt würde das Ansehen der Rechtspflege nachhaltig beschädigen.29 Noch 1921 lehnte der Deutsche Richtertag eindeutig eine Zulassung der Frauen zu juristischen Ämtern ab. Ein Jahr später positionierte sich auch der Deutsche Anwaltstag dagegen, wenn auch weniger energisch als die richterlichen Kollegen.30 Im gleichen Jahr wurden Frauen dennoch mit Verweis auf den Gleichheitsartikel 109 der Weimarer Verfassung zum Richter-, Schöffen- und Geschworenenamt zugelassen. Dies war der wesentliche Schritt hin zu einer formalen Gleichstellung und war wesentlich dem energischen Lobbyismus der Frauenverbände und den neuen weiblichen Abgeordneten zu verdanken.31 In den kommenden Jahren gab es vereinzelte Richterinnen, doch Frauen blieben in juristischen Ämtern auch wegen der Zölibatsklausel eine Ausnahme.32 Ihre Benennung als Geschworene oder Schöffin wurde vor Ort bei der Erstellung der Urliste behindert33 und gerade in ländlichen Gebieten weigerten sich männliche Schöffen zuweilen, ihren Dienst gemeinsam mit Frauen zu leisten. Im Oberlandesgerichtsbezirk München waren 1923 erst in 24 der 59 Amtsgerichtsbezirke Frauen als Schöffen gewählt worden.34

27 Böhm, S. 366, 370. Sie übernahm im 1. Weltkrieg Pflichtverteidigungen und wurde 1922 an den Münchener Landgerichten als Anwältin zugelassen. Es folgten 1926 Anna Selo und 1929 Elisabeth Kohn und Christine Schwarzmeyer in Bayern; in Preußen wurde 1925 mit Margarete Berent die erste Anwältin zugelassen, vgl. Deutscher Juristinnenbund e.V., S. 22. 28 Hümmer; Zimmermann: Streitfragen, S. 260–262. 29 Vgl. die Aufstellung der Argumente bei Böhm, S. 368 f. 30 Rust, S. 348–353; Wagner: Frauen in der Justiz, S. 218. Zum Richterbund ausführlicher: Jünemann, S. 354; Wienfort: Recht und Bürgertum, S. 286. 31 Geisel: Klasse, S. 191 f.; der interfraktionelle Antrag wurde 1920 von den 32 weiblichen Abgeordneten eingebracht, vgl. Wagner: Frauen in der Justiz, S. 218; Böhm, S. 367 f. Frauen durften jedoch maximal die Hälfte der Geschworenen stellen. 32 Ebd., S. 370; Rust, S. 354 f.: 1930 waren vier Amts- und Landrichterinnen reichsweit bekannt, weitere 66 Assessorinnen waren noch in der Ausbildung. Bereits 1933 war die Zahl wieder auf 36 gesunken, vgl. Deutscher Juristinnenbund e.V., S. 23. Die diskriminierende Zölibatsklausel, die Frauen zwang, bei ihrer Heirat aus dem Staatsdienst auszuscheiden, wurde zwar 1921 für verfassungswidrig erklärt, 1932 aber in veränderter Form wieder eingeführt, vgl. Kling, S. 608–612; Wagner: Frauen in der Justiz, S. 218; Böhm, S. 370 f. 33 Jellinek: Frauen, S. 15 f. 34 HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 14360, Schreiben vom 12.7. und 13.7.1923.

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Zwar waren Frauen ab 1920 zur juristischen Habilitation zugelassen, die erste erfolgte jedoch erst 1932 durch Magdalene Schoch in Hamburg und es dauerte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zur ersten Berufung von Gertrud Schubart-Fikentscher (1948 in Halle) und Anne-Eva Brauneck (1965 in Gießen) als Jura-Professorinnen. Eine Veränderung in den wissenschaftlichen Diskursen gab es wohl 1931, als mit Emmy Repstein und Marianne Weber Juristinnen auf dem 36. Deutschen Juristentag »zumindest zu den ›frauenpolitischen‹ Themen um Stellungnahmen gebeten wurden.«35 Kurzum: Wenn Frauen mit dem Hinweis auf ihr vermeintlich emotionales, sprunghaftes und nicht-objektives Geschlecht als nicht fähig galten, juristisch zu arbeiten, dann zeigt dies, dass Rationalität, Objektivität und aufmerksames Arbeiten den ganz überwiegend männlichen Juristen als Elemente der eigenen Professionalität galten. Die juristische Identität war stark verwoben mit der zeitgenössischen Konstruktion hegemonialer bürgerlicher Männlichkeit.36

3.1.2 Rechtskonsulenten als »Winkeljuristen« Dass Männlichkeit und Jurakenntnisse nicht ausreichten, wenn letztere nicht mit einem formalen Bildungsabschluss verbunden und von der Juristenschaft als Beruf anerkannt waren, zeigt der Umgang mit einer weiteren Berufsgruppe: den Rechtsberatern.37 Diese erteilten gegen ein Honorar Rechtsauskünfte, setzten Schriftsätze auf und durften in Zivilverfahren vor Gericht als Vertreter erscheinen. Zwar waren sie offiziell nicht als Anwälte zugelassen, übten aber eine gewerberechtlich anerkannte Tätigkeit aus und waren seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit etwa 8000 Mitgliedern auch berufsständisch organisiert. Gerade in ländlichen Gegenden, in denen es wenig zugelassenen Anwälte gab, kam diesen Rechtskonsulenten eine große Bedeutung zu.38 Hierfür spielte auch eine Rolle, dass sie einem Teil der Bevölkerung in Dialekt und Lebensweise viel näherstanden als die studierten Anwälte aus dem städtischen Bürgertum.39 Die Gruppe der Rechtsberater setzte sich zum einen aus juristisch kaum ausgebildeten Lehrern, Bauern und Handwerkern und zum anderen aus ehemaligen Justiz- und Kanzleibediensteten, Notaren und Schreibern zusammen, die sehr wohl über Rechtskenntnisse verfügten. Obwohl der Tätigkeit der Konsulenten 35 Rust, S. 355. Es ging hierbei um Fragen der Ehegesetzgebung. 36 Das »Männlichkeitsmodell« des Bürgertums war demnach nicht allgemeingültig, aber diskursdominant, Schmale, S. 149–232, v.a. 149–155. Vgl. zu den Geschlechtsstereotypen immer noch grundlegend: Hausen: Polarisierung, v.a. S. 368, und in modifizierter Form: dies.: Überlegungen. Zu männlichen Geschlechterrollen grundlegend: Kühne: Männergeschichte; zur Selbstständigkeit: Hettling. 37 Auch Siegrist: Verrechtlichung, S. 108, hat die Ablehnung durch die Juristen als Identitätsdebatte gedeutet. 38 Zu den Rechtskonsulenten im Folgenden Rücker, S. 37–74; Wettmann-Jungblut, S. 152–162. 39 Ostler, S. 101; Siegrist: Verrechtlichung, S. 111 f.

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gerade bei der Vertretung vor Gericht enge Grenzen gezogen waren, fühlten sich die Anwälte durch die Arbeit dieser Gruppe offenbar zunehmend verunsichert. Sie warnten vor deren ›unprofessionellen‹ Handlungen, denen es an Kenntnis und Ethos mangele und von denen eine Gefahr für die Mandanten ausgehe. Die scharfe Distinktion, die Anwälte gegen die gewerblichen Berater zum Ausdruck brachten, bedeutete v.a. ein Verbot engerer geschäftlicher Verbindungen,40 drückte sich aber auch begrifflich aus. Da die Beratungstätigkeit angeblich im Verborgenen – im »Winkel« – stattfand, titulierten sie dieselben als »Winkeladvokaten« und verwiesen damit auf Handlungen, die »heimlich und verstohlen oder unrechtmäßiger Weise gethan« würden.41 Es verwundert nicht, dass der zunächst angeblich auch amtliche Begriff im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend diffamierend verwendet wurde – eine Konnotation, die bis heute anhält.42 Der Unterschied bestand aus juristischer Perspektive im Grad der abgeschlossenen Ausbildung. Angeeignetes Spezialwissen war nicht relevant, solange es nicht mit einem formalen Bildungsabschluss versehen war. Hinzu kam, dass auch der Charakter der Rechtberater als mangelhaft bewertet wurde. Da das Studium als zentrale Sozialisationsphase galt, in der ein gemeinsamer Habitus und Wertekanon ausgeprägt wurde, kann die Verknüpfung dieser beiden Elemente kaum verwundern. Die fehlende Bildung und die Mängel im Charakter können auch als unzureichende Bürgerlichkeit betrachtet werden und sie unterstreichen erneut, dass zur Juristenidentität ein bildungsbürgerliches Ideal gehörte. Dass sich angesichts der freieren Zugangsmöglichkeiten zum Anwaltsberuf seit 1878 und der dadurch gestiegenen Konkurrenz die Abwehr gegen die Rechtsberater noch steigerte und der Zustrom von Frauen in die juristischen Berufe auf massive Gegenwehr stieß, kann nur als Elitendiskurs zur Abwehr weiterer beruflicher Mitbewerber gewertet werden.43 Der Vergleich mit der Abgrenzung der Juristen von den sogenannten ›Laien‹ wird aber auch zeigen, dass es sich hierbei um eine gesellschaftspolitische Elitendebatte handelte, die sich gegen eine breitere Demokratisierung der Gesellschaft stellte.

40 Friedländer/Friedländer, S. 122. 41 Das Präfix »Winkel« hatte traditionell eine negative Konnotation. Vgl. die Beschreibung bei Anonymus: Art. Winkel. 42 Sie hat sich – wie Rücker, S. 72, zu Recht betont – bis in die Historiographie tradiert (exemplarisch: Ostler, S. 191) und wird unter Juristen noch heute als Klagegrund angesehen, vgl. das BVerfG-Urteil vom 2.7.2013: 1 BvR 1751/12. 43 Siegrist: Advokat, S. 201–207, zur analogen Debatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

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3.1.3 »Laienrichter« – Geschworene und Schöffen »Laienjustiz ist naive Justiz, Juristenjustiz wissenschaftliche Justiz.«44

Zum Zeitpunkt der Vereinheitlichung der Justizgesetze existierten mit Strafkammern, Schöffen- und Schwurgerichten drei verschiedene Gerichtsformen.45 Auf Ebene der Amtsgerichte dominierten die Schöffengerichte, in deren Zuständigkeit leichtere Vergehen (bis zu drei Monate Gefängnis oder 600 Mark Strafe) fielen. Sie setzten sich aus einem Amtsrichter und zwei Schöffen zusammen. Jeder Schöffe sollte zwar höchstens fünf Sitzungstage haben, offenbar übten einzelne diese Tätigkeit jedoch über mehrere Jahre aus.46 An den Landgerichten wurden Strafkammern, an einigen auch Schwurgerichte eingeführt.47 Die Strafkammern waren für schwere Verbrechen und Vergehen (bis zu fünf Jahre Zuchthaus) sowie für Berufungen gegen Schöffenurteile zuständig und bestanden aus drei bzw. fünf Richtern. Die Schwurgerichte setzten sich aus drei Berufsrichtern und zwölf Geschworenen zusammen und waren für all jene Verbrechen zuständig, welche »nicht zur Zuständigkeit der Strafkammer oder des Reichsgerichts gehören« (§ 80 GVG). Hierzu gehörten u.a. Tötungsdelikte, Meineid, Sittlichkeitsvergehen und Münzverbrechen. Es wurde den Ländern im Zuge des Einführungsgesetzes überlassen, ob sie den Schwurgerichten auch die Zuständigkeit in Pressefragen zugestehen wollten – wovon lediglich Bayern, Württemberg, Baden und Oldenburg Gebrauch machten.48 Jährlich fanden zwischen drei und fünf Sitzungsperioden von bis zu drei Wochen statt, für die jeweils 30 potentielle Geschworene für jedes Schwurgericht ausgelost wurden.49 Die Mitwirkung der ›Laienrichter‹ unterschied sich bei Schöffen- und Schwurgerichten wesentlich: Während die Geschworenen eigenständig das Urteil fällten und dem Richter nur Sitzungsleitung und die Entscheidung über die Strafhöhe zukamen, wurde das Urteil im Schöffengericht kooperativ mit dem Berufsrichter gefällt.50 Konzeptionell sollten die Schöffen die Berufsrichter an das ›wahre Leben‹ rückkoppeln, ohne deren Einfluss zu stark einzuschränken.51 Beim Schwurgericht bestand die wesentliche staatsrechtliche Idee darin, dass das ›Rechtsbewusstsein‹52 des Volkes durch eigenständige Mitwirkung im Verfahren freiere und neues Recht schaffende Urteile erwirken sollte. Die Macht der Elite, der Berufsjuristen, sollte dezidiert mit den ›Laienrichtern‹ geteilt werden. Die Forschung hat pointiert her44 So Georg de Niem, Berufsrichter oder Laienrichter und die Kommission zur Reform der Strafprozeßordnung, Leipzig 1906, zit. nach: Hegler, S. 227. 45 Einen komprimierten Überblick bietet: Linkenheil, S. 100–105. 46 Ginsberg. 47 Die Schwurgerichtsbezirke umfassten mehrere Landgerichtsbezirke. 48 Kern, S. 123; Linkenheil, S. 102 f. 49 Anonymus: Bekanntmachung vom 6.8.1879. 50 Die Trennung zwischen Schuldfrage und Strafe war einer der zentralen Streitpunkte. Vgl. Nörr, S. 805. 51 So auch Wilhelm, S. 53. 52 Zur Geistesgeschichte des »Rechtsbewusstseins« vgl. Stier.

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ausgearbeitet, dass genau in dem Versprechen auf politische Partizipation die zentrale Symbolkraft des Geschworenengerichts für das Bürgertum lag – eine Vorstellung, die den Anhängern der Schöffengerichte zumeist zu weit ging.53 Personell rekrutierten sich Schöffen und Geschworene aus dem gleichen Personenkreis. Einen Bildungs- oder Steuerzensus für die als Ehrenamt deklarierte Schöffen- und Geschworenentätigkeit gab es im Kaiserreich nicht mehr. Während noch 1855 durch hohe Bildungs- und Steuerzensus sowie durch das Wahlsystem selbst im moderaten Bayern nur etwa 2% der Bevölkerung zum Geschworenenamt zugelassen war,54 umfasste nach 1879 der Kreis der potentiellen Laienrichter bis 1922 grundsätzlich jeden männlichen Deutschen über 30 Jahren. Ausgeschlossen waren Dienstboten, Personen, die Armenunterstützung erhalten hatten, zahlreiche Beamte (inklusive der Richter und Staatsanwälte) und alle Personen, die durch ein Strafurteil etwa ihre Amtsfähigkeit verloren hatten.55 Eine bis 1912 fehlende Entschädigung wirkte aber faktisch wie ein Einkommenszensus, konnte das Amt doch mit Verweis auf einen nicht zu verkraftenden finanziellen Aufwand (Reisekosten, Verdienstausfall) abgelehnt werden,56 wovon im ländlichen Bayern in einem für den Regelbetrieb problematischen Umfang Gebrauch gemacht wurde.57 Der Anteil an Arbeitern unter den Schöffen blieb entsprechend gering: In München waren 1911 von 641 Schöffen nur 69 Arbeiter und unter den 320 Hilfsschöffen nur 28 Arbeiter.58 In Augsburg, einer Industriestadt, waren von 169 Schöffen 41 und von den 60 Hilfsschöffen nur 17 Arbeiter.59 Die Ernennung der ›Laienrichter‹ erfolgte von unten nach oben: Die Bürgermeister erstellten ein Verzeichnis all jener in der Gemeinde wohnenden Personen, die als Schöffe beziehungsweise Geschworener berufen werden konnten (Urliste). Dieses musste eine Woche öffentlich in den Gemeinden ausgelegt und danach zusammen mit eventuellen Einsprüchen an die zuständigen Gerichte abgegeben werden. Die Gemeinden benannten dann sieben Vertrauensleute, die gemeinsam mit einem Bezirksamtmann aus der Urliste die jeweiligen Schöffen, Hilfsschöffen und Geschworenen auswählten. Dabei war sicherzustellen, dass jede Person nur für eines der Ämter vorgesehen wurde. Es lag im Ermessen des Ausschusses, welche Personen sie »durch Reinheit der Sitte, Verlässligkeit des Charakters, unabhängige Stellung und Achtung der Mitbürger der Ehrenstellung eines Schöffen oder 53 Blasius: Geschworenengerichte; Klaere: Entstehung, Kap. IV.3, o.S. Böttges, S. 3 f., 21 f.; auch: Kern, S. 69. Zuletzt: Habermas: Diebe vor Gericht, S. 167 f., und Nörr, S. 802 f. Zur Konzeption des Schöffengerichts vgl. Ebert, S. 244. Die Grundlage bildete Beseler. 54 Vgl. Overath: Todesstrafe, S. 128–130; Böttges, S. 17 f., 233. Zu Preußen: Landau: Schwurgerichte, S. 273 f.; zu Kurhessen: Habermas: Diebe vor Gericht, S. 189. 55 Daneben traten einzelne Ausschlussgründe, vgl. Linkenheil, S. 101; HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 14358, Bekanntmachung vom 23.3.1879, veröffentlicht im Amtsblatt des K. Staatsministeriums des Innern. Zur bayerischen Regelung nach 1908 vgl. Reindl. 56 § 35 GVG, Linkenheil, S. 101 f.; Kern, S. 111 und 113. 57 HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 14049, diverse richterliche und staatsanwaltliche Gutachten, insbesondere auch aus dem Schwurgerichtsbezirk Augsburg. 58 Dass.: 14359, Schreiben vom 12.7.1911. 59 Ebd., Schreiben vom 2.4.1907.

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Geschwornen besonders würdig« ansahen. Auch solle die finanzielle Belastung bei der Ausübung des Amtes bereits bei der Auswahl der Personen beachtet werden. Die Richtlinie legte also bereits eine soziale Exklusivität des Geschworenenamtes nahe. Die Schöffen und Hilfsschöffen waren über ihre Verpflichtung und die vorgesehenen Termine offiziell zu benachrichtigen.60 Auch wenn die Ernennungsregelungen faktisch zu einer sozialen Selektion führten, rekrutierte sich der Kreis der ›Laienrichter‹ im Kaiserreich potentiell aus einem großen Kreis der (männlichen) Bevölkerung. Diese standen den sozial und habituell bürgerlich geprägten Berufsrichtern im Prozess gegenüber und sollten mit ihnen gemeinsam die komplexe Tätigkeit der Rechtsfindung ausüben. Dies führte zu anhaltendem Widerstand. Mit der reichsweiten Etablierung von Schwur-, Schöffen und Strafkammern hatte das liberale Bürgertum einen ambivalenten Erfolg gefeiert.61 Trotz jahrzehntelanger Versuche insbesondere Hannovers und Preußens und später auch der Reichsspitze sowie der konservativen Reichstagsfraktionen, die französisch und liberal konnotierten Schwurgerichte abzuschaffen oder durch Schöffengerichte zu ersetzen,62 waren diese ab 1879 reichsweit etabliert.63 Indem sie jedoch neben zwei weitere Gerichtsformen gestellt und nicht mehr über die traditionelle Zuständigkeit für die politisch als besonders sensibel geltenden Politischen-64 und Pressedelikte verfügten,65 hatten die Schwurgerichte eine wesentliche Symbolfunktion verloren: Die Justizreformen des 19. Jahrhunderts – das mündliche und öffentliche Verfahren, die freie Beweiswürdigung, die Unabhängigkeit der Gerichte vor politischer Beeinflussung – waren nicht länger untrennbar mit ihnen verknüpft.66 Im Kaiserreich wurde zwischen 1883 und 1908 wiederholt erfolglos versucht, die Schwurgerichtsbarkeit einzuschränken oder abzuschaffen.67 Nachdem in den ersten Jahren der Weimarer Republik wiederum Vorstöße der politischen Linken zur Ausweitung der ›Laiengerichtsbarkeit‹ am konservativen Bundesrat scheiterten, wurden die Schwurgerichte 1924 schließlich auf dem Wege einer Notverordnung 60 Anonymus: Ministerialentschließung vom 23.3.1879 (Herstellung); ders.: Ministerialentschließung vom 23.3.1879 (GVG). 61 Linkenheil, S. 99. Davon, dass sich in dieser Frage der Liberalismus »überwiegend durchgesetzt« habe, wie Klaere: Abschaffung, Kap. III.2, o.S. konstatiert, kann hingegen nicht gesprochen werden. 62 Kern, S. 79 f. und 88; Wilhelm, S. 44–46; Blasius: Geschworenengerichte; Linkenheil, S. 33–70 und 98; Klaere: Entstehung, Kap. III und IV, o.S. Böttges, S. 2 f. und 39 f. Zum Großherzogtum Hessen, Hessen-Nassau, Kurhessen, Hannover, vgl. Wohlers, S. 138. Landau: Reichsjustizgesetz und die deutsche Rechtseinheit, S. 177 und 186 f.; Biebl, passim. 63 Zur Phase bis 1871 zusätzlich: Klaere: Entstehung; Habermas: Diebe vor Gericht, S. 174–199 (Kurhessen); Overath: Schwurgerichte, und dies.: Todesstrafe (Bayern); nur am Rande und mit unverhohlener Ablehnung liberaler Positionen geht Merkel, S. 53–73, auf 1924 ein; ähnlich: Ebert. 64 Insbesondere die schwerwiegendsten politischen Verbrechen fielen nun in die Zuständigkeit des neu geschaffenen, rein mit Berufsjuristen zusammengesetzten Reichsgerichts. 65 An der Frage der Pressedelikte wäre die Kodifikation im Reichstag beinahe gescheitert. Vgl. Kern, S. 88–93; Müller: Entstehungsgeschichte, passim; Schubert, S. 7 f., 17, 27, 33 f. 66 Vgl. Koch/Dinger-Broda, S. 9; Nobili; Linkenheil, S. 72. 67 Einen summarischen Überblick über alle RStPO/GVG-Reformversuche von 1879 bis 1924 mit Quellenhinweisen Kern, S. 126–164; Wilhelm, S. 110–115; 528–577; Nörr, S. 813.

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endgültig durch die – nun als Schwurgerichte bezeichneten – Schöffengerichte ersetzt.68 Die Macht der ›Laienrichter‹ wurde mit dieser sogenannten »EmmingerReform« maßgeblich beschränkt,69 denn an die Stelle von eigenständigen Entscheidungen traten kooperative Verfahren und vielfach wurde den Berufsrichtern eine alleinige Zuständigkeit zugewiesen.70 Neben finanziellen Erwägungen71 werden die »Erfahrungen« des Justizalltags bis heute als Argument für die Abschaffung der Schwurgerichte angeführt, ohne diesen Topos in Bezug zu den zeitgenössischen rechtspolitischen Hintergründen zu stellen. So entsteht das Bild, dass eine angeblich signifikante Zahl an Fehlurteilen und Prozessverschleppungen zu der Überzeugung geführt habe, dass von den Schwurgerichten »nicht unerhebliche Gefahren für die Wahrheitsfindung und die Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung« ausgingen. Es sei daher konsequent und notwendig gewesen, sich gegen das Schwurgericht zu positionieren und dieses letztlich abzuschaffen.72 Diese Deutungen stützen sich dabei keineswegs auf eigene empirische Auswertungen, sondern reproduzieren teilweise offen die zeitgenössischen Argumente der Schwurgerichtsgegner,73 ohne die Gegenseite zu berücksichtigen.74 So lange für das Kaiserreich empirische Einschätzungen zur Qualität der Schwurgerichtsurteile fehlen, kann der zeitgenössische juristische Diskurs jedoch lediglich als Teil einer nahezu hundert Jahre andauernden politischen Auseinandersetzung gewertet werden, die gerade nicht mehrheitlich, sondern per Notverordnung ihren normativen Abschluss fand. Die Schwurgerichte – das »Palladium der Freiheit«75 – wurden von Beginn an immer pars pro toto für das gesamte Staatsmodell konzeptioniert, so dass eine Auseinandersetzung um die Rolle der Geschworenen immer auch eine Diskussion um die demokratischen Einflussmöglichkeiten der Bevölkerung im Staat war.76 Betrachtet man die zeitgenössische 68 Vormbaum: Lex Emminger; Kern, S. 160–162. 69 Anders die Einschätzung bei Böttges, S. 49, mit Verweis auf die erstmalige Mitwirkung in Berufungsinstanzen; Ormond: Richter im Kaiserreich, S. 93, mit Hinweis auf die Gewerbegerichte. 70 Der Schwurgerichtsbefürworter von Hentig sah durch seine Statistiken belegt, dass durch die Emminger-Verordnung der Anteil der Verfahren, die von ›Laienrichtern‹ mitentschieden wurden, von 80% auf 20% gesunken sei, vgl. Klaere: Abschaffung, Kap. III.3, o.S. Vgl. auch Vormbaum: Lex Emminger, S. 147. 71 Die eingesparten Entschädigungskosten betonen als nahezu ausschließlichen Grund: Kern, S. 161; Ebert, S. 242; Kißener, S. 61; Böttges, S. 48. Kritisch dazu: Vormbaum: Lex Emminger, S. 141. 72 Linkenheil, S. 106–109, Zitat: 106; Wilhelm, S. 230–235.; Ebert; Merkel, S. 53–73; Nörr. 73 Kern, S. 118 und 164 (ohne Belege); Müller-Dietz, S. 178 (»Mißgeburt«, »Unberechenbarkeit« »Irrationalität«); in nüchternerem Stil: Linkenheil, S. 106. Merkel, S. 56–70, führt Bindings zeitgenössische Urteile als Beleg für seine Einschätzung an. 74 Bereits zeitgenössisch wurde Kritik an der Fehlurteilsdebatte laut: Mittermaier: Schwurgerichte, S. 5. Insbesondere wurden die Beweiskraft der empirischen Belege, gerade der von Ebert, S. 245 f., angeführten Umfrage unter Juristen, als parteilich in Zweifel gezogen: Hegler, S. 227. 75 Dieser zunächst Feuerbach zugeschriebene Ausdruck geht zurück auf Jean Louis de Lolmes, vgl. Merkel, S. 60, Fn. 145. 76 Grundlegend Linkenheil, S. 33–119, die nur kurz (ebd., S. 105–110) auf das Kaiserreich eingeht; für Österreich: Sadoghi, S. 37–85, die Rückschritte in der ›Laienrechtsprechung‹ mit autoritären Regimes korreliert; ähnlich Siegrist: Verrechtlichung, S. 101.

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Kritik am Schwurgericht, wird deutlich, dass es sich um eine elitäre Professionalisierungsdebatte handelte, die mit antidemokratischen Tendenzen verknüpft war. Bei der Gegenüberstellung der Positionen fällt eine Persistenz der wesentlichen Argumentationslinien auf, die vom Vormärz bis in das späte Kaiserreich reicht.77 Die Gegner der Geschworenengerichte sprachen den Geschworenen die Kompetenz ab, beklagten das durch die Mitwirkung konzeptionell zum Ausdruck gebrachte Misstrauen gegenüber den Richtern, unterstrichen die Fähigkeiten der Berufsrichter und betonten, dass nur die eigene Position sachlich und unideologisch sei. Mit der Jahrhundertwende galt sogar das Eintreten für die Schwurgerichte als unsachliche Ideologie78 : »Wer heute als Berufsjurist für die Beibehaltung der Schwurgerichte kämpft, wird in weiten Kreisen seiner Fachgenossen als Outsider und unpraktischer Ideologe betrachtet.«79

Diese Haltung knüpfte an eine konservative Rhetorik der ›Sachlichkeit‹ an.80 Die Tätigkeit von Richtern wurde hier von Politikern abgegrenzt, die zumindest von den organisierten Richtern verächtlich betrachtet wurden.81 Die Befürworter der Schwurgerichte betonten die staatstheoretische Bedeutung der Schwurgerichte als Umsetzung besten Konstitutionalismus und erklärten die – ggf. anerkannten – Mängel der bestehenden Schwurgerichtsbarkeit für behebbar.82 Veränderungen lassen sich auf Seiten der Gegner insbesondere bei drei Argumenten beobachten: Zum ersten wurden – wie oben dargestellt – die wesentlichen Elemente des Strafverfahrens konzeptionell vom Geschworenengericht gelöst und dahin gehend umgedeutet, dass sie sogar besser ohne das selbige umzusetzen seien. Zum zweiten wurde das Rechtsbewusstsein des Volkes nach der Schaffung des einheitlichen Rechtssystems kritischer bewertet als noch zu Zeiten der nach Traditionen suchenden Nationalbewegung.83 Anstatt den ›Laien‹ besondere Realitätsnähe zuzuschreiben, die sie befähige, auch schwierige Entscheidungen über die Glaubwürdigkeit von Aussagenden richtig zu treffen,84 sah man bei ihnen die Gefahr der Willkür.85 Mit Verweis auf die kriminologischen Wissenschaften betonten die Juristen den Expertenstatus des Richters und zeigten sich empört, dass die Tätigkeit des Urteilens nicht als Kunst oder Handwerk angesehen würde, son77 Auf die Kontinuität dieser widerstreitenden juristischen Positionen verweist als einziger dezidiert: Klaere: Abschaffung, Kap. III.3, o.S. Die nachfolgende Analyse stützt sich wesentlich auf die Auflistung der Argumente bei Böttges, S. 21–26; Linkenheil, S. 78 f. und 107 f. 78 Exemplarisch vgl. Görres: Wahrspruch. In der Literatur wird diese Einschätzung zuweilen zu unkritisch reproduziert: Nörr, S. 807 und 811; Wilhelm, S. 42 f.; der Topos der ›Politisierung‹ der Geschworenen findet sich etwa bei Klaere: Abschaffung, Kap. II.1 und II.1, o.S. 79 M. Liepmann, Erfahrungen über den Wert von Schwur- und Schöffengerichten, in: ders./Mittermaier 1906, S. 35, zit. nach: Ebert, S. 246. Ähnlich Mittermaier: Stellung des Bürgers, S. 27. 80 Zur Gegenüberstellung von »sachlich« und »ideologisch« in der zeitgenössischen Debatte Linkenheil, v.a. S. 79; Klaere: Abschaffung, Kap. III.1, o.S. 81 Tappert, S. 404; Hartwich, S. 71 f. 82 Vgl. exemplarisch: Mittermaier: Stellung des Bürgers. 83 Vgl. dazu Stier. Exemplarisch: Stenglein: Rechtsgefühl. 84 Koch: Zeugenbeweis, S. 254–256; Stichweh, S. 276–283. 85 Warschauer, S. 446–448; Laudé, S. 177; Görres: Wahrspruch, S. 72 f.

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dern als eine »Hantierung, die jeder erwachsene Bürger, welcher seine fünf Sinne beisammen hat«, ausüben könne.86 Einer möglicherweise vorhandenen ›Weltfremdheit‹ der Richter könne die »frische Lebensauffassung« des Laien nur im kooperativen Schöffen- und nicht im Schwurgerichtsverfahren entgegen wirken. Anders als Geschworene seien Schöffen durch die gemeinsame Beratung mit den Richtern nicht so leicht beeinflussbar und daher ein Garant für sachliche Urteile.87 Zum dritten – und das bildet den Kern – wurden die traditionellen Argumente mit dem auch von der Historiographie verwendeten Verweis auf individuelle wie kollektive ›Erfahrungen‹ der vergangenen Jahrzehnte in empirische Befunde umgedeutet, ohne jedoch belastbare empirische Daten zugrunde zu legen. Der Verweis auf die »Erfahrungen« ermöglichte, traditionelle Argumente unverändert aufzugreifen und als modern darzustellen. Rhetorisch gelang es dadurch, sie als neue und v.a. aus der Praxis abgeleitete Sachargumente zu inszenieren, welche die ebenfalls unveränderten Argumente der Befürworter als überholt, unsachlich und ›ideologisch‹ erscheinen lassen sollten.88 Kurz gesagt: die reichsweite Etablierung der Schwurgerichte nach 1879 ermöglichte eine erneute und sich auf den Topos der »Erfahrung« stützende Kritik gegen die sozial nun deutlich ausgedehnte ›Laienrichterschaft‹. Anders als in der legislativen Auseinandersetzung scheint es im Kaiserreich innerhalb der Juristenschaft zu einer linearen Meinungsentwicklung gegen das Schwurgericht gekommen zu sein. Während die jeweiligen Wahlergebnisse im Reichstag insbesondere nach 1900 zu widerstreitenden Reformversuchen führten, war die Reformrichtung bei den Juristen im Kaiserreich eindeutig: Bereits im Vormärz hatten die deutschen Strafrechtswissenschaftler das Konzept des Schwurgerichts abgelehnt89 und nach einer Phase der Befürwortung90 und Ernüchterung91 ab den 1870er Jahren das Modell des Schöffengerichts bevorzugt92 und spätestens in den 1890er Jahren das Schwurgericht mehrheitlich abgelehnt.93

86 Görres: Wahrspruch, S. 73. Ähnlich Warschauer, S. 443, und Hellwig: Urteilsfindung. 87 Warschauer, S. 444 f.; Görres: Wahrspruch, S. 76–79, bewegt sich auch ohne Begriffsverwendung im »Weltfremdheitsdiskurs«; vgl. dazu Kap. II.3.1. 88 Zeitgenössisch kritisch zum Topos der »Erfahrung« Mittermaier: Schwurgerichte, S. 9. 89 Böttges, S. 21–26; nach Kern, S. 59; Linkenheil, S. 78 f.; Wienfort: Recht und Bürgertum, S. 283. 90 Zu einem Umschwung kam es 1847 auf der 2. Germanistenversammlung in Lübeck, als insbesondere der prominente Reformer C. J. A. Mittermaier ins Lager der Befürworter wechselte; Linkenheil, S. 82–84; Ebert, S. 244; Klaere: Entstehung, Kap. IV.6, o.S. 1861 befürworte auch der Deutsche Juristentag das Schwurgericht. 91 Dass man sich bei der Einführung am seit Jahren von Juristen bemängelten französischen statt am mehrheitlich präferierten englischen Modell orientierte, führte erneut zu Unmut. Vgl. die Gegenüberstellung der beiden Vorbilder: ebd., Kap. I, o.S. Linkenheil, S. 40–49; Böttges, S. 4–12; zur Problematik der Einführung 1848: Linkenheil, S. 91 f. Die Klage gegen das französische Modell hielt an: Warschauer, S. 446. 92 Böttges, S. 38 f.; zeitgenössisch Mittermaier: Schwurgerichte, S. 3 f.; Hartwich, S. 73–77; von Bar: Geschworenen- und Schöffengerichte, plädierte ausgiebig für die Schwurgerichte. 93 Ebert, S. 246; Nörr, S. 811. Mittermaier: Schwurgerichte, S. 1; Stenglein: Fragestellung, S. 401; Klaere: Abschaffung, Kap. III.3, o.S. für die 1920er Jahre.

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Wie auch bei der Forderung, die kurz zuvor noch als Errungenschaft gefeierten, kollegial organisierten Gewerbe- und Kaufmannsgerichte wieder in die ›ordentliche‹ Gerichtsbarkeit unter Zuständigkeit der Berufsrichter einzugliedern, lässt sich die Schwurgerichtsdebatte als Angst vor einem Statusverlust deuten, die aus der sozial erweiterten Partizipation nicht als bürgerlich empfundener Schichten resultierte.94 Die Idee des Geschworenengerichts war im Vormärz aus den Reihen des aufstrebenden Bürgertums artikuliert worden, hatte sich explizit gegen die zumeist adlige Richterschaft gewandt und zielte auf eine Partizipation des Bürgertums auf der Geschworenenbank. Die Beteiligung der Bevölkerung an der Strafjustiz bedeutete symbolisch nichts weniger als das Ende der absoluten und den Einstieg in die konstitutionelle Monarchie.95 Die Ablehnung des Modells durch die zunächst noch mehrheitlich adlige Juristenschaft kann unter diesen Umständen kaum verwundern. Im Kaiserreich hatte sich wiederum das Bürgertum endgültig in den Führungsstellen des Staates und so auch im Justizdienst etabliert. Des Umwegs über das Amt des Nicht-Berufsrichters bedurfte es nun nicht länger, um an der Rechtsprechung mitzuwirken oder von seines Gleichen verurteilt zu werden. Die im Vormärz empfundene Skepsis gegenüber Richtern konnte dem Bürgertum, nun da es selbst diese Posten zu einem hohen Anteil besetzte, nicht mehr angemessen erscheinen.96 Hinzu kam, dass es während des Vormärz v.a. das liberale Bürgertum gewesen war, das ein Interesse an einem möglichst umfangreichen Schutzrecht und einem Urteil durch seines Gleichen insbesondere bei den im Zuge der Verfassungsstreitigkeiten vorherrschenden Presse- und Staatsdelikten hatte.97 Im Kaiserreich aber kamen die Gegner des bestehenden Gesellschaftsystems nicht mehr aus den eigenen Reihen, sondern drohten als sozialdemokratische Geschworene mitten im Gerichtssaal sitzen.98 Am deutlichsten wurde der Versuch der Statussicherung, wenn explizit der Ausschluss von Arbeitern aus den Jurys gefordert wurde.99 Die Urteile dieser sozial ausdifferenzierten Jurys galten nun als sachfremd. Nicht mehr das allgemeine ›Rechtbewusstsein‹ des – nicht mehr rein bürgerlichen – Volkes, sondern insbesondere jene Kenntnisse, über welche das Kaufmannsbürgertum verfügte, sollten zur Kompensation einer richterlichen ›Weltfremdheit‹ in kooperativen Verfahren hinzugezogen werden. Weniger als um eine vertikale Machtverteilung, ging es den bürgerlichen Juristen nun um eine horizontale. Überspitzt 94 Der 4. Deutsche Richtertag forderte 1921 die Abschaffung der ›Sondergerichte‹, vgl. Vetter, S. 265–269. Dieselben wurden von Radbruch auf dem Parteitag der SPD 1921 verteidigt, vgl. Jünemann, S. 355. 95 Über die staatstheoretische Unvereinbarkeit von Absolutismus und Schwurgerichten konnte spätestens seit der einschlägigen Schrift Anselm von Feuerbachs 1813 keinerlei Zweifel bestehen, vgl. Klaere: Entstehung, Kap. III.1, o.S. 96 Vgl. Linkenheil, S. 73–82; Klaere: Entstehung, Kap. IV.4, o.S. 97 Linkenheil, S. 85; Kern, S. 70; Linkenheil, S. 72–74; Hartwich, S. 71. 98 Schröder: Richterschaft, S. 216, Fn. 56, verweist auf die Furcht vor einem »Eindringen sozialdemokratischer Elemente in die Justiz«. Nörr, S. 807 f., betont die Ablehnung der Reichsregierung in den frühen 1870ern gegenüber Sozialdemokraten und Katholiken in diesem Amt. 99 Görres: Wahrspruch, S. 11; vgl. Kap. II.3.2.

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formuliert bedeutete dies: Als die bürgerlichen Geschworenen zu ›proletarisieren‹ und zu ›verweiblichen‹ drohten, wurde mit dem Schöffengericht ein Modell bevorzugt, in welchem bürgerliche Sachkompetenz erneut zum zentralen Merkmal werden sollte. Staatstheoretisch zeigt sich, dass das mit dem Schwurgericht verbundene Konzept der Partizipation hier wie andernorts inzwischen eine Eigendynamik entfaltet hatte: Keinesfalls hatte ja die ursprüngliche Konzeption eine Beteiligung des ganzen (männlichen Teils des) deutschen Volkes vorgesehen,100 nun aber forderten weitere Teile der Gesellschaft – insbesondere Arbeiter und Frauen, aber auch das jüdische Bürgertum – eine gleichartige Beteiligung bzw. übten sie bereits aus. Es waren insbesondere die linke Presse und die Sozialdemokraten, die im Kaiserreich und der beginnenden Weimarer Republik das Schwurgericht verteidigten. ›Kompetenz‹ und ›Professionalität‹ – und damit das zentrale Bürgertumsmerkmal Bildung – wurden zu den Kernkonzepten des Berufsrichtertums. Diesen wurde das ›Laientum‹ gegenübergestellt, das – wenn überhaupt – nur in überwachter und angeleiteter Kooperation mit Berufsrichtern agieren sollte. Während der Deutsche Anwaltsverein gegen die Abschaffung von 1924 protestierte, begrüßten der Preußische Richterverein und der Deutsche Richterbund diese Reform.101 Anstatt auf unterschiedliche prozessuale Erfahrungen der Berufsgruppen mit Geschworenen lässt sich diese Differenz in der Reaktion wohl eher auf die unterschiedliche soziale Zusammensetzung und die damit eng verbundene politische Ausrichtung der beiden Berufsgruppen zurückführen. Bedenkt man, dass das Schwurgericht im ausgehenden Kaiserreich insbesondere noch von Linksliberalen, Sozialdemokraten und Kommunisten unterstützt wurde102 und dass diese in der Anwaltschaft deutlich stärker vertreten waren als in der Richterschaft, erscheint es naheliegend, dass die relativ gesehen liberalere Anwaltschaft die Abschaffung der Schwurgerichte stärker bedauerte als die als konservativ bis reaktionär geltende Richterschaft, die sich noch dazu durch die Konkurrenz der ›Laienrichter‹ und das damit verbundene Misstrauen ihr gegenüber gekränkt gefühlt haben mag.103 Die Professionalisierungsdebatte wurde nirgends so deutlich zum Ausdruck gebracht wie im Begriff des »Laien«. Bei dieser Bezeichnung handelte es sich – folgt man der bis heute einzigen ausführlichen Darstellung von 1875 – um eine vergleichsweise junge Erscheinung, die noch dazu von Beginn an dazu diente, sich gegen die Einrichtung der Geschworenengerichte zu wenden.104 Seit den 1860ern wurden damit die »Nichtberufsrichter« tituliert. Der Begriff etablierte sich danach so sehr, dass er bis heute als unhinterfragte Beschreibungskategorie gilt.105 Der 100 101 102 103

Linkenheil, S. 86–89, die v.a. auf Haber verweist. Klaere: Abschaffung, Kap. III.3, o.S. Ebd., Kap. III.1, o.S., zum Wahlrichtertum vgl. auch Kern, S. 147. Klaere: Abschaffung, Kap. III.3, o.S.; Wilhelm, S. 114; Koch/Dinger-Broda, S. 8. Zeitgenössisch: Görres: Wahrspruch, u.a. S. 77 f. 104 Zur nachfolgenden Begriffsverwendungsgeschichte Heinze, S. 59–63. 105 Vgl. insbesondere Linkenheil und Böttges, bei denen der Begriff sogar im Titel auftaucht. Wilhelm verwendet ihn, obwohl er den Begriff mit Verweis auf Heinze als einziger bislang historisiert

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Heidelberger Professor Heinze verwies 1875 darauf, dass das Nicht-Berufliche am Geschworenenamt traditionell in der Aufgabe des Richtens gesehen worden sei. Keineswegs sei es darum gegangen, den Geschworenen als »Nicht-Juristen« zu denunzieren – zumal in Deutschland Juristen vom Dienst als »Laienrichter« nicht ausgeschlossen seien. Die Bezeichnung impliziere nun aber, dass der »Laie« »ausgeschlossen sei[n] aus dem Kreis der intellectuell Befähigten und rechtlich Befugten, bloßes Object sei[n] für Belehrung, Fürsorge, Leitung durch die Eingeweihten.« Damit unterstelle man aber zugleich, dass ein »Laien-Urtheil« niemals so gut sein könne wie das eines Juristen.106 Etymologisch orientierte sich der Begriff an einer kirchlichen Bezeichnung für jene Gläubigen, die sich unterhalb einer theologischen Hierarchie- oder Kompetenzstufe befanden, wobei das Wort aus dem Griechischen entlehnt war und »Volk« bedeutete. Da der Gelehrtenstatus lange mit dem Stand der Geistlichen verbunden gewesen war, bedeutete der Begriff des »Laien« auch Unwissenheit oder mangelnde Gelehrtheit.107 Heinze sieht in der Begrifflichkeit entsprechend einen erfolgreichen rhetorischen Kniff, um die Mitwirkung der Nicht-Berufsrichter einzuschränken oder abzuschaffen.108 Auch wenn angesichts von Heinzes Parteilichkeit für die Geschworenengerichte eine gewisse Vorsicht angemessen sein dürfte, erscheint nicht nur seine Begriffsgeschichte, sondern auch seine diskursanalytische Deutung plausibel. Denn das mit von Schwarze ausgerechnet einer der schärfsten Gegner der Schwurgerichte und ein glühender Kämpfer für die Schöffengerichte maßgeblich zur Verbreitung des Begriffs beigetragen haben soll und dass ausgerechnet die Leonhardt’schen Stellungnahme des preußischen Justizministerium, die sich für die Abschaffung der Schwurgerichte einsetzte, ausführlich auf den »Laiencharacter«109 verwies, stützt diese Interpretation. Als Wolfgang Mittermaier 1906 betonte, dass er es für einen Fehler halte, von »Laien« statt von »Nicht-Berufsrichtern« zu sprechen, stand er begrifflich wie politisch bereits weitgehend allein im rechtpolitischen Diskurs.110 Die mangelnde ›Erfahrung‹ beim Fällen von Urteilen, die sich angeblich im ›Laientum‹ insbesondere der Geschworenen und Schöffen ausdrückte, und dass diese für emotionale und unsachliche Beeinflussungen anfällig wären, wurde zum sinnbildlichen Komplementär der ›professionellen‹ Juristen, die aus beruflichen Gründen im Gericht agierten.

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hat. Während die 13. Auflage des Brockhaus von 1885 den »Laienrichter« noch nicht kannte (Brockhaus’ Conversations-Lexikon, Bd. 10, Leipzig 1885), hatte er in der 15. Auflage von 1932 bereits einen eigenen Eintrag (Bd. 11, 1932, S. 43). Heinze, S. 60. Vgl. Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 16, 1773 [Reprint Graz 1995], S. 1234; Art. »Laien«, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexikon), Bd. 6, Leipzig 1827, S. 396; Art. »Laien«, in: Brockhaus’ Conversations-Lexikon, Bd. 10, Leipzig 1885, S. 754. Kluge, Art. Laie. Heinze, S. 60. Ebd., S. 61. Mittermaier: Schwurgerichte, S. 8.

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So sehr die Abgrenzung von den ›Laien‹ auch gesucht wurde, die Analyse der innerjuristischen Diskussionen um die jeweiligen Berufsrollen zeigt, dass die Juristen insbesondere aufgrund sozialer und rechtspolitischer Differenzen keine homogene Gruppe darstellten und sich bei der Abgrenzung und Beschreibung von Kompetenzen Konflikte ergaben.

3.2 Arbeitsteilung und Konflikte im Gerichtssaal Im Mai 1884 musste sich der Pfarrmessner Ignaz M. vor dem Augsburger Schwurgericht wegen eines Mordversuchs verantworten. Während der Beweisaufnahme traten der Staatsanwalt von Rothenfelder, der Verteidiger Böhm, die Geschworenen und der Angeklagte an den Richtertisch, um einen Blick auf den vom Sachverständigen angefertigten Situationsplan zu werfen. Nachdem der Vorsitzende Richter Merkel diverse Fragen gestellt hatte, forderte der Staatsanwalt den Angeklagten auf, auf der Karte eine bestimmte Stelle zu bezeichnen. Der beisitzende Richter Wehner sprang auf und herrscht ihn an: »Was ist das? Die Staatsanwaltschaft hat nichts zu fragen; das Recht der Fragestellung gebührt dem Vorsitzenden.« Darauf erwiderte von Rothenfelder: »Wenn ich überhaupt unter einer Sitzungspolizei stehe, so stehe ich jedenfalls nur unter der des Herrn Vorsitzenden, […] ein Beisitzer hat mir keine Rüge zu erteilen.« Der Vorsitzende beendete den Disput. Dennoch ließ der empörte Staatsanwalt den Gerichtsschreiber die Auseinandersetzung protokollieren.111 Die Szene verweist auf zentrale Fragen der Kompetenz und Hierarchie und gibt einen Einblick in die fragile Aushandlung der Verfahrensaufgaben, die zwischen den Juristen zu Konflikten führte. Das Selbstverständnis der eigenen Rolle war maßgeblich für die konkrete Entscheidung, welche Auslegung der Strafprozessordnung einem zutreffend erschien, und hatte damit konkreten Einfluss auf das Prozessgeschehen. Die nachfolgende Rekonstruktion ermöglicht en passant auch einen Einblick in die zentralen Verfahrensschritte.

3.2.1 Unabhängig, leitend, gerecht? Der Strafrichter Bezeichnete ein Jurist oder ein Gesetz jemanden als ›Richter‹, so waren damit die hauptberuflichen, studierten Richter an den ›ordentlichen Gerichten‹ gemeint, die in Zivil- und Strafprozessen Recht sprachen – Schöffen, Geschworene oder Rechtsprechende an den Gewerbegerichten fielen nicht darunter.112 Als wesentliche Aufgaben und Eigenschaften, welche den Richtern durch Literatur und Gesetzesnormen zugeschrieben wurden, galten die unabhängige Leitung

111 StAA LG A - SG: 28/1884, Protokoll der Hauptverhandlung vom 12.5.1884. 112 Ormond: Richter im Kaiserreich, S. 87; zeitgenössisch: Burckhard, S. 9–16.

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der Verhandlung, Unparteilichkeit und Gerechtigkeit. Sie stellten auch die wesentlichen Elemente des Diensteides dar.113 Unabhängigkeit gehörte für die Richter des Kaiserreichs zum Selbstbild und konnte auf nahezu alle Bereiche des beruflichen und persönlichen Lebens bezogen werden.114 In erster Linie umfasste dies die Unabsetzbarkeit des Richters, eine weitgehende Unabhängigkeit von politischen Einflussnahmen und die – im Umfang umstrittene – Ermessensfreiheit bei der Würdigung der Beweise.115 Seit Mitte des Jahrhunderts lag die Rolle der Richter im Strafprozess nicht mehr im Ermitteln bzw. »Inquirieren«, sondern im Leiten der Verhandlung und im Fällen des Urteils. Der Richter hatte für ein ›faires‹, das heißt die Interessen aller Beteiligten berücksichtigendes und ordnungsgemäßes Verfahren, Sorge zu tragen. Dem entsprach seine zentrale Positionierung im Gerichtssaal: An einer erhöhten Richterbank sitzend, lief die Choreographie des Raumes auf ihn zu (Abb. 2 und 3). Und auch an der Ausgestaltung der Robe war der Richter als ranghöchster Jurist im Raume erkennbar:116 Sie bestand aus schwarzem Kaschmir, verfügte über einen Samtbesatz und silberne Knöpfe. Das zugehörige Barett war bei Vereidigungen und der Urteilsverkündung zu tragen.117 Er durfte Anordnungen treffen, die in die Rechte der beteiligten Personen eingriffen, wie z.B. Hausdurchsuchungen, Leichensektionen und Festnahmen. Auch die Entscheidung, ob aufgrund einer Anklage ein Verfahren eröffnet wurde, lag bei einem richterlichen Gremium, der Strafkammer. Wurde das Hauptverfahren eröffnet und kam es zum Prozess, so glichen sich die Aufgaben der Vorsitzenden Richter an Land- und Amtsgerichten in weiten Teilen.118 Handelte es sich um ein Schwurverfahren, so hatte der Richter zunächst die Geschworenenbank mithilfe des Loses und unter Rücksicht auf das Veto der Parteien zu bilden und die Geschworenen zu vereidigen.119 Andernfalls verlas er direkt den Eröffnungsbeschluss, wodurch der Angeklagte mit den ihm zur Last gelegten Vorwürfen konfrontiert wurde. Die Befragung des Beschuldigten erfolgte durch den Vorsitzenden Richter – worauf der Einwurf des Beisitzers Wehner im anfangs zitierten Beispiel zielte. Der Richter leitete die Beweiserhebung,120 rief die Zeuginnen und Zeugen auf, vereidigte sie und hatte das vorrangige Befragungsrecht. Stellten Staatsanwalt und Verteidiger den übereinstimmenden Antrag, 113 Vgl. Ausführungsgesetz zum Reichsverfassungsgesetz vom 23.2.1879, abgedruckt in: Bleyer, S. 211–229, hier: 211 f. 114 Zum historischen und rechtstheoretischen Hintergrund vgl. Simon, v.a. S. 14 f. 115 Ebd., v.a. S. 41–57; Ormond: Richterwürde, S. 108–281. Vgl. Kap. I.1.2.1. 116 Als Ziviluniform drückte die Robe auch die hierarchischen Dienstverhältnisse aus. Vgl. dazu grundlegend Hackspiel-Mikosch/Haas, S. 13 f. und 18–21. Sie ist eben gerade keine »Äußerlichkeit«, deren Geschichte zu Recht bisher kaum Beachtung geschenkt worden sei, wie dies Leutheußer, S. 197, noch betont. 117 Anonymus: Bekanntmachung vom 29.12.1879. 118 Auf die Rolle der Beisitzer wird an dieser Stelle nicht eingegangen. 119 Werdel, S. 94–97. 120 Es war herrschende Meinung, dass die Annahme bzw. Ablehnung eines Beweises ohne Mitwirkung der Geschworenen geschehen durfte, vgl. Crasemann.

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Zeuginnen und Zeugen selbst zu befragen, musste ihnen dies unter richterlicher Aufsicht gewährt werden. Generell mussten die beisitzenden Richter, die Geschworenen sowie Staatsanwalt und Verteidiger sich einzelne Fragen vom Vorsitzenden genehmigen lassen.121 Die Richter nahmen ihr Recht, Fragen zurückzuweisen, regelmäßig in Anspruch – insbesondere die Anwälte sahen sich dadurch in ihrer Tätigkeit eingeschränkt.122 Dem Vorsitzenden kam auch die sogenannte »sitzungspolizeiliche« Leitung der Verhandlung zu, auf welche Staatsanwalt von Rothenfelder in seinem Disput mit dem Beisitzer verwies. Der Vorsitzende Richter – und nur er – konnte alle am Verfahren Beteiligten sowie das Publikum bei als ungebührlich empfundenen Verhalten ermahnen, des Saales verweisen oder sogar bestrafen.123 Neben der unabhängigen Leitung war die Unparteilichkeit des Richters eine zentrale Aufgabe, welche argumentativ eng mit dem Schutz des Angeklagten im Zuge der ›materiellen Verteidigung‹ verzahnt war. Der Richter sollte sicherstellen, dass dem Angeklagten keine wesentlichen Prozessrechte vorenthalten und dass sowohl be- als auch entlastende Beweise erhoben würden. Diese Sicherung der prozessualen Rechte ging jedoch nicht so weit, den Angeklagten auch auf seine Rechte explizit hinweisen zu müssen – was insbesondere von liberaler und anwaltlicher Seite kritisiert wurde.124 Ob eine materielle Verteidigung ohne formelle, also anwaltliche, Verteidigung in allen Facetten wirklich erreichbar war, war daher eine Frage, die schnell an die Berufsehre von Richtern und Staatsanwälten ging. Gefährdet erschien die Überparteilichkeit des Richters durch die Präsenz der Ermittlungsakten in der Hauptverhandlung. Skeptiker innerhalb der Juristenschaft befürchteten, dass sich der Richter durch ihre Lektüre bereits eine Meinung gebildet haben könnte125 oder selbige gar bei der Urteilsfassung heranziehe.126 Befürworter des Aktenstudiums betonten hingegen, dass die Ermittlungsakten den Verlauf des Prozesses zu strukturieren helfen würden. Im Kern drehte sich diese Auseinandersetzung weniger um den Richter als um den Einfluss der Voruntersuchung auf das Hauptverfahren. Um eine Parteilichkeit eines Richters auszuschließen, konnte die Ablehnung wegen ›Befangenheit‹ vom Angeklagten, dem Staatsanwalt und dem Privatkläger zu Beginn der Verhandlung beantragt werden. Über diesen Antrag wurde vom Richterkollegium des gleichen Gerichts entschieden.127 Allerdings findet sich in den hier untersuchten Gerichtsakten kein derartiger Antrag. Die Urteilsfindung war wie die Beweiswürdigung den neugierigen Blicken der Öffentlichkeit entzogen. In Schöffengerichten und Strafkammern wurde in gehei121 Osius/Bendir, S. 286 f.; Finger, S. 93–95. Die Einführung des Kreuzverhörs war bei der Kodifikation gescheitert, vgl. Wohlers, S. 190 f. 122 B. 123 Der Umfang dieser Befugnis war strittig, eine enge Auslegung bei: Groschuff. 124 Vgl. Kap. III.2.2.3. 125 Vgl. summarisch zu dieser Debatte Meiners, § 8, Fn. 190 ff.; Henschel: Vernehmung, S. 72 f. Zur narrativen Wirkung der Akte vgl. Kap. I.2. 126 Schwaiger, S. 19, der darin jedoch keine Gefahr sieht. 127 Werdel, S. 71–94. Gemäß Hett, S. 115, konnten derartige Vorwürfe des Anwalts Grundlage für ein ehrengerichtliches Verfahren gegen denselben werden.

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mer Sitzung, häufig in einem separaten Raum, kollegial von der gesamten Richterbank über den Schuldspruch und die Strafhöhe beraten, welche anschließend vom Vorsitzenden in öffentlicher Sitzung verkündet wurden.128 In Schwurgerichtsverhandlungen verfasste der Vorsitzende nach dem Ende der Beweiserhebung einen Katalog mit Fragen an die Geschworenen, welche mit Ja oder Nein beantwortbar sein mussten.129 Sobald der Fragenkatalog mit den Parteien abgestimmt war, folgten die Schlussplädoyers. Nach der Belehrung der Geschworenen, welche rechtlichen Gesichtspunkte sie zu beachten hätten, zogen sich diese in das Geschworenenzimmer zurück.130 Der anschließend von einer der Gerichtspersonen131 verkündete Schuldspruch konnte vom Vorsitzenden als unsachlich zurückgewiesen werden, woraufhin die Geschworenen sich erneut zu beraten hatten oder das Verfahren erneut zu verhandeln war (§309–317 RStPO). Abschließend legten die Berufsrichter in geheimer Sitzung die Strafhöhe fest und verkündeten in öffentlicher Sitzung das Urteil. Obwohl im Kaiserreich massive öffentliche Kritik daran aufkam, wie Richter ihr Amt ausübten, war die Rolle der Richter im Verfahren grundsätzlich unumstritten. Sie trugen die Verantwortung für einen geregelten Ablauf und ein angemessenes, formal korrektes Urteil. Zentral für das richterliche Selbst- und Leitbild war ihre Unabhängigkeit von staatlicher Beeinflussung, eine Betonung des Fachlichen und Sachlichen sowie ihre Überparteilichkeit, die sowohl für die Strafverfolgung als auch für den Schutz des Angeklagten Sorge tragen sollte.

3.2.2 Richtend, verteidigend, anklagend? Der Staatsanwalt »die objektivste Behörde«132

Die Staatsanwaltschaft konnte in Deutschland 1879 auf eine vergleichsweise kurze Tradition zurückblicken. Erst seit Mitte des Jahrhunderts waren die Rollen im Strafverfahren dahingehend getrennt worden, dass Strafverfolgung und Urteilsfindung nicht mehr in einer Hand lagen.133 Im Kaiserreich gehörte es zu den Aufgaben der Staatsanwälte, auf Grundlage der Anzeigen zu entscheiden, in welchen Fällen Ermittlungen aufzunehmen waren und welche sofort eingestellt wurden.134 Der Staatsanwalt leitete die polizeilichen Ermittlungen, war jedoch bei zahlreichen Maßnahmen auf richterliche Genehmigungen angewiesen.135 Er entschied, ob ein Antrag auf Eröffnung einer vertiefen128 129 130 131 132 133

Vgl. zur juristischen Definition von »Geheim« ausführlich die Einleitung zu Teil II. Vgl. Stenglein: Fragestellung, und Löwenstein. Zur Ausstattung: Windisch, S. 10 f. Hopfmann betont, dass der Gerichtsschreiber häufig diese Funktion ausübte. So zitiert Gravenhorst, S. 457, Oberstaatsanwalt Isenbiel. Vgl. Ignor, S. 244–248; Wohlers, S. 43–207; Carsten. Zu den Auseinandersetzungen bei Einführung der Staatsanwaltschaften: Knollmann. 134 Zum internen Geschäftsgang und der Anfertigung von Schriftstücken: Stachow. 135 Zum Verhältnis u.a. Dehler, S. 88–95; Tinsch.

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den Voruntersuchung gestellt und ob Klage gegen einen Beschuldigten erhoben würde,136 lag doch seine zentrale Aufgabe darin, »das Interesse des Staates an der Geltendmachung des staatlichen Strafanspruchs wahrzunehmen«.137 Seine Anklage enthielt die erste vereindeutigte juristische Interpretation der Ereignisse und beeinflusste damit die offizielle Fassung der ›formellen‹ Wahrheit. Kam es zum Prozess, dann vertrat der – nicht mit dem Anklageführer der Voruntersuchung identische138 – Staatsanwalt den staatlichen Strafanspruch gegen den Angeklagten, lud die Zeuginnen und Zeugen vor, konnte Beweisanträge und Fragen stellen und hielt ein Plädoyer, in dem er seine Interpretation der Beweislage darlegte. Staatsanwälte waren durch ihre Beamtenstellung, die Robe – wie bei den Richtern mit einen Samtbesatz versehen139 – und die ihnen zustehende Titulierung eindeutig als Organ der Rechtspflege zu identifizieren. In Bayern kam ihnen der Titel des »Königlichen Staatsanwaltes« zu, auf dessen Einhaltung insbesondere bei den nicht-beamteten Anwälten genauestens geachtet wurde. Als es 1884 zwischen dem Augsburger Advokat Böhm und dem Oberstaatsanwalt zu einem Wortwechsel kam, weil ersterer dies angeblich versäumt hatte, legte Böhm großen Wert darauf, nachtragen zu lassen, dass er sich vollkommen korrekt verhalten und es sich um ein Missverständnis gehandelt hatte.140 Jenseits dieser symbolischen Ebene war die Rolle des Staatsanwaltes aber durchaus uneindeutig. Einerseits wurden die Staatsanwälte als richterähnliche Berufsgruppe angesehen, welche ausschließlich nach materieller Wahrheit strebte und daher ent- und belastendes Beweismaterial sammle141 – ein Eindruck, der durch die zumindest in Bayern verwobenen Karrierewege, die Sozialisation wie auch die Platzierung im Gerichtssaal noch bestärkt wurde. Und wie dem Richter wurde auch ihm inhaltlich eine Verteidigung des Angeklagten zugeschrieben.142 Eine neutrale Haltung erschien andererseits nicht wenigen Juristen als unwahrscheinlich, legte das Gesetz ihn doch nicht auf diese Rolle fest.143 Außerdem strebe er als Anklagevertreter die Überführung des Angeklagten an144 und nehme damit eindeutig eine gegnerische Position gegenüber demselben ein, auch wenn diese Parteistellung formal verschleiert werde.145 Für eine bereits bestehende Parteistellung des Staatsanwaltes gegen den Angeklagten sprach, dass er – anders als die unabhängigen 136 Wohlers, S. 185 f., betont hingegen, dass seine Funktion vornehmlich in der passiven Kontrolle der richterlichen Ermittlung gelegen habe. 137 Ebd., S. 196. 138 Vgl. StAA LG A - SG: 11/1884. 139 Anonymus: Bekanntmachung vom 29.12.1879. 140 StAA LG A - SG: 11/1884, Protokoll der Hauptverhandlung vom 8.5.1884, anschließende Briefwechsel und Gesprächsprotokoll. 141 Ortloff : Untersuchungsrichter im Strafprocesse, S. 258; Kulemann: Voruntersuchung, S. 30–32. Vgl. auch von Lilienthal: Reform des Vorverfahrens, S. 1006; Gravenhorst. 142 Ortloff : Untersuchungsrichter im Strafprocesse, S. 258. 143 Eine Verpflichtung aller an der Strafverfolgung beteiligten Organe sollte ursprünglich dem GVG vorbehalten bleiben, blieb dann aber unnormiert, vgl. Wohlers, S. 183–185. 144 Geyer: Lehrbuch, S. 436; von Weinrich, S. 244 f.; Kronecker: Reformbedürftigkeit, S. 415 f. 145 Von Liszt: Verteidigung, S. 180; Ortloff : Vorverfahren, S. 43–46.

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Richter – in ein hierarchisches und weisungsgebundenes System eingebunden war.146 Selbst wenn ein Staatsanwalt nicht von der Schuld eines Beschuldigten überzeugt war, konnte der vorgesetzte Staatsanwalt ihn anweisen, Klage zu erheben.147 Diese Weisung entfaltete insbesondere in politischen Verfahren Wirkung, was zu Misstrauen gegenüber der Staatsanwaltschaft insgesamt führte.148 Ebenfalls offen war, ob der Staatsanwalt unter der sitzungspolizeilichen Aufsicht des Vorsitzenden stand149 – was Staatsanwalt von Rothenfelder im einleitenden Beispiel offenkundig infrage stellte. Nicht nur das Verhältnis von Staatsanwälten und Richtern, sondern auch das Verhältnis zwischen Staatsanwälten und Verteidigern war im Kaiserreich Gegenstand einer langen Debatte. So wurde teilweise eine formale Gleichstellung eingefordert, was jedoch entweder einen Abbau der prozessualen staatsanwaltlichen Privilegien bzw. einen weiteren Ausbau der Rechte der Verteidigung oder gar den Aufbau einer Verteidigungsbehörde150 bedeutet hätte. Andere plädierten hingegen für einen weiteren Ausbau der staatsanwaltlichen Stellung151 oder sahen eine Bevorzugung der Staatsanwälte bereits im Rahmen der gültigen Reichsstrafprozessordnung als gerechtfertigt an. So könne der Untersuchungsrichter dem Staatsanwalt die Anwesenheit bei Zeugenbefragungen gestatten, ohne auch den Verteidiger bzw. Beschuldigten hinzuzuziehen.152 Das juristische Bild der Staatsanwälte changierte somit zwischen einer richterähnlichen Unparteilichkeit, deren alleiniges Ziel die Aufklärung der materiellen Wahrheit sei, und einer der Verteidigung gegnerisch gegenüberstehenden, privilegierten Partei, deren Ziel die Überführung des Angeklagten sei.

146 § 147 Gerichtsverfassungsgesetz. Vgl. exemplarisch den Hinweis bei Elvers: Ermittlungsverfahren, S. 628; Fischer, S. 331 f. Kritisch zur Abhängigkeit Tinsch, S. 10–24. 147 Vgl. Elvers: Hauptverhandlung; von Liszt: Verteidigung, S. 180. Exemplarisch: StAA LG Ke - SK: 71/1905, Briefwechsel zwischen dem Staatsanwalt und dem Oberstaatsanwalt 27.6.–30.6. sowie 3.8.–20.8.1905. 148 Wilhelm, v.a. S. 123–127, 226 f., 451 f. 149 Eine summarische Übersicht bei Groschuff, demzufolge die herrschende Lehre dies bejahe. Vor 1879 wurde eine derartige Unterordnung abgelehnt: Wilhelm, S. 55, Fn. 73. 150 Ortloff : Vorverfahren, S. 36–59. Gegen eine Behörde: Kulemann: Voruntersuchung, S. 42; von Weinrich, S. 253–258. 151 Gegen eine Gleichstellung polemisiert Kulemann: Voruntersuchung, S. 30 f. 152 Fuchs: Vorverfahren, S. 469. Hiermit knüpft er an preußische Regelungen an, vgl. Kronecker: Reformbedürftigkeit, S. 422.

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3.2.3 Objektiv, genau, einseitig? Der Untersuchungsrichter »Der Untersuchungsrichter nimmt nicht […] an der Strafverfolgung Theil.«153

Die Tätigkeit des Staatsanwaltes vor Beginn der Hauptverhandlung wurde in den Reformdebatten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wiederholt von jener des Untersuchungsrichters abgegrenzt.154 Befürworter der Voruntersuchung betonten die besondere Rolle des Untersuchungsrichters als unabhängiger richterlicher Person,155 Gegner der Voruntersuchung hielten diese wegen der Existenz der Staatsanwaltschaft für verzichtbar.156 Eine umfassende Darstellung zu den Tätigkeiten eines Untersuchungsrichters lieferte das Handbuch von Hanns Gross. Gross forderte mit Blick auf die benötigten Kompetenzen eine längere Amtsdauer für die Untersuchungsrichter:157 Neben Kriminalistik und Kriminalpsychologie, Vernehmungstechniken und der Kenntnis der einschlägigen Rechtsnormen forderte er ganz alltagspraktische Fähigkeiten wie gute Ortskenntnis, Wissen über regionale Bräuche, Menschenkenntnis, Langmut und eine konstante Weiterbildung.158 Die Beschreibungen erwecken den Eindruck eines fast übermenschliche Fähigkeiten und Energie erfordernden Amtes – nicht zuletzt durch den Umfang des Buches, welches im Laufe des Untersuchungszeitraums und in sieben Auflagen von 600 auf fast 1200 Seiten anwuchs.159 Als Anhänger der Voruntersuchung160 stellte Gross den Untersuchungsrichter als eine paternalistische Figur dar, zu der Angeklagte wie auch Zeuginnen und Zeugen uneingeschränktes Vertrauen entwickeln könnten.161 Zu diesem Vertrauensverhältnis gehörte, dass die Vernehmungen unter ausschließlicher Anwesenheit eines Protokollanten erfolgen sollten.162 Die richterliche Stellung war aber keineswegs frei von unausgesprochener Parteilichkeit: Gross sah den Untersuchungsrichter in einem ›Kampf‹ mit dem Beschuldigten, den es zu überführen gelte.163 Genau vor einer solchen Tendenz, die Aufgabe der Untersuchungsrichter entgegen der 153 Ortloff : Untersuchungsrichter im Strafprocesse, S. 257. 154 Exemplarisch: ders.: Vorverfahren, S. 116–126. Zur Reformdebatte vgl. Schwaiger, S. 24–29; Nagel, S. 76–79. 155 Gageur; Grosch. 156 Hierzu gehörten Polzin, Zucker, Rosenfeld, vgl. Haug, S. 24; sowie von Kries und Rosenberg vgl. Krauß, S. 11–17. Dem schloss sich auch der Schiffer’sche Reformentwurf von 1920 an: vgl. Ebd., S. 20 f.; Kronecker: Reformbedürftigkeit, S. 413. Auch Elvers: Ermittlungsverfahren, S. 627. Diese Kritik an der Voruntersuchung erwähnt Wilhelm, S. 452 f., am Rande. 157 Gross: Handbuch (1894), u.a. S. 7–9. 158 So auch Hoppe, S. 146 f. 159 Gross: Handbuch (1893), und ders.: Handbuch (1922). Obwohl es sich in erster Linie an den ermittelnden Richter der Voruntersuchung wandte, wurde es so umfassend zitiert, dass unterstellt werden kann, dass seine Reichweite weit über diesen engen Personenkreis hinausging. 160 Ders.: Voruntersuchung. 161 Ders.: Handbuch (1894), S. 50–102; so auch: Ortloff : Vorverfahren, S. 124. 162 Ebd., S. 124; von Schwarze: Revision, S. 80; summarisch: Meiners, Kap. II, o.S. kritisch: Schwaiger, S. 24 f. 163 Vgl. ausführlich in Kap. III.2.2.1.

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Intention des Gesetzgebers weiterhin in der Überführung eines Täters statt in der Ermittlung der Wahrheit zu sehen, warnten liberale Strafrechtsreformer und Anwälte.164 Die Untersuchungsrichter waren damit wohl die strittigsten Personen der Strafjustiz um 1900, wobei sich die Debatten oftmals an Skandalprozessen entzündeten.165 Dabei sind sie nicht nur als Produzenten der in dieser Studie hauptsächlich ausgewerteten Gerichtsprotokolle von besonderem Interesse. Als in der Voruntersuchung in der Regel einzige Juristen verfügten Untersuchungsrichter über relativ große Macht, durch Ermittlungsaufträge und Vernehmungen das Verfahren in Zielrichtung, Ausgestaltung und Intensität zu lenken. Daher ist gerade bei ihnen das berufliche Selbstverständnis essentiell für die Frage, wie der gesetzliche Spielraum in der Praxis genutzt wurde. Voruntersuchungen wurden von einem zuständigen Landgerichtsrichter geleitet und nur ersatzweise einem Amtsrichter übertragen. Über die Person des Untersuchungsrichters ist bisher nur wenig bekannt. Aus den Verwaltungsakten des bayerischen Justizministeriums lässt sich rekonstruieren, wie ihre Ernennung funktionierte:166 Jedes Jahr schlugen die Präsidenten der Landgerichte jeweils zwei Richter ihres Gerichtes vor, die im kommenden Jahr als Untersuchungsrichter fungieren sollten. Auf dieser Grundlage erstellte das Präsidium des Oberlandesgerichtes im November eine Priorisierung und hielt fest, ob Einwände vorlagen. Die Empfehlung wurde an das Justizministerium weitergleitet, welches die neuen Untersuchungsrichter und ihre Stellvertreter auf ein Jahr ernannte. In den Jahren zwischen 1900 und 1924 bedeutete dies im Ergebnis, dass die erste Wahl des Oberlandesgerichts-Präsidiums jeweils zum Untersuchungsrichter und die zweite Wahl zum Stellvertreter ernannt wurden. Dabei entstand ein Turnus: Die Untersuchungsrichter wurden zweimal hintereinander ernannt und danach von ihren bisherigen Stellvertretern abgelöst, so dass sich eine insgesamt vierjährige Betätigung ergeben konnte. Die Tätigkeit als Untersuchungsrichter war somit für die meisten Juristen im Staatsdienst eine vorübergehende Phase, die zum Richterberuf dazu gehörte, ihn aber nicht ausmachte. Mit dem Abschluss der Voruntersuchung endete die Zuständigkeit des Untersuchungsrichters. Praktisch jedoch konnte er auch in der Hauptverhandlung als vermeintlich unparteiischer Experte eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Gesetzlich durfte ein Untersuchungsrichter zwar nicht in derselben Sache auch als erkennender Richter tätig werden; er konnte aber als Zeuge über Einzelheiten des Protokolls oder Beobachtungen aus der Voruntersuchung aussagen.167 Seine 164 Vgl. Meiners, § 8, o.S., Fn. 157. Zur Reformdebatte vgl. Haug, u.a. S. 23–25; Ortmann: Wahrheitsanspruch, sowie Kap. I.1.2.2. 165 Vgl. Hoppe, S. 145. 166 Die Rekonstruktion bezieht sich auf die Schriftwechsel zwischen Justizministerium, Oberlandesgericht und Landesgerichten aus den Jahren 1900–1932: Vgl. HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 14224. 167 Ortloff : Untersuchungsrichter im Strafprocesse, S. 265. Benedict, S. 3, zufolge, gab es diese Praxis spätestens seit den 1880er Jahren; Beling: Strafprozeßreform, S. 600, spricht ablehnend von einer »einreißenden Mode«.

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Aussage war trotz ihres ambivalenten Verhältnisses zu den Prozessmaximen168 so lange akzeptiert, wie sie darauf abzielte, etwa Details einer Hausdurchsuchung zu erläutern oder über die Aussage nun schweigender oder abwesender Zeuginnen und Zeugen auszusagen.169 Strittig war hingegen, ob der Untersuchungsrichter den Geschworenen Beweise erläutern durfte.170 Kritiker dieser Praxis bemängelten, dass er seine subjektive Einschätzung als Sachverständigenwissen präsentiere, und sahen damit das Prinzip der Unmittelbarkeit verletzt, nach dem nur Richter bzw. Geschworene Beweise würdigen dürften.171 Daher wurde ihm auch das Recht abgesprochen, seine Eindrücke von Zeuginnen, Zeugen und Beschuldigten in Protokollen zu vermerken und damit an die frühere Technik des Gebärdenprotokolls anzuknüpfen.172 Dennoch lassen sich vereinzelt derartige Anmerkungen, beispielsweise im Fall Gast, finden. Hier vermerkte eine »Constatierung«, der Vernommene habe sich über einen Vorhalt »offenbar sehr getroffen« gezeigt und »blickte scheu zu Boden und stieß nach kurzem Besinnen nur die Frage hervor ›von wem‹.«173 Ob diese Anmerkungen von den nachfolgenden Entscheidungsinstanzen, also insbesondere dem urteilenden Richter, zur Kenntnis genommen wurden, kann schlechterdings nicht ermittelt, wohl aber angenommen werden. Die Einschätzungen zur Rolle des Untersuchungsrichters gingen somit weit auseinander: Die einen sahen in seiner Person trotz der faktisch vorübergehenden Tätigkeit einen fachlich umfassend gebildeten Juristen, auf dessen unparteiliche Mitwirkung am Verfahren möglichst viel Wert gelegt werden sollte und dessen Tätigkeit als Kunst zu begreifen sei. Die anderen misstrauten seiner weitgehend unbeobachtbaren Berufsausübung und sahen in ihm eine Gefährdung für die faire Behandlung des Beschuldigten. Je nachdem, wie der Untersuchungsrichter selbst seine Rolle innerhalb dieses Spektrums verstand, gestalteten sich der Verlauf der Voruntersuchung und die Position des Beschuldigten jeweils anders aus.174

168 Die Verlesung einer Aussage aus der Voruntersuchung hätte zwar der Mündlichkeit genügt (da sie ursprünglich mündlich erfolgt war), nicht jedoch der Unmittelbarkeit. Die Aussage der Ermittlungsperson über ihre Wahrnehmung einer Aussage hingegen galt als unmittelbarer Beweis. Vgl. Rupp, S. 143–150 und 167 f.; Fuld. 169 Benedict, S. 3. 170 Vgl. Schneikert: Raubmordprozeß, S. 284 f. 171 Beling: Strafprozeßreform, S. 600 f. 172 Von Holtzendorff : Vernehmung, S. 382. Zum Gebärdenprotokoll vgl. Kap. I.2. 173 StAA LG Ke - SK: 103/1901, Vernehmung des O.H. am 8.1.1902. Die Handschrift der Constatierung weicht von jener des Protokolls ab und stammt daher von Untersuchungsrichter Karl. Weitere Anmerkungen finden sich bei: StAA LG A - SG: 11/1884, Vernehmung der J.W. am 13.11.1883, und StAA LG Ke - SK: 71/1905, Vernehmung des A.H. am 30.8.1905. 174 Vgl. dazu insbesondere Kap. III.2.

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3.2.4 Ehrenhaft, unparteiisch, verdächtig? Der Verteidiger »Der Angeklagte kann die Unwahrheit sagen, nicht der Verteidiger.«175 »Der Vertheidiger hat Recht und Pflicht, alle Mittel der rechtlichen Abwehr […] anzuwenden.«176

Ähnlich divergierend waren die juristischen Ansichten über die Rolle des Rechtsanwaltes. Während seine Mitwirkung als Grundlage eines fairen Verfahrens weitgehend anerkannt wurde, war die inhaltliche Ausgestaltung seiner Tätigkeit eine Quelle anhaltenden Streits.177 Am Beispiel der Anwaltsidentität lässt sich besonders deutlich das Spannungsverhältnis zwischen Form und Wahrheitssuche darlegen. Das Leitbild der Anwälte war daher für die Frage grundlegend, welche Chancen Angeklagte im Verfahren hatten. Die Robe wies sie einerseits als Teil der juristischen Gemeinschaft aus und distanzierte sie von ihren Mandanten und den anwesenden Nicht-Juristen. Andererseits waren sie von Staatsanwälten und Richtern erkennbar abgegrenzt, besaß die anwaltliche Robe doch einen Seiden- statt eines Samtbesatzes.178 Ihre zuvor diversen Titel waren 1878 durch ein einfaches »Rechtsanwalt« ersetzt worden. Der »Rechtsanwalt« stand im bayerischen Gerichtssaal dem »Königlichen Staatsanwalt« und dem »Königlichen Richter« gegenüber, wenn auch der Zusatz »Königlicher Advokat« in Bayern faktisch konserviert wurde.179 Die Sitzordnung vergrößerte die symbolische Distanz. Denn keineswegs nahmen die Anwälte seitlich an der erhöhten Richterbank – etwa gegenüber vom Staatsanwalt – Platz. Der Anwalt saß deutlich davon abgerückt, sogar hinter dem Gerichtsschreiber, vor seinem Mandanten und nicht erhöht.180 Er war damit symbolisch nicht dem engeren Bereich des Gerichts zugeordnet, sondern mit Publikum, Zeugen und Angeklagten auf eine Stufe gestellt. Und genau wie diese unterstanden die Anwälte der Sitzungspolizei des Vorsitzenden und mussten sich von diesem maßregeln lassen, wenn sie auch nicht des Saales verwiesen werden konnten.181 Diese disziplinarische Unterordnung im Kleinen lässt sich auch im Großen beobachten: Die ehrengerichtlichen Verfahren der Anwaltskammern wurden unter

175 Wildhagen, S. 368. 176 Geyer: Lehrbuch, S. 435. 177 Vgl. die Idealtypen bei Siegrist: Verrechtlichung, S. 101–109; grundlegend zur Geschichte der Rechtsanwaltschaft ders.: Advokat. 178 Vgl. Anonymus: Bekanntmachung vom 29.12.1879, und die Werbeanzeige der Firma J.W. Sältzer aus Hannover, die in der Deutschen Juristenzeitung 1 (1909), u.a. H. 4. Einband inseriert. Diese Differenzierung findet sich bis heute, vgl. Leutheußer, S. 195. 179 Siegrist: Verrechtlichung, S. 120; ders.: Advokat, S. 626–641; ders.: Public Office, S. 50. 180 Windisch, S. 9 und 13 (vgl. Abb. 2 und 3). 181 Maßregelungen konnten Strafen bis zu 100 Mark nach sich ziehen, Osius/Bendir, S. 9–11 und 287. Croner, S. 15, fordert die Abschaffung.

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maßgeblicher Beteiligung der Staatsanwälte und Reichsrichter durchgeführt und verfügten über letzte Reste der gerichtlichen Dienstaufsicht.182 Dennoch, die Rolle des Anwaltes war durch die Reichsstrafprozessordnung deutlich ausgedehnt worden:183 In allen Phasen des Verfahrens hatte der Angeklagte nun das Recht, sich einen Anwalt zu nehmen. Zu einig war man sich darin, dass insbesondere der oder die bildungsferne Angeklagte nicht kompetent genug sei, um selbstständig alle Rechte geltend zu machen.184 Damit war der Beistand grundsätzlich auch auf die Voruntersuchung ausgedehnt worden, in welcher der Beschuldigte vor 1879 fast überall explizit von anwaltlicher Beratung ausgenommen gewesen war.185 Pflichtverteidiger mussten jedoch erst nach dem Ende der Voruntersuchung benannt werden.186 Bis dahin erschien dem Gesetzgeber die ›materielle Verteidigung‹ durch den Staatsanwalt und Untersuchungsrichter ausreichend zu sein. Es wurde in der Voruntersuchung nun eine, allerdings eingeschränkte Akteneinsicht gewährt187 und Unterredungen mit verhafteten Mandanten konnten im Vorverfahren von einer Gerichtsperson überwacht werden,188 insbesondere wenn die Verhaftung aus Sorge vor Vertuschungen erfolgt war.189 Dass es sich hierbei bis 1926 nicht um einen Richter handeln musste, empfanden die Anwälte als besondere Erniedrigung.190 Auch der Schriftwechsel mit inhaftierten Mandanten unterstand richterlicher Kontrolle und wurde teilweise bis zur Zensur ausgelegt.191 Aber auch den juristischen Kollegen erschien die generelle Mitwirkung der Anwälte nicht unbedingt notwendig zu sein. Obwohl sich die Beschuldigten bereits anwaltlich beraten lassen durften, fand sich in keiner der ausgewerteten Gerichtsakten ein Hinweis darauf, dass vor dem Ende der Voruntersuchung bereits ein Anwalt gewählt worden wäre.192 Auch die Bereitstellung von Pflichtverteidigern 182 Finger, S. 123–125; Siegrist: Public Office, S. 58 f.; ders.: Advokat, S. 404 f. und 641–649. Zur ›Dienstzucht‹ durch die Gerichte vgl. Döhring, S. 166 ff. 183 Zum konfliktreichen Gesetzgebungsverfahren Rieß, S. 404–415. 184 Vgl. Kap. II.3.3 und III.2.2.1. 185 Dieselbe war zuvor lediglich in Braunschweig zulässig gewesen, vgl. Henschel: Strafverteidigung, S. 103–112. 186 Dalcke, S. 95 f. Die Bestellung erfolgte spätestens mit der Zustellung der Anklageschrift (§ 140 II und 199 RStPO). Zu den Grundlagen Osius/Bendir, S. 278–280. 187 Es stand v.a. unter dem Vorbehalt, dass die Einsicht das Verfahren nicht gefährden dürfe. Ebd., S. 283–286; Croner, S. 17; Schwaiger, S. 79 f.; Haug, S. 26–31; Meiners, § 8, o.S., v.a. Fn. 181 ff.; Polzin, S. 82. 188 Croner, S. 17–19; Kulemann: Voruntersuchung, S. 41 f.; Wach: Gerichtsverfassungsgesetz, S. 14; von Lilienthal: Reform des Vorverfahrens, S. 1008; vgl. Meiners, § 8, o.S., Fn. 178. Zur Reform Rieß, S. 408–411. 189 Osius/Bendir, S. 283–286; Finger, S. 83 f.; Dalcke, S. 94. Johnson, S. 44 geht wohl zu weit, wenn er eine Überwachung als Pflicht ansieht. 190 Vgl. rückblickend Schwaiger, S. 80 f. 191 Kulemann: Voruntersuchung, S. 41 f.; Osius/Bendir, S. 283–286. 192 In der Regel liegen den Gerichtsakten die Vollmachtsschreiben der Anwälte bei. Es war natürlich möglich, sich juristischen Rat einzuholen, ohne eine formale Vertretung zu initiieren – sofern man nicht verhaftet war.

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erfolgte erst nach der Voruntersuchung, wenn sie auch formal gesehen bereits vorher zulässig war.193 Selbst in Mordermittlungen agierten die Beschuldigten damit wochen- und monatelang ohne offiziellen Rechtsbeistand.194 Die Untersuchungsrichter hielten sich offenkundig für eine ausreichende ›materielle Verteidigung‹. Viele Juristen empfanden Anwälte teilweise sogar als hinderlich für die Ermittlung der Wahrheit.195 Dieses Misstrauen schlug sich in der kommentierenden Literatur dahin gehend nieder, dass der anwaltlichen Tätigkeit über den Topos der Berufsehre enge Grenzen gezogen wurden. Ehre war im Kaiserreich eines der konstituierenden Selbstwahrnehmungsmuster gerade auch der Juristen, auf deren Untadeligkeit sowohl in beruflichen wie auch fast noch mehr in privaten Dingen äußerstes Augenmerk gerichtet wurde.196 Um die Differenz zwischen einem traditionell-ehrenwerten Verhalten und einem für viele Juristen überaus verstörenden und dennoch gesetzeskonformen Verhalten zu illustrieren, die sich nicht nur im Berliner Skandalgeschehen,197 sondern auch im bayerischen Alltag zeigte, soll erneut auf das Gerichtsverfahren geschaut werden, in dem Advokat Böhm sich wegen des Disputs um eine Anrede um eine Korrektur des Protokolls bemüht hatte.198 Während Böhm den Eindruck vermeiden wollte, er zolle dem Staatsanwalt nicht den von diesem als nötig empfundenen Respekt, verhielt sich der Verteidiger der zweiten Angeklagten, Rechtsanwalt Kollmann, gänzlich anders. Als der Staatsanwalt von Rothenfelder ihn unterbrochen hatte, um ihn auf ein vermeintliches Missverständnis hinzuweisen, insistierte Kollmann, er »lasse sein gesetzliches Recht der freien Vertheidigung nicht beeinträchtigen«, woraufhin der Staatsanwalt »erwiderte, es sei ihm nicht weniger als eingefallen, dieses Recht dem Anwalt Kollmann zu verkennen, er betrachte vielmehr dessen […] Auftreten als einen durchaus unbegründeten Angriff gegen seine Person und Stellung und müsse nur bedauern, daß die Strafproceß Ordnung [ihn nicht …] gegen derartige Angriffe sofort schütze«. Kollmann war mit dieser Dokumentierung anders als Böhm einverstanden. Ausweislich seiner Personalakte hatte sich Kollmann bereits des Öfteren ähnlich verhalten, weshalb ihm Richter 1877 unterstellten, damit Eindruck bei den Zuschauenden schinden zu wollen. Kollmann vertrete noch die zweifelhaftesten Fälle, erkläre bewusst die Unwahrheit, verlängere das Verfahren durch unnötige Zeugenvorladungen und extensive Befragungen – und sei sogar gegenüber seinen Mandanten unzuverlässig. Kurz gesagt: Er betreibe den Beruf geschäftsmäßig und

193 Ortloff : Vorverfahren, S. 40, Fn. 2. 194 Vgl. StAA LG A - SG: 107/1894. 195 Fuchs: Vorverfahren, S. 468. Zur Tradition des Misstrauens: Malsack und Wienfort: Recht und Bürgertum, S. 284. 196 Hett, S. 104–144, v.a. 104–106; Siegrist: Advokat, S. 641–649; Ledford, S. 189–195. 197 Hett, S. 82–97, hat anhand des Falles Ballien/Cossmann 1892 einen Wandel im Selbstverständnis nachgezeichnet. 198 Die nachfolgende Schilderung stützt sich auf das Hauptverhandlungsprotokoll und die nachfolgenden Kommentierungen in StAA LG A - SG: 11/1884.

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sei ein »Rabulist«.199 Diese Form der – geschäftlich offenbar lukrativen – intensiven Verteidigung wurde von Juristen auch in anderen Fällen kritisch beäugt.200 Warfen v.a. Richter einzelnen Anwälten eine zu große Nähe zu den Angeklagten vor und beschuldigten sie, damit auch die Stellung der Verteidiger und Angeklagten insgesamt zu untergraben, so beklagten die Anwälte ihrerseits das öffentliche und auch kollegiale Misstrauen201 und wurden darin von liberalen Professoren und Richtern unterstützt.202 Denn selbst innerhalb der Anwaltschaft fühlten sich die wenigen auf Strafrecht spezialisierten Verteidiger z.T. herablassend behandelt, da zahlreiche Juristen noch immer »von der Inferiorität der Verteidigung überzeugt« gewesen seien.203 In welcher Spannweite bewegten sich die Grenzen der anwaltlichen Tätigkeit, wie sie von der Rechtsanwaltsordnung in § 28 als »gewissenhafte Berufsausübung« noch bis weit ins 20. Jahrhundert vorgeschrieben waren und deren Pole wohl von Böhm und Kollmann im Kern verkörpert wurden?204 Zum einen wurde der Umgang des Anwaltes mit der Schuld des Angeklagten kontrovers debattiert. Bennecke verwies darauf, dass der Anwalt bei der Verteidigung eines Schuldigen ungerechtfertigte Angriffe, nicht jedoch alle Angriffe abzuwehren habe.205 Wisse er sicher um die Schuld seines Mandanten, müsse er auf ein Geständnis seines Mandanten hinwirken und könne – sollte dieser es verweigern – durchaus sein Mandat niederlegen, ohne dadurch einen indirekten Geheimnisverrat zu begehen.206 Der Pflichtverteidiger habe diese Möglichkeit nicht, könne seinen Mandanten jedoch darum bitten, ihn vom Mandat zu entbinden bzw. auf das Plädoyer ganz verzichten.207 Keinesfalls sei es standesgemäß, »wissentlich unwahre Tatsachen zu behaupten oder die Wahrheit auch nur zu verschleiern«.208 Friedländers Definition der Lüge ging allerdings weit: Er lehnte es – wie die herrschende Meinung – im Falle eines Geständnisses ab, auf unschuldig zu plädieren, und verwehrte dem Anwalt, in diesen Fällen überhaupt noch entlastende Beweise vorzubringen. Der Anwalt dürfe keinerlei Versuche unterneh199 StAA Landgericht Augsburg - Präsidialakten, enthält eine Reihe von derartigen negativen Begutachtungen sowie Hinweise auf ein ehrengerichtliches Verfahren 1883. 200 Von Weinrich, S. 246–251. 201 Croner, S. 3 und 14 f.; Kulemann: Voruntersuchung, S. 44. Ein Herabsehen durch Richter und Staatsanwälte diagnostiziert auch Hett, S. 108–110; Siegrist: Advokat, S. 568 f. 202 Mittermaier: Stellung des Bürgers, S. 20 f.; Ortloff : Vorverfahren, S. 63. 203 Von Weinrich, v.a. S. 251–258, hier: S. 248; Kulemann: Voruntersuchung, S. 43 f. Gegen eine Spezialisierung: Rosenblatt. Auch die Forschung thematisierte die geringe Spezialisierung: Siegrist: Verrechtlichung, S. 111; ders.: Advokat, S. 566 f.; Hett, S. 123–134. 204 Nachfolgend sofern nicht anders angegeben: Friedländer/Friedländer, S. 99 f. 205 Bennecke, S. 185. 206 Hier wendet er sich explizit gegen Früh, der eine Mandatsniederlegung für ein Brechen der Schweigepflicht hält, Friedländer/Friedländer, S. 99, Fn. 2. Ähnlich wie Friedländer: Mamroth: Stellung, und Schellhas: Verteidiger. 207 Von Schwarze: Commentar, S. 284, der dieses Recht aber nur dem bestellten Verteidiger zugesteht. Bennecke, S. 186, bestreitet, dass es einen prozessualen Unterschied zwischen Pflicht- und Wahlverteidigern gebe. 208 Wildhagen, S. 367.

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men, die Schuld des Mandanten infrage zu stellen. Jedes andere Verhalten wäre eine Pflichtwidrigkeit, selbst wenn sich das Geständnis im Nachhinein als falsch erweisen sollte. Mamroth gestand zu, die Nicht-Stichhaltigkeit von Beweisen und den Grundsatz des »in dubio pro reo« anzuführen.209 Als Einzelmeinung kann die Ansicht Jägers gelten, dass der Anwalt ein Geständnis, das ihm der Mandant geleistet habe, dem Gericht zu verraten habe.210 In dieser Perspektive wurde betont, dass der Schutz des Angeklagten zwar die Aufgabe des Verteidigers sei, er jedoch keinesfalls »der Gerechtigkeit in den Arm […] fallen« dürfe.211 Über allen juristischen Grundsätzen stünden sittliche Gesetze, in erster Linie die »Wahrhaftigkeit des Menschen«,212 der die Verteidiger als »Organ der deutschen Rechtspflege« wie auch die Staatsanwälte und Richter auch durch Standesbewusstsein verpflichtet seien.213 Eine andere Perspektive, nach der nur juristische, nicht aber weltanschauliche Bewertungsmaßstäbe an das Verhalten der Anwälte anzulegen seien, nahmen Juristen wie Geyer, Lilienthal oder von Liszt ein.214 Sie sahen die Rolle des Anwaltes einzig im Beistand für seinen Mandanten.215 In dieser Funktion sei es seine Aufgabe, »alle Mittel der rechtlichen Abwehr […] anzuwenden.«216 Auch der nicht überführte Angeklagte habe ein Recht auf Freispruch.217 Eigenständige Recherchen und auch die Beschäftigung eines Detektivs seien grundsätzlich zulässig;218 auch dürfe ein Anwalt die Glaubwürdigkeit von Belastungszeugen erschüttern,219 auf unzureichende Beweise verweisen oder seinem Mandanten zu einem Geständnis ebenso wie zu dessen Widerruf raten.220 Weder die Verteidigung eines Schuldigen an sich221 noch die Art der Prozessführung könnten rechtswidrig sein, wenn keine prozessualen Pflichten verletzt würden. Hierauf spielte Kollmann wohl an, als er sich eine Einmischung in seine Verteidigung verbat. Die Rechte des Anwaltes seien – so die Literatur weiter – nur selten unmittelbar im Gesetz definiert. 209 Mamroth: Stellung. 210 Jaeger, S. 804 f.; dagegen: Leo. 211 Wildhagen, S. 368; ähnlich Bennecke, S. 182–212. Vgl. auch die entsprechende Kritik an dem Buch von Kosjeck, in welcher »Bedenken gegen ›die Taktik‹ der Vertheidigung« erhoben werden, vgl. Rezension in Gerichtssaal 37 (1885), S. 78 f. 212 Mamroth: Stellung, S. 205 f.; Schellhas: Verteidiger, Zitat: S. 132. Wildhagen, S. 367, bezeichnet die Wahrhaftigkeit als »Berufspflicht«. 213 Benedict, S. 28 f. und 32–43. 214 Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf von Liszt: Verteidigung; von Lilienthal: Verteidigung, und Finger, S. 74–79, sofern nicht anders angeführt. Ebenso argumentiert auch von Bippen in der gleichen Zeitung. 215 Von Lilienthal: Verteidigung, S. 102. 216 Geyer: Lehrbuch, S. 435; Fuchs: Hauptverfahren, S. 83. 217 Von Liszt: Verteidigung, der damit bei seinem Vortrag großen Widerspruch auslöst. 218 Abweichend: Benedict. Die Debatte hatte sich an dem Sternberg-Prozess entzündet, vgl. Delbrück: Rez. zu Benedict, Die selbständigen Erhebungen des Vertheidigers, S. 462. 219 Jaques, S. 14. 220 Lohsing, S. 65 f. 221 Von Lilienthal: Verteidigung, verweist zusätzlich darauf, dass die RStPO und die RAO hierin auch keinen Grund zur Ablehnung einer Offizialverteidigung sähen.

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Daraus, dass der Angeklagte nicht verpflichtet sei, sich selbst zu belasten, könne aber abgeleitet werden, dass auch der Verteidiger niemals gegen dessen Willen zu Lasten seines Mandanten handeln dürfe.222 Zur Wahrung des Vertrauensverhältnisses verfügte der Anwalt daher über ein Zeugnisverweigerungsrecht, wenn er – was offenbar des Öfteren vorkam223 – als Zeuge über sein Wissen hinsichtlich des laufenden oder eines früheren Prozesses befragt wurde.224 Es sei daher eine Rechtsverletzung, wenn der Anwalt Belastungsbeweise vorlege225 oder seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten offenbare. Seine persönliche Meinung sei im Verfahren ebenso wie die des weisungsgebundenen Staatsanwaltes unerheblich.226 Zwar könne niemand vom Verteidiger verlangen, gegen seine Überzeugung auf Freispruch zu plädieren, dies sei aber keine Pflichtverletzung.227 Laut Geyer und Fuchs dürfe der Anwalt auch das Gesetz in dem für den Beschuldigten günstigsten Sinn auslegen. Klar untersagt seien dem Anwalt aber alle ungesetzlichen Mittel und alle Versuche der Irreführung oder Gesetzesverdrehung,228 hierzu gehörten beispielsweise Fluchthilfe oder die Manipulation von Beweisen.229 Obwohl der Verteidigung viele Rechte eingeräumt wurden, wurden auch hier durch einen Rekurs auf Standespflichten enge Grenzen gesetzt: So empfindet es wie Geyer auch von Liszt als unehrenhaft, wenn der Anwalt »mit dem Brustton der Ueberzeugung die Unschuld seines Klienten vertritt, während er von dessen Schuld überzeugt ist [...], wenn er die Aussagen der Zeugen entstellt oder diese grundlos verdächtigt.«230 Die aggressivere Form der Verteidigung gewann nach 1900 unter den Anwälten Unterstützer. Sie bereitete auch den Boden für politisch aktive Anwälte, die den Gerichtssaal als Ort der politischen Auseinandersetzung nutzten, bei der der Freispruch hinter dem politischen Anliegen zurückzutreten hatte.231 Die Mitwirkung von Anwälten in Strafverfahren galt somit auch nach den Rechtsreformen als wesentlicher, aber nicht in allen Phasen notwendiger Bestandteil des Prozesses. Richter und Staatsanwälte sowie zahlreiche ältere Anwälte betrachteten das sich verändernde Selbstverständnis vom Organ der Rechtspflege hin zum Vertreter des Mandanten mit Misstrauen. Für die Beschuldigten und Angeklagten folgte aus dem ambivalenten Rollenverständnis der Anwälte, dass es eklatant von der Person ihres Rechtsbeistandes abhing, wie umfangreich sie beraten und verteidigt wurden. 222 Dieses Argument macht v.a. Von Liszt: Verteidigung, S. 180, stark. 223 Benedict; Finger, S. 96–98. Ähnliche Fälle ließen sich in den untersuchten bayerischen Akten nicht belegen. 224 Gesichert in § 52 Nr. 2 RStPO und § 348 Nr. 5 ZPO, vgl. Osius/Bendir, S. 17. 225 So auch Geyer: Lehrbuch, S. 435. 226 Von Liszt: Verteidigung, S. 180, verweist hierbei auf §147 GVG. 227 Anders: Finger, S. 77. 228 Explizit: Geyer: Lehrbuch, S. 436. Implizit: Fuchs: Hauptverfahren, S. 83. 229 Von Lilienthal: Verteidigung; Finger, S. 77–79. 230 Zu den Bewertungsmaßstäben vgl. von Liszt: Verteidigung, S. 180 f., Zitat: S. 181. ähnlich: Geyer: Lehrbuch, S. 435. 231 Grunwald, v.a. S. 17–44; vgl. zur Prozessstrategie der Roten Hilfe auch Kap. II.3.3.3.

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3.2.5 Sorgfältig und vielseitig: Der Gerichtsschreiber »Der Sekretär ist die Seele des Gerichts.«232 »Sprich und schreibe kurz, natürlich, kernig.«233

Die Dokumentation gerichtlichen Handelns lag seit Jahrhunderten in der Zuständigkeit von Gerichtsschreibern, deren – strafprozessual wie quellenkundlich zentrale – Berufstätigkeit im Kaiserreich bislang kaum erforscht wurde. Das Gerichtsverfassungsgesetz legte in § 154 fest, dass an allen Land- und Amtsgerichten Gerichtsschreibereien einzurichten waren; eine weitere Verordnung regelte den Aufbau und die Rangordnung der Schreiber. Es blieb den Einzelstaaten überlassen, die genaue Vorbildung und Amtsstellung der Gerichtsschreiber zu definieren.234 Dem Gerichtsschreiber oblag die Führung der Protokolle, die Anlage und Registratur der Akten, die Inventarisierung des Gerichts und die Anschaffung und Verwaltung von Arbeitsutensilien.235 Hinzu kamen tägliche Sprechstunden für »Rechtsuchende«, in denen sie auch Schriftsätze verfassten, und die Führung der Sitzungskalender. Als formale Dienstvoraussetzung verlangte Preußen ab 1879 die Volljährigkeit, das Ableisten des Militärdienstes, einen zweijährigen Vorbereitungsdienst und eine Eignungsprüfung bei den Land- oder Oberlandesgerichten oder das juristische Referendariat.236 Auch Bayern ließ lange Zeit neben geprüften Gerichtsschreibern237 nur solche Juristen zu, die das zweite Staatsexamen bestanden hatten.238 Eine vonseiten der Gerichtsschreiber gewünschte formale Schulbildung wurde hingegen nicht gesetzlich vorgeschrieben. Eine besonders gute Kenntnis wurde im Strafprozessrecht erwartet, im Straf- und Zivilrecht mussten die Gerichtsschreiber v.a. in der Lage sein, die wesentlichen Gedankengänge nachvollziehen und über die Relevanz der Aussage für die Akten entscheiden zu können. Besondere Übung mussten sie darüber hinaus im Anlegen und Lesen von Akten sowie dem Archivieren von Gesetzestexten und Verordnungen und einem verständlichen Kanzleistil erlangen. Als wichtigste Eigenschaften eines Gerichtsschreibers galten 232 So der Bayerische Justizminister im Landtag am 14.12.1899, zit. nach: Raith, S. 14. 233 Ebd., S. 62. 234 Einen Überblick bieten die zeitgenössischen Geschäftsordnungen und Ratgeber; grundlegend für das Nachfolgende: Ausführungsgesetz zum Reichsverfassungsgesetz vom 23.2.1879, abgedruckt in: Bleyer, S. 211–229, hier: 223 f.; Anonymus: Gerichtsschreiberamt, v.a. S. 9–35 und 44–46; ders.: Geschäftsordnung für die Gerichtsschreibereien der Landgerichte, inkl. Vordrucken; Lunglmayr, S. 203–208; Dumke, S. 133–149, 161–165; zu Bayern v.a. Raith, S. 6–8, 14–21, 29–62, 73–81. 235 Summarisch: Schmidt: Handbuch für das Gerichtsschreiber-Amt, S. 21–24. 236 Der Militärdienst wurde aus pragmatischen Gründen verlangt, da man eine Unterbrechung der Tätigkeit verhindern wollte. 237 Zum Inhalt der Prüfung: Raith, S. 16. 238 Inwieweit wegen mangelnder Bewerber Gerichtsschreiber faktisch nur die Eignungsprüfung bestehen und eine langjährige Tätigkeit in Kanzleigeschäften nachweisen mussten, wäre zu prüfen; zu vor 1879 vgl. Dumke, S. 134–149.

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daher Genauigkeit, Fleiß und Auffassungsgabe.239 Weiterhin waren eine leserliche Handschrift, gute Orthographie und eine detailgetreue Dokumentationen zentral.240 Gerichtsschreiber wurden in der Regel vom Justizminister oder dem Präsidenten des Oberlandesgerichts ernannt und mit festem Gehalt auf Lebenszeit angestellt. Beim Dienstantritt hatten sie in Bayern einen Diensteid zu leisten, der sie zu pünktlicher, verschwiegener und ordnungsgemäßer Arbeit verpflichtete und in welchem sie beschworen, keinem staatsfeindlichen Vereine anzugehören.241 Während der Verhandlung waren sie als Teil des Gerichts deutlich zu erkennen. Sie nahmen den seitlichen Platz gegenüber vom Tisch des Staatsanwaltes ein242 und trugen wie die anwesenden Juristen eine, wenn auch schlichtere, schwarze Robe, die jener der Referendare ähnelte.243 Auch an sie wurde der Anspruch eines »achtungswürdigen Lebens« außerhalb des Büros erhoben.244 Das Führen von Protokollen galt als zeitintensive und anspruchsvolle Tätigkeit. Sofern die Anfertigung eines Protokolls gesetzlich nicht vorgeschrieben war, lag seine Erstellung in der vollen Verantwortung des Richters. War ein Protokoll jedoch zwingend vorgeschrieben, musste dieses von einer Person verfasst werden, welche mindestens ein »Protokollführerexamen« oder aber die Gerichtsschreiberprüfung bestanden hatte.245 Da die Protokolle der Hauptverhandlung vor Landgerichten in erster Linie dazu dienten, die Einhaltung der Formalia zu dokumentieren, lenkten die Ratgeber für Gerichtsschreiber und Fachartikel das Augenmerk auf zu beachtenden Regelungen, illustrierten typische Verhandlungsverläufe und wiesen auf mögliche Fehlerquellen hin.246 Die Richtigkeit des von ihnen erstellten Protokolls dokumentierten Richter und Gerichtsschreiber durch ihre Unterschrift.247 Gerichtsschreiber waren auch essentieller Teil der Voruntersuchung. Den Untersuchungsrichtern war zum Beispiel in Kempten für ihre Tätigkeit ein eigener Sekretär zugeordnet, der die Aktenführung übernahm und in der Regel bei Vor-OrtTerminen gemeinsam mit dem Untersuchungsrichter die sogenannte »Gerichtskommission« bildete. Die überwiegende Zahl der hier analysierten Voruntersuchungsakten des Landgerichtsbezirks Kempten stammt aus der Feder des Gerichts-

239 So geht es aus einer Beurteilung des Gerichtsschreibers Karl Papp hervor, vgl. StAA Landgericht Kempten - Präsidialakten: Nr. 85. 240 Meyer: Protokoll, S. 2 f.; Becker: »Recht schreiben«, S. 63. 241 Schiedermair, S. 13 f.; Ausführungsgesetz zum Reichsverfassungsgesetz vom 23.2.1879, abgedruckt in: Bleyer, S. 211–229, hier: 223. 242 Windisch, S. 8 und 13 (Abb. 2 und 3). 243 Vgl. die diversen Werbeanzeigen in der Deutschen Richterzeitung 1909. Bereits im 18. Jahrhundert hatten die Gerichtsschreiber eine Dienstkleidung inklusive eines Beamtendegens zu tragen, vgl. Dumke, S. 147. 244 Raith, S. 7 f. 245 Anonymus: Gerichtsschreiberamt, S. 40–44. 246 Feddersen, Anhang, S. 225–230; Ortloff : Hauptverhandlungsprotokolle, S. 96; Schmidt: Handbuch für das Gerichtsschreiber-Amt, v.a. S. 236 f.; Meves: Strafverfahren, S. 78 f. 247 Raith, S. 86 f.; vgl. Kap. I.2.

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schreibers Johann Knauer.248 Knauer war 1841 als Lehrersohn im Oberpfälzischen Wutschdorf geboren worden, katholisch und verheiratet. Er war seit 1873 im Justizdienst tätig und hatte zuvor drei Jahre bei Anwälten und in Oberpostämtern gearbeitet. Von seinem Dienstantritt 1873 an bis zu seiner gesundheitlich bedingten Dienstenthebung 1903 war er ausschließlich und durchgängig den jeweiligen Untersuchungsrichtern zugeordnet. Seine Personalakte vermerkt entsprechend, dass er sich durch seine langjährige Tätigkeit »eine sehr große Geschäftsgewandheit angeeignet« habe und auch noch im Alter von 61 Jahren über eine flüssige und leserliche Schrift verfüge. Insgesamt lässt sich festhalten, dass dem Gerichtsschreiber die Rolle zukam, zuverlässig und geräuschlos das Funktionieren des formalen Justizalltags sicherzustellen. Er hatte das gerichtliche Handeln in eine schriftliche Urkunde zu überführen, durch die das Geschehen als formell stattgefunden definiert wurde. Seine Arbeit galt als Unterstützungsleistung für die in Rang, Verantwortung und Autonomie höhergestellten Staatsanwälte und Richter, denen er in Ausbildung und Sitzordnung jedoch ähnelte. Der Juristische Beruf und die ›Laien‹ – ein Kapitelfazit Nachdem es einige Jahrzehnte lang zu einer sozialen Ausweitung der juristischen Berufe auf das Bürgertum und die jüdische Bevölkerung gekommen war und die freie Anwaltszulassung die Zahl der Anwälte hatte steigen lassen, wandten sich die Juristen seit Beginn des Kaiserreichs – berufsübergreifend – gegen eine weitere soziale Öffnung insbesondere für Frauen. Die Sorge vor Konkurrenz, die Eigeninszenierung als Profession sowie ein Selbstverständnis, das von einem hegemonial-bürgerlichen Männlichkeitsbild geprägt war und ehrenhaftes Verhalten und formale Bildung in den Mittelpunkt stellte, führten zu einer Ablehnung von Juristinnen und Rechtskonsulenten. Auch das ursprünglich bürgerliche Modell der arbeitsteiligen Partizipation des Volkes im Schwurgericht wurde von den Juristen nun mit dem despektierlichen Begriff des »Laienrichtertums« bekämpft. Für juristisches Handeln, so die Ansicht, brauche es Erfahrung und Professionalität, über die ausschließlich die formal gebildeten Berufsjuristen verfügen würden. Die ablehnende Haltung der Juristen im Kaiserreich gegenüber der Mitwirkung von Nicht-Berufsjuristen, nicht studierten Juristen sowie der Tätigkeit von Frauen im Gerichtssaal ist als elitäre Identitätsdebatte anzusehen. Sie stand pars pro toto für eine gesellschaftliche Machtauseinandersetzung, in der männliche, bürgerliche Eliten gegen die Mitbestimmungsansprüche von Frauen, Arbeitern und anderen Emanzipationsgruppen – nicht zuletzt Juden im Staatsdienst – standen, und spiegelt damit auch den Wandel des bürgerlichen Liberalismus im Kaiserreich wider, der sich gegen eine Ausweitung liberaler Konzepte auf andere Bevölkerungsgruppen aussprach, beispielhaft zu sehen an der schwindenden Unterstützung des 248 Die nachfolgenden biographischen Daten beziehen sich auf: StAA Landgericht Kempten - Präsidialakten: Nr. 79.

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Schwurgerichts durch die liberalen Parteien. Die politische Ausdifferenzierung des Kaiserreichs lässt auch die Juristen nicht als monolithischen, unveränderlichen Block dastehen. Die Mitwirkung von Frauen fand durchaus, wenn auch wenige, Unterstützer; die Ausgrenzung der jüdischen Richter wiederum fand nur geringen Widerhall. Entsprechend ihrer sozialen Zusammensetzung – heterogenere und tendenziell liberalere Anwaltschaft versus elitärere und konservative Richterschaft – verteilten sich die Juristen auch in den jahrzehntelangen Reformdebatten um die Justizgesetze: Während die Anwälte eher für stärkere Schutzrechte des Angeklagten eintraten, unterstützten die Staatsbeamten die Forderungen nach verschärften Prozessrechten zur Wahrheitsfindung. Sie alle jedoch – das wird sich im Laufe der nachfolgenden Kapitel wiederholt zeigen – sahen die Rolle der »Laien« im Prozess zunehmend kritisch, was sich nicht zuletzt in der nahezu einhelligen Ablehnung der Schwurgerichte ausdrückte.249 Innerhalb der über Hierarchie und Professionalität definierten Justiz führte der grundlegende rechtspolitische Dissens über das Verhältnis zwischen Form bzw. Schutzrechten und Wahrheitssuche zu Differenzen über die Aufgaben der einzelnen Berufsgruppen. Das individuelle wie kollektive Selbstverständnis der juristischen Berufsgruppen war angesichts des Auslegungsspielraums, den das Prozessrecht seit 1879 einräumte, daher fundamental für die Art und Weise, wie Juristen im konkreten Fall ihre Aufgaben definierten. Wie intensiv ein Angeklagter durch seinen Verteidiger beraten und vertreten wurde, hing etwa davon ab, ob der jeweilige Anwalt sich eher als Organ der Strafrechtspflege oder als Vertreter seines Mandanten betrachtete. Ebenso war die Intensität, mit der ein Untersuchungsrichter versuchte, Informationen zu gewinnen, dadurch bestimmt, ob er eine lückenlose Aufklärung und ggf. ein Geständnis anstrebte oder lediglich erste Vorarbeiten für die Hauptverhandlung leisten wollte. Das berufliche Aufeinandertreffen von Juristen, deren Rollenvorstellungen divergierten, führte zu Konflikten und Vielfalt im Prozess. Die konkrete Gestalt des Strafprozessrechtes wurde so in jedem Prozess neu ausgehandelt. Diese Vielfalt an Verlaufsmöglichkeiten innerhalb des Prozesses erschwerte den Nicht-Juristen schlussendlich aber auch die Orientierung im Verfahren, war es doch für Unbeteiligte kaum vorhersehbar – falls überhaupt nachvollziehbar –, welche Kompetenzen die Juristen sich jeweils selbst zuschrieben und wie sich die ›Laien‹ im Verhältnis dazu positionieren konnten.

249 Eine stärkere Differenzierung anhand der Berufsgruppen, individuellen politischen Einordnungen und Themenfelder im zeitlichen Verlauf ist auf Grundlage des Quellenumfangs der fast 50 Jahre andauernden Reformdebatte und der fehlenden systematischen Vorarbeiten zugunsten grundsätzlicher struktureller Aussagen zurückgestellt.

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4. Das juristische Selbstbild – ein Fazit

Die Juristenschaft hatte ein klar umrissenes Bild von den Logiken, Zielen und Regeln der Justiz und machte diese wie andere Berufsgruppen dieser Zeit auch in einem ausgeprägten Professionalisierungsdiskurs deutlich.1 Durch einen dekonstruierenden Blick auf die Fachtexte wurde die juristische Logik vom Bewertungsmaßstab zum Analyseobjekt. Dieser Perspektivenwechsel relativiert den juristischen Fachdiskurs als nur einen, wenn auch dominanten Strang im juristischen Feld und lässt seine Spezifika und konkurrierende Diskursstränge erkennen. Die juristische Logik und das juristische Selbstbild drehten sich wesentlich um die Konzepte der Professionalität, des Formellen und der Rollen. Alle drei Konzepte erfuhren in den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen des Kaiserreichs einen erheblichen Bedeutungszuwachs. Formales hatte für die juristische Arbeit einen eigenen Wert. Die arbeitsteiligen Rollen und die Gesetze waren zwingend einzuhalten, denn erst das Verfahren legitimierte das Urteil, das die juristische Deutung der Wahrheit eines konkreten Konfliktes darstellte. Zentral war für das juristische Denken und Handeln eine Unterscheidung zwischen »Materiellem« – dem Inhalt – und »Formellem« – der Ausgestaltung im Verfahren. Diese Differenzierung bezog sich etwa auf die Einteilung der Gesetze mit dem Strafgesetzbuch als materiellem Recht und der Strafprozessordnung als formellem Recht oder die Unterscheidung einer inhaltlichen oder formalen Verteidigung durch einen dazu bestimmten Anwalt. Es bezog sich insbesondere auch auf den juristischen Wahrheitsbegriff, bei dem sich idealerweise am Ende des Verfahrens formelle und materielle Wahrheit weitgehend angenähert haben sollten. Der Gerichtsakte kam dabei eine zentrale Rolle zu. Sie war mehr als eine Informationssammlung, in ihr wurden die multiperspektivischen Erzählungen zu einer in sich schlüssigen, juristischen Anforderungen genügenden Narration homogenisiert. Sie strukturierte das Verfahren und lenkte den Blick des Lesers auf die Schuldfrage. Doch trotz aller Überformungen brachte auch sie die konkurrierenden Wahrheiten nicht zum Verschwinden. Darüber, in welchem Verhältnis die Suche nach einer tatsächlichen Wahrheit eines Gerichtsfalles einerseits und die gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrensschritte andererseits zueinanderstehen sollten, herrschte unter Juristen jedoch Dissens, der sich auf die Abwägung von individuellen Schutzrechten und staatlichem Wahrheitsanspruch herunter brechen lässt. Die rechtspolitischen Differenzen, die sich hierbei zeigten, führten durch den Auslegungsspielraum der Gesetze zu einer 1 Vgl. zu Professionalisierungsdiskursen und -strategien Siegrist: Professionen; Lundgreen.

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heterogenen Rechtspraxis. Diese juristische Varianz zeigt, dass auch kleine Verfahrensdetails keine reine Sachfrage darstellten, sondern immer in einem rechtspolitischen Kontext betrachtet werden müssen. Die Juristen stellten eine Elite dar, die ihre privilegierte Position im Verfahren gegen die Partizipationsforderungen von ›Laien‹ und anderen, nicht dem professionellen Selbstbild entsprechenden Personen zu verteidigen suchte. Staatsanwälte, Richter und Rechtsanwälte unterschieden sich dabei graduell in der sozialen Zusammensetzung und ihrer politischen Ausrichtung voneinander, dennoch teilten sie in fundamentalerweise eine berufsspezifische Logik und Identität, die sich von Nicht-Juristen zunehmend abgrenzte. Wesentlich für die Abgrenzung der Juristen waren die formale Bildung, männliche Bürgerlichkeit und »Erfahrung«. Die Präsenz der ›Nichtjuristen‹ in den juristischen Berufen oder als ›Laienrichter‹ zeigte, dass gesellschaftliche Gruppen den Anspruch auf eine geregelte und selbstständige, in Teilen sogar gleichberechtigte Mitwirkung an der Justiz erhoben. Sie eigneten sich damit bürgerlich-männliche Forderungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an und wandten diese gegen den Adel und das nun in der Elite angekommene Bürgertum. Im Hinblick auf die leitende Fragestellung nach den Partizipationsmöglichkeiten vor Gericht und den damit verbundenen gesellschaftspolitischen Implikationen zeigt sich die Juristenschaft als heterogene, aber dennoch klar umrissene Elite, die sich abzuschließen und ihre Rechte zu sichern versuchte. Die Abwehr des Schwurgerichts, die zunächst in erster Linie durch die preußische Regierung erfolgt war, dehnte sich auf breite Teile der Juristen und später auch des politischen Liberalismus aus. Hier zeigt sich ein interessantes Verhältnis von Wandel und Persistenz in der Rechtspolitik. Denn erst die Etablierung der Geschworenengerichte führte letztlich zu einer Gegenbewegung, die zunehmend Unterstützung für die Abschaffung der Gerichtsform fand. Das liberale Bürgertum, das die Geschworenengerichte einst gefordert hatte, war in die staatlichen Ämter integriert und fühlte sich nun durch die sozial ausgeweitete Mitwirkung in seiner neuen Position angegriffen. Es konnte bei seiner ablehnenden Haltung auf jene Argumente der Vormärz-Debatte zurückgreifen, die von antiliberaler Seite vorgebracht worden waren. Diese erhielten durch den rhetorischen Verweis auf die Erfahrungen seit der Etablierung neue Legitimation. »Erfahrung« wurde hier zum zentralen Begriff, der im Laufe der Studie wiederholt als rhetorischen Mittel gegen die »Laienbeteiligung« beobachtbar wird. Politische Reformen, so zeigt sich hierdurch, waren permanent neu zu verteidigen und in ihrer Bedeutung zu rechtfertigen. Sobald sie von ihren Anhängern als quasi selbstverständlich betrachtet und nicht länger geschützt wurden, konnte die gegnerische Seite die Relevanz und Gültigkeit der Reforminhalte sukzessive aushöhlen. Die Bedeutung der Abwehrhaltung gegenüber Nicht-Juristen wird sich im weiteren Verlauf auch im Zusammenhang mit dem juristischen Blick auf Angeklagte, Zeuginnen und Zeugen sowie die Öffentlichkeit zeigen. Hier lässt sich somit am Beispiel der Juristen eine Tendenz des Bürgertums aufzeigen, im Kaiserreich die errungenen Privilegien gegen anwachsende Partizipationsansprüche zu verteidigen 106

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und sich gegen eine weitergehende Demokratisierung zu stellen.2 Diese – zugespitzt formuliert – Wende des Liberalismus gegen eine weitere Liberalisierung des Staates führte jedoch zwingend zu Konflikten. Denn eine breite Politisierung der Bevölkerung sowie die Öffentlichkeit der Justiz ließen konkurrierende Vorstellungen zur Ausgestaltung der Justiz entstehen, die gerade wegen ihres reformerischen Charakters und ihrer Anknüpfungsfähigkeit an juristische Logiken wirkmächtig wurden.

2 Zum deutschen Liberalismus statt vieler Eley.

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Teil II

Die Öffentlichkeit als Machtfaktor im Kaiserreich

»Man kann […] nicht sagen, daß die Berichterstattung der Presse als solche dem Interesse der Rechtspflege dient. Im Einzelfalle aber kann sie ihm direkt widersprechen«,

urteilte der Düsseldorfer Jurist Brauweiler 1918 über die Darstellung der Justiz in der Presse. Mit Verweis auf Skandalprozesse und vermeintlich sensationsheischende Medien forderte er, gesetzlich die Berichterstattung bis zum Abschluss der Prozesse zu verbieten.1 Die bei Brauweiler zum Ausdruck kommende skeptische Haltung gegenüber den Medien entsprach einer am Ende des 19. Jahrhunderts auch außerhalb Deutschlands entstehenden Diffamierung eines vermeintlichen Sensationalismus.2 Gerade das Bürgertum, das in den vorangegangenen Jahrzehnten in einer mitwirkenden und belehrten Öffentlichkeit ein wesentliches Mittel zur Verbesserung der Gesellschaft und des Staates gesehen hatte, distanzierte sich von der sich nun etablierenden, demokratisierten Form der Öffentlichkeit. Die Massenmedien, so die kulturpessimistische Erzählung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, würden einer aufklärenden Funktion nicht mehr gerecht.3 Mittlerweile hat sich diese Interpretation gewandelt, sodass auch Jürgen Habermas die kulturkritischen Elemente seiner grundlegenden Interpretation des Strukturwandels der Öffentlichkeit 30 Jahre später revidierte und betont, dass neben der bürgerlichen zeitgleich konkurrierende Öffentlichkeiten existierten.4 Er weist dabei auf die Existenz des »kritische[n] Potential[s] eines […] pluralistischen, nach innen weit differenzierten Massenpublikums« hin.5 Das Publikum sei »keineswegs nur die Kulisse […] der herrschenden Kultur« gewesen.6 Diese aktive Rolle des Publikums betonen in der historischen Forschung insbesondere Untersuchungen zur »mass culture«, wie sie durch die bahnbrechende Studie von Vanessa Schwartz zur Pariser Öffentlichkeit im ausgehenden 19. Jahrhundert angeregt wurden.7 Diese Beobachtungen werden hier für den Bereich der Strafjustiz mit der von Margaret Lavinia Anderson vertretenen These verknüpft, dass die Bevölkerung 1 2 3 4

Brauweiler. Vgl. Shaya. Wiltenburg auch zu historischen Vorläufern. Westerbarkey; Liesegang. Vgl. Habermas: Vorwort zur Neuauflage 1990; grundlegend: ders.: Strukturwandel. Zur für die Revision grundlegenden feministischen Kritik vgl. Fraser; im Überblick: Mazohl-Wallnig. 5 Habermas: Vorwort zur Neuauflage 1990, S. 30. 6 Ebd., S. 17 f. 7 Grundlegend Schwartz. Den Widerspruch zwischen Schwartz und Habermas schildert Shaya. Vgl. zusätzlich Bösch: Öffentliche Geheimnisse; Kohlrausch.

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des Kaiserreichs in der Breite durchaus in die protodemokratischen Strukturen des Parlamentarismus integriert war und demokratische Haltungen einübte.8 Die gesellschaftliche wie die juristische Öffentlichkeit führten – so soll in diesem zweiten Teil gezeigt werden – im Untersuchungszeitraum dazu, dass die Bevölkerung bis in das ländliche Allgäu hinein mit der staatlichen Institution des Gerichtes, seinen Regeln und seinen möglichen Funktionen vertraut sein konnte.9 Dieses Wissen über die Justiz war dabei nicht zwangsläufig deckungsgleich mit der juristischen Eigenlogik, wie sie im Voranstehenden rekonstruiert wurde. Dennoch stellte es die Basis für machtvolles Handeln der Bevölkerung in der Rechtspolitik und, was im dritten Teil dieser Studie näher ausgeführt wird, im Gerichtsprozess dar. Die Deutungen und Anforderungen an die Justiz, wie sie reichsweit von Medien, Vereinen und Kirchen artikuliert wurden, bildeten nicht nur eine weitere Grundlage für eine machtvolle Mitwirkung im Gerichtsgeschehen, sondern sie waren selbst Ausdruck eines Partizipationsanspruchs. Obwohl die Öffentlichkeit im Kaiserreich damit im Feld der Justiz zumindest einige der Aufgaben erfüllte, die ihr die aufklärerische Idee einst zugewiesen hatte, löste sie gleichzeitig eine Skepsis bei den Juristen aus, wie sie beispielhaft bei Brauweiler zum Ausdruck kam. Erneut zeigt sich hier eine Diskursverschiebung, bei der vermeintlich überholte politische Positionen mit dem Verweis auf praktische ›Erfahrungen‹ aktualisiert und mehrheitsfähig wurden. Die Justizgeschichte gewährt hier einen ausdifferenzierten Einblick in Formen, Forderungen und Konflikte, die durch die so genannte Fundamentalpolitisierung – eine politische Partizipation breiter Bevölkerungsgruppen durch Verbände und Lobbyismus – und die darauf folgenden Reaktionen der Eliten entstanden.10 Die Schaffung einer bürgerlichen Öffentlichkeit – im Parlament wie im Gericht – sollte in der liberalen Staatskonzeption des Vormärz der Rationalität und Gerechtigkeit den Boden bereiten.11 Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen war daher essentiell für die Konzeption des Rechtsstaates. Sie galt als Garant fairer Verfahren, da die beteiligten Juristen nun einer nicht-staatlichen Kontrolle unterlagen;12 sie sollte ermöglichen, dass die Bevölkerung Kenntnisse über die Gerichte erlangen und dadurch größeres Vertrauen entwickeln könne. Außerdem erwartete man, dass das Wissen über effiziente Strafverfolgung potentielle Verbrecher abschrecken und so die Kriminalitätsrate senken würde.13 Gerade weil die Idee der öffentlichen Gerichtsverhandlung wie jene der Geschworenengerichte von Beginn an untrennbar mit bürgerlichen Partizipationsforderungen verbunden und nach einem französischen Vorbild entstanden 8 Anderson: Practicing Democracy. 9 Zum heutigen medial erzeugten Justizbild vgl. Machura/Ulbrich; Löschper. 10 Zur Fundamentalpolitisierung: Chickering, S. 70; Smith: Authoritarian State, S. 316–320; Ullmann: Politik, S. 82–90. 11 Zur Geschichte des Öffentlichkeitskonzepts Hölscher: Art. Öffentlichkeit. 12 Zum Kampf um die Gerichtsöffentlichkeit vgl. Caspari; Fögen; Britz, S. 21–26, 196–208; Ignor, S. 231–243. Eine Auflistung der Argumente bis 1879 bei: Alber. 13 Vgl. Müller: Auf der Suche, S. 74, mit Fokus auf Presseöffentlichkeit.

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war, erschien sie den monarchischen und deutschnationalen Kräften des Vormärzes zunächst als suspekt; sie setzte sich gleichwohl durch14 und ließ die Kritik jahrzehntelang verstummen.15 Bei der Kodifikation der Reichsstrafprozessordnung 1877 bestand daher kaum Zweifel, dass die Gerichtsverhandlung eine öffentliche sein müsse.16 Selbst über eine Ausweitung der Öffentlichkeit auf die Phase der Voruntersuchung wurde erneut – wenn auch ohne Ergebnis – debattiert. Es handelte sich bei der Öffentlichkeit der Verfahren daher wohl »um einen unhintergehbaren historischen Fortschritt und einen unantastbaren Grundsatz der modernen Gesellschaft«.17 In den 1890er Jahren wurden jedoch vermehrt Stimmen laut, die eine größere Beschränkung der Öffentlichkeit einforderten. Aus juristischer Perspektive umfasste die gerichtliche Öffentlichkeit zwei Ebenen. Zum einen dachte man an die Zuschauer, die der Gerichtsverhandlung in den neu geschaffenen Sälen folgen sollten. Neben dieser direkten wurde zum anderen eine indirekte, mittels einer medialen Berichterstattung hergestellte Gerichtsöffentlichkeit konzipiert.18 Öffentlichkeit in diesem Sinne war in erster Linie veröffentlichte Berichterstattung. Nicht nur in Berlin war dabei das Interesse, an Schwurgerichtssitzungen teilzunehmen, so hoch, dass die Plätze oft kaum ausreichten. Die zur besseren Organisation ausgegebenen Eintrittsbillets waren schnell vergriffen oder wurden zu überhöhten Preisen verkauft.19 Auf welches Interesse die Verhandlungen vor den Strafkammern und den Schöffengerichten stießen, ist hingegen unklar. Während etwa in Augsburg die Tagesordnungen des Schwurgerichts in der Zeitung standen, fanden sich kaum analoge Hinweise für Strafkammersitzungen, in denen ja auch nur weniger spektakuläre Delikte verhandelt wurden.20 Die Bauprogramme der Gerichte orientierten sich an der unterschiedlichen Attraktivität der Verfahrensarten. So wurde in den Schwurgerichtssälen deutlich mehr Platz für Zuschauer eingeplant und prunkvollerer Schmuck angebracht.21 Doch aus dieser lokalen wurde erst eine gesellschaftliche Öffentlichkeit, indem Zeitungen ab der Mitte des Jahrhunderts begannen, regelmäßiger über Strafverfahren zu berichten.22 Dafür wurde den Journalisten sogar eine eigene Sitzreihe in den neu konzipierten Gerichtssälen zugewiesen. Diese befand sich hinter den Zeuginnen und Zeugen 14 Habermas: Diebe vor Gericht, S. 166 f.; Fögen, S. 49–60. 15 Gemäß Koch: Öffentlichkeit, S. 2, hatte es nach 1850 lediglich eine ablehnende Stellungnahme gegeben. Auch bei Schiff, S. XII, findet sich nur eine Nennung. 16 Ebd., S. 130–155; Müller: Entstehungsgeschichte; Alber, S. 159 f.; Tag, S. 2. 17 Müller: Auf der Suche, S. 73. 18 Anders: Britz, S. 25 f.: Die mittelbare Öffentlichkeit sei »weder als Teil noch als Problem von Gerichtsöffentlichkeit bewußt wahrgenommen worden.« 19 Für Berlin Hett, S. 104; Müller: Auf der Suche, S. 164–167; zu Bayreuth Paulus, S. 252 f.; zu München: Schneikert: Raubmordprozeß, S. 286 f. Vgl. auch: Evans, S. 577; anders Johnson, S. 45. Die Ausgabe von Billets war umstritten und stand unter dem Verdacht der bewussten sozialen Distinktion, vgl. Koch: Öffentlichkeit, S. 31; Löwe: Strafprozeßordnung (1914), S. 1060. 20 Ausführlicher zum Umfang der Nachrichten vgl. Kap. II.2.1. 21 Vgl. die Ausgestaltungen bei Klasen. 22 Über Kriminalität wurde schon seit Jahrhunderten berichtet, vgl. Wiltenburg.

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und war mit Schreibgelegenheiten ausgestattet. Erst hinter ihnen trennte eine Balustrade den Bereich der Verfahrensbeteiligten von jenem der Zuschauerinnen und Zuschauer ab.23 Den Gegenentwurf zur gerichtlichen Öffentlichkeit bildete die geheime Verhandlung, bei der nur die unmittelbar Beteiligten anwesend waren. Diese vor den Strafrechtsreformen als Standard geltende Form blieb im Kaiserreich noch in der Voruntersuchung sowie bei einzelnen Gerichtshandlungen, wie zum Beispiel Urteilsberatungen, erhalten. Sie schloss an die Tradition arkaner Beratungen an, die bis ins 18. Jahrhundert als notwendige, vertrauensbildende und weise Form der Staatshandlung betrachtet worden war.24 Für die juristische Konzeption des ›Öffentlichen‹ und des ›Geheimen‹ war eine Unterscheidung zwischen den Inhalten und der Form notwendig. ›Öffentlichkeit‹ bezog sich in erster Linie auf die Form der Verfahrensführung. Einschränkende Regeln begrenzten den Zugang zu den Geschehnissen auf einen engen Personenkreis und versuchten dadurch, die offiziellen Wege zur Weitergabe von Informationen zu minimieren. Zwar gingen formale Begrenzungen auch mit dem Anspruch einher, dass die im ›Geheimen‹ ausgetauschten Informationen nicht einem breiteren Personenkreis mitgeteilt wurden, aber eine juristisch geheime Verhandlung war nicht notwendigerweise mit dem Ziel der Diskretion verbunden.25 Die nachfolgende Analyse legt einen breiteren Öffentlichkeitsbegriff zugrunde. Unter Öffentlichkeit wird hier erstens ein Raum verstanden, »in dem Menschen in einen kommunikativen Bezug treten«. Zweitens wird davon ausgegangen, dass mehrere Räume parallel und überschneidend bestehen und dass sie drittens temporär, dauerhaft oder institutionell organisiert sein können.26 Damit wird ein Öffentlichkeitskonzept verwendet, das sich nicht auf eine bürgerliche Dichotomie von ›privater‹ und ›öffentlicher‹ Sphäre stützt.27 Auch das Geschehen in Familien oder kleinen Gruppen kann als Teil eines öffentlichen Diskurses gelten. Öffentlichkeit ist »kommuniziertes Wissen«.28 Neben dem in den vorangehenden Kapiteln rekonstruierten juristischen Fachwissen, dem diskursiv eine besonders machtvolle Funktion zukam, existierte in der Gesellschaft ein heterogenes – davon nicht schematisch getrenntes – Alltagswissen über die Justiz.29 Für die historische Analyse wird das nicht-fachjuristische Wissen auf zwei Ebenen greifbar: Zum einen kann aus der Analyse von Gerichtsprozessen ein Rückschluss auf das handlungsleitende Wissen gezogen werden. Dies wird im 23 Zu Leipzig vgl. Windisch, S. 9; zu Augsburg vgl. HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 5247, Bericht vom 20.9.1874. 24 Zur Arkanpolitik vgl. Hölscher: Öffentlichkeit und Geheimnis; einen Überblick über die Geschichte und Soziologie des »Geheimen« bei Westerbarkey. 25 Zur Gegenüberstellung von inhaltlicher und personeller Geheimhaltung ebd., S. 21–27. Zur Unterscheidung zwischen »Geheimnis« und »Diskretion« vgl. Simmel, S. 165. 26 Pröve, S. 15, dort auch Zitat. 27 Vgl. zum Konzept von Öffentlichkeit und Privatheit: Mazohl-Wallnig. 28 Westerbarkey, S. 27. 29 Zum Alltagswissen vgl. Lüdtke, S. 57 f.

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dritten Teil der Arbeit anhand bayerischer Strafprozesse gezeigt. Zum anderen wurden die gesellschaftlichen Diskurse über die Justiz ganz wesentlich von kollektiven Akteuren, wie der Arbeiter- und Frauenbewegung, den Kirchen und den religiösen Vereinen sowie den lokalen und überregionalen Medien, getragen. Das Gericht war als gedachter Ort, als juristischer space,30 der Bevölkerung nicht fremd, sondern hatte einen Bezug zum sozialen Umfeld. In Abgrenzung zu klassenjustiziellen Deutungen wird hier die These vertreten, dass gerichtliches Handeln medial und durch eigene Anschauung so detailliert vermittelt wurde, dass es bis hinein ins ländliche Allgäu ein vielschichtiges Wissensangebot über die Justiz gab.31 Zu dieser Information trug wesentlich bei, dass die juristische Konstruktion der geheimen Verfahrensführung keineswegs eine Eindämmung der Kommunikation erzeugte. Um die juristische Konzeption des Öffentlichen und Geheimen zu verdeutlichen und mit der faktischen Sichtbarkeit der im Geheimen stattfindenden Handlungen zu kontrastieren, wird einleitend das Gericht als place präsentiert. Die Analyse der Gerichtsgebäude verdeutlicht darüber hinaus die juristischen Hierarchien und Rollen auf einer symbolischen Ebene. Daran anschließend wird gezeigt, dass das Gericht trotz aller Kritik in der medialen Präsentation als vertrauenswürdiger Ort erschien, dessen Protagonisten wegen des Regionalbezugs vieler Artikel leicht zu identifizieren waren. Anders als in der Lokalpresse entstand jedoch bei der überregionalen Großstadtpresse ein justizkritisches Bild, das im politischen Diskurs hohe Wellen schlug und bis heute prominent geblieben ist. Die enttäuschte und empörte Reaktion der Juristen führte zu einer schleichenden Rückkehr zu geheimen Verhandlungsarten. Doch die gesellschaftliche Partizipation ließ sich dadurch nicht eindämmen. Die Arbeiterbewegung, Frauenbewegung und kirchliche Vereine erstellten Expertisen und engagierten sich durch Rechtsberatungen, Petitionen und Frühformen des Lobbyismus. Das Engagement brachte damit auch den Anspruch zum Ausdruck, aktiv in die Rechtspolitik und den Gerichtsalltag hineinzuwirken. Was in der juristischen Konzeption, wie sie im I. Teil präsentiert wurde, weitgehend ausgeblendet wurde, wird hier deutlich: Justiz und Gesellschaft waren untrennbar miteinander verflochten.

30 Zu space als gedachtem und place als physikalischem Ort vgl. die Einleitung. 31 Vgl. Habermas: Mission im 19. Jahrhundert.

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1. Orte der Kommunikation in strafgerichtlichen Verfahren

Die Einführung der öffentlichen Gerichtsverhandlung hatte die Regierungen vor ein Problem gestellt – es fehlte an passenden Räumlichkeiten. Für die schriftlichen und geheimen Verhandlungen waren nur kleine Büroräume benötigt worden.1 Diese waren nicht mehr ausreichend. Eine Durchführung von Verhandlungen in (etwas größeren) richterlichen Dienstzimmern wäre formal ein Bruch des Öffentlichkeitsprinzips gewesen, wurde aber übergangsweise in Ausnahmefällen gewährt.2 Wollte man nicht erneut auf Verhandlungen unter freiem Himmel oder an allgemein zugänglichen Orten wie den lokalen Gaststätten oder Hotels3 zurückgreifen, mussten schnell adäquate Räumlichkeiten zur Verfügung stehen. Es wurden daher zunächst vorhandene Säle genutzt, wie etwa der Festsaal des unbewohnten Neuen Schlosses in Bayreuth4 oder Rathäuser.5 Andernorts wurden bestehende Räumlichkeiten erweitert und für die neuen Anforderungen umgebaut.6 Viele dieser Gebäude galten aber in Umfang und Ausstattung als nicht ausreichend, sodass es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer Welle von imposanten Neubauten kam, welche die Ernsthaftigkeit der Justiz jedermann vor Augen führen sollten. Anhand der bei den Neubauten und Renovierungen dominierenden Raumordnung und Ästhetik lassen sich Aussagen über die symbolische Ordnung des Juristischen ableiten, wie sie die Landesregierungen und Gerichtsvorstände umsetzen ließen und wie sie die Bevölkerung durch Beobachtung und die eigene Platzierung im Raum selbst erfahren konnte. Ein Blick in die Gebäudenutzung im Untersuchungsgebiet zeigt aber auch, dass zumeist lediglich bereits bestehende Verwaltungsgebäude umgewidmet wurden. Das ideale Bauprogramm, 1 Soweit nicht anders angegeben sind für den nachfolgenden Abschnitt grundlegend: Klemmer u. a., S. 28 f.; Klemmer: Katalog, S. 14–24; Becker: Gerichtsverfassung und Architektur; Landau: Reichsjustizgesetze und Justizpaläste; ders.: Reichsjustizgesetz und die deutsche Rechtseinheit. 2 Vgl. StAA Landgericht Kempten nO, Schreiben des Königlich Bayerischen Staatsministeriums der Justiz vom 17.10.1884. 3 So etwa 1833 im angemieteten Saal des Hotel Schwan in Landau, vgl. Dury, S. 43 f. Auch Preußen erwog eine derartige Nutzung, vgl. Bednarek, S. 41. 4 Paulus, S. 46 f. 5 Klemmer u. a., S. 33., insbesondere für Geschworenengerichte. 6 Es gab in Bayern eine Reihe von juristisch genutzten Gebäuden, die zuvor als kirchlicher Palast oder Amtshaus gedient hatten, vgl. Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Anhang.

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wie es von der Forschung in den letzten Jahren untersucht wurde, konnte in den meisten der Gerichte daher nur unvollständig angewendet werden. Weitgehend einheitlich war dennoch die Topographie des Gerichtssaals. Ihre Analyse schärft den Blick für die Bedeutung, die der Rollenteilung, der Hierarchie und der Trennung von gerichtlichen und anderen Beteiligten für das juristische Verfahrensideal zukam. Und sie zeigt, dass alle Verfahrensbeteiligten ihre Rolle auch räumlich zugewiesen bekamen. Ein zentrales Ordnungskriterium, das durch die Gebäude verkörpert wurde, war die juristische Vorstellung des Geheimen und der Öffentlichkeit. Die juristische Konzeption des Geheimen definierte sich über separate und nicht einsehbare Handlungsorte. Die Juristen verknüpften damit auch die Erwartung, dass dort geschehene Handlungen – vorübergehend – nicht Teil des kommunizierten Wissens wurden. Eine solche Diskretion wurde aber gerade durch die bislang von der Forschung nicht beachtete ganz andere Form der Raumnutzung in der »geheimen« Phase der Voruntersuchung und die polizeilichen Ermittlungen ad absurdum geführt.

1.1 Justizpaläste als Orte von Macht, Religion und Hierarchie In Anlehnung an europäische Vorbilder in Brüssel, Paris, Wien oder Rom7 wurden auch in Deutschland neue »Justizpaläste« gebaut,8 die teilweise mit prunkvollen Sälen und Verzierungen ausgestattet wurden. Die bildnerische Ausgestaltung der Gebäude ging jedoch nicht in erster Linie auf den Geschmack des Architekten zurück, sondern war von ministerieller Seite genehmigt worden,9 »um bei Neubauten Missgriffe in der Verwendung bildnerischen und malerischen Schmuckes sowie in der Anbringung von Sinnsprüchen vorzubeugen.«10 Die Anzahl der Bauten und die mit der Ausgestaltung verbundenen symbolischen Anforderungen führten dazu, dass die Architekten ihnen große Aufmerksamkeit schenkten. Schließlich sollten die Gebäude nicht nur die Bedeutung der Justiz verkörpern, sondern auch für alle Beteiligten adäquate Räume, Sitz- und Arbeitsgelegenheiten zur Verfügung stellen. Neben Dienstzimmern für Richter, Staatsanwälte, Anwälte und Gerichtsschreiber mussten Arrestzellen, Dienstwohnungen – für den Gerichtsboten ebenso wie für den Gerichtspräsidenten –, eine Bibliothek sowie natürlich Verhandlungssäle entworfen werden.11 Bei Neubauten waren die Verhandlungsräume in der Regel groß, hoch und dunkel vertäfelt und durch imposante Leuchter und Säulen geschmückt. Die Wände 7 8 9 10

Becker: Gerichtsverfassung und Architektur, S. 14 f. Vgl. Klemmer: Katalog (Hannover); Rother: Justizgebäude in Sachsen; Oehme; Kähne. Zur Dichte der staatlichen Aufsicht: Dauss, S. 155–163; Bednarek, S. 35 und 79 f. Rundverfügung des Ministers der öffentlichen Arbeiten vom 18.1.1907, in: Müller, Justizverwaltung, Bd. 2, S. 1655 f., zit. nach: ebd., S. 79 f. 11 Vgl. Klemmer u. a. S. 7 f., 35–38, 173–177. Es wurde sogar ein Handbuch für die Errichtung von Gebäuden »für Justizzwecke« herausgegeben: Klasen.

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waren mit kunstvoller Malerei verziert und folgten dabei einem wiederkehrenden Bildprogramm.12 Dieses umfasste erstens Figuren der Justitia,13 der Wahrheit, Friedfertigkeit, Weisheit, Gnade und Gerechtigkeit und betonte damit die Würde und friedensstiftende Funktion der strafenden wie befreienden Justiz. Hoheitszeichen und Statuen der Herrscher, sowie Stadtwappen demonstrierten – insbesondere im besonders umfangreich erforschten Reichsgericht zu Leipzig – eine föderative, nationale Einheit.14 Eine gemeinsame Rechtstradition wurde darüber hinaus durch Büsten und Bilder zentraler ›Gesetzgeber‹ (Justinian für den Corpus juris civilis, Karl V. für die Carolina, Friedrich der Große für das ALR) sowie berühmter Juristen (Johann Jakob Moser, Johann Anselm von Feuerbach, Friedrich Karl von Savigny) zum Ausdruck gebracht. Und auch die Aufgaben des Gerichts sowie zentrale Verfahrensschritte wurden illustriert: In Leipzig bildeten ›Untersuchung‹, ›Urteil‹, ›Vollstreckung‹ und ›Gnade‹ eine Abfolge von Fensterbildern und vier Schwurhände zierten die Decken im Plenarsaal, neben denen »Waffen des Staates« gezeigt wurden, »die einem Meineidigen drohen.«15 Inschriften und Allegorien sollten alle Beteiligten an die Ernsthaftigkeit der Prozesse erinnern, wozu auch zahlreiche religiöse Symboliken beitrugen. Neben Darstellungen des Auge Gottes,16 der Religion,17 biblischen Szenen18 zierten etwa Liktorenbündel19 oder Engel20 die Wände der Gerichtsgebäude. Christusbilder oder Kruzifixe fanden sich hingegen jedoch äußerst selten.21 Diese bislang von der Forschung nicht beachtete Präsenz religiöser Symbole in den – zeitgenössisch »Heiligthümer des Rechts« genannten22 – staatlichen Prunkbauten erscheint auf den ersten Blick angesichts der proklamierten Trennung von Kirche und Staat erstaun12 Vgl. grundlegend Becker: Gerichtsverfassung und Architektur, S. 16; Klemmer u. a., S. 45–51; Windisch, S. 24–33. Zu Symbolen des Rechts Pleister/Schild. 13 Zur Symbolik der Justitia vgl. Eibach: Versprochene Gleichheit, S. 498–503. 14 Windisch; so auch z.B. am Eingang und in Sitzungsräumen des Landauer Landgerichtes, vgl. Rasp, S. 111 und 113; für München: Thiersch, S. 24. 15 Windisch, S. 47 f. 16 Kaun, S. 56; Rother: Justizgebäude am Münchner Platz, S. 31–36. 17 Klemmer u. a., S. 92. 18 Müller: Innenarchitektur, S. 81 f., 93, 95; Rother: Justizgebäude am Münchner Platz, S. 31–36. 19 Windisch, S. 24 und 34; Präsidentin des Oberlandesgerichts München, S. 34. 20 Windisch, S. 32–34. 21 Auf keiner der ausgewerteten Fotografien bayerischer Gerichtssäle, (Augsburg: HStAM Oberste Baubehörde OBB, Bild: 3; Memmingen und Obernburg, in: HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 18829, unnummerierte Bilder) noch in den Gebäudebeschreibungen lassen sich Hinweise auf Kruzifixe finden: Müller: Innenarchitektur; Falk: 100 Jahre Justiz, S. 173. Sie fanden 1874 auch keine Nennung unter dem »Gesamtbedarf an Einrichtungsgegenständen« für den Augsburger Neubau, bei denen selbst Papierkörbe und Kleiderhaken aufgeführt wurden, vgl. die HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 5247, Empfehlungen vom 14. und 18.11.1874. Die Abschreibungsliste des Amtsgerichtes Prien, HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 4): 5212, Verzeichnis vom 10.4.1913, erwähnt jedoch ebenso ein Kruzifix wie die Schilderungen Maximilian von Hardens, vgl. Harden, S. 218. 22 Exemplarisch 1885 Anonymus: Der neue Justizpalast in Brüssel. Der Vergleich zieht sich bis heute durch die Literatur, vgl. Hett, S. 17; Hahn: Schloß Wildeck, S. 183; Becker: Gerichtsverfassung und Architektur, S. 13.

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lich. Betrachtet man jedoch die enge Verknüpfung von Religion und Recht, wie sie seit Jahrhunderten beobachtbar war,23 sich in der Darstellung von ›Gerechtigkeit‹ traditionell abbildete24 und im Kaiserreich – wie am Beispiel des Eides bereits dargelegt25 – verstärkt diskursiv auftrat, kann hier lediglich ein weiterer Beleg gesehen werden, wie stark Religiosität die staatlichen Institutionen des Kaiserreichs prägte.26 Die Nutzung bestehender, zum Teil wegen ihres sich aus der vormaligen Nutzung ergebenden kunsthistorischen Wertes nicht zu verändernder Räume27 stand einer Ausgestaltung der Gerichte, wie sie den Juristen im Ideal vorschwebte, entgegen. Das in Marktoberdorf ansässige Schöffengericht etwa war seit 1820 gemeinsam mit zahlreichen anderen Behörden und dem Gefängnis im ersten Stock des Schlosses untergebracht28 und umfasste neben einem Sitzungssaal nur wenige Zimmer. Diensträume für die Amtsrichter gab es nicht.29 In Kempten war 1804 der Südflügel der aus dem Jahre 1651 stammenden, vormalig fürstäbtlichen Residenz in ein Amtshaus umgewandelt worden, in dem ab 1823 auch die Justiz untergebracht wurde.30 Neben den Gerichten befanden sich im Kaiserreich in diesem quadratischen, durch seine Größe imposanten, aber äußerlich schlicht gehaltenen Bau diverse Ämter, mit denen die Gerichte fortwährend um Platz konkurrierten.31 Das Landgericht befand sich im zweiten Stock und war über zwei Eingänge vom Schlossplatz aus erreichbar. Über beiden Türen befanden sich Tafeln mit der Aufschrift »Landgericht Kempten« und ein Wappen. Es umfasste zwei Sitzungssäle sowie Diensträume für den Landgerichtspräsidenten, den Direktor, den stellvertretenden Direktor und einen weiteren Landgerichtsrat. Auch der Untersuchungsrichter verfügte gemeinsam mit seinem Schreiber über ein eigenes Zimmer, das zu erreichen war, ohne an den Sitzungssälen und den dort Wartenden vorbei zu müssen. Die restlichen Richter mussten sich die Bibliothek sowie einen Büroraum als Arbeitsplatz teilen. Einen separaten Warteraum für Zeugen gab es nicht, hierfür musste der Flur herhalten.32

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Müller: Religion und Strafrecht, S. 55–61; Eibach: Versprochene Gleichheit, S. 490–497. Schild, S. 86. Vgl. Kap. I.1.1.1. Zur Religiosität des Kaiserreichs vgl. Habermas: Piety; Blaschke. Vgl. HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 5391; außerdem: dass.: 5392, Verzeichnis der der Dienstaufsicht des K. Landbauamtes Kempten unterstehenden geschäftlich oder architektonisch interessanten Baudenkmäler. Vgl. Heydenreuter, S. 33 f. und 42 f.; Dömling, S. 170 f.; Petzet, S. 146. Vgl. HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 5447, Gebäudebeschreibung des Amtsgerichts von März 1888. Alle Informationen beziehen sich auf: StadtAKempten Kempten, Residenzplatz 4/6. Dass.: 5392, Verzeichnis der der Dienstaufsicht des K. Landbauamtes Kempten unterstehenden geschäftlich oder architektonisch interessanten Baudenkmäler; dass.: 5391; StAA Rentamt Kempten: 1465; dass.: 1449. Vgl. HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 5391, Visitationsbericht 1909 und 1913; dass.: 5392, Grundriss vom 26.3.1912.

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Abb. 1: Aufnahme des Augsburger Justizpalastes, undatiert (Quelle: Stadtarchiv Augsburg, FS Abzüge A, 7557)

In Augsburg entstand hingegen zwischen 1871 und 1875 ein neues Justizgebäude (Abb. 1).33 Die Ausgestaltung war hier aber im reichsweiten Vergleich eher schlicht. Doch auch hier schlug sich eine Hierarchisierung der Instanzen und des Personals nieder und es lag ein besonderes Augenmerk auf den öffentlich zugänglichen Räumen.34 Denn lediglich der Schwurgerichtssaal sollte Malerei enthalten und über mehrere Lüster verfügen. Die anderen Sitzungssäle im Landgericht hingegen sollten ebenso wie die Arbeitszimmer der Richter, Anwälte und Staatsanwälte sowie die Repräsentationsräume des Gerichtsvorstandes tapeziert und mit einer hohen Vertäfelung ausgestattet werden. Die Arbeitsräume der Gerichtsschreiber, die Warteräume für Zeugen und Beschuldigte sowie das Beratungszimmer der Geschworenen waren zu tünchen.35 Die Sitzungssäle verfügten außerdem über eine Hängeuhr, ein Anschlagbrett und ein Bildnis des Bayerischen Königs.36 33 Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, S. 242. Vgl. zur Baugeschichte HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 4): 5246, hier: Schreiben vom 21.10.1871; StAA Rentamt Augsburg - Stadt, Abschrift einer Entschließung der Staatsministerien der Justiz und der Finanzen vom 15.7.1871. Der Bau wurde 1944 vollkommen zerstört, Seyboth, S. 61. 34 Alle Schilderungen beziehen sich auf die Planungen in HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 5247, Bericht vom 20.9.1874. 35 Im Amtsgericht Augsburg schlug sich die gleiche Hierarchie in der Wandgestaltung nieder, jedoch war hier der normale Sitzungsraum ebenfalls mit Wandgemälden ausgestattet. Ebd., Bericht vom 20.9.1874. 36 Vgl. ebd., Empfehlungen vom 14.10. und 18.11.1874 sowie die Fotos von Augsburg: HStAM Oberste Baubehörde OBB, Bild: 3; Obernburg, in: HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 18829, unnummerierte Bilder.

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Bereits diese kurze Einführung in die Gerichte im Untersuchungsraum zeigt, wie unterschiedlich die Gerichtsgebäude in ihrer Ausstattung und ihrem Bauprogramm waren. Keineswegs entsprachen die Gebäude alle den großen, bis ins Detail durchgeplanten Justizpalästen. Die Anzahl der zur Verfügung stehenden Räume korrelierte dabei mit der Instanz. Die Arbeitsbedingungen für die Juristen unterschieden sich je nach Anzahl der Diensträume deutlich und auch der Grad, in dem Bildprogramme die Bevölkerung belehren würden, differierte. Die Topographie der einzelnen Räume, spiegelte jedoch die Hierarchie innerhalb der Juristen und der Verfahren wider und führte diese der Bevölkerung mehr als deutlich vor Augen.37 Dies galt insbesondere für die Anordnung innerhalb der Verhandlungssäle, die sich am französischen Vorbild orientierte (Abb. 2 und 3).38 Dazu gehörte auch, dass die Rolle der Öffentlichkeit klar abzulesen war. Denn im hinteren Teil der Säle befanden sich die Bänke für das Publikum, das durch einen separaten Eingang hinein trat. Der Zuschauerraum war – so auch im Schwurgerichtssaal in Augsburg39 – vom Rest des Saales durch eine Balustrade getrennt, vor der sich häufig eine Reihe mit Schreibgelegenheiten für die Pressevertreter befand.40 Symbolisch waren die Journalisten damit nicht mit dem restlichen Publikum gleichgesetzt. Vor der Presse saßen die Zeuginnen und Zeugen, die bereits ihre Aussage gemacht hatten. Der Blick aller drei Gruppen – Zeuginnen, Zeugen, Presse und Publikum – war auf die Richterbank am anderen schmalen Ende des Raumes ausgerichtet. Zwischen der Zeugenbank und dem Richter befanden sich seitlich und im rechten Winkel zu den übrigen Verfahrensbeteiligten der Platz der Angeklagten und davor der mit einer dunkelblauen Decke zu versehende41 Tisch der Verteidiger. Auch die Zeugen, Zeuginnen und Angeklagten verfügten über einen eigenen Zugang zum Gerichtssaal. Sollten sie doch nicht mit dem Publikum in Kontakt treten, um eine mögliche Beeinflussung der Zeuginnen und Zeugen zu verhindern.42 In Schwurgerichtssälen saßen ihnen die Geschworenen an der zweiten Längsseite gegenüber. Den optischen Mittelpunkt bildete die Richterbank. Diese stand auf einem Podest mit Teppich43 , bot – je nach Gerichtsform – Platz für drei bis fünf Richter und war ebenfalls mit einem dunkelblauen Tuch behangen. Auf ihr fand sich außerdem die Präsidialglocke.44 Seitlich etwas abgerückt auf dem Podium und zur Mitte des Raumes hin ausgerichtet waren jeweils die Tische des Staatsanwaltes und 37 Vgl. zu den Hierarchien und Rollenverteilung innerhalb der Juristen Kap. I.3. 38 Sofern nicht anders angegeben, beziehen sich alle Angaben auf Klasen und Windisch. Zu französischen Vorbildern Bednarek, S. 29–31. 39 HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 5247, Bericht vom 20.9.1874. 40 Windisch, S. 9; HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 5247, Bericht vom 20.9.1874. 41 Ihre Funktion ist unklar, doch sie war nicht verzichtbar, vgl. ebd., Empfehlungen vom 14.10. und 18.11.1874 sowie Schreiben vom 20.12.1874; Bednarek, S. 31. 42 Klasen, S. 1655. 43 HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 5247, Bericht vom 20.9.1874. 44 Vgl. ebd., Empfehlungen vom 14.10. und 18.11.1874 sowie Schreiben vom 20.12.1874. Die amtsgerichtlichen Schöffensäle folgten einer analogen Anordnung, setzten den Angeklagten dem Richter-

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Abb. 2: Topographie eines Strafgerichtssaals (Quelle: Klasen, S. 1656)

des Gerichtsschreibers. In der Mitte vor dem Richtertisch, allerdings nicht auf dem Podest stehend, befand sich ein kleiner Tisch, auf den Beweisstücke gelegt werden konnten. Die räumliche Anordnung machte nicht nur deutlich, wer das Verfahren leitete, wer den Raum überblicken musste und auf wen die Aufmerksamkeit zu richten war – den Vorsitzenden Richter –, sondern unterteilte die Anwesenden in drei Gruppen. Erstens gab es das nicht zum Gericht gehörende Publikum, das deutlich abgetrennt wurde und passiv beobachten sollte. Eine zweite Gruppe bildeten Zeuginnen, Zeugen, Angeklagte und Verteidiger, die zwar Verfahrensbeteiligte waren, aber vom engeren Kreis des Gerichts durch ein Podest distanziert wurden. tisch gegenüber, Anonymus: Vorschriften für die Geschäftsbehandlung in den zur Zuständigkeit, S. 20. Zum dortigen Podest: HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 18829, Bild Obernburg.

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Abb. 3: Typische Topographie eines Schwurgerichtssaals (Quelle: ders., S. 1655)

Dass zu diesem engeren Kreis auch der Staatsanwalt und der Schreiber gehörten, wurde bereits betont. Hierin bestand aber offenkundig nicht nur eine relative Herabsetzung der – immerhin doch Roben tragenden und studierten – Rechtsanwälte, sondern auch der Geschworenen. Denn anders als die Schöffen saßen sie nicht gemeinsam mit den Berufsrichtern am Richtertisch, sondern unterhalb des Podestes und waren damit auch symbolisch nicht mit den Richtern auf eine Stufe gestellt. Die Hierarchie wurde auch durch die Bestuhlung zum Ausdruck gebracht, die von der Holzbank bis hin zum großen Ledersessel mehrfach abgestuft war.45 Größere Schwierigkeiten bereitete die Anordnung der Fenster. Sichergestellt werden sollte, dass diese sich nicht hinter der Richterbank befanden, da hier zumeist die Herrschergemälde angebracht wurden. Da die Richter ebenso wie die Geschworenen möglichst nicht durch das einfallende Licht geblendet werden sollten, wurde 45 Vgl. dass.: 5247, Empfehlungen vom 14.10.1874. Vgl. auch die Darstellung einer Gerichtsverhandlung bei Dury, S. 43.

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als idealer Ort die Wand hinter der Geschworenenbank angesehen.46 Doch nicht nur in Schwurgerichtssälen, auch in den Räumen der Strafkammern fanden sich in der Regel die Anwälte und Angeklagten gegenüber der Fensterseite wieder.47 Ihre Beeinträchtigung durch das einfallende Gegenlicht war also nicht nur eine relative Degradierung gegenüber den Geschworenen, sondern brachte zum Ausdruck, dass auf ihr Wohlbefinden vergleichsweise wenig Rücksicht genommen wurde. Auch wenn die Ausgestaltung der Gerichtssäle in den nachfolgenden Jahren aus Gründen der Akustik und der besseren Sichtverhältnisse abgeändert wurde,48 zeigt sie in ihrer Grundanlage eine Idealtypik, welche die juristische Konzeption des Strafverfahrens verkörperte. Anlage und Ausgestaltung der Gerichtsgebäude spiegelten die Trennung des Juristischen vom ›Laien‹ sowie die Hierarchien und Rollen wider, legten aber auch Wert auf Funktionalität. Die ›Laien‹ sollten in den ihnen zugänglichen Bereichen die Würde und Logik des Gerichtes deutlich erkennen können. Das Gericht war auch topographisch und optisch ein Lernort. Lediglich die Neubauten konnten diesem Ideal weitgehend entsprechend, die überwiegende Anzahl der insbesondere kleineren Gerichtsgebäude konnte sich daran nur orientieren.

1.2 Die Öffentlichkeit des juristisch Geheimen Für die juristisch als geheim deklarierten Prozesshandlungen, allen voran die Urteilsberatung, die Voruntersuchung und die Wartezeit der noch nicht vernommenen Zeuginnen und Zeugen, mussten ebenfalls Räumlichkeiten zur Verfügung stehen. Diese waren in der Ausgestaltung eher praktisch und schlicht. Ihre Ausgestaltung gibt einen Einblick in die juristische Konzeption des Verfahrens, die sich aus anderen Quellen nur schwer erschließen ließe. Um Beeinträchtigungen durch das Publikum zu unterbinden, verfügten Richter und Geschworenen in unmittelbarer Nähe zum Sitzungssaal über eigene Beratungszimmer, in die sie sich zur Urteilsfindung zurückziehen konnten.49 Deren Ausgestaltung zeigt, dass die Urteilsberatung kollegial, unter Hinzuziehung von Akten und Fachliteratur erfolgen sollte und dann diktiert werden konnte: Das richterliche Beratungszimmer in Augsburg enthielt neben einem ovalen Nussbaumtisch mit sechs Plätzen einen großen und sieben kleinere Sessel, einen kleinen Tisch mit kleinerem Sessel für den Gerichtsschreiber, Aktenständer, einen verschließbaren Bücherschrank. Die hoheitliche Aufgabe sowie die Notwendigkeit, jederzeit auch äußerlich einen würdevollen Eindruck zu machen, zeigten sich bei 46 Vgl. die Beschreibung bei Klasen, S. 1655. 47 Das legen etwa die Grundrisse nahe, die bei Thiersch, Blatt 5–7, abgedruckt sind. 48 Vgl. HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 5248, Schreiben vom 29.11.1875, Anordnung vom 29.1.1876 und Berichte vom 2.8. und 12.10.1899. 49 Vgl. die Beschreibungen etwa bei Klasen, S. 1654 f.; Thiersch, S. 13; vgl. Abbildung in: HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 4): 5250.

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der weiteren Ausgestaltung: Neben einer Wanduhr verfügte der Raum über einen Spiegel und eine Königsbüste.50 Da die Zeugen und Zeuginnen vor ihrer Aussage nicht an der Verhandlung teilnehmen durften, entstanden sogenannte Zeugenzimmer als Warteräume. Diese umfassten in Augsburg einen Tisch, sechs Stühle mit Lehnen, sechs Bänke, Vorhänge, Kleiderhaken und einen Schirmständer und waren damit weit schlichter als das richterliche Beratungszimmer. Lediglich das Wartezimmer des Beschuldigten war noch einfacher gehalten und drückte damit eine geringere Wertschätzung aus.51 Angesichts der Schilderungen in den Gerichtsprotokollen über die im Zeugenzimmer stattgefundenen Gespräche und angeblichen Bedrohungen kann davon ausgegangen werden, dass in diesem Raum keine Amtsperson gesessen hat, die derartiges hätte unterbinden können.52 Die Zeuginnen und Zeugen waren so zwar von der laufenden Verhandlung abgeschirmt und konnten durch diese nicht in ihrer Aussage beeinflusst werden, sie waren jedoch weder voneinander noch völlig vom Angeklagten isoliert. Eine Separierung der Zeuginnen und Zeugen vor der Verhandlung war bereits dadurch unmöglich, dass in der Regel pro Sitzungssaal höchstens ein Zeugenzimmer zur Verfügung stand und daher alle zu einem Prozess gehörenden Personen im selben Raum warten mussten.53 Dies war aus juristischer Sicht durchaus kritisch zu sehen, weil Absprachen oder Einschüchterungen noch bis hin auf dem Flur54 oder im Gerichtssaal erfolgen konnten, solange die Verhandlung noch nicht begonnen hatte: So will Jakob Wespe aus dem Fallbeispiel der Deicheln beobachtet haben, wie Anton Schmidt vor Beginn der ersten Diebstahlsverhandlung gegen Steck hinten im Saal neben diesem gestanden habe und beide die Köpfe zusammengesteckt hätten.55 Zusammengefasst: Die bauliche Trennung konnte nur einen Teil der Kommunikation unterbinden und nahm keine Sicherungsmaßnahmen gegen eine gegenseitige Beeinflussung der Zeugen vor.

1.2.1 Geheimnis und Öffentlichkeit im Gerichtssaal Dass das ›Geheimnis‹ von Prozesshandlungen keineswegs damit gleichzusetzen war, dass die Informationsweitergabe unterbunden wurde, zeigt ein genauerer Blick auf den zeitlich begrenzten Ausschluss von Personen während der Hauptverhandlung.

50 Vgl. HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 5247, Empfehlungen vom 14.10. und 18.11.1874. 51 Vgl. ebd., Empfehlungen vom 14.10.1874. 52 Vgl. die Schilderungen bei StAA LG Ke - SK: 83/1901, Vernehmung des J.H. am 23.8.1901; dass.: 21/1902, Schreiben des F.S. am 10.9.1902; StAA LG A - SG: 1/1893, Gendarmeriebericht vom 14.10.1892. 53 Vgl. Abbildung in: HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 4): 5250. 54 StAA LG Ke - SK: 117/1904, Vernehmung des L.F. am 10.1.1905. 55 Anton Schmidt bestreitet dieses Gespräch jedoch, vgl. dass.: 35/1903, Vernehmung des J.W. am 9.6. und 23.7. sowie des A.S. am 11.7.1903.

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Diese Maßnahme konnte nach der Eröffnung der Verhandlung durch das Kollegium der Richter angeordnet werden, wenn die Öffentlichkeit »eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder der Sittlichkeit besorgen läßt«.56 Unter der Chiffre57 »Gefährdung der Sittlichkeit « konnte theoretisch in nahezu jedem Prozess die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, sobald die Schilderungen der Lebens- und Tatumstände Anstoß erregen konnten. Die drohende Gefährdung der Sittlichkeit stellte von Beginn an einen zentralen Grund für Verhandlung ›in camera‹ dar.58 Die Juristen führten somit den Schutz der Zuschauerinnen und Zuschauer als Begründung für den Ausschluss an,59 argumentierten in der Praxisliteratur jedoch gerne auch mit Zweckmäßigkeitserwägungen, etwa dem Bedarf nach Ruhe oder der Sorge vor Schmähreden durch den Angeklagten. Hier schien es dann eher um den ungestörten Ablauf als um den Schutz der Zuschauerinnen und Zuschauer zu gehen.60 Weshalb die Öffentlichkeit in den einzelnen Verfahren empirisch tatsächlich ausgeschlossen wurde, kann anhand der vorliegenden Gerichtsakten nur schwer beurteilt werden, da die Protokolltechnik über die Gründe des Ausschlusses nur selten etwas vermerkt. Zumeist lässt sich nur der – hier exemplarisch zu zitierende, relativ ausführliche – Hinweis finden: »Der Staatsanwalt stellte den Antrag auf Ausschließung der Öffentlichkeit, der Verteidiger erklärte sich in Einvernehmen mit dem Angeklagten hiermit einverstanden. Der Vorsitzende verkündete hierauf öffentlich […] nach geheimer Beratung folgenden Beschluß: Im Hinblick auf § 173ff. bzw. Art. II des RGes vom 5. April 1888 wird die Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Sittlichkeit ausgeschlossen.«61

Dieser Beschluss konnte direkt nach der Verlesung des Eröffnungsbeschlusses oder bereits davor erfolgen,62 woraufhin »der Zuschauerraum geräumt und für das Publikum abgesperrt« wurde.63 Der von Rechtsanwalt Friedmann erhobene Vorwurf einer extensiven Auslegung des Ausschlussgrundes64 wurde durch eine öffentlich kritisierte65 Anweisung des preußischen Justizministerium an die Staatsanwälte vom 7.10.1891 in der Tat 56 § 173 GVG. 57 Eine Auflistung der entsprechenden Delikte fand sich nicht mehr im Gesetz (vgl. Alber, S. 153 f.), wurde von einigen Juristen jedoch eingefordert, etwa: Friedmann: Öffentlichkeit, S. 22. 58 Vgl. Habermas: Diebe vor Gericht, S. 184 f. 59 Dieser Paternalismus musste ihnen umso notwendiger erscheinen, als die Zuschauerinnen und Zuschauer es aus juristischer Sicht an Selbstschutz und Zurückhaltung fehlen zu lassen schienen. Vgl. den Bericht über die Schwurgerichtssitzung Kempten am 10.5.1898 in: OL 12.5.1898. Beispiele auch bei: Hett, S. 69 und 194. 60 Eisner. 61 StAA LG A - SG: 25/1893, Hauptverhandlungsprotokoll vom 21.9.1892. 62 Davor: dass.: 11/1884, Hauptverhandlungsprotokoll vom 8.5.1884; danach: dass.: 41/1888, Hauptverhandlungsprotokoll vom 19.6.1888. 63 Dass.: 11/1884, Hauptverhandlungsprotokoll vom 8.5.1884; dass.: 28/1884, Hauptverhandlungsprotokoll vom 12.5.1884. 64 Friedmann: Öffentlichkeit, S. 22. 65 Eisner, S. 523.

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bestätigt: Es solle bei jeder »sich bietenden Gelegenheit« vom Antragsrecht auf Ausschluss der Öffentlichkeit Gebrauch gemacht werden. An diesen Erlass wurde im Zuge der Harden-Prozesse 1908 nochmals mit dem Hinweis erinnert, dass dies insbesondere beim Thema Homosexualität gelte.66 Gleichzeitig ist aber eindeutig, dass das Reichsgericht bis ins 20. Jahrhundert hinein versuchte, das liberale Konzept einer möglichst weitgehenden Öffentlichkeit zu befördern. Wenn das höchste Gericht des Reiches wiederholt klären musste, ob das Verschließen eines Türflügels oder das Sperren von Teilen des Zuschauerraumes die Öffentlichkeit beeinträchtigte, dann spricht dies nicht nur für eine hohe Wertschätzung des Prinzips, sondern verweist darauf, dass in der lokalen Anwendung das Gleichgewicht zwischen Öffentlichkeit und Geheimnis noch permanent verhandelt wurde.67 Wesentlich ist jedoch, dass der generelle Ausschluss des Publikums nicht unbedingt zur völligen Abwesenheit von Zuschauern führte. Gemäß § 176 Abs. 2 GVG konnte der Vorsitzende Richter einzelnen Personen den Zutritt zu nicht-öffentlichen Sitzungen durchaus gestatten.68 Neben Regierungsvertretern und Sachverständigen gehörten hierzu auch handverlesene Journalisten69 sowie »Gerichtspersonen«.70 Interessanterweise war es den Journalisten zunächst sogar erlaubt, über die nicht-öffentliche Sitzung zu berichten. Spätestens die Verkündung des Urteils musste außerdem wieder in öffentlicher Sitzung stattfinden. Die Inhalte der Gerichtsverhandlung wurden also keinesfalls für immer, sondern nur temporär geheim gehalten. Es war sogar zwingend vorgeschrieben, dass das Verhandlungsprotokoll die »Wiederherstellung der Öffentlichkeit« protokollierte. Andernfalls lag ein Grund für eine Revision des Verfahrens vor. Die vorübergehende Entfernung von Personen aus dem für öffentliche Verhandlungen vorgesehenen Gerichtssaal verzögerte oder kanalisierte den Informationsfluss über das Geschehen also lediglich, es sollte ihn jedoch nicht verhindern. Anders als beim temporären Ausschluss der Öffentlichkeit im Hauptverfahren sollte die reguläre räumliche Separierung von gerichtlichen Handlungen explizit den Ablauf des Strafverfahrens schützen. Im Zuge der jahrzehntelangen Auseinandersetzung um eine Reform der Voruntersuchung wurde dies immer wieder deutlich.71 Insbesondere wurde eine Einflussnahme auf das Verfahren durch den Angeklagten oder dessen Angehörige oder Freunde befürchtet, wenn zu früh Informationen über den Stand der Ermittlungen bekannt würden.72 Die Diskretion der in der Voruntersuchung gewonnenen Informationen stand im Vordergrund. Kei66 Hecht, S. 118 und 436. 67 Vgl. auch StAA Landgericht Kempten nO, Schreiben des Königlich Bayerischen Staatsministeriums der Justiz vom 17.10.1884; Rohde, S. 80 f. 68 Koch: Öffentlichkeit, S. 66–68; hierzu hatten vor 1879 vor allem auch Vertrauenspersonen des Beteiligten Zutritt bekommen, vgl. Alber, S. 154. 69 Hett, S. 98, schildert, dass die Vossische Zeitung 1892 vergeblich die Anwesenheit beim zweiten Heinze-Prozess beantragte. Gunderlach, S. 127, wendet sich gegen eine solche Praxis. 70 StAA LG A - SG: 25/1893, Hauptverhandlungsprotokoll vom 21.9.1892. 71 Vgl. Haug; Meiners, hier v.a. Kap. III, §7, o.S. 72 Exemplarisch Friedmann: Öffentlichkeit, S. 13 f., kritisch: Kulemann: Voruntersuchung, S. 11–19.

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nesfalls sollte das erworbene juristische Wissen über den Fall direkt oder indirekt Teil der außergerichtlichen Kommunikationssphäre werden. Die dafür idealtypisch vorgesehene physikalische Trennung erwies sich bereits in den Gerichtsgebäuden als problematisch. Doch die Gerichtsgebäude waren nicht der Ort, an dem der Großteil der geheimen Voruntersuchungen tatsächlich durchgeführt wurde.

1.2.2 Die geheime Voruntersuchung im öffentlichen Raum – Schwäbische Gaststätten als Orte gerichtlicher Handlungen Nur wenn der Verdächtige sich wie Anton Fichtl beim ersten Verhör in Haft befand oder die Zeugin bzw. der Zeuge in der Stadt des Landgerichtssitzes wohnte, fanden die Gespräche in den amtlichen Räumlichkeiten des Untersuchungsrichters beziehungsweise des Gefängnisses statt.73 Die Dienstzimmer der Untersuchungsrichter befanden sich in den Gerichtsgebäuden zumeist im Erdgeschoss oder in der Nähe der Treppen, sodass der Zugang vom Publikumsverkehr der öffentlichen Verhandlungen getrennt war. Gab es ein Gerichtsgefängnis, so sollten die Diensträume sogar möglichst mit diesem zusammengeführt werden, wodurch die Trennung vom öffentlich zugänglichen Bereich perfektioniert wurde. Da die Untersuchungsrichter an die Landgerichte angebunden waren, verfügten sie auch nur hier über eigene Räumlichkeiten. Neben einem Wartezimmer für die Zeuginnen und Zeugen und einem Dienstzimmer für den Gerichtsschreiber verfügte der Untersuchungsrichter über ein oder zwei Vernehmungsräume.74 Als Diensträume und Bestandteil eines nicht öffentlichen Verfahrens waren diese Räume vergleichsweise wenig geschmückt.75 Ihre Ausstattung war am Bedarf der Untersuchung orientiert, deren Hauptaugenmerk auf der Vernehmung und dem Verfassen beziehungsweise Lesen von Akten lag: Sie verfügten in Augsburg über einen oder zwei Schreibtische und ein Stehpult, einen Spiegel, einen Aktenschrank, eine Siegelpresse, einen Kleiderkasten und vier Sessel. Im Nebenzimmer – vermutlich dem Warteraum – befand sich ebenfalls ein Sessel.76 Doch beim Dienstzimmer des Untersuchungsrichters bestand grundsätzlich die Möglichkeit, dass Teile der Unterhaltung aus den angrenzenden Räumen hörbar waren. So klagte der als Rechtskonsulent tätige Jakob Wieser in einem Schreiben an den Präsidenten des Landgerichtes, dass der in den Fall als gegnerische Partei verwickelte Rechtsanwalt Staubwasser sich während einer Vernehmung im angrenzenden »Verhörzimmer« befunden habe. »Angesichts des lauten Sprechens seitens des Untersuchungsrichters und von mir […] konnte man nebenan so ziemlich das ganze Verhör erfahren.« Interessant ist, dass der Untersuchungsrichter 73 StAA LG Ke - SK: 103/1901, Vernehmung des L.K. am 24.12.1901; dass.: 76/1897, Vernehmungen des A.P. am 21.8., 2.9., 6.9., 10.9., 16.9.1897; dass.: 217/1898, Vernehmung des R.G. am 15.1.1898; dass.: 32b/1913, Vernehmung des M.K. am 14.7.1913. 74 Klasen, S. 1654; von Landauer, S. 182. 75 Thiersch, S. 11 und 13. 76 Vgl. die HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 5247, Empfehlungen vom 18.11.1874.

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diese Möglichkeit nicht zurückwies und dass auch die vorgesetzte Justizverwaltung dem Vorwurf mit größter Achtsamkeit nachging.77 Auch wenn sich die Vorladungen wohl selten direkt aneinander anschlossen, konnte es doch vereinzelt zum Aufeinandertreffen der Beteiligten kommen.78 In einer ländlichen Region wie dem Landgerichtsbezirk Kempten wurde eine Vielzahl der Vernehmungen jedoch gar nicht in den jeweiligen Dienstzimmern der Untersuchungsrichter durchgeführt. Sie fanden stattdessen an den Orten der ländlichen Öffentlichkeit statt: den Gaststätten.79 Diese bislang nicht untersuchte Praxis verdeutlicht, wie sehr die Geschehnisse dieser Prozessphase von den Beteiligten und dem nicht unmittelbar einbezogenen Umfeld beobachtet werden konnten – ein Umstand, der aus juristischer Perspektive überaus problematisch war.80 Für die Frage der Macht und Selbstständigkeit der ›Laien‹ im Verfahren aber war diese Informationsmöglichkeit essentiell, wie im III. Teil der Arbeit zu zeigen sein wird. Die faktische Öffentlichkeit der Voruntersuchung war strukturell im Verfahren angelegt. Dass sich diese Alltäglichkeit in keiner einzigen Fachpublikation niederschlug und auch in den Akten in keiner Weise problematisiert wurde, verdeutlicht den hohen symbolischen Gehalt, der der Verfahrenskonzeption des Geheimnisses als juristischem Ideal zukam. Lokale Gaststätten wie die Bareis’sche Wirtschaft in Günzach gelten als zentraler Ort der ländlichen Öffentlichkeit, als Treffpunkt von Vereinen und insbesondere der männlichen Dorfbevölkerung.81 Die Gaststätte im 19. Jahrhundert stellte darüber hinaus einen von der Forschung bisher vernachlässigten Ort staatlichen, insbesondere auch justiziellen Handelns dar. Bekannt ist, dass hier neben Gemeinderatssitzungen,82 Musterungen, Zwangsversteigerungen und bis ins 19. Jahrhundert hinein auch Gerichtstage beziehungsweise Ruggerichte und Assisenverhandlungen stattfanden.83 Bislang unbekannt ist hingegen, dass die Untersuchungsrichter – zumindest in den ländlichen Regionen – in den Gaststätten ihre wesentlichen Untersuchungshandlungen vornahmen. In der Untersuchung gegen Konrad Hörmann – Fallbeispiel II – wurden mindestens 14mal Zeugenladungen für das Bareis’sche Gasthaus in Günzach ausgesprochen. Im Fall des gestohlenen Deichel – Fallbeispiel I – 77 StAA LG Ke - SK: 65/1904, Stellungnahme des Untersuchungsrichters zum Schreiben des J.W. vom 10.2.1895. 78 Vgl. zu den Terminintervallen dass.: 103/1901, Vernehmungen am 20.12. und 28.12.1901, am 2.1., 9.1. und 22.1.1902. 79 Erste Hinweise auf diese Praxis in Ortmann: Jenseits von Klassenjustiz, S. 646–649. 80 Weder Hommen noch Schulte gehen auf die Frage des Raumes für den nicht-öffentlichen Verfahrensabschnitt ein. Auch in der oben angeführten Literatur zur Geschichte der Justizbauten finden sich darauf keinerlei Hinweise. 81 Zu Wirtshäusern als Orten ländlicher Öffentlichkeit Oswalt, S. 74–77; Krauss, S. 353–383; Kienitz, S. 161–163. Zur Rolle von Gaststätten als Sitzungsorten von Vereinen vgl. exemplarisch Ramsauer, S. 236–248; ob es sich um einen Ort ausschließlich männlicher Öffentlichkeit handelte, problematisiert neben ebd. auch Beneder. 82 Mayr, S. 13. 83 Vorwig, S. 181; Oswalt, S. 68; Dury, S. 43 f., für Landau 1883; Rauers, S. 844 f.; Cordes, S. 116–118; Kümin, S. 86 f.; Heidegger, S. 176 f.

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wurden die Vernehmungen sowohl von Untersuchungsrichter Karl als auch von seinem Nachfolger Schmid im Linder’schen Postgasthaus bzw. dem Gasthof zur Post in Biesenhofen durchgeführt.84 In beiden Fallbeispielen nahm auch die Gaststätte Zum Hasen in Kaufbeuren eine wichtige Rolle während der Ermittlungen ein.85 Für die Benutzung der Räume wurde ein – offenbar von der Dauer der Nutzung abhängiges – Mietgeld entrichtet, das in den ausgewerteten Fallbeispielen zwischen 0,50 und 3,50 Mark, zumeist aber etwa 1,50 Mark betrug.86 Die Nutzung der Gaststätten war vermutlich ein notwendiges Hilfsmittel, denn die lokalen Gendarmerielokale waren auf Grund ihrer geringen Größe nicht für Vernehmungen geeignet und an anderen offiziellen Räumen der Selbstverwaltung mangelte es in ländlichen Regionen.87 Die den Untersuchungsrichtern zustehenden Diensträume an den jeweiligen Landgerichten wurden wohl aus pragmatischen Gründen nicht standardmäßig genutzt. Denn eine Vernehmung vor Ort ermöglichte neben einer Tatortbegehung auch die Kosten zu senken, da den Zeuginnen und Zeugen für ihr Erscheinen Gebühren zustanden, die von der Distanz abhingen, die sie hatten zurücklegen müssen.88 So aber lud der Untersuchungsrichter in Orte, die wie Biesenhofen, Günzach oder Kaufbeuren an das Bahnnetz angeschlossen waren. Die Gerichtskommission, bestehend aus Untersuchungsrichter und Gerichtsschreiber, fuhr von Kempten mit dem Zug soweit wie möglich in die Nähe des Tatortes und bestellte die zu vernehmenden Zeuginnen und Zeugen in die Halteorte des Zuges. Auf diese Weise vermieden die Juristen zusätzliche Fußwege oder Fahrtzeiten mit Fuhrwerken, die einzubestellenden Personen hatten ihrerseits einen deutlich kürzeren Weg von ihrem Wohnort zum nächsten Bahnhof als zum Gericht zurückzulegen.89 Selbst in Städten, in denen vor Ort ein Amtsgerichtsgebäude vorhanden war, erfolgten die Vernehmungen zuweilen in Gaststätten, so etwa in der Bezirksstadt Marktoberdorf in der Gaststätte Neue Post.90 Diese Praxis ist leicht durch die 84 Vgl. StAA LG Ke - SK: 21/1902, Ladungen zum 21.6., 8.7., 20.9., 4.10., 6.11. und 29.11.1902, sowie dass.: 35/1903, Ladungen zum 29.5., 9.6., 11.7. und 25.7.1903. Diese Praxis lässt sich in zahlreichen weiteren Akten nachweisen. 85 Dass.: 21/1902, Ladung zum 14.10.1902; dass.: 103/1901, Ladungen zum 8.1., 18.3., 26.3., 27.3., 21.4. und 22.4.1901. 86 Ausgewertet wurden alle Angaben zu den entrichteten Gebühren, die in den Vernehmungsprotokollen aufgeführt waren: dass.: 21/1902; dass.: 35/1903; dass.: 124/1890; dass.: 103/1901. Mietzinsen tauchen nicht in der einschlägigen Kosteninstruktion von 1862 auf, vgl. StAA Rentamt Marktoberdorf : 1177. 87 Mayr, S. 127–141; Eibach: Staat vor Ort, S. 46, zur beschränkten Ausstattung der Amtshäuser. Zu Gendarmerien vgl. weiter unten. 88 Zu den Zeugengebühren vgl. Kap. I.1.1. 89 Günzach war z.B. fünf Kilometer von Reinhardsried und Kraftisried und damit immerhin zehn Kilometer weniger vom Tatort des Mordes an der Dienstmagd Gast – Fall II – entfernt als das Landgericht Kempten. Die Bahnstation wurde von Kempten aus sechsmal täglich angefahren und die Fahrt dauerte knapp zwei Stunden. Vgl. den Winterfahrplan, vom 1.10.1897–1.5.1898, abgedruckt in: OL 20.1.1898. 90 Exemplarisch: StAA LG Ke - SK: 28/1899, Ladung zum 29.5.1899; dass.: 48/1898, Ladungen zum 12.5. und zum 28.7.1898; dass.: 103/1901, Ladung zum 12.5.1902; dass.: 93/1904, Ladung zum 7.10.1904. Zur Gaststätte Neue Post vgl. StadtAMOD: S. 196 f. Analog im Gasthaus zum deutschen

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gerichtliche Raumsituation zu erklären, standen dem Untersuchungsrichter doch keinerlei Diensträume in Marktoberdorf zur Verfügung, und selbst der Amtsrichter hatte nur ein mit mehreren Personen geteiltes Büro. Im Ergebnis sparte die Praxis der Befragung vor Ort für die Zeuginnen und Zeugen viel Weg und Zeit und damit für das Gericht auch Gebühren. Lediglich für die Untersuchungsrichter war sie mit einem beachtlichen Zeitaufwand in der Anreise verbunden, sodass die Untersuchungsrichter bestrebt waren, die Zeit vor Ort möglichst effektiv und für viele Vernehmungen zu nutzen. Dass Informationen über die Vernehmungen in den Gaststätten zeitnah publik wurden, lag insbesondere daran, dass anders als bei Vernehmungen im Landgericht bis zu 12 Personen im Abstand von 15 bis 30 Minuten vorgeladen waren.91 Wie sich aus den Akten aus dem Fallbeispiel Gast entnehmen lässt, blieben die Geladenen vor und nach ihrer Vernehmung in der unteren Gaststube, um für eventuelle Nachfragen zur Verfügung zu stehen.92 Hier kam es zu Gesprächen über die soeben erfolgte Aussage. So soll Rosalie Winkler nach ihrer Vernehmung im Flur der Gaststätte dem Nachbarn ihres verdächtigten Bruders Hörmüller, Johann Oswalt, mitgeteilt haben, es sehe nicht gut für Hörmüller aus, was Oswalt seinerseits sofort einem weiteren Anwesenden, dem früheren Verdächtigen Fichtl, mitteilte.93 Gespräche dieser Art waren grundsätzlich während der Ermittlungsphase nicht zu verhindern. Schließlich war es jedem möglich, über sein Wissen und die Vernehmung frei zu sprechen. Das Besondere bestand aber darin, dass die zeitliche und räumliche Dichte es ermöglichte, sich direkt vor der eigenen Vernehmung über die Fragen und Ermittlungsrichtung zu informieren. Außerdem wurde es den Beteiligten erschwert, ihr Wissen vollkommen für sich zu behalten. Denn dass sie etwas wissen mussten, ging aus ihrer Anwesenheit und der zu beobachtenden Dauer der Vernehmung für alle deutlich hervor. Wie öffentlich das Geschehen einer solchen zeitlich geballt vorgenommenen Vernehmung war, wird an einer weiteren Episode deutlich, die sich im Zusammenhang mit der Vernehmung am 7.1.1902 im Bareis’schen Gasthaus abspielte. Denn gleichzeitig fand dort eine Holzversteigerung statt, an der der des fraglichen Mordes verdächtigte Konrad Hörmüller teilnahm.94 Als dieser bei den nächsten Zeugenvernehmungen elf Tage später am gleichen Ort erneut auftauchte, ließ ihn der Untersuchungsrichter sofort verhaften, da aus seiner Sicht akute »Collusionsgefahr« bestünde.95 Hörmüller begründete seine Anwesenheit mit der Holzversteigerung bzw. damit, dass er »Geschäftsleute ausbezalt« habe und bestritt, bei

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Haus in Sonthofen, vgl. StAA LG Ke - SK: 17/1898, Ladung zum 18.3.1898. Gegenbeispiel: dass.: 103/1901, Ladung ins Amtsgericht Mindelheim am 3.5.1902. Vgl. ebd., Ladung zum 3.12.1901; dass.: 42/1891, Ladung zum 4.5.1891. Dass.: 103/1901, Vernehmungen am 18.1.1902. Ebd., Gendarmeriebericht vom 10.1.1902; Vernehmungen des J.O., des J.A.F. und des M.O. vom 18.1.1902. Ebd., Vernehmung des M.A. am 18.1.1902. Ebd., Haftbefehl vom 18.1.1902.

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der früheren Gelegenheit den Gemeindediener Michael Seidl gefragt zu haben, ob dieser »vielleicht auch schon beim Unters[uchungs]Richter droben gewesen sei.«96 Obwohl der Untersuchungsrichter über das Zusammentreffen von Zeuginnen, Zeugen und Verdächtigen offenkundig beunruhigt war, trug er nicht dafür Sorge, dass es zu einer solchen Begegnung nicht kommen konnte. Ganz im Gegenteil wurde im Falle des Deichels am 9.6.1903 neben sechs Zeugen auch der Beschuldigte selbst zur Vernehmung in die Linder’sche Post in Biesenhofen geladen.97 Als es dann zwangsläufig zu einer kurzen Begegnung des abreisenden, gerade vernommenen Fidel Steck mit dem zu seiner Befragung anreisenden, des Meineids verdächtigten Anton Schmidt, kam, fragte der Untersuchungsrichter bei Schmidt skeptisch nach, ob dessen Verspätung etwa aus einer ausgiebigen Besprechung mit Steck resultierte – was dieser aber dementierte.98 Hinzu kam die Schwierigkeit, die Vernehmungsgespräche selbst geheim zu halten. Zwar nutzten Untersuchungsrichter offenbar bevorzugt Gaststätten, die über mehrere Etagen verfügten und in denen daher das obere Stockwerk als Vernehmungszimmer dienen konnte,99 während die Zeugen in den unteren Gasträumen warteten.100 Diese räumliche Trennung hätte eigentlich der Informationsdiffusion entgegenwirken können. Wie das Schreiben des Obergünzburger Pfarrers an den Präsidenten des Kemptener Landgerichts im Westenrieder Mordfall zeigt, schien diese Maßnahme jedoch nicht immer zur angestrebten Diskretion zu führen: »Ich ersuche nun, von einer Vernehmung in dieser Stunde und in dem mir bezeichneten Gasthause Umgang zu nehmen, weil ich weiß, daß das Geheimnis der angegebenen Erklärung einerseits durch die Lage des Vernehmungszimmers und andererseits durch den lauten Ton des H[errn] Untersuchungsrichters nicht mit Sicherheit gewahrt bleibt.«101

Er betonte, dass der Ausschluss von Personen nicht die Diskretion der Informationen sicherstellen würde. Seiner Sorge wurde in diesem seltenen Fall entsprochen und die Vernehmung erfolgte im Pfarrhofe in Obergünzburg.102 Grundsätzlich war es aus juristischer Sicht aber an einem so dezidiert als öffentlich geltenden Ort wie einem Gasthaus möglich, eine geheime Prozesshandlung durchzuführen. Wie im Gerichtsgebäude galt hier, dass eine Verhandlung sich in eine nicht-öffentliche Veranstaltung verwandelte, wenn man den Nicht-Befugten den Zutritt durch eine geschlossene Tür verweigerte. Die Gaststätte galt durch 96 StAA LG Ke - SK: 103/1901, Vernehmung des K.H. am 19.1.1902. 97 Vgl. dass.: 35/1903, Ladungen zu, 9.6.1903. Ähnlich bei dass.: 28/1899, Ladung zum bzw. Vernehmungen am 29.5.1899. 98 Dass.: 35/1903, Vernehmung des A.S. am 11.7.1903. 99 Zu lokalen Gaststätten: Petzet, S. 152, 154 und 168; Anonymus: Obergünzburg, v.a. S. 10, 13, 21. Dies galt insbesondere auch für das Gasthaus zur alten Post, einem mehrgeschossigen Bau, der von 1878 bis 1900 als Post diente und auch als Ort der Vernehmungen fungierte. Zur Gaststättenarchitektur allgemein: Wöhler, insb. S. 5–12. 100 StAA LG Ke - SK: 103/1901, Vernehmung des J.O. am 18.1.1901. 101 Ebd., Schreiben des H.G. vom 18.12.1901. 102 Ebd., Vernehmung des H.G. am 20.12.1901. Unklar muss bleiben, welche Rolle seine Respektstellung als Pfarrer bei dem Entgegenkommen des Richters spielte.

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dieses Nebeneinander von Öffentlichkeit und Privatheit auch als »semi-public sphere«.103 Dabei wurde offenbar die Nicht-Öffentlichkeit der Handlung mit Diskretion gleichgesetzt, was sich in der Realität jedoch nicht bewahrheitete. Dies galt auch, wenn die Vernehmungen direkt in den Wohnorten der Befragten stattfanden. Während in Kraftisried und Reinhardsried mehrere Gastwirtschaften vorhanden waren und für Vernehmungen genutzt wurden,104 fanden die Vernehmungen im Ort Schotten vermutlich in den jeweiligen Häusern der Vernommenen statt, bestand der Ort doch lediglich aus drei Gebäuden.105 Eine Vernehmung erfolgte etwa vor Ort, wenn gleichzeitig eine Tatortbegehung stattfinden oder der Verdächtige seine Aussage vor Ort plausibel machen sollte.106 Dadurch wurde jedoch für das Umfeld sichtbar, wer durch die Kommission befragt wurde. Darüber hinaus war je nach Bauweise des Hauses und dem Vorgehen des Untersuchungsrichters die Vernehmung für die restlichen Bewohner mit anzuhören. Die juristische Konzeption der geheimen Voruntersuchung wurde somit diskursiv und durch eine räumliche Trennung im Bauprogramm symbolisch unterstrichen. Sie ging davon aus, dass die Inhalte auch diskret blieben, wie nicht zuletzt der Ausschluss des Verteidigers und des Staatsanwaltes zeigt. Faktisch aber fand sie in öffentlichen Räumen statt und konnte die Kommunikation über die Ermittlungshandlungen kaum unterbinden, beförderte sie im Gegenteil sogar. Dadurch entstand für die Verfahrensbeteiligten eine Informationsgrundlage, an die mit direkten Fragen – etwa auf einem gemeinsamen Nachhauseweg oder an einem späteren Tag – angeknüpft werden konnte. Dieses Wissen stellte die Grundlage für das selbstständige Agieren vor Gericht dar. Die Öffentlichkeit der ›geheimen‹ Recherchen ging jedoch über das bislang Geschilderte noch hinaus.

1.2.3 Die sicht- und hörbaren Recherchen vor Ort Die Zustellung einer Zeugenvorladung war ein offizieller Akt, der durch die örtlichen Gendarmen oder Gerichtsdiener ausgeführt oder den lokalen Bürgermeistern überantwortet wurde.107 Die Tatsache, dass Zeuginnen und Zeugen im Einzelfall überrascht reagierten, wenn sie eine unerwartete Person im Zeugenzimmer erblickten,108 verweist darauf, dass im Regelfall eine recht genaue Vorstellung darüber vorhanden war, wer in der Verhandlung aussagen würde. Nur selten wurde vonseiten der Untersuchungsrichter in der Voruntersuchung Wert darauf gelegt, 103 Kümin/Tlusty, S. 9. 104 Ins Gablersche Gasthaus in Reinhardsried lud Untersuchungsrichter Hantmann vgl. StAA LG Ke - SK: 42/1891, Ladung zum 4.5.1891; in Kraftisried erfolgten Vernehmungen in der Gaststätte Zur Post, vgl. dass.: 117/1904, Ladungen zum 10.1. und 11.1.1905. 105 Dass.: 124/1890, Vernehmung des J.O. am 19.121890. 106 StAA LG A - SK: 67/1888, Vernehmung und Tatortbegehung am 2.12.1887. 107 Vgl. Kap. I.1.1; exemplarisch: StAA LG Ke - SK: 42/1891, Ladung zum 4.5.1891. 108 StAA LG A - SG: 1/1893, Gendarmeriebericht vom 14.10.1892.

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dass die Ladung möglichst unauffällig erfolgte. Dies wurde dann eigens – wie zum Beispiel nach der Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Hormüller im Dezember 1901 – angeordnet, um mögliche Besprechungen zu verhindern.109 Die Vorladung als Zeugin oder Zeuge beruhte in der Regel auf der Angabe der Gendarmen, dass eine Person eine bestimmte Aussage machen könnte. Das Ermitteln der Untersuchungsrichter und Staatsanwälte war ohne die Recherchen der örtlichen Gendarmen gar nicht möglich. Diese war jedoch alles andere als diskret. Zu den offensichtlichsten Handlungen gehörten neben der Hausdurchsuchung, Beschlagnahmung und Festnahme das Anfertigen von Skizzen oder das Absuchen großer Flächen nach Waffen oder anderen Hinweisen. Doch auch die Befragung von verdächtigen Personen, Opfern oder Zeuginnen und Zeugen war erstaunlich öffentlich.110 Dabei betonten die einschlägigen Handbücher, dass diese »in Abwesenheit des einer Strafthat Verdächtigen und einzeln zu vernehmen« seien.111 Dies sollte zum einen verhindern, dass der Befragte durch die Anwesenheit Dritter oder gar des Verdächtigen eingeschüchtert wurde, zum anderen sollte seine Aussage nicht sofort bekannt werden. Der juristischen Logik der Geheimhaltung sollte die polizeiliche Ermittlung somit ebenfalls verpflichtet sein. Zwar sahen Lehrbücher vor, dass Befragungen nur dann bei den Personen zu Hause erfolgen sollten, wenn diese unabkömmlich seien.112 Eine geheime Befragung in einer Gendarmeriestation war aber nur selten möglich. Bedenkt man, dass Kraftisried und Reinhardsried aus dem Fallbeispiel der toten Magd etwa drei Kilometer von der nächsten Gendarmeriestation in Unterthingau und Ob aus dem Fallbeispiel des Deichels von jener in Biesenhofen immerhin fast zehn Kilometer entfernt lagen, wird klar, dass es weitaus praktikabler war, die Personen in ihren Heimatorten zu befragen, als sie alle per Brief oder mündlich zur Gendarmeriestation zu bitten. Zudem lassen die zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten der Gendarmerien diese Vorstellung bereits als Fiktion erscheinen. Die Gendarmerie Bayerns war in Wohnräumen privater Anwesen mietweise untergebracht. Die Gendarmeriestation Unterthingau verfügte 1878 nur über einen Wohnbereich für die Familie des Stationskommandanten sowie ein einziges Mannschaftszimmer und musste sogar ein Arrestlokal separat anmieten.113 Eine Vernehmung oder nur Unterhaltung ohne Störung und ohne zusätzliche Zuhörer war wohl selbst in Städten wie Berlin kaum möglich.114 109 StAA LG Ke - SK: 103/1901, Ladung zum 12.12.1901. 110 In Abgrenzung zu den gerichtlichen Aussagesituationen handelte es sich hierbei jedoch nicht um Vernehmungen, die zu protokollieren waren oder durch einen Eid begleitet werden konnten, vgl. Ortloff : Hauptverhandlungsprotokolle, S. 242 f. 111 Genzmer, S. 32; im Hinblick auf Kinder auch Weingart, S. 47. 112 Stieber, S. 65. 113 StAA Bezirksamt Marktoberdorf, Abg. 1985; Generalakten und Spezialakten: VII/74; dass.: VII/101. 114 Vgl. zu den Räumen in Berlin in den 1860er und 1870er Jahren Roth: Kriminalitätsbekämpfung, S. 111 f.

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Wie wenig von einer abgeschirmten Befragung die Rede sein konnte, zeigen die ersten Befragungen Anton Schmidts über die verschwundenen Deicheln in Ob. Sergent Drexel und Gendarm Zachenbacher hatten mit ihm gesprochen, um zu erfahren, wie viele und welche Deicheln er für seinen früheren Dienstherren Steck geholt hatte. Für die erste Befragung suchte Drexel ihn am 14.8.1902 auf seiner neuen Arbeitsstätte in Gehren auf und ließ sich von dessen Arbeitgeber Josef Cnauf zu dem Arbeitsort auf dem Feld mitnehmen. Dabei erklärte Drexel auf Nachfrage, dass es um die bereits öffentlich bekannte »Deichelgeschichte« gehe.115 Auf dem Feld angekommen, rief Drexel Schmidt zu sich.116 Dabei standen sowohl Cnauf als auch die weiteren Beschäftigten während der Befragung so nahe, dass sie das Gespräch hören konnten. Sie alle gaben später zu Protokoll, dass der Sergent Anton Schmidt in ganz ruhigem Ton gefragt habe, »wie es sich mit den Deicheln verhalte«, und dieser bereitwillig zugegeben habe, dass er für Fidel Steck zwei Deicheln geholt habe.117 Die Unterredung war auch vom benachbarten Feld, auf dem Schmidts Vater arbeitete, gut zu beobachten, und Josef Schmidt ging zu seinem Sohn, um zu erfahren, was der Gendarm von ihm gewollt habe.118 Als zwei Wochen später Gendarm Zachenbacher erneut auf dem Feld erschien, wurde – auch nach Ansicht des Gendarmen – das Gespräch vom Dienstherren Cnauf, der Dienstmagd sowie dem Tagelöhner mit angehört.119 Schmidt behauptete später, er habe sich gerade wegen der Gegenwart seines Dienstherren und dessen Freundschaft zu dem bestohlenen Gastwirt Fleschutz bei der zweiten Befragung nicht getraut, die Wahrheit zu sagen, nämlich dass Steck unschuldig sei.120 Schmidts Arbeitsumfeld war somit von Beginn an über seine Aussage bestens informiert und brachte sich in die Bewertung mit ein. Von einer abgeschirmten Befragung, wie sie die Lehrbücher vorsahen, kann nicht gesprochen werden. Das Vorgehen, die Personen in Gegenwart Dritter zu befragen, stellte keinesfalls einen Sonderfall dar und wurde auch nicht problematisiert. So kam es zwar im Falle des Schmidt zu längeren Nachfragen, ob Gendarm Drexel sich gegenüber Schmidt bei der Vernehmung im Ton vergriffen habe,121 die Anwesenheit von Dritten jedoch wurde offenbar als normal betrachtet. Spätestens mit der offiziell zugestellten Vorladung, in der Regel aber schon während der polizeilichen Recherchen, wurde dem Umfeld vor Augen geführt, 115 StAA LG Ke - SK: 35/1903, Vernehmung des O.D. am 29.5.1903. 116 Dass.: 21/1902, Vernehmung des A.A. am 16.8.1902. 117 Vgl. ebd., Vernehmungen des J.C. am 10.6., der A.M.S. am 14.7. und des A.A. am 16.8.1902; Zitat aus: ebd., Vernehmung des A.A. am 16.8.1902. 118 Ebd., Vernehmung des J.S. am 16.8.1902. 119 Dies wird sowohl vom Gendarmen, der Dienstmagd als auch vom Dienstherrn bestätigt: ebd., Vernehmungen des J.C. am 10.6., des G.Z. am 25.6. und der A.M.S. am 14.7. und des A.A. am 14.8.1902; dass.: 35/1903, Vernehmung des J.C. am 9.6., des J.C. am 23.7. und der A.M.S. am 28.7.1903. 120 Ebd., Vernehmung des J.C. am 23.7.1903. 121 In den Meineidermittlungen gegen Anton Schmidt verteidigt sich dieser u.a. mit dem Hinweis, dass der Gendarm ihn grob behandelt und er sich daraufhin – verängstigt und irritiert – bei seiner ersten Aussage geirrt hätte. Vgl. ebd.

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welche Personen als Informationsquellen betrachtet wurden. Häufig war es sogar möglich, den Inhalt der Gespräche wahrzunehmen. Eine personelle oder inhaltliche Geheimhaltung wurde hier weder praktiziert noch angestrebt. Geteiltes Wissen aller Orten – ein Kapitelfazit Die Öffentlichkeit der Prozesse sollte die Bevölkerung auch über die Aufgaben und Funktion der Gerichte aufklären. Die Neubauten des Kaiserreichs demonstrierten daher durch die Ausgestaltung der Räume den Ernst und die Würde der dort tagenden Institution. Die Aufteilung der Gebäude und die Anordnung im Gerichtssaal brachten optisch die juristischen Hierarchien und Rollenverteilungen zum Ausdruck. Auch wenn nicht alle Gerichtsgebäude dieser idealtypischen Ausgestaltung entsprechen konnten, waren wesentliche Elemente der juristischen Selbstkonstruktion für ›Laien‹ erfahr- und beobachtbar. Dabei führte die Konzeption des Geheimen zur Schaffung separater Räume, die eine zeitweise Diskretion der dort vollbrachten Prozessschritte gewährleisten sollten. Die Anwesenheit von Journalisten in ›geheimen‹ Sitzungen und die Öffentlichkeit der Urteilsverkündung zeigen, dass das konzeptionelle Ziel in der Steuerung der Informationsweitergabe lag. Und obwohl die Juristen warnten, dass es die Wahrheitssuche schädige, wenn die Richtung der Recherchen vorzeitig bekannt würde, wurde dies durch die Praxis der Gerichte konterkariert. Denn bereits die ersten polizeilichen Ermittlungen fanden vor den Augen des sozialen Umfeldes statt, ohne dass hierin ein Bruch der Geheimhaltungsfiktion gesehen wurde. Die bislang von der Forschung übersehene Praxis, Vernehmungen in Gaststätten sowie vor Ort durchzuführen, schuf für alle am Verfahren Beteiligten eine Informationsgrundlage, auf der anschließend in persönlichen Gesprächen auch nach den Inhalten der Aussagen gefragt werden konnte. Die Zeuginnen und Zeugen, die gemeinsam im nicht bewachten Zeugenzimmer saßen, blieben lediglich vom Geschehen im Gerichtssaal getrennt, konnten sich aber gegenseitig beeinflussen. Die vorgesehene Trennung des Angeklagten von Zeuginnen, Zeugen und Publikum wurde überall dort durchbrochen, wo der Beschuldigte nicht verhaftet und so spätestens auf dem Weg ins Gericht oder auf den Gängen desselben mit anderen ins Gespräch kommen konnte. Bedenkt man, dass gerade bei Verhandlungen vor Schöffengerichten und Strafkammern zuweilen nur eine geringe Anzahl an Personen der öffentlichen Hauptverhandlung als Zuschauer folgte, dann stellt sich die Frage, ob der Grad an Öffentlichkeit in diesen als ›geheim‹ geltenden Verfahrensabschnitten vor der Anklageerhebung nicht faktisch ähnlich groß war wie die einer öffentlichen, nichtsensationsgeladenen Hauptverhandlung. Wenn die wesentlichen Inhalte der ersten Schmidt’schen Aussage von mindestens drei Personen mit angehört worden war, konnte die untersuchungsrichterliche Vernehmung auch hinter der geschlossenen Tür einer Gaststätte stattfinden. Dass Anton Schmidt gerade aussagte, war klar beobachtbar, und was er vermutlich aussagen würde, war aus Sicht des Umfeldes zunächst erwartbar. Nur wenig blieb dem Umfeld bei einer ›geheimen‹ Recher134

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che unbekannt. Wesentlich für die Öffentlichkeit auch ›geheimer‹ Handlungen waren zwei Dinge. Erstens breiteten sich die gewonnenen Informationen im Handumdrehen aus, sodass ein enorm dichtes »geteiltes Wissen« – eine Öffentlichkeit – entstand. Zweitens stellten die Vernehmungen und Recherchen von Polizei und Untersuchungsrichter eine von diesen nicht ausreichend beachtete Informationsquelle für die Vernommenen über Verfahrenslogiken aber auch konkrete Ermittlungsstände dar. Neben der direkten Anschauung konnte sich die Bevölkerung auch durch die mediale oder diskursive Vermittlung eine Vorstellung von den Aufgaben und der Funktion der Strafjustiz machen.

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2. Das mediale Bild des Gerichts – lokale und überregionale Informationen

Die Augsburger Zeitung berichtete am 18.11.1879, dass in der Verhandlung um halb neun der Oberlandesgerichtsrat Mayer das 1. Ordentliche Schwurgericht mit einer Ansprache eröffnet hatte und das Gesuch von Bürgermeister Georg Tode von Eisenbrechtshofen und des Bierbräuers Anton Ziegler von Unterknörringen, aus dem Geschworenendienst entlassen zu werden, abgelehnt worden war.1 Die Leserinnen und Leser erfuhren, dass im ersten Fall ein 22-jähriger Dienstknecht namens Isidor Müller aus Sulzbach wegen versuchten Totschlags an dem Knecht Josef Bilderbogen angeklagt gewesen war, mit dem er gemeinsam in der Sägemühle bei Prassenhofen gearbeitet hatte. Der Angeklagte hätte vorgebracht, das Opfer wäre betrunken nach Hause gekommen und hätte einen Streit angefangen und den Angeklagten angegriffen, der sich daraufhin nur gewehrt haben wolle. Das Opfer wurde zweimal vereidigt, auf dem Krankenlager vernommen und widersprach dieser Darstellung. Die Geschworenen erklärten Müller für schuldig und derselbe wurde darauf hin zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Artikel führte an, dass Oberlandesgerichtsrat Meyer das Verfahren leitete, dass der Erste Staatsanwalt Deuber die Anklage und der »kgl. Advokat« Putz die Verteidigung geführt hatten und listete auch die Namen der zuständigen Geschworenen auf. Dieser Artikel erscheint auf den ersten Blick in Länge und Umfang unspektakulär zu sein und ist doch für die zeitgenössische Presseberichterstattung typisch. Selbst wenn jemand noch nie einen Blick in den Gerichtssaal geworfen hatte, so vermittelten die Medien ihm oder ihr ein umfassendes Bild der Strafjustiz. Insbesondere die lokalen Presseberichte ließen die in den umliegenden Städten liegenden Gerichte als Ort der Nachbarschaft erscheinen: Die Leser wurden nicht nur Teil einer ›gedachten Gemeinschaft‹ des Gerichtsbezirkes, sie erfuhren auch, dass im wahrsten Sinne des Wortes ihre Nachbarn dort ihre Konflikte austrugen.2 Während Lokalzeitungen das Gericht vor allem als Ort der unspektakulären und seriellen Entscheidung zeigten, war die Justiz in überregionalen Zeitungen, in literarischen und filmischen Medien stärker ein dramatischer Ort. In der Summe lieferte die mediale Aufbereitung umfassende Informationen darüber, wie Justiz funktionierte, und orientierte sich dabei an juristischen Logiken und Termini. Damit schuf sie 1 AZ 18.11.1879. 2 Vgl. zum Konzept der »gedachten Gemeinschaft« Anderson: Erfindung der Nation.

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eine Wissensgrundlage in der Bevölkerung, die durch sie in Grenzen selbstständig und machtvoll agieren konnte. Die Prozess- und Kriminalitätsberichte waren jedoch nicht ohne Hürden, waren die Medien des Kaiserreichs von einem grundrechtlich geschützten Status doch weit entfernt. Insbesondere im Zusammenhang mit der Justizgesetzgebung war die umstrittene Rolle der Presse überdeutlich geworden.3 Zu den klassischen Streitpunkten gehörte das Zeugnisverweigerungsrecht von Journalisten. Den Journalisten stand kein Redaktionsgeheimnis zu, im Zweifel konnten sie gezwungen werden, den Urheber eines Artikels zu benennen. Hierzu konnten Journalisten verhaftet und Redaktionsräume durchsucht werden4 – was im Fall der ermordeten Dienstmagd Gast 1901 bei der Allgäuer Zeitung aufgrund eines falschen Berichts über eine vermeintliche Verhaftung erfolgte.5 Den Hintergrund bildete das Reichspressegesetz von 1874, das nur sehr begrenzt eine freie Presse garantierte. Gemäß Paragraph 17 durften die Anklageschrift »oder andere amtliche Schriftstücke eines Strafprozesses« erst dann veröffentlicht werden, wenn dieselben in der öffentlichen Verhandlung verkündet und als Beweis eingebracht oder aber das Verfahren beendet worden war. Das Ziel war, die Unbefangenheit der Verfahrensbeteiligten durch eine vorzeitige Information nicht zu beeinträchtigen. Das Reichsgericht legte jedoch einen weiten Maßstab an, was alles zu den »anderen Schriftstücken« gehörte und schränkte damit die Arbeit der Presse merklich ein.6 Die neuen Experten der Kriminologie forderten darüber hinaus, dass Journalisten keine Zeugen befragen sollten, um nicht die Qualität einer Zeugenaussage zu schmälern.7 Unter den Titeln des Hochverrats, diverser Beleidigungstatbestände, Aufhetzung und phasenweise im Rahmen des Sozialistengesetzes drohte außerdem schnell eine Strafverfolgung der Journalisten.8 Die Berichtsgrenzen, die gründliche Nachzensur und drohende Verhaftungen erschwerten die Arbeit.9 Redakteure beklagten eine aktive Kriminalisierung durch eine Überdehnung der Strafgesetze.10 Nachdem 1883 durch eine Änderung der Reichsgewerbeordnung die Vorzensur wieder eingeführt worden war, fielen hierunter insbesondere auch die vermeintlich zur Nachahmung anregenden »Mordoder Schauer-Romane«.11 Anders als bei Berichten über Parlamentssitzungen schützte selbst eine wahrheitsgemäße Berichterstattung nicht vor einer strafrecht3 Vgl. Kap. I.3.1.3 und Ortmann: Wahrheitsanspruch. 4 Einen entsprechenden Passus hatte die Reichstagsmehrheit bei der 3. Lesung des Reichspressegesetzes doch noch entfernt. Auch die Reichsstrafprozessordnung enthielt trotz einer Petition des Journalistenverbandes und anderslautender Vorarbeiten letztendlich kein Recht zur Zeugnisverweigerung, vgl. Giesen, S. 48–59 und 79–103. 5 Vgl. StAA LG Ke - SK: 103/1901, Schreiben und Protokoll vom 16. und 17.12.1901. 6 Mahlich, S. 13 f.; Glaser: Presse, S. 75–78. 7 Schneikert: Psychologie, S. 32. 8 Széchényi, S. 167–179; Mahlich, S. 26–38. Zur zeitgenössischen Einschätzung: Naujocks, S. 194–202. Einen detaillierten Überblick bot zeitgenössisch Glaser: Presse, S. 80–112. 9 Vgl. Müller: Auf der Suche, S. 41 f.; Johnson, S. 57 f. 10 Giesen, S. 59–79 und 104 f. 11 So die Münchener Polizeidirektion in der Anweisung, zit. nach: Széchényi, S. 178.

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lichen Verfolgung, sofern der Inhalt des Artikels mögliche Beleidigungen, Aufrufe zu staatsfeindlichen Akten, unmoralische Darstellungen oder Gotteslästerungen aus dem Prozess reproduzierte.12 Trotz dieser normativen Regelungen, durch die Journalisten und Künstler fortwährend mit strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen hatten, bildeten Recht und Kriminalität ein omnipräsentes und durchaus kritisches Thema für Publizistik, Literatur und Bildmedien.

2.1 Das Gericht als Nachbar – der Nachbar vor Gericht Weit mehr als in den von der Forschung bislang vorrangig betrachteten überregionalen Tageszeitungen,13 fand sich das Alltägliche der Justiz in den Tausenden von Lokalzeitungen.14 Während nahezu alle dörflichen Familien im Kaiserreich ein Lokalblatt bezogen, abonnierte nur knapp die Hälfte eine größere Tageszeitung und lediglich die lokale Elite – wie der Bürgermeister – nahm die überregionalen Medien direkt zur Kenntnis.15 Dennoch waren die überregionalen Diskussionen wichtige Orientierungspunkte für die gesamtgesellschaftliche Debatte über Justiz. Schließlich war auch die Landbevölkerung durch familiäre, mediale und wirtschaftliche Kontakte eng mit den städtischen und überregionalen Kommunikationsräumen verbunden.16 Wenn also im Folgenden den Fragen nachgegangen wird, welches Bild über die Funktion des Strafverfahrens in den Medien transportiert wurde, muss der Blick sowohl auf die lokale als auch die überregionale Presse gerichtet werden. Herangezogen wird dafür eine Stichprobe des 1883 gegründeten Oberdorfer Landboten (OL),17 dessen Adressatenkreis neben Marktoberdorf vor allem im ländlich geprägten Umfeld zu verorten ist.18 Er erschien mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage täglich und richtete sich – zieht man die Annoncen heran – neben dem ländlichen und städtischen Bürgertum auch an Landarbeiter.19 Ergänzend wird die

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Mahlich, S. 26 f. Hennig; Linder/Ort: Zur sozialen Konstruktion, S. 21; Imm, S. 386; Weiler, S. 171–180. Gemäß Johnson, S. 57, waren 1910 von den 3929 Zeitungen lediglich 20 überregional. Troßbach/Zimmermann, S. 227 f.; Johnson, S. 56 f. Zur kommunikativen Verwobenheit der ländlichen Gesellschaft Troßbach/Zimmermann, S. 172–243, v.a. 177 f., 201–205, 219–230. 17 Gründungsdatum bei: Heydenreuter, S. 46. 18 Herangezogen wurden die Jahrgänge 1890–1892, 1898, 1901, 1913, 1923. Frühere Jahrgänge sind nicht vorhanden, vgl. Einleitung. Sofern nicht anders angegeben, beziehen sich die nachfolgenden Aussagen auf die gesamte Stichprobe, weshalb auf einzelne Belege verzichtet wird. 19 Die Zeitung informierte über Politik, Konzerte, Vereinssitzungen, landwirtschaftliche Anliegen und veröffentlichte Annoncen über offene Stellen für Mägde und Knechte.

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Augsburger Abendzeitung (AZ) herangezogen, welche im städtischen Milieu des Schwurgerichtssitzes verortet war und eine national-liberale Ausrichtung hatte.20

2.1.1 Alltagsjustiz in der schwäbischen Lokalpresse Der Oberdorfer Landbote informierte seine Leser regelmäßig über Strafprozesse der Landgerichte Kempten und Augsburg und die Verhandlungen vor den Amtsgerichten in Oberdorf, zunächst auch in Obergünzburg und Deggendorf.21 Die Artikel waren nicht nur nach den einzelnen Gerichtsarten getrennt, sie folgten auch einer zweifachen Relevanzlogik bei Reihenfolge und Umfang. Zum einen standen Schwurgerichtsberichte vor Artikeln über Strafkammern und Schöffengerichte, zum anderen hatten lokale Gerichte bzw. Verhandlungen unter Beteiligung von lokalen Einwohnern Vorrang vor überregionalen Gerichtsverhandlungen. Damit wurde eine Hierarchie widergespiegelt, die aus juristischer Sicht der Schwere – nicht der Häufigkeit – der Delikte und aus journalistischer Sicht der Sensationsfähigkeit der Berichte entsprach.22 Im Gegensatz zur AZ berichtete der OL nicht über alle verhandelten Fälle des Augsburger Schwurgerichtes.23 Die Berichte selbst fielen aber, insbesondere wenn Personen aus der Region beteiligt waren, ausführlicher aus.24 Berichte über Strafkammerverfahren vornehmlich in Kempten fanden sich im OL offenbar vor allem dann, wenn es sich um ein besonders Aufsehen erregendes25 Verbrechen handelte oder wenn es einen lokalen Bezug gab.26 Im Vergleich zu den Berichten aus den Landgerichten waren die Berichte über die Schöffenverhandlungen knapp gehalten. Insgesamt handelte es sich hierbei eher um Benachrichtigungen, erfuhr man doch neben dem Namen, dem Beruf und dem Wohnort der Schöffen und des Angeklagten nur noch das Delikt und das Urteil – in der Regel frei von jeglicher Kommentierung oder weiterführenden Informationen über den Verlauf der Verhandlung.27 Was zählte, war in diesen Fällen das Ergebnis sowie die Identifizierbarkeit der Verurteilten. Neben sachlicher Neugier wurde hier offenbar auch eine personelle Neugier der Leser unterstellt, welche ihr überregionales Pendant in der Bericht20 Koszyk, S. 153. Die Augsburger Abendzeitung wurde für die Jahre 1879–1887 ausgewertet, für die keine Überlieferung des Oberdorfer Landboten vorhanden ist. 21 Berichte aus Amtsgerichten spielten hingegen in der AZ keinerlei Rolle. 22 Vgl. zur qualitativen Relevanz in überregionalen Zeitungen: Hennig, S. 351. 23 In der Regel berichtete die AZ während der zwei- bis dreiwöchigen Sitzungsphase des Schwurgerichtes mehrfach über die in den Tagen zuvor verhandelten Prozesse. Exemplarisch: AZ 11.2.–27.2., 26.4.–15.5., 1.7.–13.7., 12.10.–2.11., 30.11.–19.12.1881. Die Redaktion der AZ widmete ihnen ein bis zwei Spalten und referierte dabei die einzelnen Prozesse in chronologischer Reihenfolge und im Umfang von zehn bis 60 Zeilen. 24 Exemplarisch: OL 4.3.–13.3.1913 und 17.4.–21.4.1913. 25 Raubmord in Traunstein: OL 1.2.1898; Mord: 23.2.1898; 31.5.1898; 4.7.1913. 26 OL 9.2.1898; 12.2.1898; 9.1.1913; 12.4.1913; 6.2.1923. 27 Ausnahmen: OL 13.1.1898; 1.2.1898.

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erstattung über Prominente fand.28 Diesem entsprach auch die Berichterstattung über vorläufige Verhaftungen von Verdächtigen, bei denen ebenfalls Name und Verdacht öffentlich kund gegeben wurden.29 Dass die Redaktion gelegentlich auf den Abdruck der ausgelosten Geschworenen verzichtete, wenn »aus hiesiger Gegend« niemand darunter war,30 bestätigt, dass der Regionalbezug Priorität hatte. Zunächst handelte es sich in der Lokalpresse also um regelmäßige Berichte, die umso umfangreicher waren, je unterhaltender ein Verfahren für die Leserschaft war. Neben spektakulären Delikten war dafür ein personeller oder sachlicher Bezug zum Erscheinungsort der Zeitung und damit zur Leserschaft zentral. Das Geschehen in den Artikeln hatte einen klaren Beginn (= die ›Tat‹) und ein eindeutiges Ende (= das ›Urteil‹) und folgte damit der Konstruktion eines Falles, wie er auch durch die Gerichtsakten präsentiert wurde. Der möglicherweise zugrunde liegende soziale Konflikt war in der publizistischen Repräsentation verschwunden. Die formale Seite des Verfahrens trat hinter der Dramatik der Kriminalität und das Urteil zurück. Kam es vereinzelt mithilfe der Aussagen, Plädoyers, Beweise und Gutachten doch zu ausführlicheren Schilderungen, wurden im Einklang mit dem gefällten Urteil die Tat sowie die Angeklagten näher beschrieben. Im Laufe des Untersuchungszeitraumes veränderte sich die Berichterstattung: Die Artikel über Strafprozesse wurden seltener und kürzer und konzentrierten sich bei den Schöffengerichten vorübergehend nur noch auf jenes in Marktoberdorf.31 Im beginnenden 20. Jahrhundert enthielten die Berichte keine Uhrzeiten oder Namen der Gerichtspersonen mehr, sondern konzentrierten sich weitgehend auf die Tat und den Täter.32 Die Berichte aus dem Augsburger Schwurgericht wurden vereinzelt länger, umfassten jedoch nur noch ausgewählte Verfahren und schilderten den Prozessverlauf selbst nicht. Die Nachrichten beschränkten sich gelegentlich sogar auf eine summarisch-statistische Zusammenfassung, der lediglich die Anzahl der Fälle, Urteile und Deliktverteilung zu entnehmen war.33 1923 schließlich wurde im Oberdorfer Landboten nur noch ab und zu über einzelne Verurteilungen in Amts- oder Landgerichten berichtet. Der Verfahrensort, der Ablauf und die Verfahrensbeteiligten wurden vollkommen zum Verschwinden gebracht. In diesen Berichten standen ausschließlich der Täter und das Urteil im Fokus – das Gericht wurde dabei zum Ort der anonymisierten Entscheidung.34 Kommentierungen oder gar Kritik an der Justiz lassen sich weder implizit noch explizit aufzeigen. Dass die formalen 28 29 30 31

Vgl. Hennig, S. 351; Smaus, S. 174. OL 11.1.1898; 26.2.1898; 5.5.1898; 18.8.1898. OL 2.1.1913. Fanden sich im Oberdorfer Landboten im Jahre 1898 noch über 30 summarische Berichte über die Schöffengerichtsverhandlungen von Marktoberdorf, Obergünzburg und Deggendorf sowie Berichte über die Strafkammer in Kempten und das Schwurgericht in Augsburg (inklusive Tagesordnung und Geschworenenliste), so war die Berichterstattung bereits 1913 deutlich zurückgegangen. Vgl. OL 1898 und 1913. 32 Vgl. Exemplarisch: OL 3.3.1913; 4.3.1913; 7.5.1923. 33 OL 30.4.1913; 18.7.1913. 34 OL 7.5.1923; 6.6.1923; 11.6.1923; 16.6.1923; 7.7.1923.

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Details zum Verfahren zusehends zugunsten einer Fokussierung auf Tat und Täter verschwanden, widersprach dem reichsweit beobachteten – und vermutlich auf Skandalprozessen beruhenden – Trend, dem Gerichtsverfahren als solchem nach 1900 mehr Aufmerksamkeit in Literatur und Publizistik zu schenken.35

2.1.2 Juristische Logiken und personenbezogene Informationen in der schwäbischen Lokalpresse »Hiergegen legte Steck nunmehr Berufung ein.«36

Trotz der im Laufe der Zeit zunehmenden Kürze enthielten die Artikel eine erstaunliche Anzahl an impliziten und expliziten Informationen über die juristischen Logiken des Verfahrens. Durch die Fokussierung auf Tat und Täter erfuhren die Leser stets etwas über die typische Strafhöhe von einzelnen Delikten. Die ausführlicheren Artikel definierten die Merkmale des Deliktes und erwähnten die zentralen Beweismittel. Auch dass die Richter die Untersuchungshaft auf die Gefängnisstrafe anrechnen konnten, war zu lesen.37 Die Hierarchie der Gerichte sowie die Unterschiede in der jeweiligen Zuständigkeit und im Sitzungsalltag wurden nachvollziehbar. So konnte anhand der Artikelhäufigkeit im Einzugsbereich des Oberdorfer Landboten wahrgenommen werden, dass Schöffengerichtssitzungen deutlich häufiger stattfanden als Schwurgerichte und dass pro Sitzungstag zwischen zwei und zwölf Verhandlungen durchgeführt wurden, für die dann zwei namentlich bekannte Schöffen fungierten.38 Durch die Urteilszentrierung machten die Artikel deutlich, über welche Delikte die jeweiligen Gerichte urteilten und dass die Strafkammer Kempten als Berufungsinstanz für die Schöffengerichte Füssen und Schongau diente.39 Die Leserinnen und Leser des Oberdorfer Landboten sowie der Augsburger Abendzeitung erfuhren, dass Schwurgerichte feste Sitzungsperioden hatten, in denen sie für mehrere Wochen tagten; dass hierfür jedes Mal eine sogenannte »Spruchliste« erstellt wurde, in der die Namen, Berufe und Wohnorte jener Männer verzeichnet waren, welche als Geschworene tätig werden würden. Dass einzelne Berufsgruppen gar nicht in diesen Listen auftauchten (Lehrer, Dienstboten etc.), konnte von aufmerksamen Leserinnen und Lesern bemerkt werden.40 Der Abdruck der Tagesordnung mit detaillierten Uhrzeiten des Schwurgerichts bis 1923 machte nicht nur deutlich, 35 36 37 38 39 40

Dazu: Linder/Ort: Zur sozialen Konstruktion, S. 21 f. OL 25.2.1902. OL 24.1.1913; 6.3.1913. Exemplarisch: OL 4.1.1898; 13.1.1898; 16.8.1901. OL 12.1.1898; 21.3.1898. Die Berichte in der AZ machen keine weitergehenden Angaben über die Namen hinaus, vgl. AZ 18.11.1879, 19.11.1879; OL listet die ausgelosten Männer unter Angabe von Beruf und Ort auf, vgl. OL 12.2.1898; 14.12.1898; 29.3.1913.

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dass und wann man an diesen Verhandlungen teilnehmen konnte, sondern auch, dass die Verhandlungen zwischen einem halben bis einem Tag dauerten.41 Damit erschien die Justiz als Ort von routiniertem und ernsthaftem Arbeiten. Zu diesem Eindruck trug bei, dass in Sitzungsphasen des Schwurgerichtes die summarischen Berichte über die Verhandlungstage über mehrere Tage verteilt jeweils den Umfang von einer Kurznotiz bis hin zu einer Seite einnahmen – bei einem Gesamtumfang der Zeitung von vier Seiten.42 Verstärkt wurde dieser Effekt noch durch die veränderte Berichterstattung, bei der die Details zum Ablauf der Verfahren zusehends verschwanden. Hinsichtlich des Verfahrensablaufes wurden nur einzelne Informationen publik. Man erfuhr, dass Verbrecher zuweilen ihre Tat leugneten und daher vom Vorsitzenden zur Wahrheitsangabe ermahnt wurden.43 Die Wortwahl der Berichte machte deutlich, dass es unwahrscheinlich sei, dass sich jemand an die Geschehnisse seiner Tat nicht erinnere. Die Pflicht, die Wahrheit auszusagen, erschien dadurch als ein moralisches Gebot, jedoch wurde nichts darüber geschrieben, dass es unter Juristen durchaus strittig war, in wie weit diese Pflicht bestand und insbesondere, ob man den Angeklagten zur wahrheitsgemäßen Aussage ermahnen dürfe. Auch dass der Angeklagte durchaus nicht verpflichtet war, überhaupt auszusagen, wurde an dieser Stelle nicht thematisiert.44 Dafür gehörte es in den Aufgabenbereich des Richters, für ein angemessenes Ergebnis und ein als passend empfundenes Verhalten des Angeklagten Sorge zu tragen. Außerdem erfuhr man, dass Geschworene auch über mildernde Umstände urteilten. Und man konnte beobachten, dass zunächst der Schuldspruch der Geschworenen erging und dass danach der Staatsanwalt die Strafhöhe beantragte, über welche dann die Richter entschieden.45 Ein Bericht im Jahre 1913 machte außerdem deutlich, dass die Justiz zu widersprüchlichen Ergebnissen kommen und welche Konsequenzen eine Zeugenaussage nach sich ziehen konnte: Nachdem ein Wirt in der Berufungsverhandlung vom Vorwurf der Körperverletzung freigesprochen worden war, hatte ihn ein Zivilgericht dennoch zu Schadensersatz verurteilt. Die Zeitung bemerkt, dass das Zivilgericht ihn damit »doch noch nachträglich für den Täter« erklärt und den Entlastungszeugen keinen Glauben geschenkt habe. Daher habe das Gericht die Prozessunterlagen »an die Staatsanwaltschaft hinübergeleitet«, welche gegen die Zeugen Anklage wegen Meineids erstattet habe.46 Ergänzend informierten Artikel 1879 umfangreich über das neue Strafverfahrensrecht und die personelle wie sachliche Zusammensetzung der Gerichte.47 Die Strafrechtsreformen des Kaiserreichs wurden in dezidiert juristischen Begriffen 41 Exemplarisch: OL 25.2.1898 und 13.4.1913. 42 Vgl. exemplarisch OL 1.3.1898–21.3.1898; OL 11.5.–1.6.1898; 21.9.–14.10.1898; 29.11.– 24.12.1898. 43 OL 29.1.1913. 44 Vgl. zur Rechtslage Kap. III.2. 45 OL 6.3.1913; 17.4.1913. 46 OL 10.3.1913. 47 Vgl. AZ 14.4.1879; 16.11.1879; 18.11.1879.

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und anhand juristischer Relevanz- und Ordnungskategorien geschildert. Und die Autoren diskutierten sporadisch über anstehende Reformvorhaben des Reichstages.48 Möglicherweise handelte es sich bei den Autoren um juristische Gebildete oder praktizierende Juristen, war doch zumindest Augsburg als Zentrum diverser Gerichte ein Ort mit einem hohen Anteil an Juristen. Bezüglich des Adressatenkreises sind die Artikel nicht eindeutig zu klassifizieren. Einerseits waren sie teilweise mit Fachtermini gespickt und enthielten Details, die nahezu ausschließlich Personen aus dem Umfeld der Justiz interessiert haben dürften.49 Andererseits finden sich auch Artikel, die offenkundig juristisch nicht Gebildete belehren wollten.50 Die Lokalberichte machten ihre Leser also mit den grundsätzlichen Strukturen und Verfahrensweisen des Strafprozessrechtes vertraut. Wesentlich ist dabei, dass sich die Schilderungen eng an der juristischen Logik und Terminologie orientierten. Das aus der Lektüre zu gewinnende Wissen über die Strafjustiz war somit grundsätzlich anknüpfungsfähig an den juristischen Fachdiskurs und die Erwartungshaltung der Berufsjuristen. Für die Bevölkerung eröffnete es die Möglichkeit, sich in der Justiz zu orientieren, verständlich zu machen und ihre Rechte zu nutzen. Eine selbstständige Partizipation wurde somit vereinfacht. Grundsätzlich war durch die vorbereitenden Ankündigungen, die Tagesordnungen wie auch die summarischen Berichte der Personenkreis, der in den Verfahren eine zentrale Rolle spielen sollte, namentlich bekannt. Ganz sicher erfuhr man bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes den Namen des Angeklagten und das ihm zur Last gelegte Delikt. Da hier in der Regel mindestens eine Angabe des Wohnortes, häufig auch Informationen zum Alter, Familienstand, Beruf und Arbeitgeber erfolgten, war eine eindeutige Identifizierung desselben für das Umfeld kein Problem.51 Außerdem wurden Vorstrafen, Beziehungen, sittliche Verfehlungen, sowie natürlich der vermutliche Ablauf des kriminellen Geschehens einem Personenkreis preis gegeben, vor dem man diese Details bisher vielleicht verheimlicht hatte. Die ausführlicheren Berichte versahen die Beteiligten zusätzlich mit Charakterisierungen, welche häufig einem alltagsweltlichen Tat-/Täter-Stereotyp entsprachen: Der verurteilte Münzverbrecher etwa sei »noch nie ein Freund der Arbeit« gewesen, sondern »liebte mehr das Wirtshaus«, weshalb es dem Leser nur folgerichtig erscheinen musste, dass er das für seine vielköpfige Familie benötigte Geld gleich selbst hergestellt habe.52 48 Die Leser des Oberdorfer Landboten erfuhren 1898, dass die Militärstrafprozessordnung abgeändert werde (OL 3.1.1898), dass der Reichstag beriet, ob ein Zeuge künftig vor oder nach seiner Aussage zu vereidigen sei (OL 17.1.1898), und dass das Oberste Landesgericht auch weiterhin bestehen werde (OL 14.4.1898). Die Thematisierung von Prozessreformen hebt auch Linder hervor. 49 Etwa die genaue Neuordnung der Gerichtsbezirke (AZ 14.4.1879), die zukünftige Personalausstattung, Rangverhältnisse und Besoldung der Gerichtsbeamten (AZ 23.7.1879 und AZ 25.7.1879) sowie die geplanten neuen Disziplinarvorschriften (AZ 27.7.1879). 50 Offenbar aus gegebenem Anlass stellte der OL klar, dass auch in den Gerichtsferien Klagen und Zahlungsbefehle eingereicht und bearbeitet werden könnten und dass es nach Ende der Ferien zu Verhandlungsterminen komme (OL 4.8.1898). 51 So auch in der kursorisch dokumentierten Landauer Presse, vgl. Martin: 1903, S. 253 f. 52 AZ 23.11.1879. Vgl. dazu auch: Imm, S. 384–391.

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Eine volle Nennung des Namens sowie eine Beschreibung und Charakterisierung der Person erfolgte auch bei einzelnen Opfern.53 Der Oberdorfer Landbote schilderte im Fall des Deicheldiebstahls, ausführlich die Berufungsverhandlung Stecks und legte dar, wie der Gastwirt Fleschutz den Verdacht gegen denselben gefasst hatte, ihm die Deicheln entwendet zu haben.54 Fast nie erfuhr man jedoch etwas über die aussagenden Zeuginnen und Zeugen, selbst ihre Anzahl ist zumeist – anders bei Steck55 – vollkommen unklar. Wurden sie überhaupt erwähnt, anonymisierte der Artikel sie dadurch, dass er sie nur durch ihre Beziehung zum Angeklagten beschrieb: Die Zeugin war dann die Mutter, der Zeuge der Arbeitgeber desselben.56 Überaus selten standen bei Zeugen und Zeuginnen der Name, Wohnort, Beruf, nähere Beziehungen zu den Verfahrensbeteiligten oder gar Informationen über moralische Verfehlungen und Vorstrafen dabei.57 Bekannt war, welche Geschworenen ausgelost58 und welche Schöffen den Verfahren zugeordnet waren, welchem Beruf sie nachgingen und aus welchen Orten sie kamen.59 In einer ländlich geprägten Region wie dem bayerischen Allgäu dürfte so kein Zweifel bestanden haben, wer der »Ökonom Mathias W[...] in Hiemenhofen« und der »Buchbindermeister K[...] aus Marktoberdorf« gewesen sind, die den Fidel Steck am 13.11.1901 wegen Diebstahls zu drei Tagen Gefängnis verurteilten.60 Dies galt umso mehr, wenn Angeklagte und Schöffen gar aus demselben Ort stammten.61 Die Informationen über Angeklagte, Zeugen, Opfer und ›Laienrichter‹ waren für die Leser in zweierlei Hinsicht interessant. Es verdeutlichte, dass die Gerichtsverhandlungen einen Bezug zur eigenen Lebenswelt hatten, und sie machten das direkte soziale Umfeld mit sehr persönlichen, zum Teil potentiell konfliktträchtigen Informationen über die Prozessbeteiligten vertraut. Weit weniger erfuhren die Leser hingegen über die an den Verfahren beteiligten Berufsjuristen. Zwar wurden die Richter, häufig auch die Staatsanwälte namentlich benannt, sie wurden jedoch kaum agierend beschrieben oder charakterisiert.62 Bei den namentlich genannten Verteidigern wurde hingegen bis etwa 1910 häufig auch darauf verwiesen, welche Anträge er (ggf. erfolgreich) hinsichtlich des Schuldspruchs oder der Strafhöhe gestellt hatte. Besonders oft fiel dabei der Name des

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AZ 5.12.1879; überaus unfreundlich: OL 28.7.1913. OL 25.2.1902. OL 25.2.1902: 22 Zeugen. Exemplarisch: OL 28.7.1923. Ausnahme: OL 7.3.1898. Bereits seit den 1880ern hatten vielerorts Lokalzeitungen die ausgelosten Schöffen und Geschworenen namentlich aufgeführt, was aus juristischer Sicht zur Benachrichtigung derselben weder notwendig noch wünschenswert erschien; HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 14358, insbesondere Schreiben vom 13.3.1884. So auch: Imm, S. 386 f. OL 14.11.1901. Josef W. aus Ob musste gleich über drei seiner Nachbarn richten, vgl. OL 26.5.1898 und 25.8.1898. So auch Hennig, S. 360.

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auch in den ausgewerteten Gerichtsakten häufig als Verteidiger gewählten Böhm,63 obwohl es zu dieser Zeit in Augsburg etwa 40 Anwälte gab.64 Hier ließen sich nun sogar lobende Charakterisierungen finden: Über Gustav Böhm las man etwa 1879 in der Augsburger Zeitung, er habe sich der Klienten sehr warm angenommen und suchte die Geschworenen zu überzeugen, »daß sie der Wohlthat der Annahme mildernder Umstände würdig seien.«65 Das juristische Personal – so lässt sich zusammenfassen – blieb vergleichsweise blass. Regelmäßigen Leserinnen und Lesern war es zwar möglich, eine Meinung über die Tüchtigkeit einzelner Anwälte oder Strenge bestimmter Richter zu erlangen, die Ausgestaltung der Juristenrollen wurde jedoch nur schemenhaft erkennbar. Die Leserschaft der Lokalzeitungen hatte also durch die tägliche Lektüre die Möglichkeit, sich mit wesentlichen Formalia und juristischen Strukturen vertraut zu machen. Kritische Kommentare zur Ausgestaltung der Verfahren oder zum Verhalten der Juristen fanden sich nicht. Stattdessen waren die Artikel mit Informationen gespickt, die sich an juristischen Logiken orientierten. Die geschilderten Handlungen wiesen zumeist einen räumlichen oder personellen Bezug zur Leserschaft auf und ließen diese dadurch Teil einer »gedachten Gemeinschaft« werden. Die Justiz konnte den Leserinnen und Lesern vertraut und vertrauenswürdig erscheinen. Die fehlende Kritik hing sicher auch mit der Zensur und drohenden Beleidigungsklagen zusammen, war angesichts der kritischeren überregionalen Publizistik aber nicht zwingend. So stand die Charakterisierung der Angeklagten in Einklang mit dem ergangenen Urteil, womit eine im Rahmen der Zensur mögliche implizite Kritikebene ungenutzt blieb. Trotz der Kürze der Artikel wurde dank der Lokalzeitungen bekannt, dass Nachbarn oder Freunde vor Gericht als Angeklagte, ›Laienrichter‹ oder Zeuginnen und Zeugen auftraten. Angesichts der regionalen Überschaubarkeit waren sie leicht für ihr Umfeld zu identifizieren und die ihnen zur Last gelegten Taten und ihre Urteile wurden öffentlich. Da die Prozesse in der Regel bereits abgeschlossen waren, wenn die noch dazu hinsichtlich der Beweisführung unspezifischen Artikel erschienen, boten sie keine Grundlage, um mit diesem Wissen den Prozess zu beeinflussen. Eine entsprechende Sorge der Juristen dürfte daher weniger der Alltagspraxis als mehr der Berichterstattung in großen Skandal- oder Mordprozessen, die sich durchaus über mehrere Tage erstrecken konnten, und v.a. der überregionalen Presse geschuldet gewesen sein. Die Berichte konnten jedoch für die Verfahrensbeteiligten eine bloß stellende Wirkung haben, die durch charakterisierende Kommentierungen noch verstärkt wurden.66 Dies galt jedoch bei der Lokalpresse in ganz überwiegendem Maße nur für den Angeklagten und das Opfer, seltener für die zumeist nicht näher beleuchteten Zeuginnen und Zeugen. 63 64 65 66

OL 21.9., 22.9.1898, 28.9.1898; 5.10.1898; 14.10.1898; 14.12.1898. Vgl. Magistrat der Stadt Augsburg: Adreßbuch (1910). AZ 23.11.1879; 5.12.1879. So auch das Urteil bei Hennig, S. 364–366.

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Auch wenn die zeitgenössischen Juristen den Medien zunehmend ›Desinformationen‹ vorwarfen, hätte die Berichterstattung der Lokalzeitungen selbst nach juristischen Maßstäben im aufklärerischen Sinne als weitgehend belehrend angesehen werden müssen. Weitgehend ausgeblendet blieben in den Artikeln jedoch die konkurrierenden Perspektiven, die vor Gericht aufeinander trafen sowie das Prozesshafte der eigentlichen Verhandlung. Man erfuhr nichts über die Argumentationsketten von Anklage und Verteidigung oder die jeweils als Beweise herangezogenen Gegenstände. Auch darüber, ob und was Zeuginnen und Zeugen aussagten und welche Rolle das für die Beurteilung des Falles – aus Sicht des Reporters oder des Gerichts – spielte, ließen sich keine Angaben finden. Die alltäglichen Lokalberichte lieferten somit weder ein genaues Abbild der Prozesse noch legten sie Wert auf das Prozesshafte, sich im Laufe der Verhandlung entwickelnde Geschehen. Berichtet wurde über eine eindeutige, im Verfahren zu Tage getretene Wahrheit. Aus juristischer Perspektive waren hier formelle und materielle Wahrheit identisch. Indem der Verlauf der Verhandlung normalerweise in der bayerischen Lokalpresse unberichtet blieb, waren die Leserinnen und Leser hier auf ihrer eigene Imagination, fiktionale Darstellungen und die wenigen Berichte über reichsweite Skandalprozesse angewiesen

2.2 Das Sensationelle und Unterhaltende der Strafjustiz »Daß die Berichterstattung hin und wieder in erster Linie dem Unterhaltungsbedürfnis dient, ist an sich kein Fehler. Auch wenn ein Berichterstatter es sich einmal zur Aufgabe macht, gerichtliche Verhandlungen als Fundgrube des Humors zu betrachten, so liegt darin noch nichts Tadelnswertes.«67

Die Berichterstattung über Verbrechen und Verbrecher kurbelte den Absatz der Zeitungen an und vereinte, so die eingängige These Shayas, die lesende Bevölkerung in Klassen übergreifender »community of horror«.68 Das Außergewöhnliche, die dramatischen Wendungen, die siegende Gerechtigkeit oder auch das Märtyrertum von (Justiz-)Opfern konnten überaus unterhaltend wirken und bildeten nicht nur einen guten Gegenstand, sondern auch eine gute Rahmenhandlung für fiktive wie nicht-fiktive Erzählungen. Dabei führten künstlerische Freiheiten und das Ziel der Unterhaltung zu anderen Darstellungen als in den Lokalberichten. Der Schwerpunkt lag stärker auf dem Prozesshaften des Gerichtsverfahrens sowie auf einer kritischen Kommentierung.

67 Bumke, S. 306. 68 Shaya; Schulz; Müller: Auf der Suche, S. 33–92; Hett, S. 48–52; Wiltenburg; Smaus; Abele/ Stein-Hilbers, S. 169.

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Dennoch blieb das Gericht stets der als legitim anerkannte Ort der Konfliktlösung, dessen Logiken nicht grundsätzlich infrage standen.

2.2.1 Prozesse auf der Titelseite – die überregionale Gerichtsberichterstattung Titelseiten, Lokalseiten, Vermischtes und die eigens eingerichteten Berichte »Aus dem Gerichtssaal« lieferten in den überregionalen Tageszeitungen und in der Großstadtpresse regelmäßig Informationen über Vergehen, Verbrecher und die Strafverfolgung.69 Berichte, die über mehrere Tage minutiös den Verlauf schilderten, hatten sich ebenso etabliert wie die nach englischem Vorbild auf solche Berichte spezialisierten Zeitungen, etwa die Berliner Gerichts-Zeitung, deren bayerische Pendants die Neue bayerische Gerichts-Zeitung oder die Neue Augsburger Gerichtszeitung waren.70 Doch die zunächst noch üblichen stenographischen Mitschriften von Prozessen verlangten die konstante Anwesenheit von ausgebildeten Journalisten über einen langen Zeitraum und wurden jenseits der Skandalprozesse im Kaiserreich immer seltener. Die normalen Berichte wurden auch in der überregionalen Presse kürzer, unterhaltsamer und orientierten sich an einer allgemeinverständlichen Sprache und Erklärungsweise. Im Kern drehten sich auch hier die Berichte bis zur Jahrhundertwende wenig um die Gerichtsverhandlung. Es ging darum, die Zeuginnen und Zeugen, die Angeklagten und Opfer möglichst detailliert darzustellen und den vermeintlichen Tathergang plastisch zu rekonstruieren, um so das Urteil zu antizipieren beziehungsweise verständlich zu machen. Das Ziel des Berichts war eine in sich schlüssige, unterhaltsame Geschichte. Angesichts der strengen medienrechtlichen Rahmensetzung wurde die rechtspolitische Kommentierung der Prozesse jedoch nur auf implizite Weise vorgenommen.71 Der Ablauf des Gerichtsverfahrens und die einzelnen prozessualen Vorschriften bildeten dafür dann häufig nur den Rahmen. Auch die Artikel in der auf Prozesse spezialisierten Neuen bayerischen GerichtsZeitung und Neuen Augsburger Gerichtszeitung entsprachen dieser Logik.72

69 Linder/Ort: Zur sozialen Konstruktion, S. 21. Zur publizistischen Gerichtsberichterstattung im Folgenden sofern nicht anders angegeben: Johnson, S. 55–95; Linder/Schönert, S. 191–200; Marxen, Imm; Hennig; Schönert u. a.; für Berlin: Müller: Auf der Suche, S. 73–91. Zur Lokalpresse Habermas: Diebe vor Gericht, S. 219–234. 70 Imm, S. 392–396; die Neue bayerische Gerichtszeitung war mit der Augsburger Vorstädte-Zeitung verbunden und erschien einmal wöchentlich im Umfang von acht Seiten. Hier waren die Artikel nach Kammern sortiert und konzentrierten sich vorrangig auf die Augsburger Gerichte; die Neue Augsburger Gerichts-Zeitung war mit dem Augsburger Lokal-Anzeiger verbunden, erschien zweimal wöchentlich und umfasste wöchentlich insgesamt acht Seiten. Sie berichtete sowohl über Augsburger als auch über auswärtige Gerichte, wobei der Schwerpunkt auf Strafprozessen und Sensationellem oder Unterhaltendem lag. 71 Vgl. dazu v.a. Johnson, S. 60–95. 72 Ergebnis einer Stichprobe der Jahre 1894, 1901, 1913, 1915, 1921.

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Insbesondere die Berichte über ›Skandalprozesse‹, in denen oftmals die Justiz selbst skandalisiert wurde, gewährten einen Blick in den Gerichtssaal der großen Strafgerichte. In ihnen wurden politische Abläufe, das Privatleben von Prominenten, kriminelle Strukturen und der Alltag von Verbrechermilieus thematisiert, die der Bevölkerung normalerweise verborgen blieben.73 Gerade bei Prozessen, die als politisch motiviert oder aufgeladen galten, kommentierten die Zeitungen auch das Vorgehen der Gerichte – etwa ihre Beeinflussung durch die Staatsregierung, das Auftreten einzelner Juristen oder eine Ausgestaltung des Straf- und Verfahrensrechtes – seit 1890 zunehmend kritisch.74 Berühmt wurde die Geschichte des Hauptmanns von Köpenick, anhand derer die mangelhafte Resozialisierung von entlassenen Strafgefangenen öffentlichkeitswirksam problematisiert werden konnte.75 Zu den größten Justizskandalen gehörten neben dem noch zu diskutierenden Fall Heinze76 der Fall Konitz,77 der Kwilecki-Prozess78 oder der Fall Graef,79 die in den juristischen Fachzeitungen zu einem Austausch über daraus abzuleitende Reformerfordernisse der Justiz führten.80 Noch Jahre später bildete der implizite Verweis auf frühere Skandale eine rhetorische Figur im juristischen Diskurs um die Reichsjustizgesetze.81 Skandale waren damit gleichzeitig das Ergebnis von und der Motor für Veränderungen und prägten die zeitgenössischen Diskurse – sowie die historische Forschung – zur Justiz stark.82 Skandale machten die breite Öffentlichkeit mit dem Ablauf von Prozessen vertraut, widmete man dem Verlauf der Verhandlung gerade hier ausführliche Darstellungen.

2.2.2 Die Justiz als Objekt der Literatur Kriminelle Handlungen, das Motiv von Sühne und Strafe, sowie das formale Sanktionsverfahren durch Gerichte oder Herrscher haben Schriftstellern der Höhenkammliteratur über Jahrhunderte als Inspiration für ihre Texte gedient.83 Die künst73 Als am besten erforschtes Beispiel dürfte hier der Eulenburg-Harden-Skandal gelten, vgl. Domeier. 74 Für reichsweite Zeitungen bis 1890: Hennig, S. 364–366. Zur publizistischen Justizkritik vor allem in der Weimarer Republik vgl. Schöningh. 75 Vgl. Müller: Auf der Suche; außerhalb dieses Skandals hatte das Thema wenig Aufmerksamkeit erhalten können, vgl. Schauz, S. 194. 76 Vgl. Kap. II.3.2.2. Der Fall Heinze bildet eine wesentliche Grundlage für Hett. 77 Ebd., S. 146–155; Nonn, S. 145–156; Smith: Geschichte des Schlachters, S. 24–26, 46–55. 78 Der 1903 in Berlin stattgefundene Prozess um die angebliche Kindesunterschiebung in einer gräflichen Familie provozierte eine Debatte um die Ausgestaltung der Voruntersuchung, des Schwurgerichts und der richterlichen »Weltfremdheit«, vgl. Linnemann. 79 Vgl. dazu unten. 80 Etwa: Fuchs: Zum Prozeß Gräf; Kronecker: Prozessuales. 81 Noch 1910 stützte sich bspw. die von Juristen getragene Kritik an fehlerhafter Urteilspraxis auf die Erfahrungen der Fälle Konitz und Xanten, Hett, S. 162 f. 82 Zur reformerischen Wirkung vgl. Bösch: Öffentliche Geheimnisse, S. 4–6. 83 Für die nachfolgende Darstellung grundlegend sind Schönert: Literatur und Kriminalität; Schönert u. a.; Linder/Ort: Verbrechen – Justiz – Medien; dies.: Zur sozialen Konstruktion, S. 20–26; Linder/ Schönert; Müller-Dietz, hier v.a. S. 87–97. Über die Verwendung juristischer Themen in Groschen-

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lerische Inszenierung von Gerichtsverfahren und die stereotypisierten Juristenrollen prägten wesentlich das Bild der Bevölkerung von strafprozessualen Abläufen.84 Diese Prägung muss umso stärker ausgefallen sein, als die (v.a. lokale) Publizistik des Kaiserreichs, wie beschrieben, gerade das prozesshafte des Geschehens im Gerichtssaal weitgehend ausblendete und sich auf das Ergebnis konzentrierte. Wie stark in der Literatur das Gerichtsverfahren selbst thematisiert wurde, wechselte im Laufe der Jahrzehnte wiederholt. Während die Literatur des frühen 19. Jahrhunderts sich noch durchaus kritisch mit der zeitgenössischen Justiz beschäftigt hatte, verlagerte sich nach den Rechtsreformen der Jahrhundertmitte der Fokus auf Täterbiographien85 und löste sich ähnlich wie die Publizistik in Sprache und Aufbau von streng juristischen Argumentationsmustern.86 Die Justiz erschien dann durch das weitgehende Ausblenden einerseits als ein funktionierendes System; andererseits wurde die Strafverfolgung häufig als private Angelegenheit dargestellt, die durch die Dorfgemeinschaft oder einen Privatdetektiv erfolgte.87 Erst um die Jahrhundertwende rückte das Verfahren wieder stärker in den Fokus.88 Wenn sich die Dramaturgie eines Stücks – wie etwa 1917 in Ricarda Huchs Roman Der Fall Deruga – jedoch dezidiert innerhalb eines Schwurgerichtsprozesses entwickelte, dann wurden wesentliche Prozesshandlungen plastisch geschildert. Huch stellt die Auswahl der Geschworenen, die Beweisaufnahme und die Vernehmungen dar.89 Und auch in jenen Werken, in denen Justiz nicht die Hauptthematik darstellt, taucht sie als Motiv immer wieder auf. So setzt sich die Literatur Johannes Bechers mit den Geschehnissen um die Hinrichtung des bayerischen Volkshelden Matthias Kneißl auseinander und verwob dabei biographische Elemente mit einer Kritik an der Todesstrafe.90 Doch erst nach dem Ersten Weltkrieg gab es Werke, die sich intensiver mit realen oder fiktiven Strafgerichtsverfahren beschäftigten. Viele Autoren, die juristische Stoffe in ihren Werken verarbeiteten, verfügten hinsichtlich des Verfahrensrechts –

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romanen ist bisher nichts bekannt. Laut Johnson, S. 53 f., gab es im Kaiserreich nur wenige derartige Schriften. Vgl. exemplarisch: Machura/Ulbrich. Zur Bedeutung der Literatur für Juristen Hammerschmidt, S. 20 f.; Schönert: Einführung, S. 48; ders.: Bilder. Zum Interdiskurs vgl. klassisch Lindner; Siebenpfeiffer; Walkowitz; Kompisch;Weiler. Fachwissen und nicht-fachliche Logiken gingen bei der literarischen Narration des Deliktes Hand in Hand: Schönert: Ausdifferenzierung, S. 123. Ders.: Einführung, S. 47 f.; ders.: Bilder; vgl. Müller-Dietz, S. 187–204; Linder, S. 535; Linder/ Schönert. Dies entsprach der zeitgenössischen Kriminologie. Vgl. zur Periodisierung Schönert: Ausdifferenzierung. Ders.: Bilder, S. 508–511; Broich. Eine Verschärfung brachte in dieser Hinsicht der Expressionismus ab 1910, der die Delinquenten als nicht nachvollziehbare Außenseiter der Gesellschaft skizzierte; vgl. Schönert: Einführung, S. 50; ders.: Bilder, S. 523–526; Titzmann, S. 239–248. Linder/Ort: Zur sozialen Konstruktion, S. 21 f.; Linder. Dass es dennoch zu Abweichungen vom geltenden Prozessrecht kam, rief unter Juristen Kritik hervor. Vgl. Müller-Dietz, S. 102 f. Prozessschilderungen gab es auch in Roseggers Am Tage des Gerichts von 1890 oder Anzengrubers Meineidbauer von 1871, vgl. Kanzog, S. 193. Weber: Juristensöhne, S. 85–92.

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gerade in der Weimarer Republik – über sehr gute Fachkenntnisse:91 Entweder waren sie selbst Juristen,92 stammten aus Juristenfamilien93 oder hatten einschlägige Erfahrungen mit Strafgerichten gemacht. Zu den prominentesten Autoren gehören jene, die sich v.a. in der Weimarer Republik sehr kritisch mit der Justiz auseinandersetzten: Lion Feuchtwanger, Kurt Tucholsky,94 Heinrich Mann95 oder auch Franz Kafka, dessen düstere Bilder in Der Prozeß sich aber historisch auf das österreichische Gerichtsverfahren bezogen.96 Dramen wie Die Voruntersuchung von Max Alsberg, einem der bekanntesten Verteidiger des frühen 20. Jahrhunderts, waren gespickt mit verfahrensrechtlichen Details.97 Die Schilderungen boten damit den Lesern einen Einblick in die juristischen Logiken der Prozesse, färbten diese jedoch insbesondere seit 1918 stark kritisch ein. Sie beklagten ungerechte und lückenhafte Gesetze, die Justiz erschien bei ihnen als ›Automat‹, dessen Urteile ungerecht seien, der juristische Schuldbegriff wurde als unzureichend abgelehnt.98 Neben den Richtern99 wurde auch die Zusammensetzung – nicht die Existenz – der Geschworenen mit Misstrauen betrachtet. Dabei entstand ein eher differenziertes Psychogramm der Urteilsfindung, bei der die Geschworenen mit ihren Entscheidungen rangen.100 Zeugen und Zeuginnen wurden als unzuverlässig und unaufmerksam, passiv und stumm beschrieben.101 Strafprozesse bildeten in der Summe durchaus ein wiederkehrendes literarisches Motiv der Höhenkammliteratur. Stärker als in den alltäglichen Lokalberichten spielte dabei der Verlauf eines Strafverfahrens eine narrative Rolle. Das Geschehen im Gerichtssaal wurde angelehnt an juristische Logiken plastisch geschildert, wobei die Kommentierung und Kritik eine insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg zunehmende Rolle spielten. Neben erfahrungs- und wissensgesättigten Schilde91 Hammerschmidt, S. 17–19. Der hohe Anteil an juristisch Gebildeten findet bei der These Nauckes, dass die ›Verfachlichung‹ der Justiz es für die Schriftsteller kaum möglich gemacht habe, sich kompetent mit den Prozessen zu beschäftigen, wenig Berücksichtigung. Naucke: »Verfachlichung«. 92 Vgl. ausführlich: Wambach. 93 Weber: Juristensöhne. 94 Vgl. Schiemann, S. 102–104. 95 Zur Justizkritik bei Heinrich Mann ausführlich Müller-Seidel. 96 Vgl. Müller-Dietz, S. 98–101; Sterzenbach, v.a. S. 170–179. 97 Vgl. dazu Müller-Seidel, S. 23 f.; Prick; vgl. Emmel, S. 22–25, die sich auf Ilse Subak, Gericht und Recht im modernen deutschen Drama, Wien 1936, stützt, aber sich trotz aller Ansätze zur Synthese auf wenige, prominente Autoren konzentriert. Eine summarische Darstellung der Gerichtsdarstellung in Romanen dieser Epoche fehlt bisher. 98 Wambach, S. 177–276; Hammerschmidt, u.a. S. 17–19; Kanzog, S. 190; Scheel. Zum Gerechtigkeitsdiskurs: Linder/Schönert, S. 189; Müller-Dietz, S. 27–48. Zur Kritik an der Todesstrafe: Lindner, S. 294–298. 99 Die Forschungsliteratur zum Richterbild einzelner Werke oder in der Literatur insgesamt ist ausufernd, vgl. Müller-Dietz, S. 148–164. Dennoch fehlt es an einer summarischen, epochenspezifischen Historisierung. 100 In wie weit die Darstellungen des Schwurgerichtsverfahrens in Einklang mit dem Verfahrensrecht standen, ist unklar. ebd., S. 176–180, stützt sich in seiner Analyse auf Tolstoi und Kraus und damit außer-deutsche Schriftsteller bzw. auf Werke nach 1945. 101 Wambach, S. 210 f.

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rungen durch Autoren traten justizkritische Stereotypisierungen, die sich stark auf die Person der Juristen bezog. Die Richter, Staatsanwälte, Verteidiger und Gutachter waren anders als in der Presse keine anonymisierten Personen, sondern aktive und wesentliche Charaktere, von deren Persönlichkeit die Fairness des Verfahrens abhängig war.

2.2.3 Verbrechen und Gericht im Film Noch weniger erforscht als die literarische Darstellung von Justiz und Kriminalität in der Literatur ist ihre Repräsentanz im frühen deutschen Film.102 Dabei hatte sich das neue Medium seit seiner Einführung 1895 in Städten und Dörfern durch Wanderkinos auf Jahrmärkten und in Gaststätten rasant verbreitet. Bereits 1918 gab es reichsweit über 3000 feste Lichtspielhäuser und etwa anderthalb Million Menschen besuchten täglich die Kinos,103 damit »erweiterte das Medium […] den Raum politischer Kommunikation.«104 Auch das Allgäu sah ab 1905 die neue Technik auf Jahrmärkten, in Gaststätten und Tanzsälen oder Theatern105 und ab 1924 im ersten festen Kino Marktoberdorfs.106 Die aufkommenden Spielfilme der 1910er Jahre beinhalteten – zum Ärger einer v.a. religiös geprägten und Nachahmer befürchtenden Kinoreformbewegung107 – häufig kriminelle Thematiken108 etwa in Form des bis weit in die Weimarer Republik beliebten Detektivfilms, bei dem die justizielle Seite jedoch kaum beachtet wurde.109 Doch auch Justiz bildete ein verbreitetes Filmmotiv, wie sich den Zensurverzeichnissen Münchens zwischen 1911 und 1920 entnehmen lässt. Die Titel sowie einzelne Zensurentscheidungen legen dabei den Eindruck nahe, dass die Zensur einem Bild entgegenwirken wollte, demzufolge Unschuldige allzu häufig verurteilt oder Täter in den Mittelpunkt gestellt wurden.110 Auch wenn neben Sittlichkeits102 Zur Justiz im Film ab dem 2. Drittel des 20. Jahrhunderts vgl. Machura/Ulbrich; Drexler. Petzold, S. 100–102, nennt das Gericht nicht unter den »politischen […] Institutionen […] im frühen Kino«. 103 Maase, S. 123–126; Poch, S. 191 f.; Troßbach/Zimmermann, S. 228–230; Hoffmann/Thiele. 104 Petzold, S. 382. 105 Anonymus: Vor 100 Jahren; Kata; Ilg, S. 51 f. und 141. 106 StadtAMOD: S. 123 f. Die frühesten Nachweise auf regelmäßige Kinovorführungen an einem gleichbleibenden Ort existieren jedoch bereits für 1913 und 1914. OL 19. und 21.4.1913; StAA Bezirksamt Marktoberdorf, Abg. 1985; Generalakten und Spezialakten: Nr. 1220 (VII K/4/4), Schreiben an das BA Marktoberdorf, eingegangen am 25.3.1914. 107 Zur ambivalenten Kinoreformbewegung vgl. Maase, passim; Schorr; Werner: Skandalchronik, S. 38–51; Bittinger; Schmitt: Kirche und Film, S. 22–24. 108 Eine 1910 veröffentlichte Studie zählte in 250 Filmen u.a. 97 Morde, 45 Selbstmorde und 176 Diebe, vgl. Werner: Skandalchronik, S. 44 f. 109 Elsässer, S. 224–229; Jacobsen, S. 34 f.; Kracauer, S. 25 f.; Knops; Kaes, S. 39 f. 110 Gemäß der Münchener Zensurentscheidungen 1912 (vgl. Birett, S. 479–640) wurden die Worte »Opfer des Gesetzes« im Film Für meine Kinder (Prüfnr. 503) bemängelt. In Unschuldig (Prüfnr. 971) wurde die Sterbeszene verboten, in Unter falschem Vedacht (Prüfnr. 1025) die Szene eines

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verstößen v.a. die Kritik an staatlicher Autorität – hier der Rechtsordnung – unterbunden werden sollte, sorgten Vollzugsdefizite sowie die im Tenor z.T. kritisch bleibenden Filme für deren Verbreitung.111 Die die Justiz thematisierenden Filme fanden früh einen Weg auch ins Allgäu, so gelangte die Verfilmung des Eid des Stefan Huller 1913 in Marktoberdorf zur Aufführung. Der Film erzählte die Biographie eines Verbrechers aus dessen Perspektive und endete mit der Begnadigung eines bereits seit zehn Jahren einsitzenden Häftlings.112 Trotz der Zensur liefen in den Kinos einzelne justizkritische Filme, in denen der wahre Mörder erst auf dem Totenbett gestand und der zu Unrecht Verurteilte freikam,113 oder der Selbstmord eines wegen Homosexualität Verurteilten als deutliche Kritik am Strafgesetzbuch und an der zeitgenössischen Prozessführung dargestellt wurde.114 Doch – bei aller Kritik – blieb der Gerichtssaal im Film im Kaiserreich in erster Linie der Ort, an dem der wahre Täter gefunden wurde oder die Geschichte eine positive Wendung erhielt.115 Auch die zahlreichen Skandalprozesse des Kaiserreichs wurden filmisch dokumentiert. Die Geschehnisse um den bereits publizistisch verbreiteten Hauptmann von Köpenick wurden 1906 bereits nach acht Tagen filmisch aufbereitet und lief nach weiteren vier Tagen in den Wanderkinos.116 Und die sensationelle Flucht und Verfolgungsjagd des Berliner Raubmörders Hennig wurde im selben Jahr zur Verärgerung der Polizei noch während des laufenden Gerichtsverfahrens filmisch nacherzählt.117 Welche Rolle die Justiz jeweils in diesen Dokumentationen zugewiesen bekam, ist unklar. Nur selten bildete das Geschehen vor Gericht im Untersuchungszeitraum zwar den zentralen dramatischen Rahmen, in dem die Geschichte anhand der Aussagen rekonstruiert wurde.118 Dennoch wurden Juristen in ihrer ›typischen‹ Tätigkeit dargestellt: So wählte die Hauptperson Claire in Die Jagd nach der Wahrheit zwischen drei Verehrern, einem Untersuchungsrichter, einem Gerichtschemiker und

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Verwundeten, in Der verlorene Ring (Nr. 2735) die Festnahme des Unschuldigen und die Szene vor dem Polizeikommissar und in Der Eid des Stephan Huller, II. Teil (Prüfnr. 2101) wurden nicht weiter ausgeführte Teilszenen verboten. Gar nicht zur Aufführung in Bayern kamen außerdem: Wer ist schuldig? (Prüfnr. 557), Meineidig (Prüfnr. 929), Der ungerechtfertigte Verdacht (Prüfnr. 1782) Das Verbrechen gesühnt (Prüfnr. 2074), Der Angeklagte (Nr. 2760 und 2761) und Verdächtigt (Nr. 3425). Maase, S. 138–144; Petzold, S. 144 f. und 383. OL 21.4.1913. Die Landstraße (1913), vgl. Dahlke/Karl, S. 20 f. Vgl. die Zusammenfassung des Films Anders als die Anderen und die abgedruckte Kritik aus der Neuen Hamburger Zeitung in der Datenbank www.filmportal.de (16.04.2014). Gefangene Seele (1917), Die Schuld der Lavinia Morland (1920) www.filmportal.de. Poch, S. 192; Jacobsen, S. 19. Zu den Geschehnissen um den Film vgl. Werner: Skandalchronik, S. 50 f. So 1910 in Die grausame Ehe, vgl. Schlüpmann, S. 82 f.

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einem Anwalt, nachdem alle drei am Beispiel eines Giftmordverdachts ihr Können bewiesen hatten.119 Auch nach 1918 erschien das Gericht stellenweise noch als Ort, an dem Konflikte positiv gelöst werden konnten,120 wenn auch gleichzeitig auf die Gefahr von ›Winkeladvokaten‹ aufmerksam gemacht wurde und die ›professionellen‹ Anwälte als vertrauenswürdiges Gegenbild gezeichnet wurden.121 Für die ausgehende Weimarer Republik sind hingegen Filme mit ausführlichen Gerichtsszenen wie Meineid. Ein Paragraph der Menschen tötet (1929), Voruntersuchung (1931) oder Kuhle Wampe (1932) bekannt, die dem zeitgenössischen Trend folgend justizkritisch ausgerichtet waren.122 Erste Hinweise auf filmische Prozessreportagen gibt es frühestens, als der Prozess gegen Adolf Hitler 1924 filmisch dokumentiert worden sein soll.123 Anhand der juristischen Diskussion lässt sich ablesen, dass in den 1920er Jahren intensiv und anhand der praktischen Abwägungen die Möglichkeit von Dokumentationen aus dem Gerichtssaal heraus erwogen wurde, wobei man eine Beeinträchtigung der Prozesse durch die sperrigen Aufnahmeapparate und akustische Störungen fürchtete und die Debatte sich auf die Frage des Persönlichkeitsschutzes verlagerte.124 Das neue Massenmedium Film entdeckte früh nicht nur die Kriminalität, sondern auch die Justiz als Handlungsrahmen oder Konfliktfeld für sich. Wenn auch eine umfassende filmhistorische Analyse weiterhin ein Desiderat darstellt, kann festgehalten werden, dass in den frühen Filmen des Kaiserreichs Juristen, die Bewertung der Urteile sowie das Strafverfahren thematisiert wurden. Sie schufen damit ein vergleichsweise plastisches Bild der Justiz und trugen dazu bei, dass sich die ländliche und städtische Bevölkerung mit der Institution des Gerichts im Alltag immer wieder auseinandersetzte. Die Darstellung von Anwälten, Richtern und Staatsanwälten, den von der Justiz durchgeführten Maßnahmen und den dabei eingehaltenen Verfahrensweisen orientierte sich an juristischen Rollenbildern und Logiken. Anders als in der Weimarer Republik waren die Szenen, die die Justiz unfähig oder ungerecht darstellten durch die Zensur teilweise oder ganz verhindert

119 Die Jagd nach Wahrheit (1921). 120 So in Abwege von 1928, dessen Versöhnungsszene während des Scheidungsprozesses erfolgt; ähnlich in Die Frau auf der Folter (1928), welcher in England spielt, www.filmportal.de. 121 Bigamie (1927), www.filmportal.de. 122 Insgesamt nahmen justizkritische Filme in einer zeitgenössischen Auflistung 30 der 219 Filme ein, Drexler, S. 389 f. Zu Meineid und Voruntersuchung vgl. auch www.filmportal.de. 123 Bucher erwähnt Berichte über den Hitlerprozess 1924 (Reg.Nr. 458) und die Gerichtsverhandlung gegen die Tscherwonzen-Fälscher in Berlin 1930 (Reg.Nr. 1312). Das Verzeichnis bei Schmitt: Verleihkopien, enthält hingegen keinerlei Hinweise. Von der Forschung detaillierter belegt sind derartige Übertragungen erst für die Schauprozesse der 1930er Jahre und der frühen DDR (Marxen/Weinke; Weinke; vgl. die entsprechenden Beiträge bei Machura/Ulbrich). Der Prozess gegen van der Lubbe wegen des Reichstagsbrandes wurde nicht nur gefilmt, sondern auch auf Schallplatten dokumentiert, vgl. Reckling, S. 114. 124 Vgl. Schorn; Bewer, S. 37; Bumke, S. 308.

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worden. Dadurch trugen die Filme dazu bei, ein gesellschaftliches Wissen darüber zu produzieren, welche Aufgaben Strafgerichten und Juristen zukamen. Das Gericht als vertrauter Ort – ein Kapitelfazit Nicht nur Kriminalität, sondern auch die Justiz und das Strafverfahren waren medial präsent. Die publizistische Berichterstattung über die Strafjustiz orientierte sich in den ländlichen Lokalmedien an juristischen Logiken und verwandte eine entsprechende Terminologie. Die insbesondere zur Zeit der Strafprozessreform 1879 umfangreichen Berichte über die Ausgestaltung des Strafverfahrens sowie die impliziten wie expliziten Informationen in den Prozessberichten lieferten den Leserinnen und Lesern einen Einblick in Strukturen der Verfahren. Das Geschehen im Gerichtssaal selbst und das widersprüchliche Handeln der Akteure blieben jedoch weitgehend unthematisiert. Das Gericht erschien als vertrauenswürdiger Ort der in sich schlüssigen, seriellen und legitimierten Entscheidungsfindung. Diese Nähe zum Selbstbild der Juristen wurde durch eine räumliche Nähe verstärkt: Die Gerichte, über die vorrangig berichtet wurde, lagen in der Umgebung. Die Verfahrensbeteiligten kamen aus den umliegenden Städten und Dörfern. Auch dem bislang unbeteiligten Umfeld wurde die gerichtliche Auseinandersetzung vor Augen geführt, wodurch die Artikel Anknüpfungspunkte für weiter gehende Gespräche und Gerüchte boten. Das Gericht war damit in doppeltem Sinne ein Nachbar. Etwas anders lag dies bei der Darstellung in Literatur, überregionaler Presse und dem Film. Auch hier war die Justiz präsent. Die Darstellungen widersprachen zunächst nicht per se juristischen Logiken und waren zuweilen auch von Juristen verfasst. Anstatt am regionalen Nachrichten- und Erkennungseffekt richteten sie sich am Unterhaltungswert aus. Diese Darstellung füllte die Lücke, die in der Lokalberichterstattung durch das Ausblenden des Prozesshaften entstand: Sie schilderten gerade auch den Verlauf des Verfahrens sowie die handelnden Berufsjuristen. Dadurch wurden typische Verfahrensabläufe, die Raumaufteilung eines Gerichtssaal, die Rollen der Beteiligten, ihre Rechte und Pflichten sowie die Aussagelogiken thematisiert und plastisch dargestellt. Anders als die Lokalberichte enthielten die überregionale Publizistik und die fiktiven Unterhaltungstexte ab der Jahrhundertwende trotz der rechtlich schwierigen Rahmenbedingungen durchaus kritische Kommentare zur zeitgenössischen Justiz. Obwohl diese weiterhin der legitime Ort der Konfliktlösung blieb, wurden hier die Maßstäbe, die Ausbildung der Juristen, ihre Handlungen kritisiert und als reformbedürftig dargestellt. So wissensgesättigt das dadurch entstehende Gesamtbild über die Justiz auch war, erscheint es fraglich, wie weitgehend die Artikel, Bücher oder Filme in der Schilderung der Details die juristischen Regeln wiedergaben. Die aus juristischer Sicht zentralen Elemente und faktisch unverzichtbaren Hilfsmittel wie Fristen, Antragsrechte, Rechte und Pflichten sowie Beweislogiken erhielten zumindest in den publizistischen Darstellungen keine klaren Konturen.

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Dadurch ergibt sich ein insgesamt ambivalentes Bild. Die medialen Darstellungen produzierten ein gesellschaftliches Wissen über die Strafjustiz, das stark durch die juristischen Logiken und Vorschriften geprägt war, diese jedoch nur lückenhaft wiedergab. Die Lücken und künstlerischen Freiheiten konnten bei der Rezeption nicht unmittelbar als solche erkannt werden, sondern es wurde die Illusion einer relativ wahrhaften Justizerläuterung hervorgerufen. Die Breite der Informationen und die Nähe zur juristischen Logik stattete die Bevölkerung damit mit Kenntnissen aus, die es ihr grundsätzlich ermöglichten, gerichtliche Verfahren zu verstehen und sich in ihnen zu orientieren. Durch einen Fokus auf Skandalhaftes erschien die Justiz in diesen Medien jedoch auch als reformbedürftig und kritikwürdig, was das Vertrauen der Bevölkerung nicht gesteigert haben dürfte.

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3. Konflikte zwischen Juristen und Öffentlichkeit Bis heute dominiert das zeitgenössische Schlagwort der »Klassenjustiz« das historische Bild der Justiz im Kaiserreich. Doch die damalige Justizkritik umfasste sowohl eine innerjuristisch-bürgerliche, eine emanzipatorische als auch eine konservativvölkische Seite, die sich in Schärfe, inhaltlicher Schwerpunktsetzung, Trägerschicht und Diskursorten voneinander unterschieden. In der Justizkritik drückte sich ein Anspruch von Medien, Kirchen, Parteien und Vereinen aus, eigene Wertmaßstäbe an die Justiz zu legen und am politischen Reformprozess beteiligt zu werden. Die Reformvorschläge werden daher als rechtspolitische Partizipation interpretiert, die sich noch dazu inhaltlich um das Anliegen drehte, selbst stärker im Gericht mitwirken zu können. Unabhängig von der Reichweite der Kritik jedoch wurde eines nicht in Frage gestellt: Grundsätzlich war das Gericht der legitime Ort der Rechtsprechung. Ein Teil der justizkritischen Akteure gab sich jedoch nicht damit zufrieden, Reformen in der Justiz anzumahnen. Stattdessen organisierten Vereine in Form von Rechtsberatungsstellen eine Form der Hilfe zur Selbsthilfe, mit der sie nicht nur ihre Vorstellungen von guter Justiz zum Ausdruck brachten, sondern aktiv in den Gerichtsalltag eingriffen und die Beratenen zu einem selbstständigeren Agieren befähigen wollten. Die Debatten beeinflussten das öffentliche Bild der Justiz, wurden von den Juristen z.T. empört zurückgewiesen und trugen dazu bei, dass die Juristen im Gegenzug die Öffentlichkeit der Verfahren immer stärker hinterfragten und einzuschränken suchten. Vornehmlicher Diskussionsort der Justizkritik waren dabei der Reichstag, überregionale Zeitungen sowie eigenständige Publikationen; diese Diskurse wirkten bis hinein in den ländlichen Alltag und zeigen die konfliktreiche gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Ausgestaltung der Justiz und das Verhältnis von Juristen und ›Laien‹ im Gericht.

3.1 Lauter werdende und vielfältige Kritik an der Justiz Klassenjustiz gehört zu den bekanntesten Kampfbegriffen der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts. Der Vorwurf knüpfte inhaltlich an justizkritische Traditionen an,1 wurde über die einschlägige Studie von Ernst Fraenkel in den 1920er Jahren 1 Grundlegend für die nachfolgende Darstellung: Linnemann, S. 88–152; Schröder: Richterschaft; Wilhelm.

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endgültig salonfähig2 und fand nachhaltigen Niederschlag in der Historiographie zur wilhelminischen Strafjustiz.3 Bereits in den Werken von Karl Marx und Friedrich Engels lassen sich entsprechende Analysen aufzeigen und in den 1870er Jahren beklagten die sozialdemokratischen Angeklagten um Karl Liebknecht und August Bebel den gegen sie geführten Hochverratsprozess als ›politischen Tendenzprozess‹.4 Doch keiner der Vordenker der Arbeiterbewegung scheint auch den Begriff der Klassenjustiz verwendet zu haben,5 das Etikett prägte wohl erst ab den 1880ern die Debatte der nächsten Jahrzehnte.6 Es diente dabei sowohl als Analysebegriff der Arbeiterbewegung als auch als despektierlich gebrauchtes Reizwort der Juristen. Inhaltlich zielte der – auch von den Katholiken zum Teil übernommene7 – Vorwurf darauf ab, dass die aus der Mittel- und Oberschicht stammenden Berufsjuristen und ›Laienrichter‹ untere soziale Schichten benachteiligten.8 Dabei ging es nicht in erster Linie um den Vorwurf der politisch motivierten oder rechtbeugenden Indienstnahme, sondern um unbewusste und sozio-strukturell bedingte Handlungen.9 Der Kernvorwurf war, dass sich die Juristen und ›Laienrichter‹ aufgrund ihres Herkunftsmilieus und ihrer Lebenssituation lediglich in die Situation von Angeklagten aus höheren Schichten hineinversetzen könnten. Die Probleme mittlerer und unterer Schichten seien ihnen hingegen so fremd, dass sie für deren Handlungsmotive keinerlei Verständnis aufbringen könnten und einseitig höhere Strafen verhängten. Hinzu komme, dass sie unterbürgerlichen Angeklagten weniger Glauben schenkten und daher in Ermessensfragen eher gegen diese entschieden.10 Eng damit verknüpft war der von Arbeiterbewegung und SPD erhobene Vorwurf, dass die Normen selbst bereits Ausdruck einer Klassengesellschaft seien.11 Neben den eindeutig politisch ausgerichteten Normen (Hoch- und Landesverrat, Klassenkampfparagraph, Staatsverleumdung, Sozialistengesetz) bezeichneten sie auch die allgemeinen Strafgesetze als Klassengesetzgebung. Insbesondere dass Verstöße gegen Arbeitsschutzvorschriften nicht straf-, sondern nur ordnungsrechtlich geahndet wurden, galt als Zeichen für eine Höherschätzung bürgerlichen

2 Fraenkel, auf den sich Steinmetz, S. 8, und Schöningh, S. 164, für ihre Definitionen stützen. Zum Fraenkel-Text vgl. Schröder: Richterschaft, S. 212. 3 Exemplarisch: Simon, S. 48 f. 4 Vgl. zur Frühgeschichte Wilhelm, S. 35–218. 5 Vgl. die entsprechende Darstellung bei Benjamin, S. 7–9. Eine detaillierte Begriffsgeschichte der Klassenjustiz steht weiterhin aus, dies mahnte bereits Schröder: Richterschaft, S. 212, Fn. 42, an. Dabei wird in der historischen Analyse selten differenziert, ob ein zeitgenössischer Autor den Begriff verwendete oder inhaltliche Kritik äußerte, die man rückblickend als Klassenjustiz bezeichnen würde. 6 Wilhelm, S. 94 und 298. 7 Loth, S. 139. 8 Vgl. zur sozialen Rekrutierung von Richtern und Geschworenen Kap. I.3. 9 Linnemann, S. 151. Engere Definition bei Hecht, S. 433, und Wilhelm. 10 Berthold, S. 33 f. 11 Grundlegend für die nachfolgende Darstellung: Linnemann, S. 88–152; Schröder: Richterschaft; Wilhelm.

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Eigentums gegenüber dem Leben und der Gesundheit der Arbeiter.12 Die rechtskonforme, wenn auch ungerechte Anwendung bringe den Klassencharakter damit nicht hervor, sondern verstärke ihn lediglich.13 Sozialdemokraten und Kommunisten warfen v.a. den preußischen Richtern jedoch auch vor, als willfährige Exekutoren staatlicher Repressionspolitik politische Justiz gegen die Arbeiterbewegung auszuüben.14 Sie würden Handlungsweisen kriminalisieren, die an sich kein Verbrechen darstellten.15 Dies wird mittlerweile auch in der historischen Forschung aufgenommen, und die Motive der Obrigkeit ebenso als politisch definiert wie die der Angeklagten.16 Weniger beachtet wurden von der Forschung zwei weitere Klagen über strukturelle Benachteiligungen beziehungsweise zielgerichtete politische Repressionen, obwohl sich diese bei der Etikettierung an der Klassenjustizthese orientiert hatten. Zum einen beklagte die Frauenbewegung im Kaiserreich eine – im Folgenden noch zu thematisierende – »Männerjustiz«.17 Analog zur Klassenjustizthese warfen die Frauen den männlichen Juristen ein mangelndes Verständnis für ihre Lebenswirklichkeit vor, was sich in den Urteilen der Strafgerichte niederschlage und dem insbesondere durch eine Zulassung der Frauen zu Richter- und ›Laienrichter‹-Ämtern abgeholfen werden müsse. Zum anderen wurde der preußischen Regierung und Justiz vorgehalten, in den polnisch-sprachigen Gebieten eine ›Germanisierung‹ zu erzwingen. Durch eine Veränderung der Normen und eine gezielte Personalpolitik bei der Besetzung der juristischen Ämter solle die dortige Bevölkerung benachteiligt werden. Die daraus resultierende und auch politisch instrumentalisierte »Rassenjustiz« diene dazu, jegliche Form des Protestes zu unterdrücken.18 In der Weimarer Republik nahm die Justizkritik nicht nur an Umfang, sondern auch an Schärfe zu. Insbesondere von linksradikaler19 und linksliberaler Seite wurde Richtern zunehmend unterstellt, die Demokratie abzulehnen und GesetzesSpielräume auszunutzen, um Urteile zu fällen, deren Geist nun mit dem Kaiserreich

12 Georg Gradnauer, Das Elend des Strafvollzugs, Berlin 1905, S. 5, zit. nach: Worm, S. 41. Auch die Abtreibungsparagraphen und die Bestrafung der Homosexualität wurden als volkswirtschaftliche Schutzmaßnahme interpretiert, Ebd., S. 42–44. 13 Ludwig, in: Neue Zeit 1909/II, S. 260 f., zit. nach: ebd., S. 44 f. 14 Ausführlich mit dem Vorwurf der »politischen Justiz« hat sich Wilhelm beschäftigt. Zumindest am Rande ging bereits Schröder: Richterschaft, S. 212 und 220, darauf ein. Der auf Schröder aufbauende Linnemann, hier: S. 119, sieht in entsprechenden Vorwürfen hingegen keinen zentralen Punkt der Debatte. 15 Brauns, S. 16. 16 Klassisch noch die enge Definition von Blasius: Geschichte der politischen Kriminalität, S. 11. Zum Beispiel des Sozialistengesetzes vgl. Weber: Nebenstrafrecht, S. 55–59; zur extensiven Auslegung der Strafparagraphen zur Unterbindung von Gewerkschaftsarbeit vgl. Worm, S. 45 f.; zu Majestätsbeleidigung vgl. Hartmann: Majestätsbeleidigung, S. 90–182; zu Meineidsverfahren, vgl. Hall. 17 Vgl. Kap. II.3.3.2. Grundlegend Geisel: Klasse. 18 Vgl. Wilhelm, v.a. S. 189–192, 495–504. 19 Vgl. Wagner: Rote Hilfe.

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assoziiert wurde.20 Geteilt wurde diese Analyse bis weit in die (sozialdemokratischen) Landes- und Reichsregierung hinein.21 Sofern die linke Kritik an der Strafrechtspflege reformerisch-konstruktive Ansätze verfolgte, forderte sie im Kaiserreich eine soziale Öffnung des Richterberufs und eine Ausdehnung der Geschworenengerichtsbarkeit. In der Weimarer Republik hingegen wurden zusätzlich ein personeller Austausch der Richterschaft – was die zeitweise Abkehr vom Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter bedeutet hätte –, sowie eine Veränderung der Voruntersuchung, der Beweisaufnahme, eine seltenere Vereidigung der Zeuginnen und Zeugen, eine bessere Belehrung der Angeklagten und eine Schulung der ›Laienrichter‹ angemahnt.22 Häufig jedoch diente der Vorwurf der Klassenjustiz der grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung und verzichtete daher auf konkretere Forderungen. Die Kritik an der Angemessenheit der berufsrichterlichen Urteile wurde von den Richtern mit umso größerer Empfindlichkeit registriert, als dieselben um ihren gesellschaftlichen Status fürchteten und ihrer Rolle als ›Leitstand‹ nachtrauerten.23 Gleichzeitig mussten sie wahrnehmen, dass unter dem Stichwort »Weltfremdheit«24 seit Mitte der 1890er auch im Bürgertum Kritik an der Ausbildung und den Kompetenzen der Richter geübt wurde.25 Diese Kritik jedoch unterschied sich in Trägerschaft, Reichweite und Ton wesentlich von allen anderen gesellschaftlichen Justizkritikdebatten und wurde ab 1906/1908 sogar von zahlreichen Juristen – inklusive Richtern – übernommen.26 »Weltfremdheit« meinte, dass Juristen den Kontakt zum Leben außerhalb des Gerichts und ihrer akademisch-juristischen Kreise verloren hätten und insbesondere keine ausreichenden Kenntnisse von Wirtschaftsabläufen besäßen. Sie würden bei ihren Urteilen einer nicht nachvollziehbaren Logik folgen, weshalb eine Reform der Juristenausbildung und eine verstärkte Heranziehung von Schöffen zur Rechtsprechung anzustreben sei.27 Auch wenn die Nähe zum Klassenjustizvorwurf kaum zu leugnen ist,28 wird hier Linnemanns Deutung der ›Weltfremdheitskritik‹ als »sprachlich abgemilderter, unpolitischer Klassenjustizvorwurf«, der zum Anknüpfungspunkt »für fast jede 20 Kißener, S. 12; Schöningh. Die Frage, wie republikfeindlich die Justiz der Weimarer Republik gewesen sei, spaltet auch die Historiographie: für eine Republikfeindlichkeit: Simon, S. 49–51; Schöningh, insbesondere S. 30–33; Wilhelm, S. 646. Dagegen: Kißener, S. 72–76; Tappert, S. 401 f. 21 Kißener, S. 12 und 96–100. 22 Schöningh, S. 340, betont, dass die konstruktiven Ansätze zu schnell übersehen würden. 23 Schröder: Richterschaft, S. 222; Dove, S. 13 f. 24 Den Begriff führt Linnemann, S. 136 f., maßgeblich auf Oberbürgermeister Dr. Adickes und Richter Hamm zurück. 25 Grundlegend für das Nachfolgende ebd., S. 88–152, und Schröder: Richterschaft. 26 Als Wendepunkt sieht ebd., S. 215 f., die Rede des Landgerichtsdirektors Karl Rudolf Heinze, der dem Grundsatz nach den Klassenjustiz-Vorwurf bestätigte. 27 Ablehnend Dove, S. 14 f. 28 Eine eindeutige Zuordnung entsprechender Justizkritikartikel ist schwierig. So könnte das Plädoyer des Staatsanwaltes, dem Juristenstand mehr Kontakt mit dem Volke durch eine größere Anzahl an Schöffen zuzuführen, ebenso gut unter der »Weltfremdheit«-Debatte angeführt werden, wie unter dem Stichwort »Klassenjustiz«, zu welchem Linnemann, S. 89 f., es rechnet.

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Kritik an der Justiz« geworden sei, nicht übernommen.29 Erstens war sie mit der Kritik an den Zivilrichtern inhaltlich umfassender,30 zweitens unterschied sie sich in der sozialen Trägerschicht und zielte drittens in eine andere politische Richtung. Eine Deutung des »Weltfremdheits«-Diskurses als ›unpolitisch‹ würde hingegen die Selbstinszenierung der Juristen als ›sachlich‹ reproduzieren. Die Klassenjustizthese kam v.a. von linker parlamentarischer wie außerparlamentarischer Seite und zielte in erster Linie auf eine vertikale Gesellschaftskritik,31 in deren Fokus das Offenlegen des zu überwindenden gesellschaftlichen Klassencharakters stand. Den Richtern mangelte es ihnen zufolge nicht an irgendeiner Menschenkenntnis, sondern speziell am Verständnis für die unterbürgerlichen Schichten. »Weltfremdheit« wurde hingegen in erster Linie von bürgerlichen Kritikern und Juristen beklagt32 und war horizontal ausgerichtet. Der Vorwurf stand in völligem Einklang mit der bestehenden Gesellschaftsordnung und zielte auf innerjuristische Reformen. Neben einer praxisnäheren Ausbildung, einer staatlich finanzierten Fortbildung und einer höheren Beteiligung der Richter am gesellschaftlichen Leben bzw. der Politik wurde v.a. eine größere Bedeutung der Schöffen gefordert.33 Eine Stärkung der Schwurgerichte oder eine soziale Ausdehnung der Richterschaft34 galten hingegen anders als bei der Klassenjustizkritik nicht als Ausweg. Daher ist davon auszugehen, dass es in dieser Debatte eher darum ging, erstens zusätzliche Teile des nicht-juristischen, eher kaufmännischen Bürgertums zur Rechtsprechung heranzuziehen, und zweitens im Sinne der ›modernen Schule‹ eine Stärkung der Kriminologie und Gesellschaftswissenschaften in der juristischen Ausbildung35 zu erreichen. Die »Weltfremdheitsdebatte« stellte damit eine politische Reformdebatte dar, die auf Veränderungen und personelle Ausweitung der Rechtsprechung abzielte. Da sie diskursiv jedoch eng mit der zu reformierenden Justiz und dem dort bereits dominierenden Bürgertum verwoben war, waren die Forderungen weniger weitgehend und juristischer geprägt. Für weniger Aufsehen sorgte – auch in der Forschung – die konservative und völkische Justizkritik, die das Komplementär zum Vorwurf der Klassenjustiz bildete. Aus den preußischen Ministerien und von Seiten einzelner Staatsanwälte wurde in den 1890er Jahren bemängelt, dass die Justiz nicht scharf genug am politischjuristischen Kampf gegen die Sozialdemokratie und andere »Reichsfeinde« mitwirke.36 Reichsweit setzte sich die völkischen Bewegung für eine grundlegende Reform des Rechtswesens nach deutschnationalen und völkischen Gesichtspunk29 Linnemann, S. 151. Bei Schröder: Richterschaft, S. 218, auf den sich Linnemann weitgehend bezieht, wird interessanterweise eine umgekehrte Chronologie angeführt. In Übereinstimmung mit Linnemann auch: Wilhelm. 30 Schröder: Richterschaft, S. 207. 31 Linnemann, S. 103 und 108 f., geht nur en passant auf das systemdestabilisierende Potential ein. 32 Darauf verweist auch Schröder: Richterschaft, S. 206 und 210. 33 Vgl. die Forderungsliste bei ebd., S. 210 f. 34 Als Gegenbeleg wäre Fischer, Zur sozialen Lage der Richter, in: DJZ 1907, S. 98ff. (101), anzuführen (nach: Linnemann, S. 117). 35 Vgl. summarisch Kühn, S. 100. 36 Schröder: Richterschaft, S. 218–220; Wilhelm, insbesondere S. 102–106.

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ten ein, da sie das bestehende Recht als dem ›deutschen Rechtsempfinden‹ widersprechend ansah.37 Als zentrales Mittel gegen eine ineffiziente und ungerechte Justiz galt der ›gesunde Menschenverstand‹ der Nicht-Juristen.38 In Anlehnung an den Freirechtler Ernst Fuchs wurde der ›germanische gewählte Richterfürst‹ als Idealbild des Richters bemüht, der über Rechtsbewusstsein, Unabhängigkeit und Wahrheitsliebe verfüge – und am ehesten bei den Nicht-Juristen zu finden sei oder durch eine veränderte Juristenausbildung unterstützt werden müsse. Die Kritik an der mangelnden Ehrenhaftigkeit und Kompetenz der Berufsrichter vermischte sich mit antisemitischen und anti-emanzipatorischen Ansätzen, die sich gegen die Zulassung von Juden zu höheren Richterstellen wandten, eine bereits zu hohe Anzahl jüdischer Juristen im Staats- und Anwaltsdienste beklagten und sich gegen eine Zulassung der Frauen zum Richter- und Schöffenamt aussprachen.39 Diese Justizkritik erhob einen Anspruch auf obrigkeitliche Strenge und wies dem Gericht die Aufgabe zu, die (national gedachte) Gesellschaft vor Kriminalität und den als potentiell revolutionär einzustufenden ›Reichsfeinden‹ zu schützen. Sie forderte zwar mit Verweis auf das ›Rechtsbewusstsein‹ ebenfalls eine stärkere Beteiligung des ›Volkes‹ ein, verband damit aber anti-emanzipatorische Ansichten. Das Gericht erschien auch hier als dringend reformbedürftiger, aber weitgehend legitimer Ort der Konfliktlösung, der jedoch von einer abzulösenden und politisch ›unzuverlässigen‹ Elite dominiert würde. Diese Form der Justizkritik, die sich in der Weimarer Republik radikalisierte und zum Anknüpfungspunkt für nationalsozialistische Justizpolitik wurde, war in die allgemeine zeitgenössische Kulturkritik einzuordnen, die die gesellschaftlichen Veränderungen als Bedrohung deutete.40

3.2 Die Einschränkung der Öffentlichkeit als Reaktion auf Kritik Die diversen kritischen Publikationen und parlamentarischen Debatten blieben nicht ohne Wirkung auf die Fachdiskurse der Juristen. Dabei erzielten sie jedoch nicht in erster Linie die erhoffte reformerische Wirkung, sondern beförderten mittelfristig, dass die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung unter Juristen an Ansehen verlor und eingeschränkt wurde. Diese symbolische und von der Forschung kaum beachtete Reaktion auf die öffentliche Kritik zeigt exemplarisch die politischen Veränderungen auf, die sich innerhalb des liberalen Bürgertums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzogen.

37 Vgl. Nerius, S. 241 und 245. Schröder: Richterschaft, S. 221, und Wilhelm ordnen Klagen über mangelndes Rechtsbewusstsein nicht explizit einer konservativen oder völkischen Richtung zu. 38 Lehmann-Hohenberg, zit. nach: Nerius, S. 231. 39 Ebd., S. 233–238. 40 Vgl. die summarische Darstellung bei Kißener, S. 93–95. Hammerschmidt, S. 19, konstatiert, dass es zu keiner völkischen literarischen Justizkritik gekommen sei. Zur nationalsozialistischen Justizkritik vgl. Krohn.

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Denn die kritisierten Juristen reagierten in der Mehrzahl empört auf die erhobenen Vorwürfe. Zwar fanden die Kritiker in der Weimarer Republik durchaus Unterstützung – gerade auch aus dem Umfeld der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung –, die sich 1922 im Republikanischen Richterbund zusammen schlossen,41 und einzelne Juristen warben für mehr Verständnis für einige Aspekte der Kritik;42 zumeist aber wurde die Kritik nicht nur rhetorisch zurückgewiesen, sondern provozierte auch Gegenvorwürfe. Die nüchterneren unter den empörten Juristen versuchten mithilfe von Statistiken nachzuweisen, dass die Richterschaft durchaus nicht so sozial homogen und exklusiv zusammengesetzt sei, wie ihr vorgeworfen wurde. Andere hingegen wiesen die Kritik sofort als übertriebene und parteipolitisch motivierte Verleumdung zurück. Sie bedauerten, dass die ständige Wiederholung der ›haltlosen‹ Anschuldigungen durch eine ›kleine Gruppe‹ letztendlich auch in darüber hinausgehenden Kreisen das Vertrauen in die Justiz untergrabe. Insbesondere tauchte gerade in dieser Debatte der Hinweis auf, die Kritiker verfügten als ›Laien‹ nicht über die ausreichende Sachkompetenz, um sich zu diesen Fragen qualifiziert äußern zu können.43 Dritte wiederum gaben den Vorwurf an den Absender zurück und forderten die Abschaffung der ›Laienrichter‹, weil es die unterbürgerlichen Schichten, namentlich die Arbeiter, seien, die dort eine Klassenjustiz zu Ungunsten der höheren Schichten ausübten.44 Als abgeschwächte Form wurde auch vorgeschlagen, Personen aus dem Umfeld der Sozialdemokratie aufgrund ihrer Parteilichkeit als Geschworene und Schöffen auszuschließen. Die Gegenwehr wurde insbesondere von Seiten des 1909 neu gegründeten Richterverbands geführt, dessen Vereinsorgan, die Deutsche Richterzeitung, es explizit als seine Aufgabe ansah, gegen die Justizkritik anzugehen.45 Teilweise erwogen die gescholtenen Juristen sogar ihrerseits eine Kriminalisierung der Kritik. So gab es Bestrebungen, Kritik an Richtern und der Rechtspflege strafrechtlich als Beleidigung zu verfolgen und dafür auch das Strafgesetz zu verschärfen.46 Die Schärfe und Empörung, mit der ein Großteil der Juristen reagierte, machte aber noch etwas anderes deutlich: Zumindest indirekt erkannte man die Justizkritik als mächtige gesellschaftliche Beteiligung am rechtspolitischen Diskurs an. Die von justizkritischer Seite erhobene Forderung nach einer Demokratisierung der Justiz kann in Form (öffentliche Debatte, Reformvorschläge) und Inhalt (mehr Partizipation von ›Laien‹) als gesamtgesellschaftlicher Anspruch gewertet werden. Bei der abwehrenden bis diffamierenden Reaktion zahlloser Juristen handelte es 41 Zur Justizkritik aus dem Umfeld des Republikanischen Richterbundes in der Zeitschrift Die Justiz, vgl. Rasehorn. 42 Clausius. 43 Schröder: Richterschaft, S. 214 f., der dies aber nicht in Verbindung zu einer ›Laienschelte‹ setzt. Vgl. Kap. I.3.1.3. 44 Vgl. Rottleuthner, S. 148 f. 45 Redaktionsplan der DRZ 1909, S. 7, gemäß Linnemann, S. 124. Zur Deutschen Richterzeitung vgl. Glauben, S. 377 f. und 382 f. Kritischer: Rottleuthner, S. 152–156 und 167 f. 46 Vgl. die dies ablehnende Zusammenstellung bei Glaser: Presse, S. 137–139.

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sich deutlich um die Versuche einer staatlichen Elite, ihren Machtanspruch zu verteidigen.

3.2.1 Die Öffentlichkeit als Enttäuschung Die aktiv und nach eigenen Maßstäben agierende Publizistik sowie das dem aufklärerischen Ideal nicht entsprechende Publikum verloren im juristischen Diskurs in der Folge ihren verfassungsrechtlichen Nimbus als Garant der Freiheit. Mit vermeintlich rein sachbezogenen Effizienzargumenten wurde eine schleichende Rückkehr zu geheimen Verhandlungen forciert, die politisch an anti-liberale VormärzKonzepte anknüpfte und gegen eine gesellschaftliche Mitbestimmung gerichtet war.47 Auch wenn die Gerichtsöffentlichkeit an sich nicht zur Disposition stand,48 fanden sich im Kaiserreich nur wenige Juristen, die explizit die Wichtigkeit der Berichterstattung betonten.49 Denn aus journalistischer Sicht mochte die veränderte Berichterstattung der Tageszeitungen eine Professionalisierung darstellen, für Juristen handelte es sich hingegen um eine »Entfachlichung«.50 Sie sahen in einer Berichterstattung, die sich an der story und nicht an der juristischen Relevanz ausrichtete, eine unzulängliche Wiedergabe der eigenen Arbeit.51 Und auch die Literatur schien ihnen ein vollkommen falsches und verunsicherndes Bild der Justiz zu erzeugen.52 Als eine Ursache für diese ›unsachgemäße‹ Berichterstattung machten die Juristen die fehlende juristische Ausbildung sowie mangelnde juristische Fachkenntnisse aus.53 Die Berichterstattung durch Reporter, die nur ab und zu oder aber über zu viele Prozesse gleichzeitig schrieben, sei unangemessen, fehlerhaft und unverantwortlich.54 Aus ihrer Sicht sollten die Zeitungen daher ausschließlich auf Korrespondentenberichte der wenigen für kompetent befundenen Gerichtsreporter zurückgreifen, ihre Artikel durch angestellte Juristen55 bzw. speziell ausgebildete

47 Bösch: Öffentliche Geheimnisse, S. 10, 472 und 479 f., geht am Rande darauf ein, dass die Skandale häufig zu konservativen Forderungen nach einer Einschränkung der Öffentlichkeit führten. 48 Kritisch: Brauweiler. 49 Glaser: Presse, S. 12 f. Bang ohne Sympathien für eine justizkritische Berichterstattung. 50 Marxen. 51 Glaser: Presse, S. 18 f.; Schneikert: Raubmordprozeß, S. 286 f. 52 Hammerschmidt, S. 21; Drosdeck, S. 324. 53 Vergleichsweise freundlich in ihrer Kritik: Hamm: Presse, S. 12, und Wulffen: Justiz und Presse, S. 8; Elwert, S. 355; Glaser: Presse, S. 16–18 und 30–39. Teilweise wird diese Einschätzung durchaus von der Historiographie geteilt, Kißener, S. 70. 54 Wulffen: Schäden in der Berichterstattung, S. 1234; Schellhas: Rechtswissenschaft, S. 116 f. 55 Ebd., S. 117; Werner: Gerichtsberichterstattung, S. 736; Wulffen: Justiz und Presse.

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Journalisten verfassen56 oder dazu abgeordnete Amtsrichter gegenlesen lassen.57 In besonders wichtigen Fällen sollten die Gerichte selbst offizielle Artikel für ausgewählte Zeitungen verfassen.58 Und tatsächlich beauftragten die Gerichte in der Weimarer Republik einzelne Richter mit der Kontaktpflege zur Presse.59 Dass bei dem Hinweis auf mangelnde Kompetenz verletztes Standesbewusstsein eine mindestens ebenso große Rolle spielte wie die Sorge um die Qualität der Berichte, zeigte sich, als sich der Reichsgerichtsrat Stenglein empört gegen einen Artikel eines Geschichtsprofessors zur Wehr setzte,60 oder der Berliner Richter Schellhas bemängelte, dass es »nicht zu entschuldigen [sei], daß mangelhaft sachkundigen Personen solche Berichte anvertraut werden.«61 Insbesondere parteinahe Zeitungen wie der Vorwärts und ›Revolverblätter‹, aber – im Widerspruch zu den hier vorgelegten Ergebnissen – auch lokale Zeitungen wurden als qualitativ bedenklich eingestuft.62 Umso empörter zeigte sich ein Artikel in der Deutschen Richterzeitung darüber, dass es auch bei jener Presse, »die es sich zur idealen Aufgabe gemacht hat, mitzuhelfen an der Erhaltung und Pflege unserer nationalen Güter«, zu »ungerechtfertigter Kritik und unsachgemäßer Berichterstattung« komme.63 Und auch die Parlamentarier und einschlägigen Fachleute – hier sind wohl die rechtswissenschaftlichen Professoren gemeint – würden in ihrer Vorstellung vom Gerichtsalltag durch die Presse massiv gelenkt. Das medial verzerrte Bild der Justiz sei nicht zuletzt die Ursache einer unzulässigen Justizschelte, wie sie sich hinter den Schlagworten der Klassenjustiz und Weltfremdheit verberge, und eines gesunkenen Vertrauens der Bevölkerung in die Justiz.64 Der Nutzen der medialen Öffentlichkeit wiege ihren Schaden nicht auf.65 Eng mit dem Vorwurf mangelnder Qualität und gezielter Sensationsmache verbunden war die Befürchtung, dass die Artikel – später auch: Kinofilme – das sittliche Empfinden der Bevölkerung störten oder eine verbrechensinduzierende Wirkung hätten,66 obwohl man anerkannte, dass es dafür keine empirischen Belege gab.67 Negative Auswirkungen befürchtete man auch für die Prozessbeteiligten. 56 Glaser: Presse, S. 30–39. 57 Bang, S. 150. 58 Elwert, S. 356. Dieser Vorschlag schlug offenbar in Journalistenkreisen hohe Wellen, fand jedoch keine ungeteilte Zustimmung: Werner: Gerichtsberichterstattung, S. 735; kritisch: Glaser: Presse, S. 24–30. 59 In diesem Zug entstanden auch die ersten Pressestellen, z. B. in Baden 1923: Kißener, S. 70. Als 1907 das erste deutsche Interview mit einem Juristen im Zuge der Harden-Prozesse veröffentlicht wurde, verdeutlichte die umgehend einsetzende Kritik an diesem als unstandesgemäß kritisierten Verhalten des Beamten, wie schwierig der Umgang mit den Medien geworden war. Hett, S. 106. 60 Stenglein: Rechtsgefühl, S. 141–143; ähnlich: Dove, v.a. S. 16; von Bülow; Bang, S. 148. 61 Schellhas: Rechtswissenschaft, S. 117. 62 Bang; zur Präsenz juristische Logiken in der Lokalpresse vgl. Kap. II.2.1. 63 Ebd., S. 146; ohne nähere Angabe zu den kritisierten Zeitungen. 64 Elwert, S. 355. 65 Heckscher, S. 36. 66 Becker: Hauptverhandlung, S. 557; Ledenig; Riß; Hellwig: Aktenmäßige Fälle; mit Bezug zu Jack the Ripper: Glaser: Presse, S. 20. 67 Maase, S. 105 f.

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Die öffentliche Bloßstellung des unschuldig Angeklagten, der Opfer, der Zeuginnen und Zeugen aber auch der zugehörigen Verwandten und Freunde wurde vor allem seit 1906 immer wieder angeprangert, wobei vermehrt ein Fokus auf Beleidigungsklagen gerichtet wurde. Wesentlich für dieses Argument war, dass die beteiligten Personen in den Presseartikeln für ihr Umfeld deutlich erkennbar waren.68 Im Laufe der Diskussion um den Persönlichkeitsschutz wurde dabei eine Unterscheidung zwischen schützenswerten und nicht schützenswerten Angeklagten ins Spiel gebracht, die an die Unterscheidung von ›würdigen‹ und ›unwürdigen‹ Armen erinnert und überaus umstritten war.69 Die Presseöffentlichkeit sei – so die Juristen – für die Ehre und das Sozialleben der Betroffenen weit gefährlicher und gefürchteter als die Öffentlichkeit des Gerichtssaals. Damit aber maße sich die Presse eine Macht an, die selbst der Justiz nicht zustünde.70 Zudem barg die journalistische Arbeit in den Augen der Juristen konkrete prozessuale und politische Gefahren. Es wurden Bedenken geäußert, die im Zusammenhang mit der Öffentlichkeit in Form anwesender Personen traditionell geäußert worden waren: Zeugen und Angeklagte könnten aus Scham, Angst oder Geltungssucht ihre Aussagen verändern oder gleich ganz auf ihre Anzeige und Klage verzichten. Mittäter oder später aufzurufende Zeugen könnten detaillierte Informationen über die vorliegenden Beweise und die bereits gemachten Zeugenaussagen erhalten.71 Weniger ausgeprägt war zunächst die Sorge, Journalisten könnten eigene Recherchen anstellen und damit in die Ermittlungen eingreifen,72 da investigativer Journalismus selten war.73 In erster Linie fürchteten die Juristen eine Beeinflussung der Gerichte durch die Presse. Spätestens seit der Konitz-Affäre des Jahres 1900, bei der eine vorwiegend antisemitische Pressekampagne die Justiz beeinflusst hatte, warnten Juristen vor der Macht der Presse. Ihre emotionale Berichterstattung könne Hysterien auslösen und in der Folge das Verfahren massiv behindern, indem die Berichterstattung falsche Hinweise, Denunziationen und Zeugenaussagen auslöse.74 Die Berichterstattung über die nicht-öffentlichen polizeilichen und gerichtlichen Recherchen schädige außerdem die Unbefangenheit der urteilenden Personen.75 Es wurde aus vermeintlicher Praxis beklagt, dass Richter und insbesondere ›Laienrichter‹ die Prozesszusammenfassungen in den Zeitungen läsen, weil sie selbst sich den Verlauf nicht im Detail hatten einprägen können.76 Man befürchtete, dass sie durch die 68 Grund; Heckscher. Glaser: Presse, S. 132–137, nennt dafür Wulffen: Schäden in der Berichterstattung, als ursächlich. 69 Beispielhaft: ebd., S. 1231 f.; weitere sind bei Glaser: Presse, S. 133–135, genannt, der sich sehr deutlich gegen solche Unterscheidungen ausspricht. 70 Wulffen: Schäden in der Berichterstattung, S. 1233; ähnlich: Heckscher, S. 36. 71 Lenzberg; Brauweiler; Bumke, S. 306. 72 Schneikert: Psychologie, S. 32, der eine Beeinflussung der Zeugen durch Presseinterviews befürchtete und diese daher verbieten lassen wollte. 73 Am ehesten bei Skandalprozessen, vgl. Bösch: Öffentliche Geheimnisse, u.a. S. 476. 74 Hett, S. 162 f.; Nonn, S. 145–156; Smith: Geschichte des Schlachters, S. 24–26, 46–55. 75 Lenzberg. 76 Koch: Öffentlichkeit, S. 92.

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Meinungen und Fehler der Journalisten in ihren Urteilen fehlgeleitet würden.77 Eine Beeinflussung des Verhaltens drohe auch dadurch, dass die Beteiligten sich bemüßigt fühlen könnten, auf ihr mediales Image zu achten.78 Eine öffentliche Beeinflussung insbesondere der richterlichen Handlungen – wie sie bei Urteil und Begnadigung des so genannten Hauptmanns von Köpenick erfolgt war79 – lehnte die Mehrheit der Juristen als sachfremd ab.80 Doch auch das Publikum der Gerichtsverhandlungen stand in der juristischen Kritik. Die Konzeption des kontrollierenden Publikums umfasste in der aufklärerisch geprägten Theorie nur bürgerliche Männer, die als ausreichend gebildet, rational und ernsthaft gelten konnten. Abweichend von der leitenden französischen Praxis gab es daher länderspezifische Regelungen zu Geschlecht, Alter, Bildung und Einkommen.81 Generell ausgeschlossen waren Minderjährige82 sowie zum Teil Personen, denen die bürgerlichen Ehrenrechte entzogen worden waren.83 Das Publikum hatte der Würde des Gerichts entsprechend zu erscheinen.84 Neben dem Mitführen von Waffen waren vor allem anstößige Kleidung, Mütter mit Säuglingen, ekelerregende Krankheiten, Geisteskrankheit aber auch pompöse Garderobe oder Schoßhündchen vor Gericht unerwünscht.85 Auch wenn die überhöhten Ticketpreise des Berliner Kriminalgerichts Moabit darauf verweisen, dass dieses zeitweilig ein HotSpot der Berliner High Society war,86 wurden die Gerichtssäle – glaubt man den zeitgenössischen Klagen – dennoch gerade auch von Männern aus den Unterschichten und von Frauen aller Schichten besucht. Dieses Publikum sahen große Teile der Juristen als unwürdig an: Es sei »eine Schmach für den Deutschen Richterstand, wenn man hier die Wächter seiner Gerechtigkeitsliebe sehen will.«87 Entsprechend plastisch wurden sie z.T. als »Abhub«88 oder »Hefe«89 der Gesellschaft tituliert. Dass das Publikum dem bürgerlichen Ideal nicht entsprach, wurde auch in den über Jahrzehnte wiederholten Klagen über

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Bang, S. 151; Elwert, S. 356; Glaser: Presse, S. 14 f.; Hett, S. 42 f. Imm, S. 386 f. Hett, S. 186–194; Müller: Auf der Suche. Vgl. – im Widerspruch zu den hier vorgelegten Ergebnissen – Kulemann: öffentliche Meinung, und von Buchka. Zu den Debatten vgl. Alber, S. 59, 130–143. Es lag mangels eindeutiger Altersgrenzen im Ermessen der Richter, über die Zulassung zu entscheiden, Koch: Öffentlichkeit, S. 59 f.; Gunderlach, S. 92–94. Zur Situation um 1850 vgl. Habermas: Diebe vor Gericht, S. 319, Fn. 31. Gunderlach, S. 94–96. Hierbei handelte es sich um eine Kann-Regelung. § 176 Abs. 1 GVG Koch: Öffentlichkeit, S. 61 f.; ähnlich: Gunderlach, S. 96–99. Müller: Auf der Suche, S. 168. Heckscher, S. 36. Berliner Zeitung 30.9.1891, Nr. 228, 1. Blg., 2, zit. nach: Müller: Auf der Suche, S. 80. Kleinfeller, S. 437.

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störende »Ausdünstungen« deutlich, welche drohten, das Gericht zu »kontaminieren«.90 Entsprach das Publikum in seiner sozialen Zusammensetzung also nicht dem juristisch-bürgerlichen Ideal, wurde auch bezweifelt, dass es die Gerichtssäle aus lauteren Motiven aufsuche. Neben der Sensationsgier fürchtete man die so genannten ›Kriminalstudenten‹, die den Gerichtssaal angeblich als Ort der kriminalistischen Schulung betrachteten.91 Eine höhere Beteiligung gebildeter Stände sei überaus erstrebenswert, denn ein konzeptionelles Ziel der öffentlichen Verhandlung war ja auch, dass die Bevölkerung über die Gerichte belehrt würde, was jedoch eine Bereitschaft zum Lernen voraussetze.92 Wolfgang Mittermaier, ein Enkel des vormärzlichen Rechtsreformers Karl Mittermaier, brachte die juristische Sorge wie folgt zum Ausdruck: »Nicht nur die Sensationslüsternheit verrohter Menschen oder blasierter Frauen sollte zum Besuch der Gerichtshallen antreiben, sondern der Wunsch, einen Einblick in die Menschenseele zu tun, […] sich selbst zu belehren im Kampf um den Fortschritt.«93

Vielsagend erscheint die in diesem Zusammenhang auftauchende Theatermetaphorik, die bereits 1848 eine viel verwendete rhetorische Figur darstellte.94 Das Gericht werde zur Bühne und die Zuschauer zum Publikum, das in Einzelfällen gar ein Opernglas verwendete.95 Die bürgerliche Konzeption des Theaters war aber nicht nur mit einem Bildungsanspruch, sondern auch mit einem Verhaltenskodex verbunden. Das Publikum hatte in seinem abgetrennten Zuschauerraum stumm beobachtend zu verweilen. Die Zuschauerplätze waren nach sozialen Gesichtspunkten differenziert, mit Logen für die besser gestellten oder fachnahen Kreise.96 Sie sollten lernen und kontrollieren – aber nicht handeln.97 Indem die Zuschauer durch Gemurmel98 und zur Schau gestellte Emotionen – etwa Applaus über ein

90 Während Hett, S. 18, diese Schilderungen für die Moabiter Verhandlungen des Kaiserreichs auf die beengten Räumlichkeiten und schlechten Belüftungsverhältnisse zurückführt und damit als faktische Darstellungen übernimmt, zieht Habermas: Diebe vor Gericht, S. 186, für die Frühzeit der öffentlichen Verhandlungen eine Parallele zum zeitgenössischen Hygienediskurs, welcher eben auch eine soziale, insbesondere distanzierende Komponente, umfasste. 91 Für das frühe 19. Jahrhundert: Alber, S. 54–56 und 119–121; zur Mitte des 19. Jahrhunderts: Habermas: Diebe vor Gericht, S. 185; für das Kaiserreich: Friedmann: Öffentlichkeit, S. 17 f.; Schneikert: Raubmordprozeß, S. 286; Kleinfeller, S. 437; für 1920: Koch: Öffentlichkeit, S. 93. 92 Mittermaier: Stellung des Bürgers, S. 4 und 16. 93 Ebd., S. 4. 94 Vgl. Habermas: Diebe vor Gericht, S. 183 für 1848. Zeitgenössisch: Schneikert: Raubmordprozeß, S. 286. Abfällig verwendet bei Grundmann, S. 25. 95 Die Opernglasszene beschreibt Müller: Auf der Suche, S. 164; Gunderlach, S. 97; Heckscher, S. 35. 96 Entsprechende Tribünen gab es in Berlin und München: Klemmer u. a. S. 76; vgl. zur räumlichen Analogie Müller: Auf der Suche, S. 165 f. In Leipzig waren diese für die Juristen bzw. den Präsidenten des Landgerichts reserviert, vgl. Windisch, S. 9. 97 Koch: Öffentlichkeit, S. 22, betont die »passive« Rolle. 98 Alber, S. 52 und 116 f., Habermas: Diebe vor Gericht, S. 185, für das Kaiserreich Müller: Auf der Suche, S. 165.

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Urteil99 – in eine Kommunikation mit den handelnden Personen traten, überschritten sie eine Grenze.100 Wurde das Verhalten im Einzelfall als zu störend empfunden, konnte der Vorsitzende Richter Einzelne aus dem Gerichtssaal entfernen lassen, wenn sie »den zur Aufrechterhaltung der Ordnung erlassenen Befehlen nicht gehorchen«.101 Die Juristen fürchteten jedoch grundsätzlicher, dass die vermeintliche Irrationalität und Emotionalität der ›Laien‹ im Publikum auf Rechtsanwälte, Zeuginnen, Zeugen und Geschworene übergreifen und dadurch die Sphären vermischen könnten.102 Hier spielt deutlich auch die Ablehnung der ›Laienbeteiligung‹ und eine Geringschätzung der Rechtsanwälte – die anders als Richter und Staatsanwälte eben emotionalisierbar seien – eine Rolle: Rechtsanwälte würden wegen des Werbeeffekts sogenannte ›Fenster-Plädoyers‹ halten und Geschworene in ihren Urteilen beeinflusst. Bei den Zeuginnen und Zeugen aber setzte man einerseits in der Tradition Savignys darauf, dass sie es aus Furcht vor Entdeckung nicht wagen würden, im Angesicht ihres persönlichen Umfeldes zu lügen,103 andererseits fürchtete man eine Verfälschung der Aussage durch Einschüchterung oder Aufschneiderei: »Der Zeuge erblickt dann im Zuschauerraum […] eine Fülle bekannter Gesichter […] oder […] fremder Menschen. Je nach Individualität wird der eine eingeschüchtert, der andere angefeuert, sich nun erst recht aufzuspielen.«104

3.2.2 Schleichende Rückkehr nicht-öffentlicher Verhandlungen ab den 1880ern Die Öffentlichkeit als Verfahrensprinzip war im Kaiserreich etabliert und wurde als Grundsatz nicht in Frage gestellt. Dennoch führte ein Wiedererstarken konservativer Diskursstränge in Reaktion auf die Justizkritik zu einer normativen und faktischen Aushöhlung, die mit dem Schutz des Staates und des Individuums begründet wurde.105 Bereits 1888 trat eine Gesetzesänderung in Kraft, welche den Ausschluss der Öffentlichkeit vervollkommnen sollte. Sie war – wie so viele im Kaiserreich – durch einen Berliner Skandalprozess veranlasst. Im Prozess gegen Gustav Graef 99 Friedländer, etwa: S. 46, 88. Applaus wurde vom Vorsitzenden umgehend gerügt, vgl. OL 14.7.1898. 100 Koch: Öffentlichkeit, S. 92. 101 Zitat aus: § 178 GVG. Zur Sitzungspolizei: Gunderlach, S. 103–113; für 1848: Habermas: Diebe vor Gericht, S. 185. Vgl. dazu Kap. I.3.2. 102 Die Debatte um die drohende Selbstdarstellung der Anwälte in Kap. I.3.2.4 und bei Alber, S. 49, 111; zur Beeinflussung von Richtern und Geschworenen ebd., S. 118. Für 1848 bereits: Habermas: Diebe vor Gericht, S. 186. Zur Verknüpfung von öffentlichen Verhandlung und der Thematisierung ›irrationaler‹ Themen vgl. Hett, S. 147 und 153–155. 103 Kulemann: Voruntersuchung, S. 22; Kronecker: Reformbedürftigkeit, S. 449 f., mit Verweis auf Savigny. So bereits Feuerbach und Mittermaier, vgl. Koch: Zeugenbeweis, S. 253. 104 Heilberg, S. 106. Zur Kontinuität der Debatte: Alber, S. 49, 112 f. 105 Rohde, S. 65–71, sieht diesen kontinuierlichen Prozess als Fortschritt hin zum Persönlichkeitsrecht und übernimmt dabei die zeitgenössischen Topoi der »Erfahrung« und »Gefährdung«.

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waren 1885 Aspekte öffentlich geworden, deren Bekanntmachung als staatsgefährdend eingestuft wurde.106 In der ursprünglichen Fassung des Gesetzesentwurfs der Reichsregierung wurde daher vorgeschlagen, dass erstens ein sogenannter Schweigebefehl in allen Prozessen erlassen werden könne, in denen die Öffentlichkeit ausgeschlossen war. Der Richter sollte künftig die verbliebenen Anwesenden zu Stillschweigen verurteilen können. Zweitens dürften künftig über nicht-öffentliche Verfahren grundsätzlich keinerlei Presseberichte mehr erfolgen.107 Es sollte damit künftig inhaltlich diskret bleiben, was in geheimer Sitzung verhandelt wurde. Dieser von konservativer Seite geplante Eingriff in die Öffentlichkeit, ein Rückgriff auf Verhandlungen in camera, provozierte publizistischen Protest108 und die schließlich entschärfte Fassung führte lediglich die »Staatsgefährdung« als neue Sonderform der »Bedrohung der öffentlichen Ordnung« ein. Nur in diesen Fällen konnte die Öffentlichkeit ausgeschlossen und ein sogenanntes Schweigegebot ausgesprochen werden.109 Es wäre dann den weiterhin der Verhandlung beiwohnenden Personen untersagt, jene Details, die sie im Rahmen der Verhandlung erfahren hatten, anderen Personen mitzuteilen.110 Zur Sicherung des inhaltlichen Geheimnisses gehörte auch, in diesen Fällen die Urteilsverlesung nicht mehr öffentlich stattfinden zu lassen – was bis dato ein absoluter Revisionsgrund gewesen war. Der Presse war in Fällen der ›Staatsgefährdung‹ grundsätzlich jede Berichterstattung untersagt, selbst wenn der Schweigebefehl vom Gericht nicht erlassen wurde.111 Vergegenwärtigt man sich, dass die ursprüngliche Idee der Gerichtsöffentlichkeit gerade auch darauf abzielte, Willkürurteile in als politisch geltenden Verfahren zu verhindern, wird deutlich, wie sehr das Prinzip hier in seinem Fundament angegriffen wurde. Dass das Öffentlichkeitsprinzip auf bröseligem gesetzlichen Boden stand, wurde erneut sichtbar, als durch einen weiteren Skandalprozess in der sogenannten ›Lex Heinze‹ 1892 zeitweise eine Ausweitung des Schweigebefehls ins Spiel gebracht wurde.112 Nun sollte er in Verfahren der nachträglichen Diskretion dienen, bei 106 Britz, S. 27; Hett, S. 25; Kleinfeller, S. 459. Den Anfang habe Fuchs: Zum Prozeß Gräf, gemacht, so Schiff, S. 142 f. 107 Gunderlach, S. 32–38, hier: 34; Grundmann, S. 29–36. 108 Vgl. die summarische Darstellung bei Schiff, S. 145–154. Zu den schärfsten Kritikern gehörten mit unterschiedlichen Akzenten: Friedmann: Öffentlichkeit; Kleinfeller; Meves: Oeffentlichkeit; von Bar: Oeffentlichkeit; Jastrow. 109 Vgl. Löwe: Strafprozeßordnung (1914), S. 1062. Hier erscheint Hett, S. 25, missverständlich, wenn er den Eindruck erweckt, auch die Ausschließungsgründe der Sittlichkeits- und Ordnungsgefährdung seien erst 1888 ins GVG eingeführt worden. 110 Zu den Neuregelungen vgl. Grundmann, S. 36–58. Zum Schweigebefehl des §175 II GVG vgl. Gunderlach, S. 176–194; Koch: Öffentlichkeit, S. 49–53. Von Bar: Oeffentlichkeit, sieht darin eine eklatante Einschränkung der Verteidigungs- und Berufungsrechte, da umstritten sein würde, wann es sich um eine »befugte« Mitteilung handele. 111 Vgl. Löwe: Strafprozeßordnung (1914), S. 1062. 112 Das Gesetz trug seinen Namen nach einem Berliner Ehepaar, dessen Mordprozess reichsweites Aufsehen erregt hatte – zum einen wegen der Details über die Berliner Prostitution, die in den Verhandlungen zu Tage getreten waren, zum andern, weil die Strategie des Verteidigers als unangemessen skandalisiert worden war. Es verschärfte in erster Linie die Strafbestimmungen zu

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denen sich im Verlauf herausstellte, dass die Öffentlichkeit aus Sittlichkeitsgründen hätte ausgeschlossen werden können. Den Anwesenden würde dann vom Richter bei Strafe verboten, über das in öffentlicher Sitzung Gehörte zu erzählen. Im Ergebnis drohte es zu der paradoxen Situation zu kommen, dass bei Sittlichkeitsfragen der Bericht über eine öffentliche Verhandlung generell strafbar sein konnte, während er bei nicht-öffentlichen Prozessen – für die der Schweigebefehl nur in Sicherheits- und nicht in Sittlichkeitsfragen verhängt werden durfte – im Grundsatz erlaubt gewesen wäre. Die Gerichtsöffentlichkeit war hier in den Fokus der Sittlichkeitsbewegung und der Inneren Mission geraten, die mit ihren Petitionen maßgeblich zum Gesetzesvorhaben beitrugen.113 Für die protestantische Innere Mission wie auch für die damit eng verbundenen Sittlichkeitsvereine war eine wachsende Kriminalität Folge von und Zeichen für sinkende Moral und fehlenden Glauben.114 Zwar erkannte man das belehrende Potential, das öffentlichen Verhandlungen zugeschrieben wurde. Dennoch wurde eine Gefährdung der Sittlichkeit befürchtet, insbesondere wenn in Verfahren Prostitution oder ›Unzucht‹ verhandelt wurden.115 Im Zuge der ›Lex Heinze‹ verschickten die Sittlichkeitsvereine 1640 Petitionen mit fast 40.000 Unterschriften allein an den Reichstag und weitere an einzelne Landesregierungen, den Bundesrat und den Reichskanzler.116 Der Vorstoß der Regierung zur Änderung der Strafprozessordnung fand aber nur die Unterstützung der Nationalliberalen und scheiterte endgültig in der Reichstagskommission.117 Über den Umweg der Strafrechtsnovelle, die am 25.6.1900 ebenfalls als Ergebnis der ›Lex Heinze‹-Debatte verabschiedet wurde, wurde der Spielraum der Presse bei Gerichtsreportagen stark beschnitten.118 Der neue Paragraph 184b des Reichsstrafgesetzbuches stellte Mitteilungen über Verhandlungen unter Strafe, wenn bei diesen die Öffentlichkeit zum Schutz der Sittlichkeit ausgeschlossen war. Zwar bedeutete dies – anders als beim Ausschluss aus Gründen der Staatssicherheit – kein absolutes Berichtsverbot, aber es erschwerte die Berichterstattung, wurden doch auch Berichte unter Strafe gestellt, die nur wissentlich in Kauf nahmen,

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Prostitution und Zuhälterei. Vgl. Hett, S. 64–103; Müller: Auf der Suche, S. 77–91. Zum Gesetzgebungsverfahren Hartmann: Prostitution, S. 72–103; vgl. Mast, S. 139–190; Werner: lex Heinze und Müller: Die Lex Heinze. Streitfragen. Wissenschaftliches Fachorgan der deutschen Sittlichkeitsvereine 1893, S. 21, 28 ff., 45 f., 49 f., 94 f., 132, 157 f., druckten Auszüge aus den Reichstagsprotokollen. Eine Stichprobe in katholischen Vereinspublikationen und Monographien zeigt keine entsprechende Aufmerksamkeit. Vgl. etwa die Historisch politischen Blätter für das katholische Deutschland, die Juristischen Rundschau für das katholische Deutschland, die Verhandlungen der Generalversammlung der Katholiken Deutschlands, von denen elf Jahrgänge ausgewertet werden konnten, sowie Kreuznacher Pfarrämter und Volksmission; Kreuznacher Pfarrämter; Kassiepe. Auch die Forschung zur Volksmission gibt hier keine Ansatzpunkte, vgl. Gatz. Streitfragen. Wissenschaftliches Fachorgan der deutschen Sittlichkeitsvereine 1893, S. 29, Fn. 13. So der Jahresbericht 1894, S. 19; Henning, S. 13; Müller: Die Lex Heinze, S. 10; Mast, S. 141, Fn. 10. Zur gescheiterten Novelle des §173 GVG vgl. Müller: Die Lex Heinze, S. 140–142. Vgl. dazu auch: Széchényi, S. 181–183; Mahlich, S. 20–26.

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»Ärgernis« erregen zu können.119 Angesichts des öffentlichen Aufsehens, das die restlichen Abschnitte des Gesetzes mit ihren »Theater-« und »Schaufensterparagraphen« ausgelöst hatten, ging der erneute Eingriff in das Justizgrundrecht beinahe unter. In der Reichstagsdebatte 1900 stellten sich nur die Sozialdemokraten gegen diese erneute Einschränkung der Presse.120 Zur Erinnerung sei wiederholt, dass zeitgleich eine Kriminalisierung jeder Form der Justizkritik angestrebt wurde. Damit war aus juristischer Sicht jedoch das Potenzial an sinnvoll erscheinender ›geheimer‹ Verhandlung noch nicht ausgeschöpft: Bereits der Gesetzentwurf 1888 hatte ursprünglich vorgesehen, in Jugend- und in Beleidigungsprozessen auf Antrag ein nicht-öffentliches Verfahren durchzuführen,121 was nicht zuletzt am Widerstand Württembergs und Bayerns gescheitert war.122 Insbesondere führte man die Neigung an, vor Gericht Zeuginnen, Zeugen oder Prozessgegner öffentlich (wiederholt) zu beleidigen und diesen dadurch unabhängig vom Ausgang des Prozesses schweren Schaden zuzufügen,123 was Personen dazu brächte, gar nicht erst Anzeige zu erstatten.124 Zum Schutz der Ehre sollte die Öffentlichkeit außerdem bei geringen Vergehen von bisher unbescholtenen Bürgern eingeschränkt werden, damit diese nicht wie notorische Schwerverbrecher behandelt würden.125 Bis 1924 verlagerte sich die Debatte immer weiter weg vom Begriff der Ehre und den Spezifika der Beleidigungsklagen hin zum Schutz des ›Privaten‹ in allen Verhandlungen. So sahen die Entwürfe für eine Reichsstrafprozessordnung 1909 und 1920 vor, die Öffentlichkeit grundsätzlich auszuschließen, wenn »sich die Verhandlung auf persönliche, häusliche oder Familienverhältnisse erstrecken wird, deren Erörterung in öffentlicher Verhandlung eine […] nicht gebotene Härte bedeutet.«126 Gerade im Bereich des sich neu entwickelnden Jugendstrafrechts wurden der Schutz der jungen Angeklagten und die mögliche Beeinträchtigung ihrer Resozialisierung zu einem zentralen Argument.127 Sowohl im gescheiterten Reformentwurf 1908 sowie in der ›Lex Heinze‹ 1888 wurde angestrebt, in Verfahren gegen Jugendliche die Öffentlichkeit nach gerichtlichem Ermessen auszuschließen, was nach

119 Vgl. Gunderlach, S. 204–207; Glaser: Presse, S. 79; Koch: Öffentlichkeit, S. 55. 120 So die Darstellung bei Werner: lex Heinze, S. 36. 121 Kleinfeller, S. 443 f.; Heckscher, S. 37 f.; vgl. Koch: Öffentlichkeit, S. 69 f., der eine Petition des Rechtsanwaltes Burgheim von 1888 erwähnt. 122 Vgl. HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 14039, Briefwechsel der bayerischen Gesandtschaft in Berlin mit dem Bayerischen Justizministerium. 123 Engeler, S. 90 f. 124 Ebd., S. 91. Bösch: Öffentliche Geheimnisse, S. 399, sieht dadurch eine Tendenz des Adels begründet, Ehrstreitigkeiten im Duell auszutragen. 125 Becker: Hauptverhandlung, S. 558; Koch: Öffentlichkeit, S. 90. 126 Zit. nach: Lieblich, S. 60 f. Vgl. auch: Rohde, S. 67. 127 Vgl. Becker: Hauptverhandlung, S. 558; Bernheimer, S. 91–97. Zur Jugendgerichtsbarkeit vgl. Bornhorst, v.a. S. 38 ff.

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dem Scheitern der Reform in einzelnen Ländern per Ministerialverordnungen eingeführt und 1923 reichsweit geregelt wurde.128 Weit darüber hinausgehend, wurde etwa 1903 in der Deutschen Juristenzeitung die Forderung erhoben, künftig die Öffentlichkeit auch bei Eigentums- und Tötungsdelikten auszuschließen; außerdem sollte bei Einverständnis aller Parteien die Öffentlichkeit in allen Prozessen ausgeschlossen werden.129 Dieser Vorstoß, der immerhin in einer zentralen Fachpublikation veröffentlicht wurde, zeigt, wie weit man bereits zwanzig Jahre nach Erlass der Reichsjustizgesetze bereit war, die Öffentlichkeit auszuschließen. Denkbar und zum Teil wünschenswert erschien ein Ausschluss bei Staatsverbrechen, Tötungs-, Sittlichkeits-, Eigentums- und Beleidigungsdelikten, bei Verfahren gegen Jugendliche und bei Zustimmung der Beteiligten – und damit bei der Mehrzahl der Verfahren. 1925 schließlich sah der Entwurf für das Strafgesetzbuch vor, dass in allen Fällen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt würden, ein generelles Berichtsverbot verhängt werden sollte.130 Von der öffentlichkeitskritischen Literatur wurde – und dies ist zentral – fast ausschließlich auf Argumente zurückgegriffen, die bereits in der vormärzlichen Debatte ausgetauscht worden waren: die entehrenden Auswirkungen auf den Angeklagten und die Zeugen, der mögliche Schaden für das Verfahren, das unwürdige Publikum, die Schule des Verbrechens oder die Hygiene.131 Die Kritiker der Gerichtsöffentlichkeit machten keinen Hehl daraus, dass sie keine neuen Aspekte aufwarfen. Im Gegenteil, der Gerichtsalltag seit Einführung der Gerichtsöffentlichkeit mache eine sachliche Neubewertung alter Argumente notwendig: »Es will uns hierbei scheinen, als ob die vor der Einführung der Öffentlichkeit entstandene Literatur zu sehr die Lichtseiten hervorgehoben hat, so daß es hier gilt, […] auch die nicht unbedeutenden Nachteile hervorzuheben und die Bedeutung der Öffentlichkeit auf das richtige Maß zurückzuführen.«132

Der rhetorische Kniff bestand nun darin, den Unterstützern der Gerichtsöffentlichkeit vorzuwerfen, dass auch sie keine neuen Argumente hätten und dass ihre Argumente durch die Gerichtspraxis – die Erfahrung – endgültig als ideologische Träumereien widerlegt seien. In der juristischen Auseinandersetzung des Kaiserreichs um die Gerichtsöffentlichkeit kehrten also die Argumente des Vormärz wieder, indem sie unter rhetorischer Betonung von Rationalismus und Erfahrung gegen eine vermeintlich ideologisierte und politische Sicht in Stellung gebracht wurden. Dass dabei zwi128 Zu den Reformvorschlägen des Entwurfs 1908 vgl. Koch: Öffentlichkeit, S. 71–79; Engeler; Lieblich, S. 60–68. Zu 1923 vgl. Gunderlach, S. 27–31; Britz, S. 28 f.; Grundmann, S. 64–77. 129 Becker: Hauptverhandlung, S. 557 f., ohne damit eine erkennbare publizistische Gegenreaktion hervorzurufen. 130 Mahlich, S. 44 f. 131 So beispielsweise bei Becker: Hauptverhandlung, S. 557 f.; Bernheimer, S. 84–91, dessen Argumente alle aus den Debatten des 19. Jahrhunderts bekannt sind, vgl. Alber. Zur sinkenden Authentizität von Zeugenaussagen: Heilberg, S. 104–106, und Lenzberg. 132 Bernheimer, S. 77; ähnlich: Heckscher, S. 35; Koch: Öffentlichkeit, S. 69 f.

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schen unbescholtenen Bürgern und ›Schwerverbrechern‹ unterschieden wurde, der Fokus auf dem Schutz der Jugend, der Ehre und einer privaten Sphäre lag, macht deutlich, dass es sich hierbei um einen zutiefst bürgerlichen Blick handelte.133 Die bürgerlichen Juristen – so könnte man pointieren – sorgten sich um die bürgerliche Lebenswelt, die durch öffentliche Verfahren und Berichterstattung nicht beeinträchtigt werden sollte. Als Reaktion auf die zunehmende Justizkritik und durch das Wiedererstarken konservativer Diskursstränge wurde somit der liberale Grundsatz in grundlegender Weise umgedeutet und unterminiert. Eine wesentliche Rolle spielte dabei der beharrliche Lobbyismus religiöser Vereine im Umfeld der Sittlichkeitsbewegung. Diese protodemokratische Mitwirkung einer breiten, jedoch konservativen Bevölkerungsgruppe unterstützte ironischerweise damit im Ergebnis eine Einschränkung des Öffentlichkeitsprinzips, das Jahrzehnte zuvor noch als Grundlage für demokratische Mitwirkung im Staat gegolten hatte. Während sie eine größere Distanz zwischen das Gericht und die Bevölkerung bringen wollten, kämpften andere Vereine für eine größere Nähe.

3.3 Rechtsberatung als lokale und reichsweite gesellschaftliche Partizipation um 1900 Um dem von allen Seiten thematisierten Kompetenzgefälle zwischen Juristen und ›Laien‹ entgegen zu wirken, hatte sich im 19. Jahrhundert eine von Juristen verfasste Ratgeberliteratur etabliert.134 Ratgeber erklärten einzelne Rechtsgebiete135 und enthielten Formularvordrucke für den selbsttätigen, zivilrechtlichen Rechtsverkehr.136 Nur in Ausnahmefällen beschäftigten sich diese Handbücher mit der Gerichtsverfassung oder dem Strafgesetzbuch und richteten sich dann vordergründig an potentielle Geschworene oder Schöffen.137 Zudem wandten sie sich zumeist an ein bürgerliches Publikum und gingen von minderschweren Fällen aus.138 Keineswegs konnte oder sollte eine Lektüre den Verteidiger ersetzen.139 Während es bei der Ratgeberliteratur also bis 1924 dauern sollte, bis ein nichtbürgerliches Publikum und Angeklagte avisiert wurden,140 erwuchsen aus den Reihen der Arbeiter- und Frauenbewegung sowie der Kirchen Rechtsberatungsstellen, 133 134 135 136 137 138 139 140

Zur Ehre im Kaiserreich: Goldberg; Speitkamp. So Bücher für Nicht-Juristen wie beispielhaft: Koestlin; Reinhardt; Amelung. Baurecht, Konkursrecht, Zivilrecht Markwardt (Gerichtskosten, Zwangsvollstreckung, Mahnverfahren u.ä.); Müller: Dr. Wilibald Müller’s Rechtsbuch (bürgerliches und öffentliches Recht); Faber. Pallaske; Pilz. Zum GVG: Fuchs: Rechtsverfassung; zum RStGB: Gersbach. Friedmann: Was darf ich?, S. 53 f.; Hett, S. 167, verweist auf eine Vielzahl an Büchern über Justizirrtümer und Tücken des Verfahrens. Friedmann: Was darf ich?, S. 84–93. Glock/Schiedermair für Bürgerkunde in höheren Lehranstalten; Zu Halle vgl. unten.

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die sich dezidiert an ein Publikum richtete, das sich aus sozialen oder finanziellen Gründen keine Hilfe leisten konnte. Auch wenn das Straf(prozess)recht hier eine untergeordnete Rolle spielte, ist die Analyse für die Studie zentral, zeigt sie doch nach dem konservativen Lobbyismus den rechtspolitischen Gestaltungsanspruch der Emanzipationsbewegungen.

3.3.1 Wenig Hilfe für mittellose Angeklagte »Das Bedürfnis des Arbeiters nach Rechtsbelehrung und Rechtsbeistand ist für den besitzlosen Arbeiter ungleich schwerer zu befriedigen, wie für ein Mitglied der besitzenden und gebildeten Klasse, die sich in allen schwierigen Fällen an den Rechtsanwalt zu wenden pflegt.«141

Zu einer funktionierenden und fairen Justiz gehörte in den Augen zahlreicher Zeitgenossen eine unentgeltliche Rechtsauskunft. Während entsprechende Forderungen keinen parlamentarischen Rückhalt fanden, entstanden im Umfeld der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung142 im gesamten Reich seit 1894 sogenannte Arbeitersekretariate.143 1902 gab es reichsweit bereits 29 Arbeitersekretariate, am Ende des Ersten Weltkrieges 130, davon 15 in Bayern (Augsburg ab 1906, Kempten ab 1910).144 Obwohl Rechtsfragen aus allen Lebenslagen bearbeitet wurden, lag der Schwerpunkt – wie auch bei den Publikationen – auf dem Sozial- und Arbeitsrecht, welches den Anstoß zur Gründung der Auskunftsstellen gegeben hatte.145 Fragen zu Strafverfahren spielten trotz des von Justiz und Arbeiterbewegung vielbeschworenen Beratungsbedarfs eine geringe Rolle und machten zwischen 1901 und 1920 nur etwa 7% der Beratungstätigkeit aus.146 Für Bayern ist aus dem Jahr 1912 bekannt, dass die Arbeitersekretariate der freien Gewerkschaften insgesamt 5600 Fälle bearbeiteten, wobei es sich lediglich bei 550 um schriftliche Hilfen in Strafsachen handelte. In Augsburg lag die Quote mit 16% und in Kempten mit 30% der Rechtsgesuche jedoch deutlich höher.147 141 Böhmer, S. 3. 142 Rechtsauskunft im Umfeld des Gewerberechts erteilten auch Handelskammern und wirtschaftspolitische Vereine wie der Bund der Landwirte, vgl. Ebd., S. 5 f. 143 Grundlegend für die weitere Darstellung: Geisel: Klasse, v.a. S. 252–369; Reifner; Reifner/Gorges; Tenfelde: Arbeitersekretäre, S. 26–50. 144 Vgl. ebd., S. 27 f., der sich auf die Statistiken des Correspondentenblattes der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, Statistische Beilage, stützt und dabei offenbar nur die freien Gewerkschaften einbezieht. Würden die Gewerkschaftskartelle (232) und die christlichen Gewerkschaften (83) hinzugezogen, ergäbe sich eine deutlich höhere Dichte, vgl. Zahlen bei: HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 14448, Die Rechtsberatung der minderbemittelten Volkskreise im Jahre 1913, Sonderbeilage zum Reichs-Arbeitsblatt 1914, S. 5; Böhmer, S. 23. 145 Wettmann-Jungblut, S. 109; Tenfelde: Arbeitersekretäre, S. 24–26. 146 Reifner, S. 13, und Reifner/Gorges, S. 243, die sich beziehen auf: Statistischer Annex des Correspondentenblattes 1921, S. 53. Hier erfolgte keine Aufschlüsselung nach Deliktart. 147 Alle Zahlen beziehen sich auf die Eigenstatistik der freien Gewerkschaften aus dem Jahre 1912, abgedruckt in: Böhmer, S. 24.

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Neben den Gewerkschaften richtete seit 1890 auch die katholische Kirche148 sogenannte Volksbureaus ein, von denen 1905 bereits 30 existierten, darunter auch in Augsburg und Kempten.149 Gemeinsam mit den Beratungsstellen der katholischen Arbeitervereine und der erwerbstätigen Frauen machten diese Einrichtungen 1913 in Bayern 17 und im Reich 163 Stellen aus.150 Auskünfte sollten in allen Bereichen des Rechts erteilt werden, wobei die Beratung in Strafsachen um 1904/05 in einem Jahr mit 136 Fällen etwa 11% ausmachte und damit auf ähnlichem Niveau wie bei den gewerkschaftlichen Einrichtungen lag.151 Die Anfragen erstreckten sich auf ein breites Feld des Strafrechts: Diebstahl, Kuppelei oder Forstfrevel finden sich hier ebenso wie Beleidigung, Meineide oder grober Unfug. Auffallend ist, dass keinerlei Sittlichkeitsvergehen und lediglich eine ›fahrlässige Tötung‹ auftauchen. Neben einer statistischen Zufälligkeit könnte dies auf dreierlei hindeuten: Entweder suchten Arbeiter in diesen Fällen keinen Rat bei den katholischen Arbeitersekretariaten, dieselben erteilten diesen nicht oder sie unterschlugen diese Fälle in ihrer Außendarstellung.152 Die Rechtshilfe in Strafsachen beschränkte sich auf die Beratung und das Aufsetzen von Schriftsätzen. Eine Vertretung vor Gericht war den Auskunftsstellen formal nicht gestattet und offenbar anders als im Zivilrecht auch nicht angestrebt. Eine Kooperation mit lokalen Anwälten, die die Verteidigung übernehmen konnten, war bis 1915 nicht erfolgreich.153 Die Beratung erfolgte in Auskunftsstellen unabhängig von der Organisation durch ›Juristen‹ – zumindest aus Sicht der Verbände. Denn bei den angestellten Arbeitersekretären etwa handelte es sich nur höchst selten um studierte Rechtswissenschaftler. Vielmehr rekrutierten sie sich aus der Arbeiterschaft und ehemaligen Redakteuren und verfügten über »juristische Belehrung«, so dass sie sich in allen Feldern des Rechts soweit auskannten, dass sie »wissen, in welchen Gesetzen [sie] sich über einen Fall und über das Verfahren bei demselben Belehrung holen [können]«.154 Was sowohl bei den freigewerkschaftlichen als auch bei den katholischen Auskunftsstellen auffällt, ist, dass die geringe strafrechtliche Tätigkeit in der Außendarstellung nahezu unter den Tisch fiel.155 Angesichts der zeitgenössischen Debatte 148 Über die Tätigkeit der reichsweit 58 Einrichtungen der evangelische Kirche ist bislang wenig bekannt, vgl. Wettmann-Jungblut, S. 109; HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 14448, Die Rechtsberatung der minderbemittelten Volkskreise im Jahre 1913, Sonderbeilage zum ReichsArbeitsblatt 1914, S. 5 und 29. 149 Zu den nachfolgenden Details vgl. Böhmer, S. 25–35. 150 HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 14448, Die Rechtsberatung der minderbemittelten Volkskreise im Jahre 1913, Sonderbeilage zum Reichs-Arbeitsblatt 1914, S. 5. 151 Zahlen für München zwischen April 1904 und März 1905, abgedruckt in Böhmer, S. 33. 152 Aufstellung bei ebd., S. 56, die in Duktus und Ausrichtung als eine Form der Selbstdarstellung zu werten sein dürfte. 153 Ebd., S. 34 und 53. 154 Die Dachverbände boten Ferienkurse und Hospitationen, ebd., S. 108 f.; Tenfelde: Arbeitersekretäre, S. 39–54. 155 Vgl. etwa die Darstellung bei: Böhmer.

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über die klassenjustizielle Benachteiligung der Arbeiterschaft verwundert dieses rhetorische Vorgehen: Offensichtlich war die strafrechtliche Beratung nicht geeignet, um als Erfolgsmeldung zu gelten. Im Ergebnis wurde dadurch faktisch der Eindruck bekräftigt, dass eine Verteidigung entweder anrüchig oder unnötig wäre. Die Arbeitersekretariate wurden als gewerkschaftsnahe Einrichtungen von den Juristen gefürchtet, da sie Sympathien in der (männlichen) Bevölkerung für die Arbeiterbewegung hervorriefen.156 Diesem sollte daher eine befriedende Rechtsberatung entgegen gesetzt werden,157 die einer generellen zeitgenössischen Tendenz entsprach, Schlichtungsstellen zu gründen.158 1904 ordnete Preußen die Einrichtung städtischer Rechtsauskunftsstellen an, die den Arbeitersekretariaten, Kirchen und ,Winkeladvokaten‘ entgegen arbeiten sollten.159 In Bayern erfolgte die erste Gründung 1902 in Kaiserslautern, 1906 in Regensburg160 und 1907 im Augsburger Polizeigebäude.161 Es erfolgte eine nationale Vernetzung dieser Stellen im Verband der deutschen gemeinnützigen und unparteiischen Rechtsauskunftsstellen.162 Ihre Ausrichtung zielte auf eine neutrale Tätigkeit in allen Rechtsgebieten, wobei man in expliziter Abgrenzung zur gewerkschaftlichen Beratungspolitik zu einer Befriedung durch Schiedsverfahren beitragen und die Gerichte möglichst »entlasten« wollte.163 Die städtischen Auskunftsstellen waren jedoch wenig erfolgreich dabei, den Arbeitersekretariaten die Klienten abzuwerben und auch ein 1919 ausgesprochenes Beitrittsangebot an die freigewerkschaftlichen Auskunftsstellen – unter der Voraussetzung, dass diese »von allen politischen Nebenzwecken absehen« – wurde von denselben abgelehnt.164 Fragen des Strafrechts und des Strafprozesses machten in der städtischen Auskunftsstelle München 1916 1068 von 14.999 Auskünften – also etwa sieben Prozent – aus,165 dies umfasste jedoch keine personelle Unterstützung in Strafprozessen.166

156 Der Anteil an Frauen überstieg nie 20%, was Geisel: Klasse, S. 252 f. und 268–272, v.a. in der ambivalenten bis ablehnenden Haltung der beschäftigten Arbeitersekretäre begründet sieht. 157 Reifner/Gorges, S. 247 f. 158 Vgl. die aufgeführten Güteeinrichtungen etc. in: HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 14448, Entwurf einer Denkschrift des bayerischen Staatsministeriums der Justiz über die Errichtung von Rechtsauskunfts- und Schlichtungsämtern, v.a. S. 5–9. 159 Wettmann-Jungblut, S. 109, und Reifner/Gorges, S. 247 f. 160 HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 14448, Entwurf einer Denkschrift des bayerischen Staatsministeriums der Justiz über die Errichtung von Rechtsauskunfts- und Schlichtungsämter, S. 10. 161 Von Kalckstein. Die Beratung wurde einige Jahre durch Polizisten durchgeführt, Magistrat der Stadt Augsburg: Adreßbuch (1916), S. 33; ders.: Adreßbuch der Stadt Augsburg und HäuserVerzeichnis, S. 34. 162 Reifner/Gorges, S. 245–248. 163 Schiffer, S. 8. So auch: Ostler, S. 100 f. 164 Reifner/Gorges, S. 247 f. Vgl. auch die Verbandsrichtlinie von 1911, abgedruckt bei Reifner. 165 Vgl. HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 14448, Übersicht über die Tätigkeit der Städtischen Rechtsauskunftsstelle München. 166 Schiffer, S. 6 f.; so auch Hüttner, der sich nur um Zivilrecht bemüht.

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1919 ordnete das Bayerische Justizministerium auf Grundlage von Plänen des Jahres 1913 zusätzlich die Einrichtung von Rechtsauskunftsstellen für die »minderbemittelte Bevölkerung« an den Amtsgerichten München und Nürnberg an, die der Gerichtsschreiberei zugeordnet, von Richtern geleitet und von Sekretären durchgeführt werden sollten. Die Auskünfte erstreckten sich auf das Zivil- wie das Strafrecht. Das Ziel lag in der Belehrung der Bevölkerung über die Funktionsweise der Justiz und der Aufgabe, »die Ratsuchenden von der Verfolgung aussichtsloser Rechtshändel abzuhalten«. An den übrigen Amtsgerichten sollte ein erfahrener Richter mit der Rechtsauskunft betraut werden.167 Als Reaktion auf die Rechtsauskunftsstellen begannen seit 1905 auch die niedergelassenen Anwälte kostenlose Rechtsberatungen anzubieten, und 1909 empfahl der Anwaltstag, diese Sprechstunden auszuweiten und in allen Großstädten anzubieten. Bis 1913 entstanden so 24 Rechtsauskunftsstellen mit insgesamt 300 Anwälten.168 Über den Umfang dieser Arbeit ist bisher ebenso wenig bekannt wie über die Motive. Es kann angesichts der juristischen Professionalisierungsdebatte und des Blicks auf Angeklagte davon ausgegangen werden, dass hier nur selten eine kostenlose Strafverteidigung im Mittelpunkt stand.

3.3.2 Kampf gegen die Männerjustiz Zeitgleich mit den gewerkschaftlichen Arbeitersekretariaten gründete die spätere Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine, Marie Stritt, 1894 in Dresden den ersten nachhaltig aktiven Rechtsschutzverein für Frauen und Mädchen und begründete damit eine Form weiblicher, kollektiver Selbsthilfe, die sich bis zum Ersten Weltkrieg in 130 Orten etablieren sollte,169 darunter auch in Augsburg.170 Anders als die gewerkschaftlichen und die kommunalen Rechtsberatungsstellen konnten diese sich aber nicht auf bestehende Infrastruktur und umfangreiche Finanzierung stützen, sondern waren auf ehrenamtliches Engagement und die spärlichen Mitgliedsbeiträge angewiesen; in den 1920er Jahren nahmen sie dramatisch in der Zahl ab.171 Als unentgeltliche Beratungsstellen zielten sie in erster Linie auf die Arbeiterschicht ab, allerdings mit einer Exklusivität für Frauen, um die doppelte rechtliche Benachteiligung von Arbeiterinnen – einerseits als Teil einer Schicht und anderer167 Vgl. HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 14448, undatiertes Schreiben an die Präsidenten der Oberlandesgerichte München und Nürnberg; ebd., Entwurf einer Denkschrift des bayerischen Staatsministeriums der Justiz über die Errichtung von Rechtsauskunfts- und Schlichtungsämtern, S. 13–15 und 47; ebd., Bekanntmachung betreffend amtliche Rechtsauskunftsstellen vom Juni 1919. 168 Ostler, S. 100 f. 169 Grundlegend soweit nicht anders angegeben: Geisel: Klasse, v.a. S. 75–251. 170 HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 14448, Die Rechtsberatung der minderbemittelten Volkskreise im Jahre 1913, Sonderbeilage zum Reichs-Arbeitsblatt 1914, S. 20. 171 Hierzu trugen auch generationelle Wechsel in den Leitungen und zunehmende politische Fraktionierungen bei.

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seits qua Geschlecht – in Streitfällen abzumildern. Die Hilfe umfasste insbesondere Fälle des Familien- und Eigentumsrechts, aber auch Fälle von männlicher Gewalt und defizitäre beziehungsweise geschlechtsblinde Regelungen des neuen Sozialrechtes. Das Ziel der Frauenrechtsvereine ging dabei über Beratungen hinaus: Die Vereine strebten eine rechtliche Besserstellung von Frauen an und wirkten insbesondere an der großen Massenpetition gegen das neue Bürgerliche Gesetzbuch und später an Petitionen gegen zentrale Passagen des Strafrechts mit. Außerdem sahen sie es als ihr Ziel an, das Rechtsbewusstsein von Frauen und die Sensibilität gegenüber normativer Benachteiligung zu steigern. Sie verstanden sich somit als »Dolmetscherinnen« zwischen den Anliegen ihrer Klientinnen und juristischer Sprache und Logik.172 Die Frauenrechtsschutzvereine führten die Beratungen bis etwa 1900 in Privatwohnungen durch und ließen sich dafür von Rechtsanwälten schulen, an die sie ihre Klientinnen in schwierigen Fällen auch weiterverwiesen. Nachdem einzelne Frauen zunächst im Ausland, dann auch im Deutschen Reich damit begonnen hatten, Rechtswissenschaften zu studieren, standen auch studierte Juristinnen zur Verfügung, für die sie gleichzeitig eine der wenigen Möglichkeiten zur Berufsausübung boten.173 Die häufig fehlende juristische Ausbildung führte unweigerlich zu Kritik und Spott durch männliche Juristen, die den Beraterinnen jegliche Kompetenz absprachen und um die zahlungskräftigeren Teile ihrer weiblichen Klientel fürchteten. Da die Juristinnen keine Fälle übernehmen durften, in denen ein anwaltlicher Beistand gesetzlich vorgeschrieben war, war die Vertretung von Mandanten vor höheren Instanzen als dem Amtsgericht kaum möglich. Eine Sensation stellten daher 1908 und 1909 die Verteidigungen durch Frauen vor den Münchener und Hamburger Strafkammern, sowie die Pflichtverteidigungen ab 1914 dar.174 Welchen Stellenwert strafrechtliche Beratungen einnahmen, ist unklar. Dennoch zeigt die massive und auf Beratungsfällen fundierende Petitionstätigkeit in Fragen des Strafrechts, wie zentral diese Themen waren. Aus der inhaltlichen Fokussierung der Petitionstätigkeit etwa auf Fragen ehelicher und nicht-ehelicher (sexueller) Gewalt kann auch geschlossen werden, dass die Beratung insbesondere Frauen umschloss, die Beteiligte in Eheverfahren, aber auch Zeuginnen oder Anzeigende in Strafverfahren etwa gegen gewalttätige Verwandten, Nachbarn oder Arbeitgeber waren und in dieser Hinsicht beraten worden sein dürften. Die Rechtsberatungsstellen für Frauen stellten somit einen wichtigen Informationsort für Arbeiterinnen in strafprozessualen Fragen dar.

172 Der Begriff des Dolmetschens geht wohl auf Camilla Jellinek zurück, Geisel: Klasse, S. 136 f. 173 Zu den ersten gehörte Anna Schultz in Frankfurt und Marie Raschke in Berlin, ebd., S. 119 und 127. 174 Vgl. Kap. I.3.1.1.

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3.3.3 Gerichtssäle als Ort des Klassenkampfes Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges entstand schließlich eine Reihe an Komitees, die als Vorläufer der reichsweiten Organisation Rote Hilfe betrachtet werden können.175 Die Rote Hilfe war eine Rechtsberatungs- und -schutzstelle, die an die KPD angegliedert war und sich als »proletarische« Hilfsorganisation für »politische« Gefangene verstand. »Proletarisch« bezog sich dabei weniger auf die soziale Herkunft denn auf die Gesinnung. Als »politisch« wurden Prozesse verstanden, wenn die Motivation der Tat als politisch galt, die Tat selbst politisch war (z. B. Hochverrat) oder unpolitische Delikte zur Diskriminierung des politischen Gegners verwendet (Beleidigung, Meineid, Ungebühr im Gericht) wurden. Nur in diesen Fällen griff die Rote Hilfe beratend, rechtlich und finanziell unterstützend für die Gefangenen und ihre Familien ein. Das klar definierte Rechtsschutzverfahren war mehrstufig. Rechtsauskunft durch einen Anwalt stand grundsätzlich jedem Mitglied zu, Rechtsschutz in Form einer Verteidigung jedoch nur bei schwerwiegenden oder grundsätzlichen Fällen, häufig auch erst bei Berufungsverfahren. Darüber hinaus wurden Schulungen angeboten und schriftliche Rechtsgutachten/-hilfen verfasst. Die Rote Hilfe hatte eigene Anwälte oder bezahlte z.T. Wunsch-Anwälte, darunter auch dezidierte Strafprozessverteidiger. Auch in Augsburg konnte ein entsprechender Ansprechpartner gefunden werden. Da die Anwälte sich in ihren politischen Ansätzen unterschieden, verfolgten sie auch nicht dieselben Verteidigungstaktiken.176 Während einige versuchten, für ihre Mandanten mildernde Umstände etwa zu erwirken, folgten andere dem Ziel der Organisation, den Prozess als Ort des Klassenkampfes zu interpretieren. Demnach konnte es im Interesse der Bewegung liegen, der Bevölkerung die Klassenjustiz durch ein möglichst harsches Urteil vor Augen zu führen. Der Angeklagte wurde dann lediglich als Mitglied der Bewegung verteidigt, nicht aber als Individuum. Dieser Strategie folgte auch der Rechtsratgeber von Felix Halle, der 1924 erstmals erschien und der als eines der ersten nicht-bürgerlichen Rechtshandbücher gelten kann. Er wurde bis 1931 über 60.000-mal gedruckt und auch außerhalb der Roten Hilfe, etwa von Gewerkschaftern und Sozialdemokraten genutzt.177 Bemerkenswert an diesem Ratgeber erscheint bei der Lektüre im Vergleich zu seinen bürgerlich geprägten Vorgängern und auch den Broschüren der Roten Hilfe selbst,178 dass er sich nicht damit begnügte, die Normen oder Fallbeispiele zu erläutern, damit der Angeklagte sich besser verteidigen könne. Ziel war es, den Angeklagten insofern zur Verteidigung zu befähigen, dass dieser keine irreparablen Fehler machte, die ein Anwalt nicht mehr beheben könne. Neben dieser Rechtsberatung jedoch stand sehr deutlich ein politisches Ziel im Mittelpunkt der 175 176 177 178

Soweit nicht anders angegeben vgl. zur Roten Hilfe grundlegend: Brauns. Zum Arbeitsalltag und den Biographien vgl. Schneider u. a. Halle. Zu Aufbau und Hintergrund Schneider u. a., S. 49 ff., und Brauns, S. 61 f. Seit 1919 wurden von der Roten Hilfe und der KPD Broschüren mit Rechtstipps gedruckt; ebd., S. 61 f.

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Broschüre: Die Sicherung der proletarischen Bewegung und die Verhinderung von Denunziantentum und Verrat.179 Dabei wurden neben ausführlichen Angaben zum Strafprozessrecht auch Hinweise gegeben, wie man Material vor Durchsuchungen schütze, mit welchen Menschen man Geheimnisse teilen solle oder wann ein Verschweigen der eigenen Identität sinnvoll sein könne. Aussagen, die Dritte belasten oder die Bewegung schwächen könnten, sollten um jeden Preis verhindert werden.180 Die Justiz wurde hier zum Mittel der politischen Auseinandersetzung, in der sich der Einzelne selbstständig bewegen könnte. Ein mildes Urteil oder einen Freispruch zu erlangen, war nicht das einzig legitime oder gar vorrangige Ziel des Verfahrens. Es galt vielmehr, die politische Bewegung zu schützen und den Staat zu bekämpfen. Konstitutiv für die politische Indienstnahme der Prozesse war insbesondere die Gerichtsöffentlichkeit. Hier zeigte sich eine funktionalistische Haltung, die sich bereits Ferdinand Lassalle, Karl Liebknecht und August Bebel in den gegen sie angestrengten politischen Verfahren zu Eigen gemacht hatten.181 Gleichzeitig wurde dem Staat attestiert, in den Gerichtsverfahren selbst politische Ziele zu verfolgen und die kommunistische Bewegung zu bekämpfen. Anders als die städtischen und gewerkschaftlichen Stellen sah die Rote Hilfe gerade – sogar schuldige – Angeklagte als schützenswerte Klientel an, auch wenn sie sich ebenfalls von normalen ›Kriminellen‹ distanzierte. Dass dabei der Schutz der Bewegung und nicht das Erreichen eines ›gerechten‹ Urteils im Fokus stand, zeigte auch, dass das Gericht zwar als Ort des politischen Kampfes, nicht aber als legitimer Ort der Konfliktlösung betrachtet wurde. Im Kaiserreich entstand somit eine große Anzahl an unentgeltlichen Rechtsberatungsstellen, die mit unterschiedlicher Motivation ihre Dienste gerade den ärmeren und unterbürgerlichen Schichten anboten. In nahezu jeder kleineren und größeren Stadt konnten sich die Menschen nun mit ihren Rechtsfragen an Anwälte, Rechtskonsulenten und Beratungsbüros wenden. Das Gericht war damit als Ort der Konfliktaustragung näher an die Bevölkerung herangerückt. Die Rechtshilfestellen brachten übereinstimmend zum Ausdruck, dass die Gerichte komplizierte Orte mit eigenen Regeln und einer eigenen Sprache seien, für die man zusätzliche Kenntnisse benötige. Die juristischen Regeln und Logiken wurden als dominierende Normalität der Justiz akzeptiert und erst in der Weimarer Republik stellte die Rote Hilfe der Justizlogik eine eigene Deutung entgegen, indem sie den Gerichtssaal als Bühne politischer Auseinandersetzungen begriff. Bei den staatlichen Beratungsstellen hingegen könnte der Drang, durch Mediation möglichst wenig Prozesse aufkommen zu lassen, auch als überhöhte Wertschätzung der Gerichte verstanden werden, die – in patriarchaler Arroganz – nicht mit allen vermeintlichen Kleinigkeiten belästigt werden sollten.182 Grundsätzlich jedoch wurde durch die Beratungsstellen unterstrichen, dass das Gericht 179 180 181 182

Vgl. Halle, Vorwort, S. IX f. Ebd., S. 4–24. Vgl. zu dieser Strategie Wilhelm, S. 93 und 198. Für heutige Mediationsverfahren Nader: The Life of the Law, und dies.: No access to law.

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der legitime Ort für Konfliktlösungen war und dass dort jede und jeder unabhängig von Geschlecht oder Einkommen einen Anspruch habe, seine Interessen durchzusetzen. Das bestehende Kompetenzdefizit schien sich auf den ersten Blick kompensieren zu lassen. Immerhin nahmen die häufig nicht studierten Rechtsberater für sich in Anspruch, über ausreichende Kompetenzen zu verfügen und strebten ihrerseits an, Hilfesuchende soweit zu beraten, dass diese im Normalfall zumindest zum Teil in Verfahren selbst agieren könnten. Etwas zugespitzt ließe sich formulieren: Bildung und Weiterbildung waren der symbolische Schlüssel zur gleichberechtigten Teilhabe am Staat. Mit deren Hilfe konnten auch unterbürgerliche Schichten ihre staatsbürgerlichen Rechte wahrnehmen. Bildung, Geschlecht und Einkommen wurden so – explizit oder implizit – als eigentliche strukturelle Hürden in einer hierarchischen Gesellschaft ausgemacht, die formal zunächst allen gleichberechtigte Chancen ermöglichen würde. Die Hilfe zur Selbsthilfe, die die Beratungsstellen lieferten, stellte damit einen ersten Schritt zur Inklusion breiter Bevölkerungsschichten dar. Gleichzeitig wurde durch das Beratungsangebot aber auch verdeutlicht, dass die Justiz ein gefährlicher Ort sein konnte: Wer sich unvorbereitet oder ohne Beistand auf ihn einließ, musste damit rechnen zu verlieren, selbst wenn er sich im Recht befände. Dass diese Botschaft von den Einrichtungen ausging, die von der Arbeiterund Frauenbewegung gegründet worden waren, liegt auf der Hand. Ungewollt trugen aber auch jene Beratungsstellen zu diesem Bild bei, die von städtischer oder anwaltlicher Seite begründet worden waren. Für die Fragestellung, welche Informationen Einzelne in konkreten Strafprozessen hatten, führt die Analyse der Rechtsberatungsstellen zu einem ernüchternden Ergebnis: Menschen, die sich als Zeugin, Zeuge, Opfer oder Angeklagte mit einem Gerichtsverfahren konfrontiert sahen und nicht über das Geld für einen Anwalt verfügten, suchten und fanden bei den Rechtsberatungsstellen offenbar kaum Unterstützung und wurden durch die Öffentlichkeitsarbeit der Einrichtungen darin auch nicht motiviert. Allein die Frauenvereine scheinen eine vergleichsweise breite Informationspalette für Arbeiterinnen bereit gestellt zu haben. Bedenkt man die publizistische Haltung der Arbeiterbewegung zur Strafjustiz und berücksichtigt die Strafrechtsberatung der Frauenvereine und der Roten Hilfe, so lässt sich vermuten, dass gerade auch die Arbeiterbewegung hier bewusst auf Distanz ging. Keinesfalls sollte offenbar die Rechtsberatung in den Verdacht geraten, Kriminelle zu unterstützen, um nicht wenige Jahre nach den Sozialistengesetzen einen erneuten Vorwand zum repressiven Eingriff zu bieten. Die abstrakte Distanzierung von Angeklagten jeglicher Art korrespondierte mit der gängigen Abgrenzung vom ›Lumpenproletariat‹. Bei den unterstützenswerten Mitgliedern handelte es sich, so der Anspruch, um ehrenwerte und arbeitssame Personen, die nur selten in Konflikt mit dem Gesetz gerieten. Dadurch stärkten die städtischen wie gewerkschaftlichen Auskunftsstellen jedoch das von Juristen und Bürgertum verbreitete Misstrauen 181

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gegenüber der Verteidigung und die moralische Herabsetzung der Angeklagten.183 Das Engagement in der Beratung kann gleichzeitig als gesamtgesellschaftliche Teilhabeforderung gelesen werden. Die Rechtsberatungsstellen betonten nicht nur, dass jeder und jede einen gleichberechtigten Anspruch in staatlichen Institutionen geltend machen durfte und mit etwas Hilfe auch dazu in der Lage war. Sie demonstrierten durch ihre praktische Arbeit, dass sie selbst als kollektive Akteure machtvoll agieren konnten und wollten. Die vor allem von den klassischen Emanzipationsbewegungen getragenen Vereine brachten eine Kritik an der faktischen Ausgestaltung der Justiz zum Ausdruck und machten deutlich, dass sie Lösungen für diese Probleme bereit stellten, ohne auf staatliche Hilfe zu warten. Im Grunde orientierten sie sich damit an einem bürgerlichen Ideal des gemeinschaftlichen Engagements in Vereinen. Ihre Arbeit ließ sie auch zu Experten in rechtspolitischen Fragen werden, was in Statistiken, Jahresberichten und Fallbeispielen dokumentiert wurde. Aufbauend auf dieser Expertise gelang es, politische Forderungen in Form gut organisierter Kampagnen zu artikulieren. Sie beanspruchten eine politische Mitwirkung, die ihnen auf parlamentarischem Wege (noch) nicht zustand. Dass Städte, Länder und Juristen diesem Handeln durch eigene – weniger erfolgreiche – Einrichtungen entgegen zu treten suchten, unterstreicht, wie sehr die Ansprüche durch die verfassungsrechtlichen wie faktischen Eliten als Herausforderungen betrachtet wurden. Reformforderungen und ihre Abwehr – ein Kapitelfazit Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen hatte für die Mehrzahl der Juristen im Kaiserreich ihren Nimbus als gesellschafts- und rechtspolitisches Ideal weitgehend verloren. Durch ihre jahrzehntelange Existenz war es denkbar geworden, dieselbe auch in wesentlichen konzeptionellen Elementen einzuschränken. ›Öffentlichkeit‹ galt zwar weiterhin als Errungenschaft, doch sie musste mit anderen Prinzipien konkurrieren.184 Nur von wenigen wurde sie explizit infrage gestellt und es gab auch keine gravierende Einschränkung im Rahmen einer großen Gesetzesnovelle. Dennoch ließ sich konzeptionell wie auch in der normativen Ausgestaltung eine schleichende Erosion beobachten. Die Argumente aus dem Vormärz wurden reaktiviert und durch eine Betonung der ›Erfahrungen‹ aktualisiert. Indem sie darüber hinaus mit der bürgerlichen Sorge um Privatsphäre und Ehre verbunden wurden, gewannen diese Positionen an Rückhalt. Es kann davon ausgegangen werden, dass die allgemeine Bedeutungsverschiebung im ausgehenden 19. Jahrhundert, die den Begriff vom staatsrechtlichen Feld der ›Publizität‹ auf die Bevölkerung erweiterte, hier eine zentrale Rolle spielte. Die gerichtliche Öffentlichkeit war damit konzeptionell und faktisch deutlich heterogener als noch im Vormärz gedacht.185 183 Vgl. dazu Kap. I.3.2.4 und III.2.2. 184 Koch: Öffentlichkeit, S. 3 und 95; Bernheimer, S. 104. 185 Vgl. dazu Hölscher: Art. Öffentlichkeit, S. 464.

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Eine Einschränkung dieser Öffentlichkeit zugunsten von Allgemein- und Individualinteressen – »höhere[n] Güter[n]« oder »schwerwiegende[n] Gründe[n]«186 – wie der Resozialisierung von Jugendlichen, der bürgerlichen Ehre oder dem Schutz der Gesellschaft erschien notwendig zu sein.187 Die Debatte um die Öffentlichkeit innerhalb wie außerhalb des Gerichtssaales war wie auch die anderen der juristischen Reformdebatten von einem Professionalisierungsdiskurs der debattierenden Juristen durchzogen. Sie konstruierten ihre Identität vor der Folie eines vermeintlich irrationalen Publikums und einer inkompetenten Presse, welche beide die Bedeutung der Gerichtsverhandlungen und des juristischen Handelns nicht ausreichend zu würdigen wüssten. Sie sahen die Rechtspflege und die Macht der Juristen im Verfahren durch diese ›Masse‹ bedroht, welche aktiv den Prozess begleitete. Diese Form der kritischen Partizipation ging den Juristen deutlich zu weit. Die Einschränkung der Gerichtsöffentlichkeit, konnte kritische Artikel jedoch nicht verhindern. Skandalprozess um Skandalprozess zierten die Titelseiten im späten Kaiserreich, und in vielen davon stand gerade die Thematisierung von Gerichten oder Mitgliedern der gesellschaftlichen Elite im Mittelpunkt.188 Trotz aller eindämmenden Versuche der Regierungen emanzipierte sich die Massenpresse im Kaiserreich und bot gerade jenen Personen ein machterweiterndes Forum, deren politische Mitwirkung ansonsten eng begrenzt wurde, etwa der Arbeiter- oder Frauenbewegung.189 Im Rahmen der Rechtshilfe, in Petitionen und Artikeln artikulierten die Emanzipationsbewegungen deutlich ihre Vorstellungen von Justiz und setzten diese in praktische Arbeit um. Dabei brachten die Vereine ihren Anspruch auf Partizipation auf vier Ebenen zum Ausdruck. Erstens betonten sie das staatsbürgerliche Recht aller auf Chancengleichheit in der staatlichen Institution Gericht. Zweitens nahmen sie für sich in Anspruch, Defizite in der Ausgestaltung der Justiz zu kritisieren. Drittens versuchten sie, normative Lösungen im rechtspolitischen Diskurs durchzusetzen. Indem die Rechtshilfebewegungen viertens dem bestehenden System auch selbstorganisierte Lösungen entgegenstellten, gingen sie im gesellschaftlichen Teilhabeanspruch über die reine Justizkritik hinaus. Dass strafrechtliche Fragen dabei jedoch eine marginale Rolle spielten, stand im Kontrast zur Klassenjustiz-Rhetorik und verstärkte dadurch diskursiv und performativ das attestierte Informationsgefälle. Das von den ›Laien‹ dabei produzierte Bild der Justiz war ambivalent. Während einerseits die Richter und Staatsanwälte als zu nachgiebig und den emanzipati186 Bernheimer, S. 104, und Koch: Öffentlichkeit, S. 4. 187 Britz, S. 27, folgt dabei einem Fortschrittsnarrativ, demzufolge die Einschränkungen einen Ausgleich zu den zuvor überzogenen, aus der Aufklärung herrührenden Öffentlichkeitsvorstellungen darstellten. 188 Vgl. grundlegend Kohlrausch; Bösch: Das Private wird politisch; zum Spannungsverhältnis von Berichterstattung und Ausschluss der Öffentlichkeit im Eulenburg-Prozess ders.: Öffentliche Geheimnisse, S. 131–138; Domeier. 189 Bösch: Öffentliche Geheimnisse, S. 472 f.; Kohlrausch, S. 455–457.

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ven Bewegungen zu aufgeschlossen gegenüber galten, wurde die Justiz zugleich von anderer Seite der strukturellen wie personellen Benachteiligung und politischen Repression bezichtigt. Dennoch erschien das Gericht als der legitime Ort der Konfliktlösung. Die Justizkritik und die Rechtsberatungsstellen standen einer juristischen und rechtspolitischen Elite gegenüber, die – wie für den Bereich der juristischen Ämter und der Geschworenengerichte bereits betont190 – in großen Teilen den Einfluss von Nicht-Juristen und unterbürgerlichen sowie weiblichen Bevölkerungsgruppen zurückzudrängen suchte. Es wäre jedoch zu einfach, hierin lediglich eine reaktionäre, wohlmöglich rein anti-demokratische Geisteshaltung ablesen zu wollen. Denn die Juristen standen etwa einer breiten Bevölkerungsmitwirkung im Rahmen von Lobbyismus durchaus aufgeschlossen gegenüber, wenn die Forderungen für sie akzeptabel und für die gesellschaftliche Position ungefährlich erschienen. Sofern es jedoch um eine Neuverteilung von Macht und Einfluss ging, reagierten sie irritiert bis empört und ablehnend.

190 Vgl. Kap. I.3.

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4. Öffentlichkeit, Partizipation und Konflikte – ein Fazit

Die Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen und juristischen Debatten war für die Geschichte der Strafjustiz zentral. Ihre Einführung stellte nicht nur einen konzeptionellen Meilenstein dar, sondern bildete die Grundlage einer pluralistischen gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Ihr Einfluss führte letztlich aber auch zu ihrer erneuten Bekämpfung. Die Analyse der juristischen Konzeption der Öffentlichkeit hat gezeigt, dass ihr Ausschluss weder die generelle Abwesenheit von Personen noch die vollkommene Diskretion nach sich ziehen musste. Gleichzeitig führte die Gerichtspraxis selbst die Geheimhaltung ad absurdum, wo sie dezidiert der Diskretion dienen sollte. Wie sehr Informationen geteilt wurden – also öffentlich waren –, korrelierte im Ergebnis nicht zwingend mit dem Grad an formaler Öffentlichkeit, der dem Verhandlungsschritt zugerechnet wurde. Das Wissen über Verhandlungsvorschriften und konkrete Verhandlungsschritte wurde sowohl auf dem dafür vorgesehenen und symbolisch unterstützten wie auch auf nicht intendiertem Wege verbreitet. Eine Übernahme der juristischen Definition in die historische Analyse hätte den Blick für wesentliche Ergebnisse verstellt. Das Geschehen vor Gericht war durch die eigene Anschauung und die mediale Darstellung in der breiten Bevölkerung präsent. Die Darstellungen orientierten sich dabei eng an juristischen Logiken, Begriffen und Zielsetzungen, ohne diese vollständig abzubilden. Gerade in der Bewertung und der Kontextualisierung wichen sie von den juristischen Eigenlogiken ab, denn die Medien legten stärkeren Wert auf den unterhaltenden Charakter als auf die Belehrung des Publikums. Ein hoher Regionalbezug, die Erkennbarkeit der handelnden Personen und ein Fokus auf Sensationelles waren die notwendige Folge. Das Gericht erschien so als vertrauter Nachbar. Auch wenn die Institution der Strafrechtspflege nie grundsätzlich infrage gestellt wurde, wurden einzelne Personen, Strukturen und Maßstäbe kritisch betrachtet und zuweilen skandalisiert. Die Emanzipationsbewegungen bemängelten politische Repression und eine soziale Benachteiligung, betrachteten aber – mit Ausnahme der Roten Hilfe – das Gericht als legitimen, wenn auch reformbedürftigen Ort der Konfliktlösung. Die konservative Bewegung hingegen beanstandete, dass die Gerichte nicht stärker als Repressionsinstrumente genutzt wurden. Beide Kritikrichtungen spitzten sich jedoch erst nach 1918 in einer Weise zu, die die Legitimität von Verfahren in Frage stellte. 185

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Die Rechtshilfebewegungen stellten eine gesellschaftliche Antwort auf die emanzipatorischen Defizitanalysen dar. Sie boten dem Einzelnen Hilfe zur Selbsthilfe und waren ihrerseits kollektiv eine Form der gesellschaftlichen Partizipation. Bei ihnen erschien das Gericht als ein Ort, zu dem alle Zugang haben sollten und an dem jeder und jede Anspruch auf ein gerechtes Verfahren hatte. Gesellschaftliche Ungleichheiten durch Bildung, Geschlecht oder Einkommen sollten hier zumindest teilweise kompensiert werden. Die juristische Reaktion auf die gesellschaftliche Kritik und die selbstorganisierten Hilfseinrichtungen zeigte eine deutliche Distanzierung von derartigen Emanzipationsansprüchen. Die gesellschaftliche Kritik wurde weitgehend als unangemessen und schlecht informiert diffamiert. Mit dem Verweis auf die eigene »Erfahrung« und »Sachlichkeit« wurde eine Einschränkung der Öffentlichkeit gefordert und schrittweise umgesetzt. Dass dabei in aktualisierender Form dezidiert an die Argumente des Vormärzes angeknüpft werden konnte, zeigt erneut, dass zentrale politische Reformen des 19. Jahrhunderts sich in einem konstanten Aushandlungsprozess befanden. Bezogen auf die beiden Leitfragen der Arbeit zeigt sich bei der Analyse der öffentlichen Debatte über die zeitgenössische Justiz ein uneinheitliches Bild. Die Öffentlichkeit versorgte die breite Bevölkerung mit wesentlichen Informationen über die Justiz. Die dabei vermittelten Informationen und Bilder über die Justiz waren aber nicht identisch mit jenen der juristischen Konzeption. Dennoch waren sie von diesen stark geprägt. Dies bildete eine gute Grundlage, um sich vor Gericht zu orientieren und die eigenen Interessen zu vertreten. Das Gericht war dabei einerseits ein vertrauenswürdiger Ort, dessen juristische Grundkonzeption nicht beanstandet wurde. Anderseits wurden strukturelle Benachteiligungen, mangelnder Respekt vor dem Staat, Furcht vor der Justiz und gegenseitiges Unverständnis von Juristen und ›Laien‹ thematisiert. Denn neben den juristischen wurden auch soziale und religiöse Maßstäbe an die Bewertung der Strafrechtspflege gelegt. Die Reformvorstellungen der ›Laien‹ wurden offensiv artikuliert. Es wurde nicht darauf vertraut, dass die Defizite durch die Juristen beseitigt würden. Die ›Laien‹ verfassten Tausende von Texten, erstellten Expertisen, griffen zu organisierter Selbsthilfe und wirkungsvollem Lobbyismus. Die hier untersuchten gesellschaftlichen Gruppen brachten ihren politischen Partizipationsanspruch damit laut, deutlich und wirkungsvoll zur Geltung. Die in ihrer Arbeit und Person kritisierten Juristen sahen sich durch diese Gestaltungsansprüche in ihrer gesellschaftlichen Position bedroht und in ihrer Berufsehre verletzt. Sie reagierten entsprechend abwehrend und versuchten, durch eine Einschränkung der Öffentlichkeit derartige Mitwirkungstendenzen zu unterlaufen. Wie bereits bei der Frage der Schwurgerichte zeigte sich in der Folge beim Ideal der juristischen Öffentlichkeit eine Rückkehr zu vermeintlich historisch überholten Konzepten und damit die gesellschaftliche Reform als permanenter Aushandlungsprozess. Eine ehemals aufsteigende gesellschaftliche Gruppe, wie das die Justiz nun dominierende Bürgertum, verteidigte seine Elitenposition gegen weitergehende Emanzipationsbewegungen. Diese aber ließen sich dadurch nicht stoppen, 186

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sondern artikulierten ihre Forderungen nach Gleichheit und Partizipation auf mehreren Ebenen. Das Kaiserreich zeigt sich hier einmal mehr als Umbruchsituation zwischen konstitutioneller Monarchie und praktizierter Demokratie. Die staatsbürgerliche Haltung der Bevölkerung, die sich in dem breiten Engagement und Wissen ausdrückte, wäre jedoch ohne die Einführung der Öffentlichkeit in das Staatswesen einige Jahrzehnte zuvor nicht in gleicher Ausprägung denkbar gewesen wäre.1

1 So auch ansatzweise der Ausblick auf die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Habermas: Diebe vor Gericht, S. 248–250.

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Teil III

Die Partizipationschancen der ›Laien‹ vor Gericht – eine Fallstudie aus Bayern

Als Sophie Masch am 23. April 1891 auf den Untersuchungsrichter Hantmann traf, um ihre erste Zeugenaussage im Mordfall Gast zu machen, schienen zwei Welten aufeinander zu treffen. Hautmann folgte bei seinen Recherchen einer Logik, wie sie im ersten Teil der Arbeit präsentiert wurde. Sophie Masch hingegen, eine 42-jährige Bötin aus dem ländlichen Allgäu, verfügte über ein Alltagswissen über die Strafjustiz, dessen Deutungsangebote im zweiten Teil näher beleuchtet wurden. In diesem dritten Teil soll abschließend das Verhältnis von Juristen und Nichtjuristen in konkreten strafprozessualen Auseinandersetzungen analysiert werden. Dabei wird insbesondere auf Grundlage bayerischer Gerichtsakten nachgezeichnet, wie ›Laien‹ vor Gericht eine aktive Rolle ausübten, die ihnen reichsweit von Zeitgenossen und Forschung kaum zuerkannt wurde. Bei der Zeugenvernehmung und dem Angeklagtenverhör zeigt sich, dass Regeln des Sprechens und ein zunehmend laienskeptischer Blick der Juristen zu einer strukturellen Machtasymmetrie zu Ungunsten der ›Laien‹ führten. Gerade bei der Beschuldigtenvernehmung wird deutlich, welche Bedeutung dem juristischen Auslegungsspielraum in der Praxis zukam. Dass die Wissensbestände von Juristen und Nichtjuristen aneinander anknüpfungsfähig waren, wird u.a. an den Kriterien einer glaubwürdigen Aussage aufgezeigt. Die aktive Rolle der ›Laien‹ in den Verfahren wird am prägnantesten sichtbar, wenn neben Anzeigen, Briefen oder Beschwerden auch legale Handlungsweisen, die formal von den Juristen nicht für das Verfahren vorgesehen waren und daher bislang von der Forschung zu wenig beachtet wurden, in den Blick genommen werden. Mit der Pathologisierung von zu selbstbewusst auftretenden ›Laien‹ wird schließlich ein letztes Mal auf die Grenzziehungen der Juristen verwiesen. Im Gegensatz sowohl zu juristischen als auch zu klassenjustizkritischen Konzeptionen, die die ›Laien‹ als unverständig, passiv oder weitgehend hilfsbedürftig konzipierten, erwiesen sie sich in den untersuchten bayerischen Fallbeispielen als wissende und selbstbewusst handelnde Staatsbürger.

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1. Die Zeugenvernehmung – informativ und gefürchtet

Die häufigste Interaktion von Berufsjuristen und Nicht-Juristen stellte die Vernehmung dar – eine asymmetrische Gesprächssituation, in der die Berufsjuristen, auch aufgrund der juristischen Varianz bei der Gesetzesanwendung, über höhere Macht verfügten als die Befragten. Dennoch waren Zeuginnen und Zeugen dank eines fundierten Wissens über juristische Logiken aktive Gestalter des Vernehmungsgesprächs und wussten, ihre Interessen zu vertreten.

1.1 Vernehmungen als Orte der Information Um die Wahrheitssuche durch Aussagen zu unterstützen und dabei die Verfahrensförmigkeit zu sichern, hatten sich ein formales Laderecht, die Vereidigung und eine ausgefeilte Vernehmungstechnik ausgebildet.1 Die Aufforderung, am 23.4.1891 in Reinhardsried zu erscheinen, um dort eine Aussage vor einer gerichtlichen Kommission zu machen, muss der Belastungszeugin im Fall Gast, Sophie Masch, daher in Form einer offiziellen »Vorladung« zugegangen sein. Auch Rosalie Wespe und Anton Schmidt müssen entsprechende Vorladungen für die Verhandlungen vor Gericht in Marktoberdorf und Kempten erhalten haben.2 Die Ladung musste schriftlich erfolgen und wurde in der Regel vom Staatsanwalt oder dem Untersuchungsrichter angeordnet und durch die lokalen Behörden, seltener durch den Gerichtsvollzieher, zugestellt. Sie nannte neben dem Namen und der Dienstbezeichnung der vorladenden Person auch Name, Stand und Wohnort des geladenen Zeugen oder der Zeugin und machte deutlich, wann und wo diese erscheinen mussten und dass beim unentschuldigten Ausbleiben eine Strafe drohe. Der Zeuge oder die Zeugin sollten erkennen können, dass sie nicht als Verdächtige aussagten. Worum es jedoch bei der Aussage gehen sollte, musste nicht mitgeteilt werden.3 Vernehmungen in der Voruntersuchung fanden unter sechs Augen statt. Neben dem Untersuchungsrichter und dem Gerichtsschreiber durften bei der Befragung nur dann der Staatsanwalt oder der Anwalt des Beschuldigten anwesend sein, 1 Zum Laderecht und der Eideslogik vgl. Kap. I.1. 2 Die Akten der beiden Diebstahlsverhandlungen sind nicht überliefert. 3 Binding: Grundriss (1881), S. 85–87; Josef.

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wenn klar war, dass die Aussage in einer Hauptverhandlung nicht wiederholt werden könnte.4 Die Gesprächssituation bei der Vernehmung von Sophie Masch dürfte daher in etwa so ausgesehen haben, dass der Untersuchungsrichter und der Gerichtsschreiber sich für die insgesamt sieben Vernehmungen an diesem Tag an einem der Tische in der Reinhardsrieder Gaststätte niedergelassen hatten. Da Sophie Masch als zweite befragt wurde, dürfte sie im unteren Gastraum gewartet haben und auch nach ihrer Aussage wird sie zum erneuten Warten im Hause geblieben sein.5 Anton Schmidt und Philomena Wespe hingegen werden zu Beginn der öffentlichen Gerichtsverhandlungen in Marktoberdorf und Kempten zunächst im Sitzungssaal des Gerichts anwesend gewesen sein. Nach der Eröffnung der Sitzung durch den Vorsitzenden Richter wurden sie mit den anderen Zeuginnen und Zeugen über »die Bedeutung des Eides und die strafrechtlichen Folgen des Meineides belehrt« und in das Zeugenzimmer entlassen.6 Zu ihrer Aussage wurden sie einzeln in den Verhandlungssaal gerufen und traten an den Tisch in der Mitte des Raumes, auf dem auch Beweismittel zur allgemeinen Besichtigung abgelegt werden konnten.7 Es ist davon auszugehen, dass sie während ihrer Vernehmung standen – weist doch keiner der Gerichtsgrundrisse oder Bilder an diesem Ort einen Stuhl aus. Dem Publikum und der Presse drehten sie den Rücken zu, sodass die formal am Verfahren Beteiligten sie während der Aussage beobachten konnten. Der Ablauf einer gerichtlichen Vernehmung folgte einem gleichbleibenden Schema. Bei ihren ersten Vernehmungen und erneut bei ersten Aussagen in der Hauptverhandlung gaben die Zeuginnen und Zeugen ihre Personalien an. Ehepartnern, Verlobten und direkten Verwandten der Angeklagten war es gestattet, die Aussage zu verweigern, worüber sie zu belehren waren.8 Offensichtlich wurde von diesem Recht jedoch nur selten Gebrauch gemacht,9 was sich entweder durch Vertrauen in die Vernehmenden oder die Sorge erklären ließe, dass ein Schweigen den Angeklagten negativ angerechnet werden könnte.10

1.1.1 Fragekorsette statt freier Rede Erst wenn die formalen Details geklärt waren, drehte sich die Vernehmung um die Sachfrage des Prozesses: Das Wissen der Aussagenden um mögliche strafbare 4 In diesen Fällen konnte den zusätzlichen Anwesenden sogar gestattet werden, selbst Fragen zu stellen, vgl. Ortloff : Untersuchungsrichter im Strafprocesse, S. 264. 5 Vgl. zu den Räumlichkeiten insgesamt Kap. II.1.2. 6 Vgl. exemplarisch StAA LG A - SG: 51/1895, Hauptverhandlungsprotokoll vom 26.9.1895. 7 Windisch, S. 9. 8 Details: Osius/Bendir, S. 96–99; Feddersen, S. 71 f. 9 Im gesamten Quellenset finden sich nur fünf Zeuginnen und Zeugen, die die Aussage verweigerten, nämlich die Geschwister des wegen Mordes verdächtigten Konrad Hörmüller, allerdings auch erst bei einer späten Vernehmung, vgl. StAA LG Ke - SK: 103/1901, Vernehmung der T.H., R.H., S.H., L.H., A.W. am 8.1.1902. 10 Vgl. zur skeptischen Haltung der Juristen gegenüber dem Schweigen Kap. III.2.2.

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Handlungen der Verdächtigen. Die Befragung in der gerichtlichen Voruntersuchung erfolgte ausschließlich, in der Verhandlung vorrangig durch den Richter.11 Um eine möglichst unverfälschte und vollständige Aussage zu erhalten, sahen Prozessordnung und Lehrbücher vor, dass Zeuginnen und Zeugen zunächst zusammenhängend erzählen und erst im Anschluss oder, wenn sie ins Stocken gerieten, genauer befragt werden sollten.12 Ob ihnen in der Praxis Raum für eigene Erzählungen gelassen wurde, war in der Literatur umstritten und wurde auch von der Verwaltung bezweifelt.13 In den Vernehmungsprotokollen offenbaren Zeilenwechsel, Absätze und Brüche in der Narration, dass die Aussageabschnitte zum Ende einer Vernehmung hin immer kürzer werden:14 So schilderte Sophie Masch in ihrer ersten richterlichen Vernehmung zunächst ausführlich, dass und weshalb sie am Montag, dem 10. November mit ihrer Tochter Brigitta bei Johann Wieser gewesen sei, sowie ihre Begegnung mit Therese Gast. In der restlichen Vernehmung folgen dann vor allem kürzere Abschnitte, die inhaltlich nicht immer direkt an die voranstehenden Absätze anschließen und somit auf Nachfragen hindeuten.15 Relativ kurz fielen die Vernehmungen auch aus, wenn es sich um die zweite oder dritte Vernehmung handelte. Als Sophie Masch zehn Jahre später erneut vernommen wurde, hielt das Protokoll in wenigen Zeilen fest, dass sie an ihrer früheren Aussage festhalte. Beigefügt wurde nur, dass ihres Wissens nach die weggezogenen Johann und Rosalie Winkler sowie Otto Hörmüller unlängst bei Konrad Hörmüller gewesen seien.16 Die Protokolle belegen, dass im Verlauf des Gesprächs die Häufigkeit von Nachfragen immer größer und die Antworten immer zugespitzter wurden. Sie zeigen ferner, dass den Zeuginnen und Zeugen auch in den ersten Abschnitten der Vernehmung kein großer Raum für lange, zusammenhängende Schilderungen gelassen wurde. Dass es sich dabei lediglich um eine besonders geraffte Form der Protokollierung handelt, ist unwahrscheinlich. Denn gerade bei den ersten Vernehmungen war die Zielrichtung der weiteren Recherchen noch nicht sicher, so dass der Gerichtsschreiber schwerlich umfassend zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem unterscheiden konnte. Die Kürze der ad hoc protokollierten

11 Grundlegend Schneikert: Zeugenvernehmung, S. 14–16; Henschel: Vernehmung, S. 39–41; zum Fragerecht der übrigen Juristen vgl. Kap. I.3.2. 12 Meves: Strafverfahren, S. 49 f. und 78 f.; Weingart, S. 45 f.; Bretzfeld: Behandlung, S. 129; Hellwig: Urteilsfindung, S. 427 f. 13 Verneinend: Heilberg, S. 107; Stern: Reform, S. 408. Kritisch: StAA Landgericht Kempten nO, Schreiben des K. B. Justizministeriums vom 18.12.1896. Die Protokolltechnik ermöglicht diesbezüglich keine Quellenanalyse, vgl. Kap. I.2.1.3. 14 Vgl. dazu die beispielhafte Analyse in Kap. I.2.2. Grundlegend für die nachfolgende Analyse sind die über 400 Vernehmungen, die in den beiden Fallbeispielen erfolgten (StAA LG Ke - SK: 21/1902; dass.: 35/1903; dass.: 124/1890; dass.: 42/1891; dass.: 103/1901). Sie dienten der Thesenbildung, die in den weiteren Gerichtsakten überprüft wurde. Die nachfolgenden Quellenbelege sind exemplarisch. 15 Dass.: 42/1891, Vernehmung der S.M. am 23.4.1891. 16 Dass.: 103/1901, Vernehmung der S.M. am 7.1. und am 24.2.1902.

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Abschnitte zeigt vielmehr, dass die Untersuchungsrichter von Beginn an leitend auf die Erzählungen der Zeuginnen und Zeugen einwirkten.

1.1.2 Wissenserwerb der Zeugen durch die Fragetechniken Den Ermittelnden blieb zunächst nichts anderes übrig, als ihre Recherchen an den Zeugenaussagen auszurichten. Jakob Sänger aus Ob etwa hatte dem Untersuchungsrichter im Falle der Deichel-Meineids-Ermittlungen angegeben, dass ihm die Bäckersfrau erzählt habe, dass dieser wiederum von Viktoria Götz eine Szene geschildert worden sei, in der Josefa Schmidt etwas Verdächtiges gesagt habe.17 In solchen Fällen beauftragte der Untersuchungsrichter den Gendarmen, dem Hinweis nachzugehen.18 Bestätigte der Gendarm, dass eine entsprechende Aussage gemacht werden könne, wurde – hier Viktoria Götz – umgehend befragt.19 Zeuginnen und Zeugen konnten mit ihren Angaben so den weiteren Verlauf der Ermittlungen lenken. Widersprach eine Zeugenaussage vorherigen Angaben oder gar der Aussage eines Dritten, reagierten die Vernehmenden mit unverhohlener Skepsis.20 Neben stetigen Ermahnungen zur Wahrheit dienten insbesondere ›Vorhalte‹ und ›Konfrontationen‹ zur Aufdeckung von Widersprüchen und Lügen. Die so genannten ›Vorhalte‹ konnten zwei Inhalte haben.21 Zum einen wurde dem oder der Aussagenden entgegnet, dass die Aussage im Widerspruch zu früheren eigenen Angaben stünde. Die ältere Aussage galt als frischer und unbeeinflusster und verfügte bei Juristen wie Nichtjuristen über eine größere Glaubwürdigkeit.22 Dies führte in den Hauptverfahren zu einer schwierigen Situation: Die unmittelbare Aussage im Gerichtssaal hätte einen höheren Beweiswert haben müssen als das Protokoll der früheren Angaben. Dennoch wurde nicht nur Anton Schmidt wiederholt darauf hingewiesen, dass er früher anders ausgesagt habe.23 Kritiker bemängelten gar, die Zeuginnen und Zeugen würden in der Hauptverhandlung so befragt, dass sie nicht von der Aussage aus dem Vorverfahren abwichen.24 Zum anderen wurden Vorhalte mithilfe von Aussagen Dritter durchgeführt. Anhand der Repliken kann in vielen Fällen nachvollzogen werden, welche Punkte entgegen gehalten worden waren:

17 Dass.: 21/1902, Vernehmung des J.S. am 8.7.1902. 18 Exemplarisch ebd., Gendarmeriebericht vom 16.6.1902, in dem Gendarm Drexel die ungefähren Aussagen von sechs potentiellen Zeugen paraphrasierte. 19 Ebd., Vernehmung der V.G. am 14.7.1902. 20 Dass.: 35/1903, Vernehmung des M.F. am 9.6.1903. 21 Schwaiger, S. 19 f. 22 Vgl. Kap. III.3.2. 23 § 252 RStPO, vgl. Rupp, S. 163. 24 Meiners, §9.

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»Es ist daher nicht wahr, daß ich den H[…] fragte, warum er in der Voruntersuchung angegeben habe, er habe [es] gesehen […] und daß mir H[…] hierauf entgegnete, es sei ja wahr, man dürfe nichts verschweigen.«25

Dabei wird den Zeuginnen und Zeugen z.T. sogar referiert, von wem die konkurrierende Aussage stammte, oder selbige aus den Protokollen verlesen. Michael Fleschutz gab etwa an: »Die von S[teck] in seinem aktenmäßigen Briefe vom 10. v. Mts. neuerlichen einschlägigen Behauptungen sind ebenso unwahr, wie das, was S[teck] sonst auch früher schon angab.«26

Vorhalte in der Voruntersuchung waren an der Tagesordnung27 und die Zeuginnen und Zeugen wurden auch während der Vernehmungen in der Hauptverhandlung auf die »widersprechenden Aussagen der übrigen Zeugen« hingewiesen.28 Der Vorhalt konnte sowohl durch den Richter oder Staatsanwalt als auch den fragenden Anwalt erfolgen29 und führte vereinzelt zu einer Veränderung der Aussage.30 Ging es bei Widersprüchen zwischen mehreren Aussagen um wichtige Punkte, ließen Richter Personen wiederholt einbestellen. Beide Ausagenden wurden dann bei einer ›Konfrontation‹ aufgefordert, ihre Aussage in gegenseiter Anwesenheit zu wiederholen und danach die Aussage des anderen zu kommentieren. Philomena Wespe machte diese Erfahrung sowohl in der Voruntersuchung als auch im Hauptverfahren. Zu einem Termin in der Meineidsermittlung im September 1902 gegen sie hatte der Untersuchungsrichter fünf Zeuginnen und Zeugen vorgeladen, deren Aussagen Frau Wespe belasteten. Die Zeuginnen und Zeugen bemerkten dabei einhellig, dass sie bei ihren Angaben blieben und diese nicht ergänzen müssten,31 lediglich eine Zeugin räumte die Möglichkeit eines Missverständnisses ein.32 Obwohl diese Gegenüberstellungen nur selten verwendet werden sollten,33 lassen sie sich zuhauf nachweisen.34 Die meisten der konfrontierten Personen in den Voruntersuchungen hielten weiterhin an ihrer Aussage fest. 25 StAA LG Ke - SK: 83/1901, Vernehmung des J.H. am 23.8.1901. 26 Dass.: 21/1902, Vernehmung des M.F. am 4.10.1902. Ähnlich: StAA LG A - SG: 74/1895, Vernehmungen des P.G. und des H.H. am 9.8.1895; StAA LG Ke - SK: 28/1899, Vernehmung des J.E. am 26.5.1899. 27 Dass.: 21/1902, Vernehmung der O.S. am 30.5., des M.G. am 16.8.1902. Intensiv in: dass.: 28/1899, Vernehmung des J.E., der R.S., des J.E. am 26.5.1899; dass.: 71/1905, Vernehmung des P.B. am 30.8.1905. 28 Zitat: StAA LG A - SG: 25/1893, Anklage vom 10.2.1893. 29 Zum Anwalt: StAA LG Ke - SK: 28/1899, Vernehmung des K.K. am 26.5.1899. 30 Dass.: 21/1902, Vernehmung des F.S. am 29.11.1902; dass.: 28/1899, Vernehmung des C.S. am 26.5.1899. 31 Exemplarisch: dass.: 21/1902, Vernehmung der V.A. am 20.9.1902. 32 Ebd., Vernehmung der A.Z, am 20.9.1902. 33 Ortloff : Untersuchungsrichter im Strafprocesse, S. 278; Bretzfeld: Behandlung, S. 129. 34 Vgl. exemplarisch: StAA LG Ke - SK: 71/1905, Vernehmung des P.B. am 30.8.1905. In beiden Fallbeispielen griffen die Untersuchungsrichter wiederholt zu dieser Technik: dass.: 21/1902, Vernehmung des J.K. und M.G. am 16.8., der J.K. und C.K. am 11.9.1902; dass.: 103/1901, Vernehmung der S.M. am 21.4.1902.

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In den Hauptverhandlungen wurde ein bereits vernommener noch anwesender Zeuge erneut vorgerufen und dazu aufgefordert, seine bereits unter Eid geleistete Aussage zu wiederholen,35 und geriet dabei notwendigerweise in den Verdacht, unter Eid gelogen und sich strafbar gemacht zu haben. In der Voruntersuchung hingegen wurde die Vernehmung für die Vernommenen durch den Vorhalt und die Konfrontation zu einem Ort der Information. Die Zeuginnen und Zeugen konnten dann nicht mehr nur aus den Fragen schließen, welche Richtung die Ermittlungen bislang genommen hatten, welche Informationen vorlagen und was andere Personen ausgesagt hatten.36 Die kriminaltaktische Literatur war für diesen Informationsgewinn interessanterweise so gut wie blind und fürchtete lediglich eine Verfälschung der späteren Aussagen: »Man darf den Zeugen zunächst nicht wissen lassen, was andere Zeugen […] gesagt haben, und ebensowenig, was man selbst über den Fall denkt. Geistig unselbständige Personen neigen leicht dazu, daß sie ihr eigenes Wissen und das, was sie von Anderen gehört haben, zu einem Ganzen zu verschmelzen und dann […] mit Bestimmtheit als eigene Wahrnehmung bekunden, was sie in Wirklichkeit gar nicht wahrgenommen haben.«37

Dass grundsätzlich nichts dagegen sprechen sollte, die Zeuginnen und Zeugen wissen zu lassen, was Dritte gesagt hatten, muss verwundern. Schließlich war es oberste Priorität der geheimen Voruntersuchung, genau diese Aussagen nicht publik werden zu lassen. Erneut zeigt sich hier, dass das praktische Vorgehen der Juristen die Prozessideale in Teilen ad absurdum führte. Denn die gewonnenen Informationen boten den Vernommenen wie ihrem Umfeld Anknüpfungspunkte für weitergehende Recherchen und die Adaption der eigenen Aussage.

1.1.3 Schweigen und Reden als machtvolles Zeugenverhalten Die gerichtliche Aussage war bei Weitem nicht nur attraktiv. Zwar konnte Jakob Wespe seine Frau vor deren anstehenden Aussage mit den Worten aufmuntern: »jetzt kommst du doch auch einmal nach Kempten«,38 denn die Kosten für die Reise in das gut 35 Kilometer entfernte Kempten wurden dem Ehepaar erstattet. Doch diese Fahrt war mit einem großen Zeitaufwand verbunden; zusätzlich konnte die Aussage soziale Verwerfungen und Rufschädigungen nach sich ziehen und wurde daher – so die hier vertretene These – von der Bevölkerung, soweit es ging, vermieden. Doch auch diese Verweigerung war eine Beeinflussung des Verfahrens. Die eigene gerichtliche Vernehmung brachte eine Reihe drohender Unannehmlichkeiten mit sich: Die Abwesenheit von der heimischen Arbeit konnte je nach 35 Vgl. die Schilderung bei StAA LG A - SG: 25/1893, Anklage vom 10.2.1893. Vgl. auch: dass.: 102/1895, Hauptverhandlung am 27.7.1895. 36 Vgl. Loetz; Hoffmann: Vom Ereignis zum Fall, S. 93–97; Kienitz, S. 65.Vgl. zur Frühen Neuzeit: Crosby, S. 125. 37 Weingart, S. 47, Hervorhebungen d. Vf. 38 StAA LG Ke - SK: 21/1902, Gendarmeriebericht vom 1.12.1902.

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Entfernung des Gerichtsortes bis zu zwei Tage in Anspruch nehmen. Der Zeitaufwand ließ Zeugen danach fragen, ob sie wirklich zum Prozess erscheinen müssten oder bereits vorher aussagen könnten, da es »mir wegen meines Geschäftes unangenehm war.«39 Neben dem Zeitaufwand konnte eine Aussage durchaus gravierende Folgen für die Aussagenden haben: Zum einen drohten hier Ehrverluste und die Gefahr, vor Nachbarn, Bekannten oder der eigenen Familie bloßgestellt zu werden, etwa durch eine mediale Berichterstattung40 oder durch das Verlesen möglicher Vorstrafen.41 Zusätzlich konnte die eigene Glaubwürdigkeit infrage gestellt werden, wenn etwa eine Gegenüberstellung erkennbar machte, dass einem nicht geglaubt wurde,42 das Plädoyer einen als unglaubwürdig schilderte,43 das Urteil nicht entsprechend der eigenen Aussage ausfiel oder wenn bereits in der Verhandlung der Vorwurf des Meineids erhoben wurde.44 Neben der öffentlichen Bloßstellung waren die unmittelbaren sozialen Folgen einer Vernehmung für die Betroffenen von Bedeutung. Josef Kneipp verwies darauf, dass er aufgrund seiner Aussage sowohl mit dem Diebstahlsopfer Fleschutz als auch mit der Hauptzeugin Wespe verfeindet sei. Beide nahmen ihm übel, dass er ihren Darstellungen widersprochen und dadurch zu Stecks Freispruch beigetragen hatte. Im Falle von Philomena Wespe sei diese Kränkung dadurch vertieft worden, dass sie als seine Stieftante von ihm nicht erwartet hätte, dass er sie öffentlich als Lügnerin hinstellte.45 Aussagen konnten also zu Loyalitätskonflikten führen und die sozialen Beziehungen langfristig beschädigen. Oft genug bildete die gegnerische Parteinahme den Startpunkt für einen neuen dispute process, der dann in einem Gerichtsprozess Ausdruck finden konnte.46 Auch schienen bei einer Aussage geschäftliche und berufliche Nachteile zu drohen.47 So gab Anton Schmidt an, dass er den Zorn seines damaligen Dienstherrn Cnauf befürchtet habe, wenn er von Beginn an den Diebstahl durch Fidel Steck bestritten hätte, da Cnauf ein enger Freund des Diebstahlopfers Fleschutz sei: »Wenn man im Dienst ist, darf man sich mit der Herrschaft nicht verfeinden […] und ich dachte mir, ich könnte es bei C[nauf] nicht mehr aushalten, wenn ich jetzt in seiner Gegenwart sagen würde, daß ich nur eine Deichel geholt habe.«48 39 StAA LG Ke - SK: 85/1900, Vernehmung des J.P. am 27.9.1900. 40 Vgl. Kap. II.2.1.2. 41 StAA LG A - SG: 51/1895, Hauptverhandlung am 26.9.1895; dass.: 33/1894, Hauptverhandlung am 14.6.1894. Diese Praxis wurde vonseiten der Juristen durchaus auch infrage gestellt. Vgl. Oppler, S. 649. 42 Ähnlich: StAA LG A - SG: 33/1894, Gendarmeriebericht vom 31.1.1894. 43 Ebd., Gendarmeriebericht vom 28.2.1894. 44 Dass.: 51/1895, Hauptverhandlung am 26.9.1895. Ähnlich dass.: 33/1894, Hauptverhandlung am 14.6.1894; dass.: 102/1895, Vernehmung des J.S. am 25.8.1895. 45 StAA LG Ke - SK: 21/1902, Vernehmung des J.K. am 10.6. und am 16.8. sowie des M.F. am 16.8.1902. 46 Vgl. StAA LG A - SG: 25/1893; dass.: 74/1895; dass.: 51/1895; StAA LG A - SK: 138/1895; StAA LG Ke - SK: 48/1898, Vernehmung des J.H. am 29.7.1898. 47 Etwa als Inhaberin eines Krämerladens: dass.: 21/1902, Vernehmungen des O.D. und der P.E. am 6.11.1902. 48 Dass.: 35/1903, Vernehmung des A.S. am 11.7.1903.

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Die Sorge um die eigene Stellung im sozialen Umfeld wurde während der noch laufenden Ermittlungen auch dadurch genährt, dass Freunde und Verwandte von Verdächtigen und Opfern sowie diese selbst immer wieder auf Zeuginnen und Zeugen einwirkten, sie beschimpften und bedrohten.49 Die Ehre und das soziale Netz von Personen, die das Gericht nicht hatten anrufen wollen, die mit dem Konflikt oder Verbrechen vergleichsweise wenig zu tun hatten und dennoch gezwungen waren, öffentlich Position zu beziehen, konnten durch eine Aussage empfindlich angegriffen werden. Sie konnten den Gerichtssaal mit dem Etikett des Lügners verlassen. Sie wurden aufgefordert, über Freund und Feind, über Privates und Geschäftliches vor aller Augen zu erzählen. Doch außer einer Reise in die Stadt und einem Auftritt als wichtigem Informationsträger hatten sie als Unbeteiligte dabei nichts zu gewinnen. Die Aussagen bewegten sich daher zwischen umfassenden Aussagen und beredtem Schweigen. Die Forschung hat wiederholt aufgezeigt, wie strategisch Frauen und Männer ihre Aussagen in Gerichtsverfahren ausrichteten.50 Sie beeinflussten durch die Aussage die Recherchen, bestimmten die Glaubwürdigkeit der Beteiligten oder entzogen sich der gerichtlichen Vernehmung. Sie waren aktive Gestalter des dispute processes und keineswegs ahnungslose oder orientierungslose ›Laien‹ in einem ihnen fremden System Gericht. Als etwa 1903 die Meineidsuntersuchung gegen Anton Schmidt eingeleitet wurde, befragte der Untersuchungsrichter beim zweiten Vernehmungstermin das vermeintliche Diebstahlsopfer Michael Fleschutz. Dieser schilderte nicht nur, wie er zu dem Verdacht gegen Fidel Steck gekommen war und welche Aussagen Anton Schmidt vor, während und nach den jeweiligen Gerichtsverhandlungen gemacht hatte. Er erläuterte dem Untersuchungsrichter seine Wahrnehmung des Ermittlungsganges und welchen Personen gegenüber Schmidt früher von zwei Deicheln gesprochen habe.51 Helena Alt schilderte am selben Tag ausführlich all jene Gespräche, die es auf dem Hof von Josef Cnauf rund um die Ermittlungen und Prozesse gegeben hatte. Dabei konzentrierte sie sich auf Ereignisse, bei denen immer noch eine weitere Person, insbesondere ihr Dienstherr, anwesend gewesen war. An darüber hinausgehende Punkte konnte sie sich hingegen nicht erinnern.52 Auch die ehemals des Meineids verdächtigten Wespes belasteten Anton Schmidt in zahlreichen Punkten.53 Anton Schmidts Vater wiederum gab in seiner Vernehmung eine Reihe neuer Zeugen an,54 während Gendarm Otto Drexel über frühere Privatklagen der Beteiligten gegeneinander berichtete und wiederholt auf frühere Gerüchte verwies, die es über die Geschehnisse gegeben habe.55 In zahlreichen 49 Vgl. Kap. III.4.2.2. 50 Zur Literatur über Aussagestrategien vor Gericht vgl. Kap. III.3.1, sowie Steinmetz, S. 473–476, 486–493. 51 StAA LG Ke - SK: 35/1903, Vernehmung des M.F. am 9.6.1903. 52 Ebd., Vernehmung der H.A. am 9.6.1903. 53 Ebd., Vernehmung der J. und P. W. am 9.6.1903. 54 Ebd., Vernehmung des J.S. am 28.7.1903. 55 Ebd., Vernehmungen des O.D. am 29.5. und 23.7.1903.

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Aussagen wurde die Glaubwürdigkeit dritter Personen in Zweifel gezogen.56 Und immer wieder führten in diesen und anderen Fällen die Zeuginnen und Zeugen weitere Personen an, die ihre eigene Darstellung bestätigen konnten,57 oder von denen sie gerüchteweise gehört hatten, dass sie etwas auszusagen hätten.58 Die umfangreichsten Aussagen stammten in erster Linie aus dem unmittelbaren Netzwerk der Beteiligten. Von sich aus suchten Personen die Polizei dann auf, um eine Aussage zu machen, wenn sie etwa das Bedürfnis hatten, einem gegen sie aufkeimenden Verdacht sofort entgegen zu treten.59 Anders stellt sich die Situation bei jenen Personen dar, die nicht unmittelbar von dem fraglichen Vorfall betroffen oder nicht eng mit den Beteiligten verbunden waren. Hier gab es nur selten umfangreiche Aussagen. Im Falle des gestohlenen Deichel lässt sich beobachten, dass sich insbesondere die Dienstmägde und -knechte mit Aussagen sehr zurückhielten und häufig angaben, nichts zu wissen. Ausnahmen bestanden dort, wo weitere Kollegen oder gar der Dienstherr selbst anwesend gewesen waren. Dann konnte davon ausgegangen werden, dass man nicht als einzige Person die Ereignisse bezeugen würde. Ebenfalls eine Aussage tätigten jene Dienstleute, die inzwischen außerhalb der Region eine neue Arbeit gefunden hatten. Während jedoch Schmidts Eltern deutlich für ihn Partei ergriffen und auch selbst auf andere einzuwirken suchten, wirkte sich die Verwandtschaft zwischen Wespe und Kneipp oder die Patenschaft Kneipps zu Fleschutz’ Kindern nicht analog aus. Dass Frau Wespe darüber empört war, zeigt jedoch, dass es eine entsprechende Erwartungshaltung gegeben hat. Immer wieder finden sich in den Gerichtsakten Äußerungen darüber, dass man nur ungern aussagte.60 Insbesondere Philomena Wespe gab in den Meineidsermittlungen gegen sie selbst an, dass sie nur unwillig ausgesagt habe: »Mir war die Zeugenschaft von vornherein sehr zuwider und sagte ich daher von vornherein zu meinem Mann, wenn die Sache auch ohne mich ausgehe, so solle er von meiner Person ganz absehen.«61

Möglicherweise sollte dem Eindruck entgegengewirkt werden, man habe ein Interesse am Ausgang des Verfahrens. Die Inszenierung einer Selbstüberwindung würde dann der Steigerung der Glaubwürdigkeit dienen. Trotz dieser Möglichkeit können diese Distanzbekundungen auch wörtlich genommen werden, standen sie doch im Einklang mit der zeitgenössischen Wahrnehmung der Gendarmen, es wolle sich »niemand gern als Zeuge einlassen, da bekanntlich hieraus Feindschaften und sonstige Unannehmlichkeiten entstehen«62 , und einem faktischen Schweigen zahlloser Zeuginnen und Zeugen. Wie schon in der Frühen Neuzeit lassen sich im Kaiserreich stereotype Antworten beobachten, die der eigentlichen Frage 56 57 58 59 60 61 62

Vgl. Kap. III.3.2. Vgl. exemplarisch: StAA LG Ke - SK: 48/1898, Vernehmung des J.S. am 29.7.1898. Dass.: 21/1902, Vernehmung der J.S. am 17.6.1902. Dass.: 124/1890, Gendarmeriebericht vom 22.11.1890. Besonders deutlich: dass.: 71/1905, Vernehmung des M.N. im Juli 1905. Dass.: 21/1902, Vernehmung der P.W. am 16.8.1902. Zit. nach: Hommen, S. 182. So auch: StAA LG A - SG: 51/1895, Gendarmeriebericht vom 8.2.1895.

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auswichen63 oder sich darauf zurückzogen, nichts zu wissen oder mitbekommen zu haben. Angesichts der Aufmerksamkeit, die die Vorfälle häufig im direkten sozialen Umfeld sowie im Dorfgespräch einnahmen, erstaunt die Häufigkeit, mit der Zeuginnen und Zeugen angaben, nichts zu wissen.64 In auffallender Weise konnte sich Veronika Amsel nicht mehr an eine vor dem Haus stattgefundene und mit Lärm und Schmutz verbundene Reparatur von Stecks Wasserleitung erinnern, denn: »Ich achtete auf so etwas nie.«65 Auch Xaver Grünbaum erinnerte sich zwar, dass er in der Nähe von Fleschutz und Schmidt saß, als diese sich in der Fleschutz’schen Kneipe über den Deicheldiebstahl unterhielten, jedoch »ich achtete nicht auf dieses Gespräch«.66 Diese Form des Schweigens, oder möglicherweise auch Verschweigens, lässt sich nur für die Phase der Voruntersuchung sicher nachweisen. Die Zurückhaltung in den Vernehmungen vor der Eröffnung des öffentlichen Gerichtsverfahrens verhinderte aber, dass die entsprechenden Personen offiziell als Zeuginnen und Zeugen vorgeladen wurden – und das war offenkundig auch das Ziel. Denn Personen traten z.T. bereits frühzeitig dem Eindruck entgegen, sie könnten in einem anlaufenden Verfahren überhaupt als Zeuge dienen. Dazu eröffneten sie einer oder mehreren Personen, dass sie froh seien, über den Vorfall nichts zu wissen. Diese Strategie, aktiv eine Zeugenvorladung zu sabotieren, wird hier als ›offensives Schweigen‹ bezeichnet.67 Eine solche Handlung ließ sich bei Philomena Wespe vor dem ersten Gerichtstermin gegen Steck beobachten: »Im vorigen September kam die Philomena W[espe] […] zu mir u meinem Mann Sylvester auf unsere […] Wiese herüber und begann von der einschlägigen Deichelsache zu sprechen […]: ›mit ihr dürfe Niemand Feindschaft haben, sie wisse von Allem nichts, sie könne nichts sagen, sie könne nichts bezeugen, ihr Mann hätte auch sollen still sein.‹ «68

Ob Philomena Wespe tatsächlich zunächst ihrem sozialen Umfeld gegenüber den Eindruck erwecken wollte, dass sie sich in den Konflikt um die Deicheln nicht einmische, oder ob die gegnerischen Zeuginnen und Zeugen die Szenen erfanden, um ihre Glaubwürdigkeit zu erschüttern, ist für die vorliegende Interpretation zweitrangig. Wichtig ist, dass ein solches Verhalten in den Augen der zeitgenössischen Akteure Sinn ergab und nicht unüblich war.69

63 Zur Frühen Neuzeit vgl. Simon-Muscheid: Reden und Schweigen vor Gericht. 64 StAA LG Ke - SK: 117/1904, Vernehmungen der F.F. am 10.1., der V.S. am 21.1., des G.M. am 6.2.1905. 65 Ähnlich ihr Mann: dass.: 21/1902, Vernehmung der V.A. und des G.A. am 30.5.1902. 66 Ebd., Vernehmung des X.G. am 8.7.1902; ähnlich dass.: 35/1903, Vernehmung V.G., der C.K. am 29.5.1903. 67 Der Begriff wurde entwickelt in: Ortmann: Jenseits von Klassenjustiz, S. 642. 68 StAA LG Ke - SK: 35/1903, Vernehmung der B.H. am 30.5.; ähnlich: Vernehmung der B.H. und des S.H. am 20.9.1902 und des J.K. am 10.6.1902. 69 Vgl. die Schilderungen bei StAA LG A - SG: 51/1895, Vernehmung des B.K. am 7.3.1895; StAA LG Ke - SK: 21/1902, Vernehmung des L.B. am 4.10.1902, betont, dass er eine derartige Äußerung bewusst wahrheitswidrig getätigt hätte.

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Betrachtet man die möglichen negativen Auswirkungen, die Aussagen auf die soziale Integration haben konnten, kann im ›offensiven Schweigen‹ eine Strategie gesehen werden, die soziale Position in der Gemeinschaft nicht zu gefährden. Dennoch nahmen die Betreffenden auch durch ihr Schweigen Einfluss auf den Prozess – entschlossen sie sich doch, einen Verdächtigen nicht zu ent- beziehungsweise zu belasten. Ohne entsprechende Aussagen konnte es oftmals aber gar nicht erst zu einem Prozess kommen. Denn glaubwürdige Aussagen waren für die Beweisführung zentral. 70

1.2 ›Laien‹ als Gefahr für die Wahrheitssuche Die zeitgenössische Beweislehre betonte, dass der Richter bei vorliegender Glaubwürdigkeit direkt aus Aussagen auf die Ereignisse schließen könne. Bestanden Unklarheiten, konnten Zeuginnen und Zeugen erneut befragt werden; Aussagen ermöglichten daher eindeutigere Urteile als die noch im Aufbau befindliche Kriminalistik.71 Diesem theoretischen Vertrauen in den Zeugenbeweis stand in den praxisbezogenen Handbüchern und Zeitschriftenartikeln ein profundes Misstrauen gegenüber. Gerade die Literatur zur Voruntersuchung betonte, man müsse »bei jeder Zeugenaussage sich von vornherein die Möglichkeit vor Augen halten, dass dieselbe falsch sei«.72 Folglich fülle »der Kampf gegen die Lüge […] keinen geringen Theil der Thätigkeit des Untersuchungsrichters aus.«73 1881 listete Julius Glaser, einer der wichtigsten Strafprozessrechtsautoren des frühen Kaiserreichs, die Bedingungen einer glaubwürdigen Zeugenaussage auf. Seiner Bewertung nach hatte eine Aussage nur dann Beweiskraft, wenn der Zeuge zum Zeitpunkt der Wahrnehmung »die volle geistige und körperliche Befähigung für dieselbe hatte«, er dem Ereignis die volle Aufmerksamkeit gewidmet hatte, sich genau erinnern könne, seine Erinnerung präzise kommunizieren könnte und bei der Vernehmung keinerlei Fehler gemacht würden.74 Da es bereits zeitgenössisch unwahrscheinlich schien, dass alle Faktoren zusammenträfen, wurde seit den 1890ern vereinzelt vorgeschlagen, dem Zeugenbeweis weniger Gewicht zu schenken, solange keine weiteren wissenschaftlichen Erkenntnisse vorlägen.75

70 Im Kaiserreich wurden nur 37 Prozent der Anzeigen zu einem Verfahren gebracht. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Einstellungsquote auch auf mangelnde Zeugenaussagen zurückzuführen waren. Vgl. auch Kap. III.4.1.1. 71 So bei: Rupp, S. 108–110; ähnlich: Glaser: Lehre vom Beweis, S. 194 und 214 f. Vorsichtiger: Geyer: Beweis, S. 210 f.; vgl. Becker: »Recht schreiben«; Schmoeckel: Einfluss der Psychologie, S. 60 f. 72 Gross: Handbuch (1894), S. 93. 73 Seefeld, S. 27. 74 Glaser: Kritik des Zeugenbeweises, S. 11. 75 Ebd., S. 12; Von einem praktischen Juristen; Görres: Psychologie.

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Als Beweis für die Unzuverlässigkeit der Zeuginnen und Zeugen galten die Inkongruenzen innerhalb von Darstellungen, insbesondere zwischen den protokollierten Aussagen aus dem Vorverfahren und jenen in der Hauptverhandlung.76 Ging man nicht davon aus, dass die früheren Aussagen mangelhaft protokolliert waren,77 dann musste die spätere Aussage inhaltlich verändert sein. Hier konnte neben Erinnerungslücken und einer unzureichenden Anstrengung, sich zu erinnern, auch eine bewusste Veränderung der Aussage, etwa durch eine Einwirkung des Verdächtigen, erfolgt sein.78 Die Unzulänglichkeit der Zeuginnen und Zeugen schien an drei Punkten zu Tage zu treten: Einer mangelnden Wahrheitsliebe, einer schlechten Beobachtungsgabe und einer fehleranfälligen Erinnerung. Solche Abweichungen suchten die Juristen auf zwei Wegen zu verhindern: Erstens, Lügen sollten durch die Vernehmungstechniken und die Vereidigung verhindert werden. Zweitens gab es tradierte Kriterien, anhand derer die Glaubwürdigkeit von Zeugnissen bewertet wurde. Beide Mittel aber waren im Kaiserreich stark diskutiert und zeigen eine Verunsicherung der Juristen, inwieweit die Instrumente noch ausreichten, um die vermeintliche Unzulänglichkeit der ›Laien‹ zu beherrschen. Im Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Professionalisierungsdiskurs musste daraus der Anspruch erwachsen, in den Verfahren erneut eine stärkere Stellung für die Juristen zu erhalten.

1.2.1 Die juristische Furcht vor lügenden Zeugen Der Wahrheitsanspruch sollte mithilfe der Vereidigung der Aussagenden erfüllt werden. Eide galten dank der strafrechtlichen und religiösen Sanktionen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als wichtiges Mittel, um eine wahrheitsgemäße Aussage herbeizuführen.79 In der Voruntersuchung blieben die Aussagen zwar in der Regel unbeeidigt,80 doch wurde »unter Hinweis auf den ev[entuell] zu leistenden Eid nach Ermahnung zur Wahrheitsangabe vernommen«.81 Die Ermahnungen und der Eid sollten dafür Sorge tragen, dass die Zeugen und Zeuginnen ihre Erinnerung bestmöglich hervorriefen und sich nicht zu lügen trauten. Vor diesem Hintergrund hatten Meineide für Juristen ein systemgefährdendes – im Extrem staatsgefährdendes82 – Potential.83 76 77 78 79 80

Kronecker: Reformbedürftigkeit, S. 428–431; von Lilienthal: Reform des Vorverfahrens, S. 1001 f. So aber: Hoppe, S. 147. Gross: Handbuch (1894), S. 89–97; Thomsen; Kronecker: Reformbedürftigkeit, S. 430; Zucker, S. 66. Bis zu einem BGH-Urteil 1954, vgl. Schmoeckel: Einfluss der Psychologie, S. 79. Anders wenn die Aussage in der Verhandlung nicht würde wiederholt werden können. Exemplarisch: StAA LG Ke - SK: 99/1905, Schreiben an das Amtsgericht Großenhain. 81 Vgl. exemplarisch: dass.: 103/1901, Vernehmung des A.R. am 20.1.1902. 82 Zum Vorwurf der Meineidsneigung von Sozialdemokraten: Hall; zum juristischen Streit, ob es sich eher um ein Fälschungs- oder ein Staatsdelikt handele Alsberg. 83 Exemplarisch Lucas: Anleitung, Bd. 2, S. 282.

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Entsprechend war der Bruch des Eides in den Paragraphen 153 und 161 RStGB mit hohen Strafen sanktioniert: Es drohte eine bis zu zehnjährige Zuchthausstrafe sowie der zeitweise Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, wie etwa des Wahlrechts. Meineidige verloren außerdem lebenslang das Recht, unter Eid auszusagen. Damit war Meineid eines der wenigen Delikte, für welche noch im Kaiserreich entehrende Strafen verhängt werden konnten.84 Dennoch forderten manche Juristen schärfere Sanktionen.85 Denn die als sinkend empfundene Wirksamkeit des Eides und eine vermeintlich steigende Zahl an Meineiden hatten seit Jahrzehnten zu umfangreicher Beschäftigung auf dem Deutschen Juristentag86 und in der Literatur,87 selbst bei vier der wichtigsten Strafrechtler des 19. Jahrhunderts, geführt.88 Auch Parlamentsdebatten, die Konferenzen der Inneren Mission und der Sittlichkeitsbewegung sowie die Tageszeitungen waren voll mit Berichten über die angeblich seit Jahren zu beobachtende steigende Anzahl an Meineiden. Die Klage über hohe und steigende Meineidszahlen sowie die Ursachenanalyse waren allerdings keinesfalls neu. Seit über 100 Jahren wurde immer wieder geklagt, dass eine zu hohe Anzahl an Schwüren die theologische Bedeutung des Eides vergessen lasse, dass eine zu geringe Bestrafung des Meineides, unzureichende Belehrungen durch die Richter sowie allgemein sinkende Moral und Sitte den Respekt gegenüber dem Eid sinken ließe.89 Diese Debatte konnte sich jedoch nicht auf empirische Daten stützen,90 waren die rückläufigen Meineidszahlen der amtlichen Statistik doch bekannt91 und wurden mit dem Hinweis auf eine hohe Dunkelziffer und vermeintliche Fehlurteile der zuständigen Geschworenengerichte negiert.92 Anders als bislang in der Forschung wird die Debatte um vermeintlich steigenden Meineid daher nicht als verlässliche Beschreibungen eines veränderten Verhaltens im Zeugenstand,93 sondern als Ausdruck einer wachsenden Verunsicherung der Berufsjuristen gelesen. 84 Barsch, S. 150–156; Vormbaum: Meineid; Klippel u. a., v.a. S. 384. Zur älteren Tradition Crosby, S. 226–232; Gensichen u. a., S. 384–389; Hofmeister, S. 226–232. 85 Bauer, S. 121; Von Slupecki, S. 25. 86 von Caemmerer u. a., S. 355, 359, 368, 375; sowie: Olshausen: Juristentag, S. 327, 377–379, 422 f., 461 f. 87 Vgl. das Register zu Der Gerichtssaal 1/19 (1868), S. 90 f.; außerdem: Elvers: Nothstände; Grisebach; Malortie; Strippelmann. 88 Abegg; Mittermaier: Meineid; von Schwarze: Lehre vom Meineide; bei von Liszt: Meineid, handelte es sich um die Habilitationsschrift. 89 Zu Stoltze 1791 vgl. Crosby, S. 375; zu 1864 in Hannover vgl. Grisebach und zum Untersuchungszeitraum exemplarisch von Slupecki, S. 25; im Überblick Vormbaum: Meineid, S. 48–101. Eine Kritik, die sich analog auch in der Debatte um den Untertaneneid wiederfinden ließ, Wiesmann, S. 100, und die eng mit dem beklagten Verlust religiöser Rituale (vgl. Kap. I.1.1) verknüpft war. 90 Ob die Statistik valide war, wurde von Zeitgenossen wie Forschung angezweifelt. Vgl. zu Statistiken grundlegend: Reinke; Galassi, S. 90 f. 91 1902 betonten dies die Erläuterungen zur Reichsstatistik, vgl. Kloß, S. 667. 92 Vgl. Von einem praktischen Juristen, S. 394 f. Ähnlich Kade: Abschaffung, S. 196; Kloß; Kulemann: Eidesfrage, S. 37 f. Gegenläufige Berechnungen präsentiert Bauer, S. 96–103; Herrmann: Nichtbeeidigung. 93 So jedoch fürs 19. Jahrhundert: Vormbaum: Meineid, S. 211; für die Frühe Neuzeit Holenstein: Seelenheil, S. 56; fürs Mittelalter: Hofmeister, S. 230.

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Traditionell hielt man gebrochene Eide für ein so seltenes Phänomen, dass diese durch Bestrafung im Einzelfall sanktioniert werden konnten. Im Kaiserreich wurde aus der Ausnahme jedoch rhetorisch der Regelfall: Richter sollten bei jedem Einzelnen anhand des Charakters vor der Aussage bewerten, ob dieser überhaupt vereidigt werden könne.94 Vorschläge dieser Art entsprachen einer Rückkehr zu früheren preußischen und österreichischen Vorschriften und waren wegen des im Verfahren dadurch zum Ausdruck gebrachten Misstrauens umstritten,95 gewannen aber zunehmend an Unterstützung.96 Neben diesem so genannten ›fakultativen Eid‹ wurde auch für die Einführung des erst nach der Aussage abzunehmenden ›Nacheids‹97 oder gar eine Verlegung der Vereidigung in die Voruntersuchung plädiert,98 was jedoch gegen das Prinzip der Unmittelbarkeit und damit gegen die Grundprinzipien der mündlichen und öffentlichen Verhandlung verstieß.99 All diese Vorschläge machten aus Zeuginnen und Zeugen statt einer pauschal als glaubwürdig und ihrer Rolle gerecht werdenden Personengruppe lauter Individuen, die schärfer kontrolliert werden mussten, bevor man ihnen vertrauen konnte. Die skeptische Haltung der Berufsjuristen gegenüber Zeuginnen und Zeugen war trotz der zeitgenössischen Rhetorik kein vollkommen neues Phänomen, sie wandte sich jedoch gegen eine gestärkte Stellung von ›Laien‹ im Verfahren, wie sie sich in der Gesamtkonstellation des Strafprozesses zeigte. Dieser setzten die Juristen ihren eigenen Professionalitätsanspruch entgegen, demzufolge es nur aufgrund ihrer Kompetenz und Verantwortung möglich war, die Wahrheit zu finden.

1.2.2 Die abgeschafften Beweisregeln als Hilfsmittel Sollten durch die Techniken der Vernehmung und den Eid Falschaussagen verhindert werden, war ein drittes wesentliches Element bei der juristischen Wahrheitssuche die anschließende Bewertung der Aussage. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein hatte die gesetzliche Beweislehre enge Klassifikationen aufgestellt, wer aufgrund äußerer Eigenschaften grundsätzlich als 94 Olshausen: Beiträge, S. 25–27; Appelius, S. 234; Hamm: Eidesnot, S. 705; Kade: Recht auf Wahrheit, S. 2–4, führt darüber hinaus analoge Zitate von Reichsgerichtsrat Mewes (1887), Pfizer (1886), Rechtsanwalt Ludwig Fuld (1889), Landgerichtsdirektor Rotering und der Danziger Zeitung (1894) an. 95 Hamm: Eidesnot, S. 705; Frank; von Slupecki, S. 26; Beling: Nichtbeeidigung; Hamburger. 96 So Galls Gutachten für den Juristentag: ebd., S. 364–367, und diverse Reformentwürfe seit 1884, vgl. Vormbaum: Meineid, S. 48–96. 97 Dieser fand in der juristischen Literatur eine Mehrheit, vgl. Von Slupecki, S. 22–24. Für den Nacheid: Olshausen: Beiträge, S. 22–27; Fuchs: Reform; von Schwarze: Beeidigung; Kulemann: Eidesfrage, S. 69 f. 98 Von Slupecki, S. 27; Olshausen: Beiträge, S. 20–22. Vgl. dazu auch: Haug, S. 16. 99 Zum parlamentarischen Streit: Bozi; Fuchs: Reform, S. 599; Appelius, S. 232 f. Vormbaum: Meineid, S. 48–101; Haug, S. 19 f., zu 1885/94. Er wurde auch in der juristischen Fachliteratur weitgehend und von den Standesorganisationen wiederholt abgelehnt, Olshausen: Beiträge, S. 22–27; von Schwarze: Revision, S. 44–50.

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»untauglich« oder »verdächtig« zu gelten hatte.100 Die gesetzlichen Beweisregeln wurden mit der Einführung der »freien Beweiswürdigung« zur Mitte des 19. Jahrhunderts obsolet, sollte die Bewertung von Indizien und Aussagen doch nun im subjektiven Urteil der Richter liegen.101 Dennoch wirkten die abgeschafften gesetzlichen Beweisregeln faktisch fort. Um willkürlichen Entscheidungen im Zuge der subjektivierten Urteilsfindung entgegen zu treten, erkannte man die Inhalte der Beweisregeln als weiterhin richtige Maßstäbe an, schrieb sie aber nicht mehr formal fest.102 Neben dieses kollektive Erfahrungswissen der Juristen trat in der juristischen Rhetorik eine Form der individuellen, in der Praxis erworbenen Intuition. Diese war in der Debatte untrennbar mit der Professionalität von Berufsjuristen und deren Skepsis gegenüber ›Laien‹ verwoben. Zum einen beriefen sich gerade jene Juristen, die den Naturwissenschaften keine Hilfsfunktion einräumen wollten, über viele Jahre auf die juristische »Erfahrung« oder schlicht ihre Menschenkenntnis.103 Zum anderen wurden in Anlehnung an die zeitgenössisch noch junge Vorliebe für ›Objektivität‹ und Empirie regelhafte Systeme anhand von gezielten Beobachtungen erstellt.104 So nutzte auch der langjährige Untersuchungsrichter Hanns Gross seine Berufserfahrung in seinen Texten als rhetorisches Argument und als Erkenntnisquelle.105 Er regte an, dass jeder Jurist bei seiner Tätigkeit genau darauf achten solle, welche Bevölkerungsgruppen sich als zuverlässig erwiesen. Diese Beobachtungen sollten mittelfristig zu verallgemeinerbaren Regeln führen: »Wenn man bei einer Reihe von Beobachtungen wahrgenommen hat, in welcher Richtung Leute einer bestimmten Gruppe (z.B. Sanguinische, Knaben, Fachleute usw.) unrichtig beobachten […], so wird man auch im praktischen Falle anzunehmen berechtigt sein, dass der Zeuge, der irgendeiner schon früher oft beobachteten […] Gruppe angehört, auch in der konstatierten Richtung diesmal unrichtig aussagt.«106

Angelehnt an das System der Moralstatistiken107 und in Einklang mit der sogenannten Erfahrungsseelenkunde108 sollte also eine verallgemeinerte Wahrscheinlich-

100 Stichweh; vgl. die Auflistung bei Mittermaier: Lehre vom Beweise, S. 313–339; traditioneller und ausführlicher im Ausschluss von Personen: Hommel, v.a. S. 27. 101 Koch: Zeugenbeweis; Michels; Küper, S. 219–245 und 291–302. Zeitgenössisch: Glaser: Lehre vom Beweis, S. 1–33; Lohsing, S. 12–55. 102 Koch: Zeugenbeweis, S. 257 f. Eine Festschreibung als Verwaltungsvorschrift hatte man für Österreich und Deutschland durchaus erwogen, vgl. dazu Geyer: Beweis, S. 202. 103 Mezger. 104 Zur Geschichte der »Objektivität« als wissenschaftlicher Norm seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. Daston/Galison, v.a. S. 27–35, hier: 28. Vec: Die Spur des Täters, S. 13 f., führt die zentralen Beiträge der Objektivitätsdebatte an. Vgl. zur neuen Bedeutung des Expertentums: Raphael, S. 171–175. 105 Gross: Handbuch (1894); vgl. auch ders.: Wahrnehmungsproblem, und ders.: Rezension. Zur analogen Debatte bei Strafrechtlern: Klippel u. a. 106 Gross: Handbuch (1894), S. 55. 107 Zur prognostischen Funktion der Statistik Baumann, S. 39; Moses, S. 78–88, v.a. 83. 108 Vgl. Greve, S. 31–41.

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keitsprognose über die Zuverlässigkeit konkreter Zeuginnen und Zeugen erstellt werden, die auf den individuellen Beobachtungen einzelner Juristen basierte. Es waren gerade die Anhänger der so genannten modernen Schule der Juristen wie Gross und von Liszt, die sich aufgrund ihres Interesses für Kriminologie auch mit der Aussagepsychologie beschäftigten und die allgemeinen Ergebnisse in die juristischen und öffentlichen Debatten einspeisten.109 Deren Hauptaussage, dass die fehlerlose Erkenntnis nicht die Regel, sondern die Ausnahme bilde,110 schmälerte für sie nicht den theoretischen Beweiswert der Zeugenaussage,111 sondern rechtfertigte die Bedeutung der Kriminalistik und war verknüpft mit rechtspolitischen Reformforderungen zu den Vernehmungstechniken.112 Im Ergebnis strebten die Anhänger der naturwissenschaftlichen Ansätze danach, die freie Beweiswürdigung in dem Sinne zu »naturwissenschaftlichen«, d.h. auf empirischem Wege abzusichern, dass den Richtern Orientierungshilfen an die Hand gegeben würden, ohne sie erneut gesetzlich zu regeln.113 Stern stellte klar, dass bei der Beurteilung von Aussagen eine Differenzierung nach Alter, Geschlecht, Bildung und Geistesstand notwendig sei.114 So seien Kinder schlechte und fantasiereiche Beobachter, die außerdem zur Lüge neigten bzw. leicht beeinflussbar seien.115 Während unterbürgerlichen Schichten zum Teil die Fähigkeit abgesprochen wurde, zwischen den eigenen Beobachtungen und Hörensagen zu unterscheiden, wurde bei »Zeugen der besseren Gesellschaft« vor »Non-chalance« gewarnt.116 Diese würden sich in unvereidigten Aussagen nicht die notwendige Mühe geben, über die Fragen ausreichend nachzudenken. Auch berufliche Merkmale wurden herangezogen. So galten »herumziehende Händler, Eckensteher, Wirte und deren Gehilfen, manche Krämer, Lohnkutscher, Artisten« aufgrund ihrer »anderen Lebenseinstellung« einem Autor als besonders lügenhaft.117 Die Beurteilung von weiblichen Zeugen fiel im Kaiserreich widersprüchlich aus. Einerseits wurde angebracht, dass Frauen gute Beobachterinnen seien und weniger vergäßen, wenn sie auch zu lügenhaften und übertriebenen Darstellungen neig109 Schneikert: Zeugenvernehmung; Thomsen; Heilberg; Seefeld und Sturm. Zur Aussagepsychologie vgl. Schmoeckel: Einfluss der Psychologie, v.a. S. 71–73; Kühne: Anfänge; Undeutsch. 110 Stern, Zur Psychologie der Aussage, S. 327, zit. nach: Schmoeckel: Einfluss der Psychologie, S. 70. 111 Von Liszt betonte, dass eine intensive interdisziplinäre kriminologische Forschung es den Juristen ermöglichen würde, »den Wert der Aussage sicherer zu beurteilen als das heute möglich ist«, von Liszt: Psychologie, S. 17. Schmoeckel: Einfluss der Psychologie, S. 71, verkennt diesbezüglich den rhetorischen Aufbau dieses Textes, wenn er davon ausgeht, von Liszt habe die Aussage als entwertet betrachtet. 112 Stern: Reform. Zusammenstellung bei: Schmoeckel: Einfluss der Psychologie, S. 76. 113 So ist auch das Plädoyer bei Hellwig: Urteilsfindung, S. 430–433, zu lesen. 114 Stern: Verhörsprodukt. Daran anschließend: Heilberg, der Bildung, Alter und Übung als Kriterien ansieht. Zu den »Geisteskranken« vgl. Cramer. 115 Vgl. u.a. Stern: Kinderaussagen; Glaser: Lehre vom Beweis, S. 230–233; Peters: Rezension Marbe. Vgl. Kühne: Anfänge, S. 36; Gross: Handbuch (1894), S. 82–89. Grundlegend: Schmoeckel: Einfluss der Psychologie, S. 80–82. 116 Hoppe, S. 146. 117 Seefeld, S. 278, in Anlehnung an Gross: Criminalpsychologie.

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ten.118 Andererseits wurde mit Verweis auf ihre Sexualität eine geringere Fähigkeit zur Wahrnehmung und zur zuverlässigen Wiedergabe, mangelnde Objektivität und erneut eine erhöhte Neigung zur Lügenhaftigkeit attestiert.119 Nicht zuletzt durch die zeitgenössisch so häufig thematisierte ›Hysterie‹ wurde Frauen daher größere Skepsis entgegen gebracht als Männern.120 Da Frauen formal in allen prozessualen Fragen den Männern im Zivil- wie im Strafprozess gleichgestellt waren, kann die im Kaiserreich artikulierte und zuweilen beobachtbare Haltung, Frauen weniger Glauben zu schenken als Männern, nicht auf juristische Logiken zurückgeführt werden.121 Anders als bei Minderjährigen, körperlich Beeinträchtigten und berufs- bzw. bildungsbedingten Differenzierungen kann bei der Bewertung von Zeuginnen außerdem nicht in gleicher Weise von einem Rekurs auf alte Erfahrungssätze gesprochen werden.122 Denn bis Mitte des 19. Jahrhunderts sprach sich die Literatur explizit dagegen aus, Frauen weniger Glauben zu schenken, und bezeichnete dies als rückständig.123 Es handelte sich vielmehr um eine Verwissenschaftlichung bürgerlicher Geschlechterrollen, wie sie auch für den Giftmord, den Kindsmord und die Kriminologie insgesamt belegt sind.124 Die Rolle der Klassifikationen anhand von Bildung, Geschlecht, Beruf und Alter darf für den Gerichtsalltag insgesamt nicht überschätzt werden. Denn die Vehemenz, mit der einzelne Vertreter auf die kriminologischen Ergebnisse verwiesen, kompensierte wohl gerade die Minderheitenposition, in der sie sich im Fachdiskurs insgesamt befanden.125 Sowohl die Forderungen nach zusätzlichem Fachwissen als auch der Verweis auf die individuelle und kollektive Erfahrung – die als Topos ja auch in anderen rechtspolitischen Fachdebatten eine zentrale Rolle spielte126 – betonten aber in einem breiteren Diskurs, dass eine besondere Professionalität notwendig war, um die von ›Laien‹ abgelegten Zeugnisse in möglichst authenti118 Seefeld, S. 277 f.; so auch Stern laut Kühne: Anfänge, S. 36. Vgl. auch Nolte, S. 270–281; Hommen, S. 88–92. Damit soll auch dem Eindruck widersprochen werden, die Aussagepsychologie habe sich nur mit unintentionalen Falschaussagen beschäftigt, so aber Lück/Niehaus, S. 145–148. 119 Gross: Criminalpsychologie, v.a. S. 417, 445, 455, der der ›Andersartigkeit‹ von Frauen fast 100 Seiten widmet. 120 Exemplarisch: Hoppe, S. 146, und Seefeld, S. 278. 121 Zur Gleichstellung vgl. Kap. III.2.2.1; zur ungleichen Glaubwürdigkeit vgl. Kap. III.3.2. 122 Es wird an dieser Stelle explizit einer Kontinuitätslinie widersprochen, die in der Forschung bislang einen Bogen vom Römischen Recht bis zum Kaiserreich spannt, dabei jedoch die Entwicklungen zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert übersieht. Grundlegend für dieses Narrativ: Undeutsch, auf den sich auch Kühne: Anfänge, S. 33 stützt. 123 Eibach: Männer vor Gericht, S. 564; Schnabel-Schüle: Frauen im Strafrecht, S. 190 f.; vgl. die ausführliche Darstellung bei Glaser: Lehre vom Beweis, S. 233, Fn. 63; exemplarisch vgl. Mittermaier: Lehre vom Beweise, S. 345 f., und Hommel, S. 69; nicht verständlich daher die gegenteilige Interpretation bei Undeutsch, S. 32. 124 Neben Lombrosos Das Weib als Verbrecherin ist für die deutsche Debatte hierbei Erich Wulffens Frau als Sexualverbrecherin zentral. Weiler, S. 25–31 und 75–88. 125 Zahlreiche Lehr- und Handbücher nahmen von der neuen Forschung keine oder nur wenig Kenntnis, etwa: Meves: Strafverfahren; John: Strafprozeßrecht (systematisch), S. 45 f. Zur Skepsis ggü. Gutachtern: Vec: Die Spur des Täters, S. 16 f.; Greve. 126 Vgl. Kap. I.3.1.3 und II.3.2.

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scher Form zu erhalten und optimal zu bewerten.127 In den Augen der Juristen ermöglichte ihre Erfahrung und Ausbildung im Alltag einen sicheren Umgang mit den Unwägbarkeiten, die der Zeuge und die Zeugin in das Verfahren brachten. Sie waren die Träger der Professionalität und unterschieden sich dadurch wesentlich von den ›Laien‹, seien es ›Laienrichter‹ oder Psychologen.128 Die Macht der Zeuginnen und Zeugen – ein Kapitelfazit Die Vernehmung als Zeugin oder Zeuge war eine asymmetrische Gesprächssituation, in der die Berufsjuristen das Setting sowie grundlegende Gesprächsregeln festlegten und die Gesprächsführung übernahmen. Aus ihrer Perspektive sollten sich die ›Laien‹ entsprechend der ihnen zugedachten Rolle verhalten und eine möglichst authentische Schilderung liefern. Sie entwickelten ein formales Verfahren sowie eine ausdifferenzierte Befragungstechnik, durch die die Aussage möglichst unverfälscht sein sollte. Dabei zeigt die Debatte über Meineide eine juristische Verunsicherung, ob die Vereidigung noch über ihren wahrheitssichernden Effekt verfügte. Diese Verunsicherung ging über die Furcht vor Lügen hinaus und erstreckte sich insgesamt auf die Zuverlässigkeit der Zeugenaussage. Im Zuge eines Professionalisierungsdiskurses betonten sie nun eine individuelle oder kollektive »Erfahrung«, die notwendig sei, um mit den angeblich unzuverlässig beobachtenden, unstrukturiert erzählenden und sich in der Erinnerung täuschenden Zeuginnen und Zeugen umgehen zu können. Die im Kaiserreich durch den Interdiskurs mit der empirischen Forschung entstehenden pauschalisierenden Kategorien glaubwürdiger Personen knüpften an die frühere, gesetzliche Beweislehre und an bürgerliche Geschlechterstereotype an. Wenn die Personen erwiesenermaßen ungleich befähigt waren, als Zeugin oder Zeuge zu dienen, dann mussten sie auch ungleich behandelt werden. Die Sicht der Juristen zeigt eine Skepsis gegenüber den Fähigkeiten von Zeuginnen und Zeugen, die sie auch anderen ›Laien‹ im Prozess entgegenbrachten. Dennoch vertrauten sie ihnen genug, um die eigenen Recherchen durch die Aussagen maßgeblich beeinflussen zu lassen. Gerade die faktische Öffentlichkeit der Aussage ließ einen Teil der Zeuginnen und Zeugen vor dieser zurückschrecken. Neben der dadurch drohenden sozialen Fraktionierung musste befürchtet werden, dass man bei der Befragung öffentlich bloßgestellt wurde, dass Zeitungen einen (negativ) porträtierten oder man wegen Meineids angezeigt würde. Als Folge zeigte sich auch im Kaiserreich eine vielschichtige Form des Schweigens in der Aussage. Die Zeuginnen und Zeugen behaupteten, sich nicht erinnern zu können oder keinerlei Informationen zu besitzen. Zum Teil versuchten sie einer Vorladung bereits dadurch zu entgehen, dass sie 127 Stichweh, S. 295 f.; Koch: Zeugenbeweis, S. 257. »Das private Wissen des Richters« galt nun nicht mehr als sachfremder Einfluss, sondern als Privileg. Vgl. die gleichnamige Schrift: Stein; dazu: Nobili, S. 160. Der Rekurs auf ›Erfahrungswissen‹ und berufliche ›Erfahrung‹ findet sich bei: Geyer: Beweis, S. 205; Hoppe, S. 146. 128 Sontag; Schneikert: Zeugenvernehmung, S. 2–5.

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öffentlich erklärten, nichts zu wissen. Die gezielte Verweigerung der Mitwirkung stellte selbst eine machtvolle Beeinflussung des dispute process dar. Direkter konnten jene Zeuginnen oder Zeugen jedoch durch ihre Aussage Richter und Untersuchungsrichter von ihrer Perspektive auf den Fall zu überzeugen suchen. Sie nannten Personen, die über ein einschlägiges Wissen verfügen sollten. Sie inszenierten sich als glaubwürdig und diskreditierten die Aussagen Anderer. Hierzu wurden sie auch durch die Befragungstechniken befähigt, die ihnen die Aussagen Dritter, zuweilen namentlich oder wörtlich, bekannt gaben. Die Vernehmung wurde so trotz der Asymmetrie zum Ort der Einflussnahme und der Information.

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2. Das unverzichtbare Verhör

Eine besondere Form der Vernehmung und Informationsgewinnung war die Befragung der verdächtigten oder angeklagten Person. Für die Juristen schien ohne sie eine Aufklärung des Falles kaum möglich zu sein, und für den Betroffenen war es eine Möglichkeit, aktiv in den Prozess einzugreifen. Dabei lag es durch den Auslegungsspielraum des Gesetzes in der Hand der Juristen, ob es sich bei einem ›Verhör‹1 um einen reinen Informationsaustausch handelte oder ob mit allen Mitteln versucht wurde, den Verdächtigen zu einem Geständnis zu bringen.

2.1 Der äußere Rahmen Bereits zehn Tage nach dem Fund der toten Therese Gast hatte sich ein erster Verdacht gegen ihren Dienstherrn Fichtl so weit erhärtet, dass dieser vorläufig festgenommen wurde.2 Eine Festnahme konnte nur mit Fluchtgefahr oder mit einer drohenden Beeinflussung des Verfahrens durch den Verdächtigen begründet werden (Kollusionshaft).3 Offenbar lag die Schwelle für eine Verhaftung relativ niedrig, wurde doch Richtern selbst von juristischen Kollegen und dem bayerischen Justizministerium ein »verschwenderische[r] Gebrauch der Untersuchungshaft« attestiert.4 Die ausgewerteten Gerichtsakten bestätigen, dass Haftbefehle häufig nicht mit den eigentlich notwendigen Verdachtsgründen für eine Vertuschungsabsicht begründet wurden. Sie vermerkten stattdessen, dass »Fluchtgefahr vorhanden ist, welche, da ein Verbrechen vorliegt, einer weiteren Begründung gar nicht bedarf.«5 1 Die zeitgenössische Begriffstrennung zwischen einem frühneuzeitlichen Verhör einerseits und der reformierten Gesprächssituation der Vernehmung andererseits wird hier nicht übernommen. Stattdessen wird zur begrifflichen Abgrenzung von der Zeugenvernehmung im Weiteren von Verhör gesprochen, wenn das ritualisierte Gespräch mit dem Verdächtigen bzw. Angeklagten bezeichnet werden soll. 2 StAA LG Ke - SK: 124/1890, Haftbefehl vom 14.11.1890. 3 Vgl. Wehner, v.a. S. 43; Hermes. 4 Wach: Gerichtsverfassungsgesetz, S. 14; Anonymus: Die Verhängung der Untersuchungshaft. 5 StAA LG A - SK: 67/1888, Vernehmung der E.P. am 7.1.1888; StAA LG A - SG: 107/1894, Vernehmung des U.H. am 15.9.1894. Ausführlicher: StAA LG Ke - SK: 124/1890, Beschluss vom

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Am Tag nach der Verhaftung fand das erste von insgesamt vier Verhören Fichtls statt. Die Reichsstrafprozessordnung hatte über Zeitpunkt und Häufigkeit keine Vorschriften gemacht, sicher war jedoch, dass bis zur Beendigung der Voruntersuchung mindestens ein Verhör zu erfolgen hatte.6 Dass der Beschuldigte erscheinen musste, war herrschende Meinung der Juristen und ist in keinem der Fälle anders zu beobachten.7 Das Verhör erfolgte in der Voruntersuchung unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wobei dem Staatsanwalt und dem Verteidiger die Anwesenheit gesetzlich verboten war. Die Ladung musste formal und schriftlich erfolgen.8 Da Fichtl zum Zeitpunkt seiner ersten Vernehmung bereits verhaftet worden war, fand dieselbe im Landgerichtsgefängnis in Kempten statt.9 Obwohl er umgehend freigelassen wurde, war seine Verhaftung inzwischen ortsbekannt und hatte Auswirkungen auf sein Sozialleben. Zwei Wochen nach seiner ersten Befragung gab er sich beim Bierkauf als sein eigener Knecht aus, was allgemein als Ausdruck eines schlechten Gewissens gedeutet wurde.10 Ihm sei bewusst gewesen, »daß die Leute immer sagen, daß ich der Thäter sei«, er habe sich verleugnet, »weil ich mich genirte.«11 Bei seiner zweiten Befragung am 20.12. – vermutlich in einer lokalen Gaststätte12 – in Kraftisried war er auf freiem Fuße, wurde jedoch im Anschluss erneut festgenommen. Zu diesem Zeitpunkt wurde in der Gemeinde, »wenn man auf den Mord zu sprechen kommt, F[ichtl] auch allgemein als Täter bezeichnet.«13 Der nach seinem letzten Verhör gegen ihn bleibende Verdacht führte dazu, dass Fichtl sogar darüber nachdachte, »von dieser Gegend fortzuziehen.«14 Er blieb letztlich und wurde bald selbst zum Zeugen gegen den nun verdächtigten Hörmüller. Dennoch hieß es noch elf Jahre später: »Die Meinung in unserer Gegend ist getheilt. Die einen bezeichnen Konrad H[örmüller], die anderen F[ichtl] als Thäter.«15 Den Verdacht, ein Verbrecher zu sein, wurde man nicht so schnell wieder los. Bereits die ersten Befragungen von Zeuginnen und Zeugen waren 1901 ausreichend, um das Gerücht entstehen zu lassen, Konrad Hörmüller sei wegen des zehn Jahre alten Mordes an Therese Gast verhaftet worden. Diese Falschmeldung fand

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24.11.1890. Wichtig war aus juristischer Sicht, dass es sich um kein Vergehen, sondern um ein im Vergleich dazu schwer wiegendes Verbrechen handelte. Sprenger, S. 32; Schwaiger, S. 56–64. Umstritten war bei der Kodifikation, ob es sich hier um einen logischen Bruch handelte: Wenn die Vernehmung insbesondere zum Nutzen des Beschuldigten da sein sollte, dann müsste diesem ein Verzicht auf das Gespräch frei gestellt sein. Bennecke, S. 386; Hahn: Materialien, S. 700, später: Schwaiger, S. 58 f. Vgl. mit Abdruck des Formulars: Anonymus: Bekanntmachung vom 13.9.1879, v.a. S. 979. So auch bei StAA LG A - SG: 11/1884, Vernehmung der J.W. am 13.11.1883; StAA LG Ke - SK: 75/1900, Vernehmung des J.P. am 27.6.1900; dass.: 76/1897, Vernehmung des A.P. am 6.9.1897. Dass.: 124/1890, Vernehmung der C.H. und J.F. am 19.12.1890. Ebd., Vernehmung des J.F. am 20.12. und 30.12.1890. Vgl. Kap. II.1.2.2. Dass.: 124/1890, Vernehmung des S.M. am 20.12.1890. Ebd., Gendarmeriebericht vom 5.2.1891. Dass.: 103/1901, Vernehmung des A.M. am 7.1.1902, ähnlich: U.V. am 27.1. und E.K. am 29.1.1902.

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dadurch schleunige Verbreitung, dass sie zum Ärger des Untersuchungsrichters am 5.12. in der Allgäuer Zeitung und am 7.12. im Oberdorfer Landboten erschien.16 Andererseits zeigt sich gerade auch bei Hörmüller, dass der ihm anhaftende Verdacht das weitere Leben nicht zerstörte. Anders als seine Geschwister blieb er in Schotten wohnen17 und vermählte sich sogar mit einer Frau aus einem nahegelegenen Ort, die betonte, dass sie erst während ihres Brautstandes und nur zufällig von dem Mord gehört hatte.18 Die Vernehmungen als Verdächtiger – so also ein erstes Fazit – ließen einen zwar als potentiellen Täter vor der Öffentlichkeit stehen, eine soziale Exklusion erfolgte daraufhin jedoch selbst bei so schwerwiegenden Verbrechen wie einem Mord offenbar nicht vollständig. Wäre es bei Fichtl oder Hörmüller zum Prozess gekommen, so hätten sie den gesamten Verlauf der Verhandlung von dem seitlich angeordneten Platz aus verfolgt. Nachdem die Sitzung eröffnet, die Geschworenen benannt und die Zeuginnen und Zeugen ins Zeugenzimmer entlassen worden waren, wurde der Angeklagte vom Vorsitzenden Richter über »seine persönlichen Verhältnisse befragt«. Danach wurde der Beschluss der Strafkammer über die Eröffnung des Verfahrens verlesen und der Angeklagte befragt, »ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle.«19 Im Laufe des Verfahrens kam der Angeklagte mehrfach zu Wort, indem er aufgefordert wurde, sich zu den jeweils erfolgten Zeugenaussagen zu äußern. Bei dieser Befragung stand der Angeklagte wie bei allen weiteren Stellungnahmen.20 Außerdem kam dem Angeklagten am Ende des Prozesses das letzte Wort zu.

2.2 Das asymmetrische Gespräch Welchen Verlauf ein Verhör nahm, hing dank der ›juristischen Varianz‹ auch davon ab, welches Ziel der verantwortliche Jurist verfolgte, welches berufliche Selbstverständnis und welche Einstellung er grundsätzlich gegenüber Verdächtigen hatte.21

16 17 18 19

Ebd., Briefwechsel und Berichte 10.–17.12.1901. Ebd., Vernehmungen des G.M. am 3.12.1901, der S.M. und des L.K. am 2.1.1902. Ebd., Vernehmung der A.H. am 13.1.1902. Zum Ablauf grundlegend: Feddersen; Meves: Strafverfahren, S. 42–172. Vgl. exemplarisch: StAA LG A - SG: 28/1884, Hauptverhandlung am 12.5.1884, und dass.: 74/1895, Hauptverhandlungsprotokoll vom 11.2.1896. 20 So war es Matthias Kneißl aufgrund seines Gesundheitszustandes explizit erlassen worden, bei der Vernehmung zu stehen, vgl. OL 16.11.1901. 21 Exemplarisch wurde dies skizziert in: Ortmann: Vom ›Motiv‹ zum ›Zweck‹.

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2.2.1 Paternalismus und Misstrauen der Juristen Die Konzeption des Strafverfahrens nach 1879 sah nicht vor, dass Verdächtige in irgendeiner Phase des Verfahrens auf sich gestellt waren. Die Strafprozessordnung galt als komplex, die juristische Sprache als wenig zugänglich,22 und die argumentativen Logiken der ›Laien‹ entsprachen häufig nicht den juristischen Erwartungen. Insbesondere vonseiten der Professoren und der Anwälte wurde, sicher nicht vollkommen uneigennützig, auf die Unfähigkeit der Angeklagten hingewiesen, ohne Rechtsbeistand angemessen mit einer Anklage umzugehen.23 Sie wüssten kaum um ihre prozessualen Rechte; es erschien fraglich, ob es sinnvoll wäre, sie über bestehende Fristen zu informieren, da sie dieselben ohne anwaltlichen Beistand nicht würden wahrnehmen können.24 Diese grundsätzliche Feststellung galt insbesondere für die bildungsfernen Schichten;25 auch der Gebildete sei aber selten in Rechtsfragen gut bewandert und befinde sich als Verdächtiger in einer psychischen Sondersituation, sodass auch er auf juristischen Beistand angewiesen sei.26 Als besonders beistandsbedürftig erschienen den Juristen Jugendliche und Frauen.27 Jugendliche hatten einen Anspruch auf einen gesetzlichen ›Vertreter‹, der einen Verteidiger wählen, Beweisanträge stellen oder als Zeuge aussagen konnte. Er durfte für den Angeklagten jedoch nicht gestehen oder leugnen. Als Vertreter konnten Väter, der Vormund oder die Adoptiveltern – eventuell auch eheliche Mütter – vor Gericht erscheinen.28 Anders war die Hilfestellung für Frauen ausgestaltet. Sie konnten in ihrem selbstständigen Handeln vor Gericht nicht eingeschränkt werden, denn prozessuale Rechte korrelierten mit der Handlungsfähigkeit, die durch das materielle Recht zugeschrieben wurde. Im Zivilprozess konnten Frauen nur so weit selbstständig vor Gericht agieren, wie sie in der betreffenden Frage auch Verträge abschließen durften.29 Im Strafverfahren hingegen war die Schuldfähigkeit von Frauen unumstritten, und so mussten sie sich als Angeklagte auch selbstständig der Verant-

22 Zur historischen Entwicklung der juristischen Fachsprache vgl. Schmidt-Wiegand; zur Verfachlichung der Sprache vor Gericht: Naucke: Stilisierung; Marxen; Frommel. 23 Vgl. Benedict, S. 8; Schwaiger, S. 43 f., 65, 78 ff.; Friedmann: Was darf ich?, Einleitung und S. 84 ff.; Ortloff : Vorverfahren, S. 40 f. 24 Ders.: Untersuchungsrichter im Strafprocesse, S. 277. Dafür: Karsten, S. 435 f.; Lafrenz. 25 Stenglein: Protocoll, S. 82 f.; Ortloff : Vorverfahren, S. 37, 40 und 56; Schwaiger, S. 43. 26 Geyer: Lehrbuch, S. 423 ff. 27 Hinzu kamen alle erwachsenen Geisteskranken, die nicht als vollständig geschäftstüchtig galten. 28 Von Holtzendorff : Vertheidigung, S. 420 f.; Mamroth: Strafprozeßordnung, S. 168 f.; Löwe: Strafprozeßordnung (1914), S. 287. Die Vertretung durch die Mutter war spätestens seit 1900 möglich. Noch nicht aufgeführt bei: Puchelt, S. 293 f.; dezidiert abgelehnt bei: Zimmermann: Streitfragen, S. 262 f. 29 Zur Zivilprozessordnung vgl. Scheppler und Holthöfer.

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wortung stellen.30 Dennoch sah die Reichsstrafprozessordnung eine patriarchale Schutzklausel vor: der Ehemann konnte als ›Beistand‹ zur Seite stehen und musste angehört werden (§ 149 RStPO). Er durfte keinen Anwalt beauftragen und keine Beweisanträge stellen, konnte aber selbstständig zu ihren Gunsten Rechtsmittel einlegen (§ 340 RStPO).31 In der Summe lässt sich sagen, dass seine Tätigkeit darauf beschränkt war, seiner Frau mit ihrem Einverständnis zu helfen. Verfahrensschritte, die diese ablehnte oder welche sich gravierend zu ihrem Nachteil auswirken konnten, durfte er nicht einlegen. Eigenständige Verfahrensrechte, die ihm persönlich auch unabhängig vom Willen seiner Frau zustanden, kamen dem Ehemann einer Angeklagten anders als jenem eines Opfers nicht zu.32 Tatsächlich kompensierten Beistände und Vertreter immer nur Nachteile, die Personen im Vergleich zu erwachsenen männlichen Angeklagten hätten.33 Die Hilfe eines studierten Juristen machten sie in keiner Weise entbehrlich. Die Sorge der Juristen über defizitäre Kenntnisse der ›Laien‹ galt weitgehend nur den unschuldigen Angeklagten. So beschrieb Rechtsanwalt Benedict 1908, welche Nachteile aus einer fehlenden Verteidigung erwüchsen und sprach dann plötzlich nicht mehr von Angeklagten, sondern von Unschuldigen: »Wie wenig die Anklageschrift und der Eröffnungsbeschluß mit ihren dürftigen, oft formularmäßigen Inhalt im Stande sind, einen Unschuldigen [sic!] aufzuklären, brauche ich in diesem Kreise nicht zu wiederholen.«34

Bei den schuldigen Angeklagten – deren Verteidigung wie dargelegt nicht von allen als legitim betrachtet wurde35 – sorgte man sich hingegen weit weniger um ihre Unkenntnis, als man ihre Kenntnisse fürchtete. In der Dichotomie zwischen dem schutzbedürftigen Unschuldigen und dem gewieften, den Prozess gefährdenden Verbrecher, zeigt sich eine ambivalente Haltung gegenüber der Idee des Rechtsstaates, wenn ein mit Schutzrechten ausgestattetes Verfahren nicht für alle Juristen einen Wert an sich darstellte.36 Wenn aber nur der Unschuldige rechtlichen Beistand verdiente, dann musste der Umgang mit dem Verdächtigen davon abhängen, ob man ihn jeweils für schuldig oder unschuldig hielt. Auf den ersten Blick erscheint der Stellenwert der Unschuldsvermutung im Kaiserreich eindeutig zu sein, hatte sie doch die Grundlage für die Abschaffung 30 Geisel: Klasse, S. 192. Eine Untersuchung zur strafverfahrensrechtlichen Position von Frauen in der Neuzeit fehlt bisher. 31 Mamroth: Strafprozeßordnung, S. 306; von Holtzendorff : Vertheidigung, S. 421; Keller: Strafprozess-Ordnung (1878), S. 147 und 374. 32 War die Frau Opfer einer Beleidigung oder Körperverletzung geworden, konnten beide unabhängig voneinander Privatklage einreichen. Auch hier konnte sich das eigenständige Recht nicht zu Lasten der Ehefrau auswirken. Von Kries, S. 204; Finger, S. 29–31. 33 Entsprechend wurde die Beistandsregelung von der Frauenbewegung nicht als Einschränkung bewertet. Man forderte weniger ihre Abschaffung als ihre Erweiterung: Auch Ehefrauen sollten ihren Männern vor Gericht beistehen können. Jellinek: Petition, S. 78–80. 34 Benedict, S. 8. 35 Vgl. Kap. I.3.2.4. 36 Exemplarisch: Von einem praktischen Juristen, S. 397.

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von Folter und Verdachtsstrafe gebildet.37 Dass im Kaiserreich sogar über eine Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft diskutiert wurde, belegt, dass man von einer signifikant großen Betroffenengruppe ausging. Nicht zuletzt der Widerstand gegen diese Regelung zeigt aber auch, dass diese Ansicht nicht überall Widerhall fand.38 Sowohl bei der Lektüre der Untersuchungsakten gegen Josef Fichtl als auch den späteren gegen Konrad Hörmüller ist man aufgrund der homogenisierten Erzählung schnell von der Schuld des Verdächtigen am Tod von Therese Gast überzeugt. Diese Schuld-Narration der Akte wird dabei als Ausdruck für die Perspektive der Untersuchungsrichter betrachtet: Der häufige Mangel an eigeninitiativer Suche nach entlastenden Beweisen spricht dafür, dass diese ihre Aufgabe oftmals weiterhin eher im Erstellen einer kohärenten, überführenden Ermittlung als in einer ausgewogenen, auch Widersprüche aufzeigenden Fallschilderung sahen.39 Dass in den Voruntersuchungen faktisch keine Pflichtverteidiger berufen wurden, könnte entsprechend als Hinweis gedeutet werden, dass die Untersuchungsrichter in ihren Verdächtigen nicht so häufig beratungsbedürftige Unschuldige sahen. Das berufliche Selbstverständnis der Untersuchungsrichter korrespondierte mit ihrem Blick auf die Verdächtigen. Gerade Praktiker wie Gross und Kulemann sahen sich in einem »Kampf«,40 in dem die »Herrschaft über den Beschuldigten«41 gesichert werden müsse und man es diesem ermöglichen sollte, sich »zu ergeben«.42 Gross wird hier auch aufgrund der Auflagenstärke seiner Bücher erneut als exemplarisch herangezogen: Obwohl er darauf verwies, dass es ebenso befriedigend sei, die Unschuld wie die Schuld einer Person zu beweisen, sah er in dem Verdächtigen in erster Linie einen zu überführenden Schuldigen, den es zu ›beherrschen‹ und zum Geständnis zu bewegen gelte. Dabei gingen bei Gross die Begriffe des ›Beschuldigten‹ beziehungsweise ›Angeklagten‹ einerseits und des ›Schuldigen‹ beziehungsweise ›Täters‹ andererseits durcheinander.43 Die sprachliche Verwechslung bildete keinen Einzelfall und kann daher bei den auf Begriffsgenauigkeit trainierten Juristen kaum als Versehen gewertet werden.44 Dabei erstaunt weniger, dass gerade jene Autoren, die für intensive Vernehmungen plädierten und ein Geständnis weiterhin als erstrebenswert betrachteten, den Beschuldigten und den Täter sprachlich gleichsetzten.45 Insbesondere die Literatur, die sich mit den polizeilichen Vernehmungen beschäftigte, 37 38 39 40

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Henschel: Vernehmung, S. 18 f.; Schmoeckel: Humanität, S. 425–431. Vgl. exemplarisch die Debatte in Gerichtssaal 1883. Vgl. Kap. I.2.1; zeitgenössisch: Kronecker: Reformbedürftigkeit, S. 414. Kulemann: Voruntersuchung, S. 38 f.; so auch: Diethelm, S. 61. Die Kampfesmetapher findet sich auch bei Bähr in der Reichsjustizkommission und früher Köstlin (1849), vgl. dazu Kronecker: Reformbedürftigkeit, S. 414 f. Gross: Handbuch (1894), S. 102. Wulffen: Psychologie, S. 481. Exemplarisch: Gross: Handbuch (1894), S. 101. Henschel: Vernehmung, S. 73 f., beklagt derartige Lapsus in der Gerichtspraxis. Ähnlich Lohsing, S. 139. Gross: Handbuch (1894), S. 101; Kulemann: Voruntersuchung, S. 15; Kronecker: Prozessuales, S. 450; Von einem praktischen Juristen, S. 396 f.; Diethelm, S. 61–63. Haussner, S. 269; Sturm, S. 299.

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lässt eine entsprechende Tendenz erkennen, den »Angeklagten« [sic!] durch ein »energisches und zielgerichtetes Auftreten« im »Angriff« zu »überrumpeln.«46 Für die These einer Schuldvermutung unter Juristen spricht vielmehr, dass auch dezidiert den Angeklagten gegenüber aufgeschlossenen Juristen dieselben für Täter hielten. So vermerkte der Verfechter von besseren Schutzrechten für den Angeklagten von Schwaiger: »denn insbesondere die Bestrebungen des Angeschuldigten werden meist dahin gehen die materielle Wahrheit zu verhehlen, zu verdunkeln oder beschönigen«.47

Von einer auch nur gleichberechtigten Möglichkeit der Unschuld oder gar einer Unschuldsvermutung kann daher nicht gesprochen werden. Nur selten jedoch war die Voreingenommenheit gegenüber Verdächtigen so explizit greifbar.48 Diese ambivalente Haltung gegenüber den Verdächtigen und Angeklagten war verknüpft mit einer anhaltenden Wertschätzung des Geständnisses als zentralem Beweis.

2.2.2 Das Geständnis als Ziel? Die Rolle der Vernehmung hatte sich in den 100 Jahren vor der Reichsstrafprozessordnung radikal gewandelt.49 Durch die Abschaffung der gesetzlichen Beweisregelungen, die Aufwertung der Indizien- und Zeugenbeweise und die Einführung der freien Beweiswürdigung, also die Überantwortung der Beweisbewertung in die Subjektivität der Richter, verlor das Geständnis seine herausgehobene Funktion als »Krone der Beweise«.50 Das ›Verhör‹ des Inquisitionsverfahrens war noch klar darauf abgestellt gewesen, den Verdächtigen zum Geständnis zu bewegen. Ausgiebige Ermahnungen, das Verwickeln in Widersprüche, unbestimmte Haftdauer, Übermüdung, psychologische Erschütterung und listige Fragen galten als reguläre Techniken.51 Rückblickend wurde die Gesetzeslage unmittelbar vor 1879 von den Juristen des Kaiserreichs wie folgt beschrieben: Versprechungen, Drohungen, verfängliche und suggestive Fragen seien verboten gewesen. Zulässig sei es jedoch gewesen, den Verdächtigen zur Angabe der Wahrheit zu ermahnen und auf nachteilige Folgen des Schweigens hinzuweisen. Dazu hatte auch die Belehrung gehört, dass man sich durch das Schweigen verdächtig mache. Schließlich sollten den leugnenden Verdächtigen die Inkongruenzen in der eigenen Darstellung und die Widersprüche zu anderen Aus46 Vgl. Stieber, S. 66. 47 Schwaiger, S. 54, Hervorhebungen d. Vf. 48 Johnson, S. 39 f., betont, man habe eher einen Unschuldigen verurteilt als einen Schuldigen freigelassen. 49 Vgl. grundlegend: Schmoeckel: Humanität; Baldauf, v.a. S. 212 f.; Stichweh, S. 270 f. zu den kompensatorischen Maßnahmen wie der Verdachtsstrafe. 50 Weiß, S. 506. 51 Vgl. die – als liberaler Rückblick vorsichtig zu betrachtende – Darstellung bei Glaser: Lehre vom Beweis, S. 290 f.

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sagen vorgehalten werden. Auch waren sie gegebenenfalls mit den entsprechenden Personen zu konfrontieren.52 In den ›Motiven‹ der Reichsstrafprozessordnung stellte der Gesetzgeber klar, dass das Geständnis nicht mehr das Ziel der Befragung sein sollte. Es sollte den Verdächtigen vielmehr Gelegenheit gegeben werden »zur Beseitigung der gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe und zur Geltungmachung der zu seinen Gunsten sprechenden Thatsachen.«53 Damit war festgelegt, dass das Gespräch auch der Verteidigung des Beschuldigten zu dienen hatte.54 Das Verhör des ausgehenden 19. Jahrhunderts ähnelte somit im Ideal der Zeugenvernehmung: Man erhoffte sich vom potentiellen Täter als Sachverständigen des Geschehens wesentliche Erkenntnisse, auf die man aber nicht angewiesen war.55 Doch auch nach 1879 betonten zahlreiche Juristen, dass sie weiterhin im Geständnis das Ziel einer Vernehmung sähen.56 Unter einem Geständnis wurde jede Aussage eines Beschuldigten verstanden, die sich als belastend herausstelle: »Geständnis in Strafsachen ist jede Aussage, die […] einen strafrechtlich relevanten Nachteil des Aussagenden herbeizuführen geeignet ist.«57

Eine Intention, sich selbst zu belasten, musste nicht vorliegen. Allerdings sah es die Mehrheit in der Literatur als notwendig an, dass der Beschuldigte sich freiwillig und bewusst über den Aspekt geäußert hatte.58 Ein Geständnis galt nicht zwangsläufig als glaubwürdig, sondern musste mit den vorhandenen Beweisen abgeglichen werden.59 Es war nicht ausreichend für eine Verurteilung,60 wurde durch einen Widerruf aber auch nicht ausgelöscht.61 Seit 1900 gewann eine Position, gerade unter Kriminalpsychologen, zunehmend an Boden, die auch jene Äußerungen als Geständnis gelten lassen wollte, die dem Befragten gegen dessen Willen entlockt worden waren.62 Rhetorisch wurde diese Position teilweise hinter dem Einwand versteckt, dass man es dem Verdächtigen zumindest nicht erschweren solle zu gestehen. In diesen Texten erschien 52 Lohsing, S. 50–53; Polzin, S. 81; Glaser: Lehre vom Beweis, S. 291–294, mit Details zu Bayern. 53 So §136 Reichsstrafprozessordnung. 54 Dalcke, S. 92; Henschel: Vernehmung, S. 19 f.; Lucas: Anleitung, Bd. 1, S. 34. Ortloff : Untersuchungsrichter im Strafprocesse, S. 257; Bennecke, S. 386. 55 Die Analogie zum Zeugen bei: Henschel: Vernehmung, S. 37–39; Glaser: Lehre vom Beweis, S. 320 f.; Weingart, S. 9–15; Rupp, S. 120 f., Reichertz/Schneider: Einleitung, S. 11. 56 Haussner, S. 269; so auch Stieber, S. 68; Diethelm, S. 111. Den Vorwurf gegen eine derartige Richterpraxis erhebt Reik, S. 130 f.; ablehnend Lohsing; Schwaiger, S. 59. 57 Lohsing, S. 10. 58 Ebd., S. 63; Näcke; Henschel: Vernehmung, S. 33, Madlung. Vgl. Zur Ideengeschichte Schmoeckel: Humanität, S. 411–425. 59 Lohsing, S. 61 f.; Glaser: Lehre vom Beweis, S. 322–325; Geyer: Beweis, S. 259–265. Vgl. auch: Lück/ Niehaus, S. 144 f. 60 John: Strafprozeßrecht (systematisch), S. 44; Massmann, S. 240. Zurückhaltend: Lohsing, S. 64 f. 61 Glaser: Lehre vom Beweis, S. 355–360; Lohsing, S. 133–138. 62 Grundlegend Niehaus/Schröer, S. 217, und Lück/Niehaus, S. 148–151, die sich jedoch kaum auf den juristischen Diskurs beziehen.

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das Geständnis als kathartische Wohltat. Die Aufgabe des Vernehmenden sei es, dem Verdächtigen zu helfen, sich diese seelische Erleichterung zu verschaffen.63 Er wurde somit in die Rolle des Beichtvaters oder Erziehers projiziert.64 Das Geständnis diene dabei mindestens ebenso dem Verfahren wie dem Gestehenden.65 Gleichzeitig wurde auf eine moralische Verpflichtung des Angeklagten verwiesen, seine Verbrechen zu gestehen,66 wobei vermutlich auf die überholte Denkfigur der Ungehorsamsstrafen rekurriert wurde, nach denen auch Schweigen und Leugnen sanktioniert werden konnten.67 Noch im Kaiserreich waren die Juristen also gespalten, ob das Verhör weiterhin einer Überführung diente oder ob es um eine gegenseitige Information ging. Diese Haltung konnte sich durch die Interpretationsoffenheit der gesetzlichen Vernehmungsvorschriften in der Gerichtspraxis niederschlagen.

2.2.3 Die juristische Varianz des Paragraphen 136 Reichsstrafprozessordnung Die reformierten Gesetze des 19. Jahrhunderts hatten in zahlreichen Paragraphen festgelegt, wie ein Verhör durchzuführen sei, welchem Zweck es dienen sollte und welche Frageformen verboten waren.68 Derartig ausführliche Formulierungen hielt man 1879 nicht mehr für notwendig.69 Über die Vernehmung des Beschuldigten hielt Paragraph 136 der Reichsstrafprozessordnung nur noch fest: »Bei Beginn der ersten Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche strafbare Handlung ihm zur Last gelegt wird. Der Beschuldigte ist zu befragen, ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle. Die Vernehmung soll dem Beschuldigten Gelegenheit zur Beseitigung der gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe und zur Geltendmachung der zu seinen Gunsten sprechenden Thatsachen geben.«

So kurz und scheinbar klar der Paragraph damit formuliert war, so uneindeutig war seine Auslegung. Die nachfolgende kaleidoskopartige Rekonstruktion der Ver63 Exemplarisch: Haussner, S. 274 f.; Niehaus/Schröer, S. 211, und Reichertz/Schneider: Einleitung, S. 12. 64 Exemplarisch für das Bild des beichtenden Sünders vgl. Haussner, S. 269 und 273–276; vgl. auch Reichertz/Schneider: Einleitung, S. 13. Zum Erziehungsdispositiv vgl. Niehaus/Schröer; Reichertz/ Schneider: Sozialgeschichte des Geständnisses. 65 Vgl. exemplarisch bei Haussner, S. 269 und 276–278. 66 Vgl. die summarische Darstellung bei Lohsing, S. 57; Kronecker: Reformbedürftigkeit, S. 418; Henschel: Vernehmung, S. 21–25. 67 Die Ungehorsamsstrafen galten als Surrogat der Folter zur Aussageerzwingung, vgl. dazu Schmoeckel: Humanität, S. 79–83, und Henschel: Vernehmung, S. 53. 68 Bayern: 1813 zehn, 1848 neun Artikel; vgl. Glaser: Lehre vom Beweis, S. 292–294. 69 Von Schwarze: Commentar, S. 272; Schwaiger, S. 59; skeptischer im Ton: Ortloff : Untersuchungsrichter im Strafprocesse, S. 278.

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nehmung illustriert die Macht der Juristen und zeigt das Verhör als asymmetrische Kommunikationssituation. Der Untersuchungsrichter Reiner fragte Josef Fichtl bei der ersten Begegnung zunächst nach seinen Personalien und eröffnete ihm, wessen er beschuldigt wurde.70 Angesichts seines Schweigerechts seit 1879 wurde Fichtl eventuell gefragt, »ob er etwas erwidern wolle«.71 Denn bei den Beratungen zu den Reichsjustizgesetzen hatte man sich gegen eine Pflicht entschieden, den Beschuldigten über die Möglichkeit, zu schweigen, auch dezidiert zu informieren.72 Die Kommentatoren zogen daraus unterschiedliche Schlüsse. Manche betonten, dass das Schweigerecht nur dann materiell gewährleistet sei, wenn Beschuldigte auch darüber informiert würden.73 Die Konsequentesten leiteten eine faktische Plicht zu einer Belehrung ab,74 die von anderen Juristen mit Verweis auf die bewusste Entscheidung des Gesetzgebers – z.T. durchaus bedauernd – bestritten wurde.75 Es war sogar umstritten, ob der Untersuchungsrichter überhaupt berechtigt sei, eine Belehrung vorzunehmen.76 Denn diese könne »vom Beschuldigten mißverstanden werden und ihn leicht veranlassen […], mit jeder Erörterung zurückzuhalten«77 und hätte daher explizit verboten werden müssen.78 Wenige gingen so weit, sogar das Schweigerecht selbst zu kritisieren.79 Die unklare Haltung der Juristen zur Aussageverweigerung wird auch an zwei weiteren Punkten deutlich. Zum einen wurde betont, dass es sich keineswegs um ein subjektives Recht des Beschuldigten handele, zu schweigen. Vielmehr fehle es dem Gericht im modernen Rechtstaat an tauglichen Mitteln, jemanden zu einer Aussage zu zwingen.80 Von konservativer und insbesondere auch nationalistisch-völkischer Seite wurde daher auf eine sittliche Pflicht des Angeschuldigten verwiesen, die Wahrheit zu sagen.81 70 Vgl. Kolisch, S. 314, mit Verweis auf die Motive. Vgl. auch Lucas: Anleitung, Bd. 1, S. 34; Schwaiger, S. 59–64; Madlung. 71 Rieß, S. 415. 72 Vgl. zum Hintergrund: ebd., S. 417–419; Hahn: Materialien, S. 701–704. 73 Kronecker: Reformbedürftigkeit, S. 420; Geyer: Beweis, S. 259–265. Ähnlich: von Holtzendorff : Vernehmung, S. 383. 74 Rosenfeld: Reichs-Strafprozeß (1905), S. 195; Mittermaier: Stellung des Bürgers, S. 20. 75 Dochow, S. 79; ähnlich: John: Strafprozeßrecht (systematisch), S. 33; ders.: Strafprozeßordnung, Bd. 1, S. 934; Kulemann: Voruntersuchung, S. 35; Stenglein: Kommentar (Deutsches Reich), S. 270; Schwaiger, S. 61. 76 Kronecker: Reformbedürftigkeit, S. 420; von Holtzendorff : Vernehmung, S. 383. Ein Belehrungsrecht bejahend: Geyer: Lehrbuch, S. 547; Rosenfeld: Reichs-Strafprozeß (1909), S. 121; Ullmann: Lehrbuch, S. 380. 77 Krah, S. 15. Gegen eine Belehrung: Keller: Strafprozess-Ordnung (1882), S. 156. 78 Löwe/Hellwig, S. 412 f. Spätere Auflagen sprechen nur noch davon, dass eine solche Belehrung nicht »angemessen« sei, vgl. Löwe: Strafprozeßordnung (1914), S. 284. 79 Löwe/Hellwig, S. 421 f., und Von einem praktischen Juristen, S. 396 f. 80 Ebd., S. 396; vgl. Rieß, S. 416–418. Zagolla, S. 120, betont, dass es unklar sei, wie mit dem Verbot der Ungehorsamsstrafen in der Praxis umgegangen worden sei. 81 Kulemann: Voruntersuchung, S. 30–41; Thilo, S. 139; Wulffen: Psychologie, S. 484. Ähnlich Kade: Recht auf Wahrheit, S. 87. Kritisch dazu: Lohsing, S. 57 f.

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Zum anderen hielt es die Mehrzahl der Kommentatoren für statthaft82 und geradezu notwendig83 , den Beschuldigten darauf hinzuweisen, dass sich sein Schweigen nachteilig für ihn auswirken könne.84 Dabei war gesetzlich nicht mehr festgelegt, dass sich ein derartiges Schweigen nachteilig auswirken musste, eine entsprechende Wertung erschien aber vielen – wohl in Anlehnung an traditionelle Beweisregeln – als wahrscheinlich und daher auch eine Frage der Fairness, den Beschuldigten darauf hinzuweisen. Auch wenn es dabei nicht vorrangig um Einschüchterung, sondern um Aufklärung ging,85 bekräftigte dies den Eindruck, dass das Schweigen eben doch verdächtig machte. Dabei schlug sich auch ein zeitgenössisches Ehrverständnis nieder: Der unwahre Vorwurf des Verbrechertums war eine Beleidigung, der öffentlich, ggf. auch juristisch entgegen getreten werden musste.86 Reagierte man auf einen Vorwurf nicht, bestätigte man den Wahrheitsgehalt des Vorwurfs, was als Schuldeingeständnis gewertet werden konnte.87 Konrad Hörmüller etwa hatte nicht darauf reagiert und nicht geklagt, als er in einem Streit durch eine Geste als »Halsabschneider« bezeichnet wurde. Dass eine Logik des impliziten Schuldeingeständnisses neben dem privaten Umfeld auch in der juristischen Praxis griff,88 wird deutlich, als der Untersuchungsrichter Hörmüller ihm dies vorhielt,89 in einem Bericht an das Amtsgericht Memmingen als Anhaltspunkte für die Schuld nannte und nach weiteren Zeugen für entsprechende Vorfälle suchen ließ.90 In der Debatte über das Schweigerecht ist mehr zu sehen als der »etwas augenzwinkernde Versuch, es mit der vollen Anerkennung des Schweigerechts […] doch nicht so ganz […] ernst zu nehmen«.91 Vielmehr handelte es sich um eine von vielen Auseinandersetzungen über die grundsätzliche Stellung des Verdächtigen im Verfahren und die Bedeutung seiner Schutzrechte. Hinweise über Belehrungen zum Schweigerecht finden sich in keinem einzigen Protokoll, was auch an der Protokolltechnik liegen kann. Dass Fichtl aussagte, entsprach offenbar dem üblichen Verhalten92 mag aber auch aus Unkenntnis über das Schweigerecht geschehen sein. 82 Keller: Strafprozess-Ordnung (1882), S. 156; Puchelt, S. 278; Feddersen, S. 57. Ins Ermessen des Untersuchungsrichters stellen dies Ortloff : Untersuchungsrichter im Strafprocesse, S. 278; Mamroth: Strafprozeßordnung, S. 159 f.; Bennecke, S. 387. 83 Von Bomhard/Koller, S. 97. 84 Zur Debatte bei der Kodifikation vgl. exemplarisch: Hahn: Materialien, S. 703. 85 Rupp, S. 122 f.; Lohsing, S. 63. Gerade von den Befürwortern wurde eine Belehrung über mögliche Konsequenzen bis 1964 erfolglos propagiert, Rieß, S. 418. 86 Dies fiel unter § 190 RStGB, vgl. Hertel: Wahrheitsbeweis, v.a. S. 32–46. Als Beweis für die Wahrheit einer Behauptung galt ein Urteil, als Beweis der Unwahrheit jedoch galten lediglich Urteile, die bei Äußerung der vermeintlichen Beleidigung bekannt waren. Vgl. auch Barsch, S. 185–189; Stenglein: Commentar (Bayern), S. 242. 87 Goldberg, S. 73. 88 Sabean: Schwert, S. 173 f.; Hommen, S. 177, 184, 267 Anm. 49. 89 StAA LG Ke - SK: 103/1901, Vernehmung des K.H. am 18.1.1902. 90 Ebd., Bericht des Untersuchungsrichters vom 18.1.1902. 91 Rieß, S. 415 f. 92 In den untersuchten Akten findet sich kein Beispiel einer Aussagenverweigerung.

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Kam es zur Aussage, war der Beschuldigte nicht mehr zur Wahrheit verpflichtet.93 Die ›Motive‹ hatten klar gemacht, dass nicht gefordert werden könne, »daß der Beschuldigte gegen seinen Willen zu seiner Ueberführung beitrage. Dadurch wird auch jeder mittelbare Zwang, welcher die Herbeiführung unfreiwilliger Eröffnungen bezweckt, ausgeschlossen […].«94

Die Reichsstrafprozessordnung schrieb dementsprechend eine Ermahnung zur wahrheitsgemäßen Aussage nicht mehr vor.95 Diese wurde von vielen daher als nicht geboten96 oder statthaft angesehen,97 von anderen jedoch in Übereinstimmung mit dem Reichsgericht für zulässig erklärt98 und mit einer moralischen Pflicht zur Wahrheit begründet, die der Vorliebe für das Geständnis entsprach.99 Entsprechend lässt sich in rund 20 Prozent der hier ausgewerteten über 100 Verhöre noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein der Hinweis finden, dass der Beschuldigte zur Wahrheit ermahnt worden sei.100 Dass es sich sogar um eine von der bayerischen Regierung anerkannte Praxis handelte, lässt sich daran erkennen, dass Protokollformulare eine derartige Ermahnung bereits im Vordruck enthielten.101 Durch die Formelhaftigkeit gerade jener Protokolle, die Gerichtsschreibers Knauer verfasste, ist davon auszugehen, dass die immer gleich lautenden Einleitungsworte »wird gemäß §136 gesetzlich vernommen« mehr darüber aussagen, wie Knauer seine Protokolle anfertigte, als über die konkrete Vernehmungspraxis. Eine über die protokollierten Fälle hinausgehende Anzahl an Ermahnungen kann daher unterstellt werden. Ein fehlender Vermerk ist im konkreten Fall jedenfalls kein Beleg, dass es nicht zu einer Ermahnung gekommen war. 93 So auch: Henschel: Vernehmung, S. 20–25. 94 Hahn: Materialien, S. 138. 95 Vgl. Ortloff : Untersuchungsrichter im Strafprocesse, S. 278; Hahn: Materialien, S. 138 f.; Krah, S. 15; Thilo, S. 140. Sie unterschied sich damit von einigen vorherigen Landesgesetzen, Glaser: Lehre vom Beweis, S. 293 f. 96 Ullmann: Lehrbuch, S. 380. 97 So Löwe/Hellwig, S. 413; Puchelt, S. 278 f.; Geyer: Lehrbuch, S. 547. Von Holtzendorff : Vernehmung, S. 382; von Kries, S. 398; Henschel: Vernehmung, S. 36 f.; Madlung, o.S. Ortloff : Untersuchungsrichter im Strafprocesse, S. 278. 98 Von Schwarze: Commentar, S. 271; Bennecke, S. 386; Schwaiger, S. 59–64; Binding: Wahrheitspflicht, S. 164. Vgl. die summarische Gegenüberstellung bei Kronecker: Reformbedürftigkeit, S. 418. Zum Reichsgericht: Löwe: Strafprozeßordnung (1914), S. 285, und Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern 8 (1907), 173. 99 Hellwig: Urteilsfindung, S. 415; Kade: Recht auf Wahrheit, S. 80 f., mit Verweis auf Ortloff und von Liszt. Anders: Henschel: Vernehmung, S. 20–25. Die Wiedereinführung der seit der Jahrhundertmitte abgeschafften Lügenstrafen fand dennoch kaum Rückhalt; Ausnahme: Kade: Recht auf Wahrheit, S. 81 f. Zur Geschichte der Lügenstrafen vgl. Mauss, insbesondere S. 112, der jedoch der Ansicht ist, dass dieselbe seit 1850 keinerlei Befürworter mehr gehabt habe. 100 Es handelt sich um 23 der 108 Verhöre. Das früheste ist von 1884: StAA LG A - SK: 557/1884, Vernehmung des K.B. am 3.10.1884, das späteste von 1918: StAA LG Ke - SK: 114/1918, Vernehmung des M.K. am 2.6. und 18.6.1918. 101 Auch diese Praxis lässt sich für mindestens zehn Jahre nachweisen: StAA LG A - SG: 103/1895, Verhör am 14.1.1896; dass.: 50/1894, Vernehmung des K.B. am 19.5.1894; StAA LG Ke - SK: 330/1904, Vernehmung des J.M. am 28.6.1904.

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Das Verhör konnte also von Beginn an entweder darauf ausgerichtet sein, von den Befragten eine vollständige und wahrhafte, ihn möglichst der Tat überführende Schilderung der Ereignisse zu erhalten, oder ganz im Sinne des Gesetzgebers in erster Linie dem Informationsaustausch dienen. Welche Richtung es nahm, lag in der Hand der an dem Prozess beteiligten Juristen – und in der Voruntersuchung ausschließlich beim Untersuchungsrichter. Wie beim Ziel zeigten sich die Juristen auch über die Techniken des Verhörs uneins. Ob der Verdächtige zunächst erzählen oder direkt befragt werden sollte, war nicht eindeutig geregelt.102 Die Protokolle zeigen, dass wie bei der Zeugenvernehmung einleitend ein längerer Abschnitt am Stück erzählt worden zu sein scheint, der vielleicht durch kurze Detailfragen unterbrochen wurde.103 Im weiteren Verlauf kam es dann zu jedoch vermehrt zu gezielten Fragen. Da das Verhör auch der Verteidigung diente, waren verfängliche Fragen vom Gesetzgeber als unethisch verworfen worden. Gleiches galt für Versprechungen, Vorspiegelungen, Drohungen. Diese Ablehnung wurde in der Literatur – häufig mit Bezug auf die ›Motive‹104 – weitgehend geteilt.105 Da solche Fragetechniken als unzeitgemäß durch das Gesetz noch nicht einmal mehr explizit verboten waren, waren sie aber nicht ungesetzlich.106 Und so wurde betont, dass »die Gefahren der Suggestivfragen vielfach übertrieben worden« seien, und diese nie komplett verhindert werden könnten und sollten.107 Die Schutzrechte dürften nicht zu »allzu großer Weichlichkeit« beim Verhör führen.108 Einzigartig weit ging dabei sicher die Vorstellung, dass es sogar legitim sei, einen Beschuldigten mit Hunden einzuschüchtern und zum Geständnis zu bewegen.109 Eine zentrale Rolle spielten wie bei den Zeugen der ›Vorhalt‹ widersprechender Aussagen aus den Akten und die persönliche Konfrontation mit Zeugen. Faktisch führten sie zur Information der Beschuldigten über die gegen sie vorliegenden Beweise, zu denen sie dezidiert zu ihrer Entlastung Stellung nehmen sollten.110 Nur wenige Juristen hielten es dementsprechend für statthaft, »dem Beschuldigten nicht alle Verdachtsgründe mitzutheilen […], wenn die Lage der Sache eine solche einstweilige Zurückhaltung bedingt.«111 Auch wenn die Vorhalte zuweilen sum-

102 Vgl. dazu u.a. von Holtzendorff : Vernehmung, S. 383, der dies offen lässt. Geyer: Lehrbuch, S. 548, und Feddersen, S. 57, halten dagegen eine zusammenhängende Erzählung für wünschenswert. 103 Zum Aufbau der Protokolle vgl. Kap. I.2.1.3. 104 Dalcke, S. 92, beschränkt sich vollständig auf das Zitieren der Motive. 105 Henschel: Vernehmung, S. 43–48; Madlung; Löwe/Hellwig, S. 413. 106 So von Schwarze: Commentar, S. 272; Henschel: Vernehmung, S. 35. 107 Von Schwarze: Commentar, S. 271; Diethelm, S. 72–77, verweist dabei auf Schneikert, Mittermaier und Jagemann. 108 Rupp, S. 119. 109 Hellwig, in: Gross’sches Archiv 18, S. 222, zit. nach: Lohsing, S. 58 f. 110 Ortloff : Untersuchungsrichter im Strafprocesse, S. 275; Geyer: Lehrbuch, S. 548; Ullmann: Lehrbuch, S. 386; Henschel: Vernehmung, S. 43–45. 111 Kolisch, S. 314; Keller: Strafprozess-Ordnung (1882), S. 156.

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marisch erfolgten,112 ließen sie doch oft genug erkennen, worauf und auf wen sich der Verdacht stützte: »Auch berufe ich mich hiermit auf das Zeugnis der Gütlerstochter K[…] B[…] und ihre Mutter. Die mir aus dem Verhör des Max H[…] vorgehaltenen Angaben […] beruhen vollständig auf Unwahrheit.«113

Und obwohl die persönliche Gegenüberstellung mit Zeuginnen und Zeugen möglichst erst in der Hauptverhandlung stattfinden sollte, lassen sich für die Voruntersuchung umfangreiche Anleitungen sowie zahlreiche Beispiele finden.114 Mit dem dadurch gewonnenen Wissen ließen sich jedoch nicht nur die spätere Verhandlung vorbereiten, sondern – wie noch zu zeigen sein wird – auch Zeugen und Zeuginnen noch vor der Verhandlung beeinflussen. Die Technik des Vorhalts und der Konfrontation war aber auch ein Mittel zur Erlangung eines Geständnisses: Die Aussage des Zeugen bzw. der Zeugin ermahnte den Beschuldigten, seine bisherige, vom Richter als lügenhaft interpretierte Darstellung zu korrigieren.115 Auch wenn Anwälte forderten, dass Konfrontationen dazu dienen sollten, Widersprüche aufzulösen und nicht dazu, den Angeklagten in selbige zu verwickeln, waren sie dazu doch geeignet.116 Gerade wenn Untersuchungsrichter erkennbar den Verdächtigen für schuldig hielten, lässt sich in den Protokollen eine intensive Form der Befragung beobachten, die weit darüber hinausging, dem Beschuldigten lediglich die Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.117 So zeigen bei einer Raubmordermittlung die in den sechs Verhören immer wieder kehrenden – und für die Historikerin in ihrer Redundanz fast kaum erträglichen – Antworten, dass der Untersuchungsrichter nachhaltig versuchte, ein Geständnis zu erhalten.118 Das Erwirken eines Geständnisses musste jedoch nicht mit drastischen Mitteln verfolgt werden. Gerade dem Untersuchungsrichter wurde zugetraut, eine emotionale Stimmung zu erzeugen, die das Gestehen befördere, weshalb das Geständnis aus der Voruntersuchung als das wertvollste zu betrachten sei.119 Die hier ansatzweise aufgezeigte Varianz einer Beschuldigtenvernehmung war im Ergebnis besonders groß. Das Verhör konnte somit einerseits ein Gespräch sein, 112 StAA LG A - SG: 107/1894, Vernehmung des U.H. am 18.11.1894; StAA LG Ke - SK: 124/1890, Vernehmung des J.F. am 30.12.1890. 113 StAA LG A - SG: 102/1895, Vernehmung des J.S. am 25.8.1895; umfassender: Vernehmung des M.H. am 22.10.1895. Ähnlich: StAA LG Ke - SK: 21/1902, Vernehmung der P.W. am 16.8. und 20.9., sowie des J.W. am 6.11.1902; dass.: 28/1899, Vernehmung des J.V. am 29.5.1899. 114 Exemplarisch: dass.: 32b/1913, Vernehmung des K.K. und der V.H. am 31.3.1913 und Vernehmung des M.K. am 6.6.1913. Vgl. Stieber, S. 68 f.; Ortloff : Untersuchungsrichter im Strafprocesse, S. 278. 115 So Niehaus/Schröer, S. 215 f., für Prozesse zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 116 Henschel: Vernehmung, S. 43–45. 117 StAA LG Ke - SK: 103/1901, Vernehmung der R.W. am 18.1.1902; Deutlich wird die Parteilichkeit auch bei dass.: 124/1890, Vernehmung am 30.12.1890; der Dialog ist teilweise abgedruckt in: Ortmann: Vom ›Motiv‹ zum ›Zweck‹, S. 423. 118 StAA LG Ke - SK: 57/1898, Vernehmungen des J.S. 119 Gross: Handbuch (1894), S. 98. Lohsing, S. 84 ff. Vgl. auch Niehaus/Schröer, S. 219 f.

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das neben den Juristen auch dem Verdächtigen wichtige Informationen und eine entlastende Stellungnahme ermöglichte. Andererseits zeigen Plädoyers für suggestive Fragen, für ein Zurücktreten der Schutzrechte, für intensive Vorhaltungen und Wahrheitsermahnungen, dass der Verdächtige sich einem Verhör ausgesetzt sehen konnte, das in den geltenden Grenzen der Reichsstrafprozessordnung faktisch auf ein Geständnis abzielte. Damit knüpfte ein Teil der Juristen an traditionelle und damals retrospektiv als ›inquisitorisch‹ diffamierte Verhörmethoden an und konnte diese als geltende Rechtslage interpretieren. Dies galt insbesondere für die Voruntersuchung, in der die Rechtsauslegung des Untersuchungsrichters maximal im Nachhinein von anderen Juristen in Frage gestellt werden konnte, soweit die Protokolle sie überhaupt zu erkennen gaben. Mit Hilfe der Kriminologie konnte das Spektrum der anzuwendenden Techniken wissenschaftlich argumentierend darüber hinaus in einer Weise konzeptionell modernisiert werden, die geeignet war, die Position der Verdächtigen noch stärker zu unterminieren. Denn im Rahmen der neuen »Tatbestandsdiagnostik«120 sollten sich Verbrecher mithilfe von Assoziationsexperimenten gegen ihren Willen durch emotionale und verbale Reaktionen verraten, was mit einer veränderten Definition des Geständnisses korrelierte.121 Gerade Kulemann machte deutlich, dass der Angeklagte in keinen Gewissenskonflikt gelange, wenn er gegen seinen Willen dazu gebracht werde, sich zu belasten. Es sei daher nicht zu beanstanden, »wenn der Richter Äußerungen des Angeklagten, die er etwa im Schlafe oder in der Annahme, unbeobachtet zu sein, gemacht hat, gegen ihn benutzt, so wenig ist dies bedenklich bei unüberlegten Äußerungen, die der Richter selbst durch geschickte Fragen hervorruft, oder wenn er ihn in Widersprüche verwickelt«.122

Assoziationsexperimente und unfreiwillige Geständnisse degradierten den Vernommenen zum Untersuchungsobjekt, standen damit im Widerspruch zum Ausbau der Schutzrechte des Beschuldigten und entsprachen der früheren Idee des Verhörs als Ort der Geständniserwirkung. Diese Vernehmungstechniken lösten entsprechend leidenschaftlichen Widerspruch gegen »solche Kunststücke« aus, welche »dem Inquisitionsprozeß wohl anstehen« würden.123 Die Tatbestandsdiagnostik fand in der Praxis kaum Anwendung und wurde erst über die Migration in die USA in Form des Lügendetektors breitenwirksam.124 Interessant ist, dass der diesem Diskurs nahestehende Gross den Untersuchungsrichter mahnte, »immer auf das ängstlichste auf dem Boden des Gesetzes« zu bleiben – was wie beschrieben keine eindeutige Grenze darstellte. Dennoch führt Gross’ Hinweis weiter. Er sah nämlich die Gefahr eines ungesetzlichen Verhaltens 120 Zur Tatbestandsdiagnostik nachfolgend: Schmoeckel: Einfluss der Psychologie, S. 73–75, und Kühne: Anfänge, S. 39 f.; Lück/Niehaus, S. 151–161; Vec: Bühne der Justiz. 121 Zustimmend Oetker: Rezension Wertheimer und Klein, Psychologische Tatbestandsdiagnostik. Zu Gross auch: Lück/Niehaus, S. 154–157. Heilbronner warnte vor der noch zu fehleranfälligen Methode. 122 Kulemann: Voruntersuchung, S. 35. 123 Beling: Strafprozeß [Sammelrezension], S. 798; vgl. auch: Lück/Niehaus, S. 158 f.; Lohsing, S. 122. 124 Lück/Niehaus, S. 157 f., 160.

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keineswegs in einer unangemessenen Situation für den Verdächtigen. Vielmehr verwies er darauf, dass ein solches Verhalten für den Untersuchungsrichter beschämend sei, falls es bekannt würde.125 Auch Henschel erklärte »inquisitorische« Befragungspraktiken für unehrenhaftes Verhalten. Ein schärferes Vorgehen in den Vernehmungen schien also nicht per se verwerflich, sondern nur unvereinbar mit der Berufsehre des Richters zu sein. Dies zeigt sich auch daran, dass die Grenzen für polizeiliche Befragungen weiter gezogen wurden.126 Hier wurde ein Drängen auf das Geständnis z.T. in stärkerem Maße und mit weitgehenderen Mitteln gerechtfertigt als für Juristen.127 Im Hinblick auf diese Handbücher erscheint es daher fraglich, ob die von der Forschung konstatierte harschere Vernehmungspraxis der Polizei tatsächlich ausschließlich auf mangelnde Ausbildung zurückzuführen gewesen ist.128 Auch wenn keiner der Autoren sich positiv auf den Begriff der Folter bezog, soll danach gefragt werden, ob die zeitgenössisch im Extremfall gutgeheißenen Maßnahmen wie das Bedrohen nicht doch retrospektiv als Folter bewertet werden könnten.129 Denn anstatt zu unterstellen, dass es sich bei der Befürwortung von folterähnlichen Methoden im 20. Jahrhundert um eine Wiederentdeckung handelte, liegt es näher, zunächst nach den Kontinuitäten auch im Kaiserreich zu fragen.130 Folter galt im ausgehenden 19. Jahrhundert als eine überwundene Form der Justiz, deren angebliche Relikte man nur noch in Museen mit leichtem Schauder bestaunte.131 Wenn von »heutiger Folter« die Rede war, dann wurde die Assoziation an Streckbänke bewusst gesucht, um etwa die Untersuchungshaft,132 die Modalitäten bei der Vernehmung,133 die eingeschränkte Pressefreiheit134 oder den religiösen Eid135 zu kritisieren. Es erscheint dennoch geboten zu sein, nicht vorschnell in einen teleologischen Fortschrittsoptimismus einzustimmen. Thomas Weitin hat die These stark gemacht, dass die Abschaffung der Tortur zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst geheim gehalten, sie in zentralen Elementen (u.a. Lügenstrafe) zeitweilig beibehalten und dann in psychischen Zwang transformiert worden sei, der schon immer den funk-

125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135

Gross: Handbuch (1894), S. 98. Henschel: Vernehmung, S. 69–72. Weingart, S. 9–15; Stieber, S. 67; Lohsing, S. 84, widerspricht Weingart. So aber Zagolla, S. 121–123, und zeitgenössisch Sprenger, S. 25 f. Dabei ist klar, dass ein Folterdiskurs ohne den Begriff auskommen kann, vgl. für den Nationalsozialismus Möhlenbeck, S. 31. So jüngst bei Weitin: Wahrheit und Gewalt, jedoch ohne Beiträge zum Kaiserreich. Zur heutigen Debatte: Zagolla, S. 196–219; Frick; Weitin: Einleitung. Zur Musealisierung im 19. Jahrhundert vgl. Zagolla, S. 111–119. Quanter, S. 257 f. So bezeichnete Henschel: Vernehmung, S. 53, die Vernehmungsmethoden vieler Untersuchungsrichter als »moralische Tortur«. Vgl. die Empörung bei Von einem praktischen Juristen, S. 397. Giesen, S. 6. Vgl. Kap. I.1.1.1.

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tionalen Kern der Folter gebildet hatte.136 Gleichzeitig war im Kaiserreich das Zufügen physischer Schmerzen durch Beamte zur Erlangung von Geständnissen in der kolonialen Herrschaftspraxis weiterhin akzeptiert.137 Im Deutschen Reich war die Anwendung physischer Gewalt in der Vernehmung durch den Paragraphen 343 des Reichsstrafgesetzbuches verboten.138 Im Gegensatz zu früheren preußischen und Hannoveraner Regelungen hatte man 1879 ein explizites Folterverbot in der Strafprozessordnung jedoch für nicht mehr notwendig erachtet. Schmoeckel betont nun, »daß ohne den grundlegenden Verzicht auf das Geständnis als regina probationum auch nicht vom Ende der Folter gesprochen werden kann.«139 Entsprechend fiele die beschriebene Minderheitenmeinung, dass man die Beschuldigten ›beherrschen‹ und ihren Widerstand ›überwinden‹ müsse, dass man sie überlisten, anlügen, entlarven, einschüchtern, erschüttern oder gar bedrohen dürfe, heute unter einen weiten Folterbegriff140 und bot Anknüpfungspunkte für den zeitgenössischen Vorwurf, dass die – auch von den meisten Juristen nicht beobachtbaren141 – Vernehmungen in der Voruntersuchung einer Methode folgten, die in diffamierender Absicht als inquisitorisch bezeichnet wurde.142 Auch wenn eine quantitative Einschätzung, ob oder wie oft es im Kaiserreich zur Anwendung derartiger Fragetechniken kam, aus dargelegten quellenkritischen Gründen kaum möglich ist, zeigt sich dennoch eine diskursive Präsenz der fraglichen Techniken, die sich als nicht mehrheits- aber salonfähig charakterisieren lässt. Die Befürworter weitgehender Befragungen machten sich die Interpretationsgrenzen der Reichsstrafprozessordnung zunutze und erklärten Techniken für gesetzeskonform, die nicht nur der Gesetzgeber explizit als überholt angesehen hatte. Diese Form der Rückbesinnung war jedoch nur dadurch möglich, dass der Gesetzgeber – fälschlicherweise – unterstellt hatte, dass es einen gesellschaftlichen Konsens darüber gäbe, dass derartige Praktiken unzeitgemäß wären. Das ›variantenreiche‹ Verhör – ein Kapitelfazit Ein Blick auf die praxisbezogene Literatur hat gezeigt, wie verbreitet das Misstrauen unter Juristen gegenüber Verdächtigen war und dass eher von einer Schuld- als 136 Weitin: Einleitung. 137 Diese Definition von Folter ist Möhlenbeck, S. 20 f., entnommen. Vgl. zur Begründung für Folter in den Kolonien Zagolla, S. 123–128. 138 Zum Nachfolgenden ebd., S. 120; Kopp, S. 43 f. 139 Schmoeckel: Humanität, S. 82, jedoch ohne Hinweise zum Kaiserreich. 140 Weite Definitionen betonen neben physischen Schmerzen auch das Brechen des Willens und mentalen Zwang, vgl. Bruha/Steiger, S. 25–32. 141 So bereits Glaser: Lehre vom Beweis, S. 336; Henschel: Vernehmung, S. 51. 142 Am ausführlichsten ebd., S. 50–57; so auch die Einschätzung in der Zusammenfassung Madlung und bei Meyer: Geständnis, S. 56 ff.; Geyer: Lehrbuch, S. 470. Anders Kronecker: Reformbedürftigkeit, S. 448, der dennoch eine entsprechende Praxis beklagt.

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einer Unschuldsvermutung gesprochen werden kann. Hinzu kam, dass die Juristen auch in dieser Frage zwischen zwei Leitbildern schwankten. Einerseits wurden liberale Schutzrechte befürwortet und man sah in dem Verhör ein informatorisches Gespräch. Andererseits wurde als Ziel desselben noch immer das Geständnis angesehen, zu dem der (vermutlich) Schuldige auch moralisch verpflichtet wäre, um das Funktionieren der Justiz nicht zu behindern. Die Vernehmung des Beschuldigten stellte eine ritualisierte Gesprächssituation dar und war durch juristische Logiken dominiert. Anders als in den Prozessordnungen vor 1879 ermöglichte die Interpretationsoffenheit der Reichsstrafprozessordnung in Kombination mit den gewandelten Auslegungstechniken dabei eine breite Variation an Gesprächsverläufen, die alle gesetzeskonform waren. Damit wurden Techniken wieder diskursfähig, die noch 1877/79 vom Gesetzgeber und von einem Teil der Juristen als dezidiert überholt betrachtet worden waren. Paradoxerweise konnten sie gerade dadurch wieder gesetzeskonform werden, dass ein Verbot im Hinblick auf einen vermeintlichen gesellschaftlichen Konsens überflüssig erschienen war. Grundsätzlich wurde der Verdächtige von den Juristen als ein mit eigenen Rechten ausgestatteter Akteur betrachtet, der jedoch nicht über das nötige Wissen verfügte, um sich in angemessener Weise selbst in einem Prozess zu orientieren. Welche Ausgestaltung ein Verhör annahm, lag damit weitgehend in der Hand der einzelnen Juristen und korrespondierte mit ihren sich wandelnden Rollenbildern. Je nach rechtspolitischer Haltung zur Stellung des Beschuldigten konnten sie zu unterschiedlichen Vernehmungszielen neigen. Insbesondere die Untersuchungsrichter, die sich ja kaum mit weiteren Richtern, Staatsanwälten oder Anwälten auf ein Vorgehen einigen mussten, verfügten über eine hohe Machtstellung. Sie machten aus ihren persönlichen Ansichten zum Fall keinen Hehl und versuchten zuweilen, die vermeintlichen Täter vollständig zu überführen. In den meisten Fällen aber legen die Vernehmungsprotokolle der Voruntersuchung den Eindruck nahe, dass die Verdächtigen weitgehend frei ihre Versionen schildern konnten und sich keinen inquisitionsähnlichen Verhören ausgesetzt sahen. Da die Landgerichtsrichter nach ihrer kurzen Dienstzeit als Untersuchungsrichter erneut ihre reguläre Tätigkeit in den Gerichtssälen aufnahmen, können diese Befunde auch als symptomatisch für die nicht protokollierten Vernehmungen in den Hauptverhandlungen angesehen werden. Dennoch befand sich der Verdächtige in einer asymmetrischen Gesprächssituation und wurde selbst im Rahmen der ›materiellen Verteidigung‹ nicht notwendigerweise darüber aufgeklärt, ob er aussagen musste und welche Konsequenzen sein Verhalten haben konnte. Damit war es sogar für Personen, die über juristische Regeln relativ gut Bescheid wussten, kaum möglich, sich vollkommen auf die Gesprächssituation vorzubereiten. Diese blieb durch den Variantenreichtum immer eine Spur unberechenbar. Gleichzeitig war das Verhör auch der Ort, an dem die Verdächtigen durch ihre Aussage versuchen konnten, den Verdacht auf andere zu lenken, die Glaubwürdigkeit von Zeuginnen und Zeugen zu erschüttern oder ihre Version der Geschichte zu 226

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erzählen und dadurch die Ermittlungen oder den Prozess zu beeinflussen. Wesentlich dafür war, dass die ›Laien‹ über ein passendes Wissen über die Logiken der Justiz verfügten.

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3. Die juristischen Kenntnisse der ›Laien‹

Das Alltagswissen über Kriminalität und Justiz speiste sich nicht allein aus Informationsquellen wie Zeitungen oder Beratungsstellen, sondern auch aus dem direkten Kontakt mit justiziellen Handlungen.1 Mit dieser aufklärenden Funktion hatten auch die Juristen die Öffentlichkeit der Prozesse jahrzehntelang begründet. So richtig die von Zeitgenossen und Forschung betonte Diagnose, dass ›Laien‹ vor Gericht strukturell und diskursiv benachteiligt waren, weil die Juristen die Regeln des Sprechens und der Relevanzkriterien festlegten, auch ist, sie verkannte einen Aspekt: Den ›Laien‹ war das Gericht nicht fremd, sie waren mit ihm aus eigener Anschauung vertraut und hatten kein vollständig anderes Verständnis von der Rolle und Funktionsweise der Strafverfahren als die Juristen. Als Anton Scholz 1903 des Meineides verdächtigt wurde, war er bereits dreimal vorbestraft und hatte mindestens zweimal als Zeuge fungiert.2 Auch seine Mutter stand im gleichen Jahr in einer Berufungssache vor Gericht.3 Im Falle der ermordeten Dienstmagd bekam es die Familie des Zeugen Frey, des Schwagers von Anton Fichtl, in den nachfolgenden Jahren wegen eines Nachbarschaftsstreites drei weitere Male mit dem Gericht zu tun und Wilhelm Frey selbst wurde 1898 wegen Körperverletzung verurteilt.4 Andere Akten vermitteln gar den Eindruck, einzelne Personen hätten quasi ständig in Kontakt mit der Justiz gestanden.5 Diese Auflistung weist bereits darauf hin, dass ein beachtlicher Teil der Bevölkerung im Laufe seines Lebens selbst oder durch sein näheres Umfeld mit der Justiz in Berührung kam. So dienten 1886 im Oberlandesgerichtsbezirk Augsburg von 931.658 Einwohnern 150 Männer als Geschworene, womit es sich im gesamten Untersuchungszeitraum 1879–1924 um etwa 6.600 Männer handelte.6 Hinzu kamen allein im Amtsgerichtsbezirk Markt Oberdorf auf die 11.968 Einwohner knapp 500 Schöffen.7 1 2 3 4 5 6

Abele/Stein-Hilbers. Vgl. dazu Kap. II.2 und Kap. II.3.3. Vgl. StAA LG Ke - SK: 35/1903, Vorstrafenregister A.S. sowie dass.: 21/1902. StAA Staatsanwaltschaft am Landgericht Kempten, Nr. 99, Eintrag 1903: Ber. S. 42. StAA LG Ke - SK: 351/1906, Anzeige vom 15.8.1906 und Strafregisterauszug. Vgl. insbesondere das Anzeigeverzeichnis StAA Staatsanwaltschaft am Landgericht Kempten. Pro Sitzungsperiode wurden 30 Geschworene pro Schwurgericht ausgelost. Jährlich fanden zwischen 3 und 5 Sitzungsperioden statt. Anonymus: Ergebnisse der Zivil- und Strafrechtspflege, S. 63, 87. 7 Die Anzahl der Schöffen hing von der zu erwartenden Summe an Sitzungstagen ab. Jeder Schöffe sollte höchstens an fünf Sitzungstagen mitwirken, bei jeder Sitzung mussten aber zwei Schöffen

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Eine größere und sozial heterogene Gruppe lässt sich durch die Namensregister zu den Anzeigeverzeichnissen der Kemptener Staatsanwaltschaft umreißen.8 Demnach wurden zwischen 1885 und 1912 mindestens 23 der gut 200 Einwohner Obs als Beschuldigte durch die Polizei oder das Gericht ins Visier genommen. In Reinhardsried waren es 28 von gut 300 Einwohnern; in Kraftisried 29 von knapp 300 Einwohnern und in Westenried acht von etwa 50 Einwohnern.9 Neben den Verdächtigen und den Opfern waren es auch Zeuginnen und Zeugen, die die Arbeit der Gendarmen und Untersuchungsrichter sowie den Verlauf von Prozessen kennen lernten. Wurden bei der Schöffengerichtsverhandlung gegen Steck in Oberdorf nur maximal fünf Personen vernommen, waren es bei der Berufungsverhandlung 22 und in den anschließenden Meineidsuntersuchungen 42 Zeugen. Im Fall Gast wurden insgesamt über 300 Personen befragt. Die statistisch erfassbare Anzahl von Strafverfahren lässt aufgrund dieser Spannweite noch nicht einmal annäherungsweise einen Rückschluss auf die Anzahl der Zeuginnen und Zeugen zu. Die Justizstatistiken führen diese nicht auf und auch die Unterlagen der bayerischen Justiz- und Finanzverwaltung geben keinen Aufschluss mehr.10 In Anlehnung an eine Auswertung für Halle kann davon ausgegangen werden, dass jährlich knapp drei Prozent aller Einwohnerinnen und Einwohner in Strafprozessen als Zeugin oder Zeuge geladen waren.11 Diese kursorische Auflistung zeigt: Viele wussten aus eigener Anschauung, wie ein Gerichtsprozess aussah und welche Verfahrensschritte und Rollen dazugehörten. Zusätzlich berichtete die ländliche Lokalpresse umfangreich über lokales Gerichtsgeschehen und folgte dabei weitgehend den Logiken der Juristen. Auf dieser Grundlage kann es nicht überraschen, dass in der Bevölkerung auch fachju-

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anwesend sein, vgl. § 43 GVG. Vgl. zur Berechnung: Hauck, S. 69. 1886 fungierten im Landgerichtsbezirk Kempten etwa 145, im Bereich des Amtsgerichtes Oberdorf etwa elf Männer als Schöffen, denn 1886 fanden am AG Oberdorf 27, im Landgerichtsbezirk Kempten insgesamt 361 Sitzungstage statt, vgl. Anonymus: Ergebnisse der Zivil- und Strafrechtspflege, S. 51. StAA Staatsanwaltschaft am Landgericht Kempten. Sie bestehen aus 25 alphabetisch sortierten Bänden und umfassen für 1885–1912 insgesamt 50.237 Einträge. Gemäß HStAM Staatsministerium der Justiz (MJU 5): 6207, Schreiben vom 28.2.1899, Anlage A und B, lag die jährliche Anzeigenanzahl 1896–1898 im Schnitt bei 2357. Zieht man das Jahr 1884, als noch deutlich weniger Anzeigen erstattet wurden, hinzu, waren es im Durchschnitt 2110 jährlich. Es ergibt in der Hochrechnung zwischen 52.700 und 56.500 Anzeigen, von denen also 88–95 Prozent überliefert sind. Da Dörfer wie Westerried, die zur Gesamtgemeinde Kraftisried gehörten, separat ausgewiesen wurden, wird hier die Einwohnerzahl der Dörfer Kraftisried bzw. Reinhardsried zu Grunde gelegt. Alle Angaben zu Einwohnerzahlen entsprechen dem Stand von 1904, Königlich Bayerisches Statistisches Bureau: Ortschaften-Verzeichnis. Personen, die mehrfach angezeigt wurden, zählen als eine. Näheren Aufschluss über die geladenen Zeugen müssten die Rechnungen über die Zeugengebühren geben, die über die Rentämter abgerechnet wurden (Anonymus: Bekanntmachung vom 24.9.1879, S. 1425–1429). Die Unterlagen der Rentämter sind im Staatsarchiv Augsburg und Hauptstaatsarchiv München aber nur lückenhaft überliefert, ohne Detailrechnungen und auch die Kassenbücher der Regierungskammer der Finanzen für Schwaben und Neuburg führen die Ausgaben der Justiz nur summarisch auf. Kloß, S. 670 f.

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ristische Logiken zum Alltagswissen gehörten, die eine grundlegende Orientierung im Verfahren und einen taktischen Umgang mit der Justiz ermöglichten.

3.1 Von Delikten, Strafen und Rechten Insbesondere für den Bereich der Geschlechterrollen ist belegt, dass sich die Bevölkerung anhand von Regeln inszenierte, die sie den Juristen als Bewertungsmaßstäbe unterstellte.12 Nicht wenigen Frauen etwa gelang es, durch männlich-patriarchale Haltung geprägte Richter milde zu stimmen, indem sie sich als hysterisch, schwach oder unwissend inszenierten. Entschuldigungsstrategien, die auf Alltagserfahrungen beruhen mochten aber anschlussfähig an juristische Kriterien waren, finden sich auch in den hier ausgewerteten Quellen. Neben Alkohol13 und Unwissenheit14 wurde insbesondere angeführt, dass jemand vor »Schreck und Aufregung«15 oder Wut »nicht mehr wußte, was er tue«16 , oder sich wegen einer erlittenen Krankheit oder der Aufregung nicht mehr an den genauen Wortlaut eines Disputs erinnern könne.17 Bekannt war auch, dass Meineid kein Kavaliersdelikt darstellte, sondern mit schweren Gefängnisstrafen sanktioniert wurde: Wiederholt wurde dabei eine Strafe von 1,5 Jahren Zuchthaus angeführt – zumeist als Begründung, warum man niemals einen Meineid leisten würde.18 Die Bevölkerung verfügte also über klare Vorstellungen über wichtige Deliktarten und Straflogiken. Natürlich kam es dabei auch zu Überraschungen. Im Zusammenhang mit einem Mord bemerkte die geständige Täterin: »Dass ich eingesperrt werde […], habe ich mir gedacht; dass es aber um meinen Kopf geht, habe ich mir nicht gedacht.« Dabei stellte die Todesstrafe zu diesem Zeitpunkt das einzig mögliche Strafmaß dar, wenn tatsächlich auf Mord erkannt wurde. Es ist daher fraglich, ob der Nachsatz: »Es haben schon viele einen umgebracht und man hat sie dann bloss eingesperrt«,19 eher ein Hinweis auf eine besonders feine Beobachtung der zeitgenössischen Rechtspraxis darstellte, seit 12 Zu Aussagestrategien vor Gericht im 19. Jahrhundert im Folgenden: Harris; Pejala, S. 32–34; Hommen, u.a. S. 126–139, 207. Grundlegend: Ulbricht: Kindsmörderinnen vor Gericht; Gleixner: »Das Mensch«, S. 69–72, 114–117; Ginzburg: Inquisitor, S. 45; Habermas: Kampf; Simon-Muscheid: Täter, Opfer und Komplizinnen; Rublack, v.a. S. 78–82; Eibach: ›Böse Weiber‹, S. 671 f.; Kienitz, S. 228–238. 13 StAA LG A - SG: 74/1895, Gendarmeriebericht vom 31.7.1895; dass.: 11/1884, diverse Verhöre des P.F. 14 »ich weiß gar nicht, was Arsenik ist«, dass.: 44/1890, Hauptverhandlung am 23.9.1890. 15 Dass.: 25/1893, Vernehmung der M.B. am 4.1.1893. 16 StAA LG Ke - SK: 114/1918, Gendarmeriebericht vom 2.6.1918. 17 StAA LG A - SK: 382/1891, Vernehmung der A.W. am 29.5.1891; StAA LG Ke - SK: 192/1900, Vernehmung des X.A. am 18.10.1900. 18 Vgl. dass.: 28/1899, Gendarmeriebericht vom 23.5.1899; dass.: 21/1902, Vernehmung des A.S. am 30.5.1902. 19 Zitate: dass.: 38/1914, Vernehmung der T.M. am 4.4.1914.

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Jahren eher auf Totschlag und eine Gefängnisstrafe zu entscheiden, um so die zunehmend abgelehnte Todesstrafe zu umgehen.20 Während die Deliktdefinition und Strafhöhen seit Jahren im Fokus der medialen Berichterstattung standen, galt dies nur in abgeschwächter Weise für die Regeln des Prozesses selbst. Dennoch verfügte die Bevölkerung nicht nur über klare Vorstellungen über das Geschehen vor Gericht, sondern ihr Wissen entsprach weitgehend den juristischen Logiken. So war offenbar allgemein bekannt, dass die Suche nach Zeuginnen und Zeugen, obwohl sie notwendig war, in einem Grenzbereich lag und juristische Skepsis auf sich ziehen konnte.21 Viele schickten daher Boten, um auf Personen einzuwirken.22 Wollten Zeuginnen und Zeugen ein derartiges Gespräch rechtfertigen, verwiesen sie auf die juristisch geschätzte Wahrheitspflicht. Es hätte niemand beeinflusst werden sollen, sondern man habe den Gesprächspartner nur angehalten, die Wahrheit zu sagen.23 Auch habe man darauf hingewiesen, dass niemand etwas sagen solle, was er nicht sicher wisse.24 Dabei bestünde die Wahrheitspflicht nur gegenüber dem Gericht, nicht aber gegenüber den Gendarmen oder dem persönlichen Umfeld.25 Lüge man diese an, dürfe einem dies nicht negativ angerechnet werden. Diese Unterscheidung stimmte mit der Strafandrohung des Meineides überein, die nur die eidliche Falschaussage bestrafte.26 Die Ansicht, dass man auch unter Eid nicht verpflichtet sei, die ganze Wahrheit zu enthüllen,27 entsprach der Tendenz, darauf zu verweisen, dass man etwas nicht ausgesagt habe, da man es nicht gefragt worden sei.28 Die Wahrheitspflicht erstreckte sich demnach nach allgemeiner Anschauung nicht auf den Umfang, sondern den Inhalt der Aussage. Dabei war klar, dass auch eine Veränderung der Aussage gefährlich werden konnte, jedoch nicht, ob bereits eine Korrektur während der Aussage nachteilig wäre.29 Der Bevölkerung war bewusst, dass die Protokolle eine Scharnierfunktion für die Hauptverhandlung hatten: »was du dem Untersuchungsrichter angegeben hast, ist niedergeschrieben und das mußt du heute auch wieder sagen.«30 Wollte man seine Aussage korrigieren, verwies man entweder auf Erinnerungslücken31 oder gab an, beim ersten Mal die Fragen wegen einer Schwerhörigkeit nicht richtig verstanden zu haben.32 Klassisch war auch der Verweis, dass die Aussage in der 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

Evans, S. 470–477. Exemplarisch: StAA LG A - SG: 51/1895, Vernehmung des B.K. am 7.3.1895. StAA LG Ke - SK: 97/1906, Urteil vom 19.12.1906. StAA LG A - SG: 102/1895, Vernehmung des J.S. am 25.8.1895. StAA LG Ke - SK: 83/1901, Gendarmeriebericht vom 17.7.1901. StAA LG A - SG: 33/1894, Gendarmeriebericht vom 3.6.1894; StAA LG Ke - SK: 72/1905, Gendarmeriebericht vom 10.7.1905. Vgl. Kap. I.1.1.1. StAA LG A - SK: 138/1895, Gendarmeriebericht vom 2.12.1894. Exemplarisch: StAA LG A - SG: 51/1895, Hauptverhandlung vom 26.9.1895. StAA LG Ke - SK: 28/1899, Vernehmung des C.S. am 26.5.1899. Dass.: 83/1901, Vernehmung des J.H. am 23.8.1901 und Gendarmeriebericht vom 17.7.1901. Vgl. Kap. III.1.1.3. Dass.: 97/1906, Urteil vom 19.12.1906.

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Voruntersuchung falsch protokolliert worden sei.33 Der Hinweis auf die eigene Hilflosigkeit34 und der Rekurs auf die Autorität des Richters dienten zur Entschuldigung des eigenen Fehlverhaltens: »allein ich getraute mir, den diktirenden Oberamtsrichter nicht zu stören.«35 Die Gründe, die die Verdächtigen offiziell gegen ihre Verhaftung anführten, zeigen darüber hinaus eine große Spannbreite an Wissen und Vorstellungen. Nur Wenige begnügten sich damit, auf ihre Unschuld oder ihren Freiheitswillen zu verweisen.36 Zumeist wandten sie sich direkt gegen die möglichen Haftgründe und widersprachen einer Fluchtgefahr mit Hinweis auf Haus, Ehe und Dienststelle37 sowie dem Verdacht der Vertuschung durch die Versicherung, mit dem zweiten Verdächtigen nichts mehr zu tun zu haben oder niemanden beeinflussen zu wollen.38 In seltenen Fällen wurde auch eine Kaution angeboten39 und auf das zuständige Gericht verwiesen.40 Häufig gab es auch detailliertes Fachwissen, so etwa im Fall Gast. Als der eingangs erwähnte Wilhelm Frey, der Schwager Anton Fichtls, beschuldigt wurde, seinen Nachbarn durch einen Brief erpressen zu wollen, bestritt er seine Schuld: »Ich glaube nicht, daß man mich einer strafbaren Handlung beschuldigen kann, da mir kein Augenblick zum Bewußtsein gekommen ist, daß ich rechtswidrig gehandelt hätte.«

Frey wies jedoch nicht nur einen Vorsatz zur Tat zurück, sondern minimierte letztlich erfolgreich auch seine Beteiligung: »Es wolle das Verfahren gegen mich eingestellt werden und glaube, daß ich mich auch auf den §§ 59 des RStGB berufen kann, indem ich behaupte, daß mir nicht bekannt war, was mein Sohn schreiben würde.«41

Gezielt beschuldigte man einen Konfliktgegner mehrerer Strafdelikte, um damit eine Klage zu provozieren: »dieses behaupte ich deshalb öffentlich, daß du mich klagen sollst und alle Gäste sollen es bezeugen, was ich hier gesagt habe.«42 ›Laien‹ beherrschten eindeutig die Logik der Beleidigungsklage und auch das Instrument der Widerklage war ihnen vertraut.43

33 Vgl. Kap. I.2.1.1. 34 Auf die Unerfahrenheit verweist auch: StAA LG Ke - SK: 192/1900, Vernehmung des X.A. am 12.6.1900. 35 Dass.: 83/1901, Vernehmung des A.H. am 23.8.1901. 36 StAA LG A - SG: 28/1884, Vernehmung des I.M. am 6.3.1884. 37 Dass.: 41/1888, Vernehmung des X.W. vom 21.3.1888; StAA LG A - SK: 490/1889, Beschwerde am 19.9.1889. 38 StAA LG A - SG: 102/1895, Vernehmung des M.H. und des J.S. am 25.8.1895. 39 Dass.: 107/1894, Vernehmung des U.H. am 15.9.1894. 40 Dass.: 41/1888, Vernehmung des X.W. vom 21.3.1888. 41 StAA LG Ke - SK: 351/1906, Vernehmung des J.F. am 25.8.1906 (Zitat); Stellungnahme des Anwaltes am 28.9. und Beschluss vom 2.1.1906. 42 StAA LG A - SG: 74/1895, Brief vom 20.8.1895. 43 Vgl. auch Goldberg.

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Hier erwies sich das Verfahrensrecht aber als komplex. Denn ein Angeklagter sah in einer Information seiner Chefin die Ursache dafür, dass er angeklagt wurde, jemanden fälschlicherweise einer Straftat bezichtigt zu haben. Da sie die Verursacherin sei, gehöre sie auch auf die Anklagebank. Der fragliche Angeklagte wusste offenkundig, dass ihm das Recht zustand, Zeugen vorladen zu lassen. In seinem Brief an den Staatsanwalt bat er daher – in leichter Verkennung dieses Rechtes –, »die Frau H[…] als Angeklagte vorzuladen.«44 Ihm war insgesamt ein Missverständnis des gültigen Prozessrechtes zum Verhängnis geworden. Wie andere hatte er angenommen, er könne die gerichtliche Untersuchung dadurch stoppen, dass er seine Anzeige zurückzog.45 Doch eine Strafverfolgung lag in der Kompetenz des Staates und war unabhängig vom Willen des Opfers. Andernorts war hingegen bekannt, dass die Möglichkeit zur außergerichtlichen Einigung vertan war, sobald die Angelegenheit gerichtsoffiziell wurde.46 Wodurch jedoch eine Anzeige offiziell erstattet wurde, war selbst Gendarmen nicht immer klar. Während ein Zeuge im Nachhinein angab, dass er einen Dritten zwar habe belasten, aber nicht offiziell anzeigen wollen, sah der Gendarm darin zu Unrecht bereits eine Anzeige.47 Die von ›Laien‹ vorgebrachten Interpretationen der Normen und Logiken konnten ihre Wirksamkeit nicht ganz entfalten, wenn die Juristen sie als unzureichend ansahen. Dennoch zeigt diese Übersicht, dass das juristische Alltagswissen der ländlichen Bevölkerung facettenreich und stark fachjuristisch geprägt war. Es war anschlussfähig an die juristischen Diskurse und bildete eine gute Ausgangsbasis, um sich im Verfahren zu orientieren und die eigenen Interessen zu vertreten. Wie groß die Überschneidungen von Alltags- und Fachwissen im Bereich des Verfahrensrechtes im Detail waren, wird im Folgenden anhand der Glaubwürdigkeitsregeln exemplarisch aufgezeigt.

3.2 Gleiche Kriterien der Glaubwürdigkeit In einem Brief an den Untersuchungsrichter bezichtigte der wegen Meineids angezeigte Gastwirt Matthias Pohl den Zeugen Graus der bewussten Falschaussage. Nach Pohls Ausführungen sei Graus ein »Taugenichts, ein Süffling, arbeitsscheu und ist dadurch so heruntergekommen, daß er aus Noth sein Anwesen veräußern muß.« Schon früher habe er für Geld eine Vaterschaft übernommen. Pohl bekräftigte seinen Vorwurf mit dem Hinweis, dass dem freigesprochenen Hufner eine Verleitung zur Falschaussage zuzutrauen sei, da er eine solche in einem 44 StAA LG A - SK: 138/1895, Brief vom 2.4.1895, Hervorhebung im Original. 45 Vgl. StAA LG Ke - SK: 28/1899, Gendarmeriebericht vom 23.5. und Vernehmung der A.Z. am 26.5.1899; StAA LG A - SG: 51/1895, Vernehmung des B.K. am 7.3.1895; StAA LG A - SK: 170/1890, Gendarmeriebericht vom 10.3.1890; dass.: 138/1895, Gendarmeriebericht vom 2.12.1894. 46 StAA LG Ke - SK: 48/1898, Vernehmung des J.H. am 29.7.1898. 47 Vgl. die Vernehmungen und juristischen Kommentare in dass.: 72/1905, v.a. Gendarmeriebericht vom 10.7.1905.

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früheren Fall abgelegt und auch schon Beihilfe zum betrügerischen Bankrott geleistet habe. Schließlich aber seien beide seine Feinde und hassten ihn.48 An dieser Szene sind bereits typische Elemente abzulesen, die von nichtjuristischen Akteuren explizit oder implizit hinsichtlich der Glaubwürdigkeit von Dritten angeführt wurden: der Charakter bzw. die bisherige Lebensführung, der aktuelle Umgang mit der Aussage, mögliche Motive für eine Falschaussage und Inkonsistenzen in der Aussage. Diese vier Elemente decken sich mit den Maßstäben von Juristen und Gendarmen. Gerade die Gendarmen machten in ihren Berichten und Anzeigen keinen Hehl daraus, welche Darstellung sie für glaubwürdig hielten und wem sie nicht vertrauten.49 Und auch Richter, Staatsanwälte und Untersuchungsrichter ließen ihre Kriterien in Berichten und Befragungen erkennbar werden. Unterschiede zwischen ›Laien‹ und Berufsjuristen treten vorrangig im Grade der Abstraktion zutage, denn naturgemäß sind nur von den Juristen theoretische Abhandlungen darüber überliefert, wie eine Glaubwürdigkeitsprüfung durchgeführt werden könne.50 Charakter und Lebensführung dienten als erstes Kriterium der Glaubwürdigkeit. Um eine Person unglaubwürdig erscheinen zu lassen, bezeichneten die Zeitgenossen ihre Gegenspieler als »lügenhaft«, »boshaft« oder »geschwätzig«.51 Auch ›Streitsucht‹ war als Vorwurf geeignet, jemanden in schlechtes Licht zu setzen.52 Ganz wesentlich für die Beurteilung des Charakters war das Arbeitsverhalten. Dabei hing die Glaubwürdigkeit nicht von der Art des Berufes, sondern davon ab, ob man eine Tätigkeit ordentlich und ehrenwert ausübte. Entsprechend wurde der Hinweis des früheren Chefs, dass er ein »ordentliche[r] reelle[r] Bursche[…]« sei, durch den Nebensatz ergänzt, dass er vollkommen glaubwürdig sei, denn er sei »in ernsten Dingen sehr gewissenhaft«.53 Und auch der gegnerische Zeuge erschien als »recht fleißiger und tüchtiger Arbeiter, der bei seiner Dienstherrschaft sehr viel gilt und auch sehr zuverläßig ist, er ist auch sparsam.«54 Ganz anders sah dies hingegen aus, wenn der Zeuge als »leichtsinnig« beschrieben und dies dadurch illustriert wurde, dass derselbe bereits in mehreren Berufen gearbeitet habe, aber »nirgends hat er gut gethan«.55 Der hier beobachtbare Arbeitsethos hing mit der zeitgenössischen Sozialstruktur zusammen. Nicht nur das städtische Bürgertum hatte Fleiß und Strebsamkeit zum Maßstab erhoben. Im ländlichen Raum bildeten Berufe und Arbeitstätigkeit die Grundlage für die Sozialhierarchie und die lokale 48 StAA LG A - SG: 74/1895, Briefe des M.P. vom 6.8. und 20.8.1895. 49 Vgl. etwa StAA LG Ke - SK: 81/1902, Gendarmeriebericht vom 4.8.1902, demzufolge die vorangehende Anzeige unlogisch gewesen sei. 50 Vgl. Kap. III.1.2. 51 Vgl. dass.: 21/1902, Vernehmung des M.G. am 16.8., des A.L. am 8.7.1902; dass.: 35/1903, Vernehmung des J.E. am 23.7.1903; StAA LG A - SK: 170/1890, Vernehmung der K.M. am 20.3.1890; StAA LG Ke - SK: 103/1901, Vernehmung des E.W. am 12.2.1902. 52 StAA LG A - SG: 33/1894, Gendarmeriebericht vom 31.1.1894, wobei der Gendarm gleichzeitig Streitpartei ist. Dass.: 102/1895, Vernehmung des S.K. am 4.9.1895. 53 StAA LG Ke - SK: 83/1901, Vernehmung des J.H. am 23.8.1901. 54 Ebd., Vernehmung der C.S. am 23.8.1901. Vgl. auch ebd., Vernehmung des J.O. am 23.8.1901. 55 StAA LG A - SG: 33/1894, Gendarmeriebericht vom 31.1.1894.

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Stabilität. Gleichzeitig fiel jede Person, die nicht arbeitete und ohne Vermögen war, schnell ihrer Heimatgemeinde finanziell zur Last.56 Mit Müßiggang oder gar selbst verschuldeter Arbeitslosigkeit verspielte man in diesem Zusammenhang alle sozialen Sympathien und senkte die eigene Glaubwürdigkeit. Die Gendarmen verwiesen in ihren persönlichen Einschätzungen der Beteiligten ebenfalls auf deren Charaktereigenschaften und stützten sich dabei auf ihre eigene Erfahrung, das lokale Gerede oder eigens angestellte Recherchen.57 Zumeist wurde von den Juristen im Laufe der Untersuchung ein formales Leumundszeugnis bei den Gemeinderäten eingeholt, das Aufschluss über die finanzielle Situation, den Familienstand und Fragen der sittlichen Lebensführung gab.58 Zwar durften Leumundszeugnisse nicht mehr in den Gerichtsverfahren verlesen werden, sie dienten aber »zur Information der mit der Strafverfolgung befaßten Organe und als Anhaltspunkt für etwaige weitere Erhebungen«.59 Die Befragung des Arbeitgebers erhellte auch für die Juristen das allgemeine Arbeitsverhalten,60 und fand bis hinein ins Urteil Berücksichtigung.61 Dies korrespondierte überdies mit einer im Ländlichen noch verbreiteten Vorstellung des »ganzen Hauses«, in dem der Dienstherr als Autoritäts- und Erziehungsperson fungierte und es daher etwa als seine Aufgabe ansah, seine Mitarbeiter zu wahrheitsgemäßen Zeugenaussagen zu ermahnen.62 Wenn es darum ging, einen Dritten in den Augen der Justiz unglaubwürdig erscheinen zu lassen, wurde auch früheres moralisches oder rechtliches Fehlverhalten angeführt.63 Ob sich darin ein örtliches Wertesystem ausdrückte oder ob erwartet wurde, dass gerade die Juristen in einer Vorstrafe ein klares Indiz erblicken würden, ist eine offene Frage. Wichtig ist hier, dass es zum Alltagswissen gehörte, dass Vorstrafen ein Kriterium sein konnten. Allerdings wurde dieses Wissen etwa vom Diebstahlsopfer Michael Fleschutz erst in einer höheren Eskalationsstufe eines Konfliktes verwendet.64 Verdächtig erschien es – jedoch äußerst selten –, wenn jemand bereits in anderen Verfahren ausgesagt hatte.65 Hier wurde offenbar unterstellt, dass von einer 56 Troßbach/Zimmermann, S. 187–192. 57 Erfahrung: StAA LG Ke - SK: 83/1901, Vernehmung des J.O. am 3.9.1901; Recherchen: ebd., Vernehmung des J.O. am 3.9.1901; zum Gerede vgl. Kap. III.4.2. 58 Vgl. die Zeugnisse in dass.: 93/1904; dass.: 103/1901. Vgl. auch die Vorschriften bei Bretzfeld: Behandlung, S. 119. 59 Ebd., S. 118. 60 StAA LG Ke - SK: 83/1901, Vernehmung des J.H. am 23.8.1901; auch der befragte Gendarm bezog sich auf die Arbeitgeber, vgl. ebd., Vernehmung des J.O. am 23.8.1901. 61 Ebd., Urteilsgründe vom 28.12.1901. 62 Dass.: 192/1900, Vernehmung des X.A. am 12.6. und des F.W. am 18.10.1900; dass.: 83/1901, Vernehmung des E.W. am 23.8.1901; dass.: 21/1902, Vernehmung des F.M. am 25.6.1902. 63 Dass.: 48/1898, Vernehmung des J.G. am 29.7.1898. 64 Michael Fleschutz brachte erst bei seiner dritten Vernehmung im zweiten Meineidsfall entsprechende Vorwürfe an, als er sich über einen ihm vorgezeigten Brief Fidel Stecks aufregte, dass.: 21/1902, Vernehmung des M.F. am 4.10.1902. 65 StAA LG A - SG: 33/1894, Gendarmeriebericht vom 22.2. und Vernehmung des J.S. am 28.2.1894; StAA LG Ke - SK: 48/1898, Vernehmung des J.H., des J.G. am 29.7.1898.

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Neigung zur Lüge, wenn nicht gar von einer Gefälligkeitsaussage auszugehen sei. Umgekehrt diente der Hinweis, dass man sich »noch nie in eine Gerichtssache verwickelt befand und auch in keiner Weise eine ungerechte Handlung zu Schulden kommen ließ«, zur Stärkung der eigenen Glaubwürdigkeit.66 Erfahrungen mit der Justiz waren auch Gendarmen und Juristen suspekt, etwa wenn Beteiligte angeblich von einem mehrfach, auch schon wegen Meineides Vorbestraften beraten wurden.67 Die Vorstrafen einer Zeugin machten diese für die Polizei aber nicht per se unglaubwürdig.68 Neben dem allgemeinen Charakterbild wurde die logische Stringenz und Widerspruchsfreiheit der Aussagen als zweites Merkmal von Glaubwürdigkeit angeführt. So machte es im Fall der gestohlenen Deicheln viele Zeugen und Zeuginnen stutzig, dass Anton Schmidt seine Aussage im Verlauf der Ermittlungen korrigierte und plötzlich den Steck beim Diebstahl ent- statt belastete.69 Die Freiwilligkeit und die Häufigkeit, mit der er anderen gegenüber zunächst von zwei Deicheln gesprochen hatte, sprachen für sein Umfeld dafür, dass er damals die Wahrheit gesagt hatte.70 Folglich musste es sich bei den späteren, abweichenden Aussagen um Lügen handeln. Die frühere Aussage galt als die maßgebliche. Gespräche, die Versuche des ›offensiven Schweigens‹ waren, um sich aus dem Konflikt herauszuhalten,71 konnten sich als Bumerang erweisen. Eine spätere Aussage erschien dann als eindeutig erlogen.72 Plötzlich als neue Zeugin benannt zu werden, galt als höchst auffällig.73 Auch Gendarmen wie Juristen schenkten jenen Aussagen mehr Glauben, die frühzeitig Dritten gegenüber mitgeteilt worden waren.74 Plötzlich auftauchende Aussagen sowie veränderte Informationen stießen hingegen auf Skepsis.75 Für die Ermittlungen im Mordfall Gast waren für die Frage des Tatzeitpunktes die Aussagen von Sophie Masch und der 10-jährigen Anna Enslinger zentral, die unabhängig voneinander Gast noch am Sonntag bzw. Montag im Hause der Familie Winkler gesehen haben wollten. Da ihre Aussage erst Wochen später zu Protokoll genommen wurde, stützte es ihre Glaubwürdigkeit, dass Sophie Masch ihre Wahr66 67 68 69 70

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StAA LG A - SG: 102/1895, Brief des J.H. am 29.7.1895. StAA LG Ke - SK: 28/1899, Gendarmeriebericht vom 23.5.1899. Dass.: 114/1918, Vernehmung der M.K. 6.6.1918. Statt vieler dass.: 21/1902, Vernehmung des J.C. am 10.6.1902. Als Erklärung für die neue, angeblich falsche Aussage von Schmidt galt, dass er mit Prügel bedroht worden wäre. Der hier implizierte Druck bildete das komplementäre Gegenstück zur Freiwilligkeit, die als Maßstab für eine wahre Aussage galt. Vgl. Kap. III.1.1.3. Dass.: 21/1902, Vernehmung der B.H. am 30.5. und des J.K. am 10.6.1902. Philomena Wespe entgegnete dem Vorwurf mit der korrespondierenden Entlastung, sie hätte bereits am Tag der ersten Verhandlung zu Frau Hauber gesagt, dass sie etwas über den Fall wisse und auch mitteilen könnte. Ebd., Vernehmung der P.S. am 16.8.1902. Ebd., Aussage der C.K. am 17.6.1902; dass.: 35/1903, Vernehmung der C.K. am 29.5.1903. Dass.: 93/1904, Gendarmeriebericht vom 23.9.1904, sowie dass.: 83/1901, Urteilsgründe vom 28.12.1901. Vgl. u.a. Kap. III.1.2. StAA LG A - SG: 33/1894, Reaktion des Richters in Vernehmung des J.B. am 19.2.1894; dass.: 74/1895, Vernehmung des M.P. am 13.8.1895.

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nehmung bereits frühzeitig anderen mitgeteilt hatte. Entsprechend beglaubigten die Aussagen ihrer Tochter Brigitta, ihres Mannes Georg und von Josef Enß Sophie Maschs Schilderungen. Auch die Tatsache, dass sie am fraglichen Tage überhaupt im Hause der Winklers gewesen war, wurde durch zusätzliche Zeugen bestätigt, bestritten Winklers und Hörmüllers dies doch.76 Das Protokoll vermerkte, dass und gegebenenfalls wann der Zeuge oder die Zeugin diese Äußerungen einer dritten Person gegenüber getätigt hatte.77 Dass Johann Wieser bestritt, Sophie Masch habe ihm am 10. berichtet, am Tag zuvor Therese Gast bei Rosalie Winkler gesehen zu haben, untergrub ihre Darstellung hingegen.78 Bestätigten oder stützten also weitere Personen die eigenen Schilderungen, erhöhte dies die eigene Glaubwürdigkeit. Auffällig ist nun, dass sich in den Protokollen ausschließlich bei Frauen und Kindern eine spezielle Form dieser Prüfung nachweisen lässt. Bei erwachsenen Männern reichte es zum Teil aus, wenn der Zeuge selbst angab, dass er Dritten von seiner Wahrnehmung erzählt habe.79 Wurden die Gewährsleute dann befragt – was eben durchaus nicht immer erfolgte –, beschränkte man sich auf die erwähnte Protokollierung, dass die Aussage bereits früher gemacht worden war.80 Ein Abgleich des Inhaltes ließ sich für einen männlichen Zeugen in keinem der Fälle nachweisen. Die Eltern, Ehemänner oder Söhne wurden hingegen durchaus über die genauen Wortlaute der früheren Schilderungen ihrer weiblichen Verwandten befragt. Dabei stand die Zuverlässigkeit der Aussage im Mittelpunkt und nicht mehr nur, ob es sich dabei um eine neue oder zeitnah entstandene Schilderung handelte. Im Falle von Georg Masch vermerkte das Protokoll daher detailliert, was seine Frau genau über ihre Begegnung mit der ermordeten Gast erzählt hatte.81 Die Mutter von Anna Enslinger wurde angehalten, genau zu berichten, wie ihre Tochter die Frau beschrieben hatte, die sie am fraglichen Tag im Hause Winkler gesehen haben wollte.82 Und bei der Vernehmung des Josef Blum, Sohn einer für die Frage des Tatortes zentralen Zeugin, vermerkte das Protokoll explizit: »Zeuge bekundet dann diese ihm von seiner Mutter erzählte Wahrnehmung im Wesentlichen genau so wie diese oben selbst bekundete«.

Dass Blum eine Form des Leumundszeugnisses für seine aussagende Mutter abgab, wird auch am letzten Satz deutlich, wenn es aus seinem Munde heißt, dass an

76 StAA LG Ke - SK: 42/1891, Vernehmung des J.E. am 23.4.1891; dass.: 103/1901, Vernehmung des G.M. am 3.12., der B.H. am 10.12.; Gendarmeriebericht vom 23.12.1901. 77 Ebd., Vernehmung am 18.1.1902; dass.: 83/1901, Urteil vom 28.12.1901; dass.: 28/1899, Vernehmung U.Z. und J.S. am 12.5.1899. 78 Dass.: 42/1891, Vernehmung des J.W. am 24.4.1891. 79 Dass.: 103/1901, Vernehmung am 20.12.1901. 80 Exemplarisch: dass.: 83/1901, Urteil vom 28.12.1901. 81 Dass.: 42/1891, Vernehmung des G.M. am 8.5.1891; Vgl. auch die erneute Befragung dass.: 103/1901, Vernehmung des G.M. am 3.12.1902. 82 Dass.: 42/1891, Vernehmung der A.E. am 8.5.1891; dass.: 103/1901, Vernehmung der A.E. am 30.4.1902.

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der Wahrheit ihrer Aussage absolut nicht zu zweifeln sei.83 Diese Technik der ›indirekten Bestätigung‹, wie dies hier genannt werden soll, erinnert an die früheren Eidhelfer, welche durch ihr Leumundszeugnis eine Aussage glaubwürdiger machen konnten. Hier zeigte sich eine Skepsis gegenüber Frauen und Kindern, die im Einklang mit den zeitgenössischen Geschlechterstereotypen und dem veränderten Fachdiskurs sowie einer traditionellen Skepsis gegenüber minderjährigen Zeugen stand.84 Denn es handelte sich hierbei um eine zielgerichtete Überprüfung. Erstens hatte der Untersuchungsrichter zuvor bei Herrn Masch durch den Gendarmen ermitteln lassen, »was ihm seine Frau von ihrem Gange zu W[inkler] u[nd] der Ausrichtung seines Auftrages erzählte«85 . Zweitens fand sich das Vorgehen sowohl während der Untersuchungen 1890 als auch 1902 sowie in weiteren Fällen.86 Es ist damit unabhängig von der recherchierenden Person und verweist auf eine zeitgenössisch übliche Praxis.87 Um wirklich überzeugend zu sein, mussten die Aussagen aber auch logisch und in sich widerspruchsfrei sein. In beiden Fallbeispielen wurde einzelnen Personen von ihrer Umgebung vorgeworfen, dass sie das von ihnen Bezeugte gar nicht hätten wahrnehmen können. Leonhard Bittel und Jakob Wespe wurde von den durch sie belasteten Personen vorgehalten, schlecht zu hören und daher die infrage stehenden Gespräche gar nicht hinreichend mitbekommen haben zu können.88 Insbesondere Bittel zeigte sich über den Vorwurf empört, der ja eine Lüge implizierte. Auch der Gendarm Drexel stellte umgehend klar, dass Leonhard Bittel »nicht schlecht sondern gut hört«.89 Michael Seidel musste sich gegen den Vorwurf wehren, er hätte gar nicht hören können, ob irgendwo eine quietschende Schubkarre in seiner Nähe gewesen war, mit der angeblich die tote Therese Gast transportiert worden war. Dass er ein unzuverlässiger Zeuge sei, hätte sich bereits in einem früheren Verfahren gezeigt. Jedoch entgegnete Seidl, dass er damals wegen seines mangelnden Sehvermögens sich geirrt habe, dass sein Gehör aber vollkommen in Ordnung sei.90 Jakob Wespe wiederum argumentierte, die Aussage Maria Hengers, sie habe

83 StAA LG Ke - SK: 103/1901, Vernehmung des J.B. am 3.3.1902. 84 Vgl. Kap. III.1.2.2. Die Forschung hat nachgewiesen, dass die Juristen sich insbesondere in Sittlichkeitsverfahren beeinflussen ließen und Frauen und Kindern weniger Glauben als den erwachsenen Männern schenkten, vgl. dazu: Lamott; Hommen. Schmoeckel: Einfluss der Psychologie, S. 82–85, hingegen meint, es sei der Aussagepsychologie »fast gar nicht [gelungen], die juristische Praxis zu beeinflussen.« 85 StAA LG Ke - SK: 42/1891, Schreiben des Untersuchungsrichters am 25.4.1891. 86 Vgl. dass.: 103/1901, Vernehmung des Ehepaars W. am 24.3.1902; Dass.: 21/1902, Vernehmung von M.K. und M.G. am 16.8.1902 und der V.S. am 4.10.1902; dass.: 124/1890, Vernehmung der C.B. am 29.12.1890. 87 Es handelte sich um die Landgerichtsrichter Karl, Hantmann und Reiner. 88 Dass.: 21/1902, Vernehmung der M.H. am 23.10., des A.S. am 6.11.1902. 89 Ebd., Vernehmung des O.D. und L.B. am 6.11.1902. 90 Dass.: 103/1901, Vernehmung des M.S., des G.M. am 30.4.1902.

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ein Gespräch der Wespes belauscht, in dem diese die Falschaussage abgesprochen hätten, sei in sich widersprüchlich.91 Die bereits geschilderten Vernehmungstechniken des Vorhaltes aus früheren und anderen Aussagen sowie die Konfrontation verweisen darauf, dass natürlich auch für Juristen die Widerspruchsfreiheit ein wesentliches Kriterium darstellte.92 Glaubwürdig wurde eine Aussage dadurch, dass sie »in wesentlichen Punkten von anderen Zeugen unterstützt wird.«93 Die Glaubwürdigkeit von Aussagen geriet jedoch auch ins Wanken, wenn den Juristen die Darstellungen der ›Laien‹ unlogisch erschienen. Die Unglaubwürdigkeit der Aussage beruhte dann darauf, dass der Zeuge, die Zeugin oder die Beklagten in der beschriebenen Situation nach Ansicht des Juristen einen anderen Schluss aus den eigenen Beobachtungen hätten ziehen müssen. So stellte die Anklageschrift in einem Meineidsfall fest, dass der Angeklagten bereits während des Wortwechsels klar gewesen sein müsse, eine beleidigende Äußerung zu machen. Spätestens in der gerichtlichen Vernehmung im Beleidigungsverfahren hätte sie aber zu dieser Erkenntnis kommen müssen.94 In einem anderen Urteil heißt es, die Schuld des Angeklagten sei auch dadurch belegt, dass seine infrage stehenden Äußerungen gegenüber der Belastungszeugin im Falle seiner Unschuld »sicher etwas anders gelautet« hätten, als sie es getan hatten. Es erschien den Richtern unlogisch, dass ein Unschuldiger sich so verhalten würde.95 Und dass das Ausgeben einer Sülze als Versuch empfunden worden war, eine Aussage zu beeinflussen, erklärte der Richter mit dem Hinweis für absurd, »daß eine Sülze um 20 d und für 2 Mann doch ein recht ärmliches Geschenk für eine falsche Aussage sei«.96 Eine Aussage musste also nicht nur von einer zuverlässigen Person stammen, sie musste auch in sich und über einen langen Zeitraum konstant bleiben und in den jeweiligen Kontexten plausibel sein. Auch ein auffallendes Verhalten konnte – als drittes Kriterium – bei ›Laien‹ wie Juristen Anlass zur Skepsis bieten. So galt ›Laien‹ eine gedrückte Stimmung als Ausdruck eines schlechten Gewissens beziehungsweise als Zeichen der Verzweiflung über die komplizierte Situation, in die man geraten war.97 Schmidt sah sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, er sei aus Angst vor einer Verhaftung wegen Meineids schreckhaft und ängstlich gewesen.98 Dass eine Zeugin bereits bei ihrer Vereidigung aufgeregt war und die Gesichtsfarbe wechselte, sah auch der Amtsanwalt als Indiz, dass sie sich auf eine falsche Aussage einzulassen

91 Dass.: 21/1902, Vernehmung des J.W. am 6.11.1902. 92 Vgl. die Anmerkungen bei dass.: 48/1898, Vernehmung des J.H. am 4.5.1898. 93 Dass.: 83/1901, Urteilsgründe vom 28.12.1901; ähnlich: dass.: 97/1906, Urteilsgründe vom 5.1.1907. 94 StAA LG A - SG: 25/1893, Anklageschrift vom 10.2.1893. 95 StAA LG Ke - SK: 83/1901, Urteilsgründe vom 28.12.1901. 96 StAA LG A - SG: 33/1894, Vernehmung des J.B. am 19.2.1894. 97 Dass.: 102/1895, Vernehmung der A.B. am 4.9.1895. 98 Vgl. Kap. I.1.1.2.

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bereit sei.99 Er bediente sich hierbei einer jahrhundertealten Vorstellung, dass das Erröten ein Zeichen der Scham und des schlechten Gewissens sei.100 Und entgegen der Verfahrensvorschriften vermerkten einzelne Juristen, welchen Eindruck Personen auf sie machten.101 Klang eine Aussage auswendig gelernt, dann sorgte dies für Misstrauen;102 Juristen führten etwa an, dass der Zeuge bei seiner Antwort verlegen geworden sei.103 Über Rosalie Winkler, die Schwester des Mordverdächtigen Hörmüller, vermerkte Untersuchungsrichter Karl: »Als nebige Fragen an die Zeugin, die auch sonst einen äußerst schlechten Eindruck machte, gerichtet wurden, lächelte sie wiederholt höhnisch. Hierüber zu Rede gestellt leugnete sie sofort frech solches Lächeln wieder ab. […] Sie machte auch sonst ganz den Eindruck einer schuldbewußten Person, es stand ihr der Angstschweiß auf der Stirn u setzte sie sich – ohne zu fragen – anscheinend ganz gebrochen auf einen Stuhl nieder.«104

Bei ihrer nächsten Vernehmung muss sie das Schwitzen denn auch als »eigenthümlichen Verhalten« erklären.105 Die Richter forderten sogar andere Kollegen auf, derartige Beschreibungen anzufertigen, wenn sie nicht selbst die Vernehmung durchführen konnten.106 Dass das Verhalten und die Gesten weiterhin als Kriterien für die Glaubwürdigkeit betrachtet wurden, stand darüber hinaus im Einklang mit den einschlägigen praxisbezogenen Handbüchern dieser Zeit, schrieb doch etwa Hanns Gross, man könne durch Beobachten des Aussagenden erkennen, ob dieser die Wahrheit sage.107 Schließlich ähnelten sich auch die Motive, die Juristen, Gendarmen und ›Laien‹ bei einer möglichen Falschaussage als viertes Kriterium der Glaubwürdigkeit unterstellten. Neben Furcht vor Schlägen oder einer Meineidsklage,108 persönlicher Rache oder Feindschaft109 galten gute Beziehungen zu einer der Konfliktparteien als zentral. Wiederholt wurde darauf verwiesen: »die S[tecks] und die S[chmidt]schen verkehrten viel miteinander […]. Auch die H[enger]s verkehren viel mit S[tecks] und helfen diese sowie K[neipp] und die Sch[midt]schen jedenfalls mit den S[teck]schen zusammen; ich glaube dem Zeugnisse dieser Leute nichts.«110 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108

StAA LG A - SG: 51/1895, Vernehmung des T.W. am 29.4.1895. Niehaus: Verhör, S. 247. Vgl. auch Kap. I.2.1 und Kap. I.3.2.3. StAA LG A - SG: 33/1894, Anmerkung bei Vernehmung der K.S., des J.S. am 28.2.1894. StAA LG Ke - SK: 35/1903, Vernehmung des A.S. am 9.6.1903. Dass.: 103/1901, Vernehmung der R.W. am 7.1.1902. Ebd., Vernehmung der R.W. am 18.1.1902. Dass.: 21/1902, Schreiben vom 22.11.1902. Gross: Handbuch (1894), S. 102–107. StAA LG A - SG: 33/1894, Vernehmung des J.B. am 19.2.1894. Zur Furcht vor dem »meineidig machen«, vgl. Kap. III.4.2.2. 109 Vgl. die Aussage des M.P. in: dass.: 74/1895, Gendarmerieanzeige vom 31.7.1895; StAA LG Ke - SK: 83/1901, Vernehmung des J.H. 23.8.1901; StAA LG A - SG: 33/1894, Gendarmeriebericht vom 31.1.1894; StAA LG Ke - SK: 71/1905, Vernehmung des J.P. 30.8.1905; ebd., Vernehmung des J.P. am 25.5.1905. 110 Exemplarisch: dass.: 21/1902, Vernehmung des S.K. am 29.11.1902.

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Oder es hieß, dass »alle Käser zusammenhalten«111 oder Zeuginnen nach ihrer Vernehmung auffälligerweise zu einem der Verfahrensbeteiligten ins Haus gegangen und dort einige Zeit geblieben seien. Zu den engen sozialen Beziehungen gehörten Freundschaften, Verwandtschafts- und Arbeitsbeziehungen.112 Auch Nachbarschaftsbeziehungen, in denen etwa Naturalien geschenkt wurden, galten als verdächtig.113 Hier wurde die soziale Komponente der Solidarität um den Nimbus der Bestechung erweitert, der schon bei kleinen materiellen Gefälligkeiten – etwa Sülze oder Bier – drohte.114 Auch den Gendarmen waren besondere Loyalitäten und langjährige Arbeitsbeziehungen suspekt,115 insbesondere wenn sich der Kontakt in zeitlicher Nähe zur Gerichtsverhandlung intensivierte.116 Dass auch die Untersuchungsrichter nach persönlichen Loyalitäten fragten, zeigt sich in den Protokollen. Ein Zeuge erläuterte seine eigene Aufrichtigkeit mit dem Hinweis, dass ihm die Person des Angeschuldigten »ganz gleichgültig [sei], ich bin mit ihr weder Freund noch insbesondere Feind, ich bekunde nur die reine Wahrheit.«117

Die Richter brachten eine mögliche Furcht eines Zeugen vor dem Verdächtigen oder seinen Nachbarn in den Vernehmungen selbst ins Spiel und unterstellten, die Aussage entspreche aus Angst vor Rache nicht der Wahrheit.118 Die Logik der Aussageverweigerung beruhte gerade auf der Überzeugung, dass es in engen sozialen Umfeldern zu Loyalitätskonflikten kommen konnte. Zusammenfassend lässt sich für die Ähnlichkeit der juristischen und der allgemeinen Glaubwürdigkeit festhalten: Für Juristen, Gendarmen und ›Laien‹ bildeten das Verhalten seit der Tat und in der Vernehmung, sowie der Charakter der Person und die Konsistenz der Aussage die wesentlichen Elemente, um die Glaubwürdigkeit zu bewerten. Die Kriterien unterschieden sich in erster Linie im Abstraktionsgrad, waren aber inhaltlich weitgehend ähnlich. Auffallend ist, dass lediglich bei den Juristen eine zusätzliche Skepsis gegenüber der Zuverlässigkeit von Frauen zu beobachten war.119 Ein besonderer Wert wurde jedoch von allen der frühen Aussage zugewiesen. Zwar bestand die Gefahr, dass alltagsweltliche Erklärungen den Juristen unlogisch und irrational erschienen, dennoch konnten 111 112 113 114 115 116 117 118 119

Dass.: 71/1905, Vernehmung des J.P. am 25.5.1905. StAA LG A - SG: 33/1894, Gendarmeriebericht vom 28.2.1894. Dass.: 51/1895, Vernehmung der A.S. am 23.2.1895. Dass.: 33/1894, Vernehmung J.B. 19.2.1894; StAA LG Ke - SK: 48/1898, Vernehmung des J.H. am 28.7.1898. StAA LG A - SG: 1/1893, Gendarmeriebericht vom 14.10.1892; StAA LG Ke - SK: 83/1901, Gendarmeriebericht vom 17.7.1901. StAA LG A - SG: 102/1895, Vernehmung des J.O. am 5.9.1895. StAA LG Ke - SK: 83/1901, Vernehmung des A.H. am 23.8.1901. Dass.: 28/1899, Vernehmung der A.M.Z. am 26.5.1899. Unklar ist, wie weit diese Beobachtung durch den Untersuchungsort geprägt ist. Denn es ist denkbar, dass sich die bürgerlichen Geschlechterstereotypen der Skepsis bei bürgerlichen ›Laien‹ häufiger finden ließen als bei der hier untersuchten Bevölkerung.

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die ›Laien‹ damit rechnen, mit ihrer Glaubwürdigkeitseinschätzung ernst genommen zu werden. Indem sie weitgehend identische Kriterien für die Einschätzung der Glaubwürdigkeit vorbrachten, konnten ›Laien‹ erfolgreich entgegenstehende Personen diffamieren und sich selbst als aufrichtig inszenieren. Sie hatten reelle Chancen, die eigene Position im Verfahren auf diese Weise zu stärken. Wissen als Partizipationsgrundlage – ein Kapitelfazit Für die Bevölkerung war der Gerichtssaal kein unbekannter Ort. Gemeinsam mit den medial vermittelten Berichten über Strafrechtsreformen und lokale Prozesse entstand durch die direkte Anschauung eines Prozesses ein Wissen, zu dem auch abstrakte Regeln des Verfahrens wie Revisionsinstanzen, Kompetenzfragen oder Meineidslogiken gehörten. Dabei kann nicht von einem eindimensionalen Wissenstransfer ausgegangen werden. Die ›Laien‹ nahmen nicht einfach die juristischen Regeln zur Kenntnis. Vielmehr waren die Juristen selbst durch das sie umgebende Alltagswissen, wie etwa Geschlechterrollen, Gerechtigkeitsvorstellungen oder literarische Motive geprägt. Im Ergebnis gab es eine Schnittmenge des alltäglichen und des fachjuristisch kommunizierten Wissens, die dazu führte, dass ›Laien‹ und Berufsjuristen gegenseitig etwa ihre Relevanzkriterien der Glaubwürdigkeit verstanden. Für die Position der Nichtberufsjuristen bedeutet dies, dass sie sich nicht nur im Verfahren orientieren, sondern auf dieses auch gezielt einwirken konnten. Ihre Versuche, sich selbst als aufrichtig und andere als unglaubwürdig zu inszenieren, wurden von den Juristen verstanden und nicht per se zurückgewiesen. Unbestreitbar trat hier eine strukturelle Asymmetrie im Diskurs zu Tage, in welchem das Fachwissen von den Juristen als Normgröße gesetzt wurde. Abweichungen oder als unvollständig angesehene Interpretationen wurden von ihnen zurückgewiesen. Dass es bei der eigenständigen Anwendung des Alltagswissen in der Justiz zu Missverständnissen zwischen ›Laien‹ und Juristen kam und die Handlungen der ›Laien‹ häufig nicht erfolgreich waren, widerspricht jedoch der Handlungsmacht der Akteure nicht.

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4. Aktives Prozessieren

In den Vernehmungen und Verhören sollten die ›Laien‹ ihre Sicht der Dinge schildern, neue Hinweise geben und anderen Darstellungen widersprechen. Doch es gelang ihnen, die Ermittlungen und Verhandlungen durch juristisch nicht immer in diesem Sinne vorgesehene oder wahrgenommene Handlungen zu beeinflussen. Insgesamt, so wird dieses abschließende Kapitel zeigen, waren die ›Laien‹ in gerichtlichen Verfahren aktiv und durchaus selbstbewusst.

4.1 Die Anzeige als Mittel im dispute process Aus juristischer Perspektive war die Strafanzeige das angemessene Verhalten bei einem Verstoß gegen gesetzliche Regelungen. Dies zeigen im Untersuchungszeitraum auch die Bemühungen der bayerischen Regierung, traditionelle nichtjuristische Sanktionierungen wie »Charivari« und »Haberfeldtreiben« zu bekämpfen. 1 Wenn jemand wütend seinen ehemaligen Arbeitgeber der Tierquälerei oder »widernatürlicher Unzucht« mit Hühnern bezichtigte,2 bestand die Motivation jedoch nicht immer in erster Linie darin, dass der Angezeigte gerichtlich bestraft werden sollte. Wie sowohl die Rechtssoziologie als auch die Forschung zur Frühen Neuzeit überzeugend dargelegt haben, dient die Anzeige häufig eher dem situativen Machtgewinn oder der Eskalation eines Konfliktes.3 Man erhoffte sich etwa, dass der Gegenüber nachgeben würde, oder demonstrierte, dass man von staatlichen Instanzen als glaubwürdig angesehen wurde. Bei der Erstattung der Anzeige handelte sich um die bewusste Entscheidung, ein Anliegen vor der Institution Gericht auszutragen, welches damit als ein zentraler und alltäglicher Ort der Konfliktaustragung verwendet wurde.

1 Vgl. Kaltenstadler; Schieder; Ettenhuber. 2 Vgl. StAA LG Ke - SK: 81/1902; StAA LG A - SK: 138/1895. 3 Vgl. grundlegend: Nader/Todd, v.a. S. 37; zur Frühen Neuzeit: Landwehr/Ross; Hohkamp/Ulbrich; Holenstein: Klagen; Sälter; Crosby.

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4.1.1 Die Anzeige als Abwägungsprozess Angesichts der Häufigkeit, mit der im ländlichen Raum Anzeigen erstattet wurden, erscheinen agrarromantisch oder klassenjustiziell angehauchte Interpretationen, dass es eine soziale oder kulturelle Distanz zum städtischen Gericht gegeben hätte, weder quantitativ noch qualitativ plausibel. Im ländlichen Bayern kam zwischen 1895 und 1922 im Schnitt pro Jahr auf jeden 20. Einwohner eine Strafanzeige, was als relativ viel einzuschätzen ist.4 Dabei wurde auch innerhalb engster Familien- und Nachbarschaftsverhältnisse und anscheinend selbst bei geringfügigen Anlässen zur Anzeige geschritten,5 wobei es in lediglich 37 Prozent der Fälle überhaupt zu einer Gerichtsverhandlung kam. Die Mehrheit der Verfahren wurde von den Staatsanwälten mit oder ohne Ermittlungen beendet oder spätestens nach der anschließenden Voruntersuchung eingestellt.6 Die Betroffenen machten dabei deutlich, dass sie die Anzeige als normalen Akt des Konfliktes betrachteten: »Hat mich der [Stadler] zum Trutz getan, tue ich’s denselben auch zum Trutze«, entgegnete etwa Michael Frey auf den Vorhalt des Gendarmen, »daß diese Anzeige nur auf gegenseitige Gehässigkeiten beruhe.«7 Die Logik, nach denen eine Regelverletzung offiziell gemacht wurde, korrelierte damit zwar nicht mit der juristischen Perspektive der Strafsanktion, war aber aus juristischer Sicht nicht als zurückhaltend zu bewerten. Dennoch kann nicht davon ausgegangen werden, dass in jedem Konflikt sofort die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wurde. Hörmüller verwies darauf, dass er aus einer erfolglosen Klage gegen Sophie Masch wegen Verleumdung gelernt hätte, dass er durch Gerichtskosten eine Menge Geld verlieren könne.8 Sophie Masch ihrerseits war aus Furcht vor Hörmüller zunächst nicht zur Polizei gegangen9 und Fleschutz zog seine Diebstahlsanzeige zurück, da ihm der drohende Aufwand in keinem sinnvollen Verhältnis zum materiellen Schaden zu stehen schien.10 Dennoch mussten die Verstöße nicht folgenlos bleiben. Konrad Hörmüller erwog – angeblich sogar auf polizeilichen Rat hin –, Sophie Masch wegen ihrer Behauptungen zu verprügeln, anstatt sie erneut zu verklagen.11 Bei Fidel Steck schien das gesamte Umfeld über den gegen ihn im Raum stehenden Diebstahlsverdacht informiert zu sein. Das dörfliche Gerede stellte zu diesem Zeitpunkt eine reguläre Form der Sanktionierung und Kontrolle dar und sorgte dafür, dass devian4 Eigene Berechnungen auf Grundlage von Königlich Bayerisches Statistisches Bureau: Statistisches Jahrbuch, Jg. 8, 1905, S. 18 und 288; Jg. 11, 1911, S. 16 und 384; Jg. 14, 1919, S. 498; Jg. 16, 1924, S. 5 und 411; zur Berechnung und statistischen Bewertung im Detail vgl. Ortmann: Jenseits von Klassenjustiz, S. 632–639. 5 Vgl. dazu mit Beispielen: ebd., S. 634; Goldberg. 6 Eigene Berechnungen auf Grundlage retrospektiver Zahlen ex: Reichsjustizamt, S. 201–203; vgl. Ortmann: Jenseits von Klassenjustiz, S. 635. 7 StAA LG Ke - SK: 351/1906, Anzeige vom 15.8.1906. 8 Dass.: 103/1901, Vernehmung des K.H. am 19.1.1902. 9 Dass.: 42/1891, Bericht vom 15.4.1891. 10 Dass.: 35/1903, Vernehmung des M.F. am 9.6.1903. 11 Dass.: 42/1891, Vernehmung der S.M. am 23.4., des J.O. am 24.4.1891.

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ten Personen ihr Ruf voraus eilte.12 Therese Gast hatte beim Antritt ihres Dienstes bei Fichtl gewusst, dass dieser seine frühere Dienstmagd geschwängert hatte, und versuchte wegen dieser Gerüchte erfolglos, das Stellenangebot durch überzogene Lohnforderungen zu sabotieren.13 Gerade in Sittlichkeitsdelikten, in denen das Erstatten der Anzeige für die Opfer mit Scham verbunden war und familiäre Bindungen sowie lokale Machtverhältnisse berücksichtigt werden mussten, wurde vor den vermeintlichen Tätern durch gezielt gestreute Gerüchte gewarnt.14 Wenig subtil war diese Sanktion, wenn der vermeintliche Täter durch eine Zeitungsannonce oder ein öffentlich aufgestelltes Schild bloßgestellt wurde.15 Im Ergebnis blieb das Vorgehen gleich: Indem das Umfeld über die Vorfälle informiert wurde, sollte eine Wiederholung der Tat verhindert und der Täter oder die Täterin öffentlich bekannt gemacht werden. Angesichts des finanziellen und zeitlichen Aufwandes, den ein Gerichtsverfahren bedeutete, und mit Rücksicht auf die Folgen, die ein Prozess haben konnte, musste es auch angesichts dieser Alternativen für eine Person einen Mehrwert geben, damit sie Anzeige erstattete. 16 Nicht nur für das Kaiserreich – hier v.a. durch den Fokus auf die als politisch geltenden Verfahren und Skandalprozesse – wurde in der Forschung die These vertreten, dass die Justiz vor allem ein Instrument der herrschenden Schichten zur Stabilisierung der Machtverhältnisse darstellte.17 Auch wenn die Strafjustiz diese Wirkung gerade im Zuge der Sozialistenverfolgung partiell entfaltet hat, so fehlen bislang empirische Belege, dass dies im Kaiserreich den Regelfall darstellte.18 Hommen und Schulte konnten zeigen, dass die Anzeige vom fraglichen Delikt abhing und dass die Wahrscheinlichkeit für eine Anzeige stieg, wenn der vermeintliche Täter über eine niedrige oder randständige Position oder einen schlechten Leumund verfügte oder weiterhin als gefährlich eingeschätzt wurde.19 Die hier ausgewerteten Fälle sowie die Forschung zur Frühen Neuzeit, zur Kolonialgerichtsbarkeit und die Rechtssoziologie legen außerdem nahe, dass der Strafjustiz auch eine kompensierende Rolle im jeweiligen Machtverhältnis zukam. Entscheidend war dabei nicht nur die Position des Täters, sondern auch die des Anzeigenerstatters beziehungsweise deren relatives Machtverhältnis zueinander.20 Die Justiz einzuschalten konnte dazu beitragen, einen Konflikt für sich zu entscheiden, obwohl man vor Ort sozial unterlegen war.

12 13 14 15 16 17 18 19 20

Zur Geschichte des Gerüchtes Kies; Owzar; Neubauer; Schulte, v.a. S. 171 f. Vgl. StAA LG Ke - SK: 124/1890, Vernehmung der J.B. am 29.12.1890. Hommen, S. 126, 170–179, 182. Vgl. StAA LG Ke - SK: 48/1898, Brief vom 30.7. und Vernehmung des T.S. am 6.8.1898. Vgl. auch: Goldberg, S. 59. Vgl. im Überblick Schwerhoff : Aktenkundig, S. 85–91. Ausführlich zur Literaturlage: Ortmann: Jenseits von Klassenjustiz, S. 632, Fn. 10. Hommen, S. 126, 170–179, 182; Schulte, S. 57–59, 174 f., 193–210. Vgl. zum heutigen Anzeigeverhalten: Hanak/Pilgram, S. 263. Zu historischen Beispielen: Sälter, S. 161; Ullmann: Minderheit; Schaper.

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Während das Diebstahlsopfer Fleschutz als Wirt zur örtlichen Elite gehörte,21 war der Verdächtige Steck relativ neu im Dorf, im Vergleich zu Fleschutz ärmer, hatte sich bereits Feinde gemacht und nicht gut integriert – führte er doch die ihm obliegenden Reparaturarbeiten an der genossenschaftlichen Wasserleitung nicht aus. Er stand angesichts des ihn beschuldigenden Gerüchts vor zwei Problemen: Erstens ergab sich offenbar keine Gelegenheit, den Vorwurf des Diebstahls direkt und öffentlich zurückzuweisen. Zweitens sah Steck offenkundig auch keine Chance, seine Lage durch ein Mediationsgespräch beim ebenfalls zur Oberschicht gehörenden Bürgermeister aufzubessern. Stattdessen trug Steck den Konflikt gezielt über die Grenzen des Dorfes hinaus, um so die Machtverhältnisse vor Ort zu kompensieren: Er schaltete eine Annonce im Oberdorfer Landboten, in der er das Gerücht direkt ansprach, Michael Fleschutz als Urheber benannte, diesen als »Lügner« bezeichnete und alle Vorwürfe zurückwies (vgl. 4). Dies führte als herausfordernde Beleidigung der zeitgenössischen Ehrlogik folgend zwangsläufig zu einer rechtlichen Reaktion von Fleschutz, der sich dies nach eigenen Aussagen als »Geschäftsmann unmöglich gefallen lassen« konnte.22 Indirekt sorgte Steck somit dafür, dass aus dem Vorfall ein Gerichtsprozess wurde – selbst wenn er nicht direkt zur Anzeige schritt.23 Das Gericht kann als externer Ort der Entscheidung gelten, an dem andere Spielregeln als im lokalen Machtgeflecht galten. Die relativen Machtverhältnisse und Familien- wie Freundschaftsnetzwerke konnten sich zwar in Form von Zeugenaussagen noch auswirken, sie wurden in gerichtlichen Verfahren aber durch eine externe Instanz überwacht und dadurch geschwächt. Steck selbst verwies in seiner späteren Meineidsanzeige gegen Schmidt explizit darauf, dass der Gendarm ihm gegenüber voreingenommen sei, und betonte in seinen Vernehmungen, dass die Familien Wespe und Fleschutz mit dem Gendarmen ein Komplott gegen ihn, Steck, geschmiedet hätten. Da er nun keine Chance mehr sehe, seiner Sache vor Ort Gerechtigkeit walten zu lassen, wende er sich direkt an den Staatsanwalt in Kempten.24 Diese Schritte schufen eine Öffentlichkeit, die über die Grenzen des täglichen Umfeldes hinausging und damit potentiell eine Überwindung der Machtstellung ermöglichte. Dabei kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Anzeigenerstatter tatsächlich einen Prozess oder gar ein Urteil anstrebten. Sie unterschieden klar zwischen den ersten polizeilichen Ermittlungen und gerichtlichen Verfahren: Gegenüber der Polizei: »kann man sagen, was man will«.25 Im Prozess jedoch musste die 21 Alle Angaben in diesem Kapitel beziehen sich auf eine Rekonstruktion der Netzwerke und Sozialpositionen, die mithilfe der Gerichtsakten StAA LG Ke - SK: 21/1902 und dass.: 35/1903, der Steuerlisten (StA), der Kirchenbücher (BA) und der Überlieferungen aus Ob (GAB) erstellt wurden. Zur Rekonstruktion von dörflichen Machtverhältnissen vgl. Mahlerwein. 22 StAA LG Ke - SK: 35/1903, v.a. Vernehmung des M.F. am 9.6.1903. 23 Vgl. StAA LG A - SG: 74/1895, Brief vom 20.8.1895; Goldberg, S. 65 f.und 119 ff. 24 StAA LG Ke - SK: 21/1902, Brief vom 2.3.1902. 25 Dass.: 72/1905, Gendarmeriebericht 10.7.1905; ähnlich: dass.: 192/1900, Vernehmung des K.H. am 20.6.1900.

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Abb. 4: Oberdorfer Landbote 29.7.1901

Wahrheit gesagt werden, hier konnte das Verfahren nicht in gleicher Weise wie die polizeiliche Ermittlung genutzt werden. Angesichts der hohen Einstellungsquoten der zeitgenössischen Justiz erscheint es naheliegend, dass es ein Bewusstsein dafür gab, dass eine Anzeige mitnichten zu einem Prozess führen musste. Wahrscheinlich würde es zu einer ersten polizeilichen Recherche kommen und diese der näheren Öffentlichkeit bekannt werden. Schließlich ermittelten die Gendarmen ohne Rücksicht darauf, dass ihr Handeln von Dritten beobachtet, belauscht und bewertet werden konnte, ja trugen sogar selbst zur Verbreitung der Ermittlungsergebnisse bei.26 Eine Anzeige bewirkte also zunächst und zumindest, dass die angezeigte Person für alle sichtbar als Verbrecher verdächtigt wurde. Diese Form der Rufschädigung stellte – so die hier vertretene These – einen zentralen Mehrwert einer Anzeige dar. Die eigene relative Ehre wuchs, indem der Gegenüber verdächtigt wurde.27

26 Vgl. Kap. II.1.2. 27 Vertreten wurde diese These zuerst in: Ortmann: Jenseits von Klassenjustiz, S. 636 f.

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4.1.2 Die Meineidsanzeige als Frage der Ehre Dass die Verteidigung von Ehre einen wesentlichen Grund für eine Anzeige darstellen konnte, ist für verschiedene Epochen aufgezeigt worden. Ann Goldberg hat für das Kaiserreich nachgewiesen, dass immer breitere Bevölkerungsschichten ihren Achtungsanspruch vor Gericht einklagten. Im Vergleich zum frühen 19. Jahrhundert kam es dabei zu einer Demokratisierung, indem nicht nur innerhalb der gleichen Sozialgruppe, sondern auch gegen sozial Höherstehende geklagt wurde. In Erweiterung von Goldbergs Argument kann gezeigt werden, dass Ehrverletzungen auch außerhalb der von ihr untersuchten Beleidigungsklagen eine zentrale Grundlage für gerichtliche Verfahren bildeten. Denn obwohl die hier untersuchten Meineidsanzeigen auf den ersten Blick keinen direkten Konnex zu Ehrkonflikten zu haben scheinen, bildete ›Ehre‹ doch den Kern der meisten Meineidsverfahren.28 Die Meineidsuntersuchungen, die im Nachklang zu den Diebstahlsverhandlungen gegen Steck durchgeführt wurden, können hierfür erneut exemplarisch herangezogen werden.29 Wie geschildert kamen hierbei zwei Logiken im Umgang mit der Wahrheit des vorangegangenen Verfahrens zum Tragen:30 Die erste Untersuchung wurde dadurch initiiert, dass Steck nach seinem Freispruch die Belastungszeugen Philomena und Jakob Wespe anzeigte. Da ihre Aussage im Widerspruch zum ergangenen Urteil stand, lag es auf der Hand, dass sie ihren Eid gebrochen haben mussten: »Diese beiden haben nämlich jedesmal bei jeder Verhandlung […] die Unwahrheit gegen mich gesagt, darum möchte ich Sie zur Anzeige bringen.«31

Dieser Logik entsprachen auch die Fälle, in denen bereits das Verhandlungsprotokoll oder beteiligte Juristen festhielten, dass ein Meineid wahrscheinlich sei.32 Die zweite Meineidsanzeige im Fall der Deicheln hingegen erfolgte ein Jahr später durch den im Dienstahlsverfahren ermittelnden Gendarm Drexel. Er verwies darauf, dass der Entlastungszeuge Schmidt vor den Verhandlungen anders lautende Angaben gemacht hatte, woraus zu folgern sei, dass die gerichtliche Aussage gelogen gewesen sein müsse.33 Wie zentral bei Anzeigen, die durch frühere Verfahrensbeteiligte oder Gendarmen erfolgten, neben Rache insbesondere die Ehre war, wird am plastischsten, 28 Goldberg. Zur Bedeutung von Ehrkonflikten in der Frühen Neuzeit im Überblick: Ludwig; für das frühe 19. Jahrhundert: Habermas: Diebe vor Gericht, S. 59–89. Definition der Ehre bei: Weber: Art. Ehre, S. 77. 29 Die nachfolgende Analyse stützt sich auf eine Auswertung aller im Staatsarchiv Augsburg überlieferten, insgesamt über 150 Meineidsakten, bei denen in über 130 Fällen klar erkennbar ist, wer die Anzeige erstattet hatte. Sie stammen aus den Beständen der Landgerichte Kempten und Augsburg sowie des Schwurgerichtes Augsburg. 30 Vgl. Kap. I.1.1.2. 31 StAA LG Ke - SK: 21/1902, Brief vom 2.3.1902. 32 Exemplarisch: dass.: 117/1904, Vermerk am 24.10.1904. Anzeigen durch Staatsanwälte oder andere Juristen machen lediglich zwölf der ausgewerteten 78 Meineidsanzeigen nach Strafprozessen aus. 33 Dass.: 35/1903, Anzeige vom 21.3.1903.

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wo der Anzeigenerstatter den Prozess anders als Steck verloren hatte. In diesen Anzeigen gegen die gegnerischen Zeuginnen und Zeugen betonen die Unterlegenen, dass das Gericht sich bei der Einschätzung der Aussage getäuscht hätte und dass die eigene Darstellung die Wahrheit enthielte. 1905 wiederholte etwa der Anzeigeerstatter die eigene Darstellung des ursprünglichen Vorfalles, führte erneut seine Beweise an und schloss mit dem Hinweis: »Angesichts dieser Thatsachen halte ich meine Unschuld und meinen von meinem Vater vererbten ehelichen Namen hoch und die ewige Wahrheit der Thatsache soll ins Licht, so wahr mir Gott helfen möge.«34

Es handelte sich nicht notwendigerweise um den verurteilten Angeklagten oder dessen Umfeld, die eine Anzeige gegen gegnerische Zeuginnen und Zeugen erstatteten, es konnte sich auch um Opfer oder Belastungszeugen handeln, die mit dem Freispruch unzufrieden waren. Wesentlich ist, dass es sich um eine Konstellation handelte, in der Verfahrensbeteiligte gegnerische Zeugen und Zeuginnen wegen Meineides anzeigten. Und dass die Anzeigenerstatter in den allermeisten dieser Fälle – anders als Steck – mit ihrer Darstellung im ersten Prozess gescheitert waren.35 Zwar führte ein Teil der Anzeigen auch Verdachtsgründe auf, die auf Absprachen, Beeinflussungen, das Eingeständnis einer Lüge vor Gericht oder ähnliches hindeuteten.36 Im Kern ging es in den Meineidsanzeigen jedoch darum, die eigene Schilderung des Falles zu wiederholen und zu betonen, dass man vor Gericht nicht gelogen habe, sondern dass der gegnerischen Partei zu Unrecht geglaubt worden sei. Dies gilt insbesondere, wenn die Meineidsanzeige aufgrund eines vorangegangenen Zivilprozesses erfolgte. In diesen Fällen hatte es sich zumeist um Verfahren wegen Schulden oder Vaterschaftsanerkennungen gehandelt, die durch die Ablegung eines Eides, der im Zivilverfahren als Beweismittel galt, beendet worden waren.37 Wenn also die ledige Creszenz Dreh drei Tage nach einer verlorenen Vaterschaftsklage vor dem Amtsgericht angab: »Ich kann keinen andern, als den Max H[äsler] als Vater meines Kindes bezeichnen, da ich während der […] Zeit mit keiner andern Mannsperson geschlechtlich verkehrt habe. H[äsler] hat einen Meineid geleistet«,38

dann erneuerte sie den Anspruch, selbst die Wahrheit zu sagen.39 Die Partei, die den Prozess verloren hatte, griff dabei zumeist auf ihre Argumentation aus dem Zivilprozess zurück, beschuldigte den Gegner des falschen Eides und konnte darauf 34 Dass.: 99/1905, Anzeige vom 21.1.1905. 35 Nur in vier der 78 Fälle, die aus Strafprozessen resultierten, handelte es sich dezidiert um die siegreiche Seite, die nun gegnerische Zeugen anzeigte. 36 Exemplarisch: dass.: 71/1905, Gendarmeriebericht vom 20.4.1905. 37 Für die Erläuterungen des zivilrechtlichen Eidverfahrens und die Vertragsanalogie danke ich Wiebke Jensen, Göttingen. Grundlegend: Münks, S. 127–147. 38 StAA LG Ke - SK: 23/1898, Anzeige vom 3.3.1898. 39 Sicher spielte in Vaterschaftsklagen auch die Verteidigung der Geschlechtsehre bei dem Hinweis eine Rolle, dass man tatsächlich nur dieses eine Verhältnis gehabt habe.

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hoffen, dass die Beweise in einem neuen, nun sich um Meineid drehenden Prozess anders bewertet würden. Bemerkenswert ist, dass die Mehrheit der Meineidsanzeigen offenbar genau diese Neubewertung des ursprünglichen Urteils bezweckte. Anders als in den juristischen und religiösen Diskursen schlug sich hier nicht die Sorge nieder, dass der Zeuge oder die Zeugin aus mangelndem Respekt den Eid verletzt und damit das Verfahren geschädigt hätte. Im Fokus stand lediglich die Betonung des Anzeigeerstatters, sich im Recht zu befinden und daher den gegnerischen Zeugen anzuzeigen.40 Teilweise erfolgten derartige Anzeigen sogar noch in laufenden Verfahren und zielten dann darauf ab, die eigene Position im Prozess zu stärken.41 Doch warum sah die Bevölkerung in der Meineidsanzeige ein Mittel, die eigenen Interessen zu vertreten? Schließlich musste die ledige Mutter erneut über ihren Lebenswandel aussagen und das Risiko eingehen, dass sie in der Verhandlung – gar medial verbreitet – von den Verteidigern in ein schlechtes Licht gerückt würde. Gleichzeitig ging sie das Risiko ein, Gerichtskosten zu tragen, wegen falscher Anschuldigung belangt zu werden oder wegen des nun selbst abgelegten Zeugeneides in eine Meineidsuntersuchung zu geraten. Aus juristischer Perspektive ergab eine Anzeige wegen Meineids nach Strafverfahren insofern Sinn, als bei erwiesenem Meineid gemäß Paragraph 399 der Reichsstrafprozessordnung eine Neuverhandlung erwirkt werden konnte.42 Es ist möglich, dass ein Teil der Anzeigen auf eine derartige Logik zurückzuführen ist und vielleicht sogar von Verteidigern angeraten worden war. Dass jedoch in keiner der ausgewerteten 150 Anzeigen jemals geäußert wurde, dass man explizit eine neue Verhandlung anstrebe; dass es in der gesamten juristischen Debatte um die Auswirkungen des Meineids keine Aussagen zu einer drohenden Welle an daraus folgenden Wiederaufnahmeverfahren gab; dass Meineidsanzeigen eher als Anzeichen des »Querulantentums« gesehen wurden43 und dass Meineidsverfahren auch in den Diskussionen um die – erwünschte – Wiedereinführung der Berufung keine Rolle spielten, lässt diese Erklärung allein nicht ausreichend erscheinen. Stattdessen entspricht die Logik der Meineidsanzeigen – nimmt man die Perspektive des Klägers ein – der Reaktion aufgrund einer Ehrverletzung: Akzeptierte man das Urteil, erkannte man zwangsläufig auch die im Urteil enthaltene Deutung an. Verhielt man sich also passiv, ließ man sich als Dieb, als sexuell deviante Frau oder als Lügner charakterisieren. Einen zentralen Zeugen hingegen durch den Meineidsvorwurf als Lügner zu bezeichnen, hinterfragte die Gültigkeit des gefällten Urteils. Diese Neubewertung durch ein weiteres Gericht war der eigentliche Kern der Anzeige. Denn die Wahrheitslogik des Meineidsprozesses ermöglichte, das ursprüngliche Verfahren auch ohne eine offizielle Berufung inhaltlich – nicht formal – noch einmal vollständig aufzurollen. Am Ende urteilten die Geschworenen 40 Bei den Strafprozessen spielte die beschriebene Logik in 39 der 78 Anzeigen, bei den Zivilklagen um 34 von 49 Anzeigen eine Rolle. 41 StAA LG A - SG: 102/1895, Brief vom 1.8.1895. 42 Vgl. Viebig; Ditzen; Wiener. 43 Bergmann, S. 206.

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im Meineidsprozess nicht nur über einen verletzten Eid, sie trafen indirekt auch eine Aussage darüber, ob jemand etwa ein Dieb oder ein Kindsvater war. Sie fällten ein offizielles und öffentliches Urteil darüber, welche Person glaubwürdig war und welche für lügenhaft gehalten wurde. Nicht die damit eventuell mittelfristig erreichbare formale Revision, sondern die sofortige Wiederherstellung des guten Rufes war das Ziel der Anzeige.44 Eine besondere Unterart stellten die Verfahren dar, die durch Initiative von Gendarmen eingeleitet wurden. Auch sie – so wird hier betont – behaupteten durch die Anzeige einen Anspruch auf persönliche und berufliche Ehre. Drexel betonte, dass die gerichtliche Aussage gelogen sein müsse, da Schmidt sich außerhalb der Verhandlung und insbesondere auch der Gendarmerie gegenüber anders geäußert habe als in der Verhandlung. Dass die außergerichtliche Aussage nur eine Schutzbehauptung aus Angst vor Drexel und Fleschutz’ Umfeld dargestellt hätte, wies er mit deutlichen Worten zurück: »S[chmidt] gab an, daß ich ihn immer so grob behandelt und angefahren habe u hätte er sich vor mir gefürchtet. Richtig ist diese Angabe nicht, denn ich fragte [ihn] stets ruhig. Ihn zu schimpfen hatte ich keinen Grund.«45

Offensichtlich war Drexel mit seiner Anzeige bemüht, den Eindruck zu zerstreuen, er habe sich im Dienst falsch verhalten und den Zeugen eingeschüchtert. Dass er diesem Vorwurf, der im Gerichtssaal von Schmidt geäußert worden war, formal entgegen trat, war eine erste Handlung zur Verteidigung der Berufsehre. Wichtiger ist jedoch die grundlegende Argumentation, die auch für andere Fälle exemplarisch ist. Denn auch Drexel führte in seiner Anzeige keine neuen Beweise an, sondern wiederholte nur Aussagen jener einen Streitseite, die den Freispruch Stecks nicht hatte verhindern können. Damit machte Drexel deutlich, dass er das ergangene Urteil für fehlerhaft hielt.46 In der Tat ist der gemeinsame Punkt in den von Gendarmen aus Eigeninitiative erstatteten Anzeigen, dass darin die früheren Rechercheergebnisse erneut in Szene gesetzt werden. Die Gendarmen hatten an diesen früheren Ermittlungen maßgeblich mitgewirkt, dabei ein eigenes Urteil über die vermutliche Schuld des Verdächtigen zum Ausdruck gebracht47 und ihre Version des Ablaufs einer Tat häufig in den Verhandlungen ausgesagt.48 Ein Freispruch bedeutete, dass ihnen kein Glauben geschenkt worden war. Das Urteilungsvermögen, die berufliche Kompetenz und Glaubwürdigkeit der Gendarmen wurden somit für alle sichtbar in Zweifel gezogen. Betrachtet man dies als öffentliche und formelle Beeinträchtigung der beruflichen Ehre, so waren die Gendarmen gemäß der Ehrlogik gezwungen, das Urteil 44 45 46 47

Diese Handlungsweise gleicht der Logik in Beleidigungsklagen, vgl. unten. StAA LG Ke - SK: 35/1903, Schreiben vom 21.3.1903. Vgl. StAA LG A - SG: 33/1894. Vgl. exemplarisch die Kommentare in StAA LG Ke - SK: 83/1901, Gendarmeriebericht vom 26.8.1901, und StAA LG A - SK: 557/1884, Gendarmeriebericht vom 25.9.1884; vgl. auch Kap. III.3.2. 48 Exemplarisch: StAA LG A - SG: 41/1888, Vernehmung des S.S. am 12.4.1888.

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infrage zu stellen. Da sie die Beweiswürdigung durch den Richter selbst nicht in Zweifel ziehen konnten, weil dies einer Berufsbeleidigung nahegekommen wäre,49 blieb ihnen nur, zentrale Zeugen oder Zeuginnen der Lüge zu bezichtigen und so die formelle Wahrheit des Urteils zu erschüttern. Der Richter sei lediglich einer Täuschung erlegen.50 Die Gendarmen stellten durch die Anzeige nicht nur performativ ihre Berufsehre wieder her, sondern stellten die gesamte Geschichte auf den Kopf.51 Nun waren sie die einzigen, die in einem undurchschaubaren Netz von Lügen und Intrigen den Durchblick behielten. Sie hatten mit ihrer Einschätzung des Falls von Beginn an Recht und konnten dies trotz des ergangenen Freispruchs betonen, indem sie auf Beweise verwiesen, die »schon in meiner früheren in obiger Sache […] erstatteten Anzeige erwähnt«52 waren. Die Meineidsanzeigen machen deutlich, dass die quantitative Bedeutung von Meineidsklagen nicht auf fehlenden Respekt gegenüber Staat und Religion zurückzuführen waren, wie dies die zeitgenössische Meineidsdebatte vermutete.53 Sie wurden nicht erstattet, um die Funktionsfähigkeit der Justiz zu stärken oder die Heiligkeit des Eides zu betonen: Die zentrale Sorge in Meineidsverfahren war vielmehr, wie man juristisch seine durch das vorangegangene Verfahren verletzte Ehre verteidigen konnte. Diese selbstverständliche Form der »Justiznutzung« zeigt, dass die Bevölkerung dem Gericht nicht distanziert oder furchtsam gegenüber stand, wie dies die theoretischen Debatten der Justizkritik nahelegten. Sie sah im Gericht offenbar keinen Ort der Repression, sondern einen von mehreren Orten der Konfliktaustragung – allerdings einen, an dem die lokalen Machtverhältnisse nicht exakt reproduziert wurden.

4.2 Wissen wird Macht Das lokale Wissen über Verfahrensrechte und konkrete Prozesse war hoch und ermöglichte den Beteiligten, den Verlauf von Verfahren maßgeblich zu beeinflussen. Dabei bedienten sie sich sowohl jener Wege, die das Prozessrecht vorsah als auch alltäglicher Kommunikationsmedien, deren Bedeutung die Forschung bislang nicht ausreichend gewürdigt hat. Die ›Laien‹ verfolgten ihre Interessen in einem gerichtlichen Konflikt aktiv und durchaus erfolgreich – gerade auch weil sie dabei ein breites Handlungsrepertoire nutzten.

49 Vgl. Kap. III.4.3.1 zur schnellen Beleidigung der Berufsjuristen. 50 Argumentationen dieser Art lassen sich in über 20 Prozent aller Meineidsanzeigen nachweisen, die aufgrund eines vorangegangenen Strafverfahrens erstattet worden waren. 51 Vgl. exemplarisch StAA LG Ke - SK: 28/1899; dass.: 85/1900, Gendarmeriebericht vom 18.9.1900; dass.: 88/1906, Gendarmeriebericht vom 15.7.1906; dass.: 192/1900. 52 StAA LG A - SG: 1/1893, Anzeige vom 14.10.1892. 53 Vgl. Kap. III.1.2.1.

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Dass Konrad Hörmüller im April 1891 nach einigen Wochen doch noch offiziell in den Verdacht geriet, Therese Gast ermordet zu haben, verdankte er dem allgemeinen Gerede in der Region. Denn das Gerede über einen Vorfall war nicht nur eine Alternative zur Anzeige, sondern konnte auch ein Weg sein, eine solche gezielt hervorzurufen, ohne selbst in Erscheinung treten zu müssen. Offenbar lenkte Sophie Masch bei einem Kaffeeplausch das Gespräch auf den im vorigen Jahr verübten Mord und erzählte dem Holzarbeiter Josef Enß aus Westenried, dass sie das spätere Opfer noch kurz zuvor im Hause von Winklers gesehen habe.54 Sie ließ dabei auch fallen, dass sie ihre Wahrnehmung früher schon Johann Wieser erzählt und dass dieser seinerseits offenbar Konrad Hörmüller darüber informiert habe. Hörmüller habe ihr dann gedroht, sie solle den Mund halten. Der örtliche Gendarm, Alexius Färber, hörte von diesem Kaffeegespräch und nahm es zum Anlass, eigene Recherchen anzustellen und schließlich eine gerichtliche Untersuchung auszulösen. Die hier zu beobachtende Konstellation gehörte zum Alltagsgeschehen der Justiz,55 war doch eine indirekte Mitteilung von Informationen deutlich niedrigschwelliger als eine direkte Auskunft. Zwar konnten Anzeigen inzwischen auch anonym erstattet werden;56 Gerüchte behielten jedoch eine quantitativ bedeutendere Rolle. Gerede und Gerüchte wurden auch während der Ermittlungen zur Triebfeder und zum Beweis. Immer wieder untermalten Gendarmen und Juristen ihre Theorien mit dem Hinweis, dass man in der Gegend ganz allgemein der Ansicht sei, dass jemand eine bestimmte Handlung begangen habe, und setzten Recherchen fort, obwohl es keine weiteren Anhaltspunkte gab.57 Sogar eine Verhaftung konnte damit begründet werden, dass »ein großer Teil der […] Ortsbewohner [glaubt], daß derselbe, falls er seine Überführung […] vor Augen sehe, die Flucht ergreifen werde«.58 Hinweise auf »unbestätigte Gerüchte« fanden ihren Eingang selbst in die Urteile.59 Dass die Gendarmen durch ihre Recherchen und Hausdurchsuchungen selbst Urheber des fraglichen Gerüchtes gewesen sein konnten, übersahen sie dabei schnell. 60 Natürlich wurde auch die lokale Gemeinschaft durch Gerüchte informiert. Die Gerichtsakten zeigen, dass sich die Bevölkerung immer wieder über die Ereignisse unterhielt und auch die eigene Neugier durch gezieltes Befragen zu befriedigen 54 Vgl. die Schilderung in StAA LG Ke - SK: 42/1891, Gendarmeriebericht vom 15.4. und Vernehmung des J.E. am 23.4.1891. 55 Vgl. etwa die Aussage des Gendarmen: dass.: 28/1899, Vernehmung des G.E. am 29.5.1899; StAA LG A - SG: 1/1893, Anzeige vom 14.10.1892; dass.: 11/1884, Anzeige vom 4.11.1883; dass.: 41/1888, Anzeige vom 20.3.1888. 56 Etwa: StAA LG Ke - SK: 93/1904, Gendarmeriebericht vom 23.9.1904. Anonyme Anzeigen waren seit 1879 voll beweisfähig, vgl. Koch: Denunciatio, S. 254 f. 57 So im Fall des vermeintlichen Mordes, für den lediglich das örtliche Gerücht, nicht aber der Zustand der Leiche sprach, vgl. StAA LG Ke - SK: 40/1891. Ähnlich: dass.: 54/1896. 58 StAA LG A - SG: 41/1888, Anzeige vom 20.3.1888. 59 StAA LG Ke - SK: 83/1901, Urteilsgründe vom 28.12.1901. 60 Dass.: 124/1890, Vernehmung des C. W. vom 25.11.1890.

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suchte. Das galt nicht nur in den beiden Fallbeispielen, die durch den Mord einerseits und den hohen Anteil an Beteiligten andererseits auf den ersten Blick sicher nicht alltäglich waren. Hierin ähneln sie den zeitgenössischen Skandalprozessen, bei denen Gerüchte auch in Klein- und Großstädten Einfluss auf den weiteren Verlauf der Ermittlungen nehmen konnten.61 Die Dichte von Gerüchten lässt sich aber auch bei Körperverletzungen62 oder Beleidigungen63 beobachten und war im Falle der Deicheln auch bereits im Zuge der Diebstahlsuntersuchung prägnant. Schmidt selbst gab an, dass er andauernd von Freunden, Arbeitgebern, Kollegen, seiner Freundin und selbst vom Schmied über sein Wissen befragt wurde. Männer wie Frauen unterhielten sich über ihr Wissen überall dort, wo sie zusammentrafen. Daher fanden männliche Gespräche eher in der Kneipe und in Werkstätten,64 weibliche eher in Gärten und Häusern statt.65 Gespräche über die Geschlechter hinweg erfolgten am gemeinsamen Arbeitsplatz wie dem Feld,66 innerhalb der Familien oder der Wohnzusammenhänge des »ganzen Hauses«, bei Besuchen67 oder am Rande von Gottesdiensten.68 Gerüchte trugen zu einer umfassenden Wissensproduktion bei. So wurde etwa ein Angeklagter von einem Zeugen aufgefordert, seine Anklageschrift vorzuzeigen, wodurch dieser und die drei anwesenden Personen sich detailliert über die Beweislage informieren konnten.69 Schnell war bekannt, wer eine offizielle Vorladung als Zeuge bekommen hatte70 – und falls nicht, wurden die infrage kommenden Personen direkt gefragt.71 Erkennbar war auch, wer als Be- oder Entlastungszeuge geladen war, ein Wissen, dass bereits soziale Folgen haben konnte.72 Konrad Hörmüller erfuhr angeblich durch Michael Frey, dass Sophie Masch das Mordopfer im Hause Winkler gesehen haben wolle und dass sie behaupte, Hörmüller bedrohe sie daher mit dem Tode; Frey wollte dies wiederum von Frau Enß erfahren haben, die von ihrem Mann über ein entsprechendes Gespräch mit Frau Masch informiert worden sei.73 Teilweise reichte schon die Beobachtung aus, dass der Gendarm vor Ort recherchierte, um die fraglichen Personen auszuhorchen, was sie diesem

61 Vgl. zu Konitz: Smith: Geschichte des Schlachters, v.a. S. 24, 42 und 71 f.; und Nonn, v.a. 88–91; vgl. zu Eulenburg: Bösch: Öffentliche Geheimnisse, S. 132–135. 62 StAA LG A - SG: 102/1895. 63 Dass.: 33/1894. 64 StAA LG Ke - SK: 83/1901, Gendarmeriebericht vom 17.7.1901; StAA LG A - SG: 33/1894, Vernehmung des J.G. am 28.2.1894. 65 Exemplarisch: StAA LG Ke - SK: 21/1902, Vernehmung des A.S. am 11.9.1902. 66 Ebd., Vernehmung des A.S. am 30.5.1902. 67 StAA LG A - SG: 33/1894, Vernehmung des J.B. am 28.2.1894. 68 StAA LG Ke - SK: 21/1902, Vernehmung V.A. am 16.8.1902. 69 StAA LG A - SG: 102/1895, Vernehmung des K.S. am 25.8.1895. 70 Vgl. StAA LG Ke - SK: 83/1901, Gendarmeriebericht vom 17.7. und Vernehmung des J.H. am 23.8.1901. 71 Dass.: 48/1898, Vernehmung des J.H. am 29.7.1898. 72 StAA LG A - SG: 33/1894, Gendarmeriebericht vom 3.6.1894. 73 StAA LG Ke - SK: 42/1891, Vernehmung des K.H. am 23.4. und des M.F. am 24.4.1891.

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mitgeteilt hätten.74 Beschuldigte erfuhren, dass es zusätzliche Zeugen geben müsse, denn »dieselben erzählen in der ganzen Stadt, daß sie es gehört haben.«75 Selbst für Unbeteiligte aus anderen Dörfern konnte das Gerede über einen Diebstahl in Kombination mit einem vor Ort recherchierenden Gendarmen ausreichen, um zu verstehen, dass der neue Dienstknecht der vermeintliche Täter war.76 Hier zeigt sich, wie sich die Öffentlichkeit der Ermittlungen vor Ort auswirkte. Die Verdächtigen, die Opfer, die bislang unentdeckten Täter oder die Zeuginnen und Zeugen konnten detailliert darüber informiert sein, wer sich in welcher Form geäußert hatte. Dieses Wissen erhielten sie vor und zusätzlich zu den Informationen, die in den eigenen Vernehmungen gewonnen werden konnten.77 Auf Grundlage dieses Detailwissens konnten sie die Gerüchte lenken und direkt auf die Verfahren einwirken. Je mehr Wissen ihnen zur Verfügung stand, desto größer wurde ihre Chance, die Ermittlungen in die gewünschte Richtung zu beeinflussen.

4.2.1 Eingaben, Recherchen, Briefe und Annoncen Die aktivste Form der gezielten Informationsweitergabe war es, die Ergebnisse eigener Recherchen in das Verfahren einzuspeisen, wie es sich beispielsweise bei Sophie Masch beobachten lässt. Nachdem sie wochenlang aus Furcht vor Hörmüller geschwiegen hatte, wurde sie selbst aktiv. Sie begnügte sich nicht damit, ihr eigenes Wissen an die Polizei weiterzugeben oder die Anzeige durch ein Gerücht hervorzurufen.78 Sie suchte vielmehr auch aktiv nach neuen Informationen und trug dadurch zu einer Veränderung der Recherchen bei. Als sie beispielsweise Ende April 1891 bei Uhrmacher Heiss war, sprach sie ihn darauf an, dass dieser einmal eine stark beschädigte Uhr des Hörmüllers repariert hatte, und fragte ihn, wann dies gewesen sei. Als Heiss erwiderte, dass dies im vergangenen Winter gewesen sei, sagte sie: »dann stimmt es schon, dann kam sie nach dem Westenrieder Mord«. Da sich kurz darauf der lokale Gendarm Färber bei Heiss nach fraglicher Uhr erkundigte, ging Heiss davon aus, dass Masch die Polizei darüber informiert hatte, dass die Beschädigungen der Uhr nicht zur damaligen Erläuterung Hörmüllers gepasst hätten.79 Die Uhr galt danach als Indiz, dass Hörmüller in eine gewaltsame Auseinandersetzung geraten sein musste. Neben neuen Informationen versuchte sie, auch durch die Erzählung älterer Vorkommnisse ihre eigene Sichtweise zu untermauern. So führte Masch im Jahre 1901 plötzlich zehn Jahre alte Gespräche als Indiz gegen Hörmüller an.80 In der gleichen Vernehmung überreichte sie auch 74 75 76 77 78

StAA LG A - SG: 51/1895, Gendarmeriebericht vom 8.2.1895. Dass.: 33/1894, Vernehmung des J.B. am 19.2.1894. StAA LG Ke - SK: 192/1900, Vernehmung des J.W. am 23.11.1900. Vgl. Kap. III.1 und Kap. III.2.2. Dass.: 103/1901, Vernehmung der S.M. am 3.12.1901, Gendarmeriebericht vom 23.12.1901 und vom 15.3.1902, Vernehmung der S.M. am 7.1., 27.1., 7.3.1902. 79 Dass.: 42/1891, Vernehmung des M.H. am 12.6.1891. 80 Dass.: 103/1901, Vernehmung der S.M. am 24.2.1902.

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eine Zeitungsannonce, in der ihr Johann Winkler damals gedroht hatte. Offenbar versuchte sie, mit diesen nicht neu gewonnenen Informationen gezielt Winklers Glaubwürdigkeit in Misskredit zu bringen.81 Außerhalb von Vernehmungen versuchten insbesondere Verdächtige, durch Briefe an die Untersuchungsrichter oder Staatsanwälte ihre Sicht darzustellen oder auf weitere Zeuginnen und Zeugen zu verweisen.82 Teilweise informierten auch Zeuginnen oder Zeugen die Gendarmerie, dass sie bedroht worden seien, und baten um einen Besuch.83 Während diese Formen der Einflussnahme durch die direkte Weitergabe von Informationen relativ naheliegend erscheint und auch von der Justiz in den Akten ohne irritierte Kommentare vermerkt wurden, bedienten sich die Beteiligten noch eines öffentlicheren Mediums: Der Presse. Bislang wurde für die Tagespresse von der geschichtswissenschaftlichen Forschung ausschließlich ihre Berichtsfunktion beleuchtet. Im Folgenden wird gezeigt, dass die Bevölkerung die lokalen Medien auch dazu nutzte, die eigene Position bereits vor und während der gerichtlichen Ermittlungsphase zu verbessern. Die Presse wurde so zum Machtmittel im dispute conflict. Hierzu dienten vor allem die Annoncen der Tageszeitungen. Fidel Steck hatte sich für eine auf den ersten Blick drastisch erscheinende Maßnahme entschieden, als der Verdacht eines Diebstahls auf ihn fiel. Tatsächlich hatte er aber zu einem durchaus üblichen Mittel gegriffen.84 Anzeigen wurden häufig dafür genutzt mitzuteilen, dass man nicht für die Ausgaben eines anderen aufzukommen gedenke,85 dass man nicht mehr für seinen ehemaligen Hund haftbar sei86 oder dass man jeden anzeigen werde, der weiterhin unbefugt mit seinem Fuhrwerk über das Grundstück fahre.87 Anzeigen in Zeitungen stellten also ein vielfältig genutztes Mittel der Kommunikation dar, bei der neben einem Einzeladressaten immer auch die breitere Öffentlichkeit mit ins Kalkül gezogen wurde. Sie dienten insbesondere dazu, Konflikte zu entschärfen oder eskalieren zu lassen. Sofern der Urheber eines Gerüchtes nicht bekannt war, stellte die Annonce einen guten Ausweg dar, Gerede entgegenzutreten. Denn sofern Vorwürfe einem nicht direkt entgegengehalten wurden, konnten sie auch nicht vor Ort in einer Form 81 StAA LG Ke - SK: 103/1901, Vernehmung der S.M. am 24.2.1902. 82 StAA LG A - SG: 33/1894, Brief vom 18.2.1894; StAA LG A - SK: 138/1895, Briefe vom 5.3. und 2.4.1894; StAA LG Ke - SK: 192/1900, Gendarmeriebericht vom 7.6.1900; StAA LG A - SG: 74/1895, Briefe vom 6. und 20.8.1895. 83 StAA LG Ke - SK: 124/1890, Brief des X.B. vom 15.12.1890. 84 Für den nachfolgenden Abschnitt wurden die Jahrgänge 1898, 1901, 1913, 1923 des Oberdorfer Landboten exemplarisch ausgewertet. Die hier beobachteten medialen Angriffe und Repliken wurden in der analysierten Lokalpresse im Laufe des Untersuchungszeitraums seltener, verschwanden jedoch bis zum Jahre 1923 nicht komplett und können damit als etablierte und kulturell verankerte Praktik betrachtet werden. 85 OL 9.9.1901. 86 OL 24.11.1898 87 OL 31.12.1901.

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zurückgewiesen werden, die gleichartig zum Gerücht war. Und so nutzten immer wieder Personen die Anzeigeflächen zwischen Seifenwerbung und Stellenanzeigen, um sich gegen Gerüchte zur Wehr zu setzen (vgl. Abb. 5).88

Abb. 5: Oberdorfer Landbote 12.1.1898

Das Vorgehen Stecks, den Urheber des Gerüchtes nicht nur namentlich zu nennen, sondern auch herauszufordern, war seltener als die anonymisierte Drohung, aber kein Einzelfall.89 Indem der Adressat öffentlich als Lügner bezeichnet wurde, war er im Sinne der zeitgenössischen Ehrlogik herausgefordert.90 Ließ er die Anzeige unbeantwortet, hätte er den Vorwurf als gerechtfertigt anerkannt. Es blieben ihm nur drei Möglichkeiten. Erstens, er handelte wie Michael Fleschutz und erstatte offiziell Anzeige wegen des bislang nur inoffiziell geäußerten Verdachtes. Zweitens, er zeigte den Urheber der Annonce seinerseits wegen Beleidigung an.91 Drittens, er entgegnete über das Medium der Zeitung – agierte also mit reziproken Mitteln. Und tatsächlich erklärten Personen, dass sie es »nicht für angezeigt« hielten, »auf die Einsendung […] etwas zu erwidern, […] da sie aus einem spottsüchtigen Gemüthe hervorgekommen ist«.92 Die Presse wurde zudem auch genutzt, um eine öffentlich getätigte Beleidigung zu widerrufen und dadurch entweder eine Urteilsauflage zu erfüllen93 oder einer Gerichtsverhandlung zuvorzukommen.94 In diesen Fällen wurden die Äußerun88 89 90 91 92 93 94

OL 8.1., 12.1., 17.11., 13.12.1898; 23.2.1923. OL 23.3.1901. Ähnlich auch: OL 31.10.1898. Vgl. zur Logik Goldberg. Vgl. StAA LG A - SG: 28/1895. OL 7.1.1898 OL 12.1., 7.5.1901. Dass.: 1000/1889.

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gen zurückgenommen und bedauert sowie die beleidigte Person als ehrenhaft bezeichnet. Ein Teil der Annoncen richtete sich an potentielle Zeuginnen und Zeugen. Mit dieser Form der Pressearbeit sah sich Sophie Masch konfrontiert. Johann Winkler hatte gegen sie bereits eine Privatklage wegen übler Nachrede verloren, durch die er sie davon hatte abbringen wollen, zu behaupten, sie habe Therese Gast vor deren Tod in seinem Haus gesehen. In der Obergünzburger Zeitung erschien nun eine Annonce mit dem Wortlaut: »Ich warne hiermit die Sophie M[asch], Bötin von Reinhardsried, vor Fortsetzung ihrer unwahren Aussage, da ich sonst weitere Schritte thun müßte. Johann W[inkler], Schuhmachermeister in Reinhardsried.«

Sophie Masch ließ sich dadurch jedoch nicht einschüchtern und antwortete auf gleichem Wege in wenigen Ausgaben später: »Auf die Warnung in Nr. 76 dieses Blattes diene zur Nachricht, daß ich meine Aussage aufrecht erhalten und auf Befragen nie anders sagen kann u werde. Sophie M[asch], Bötin in Reinhardsried.«95

Beide kommunizierten ihre Position damit erneut an das lokale Umfeld. Der Versuch, Sophie Masch langfristig einzuschüchtern, scheiterte also gründlich. Eine dritte Form der Pressearbeit bestand schließlich darin, als Prozessbeteiligter selbst Artikel über die Verfahren und darin verhandelten Konflikte zu publizieren oder initiieren. Diese Artikel dienten nicht nur der öffentlichen Meinungsbildung, sondern konnten wiederum mit dem Hinweis an die jeweils zuständigen Juristen versandt werden, dass die eigene Argumentation dort nachgelesen werden könne.96 Diese Art der Pressearbeit unterschied sich wesentlich von der Nutzung der Lokalannoncen, ähnelte sie in ihrer Strategie doch eher Briefen oder Gnadengesuchen anstatt eine direkte Kommunikation mit dem personell zum Teil unbestimmten, nicht-justiziellen Umfeld vor Ort im Blick zu haben.

4.2.2 Die Beeinflussung von Zeuginnen und Zeugen Eine Anzeige im Lokalblatt oder ausführliche Zeitungsartikel waren eine vergleichsweise auffällige Form, potentielle Zeuginnen und Zeugen zu beeinflussen. Doch egal ob auffällig oder nicht – das Vorgehen war immer riskant. Denn wie die Dokumentation in den Gerichtsakten belegt, erstattete ein Teil der agitierten Personen gegenüber der Justiz umgehend Bericht.97 Doch obwohl sich die Trennlinie zwischen legitimer und strafbarer Beeinflussung als dünn erweisen konnte, boten 95 Die undatierten Anzeigen sind erhalten in: StAA LG Ke - SK: 103/1901, und wurden von Sophie M. am 24.2.1902 zu Protokoll gegeben. 96 In einprägsamer Form übte Eugen Seibert diese Technik aus, auf dessen Kampf mit der Justiz noch ausführlicher einzugehen sein wird, vgl. Kap. III.4.3.1. 97 Dass.: 124/1890, Brief vom 15.12. und Vernehmung des X.B. vom 20.12.1890.

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sich zahlreiche Möglichkeiten, die eigene Position im Verfahren auf diese Weise deutlich zu verbessern. Angeklagte hatten das Recht, Zeuginnen und Zeugen formal zum Prozess vorladen zu lassen, und führten Personen in Aussagen und Briefen an, die die eigene Darstellung stützen sollten.98 Fidel Steck nannte in den Meineidsermittlungen gegen seinen Dienstknecht Schmidt plötzlich eine Reihe von Personen, die zuvor weder im Diebstahlsverfahren noch in der Untersuchung gegen das Ehepaar Wespe ausgesagt hatten. Offenbar deutete die gescheiterte Meineidsuntersuchung gegen Wespes darauf hin, dass Stecks bisherige Argumentation nicht stichhaltig genug war, um vor Gericht Glauben zu finden. Das Nennen von Zeuginnen und Zeugen stärkte die eigene Position. Doch nach ihnen musste meist aktiv gesucht werden.99 Da die gerichtliche Aussage – wie bereits gezeigt – gemieden wurde, mussten Verdächtige selbst herausfinden, wer zu ihren Gunsten aussagen konnte und wollte.100 Sie informierten dazu etwa ihr Umfeld darüber, dass sie eine Vorladung erhalten hätten, und wurden von einem potentiellen Zeugen über dessen Wissen informiert.101 Die Aufforderung, durch eine Aussage zu helfen, konnte zur Bitte um eine Falschaussage führen. Man versicherte dann, dass man zu Unrecht verdächtigt werde und dass die Angelegenheit gar nicht erst vor Gericht komme, wenn ein Dritter die eigene Aussage bezeuge. In diesem Fall würde die Polizei ihre Recherchen bald einstellen.102 Wie oft es Verdächtigen gelang, die Ermittlungen durch eine solche aktiv herbeigeführte falsche Aussage zu unterbinden, ist naturgemäß nicht zu ermitteln – sind derartige Versuche doch nur dann aktenkundig, wenn sie scheiterten. Eine zweite, deutlich weitergehende Möglichkeit, eine Aussage abzuwenden, war es, bekannte Zeuginnen und Zeugen einzuschüchtern bzw. zu bedrohen. Josef Fichtl griff dabei dezidiert auf die Kenntnisse zurück, die er in seinen Vernehmungen gewonnen hatte,103 Anton Schmidts Mutter reichte bereits eine vage Ahnung von der potentiell gefährlichen Aussage einer Nachbarstochter, um diese einzuschüchtern.104 Die für alle sichtbare Drohung Winklers gegenüber Sophie Masch über die Zeitungsannonce stellte nur eine Extremform der Einschüchterung dar. Hörmüller selbst hatte zuvor bereits deutlich zu erkennen gegeben, dass sich Sophie Masch vor ihm in Acht nehmen sollte und ihr dies auch durch einen Boten ausrichten lassen. Zu einer persönlichen Drohung kam es dabei wie in anderen Fällen

98 Vgl. Kap. III.3.2. 99 Dass.: 48/1898, Brief vom 30.7.1898; StAA LG A - SK: 382/1891, Vernehmung der A.W. am 29.5.1891. 100 StAA LG Ke - SK: 48/1898, Vernehmung des J.S. und des K.G. am 29.7.1898. Zur Zurückhaltung der Zeugen: Kap. III.1.1.3. 101 StAA LG A - SG: 33/1894, Vernehmung des G.B. am 28.2.1894. 102 StAA LG Ke - SK: 192/1900. 103 Vgl. auch die Darstellungen bei dass.: 83/1901, Vernehmung des J.H. am 23.8.1901. 104 Dass.: 21/1902, Vernehmung der C.K. am 17.6.1902.

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allerdings nicht.105 In der Tat hatte seine zumindest gewaltbereite Drohung soweit Erfolg, dass sie ihr Wissen einige Wochen für sich behielt. Einschüchterungen können angesichts der zurückhaltenden Haltung zahlreicher Zeuginnen und Zeugen grundsätzlich als wirkmächtig angesehen werden. Auch die hohe Einstellungsrate deutet darauf hin, dass es häufig an Beweisen – und damit auch Aussagewilligen – fehlte, um eine Anzeige in eine Anklage zu überführen. Bei den Einschüchterungen handelte es sich erkennbar um keine zufälligen Begegnungen. Nur selten äußerten Zeugen, sie hätten ihre Aussage nur geändert, weil sie der Angeklagte im Gerichtssaal so »angelugt« und »gedauert« habe und sie an dessen Verurteilung nicht schuld sein wollten.106 In der Regel kam es zu derartigen Gesprächen bei gezielten Besuchen.107 Die eigene Glaubwürdigkeit stellte dabei einen sensiblen Angriffspunkt dar. Anton Schmidt wurde durch Dritte zugetragen, dass Fidel Steck ihn »meineidig machen« wolle, und Schmidt fasste dies offenkundig als Drohung auf, die er zurückwies.108 Jemanden »meineidig zu machen« bedeutete, durch weitere Zeugen dafür zu sorgen, dass der fragliche Zeuge vor Gericht unglaubwürdig erschien und in die Gefahr geriet, seinerseits wegen Meineides angeklagt zu werden: »Wenn du es sagst, dann lasse ich […] Untersuchung einleiten u habe noch Zeugen, die sagen, sie wissen es [= den fraglichen Vorfall, d. Vf.] nicht, dann wird dir nicht geglaubt u dann kannst doch noch meineidig werden.«109

Die Drohung des Meineidig Machens war verbreitet und wurde von den Betroffenen durchaus ernst genommen.110 Es erscheint auf den ersten Blick naheliegend, dass Mitglieder der Dorfelite wie Michael Fleschutz mehr Zeuginnen und Zeugen als der relativ prekär lebende Ökonom Fidel Steck für sich gewinnen konnten. Gleichzeitig müsste ein als gewalttätig und unberechenbar geltender Verdächtiger wie Konrad Hörmüller viele Personen dazu bewegt haben, sich aus dem Konflikt herauszuhalten. Die Frage war jedoch nicht nur, wer das höhere Einkommen besaß, sondern auch, wer besser in die Dorfgemeinschaft integriert war, wer welche Verwandtschafts- und Freundschaftsnetzwerke hatte, wessen Betrieb die begehrteren Arbeitsplätze bot, wer als Gendarm oder Lehrer eine besondere Autoritätsperson darstellte,111 wer wem Geld schuldete oder sich mit wem schon mal geprügelt hatte. 105 StAA LG Ke - SK: 42/1891, Vernehmung der S.M. am 23.4.1891. Vgl. auch: dass.: 97/1906, Urteil vom 19.12.1906. 106 Vgl. die Darstellung des A.S. in diversen Vernehmungen dass.: 21/1902. 107 Dass.: 124/1890, Vernehmung des J.M. am 20.12.1890; dass.: 21/1902, Vernehmung der C.K. am 17.6.1902. 108 Vgl. ebd., Vernehmung der C.K. am 17.6.1902. 109 StAA LG A - SG: 102/1895, Vernehmung des M.H. am 25.8.1895. 110 StAA LG Ke - SK: 97/1906, Urteil vom 19.12.1906; dass.: 28/1899, Gendarmerieberecht vom 23.5.1899; StAA LG A - SG: 102/1895. 111 In einem Konflikt mit dem Gendarmen soll ein Zeuge behauptet haben, er sage wider besseren Wissens lieber für den Gendarmen aus, vgl. dass.: 33/1894, Hauptverhandlung am 14.6., Vernehmung des J.B. am 19.2.1894.

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Kurz gesagt: Die sozialen Beziehungen waren multirelational und konnten sich gegenseitig kompensieren. Steck und Schmidt hatten vor Ort ein Netzwerk zur Verfügung, dass jenem der gegnerischen Partei sozial relativ unterlegen war. Die dörfliche Elite – soweit sie involviert war – stand ihnen entgegen. Gleichzeitig vermochte Steck eine Anzahl Auswärtiger zu mobilisieren, die zu seinen Gunsten aussagten. Dass diese zum Teil relativ spät, nämlich erst in der zweiten Meineidsuntersuchung 1903, auftauchten, spricht für deren aktive Anwerbung. Steck gelang es also, sein über das Dorf hinausgehendes soziales Netzwerk zu aktivieren, um seine lokale Unterlegenheit zu kompensieren.112 Denn für die gerichtliche Untersuchung war die Anzahl und Glaubwürdigkeit der Aussagen, nicht aber die soziale Position innerhalb Obs bedeutsam. Auswärtige Zeuginnen und Zeugen boten damit eine Möglichkeit, in lokalen Konflikten Macht zu gewinnen. Sobald nicht mehr die Dorfgemeinschaft oder der lokale Bürgermeister in einen Konflikt moderierend eingreifen sollten, sondern einer externen Stelle wie dem Gericht die Entscheidung zufiel, wuchsen die Chancen des lokal Unterlegenen. Hierin ist eine Begründung dafür zu sehen, dass gerichtliche Verfahren gerade für sozial relativ niedere Schichten eine besondere Attraktivität hatten. Gleichzeitig dürften Drohungen, jemanden »meineidig machen« zu wollen, besonders eindrucksvoll gewesen sein, wenn dem Drohenden zuzutrauen war, falsche Aussagen zu mobilisieren. Dies musste konnte gerade bei Personen der Fall sein, die als zwielichtig galten. Festzuhalten bleibt, dass Zeuginnen und Zeugen durch soziale Abhängigkeiten, Loyalitäten oder Furcht dazu gebracht werden konnten, ihre Aussagen zu verändern. Dadurch war es Verfahrensbeteiligten auf vielfache Weise möglich, den weiteren Verlauf des Verfahrens in ihrem Sinne zu beeinflussen. Grundlegend hierfür war, dass durch das örtliche Gerede und die Vernehmungstechniken frühzeitig ein Wissen darüber bestand, welche Beweise vorlagen und welche gestärkt oder geschwächt werden mussten. Hierbei kam es nicht zu einer eindimensionalen Reproduktion sozialer Machtverhältnisse, sondern den Akteure gelang es, konkurrierende Kapitalsorten einzusetzen, um ihr Ziel zu erreichen. Einfluss in den Verfahren hing somit davon ab, dass man seine Position geschickt zu nutzen wusste. Das aktive Anwerben weiterer sowie das Einschüchtern potentieller Zeugen bewegte sich juristisch betrachtet jedoch in einem Grenzbereich und war damit immer mit der Gefahr der Sanktionierung verbunden.

112 Vgl. dazu ausführlicher Ortmann: Jenseits von Klassenjustiz, S. 640–643; zur Quellengrundlage siehe oben.

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4.3 Die Gefahr selbstbewussten Prozessierens Das selbstbewusste Agieren gegenüber polizeilichen oder gerichtlichen Personen zeigt, dass ›Laien‹ mit den Regeln der Justiz vertraut waren und sie ihre Interessen soweit wie möglich durchzusetzen versuchten. Sie überließen es nicht den Juristen, das Verfahren zu führen, sondern hatten den Anspruch, daran aktiv mitzuwirken. Sie nutzten die Anzeigen, Vernehmungen und Verhöre, um Informationen gezielt zu streuen oder zu erhalten. Zahlreiche Wege, Prozesse zu beeinflussen, wichen dabei von den juristisch vorgesehenen Mitteln ab und waren den Berufsjuristen daher suspekt. Es erscheint auf den ersten Blick daher paradox, dass es für ›Laien‹ vor Gericht gefährlich werden konnte, wenn sie sich mit juristischen Logiken zu gut auskannten und ihre Rechte auf klassisch juristischen Wegen selbstbewusst einforderten. Auf den zweiten Blick löst sich das Paradoxon hingegen auf. Berufsjuristen sahen in selbstbewussten und informierten Angeklagten – diese waren den Juristen eh verdächtig113 – oder Klägern Störenfriede, weil diese sich nicht in ausreichendem Maße ihrer Autorität unterwarfen. Besonders hartnäckiges Agieren seitens der ›Laien‹ beinhaltete in der Regel Kritik am Vorgehen der Juristen und wurde als Beleidigung und als »Querulantentum« diffamiert. Diese Form der Repression konnte von den ›Laien‹ aber wiederum genutzt werden, um eine neue Verhandlung zu erwirken.

4.3.1 Die beleidigende Beschwerde Der leitende Staatsanwalt am Landgericht Augsburg stellte im Juni 1894 gegen den 60-jährigen Eugen Seibert einen Strafantrag wegen Beleidigung, weil dieser der Staatsanwaltschaft »ungeheuerliche Parteilichkeit« vorgeworfen hatte, als sie seinem Strafantrag nicht nachgehen wollte.114 Einige Wochen später wandte Seibert sich mit einem Brief an das Amtsgericht und beklagte, dass der von ihm erhobene Vorwurf berechtigt und Teil seiner Beschwerdeschrift gewesen sei und daher nicht Grundlage einer Beleidigungsklage werden dürfte. Denn es drohe, dass »durch ein so verkehrtes Verfahren zum Schaden des Staates jede Beschwerde über ›Mißbrauch der Amtsgewalt‹ unterdrückt werden« wird.115 Dennoch kam es in dem Verfahren zur Anklage. Diese gerichtliche Auseinandersetzung stellte die vorläufige Spitze eines sechsjährigen Konflikts dar. Um gegen eine ehrengerichtliche Aberkennung seines Offizierstitels vorzugehen, hatte Eugen Seibert vor mehreren Gerichten geklagt, eine kaum überschaubare Anzahl an Beschwerdebriefen und Zeitungsartikeln verfasst und sogar das Bayerische Justizministerium und den Bundesrat eingeschaltet.116 113 114 115 116

Vgl. Kap. III.2.2.1. Vgl. StAA LG A - SK: 480/1895, Strafantrag vom 25.6.1894. Ebd., Schreiben des E.S. vom 19.8.1904. Ebd., v.a. Vernehmung des E.S. am 18.8.1894; Schreiben des E.S. vom 9.11.1895.

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Seibert hatte gegen seine Anwälte, Staatsanwälte und Richter geklagt und konstatierte, dass wesentliche Entscheidungen gegen ihn aufgrund eines formellen oder inhaltlichen Fehlers gefallen seien. Die zeitgenössischen Juristen bescheinigten Seibert schließlich »Verfolgungswahn, […] Excessivität und Unzurechnungsfähigkeit«. Auffallend ist dabei, dass Seibert juristisch argumentierte. Anstatt auf falsche Gesetze oder sein Gerechtigkeitsgefühl zu verweisen, warf er den Juristen mit detaillierten Hinweisen auf Paragraphen und Gesetzeskommentare vor, das geltende Recht falsch anzuwenden.117 Seine Anträge wurden von den Juristen durchaus zur Kenntnis genommen: Der Vorsitzende der Strafkammer am Landgericht Augsburg ließ den angesetzten Termin zur Hauptverhandlung zunächst sogar absagen, als ihm Seibert mitteilte, dass er Beschwerde beim Bundesrat eingelegt hatte.118 Aus juristischer Sicht handelte Seibert legitim. Durch sein hartnäckiges Insistieren hatte er sich aber in den Augen des Staatsanwaltes einer Verleumdung schuldig gemacht. Schließlich unterstellte seine Beschwerde, dieser habe versucht, jemanden »rechtswidrig der gesetzlichen Strafe zu entziehen«. Dieser Vorwurf sei aber nicht nur geeignet, »die Beamten der Staatsanwaltschaft verächtlich zu machen«, sondern auch »eine strafrechtliche Verfolgung derselben wegen Verbrechens im Amte […] herbeizuführen.«119 Der Vorwurf, einer der Juristen habe sein Amt nicht korrekt ausgeübt, wurde umgehend als Beleidigung aufgefasst, die nach einschlägiger Ehrlogik in adäquater Weise zurückzuweisen war. Selbst eine Beschwerde, die privat an den eigenen Anwalt gerichtet worden war, konnte als ehrverletzend betrachtet werden.120 In einem anderen Fall führte gar eine offiziell erstattete Anzeige zur Gegenklage wegen Beleidigung. Jakob Wennemann hatte sich darüber empört, dass der Kemptener Staatsanwalt Walch in seiner Anklageschrift erklärt hatte, dass der von Wennemann angeblich geleistete Meineid »aus der Persönlichkeit des W[ennemann] selbst erklärlich« sei. Dieser erblickte hierin eine schwere Beleidigung, gegen die er sich durch eine Strafanzeige zur Wehr setzte. Der zuständige Augsburger Staatsanwalt Hab wies den Strafantrag mit dem Hinweis zurück, es handele sich bei den Bemerkungen um eine sachgemäße Erörterung, die formal keine Beleidigung darstellen könne. Wennemann protestierte erfolglos und zeigte den Augsburger Staatsanwalt Hab ebenfalls an, da er sich die beleidigenden Äußerungen durch seine Antwort zu Eigen gemacht habe. Anstatt im Zuge des Klageverfahrens erneut juristisch feststellen zu lassen, dass Wennemanns Vorwurf ungerechtfertigt sei, verteidigten die angegriffenen Staatsanwälte ihre berufliche Ehre mit reziproken Mitteln: Sie erstatteten Anzeige wegen Beleidigung und falscher Anschuldigung.121

117 118 119 120 121

Exemplarisch ebd., Schreiben des E.S. vom 9.11.1895. Ebd., Randnotiv auf Schreiben des E.S. vom 9.11.1895. Vgl. ebd., Strafantrag vom 25.6.1894. Vgl. unten Vgl. StAA LG Ke - SK: 343/1905, insbesondere Schreiben des J.W. vom 17.2.1905. Zur Rechtslage: Goldberg, u.a. S. 183.

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Ann Goldberg hat mit Blick auf Preußen betont, dass die Beamten des Kaiserreichs zunehmend verunsichert auf die auch in der Massenpresse formulierte Kritik am Staat sowie auf Beschwerden und Petitionen reagierten. Sie schildert, dass die Beleidigungsklage einerseits zum politischen Instrument der Repression wurde, dass sie aber andererseits aus der zeitgenössischen Ehrlogik heraus nahezu automatisiert von Vorgesetzten eingesetzt wurde. Unabhängig davon, ob der Betroffene sich beleidigt sah, schien es die Standes- und Staatsehre zu erfordern, die erhobenen Vorwürfe scharf zurückzuweisen.122 Das Verhalten der bayerischen Staatsanwälte scheint mit dieser Tendenz in Einklang zu stehen. Dabei zeigt sich am Beispiel Wennemann, dass der Verfolgungseifer unter den Juristen ungleich verteilt war: Der Vorgesetzte des Staatsanwaltes Walch, der Präsident des Oberlandesgerichtes,123 sah auf Nachfrage keinen Anlass, die Beleidigungsanzeige seines Untergebenen zu unterstützen.124 Und auch die Strafkammer des Landgerichts Kempten sowie das Oberlandesgericht Augsburg hielten es nicht für geboten, das Verfahren gegen Wennemann zu eröffnen. Denn seine Eingaben würden sich »nicht durch eine allzu große Schärfe in der Erfassung der Rechtslage« auszeichnen, was zeige, dass Wennemann trotz seiner Selbstbezeichnung als Rechtskonsulent über keine guten Jurakenntnisse verfüge und sich daher aus Unwissenheit so verhalte.125 Er habe einfach verkannt, dass das scharfe Urteil in der Anklageschrift unter den Umständen des behördlichen Handelns formal keine Beleidigung darstellen könne – selbst wenn es in einem anderen Kontext den Tatbestand erfüllt hätte. Wennemann hätte sich daher irrigerweise im Recht gesehen, als er die Anzeige wegen Beleidigung erstattet hatte. Anders als der Staatsanwalt sahen die Richter darin dann auch ein grundsätzlich legitimes Vorgehen. Damit unterschied sich das Vorgehen Wennemanns und Seiberts in einem maßgeblichen Punkt von jenen zahllosen Beschwerden, die ihre Mitbürger an den Bayerischen Landtag schickten, um sich in der Tradition der Gravamina gegen konkrete Gerichtsverfahren zu wehren,126 richteten sie sich formal doch an Zuständige und konnten nicht einfach wegen Unzulässigkeit abgewehrt werden. Hartnäckigkeit, Selbstbewusstsein und juristisches Wissen wurden von den Juristen offenbar mit Skepsis betrachtet, selbst wenn sie in den vorgesehenen Rechtswegen vorgebracht wurden. Diese Beschwerden über juristische Handlungen und Urteile fassten sie als unangemessene Kritik auf, die umso gefährlicher 122 Vgl. Goldberg, Abschnitt 3. 123 Walch war inzwischen zum stellvertretenden Memminger Landgerichtsdirektors befördert worden. 124 Vgl. StAA LG Ke - SK: 343/1905, Briefwechsel vom 20.7. bis 22.7.1905. 125 Ebd., Strafkammerbeschluss Kempten vom 2.10. und Beschwerdeabweisung am 2.11.1905. 126 Bei diesen Petitionen oder Beschwerden handelte es sich um ein Massenphänomen: Von 433 Beschwerden, die 1879–1924 an den Landtag in München geschickt worden waren, befassten sich gut 200 mit konkreten Vorwürfen gegen Urteile oder die Verfahrensführung einzelner Juristen. Die Petitionen sind von Götschmann katalogisiert. Die vorliegende Auswertung beruht auf einer Durchsicht aller Einträge auf der zugehörigen Internet-Plattform des Landtages: https://www.bayern.landtag.de/parlament/parlamentsgeschichte/petitionen-1872-bis-1918/ (16.04.2014). Vgl. zur frühneuzeitlichen Tradition Härter.

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war, je juristischer argumentiert wurde. Schnell sahen sie darin den Vorwurf, ihr Amt nicht korrekt auszuüben, und verstanden dies als Beschädigung ihrer beruflichen Ehre, die es zu verteidigen galt. Die daraus resultierenden Beleidigungsklagen trafen im Ergebnis genau jene Bürger, die sich als besonders selbstbewusst und juristisch informiert zeigten. Fachwissenschaftliche Kenntnisse erwiesen sich damit als ambivalent. Während Beschwerden einerseits durchaus ernst genommen wurden, konnten sie sich gerade dadurch negativ auswirken, dass sie Kenntnisreichtum zeigten. Die kritisierten Juristen konnten diese Vorwürfe nicht pauschal zurückweisen, sondern mussten fürchten, dass sie ihnen tatsächlich schaden könnten. Gerade eine potentiell berechtigte Forderung war gefährlich. Milde und Nachsicht konnten nur erhofft werden, wenn die Juristen die Kenntnisse des ›Laien‹ als gering und dessen Handeln als irrtümlich einschätzten.

4.3.2 Die Pathologisierung der Beschwerde Das Phänomen, seine Beschwerden weiterzuführen, obwohl die Justiz das Verfahren abgeschlossen hatte, und dabei den handelnden Juristen Fehlverhalten vorzuwerfen, bildete seit dem 18. Jahrhundert den Kern des pathologisierten »Querulations«-Vorwurfes. Die Allgemeine Gerichtsordnung für Preußische Staaten von 1793 hatte festgelegt: »Diejenigen Parteien, welche sich der vorgeschriebenen Ordnung nicht unterwerfen, sondern entweder Kollegia […] mit offenbar grundlosen und widerrechtlichen Beschwerden gegen bessere Wissenschaft […] belästigen […], sollen als mutwillige oder boshafte Querulanten angesehen, ihnen der Prozess gemacht und über ihre Bestrafung rechtserkannt werden.«127

Von Beginn an war damit ein aus juristischer Perspektive unsinniges, hartnäckiges und lästiges Verhalten, das die Justiz zu beleidigen drohte, als deviant etikettiert worden.128 Im juristischen Sinne war der Rechtsweg an sein Ende gelangt, wodurch auch ein Beitrag zur Rechtssicherheit geleistet werden sollte, indem ewige Klageketten verhindert wurden. Nicht zuletzt die dargelegte Nutzung der Gerichte durch Meineidsanzeigen und Beleidigungsverfahren zeigt aber, dass sich die Betroffenen mit den Urteilen häufig unzufrieden zeigten und versuchten, auch weiterhin gerichtlich um ihr Anliegen, ihre Ehre oder ein zufrieden stellenderes Verfahren zu kämpfen.129 Im Untersuchungszeitraum wandelte sich diese von Juristen herrührende Beschreibung zu einem psychiatrischen Krankheitsbegriff, der insbesondere von 127 Zit. nach: Koch/Dinger-Broda, S. 251, die darin die früheste Definition sehen. 128 Vgl. zur Querulanz als sozial konstruiertem Etikett aus rechtssoziologischer Sicht ebd.; Blankenburg, S. 205, hält es hingegen für ein pathologisches Phänomen, weist dabei aber dem Rechtssystem eine Mitschuld zu. 129 Zur Gegenüberstellung von »Rechtssicherheit« und »Querulanz« vgl. Peters: Reaktion und Wechselspiel, v.a. S. 457 f.

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dem Psychiater Richard von Krafft-Ebing vertreten wurde. Neben einen übersteigerten Gerechtigkeitssinn träte ein starkes Geltungsbedürfnis und ein aggressives Verhalten, das sich in beleidigenden Schriftsätzen zeige. Die »Querulanten« seien hartnäckig und ausdauernd in ihrer Schreibwut, zeigten dabei ein uneinsichtiges und misstrauisches Verhalten. Entsprechend der jeweiligen Forschungslage galt die Krankheit als Form einer Affektanomalie, als Paranoia oder seit den 1920ern als Persönlichkeitsstörung.130 Da sich unter den als »Querulanten« angesehenen justizkritischen Personen häufig Menschen mit hoher Bildung und guten Jurakenntnissen befanden, rief die Pathologisierung des Phänomens Widerstand in der bürgerlichen Öffentlichkeit hervor. Im Rahmen der Psychiatriekritik um 1900 wurde insbesondere die diagnostische Grundlage infrage gestellt.131 Die Krankheit diene Justiz und Psychiatrie dazu, unbequeme Personen oder zu Unrecht als geisteskrank Eingesperrte mit einer Diagnose zu etikettieren, die sie als deviant und ihr Anliegen als unhaltbar kennzeichne. Ein in den Gerichtsakten überliefertes Gutachten zeigt dabei, dass die Ärzte in erster Linie anhand der juristischen Logiken argumentierten. Die Begutachtung hatte sich hier auf ein kurzes Gespräch beschränkt. Die wesentliche Grundlage für das medizinisches Urteil bildete die Strafprozessakte, die zwangsläufig der juristischen Logik folgte und Anmerkungen von Juristen enthielt, die das Verhalten des Angeklagten, der nun zum Patienten geworden war, als unangemessen und nicht-normal definierten. Auch der Arzt legte bei seiner Bewertung juristische Kriterien an: Wesentlich war für ihn, dass der Angeklagte sich mit dem vorgegebenen juristischen Wege nicht zufrieden gegeben hatte. Dass er weiterhin eine Korrektur des Urteils anstrebte, hätte den juristisch gezogenen Rahmen gesprengt und stellte die entscheidende Grenzüberschreitung dar.132 Obwohl das Verfahren damit nach Paragraph 51 des Reichsstrafgesetzbuchs wegen Unzurechnungsfähigkeit einzustellen war, gab sich der stellvertretende Kemptener Landgerichtspräsident Karl mit dem Ergebnis zufrieden: Die Etikettierung als geisteskrank machte den offenbar als Störenfried empfundenen Angeklagten gerichtlich ungefährlich.

4.3.3 Partizipation trotz Repressionsansätzen Es kann also analog zu den Reaktionen auf die mediale Justizkritik davon ausgegangen werden, dass ein Teil der Juristen des Kaiserreichs es als unangemessenes Verhalten ansah, wenn an ihrer Verfahrensführung Kritik geäußert wurde. Anstatt sich mit den Urteilen zufrieden zu geben, schienen die ›Laien‹ unnötigerweise die Gerichte zu belästigen und dabei den Berufsstand der Juristen zu beleidigen. Die Beleidigungsklage erschien als das naheliegende Mittel, die eigene Ehre sowie das Ansehen der staatlichen Institution zu verteidigen. 130 Nolte, S. 104; Koch/Dinger-Broda, S. 251 f. 131 Zur Psychiatriekritik des »Querulantentums« vgl. Nolte, S. 104–108. 132 StAA LG Ke - SK: 19/1915, Gutachten vom 6.6.1915.

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Abweichend von der publizistisch geäußerten Klage, dass die ›Laien‹ zu geringe Fachkenntnisse besäßen und dieser Missstand durch bessere Schulungen behoben werden müsse, erwies sich zur Schau gestelltes juristisches Detailwissen in diesem Kontext als gefährlich. Derartige Beschwerden waren anders als die beim Landtag eingereichten Petitionen oder pauschale Vorwürfe an den juristischen Diskurs anschlussfähig. Sie konnten potentiell erfolgreich sein und drohten damit, den darin kritisierten Juristen gefährlich zu werden. Wo die Beleidigungsklage die Hartnäckigkeit der Betroffenen nicht minderte, erschien das als ›irrational‹ wahrgenommene Verhalten pathologisch zu sein. Fachkenntnisse wurden gar zu einem Element des Krankheitsbildes »Querulantentum« erklärt. Hier soll aber nicht nur die repressive Seite einer Justizpraxis betont werden, die gegen Kritiker juristisch vorging. Der eingangs dargelegte Fall von Eugen Seibert zeigt, dass sich die Bevölkerung auch diese juristische Form aneignete und zunutze machte. Denn es drängt sich der Eindruck auf, dass Seibert durch seine früheren Prozesse mit der Logik der Beleidigungsklage gut vertraut war und durch seinen Beschwerdebrief die erfolgte Anklage geradezu provozieren wollte oder zumindest in Kauf genommen hatte.133 Im Mittelpunkt eines solchen Verfahrens musste die Frage stehen, ob der von ihm erhobene Vorwurf des Amtsvergehens nicht doch berechtigt war. Seibert verwies gleich in seinem ersten Verhör im Rahmen des Beleidigungsprozesses auf diesen Umstand: Er habe nur eine »erweislich wahre Thatsache zum Ausdruck« gebracht, die durch seine früheren – zu Unrecht verlorenen – Verfahren auch belegt sei. Damit aber hätte er nicht bestraft werden dürfen. Er beantragte zur Beweisführung »die betreffenden Akten und Verhandlungen prüfen und würdigen zu wollen.«134 Und auch in seinen Schreiben machte er deutlich, dass er den »Wahrheitsbeweis« antreten wolle, dass er also die Richtigkeit seiner angeblich beleidigenden Vorwürfe nachweisen werde.135 Im Ergebnis würde er trotz des erschöpften Rechtsweges erreichen, dass sich ein Gericht erneut mit allen Fragen seiner früheren Verhandlungen beschäftigen müsste. Am Ende der faktischen Neuverhandlung im Rahmen des Beleidigungsverfahrens hätte möglicherweise ein Urteil stehen können, das ihm letztlich Recht gab und das damit die früheren letztinstanzlichen Urteile entwertet hätte. Eine derartige Nutzung der Ehrlogiken und juristischen Verfahren, die strukturell der Nutzung von Meineidsklagen glichen, machte sich das Wissen um die repressive Haltung der Justiz zu Eigen und gewann dadurch neue Handlungsspielräume. Ob Seiberts Taktik am Ende erfolgreich gewesen wäre, kann nicht beantwortet werden – er starb noch im Laufe der Ermittlungen.

133 Vgl. StAA LG A - SK: 480/1895, Strafregisterauszug, Artikel des Hofer Tageblattes vom 23.8.1895. In dem von ihm verfassten Artikel geht er ausgiebig auf die einschlägigen Strafgesetzparagraphen ein. 134 Ebd., Vernehmung des E.S. am 18.8.1894. 135 Ebd., Schreiben des E.S. vom 1.9. und 9.11.1895.

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Das aktive Prozessieren – ein Kapitelfazit Das Bild des ›Laien‹, das durch die Analyse der bayerischen Gerichtsakten entsteht, weicht deutlich von jenem ab, das die Juristen als Abgrenzung in ihrem Professionalisierungsdiskurs entwarfen. Der ›Laie‹ war nicht uninformiert, passiv oder hilflos und gab sich keineswegs damit zufrieden, sein Schicksal vertrauensvoll in die Hände der Berufsjuristen zu legen. Vielmehr wirkten die Nichtjuristen durch Anzeigen, Recherchen, Berichte oder etwa Zeitungsannoncen direkt auf das Verfahren ein. Sie nutzten dabei zum einen die juristisch vorgesehenen Mittel, wie eben formale Anzeigen. Insbesondere beim Meineid wurde jedoch deutlich, dass die Anzeige zu einem Zweck eingesetzt wurde, die vom Gesetzgeber nicht intendiert war – der sozialen Verteidigung der eigenen Ehre. Zum anderen beeinflussten die ›Laien‹ die Verfahren auch auf Wegen, die von den Juristen für das formale Verfahren nicht vorgesehen waren und daher schnell als Beleidigung oder unrechtmäßige Beeinflussung gedeutet wurden. Dies galt auch für den Grenzbereich der eigenständigen Recherchen, die zwar notwendig sein konnten, aber schnell als Versuch der Vertuschung oder Einschüchterung interpretiert wurden und dann nicht mehr dem juristischen Ideal entsprachen. Die soziale Machtstellung der Beteiligten wurde durch die Strukturen des Verfahrens einerseits reproduziert. Andererseits brachen lokale Machtverhältnisse durch die juristischen Relevanzkriterien in den Verfahren auch auf. Das Ziel in einem gerichtlichen Verfahren konnte daher auch darin liegen, einen Konflikt zu eskalieren, zusätzliche Macht zu gewinnen oder einen Disput in der Schwebe zu halten. Grundlage für dieses aktive Auftreten in den Prozessen war das breite Wissen der Bevölkerung über die Justiz. Da dieses aber mit dem juristischen Fachwissen nicht identisch war, wurde es von den Juristen zuweilen als unlogisch oder falsch zurückgewiesen. Anders als die Diskussionen in Teil I und II der Arbeit nahelegen, konnte sich umfangreiches und justiznahes Wissen für die ›Laien‹ jedoch als Nachteil erweisen. Denn die Juristen waren eher bereit, sich gegenüber Personen nachgiebig bei der Strafzumessung zu verhalten, die sie für unwissend hielten. Detaillierte Kenntnisse über Rechte und Pflichten im Strafrecht erschienen ihnen eher als Indiz für eine kriminelle Neigung. Hinzu kam, dass das selbstständige Einfordern eines Rechtes und die eigenständige Interpretation von Normen von den Juristen als lästig wahrgenommen wurden. Dies galt insbesondere, wenn es sich dabei um Beschwerden über juristisches Vorgehen handelte. Derart selbstbewusstes Auftreten wurde deshalb als nicht normal deklariert. Im Extrem führten Wissen und Hartnäcktigkeit daher zu einer abfälligen Pathologisierung als »Querulant«.

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5. ›Laien‹ zwischen Partizipation und Hemmnissen – ein Fazit

Das Gerichtsverfahren des Kaiserreichs war strukturell von Machtasymmetrien gekennzeichnet, die es insbesondere der bildungsfernen, weiblichen und ärmeren Bevölkerung erschwerte, ihre Rechte selbstständig wahrzunehmen. Dennoch hat die Analyse der Gerichtsakten gezeigt, dass ›Laien‹ insgesamt machtvoll in den Prozessen auftreten konnten. Der dritte Teil dieser Arbeit setzt daher den schematischen Aussagen zur Ohnmacht und Unwissenheit vor Gericht, wie sie sowohl von den Juristen als auch im Rahmen der Klassenjustizthese formuliert wurden, eine differenzierte Sichtweise entgegen. Der historische Blick auf eine Vielzahl alltäglicher Fälle im ländlichen Allgäu zeichnet dabei ein vielschichtigeres Bild, als es die vorherrschende Fokussierung auf wenige Skandalprozesse Berlins bislang vermochte. Dabei wurde die Prämisse der Arbeit bestätigt, dass das Allgäu von den allgemeinen Reformen und Diskussionen des Kaiserreichs nicht abgeschnitten war. Anders als die zeitgenössischen Debatten nahelegten, zeigte sich keine generelle Distanz der Bevölkerung gegenüber der Strafjustiz, die etwa aus Unwissenheit oder Furcht resultiert wäre. Ganz im Gegenteil, gerade die Anzeigepraktiken, aber auch das Verhalten im Verfahren belegen die zeitgenössische Bereitschaft, das Gericht als wichtigen Austragungsort eines Konfliktes zu nutzen. Die dabei verfolgten Ziele mussten jedoch nicht mit der juristischen Erwartungshaltung an einen Prozess einher gehen. Eine distanzierte Haltung gegenüber der Strafjustiz nahmen Personen – so ließ sich beobachten – nur dann ein, wenn sie von einem Konflikt nur mittelbar betroffen waren. Dann versuchten sie, sich aus der offiziellen Konfliktlösung herauszuhalten und etwa nicht als Zeuge oder Zeugin mitzuwirken. Ob diese Zurückhaltung jedoch allein aus der Furcht vor dem Gericht resultierte, kann bezweifelt werden. Eher wurden negative Folgen für die eigene soziale Stellung vor Ort befürchtet, wenn in einem Verfahren deutlich Position für eine der Parteien bezogen würde. Auch der von Juristen und religiösen Bewegungen zeitgenössisch bemängelte fehlende Respekt gegenüber der Justiz ließ sich nicht nachweisen. Vielmehr waren sich die ›Laien‹ der Konsequenzen eines Verfahrens und der dort herrschenden Wahrheitspflicht bewusst und mieden gerade auch deswegen die Zeugenschaft. Der vermeintliche Anstieg der Meineidsquote kann – zusätzlich zur unzureichenden Empiriebasis – nicht als Beweis für fehlenden Respekt bewertet werden. Eine 269

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Mehrzahl der Anzeigen resultierte nicht aus der Sorge um das Verfahren und war auch kein Indiz für eine zuvor erfolgte, leichtfertige Lüge. Die Meineidsanzeige war vielmehr eines der wenigen Mittel, die eigene Ehre trotz eines anders lautenden Urteils zu verteidigen. Jenseits dieses funktionalistischen Verhaltens zeigt sich damit, dass dem gefällten ersten Urteil sowie dem angestrebten zweiten Urteil eine hohe soziale Bedeutung zugeschrieben wurde. Das Wissen über die zentralen Kriterien und Abläufe der Justiz in der Bevölkerung bildete die zentrale Grundlage für die Interaktion im Verfahren. Wie schon bei der geheimen Voruntersuchung an öffentlichen Orten wurde auch bei der Durchführung der Vernehmungen von den Juristen unterschätzt, wie groß der Informationsgewinn für die Vernommenen sein konnte – und dass dieses Detailwissen gravierenden Einfluss auf das weitere Verfahren nehmen konnte. ›Laien‹ waren keinesfalls den Juristen ausgeliefert oder ohnmächtig, sie waren vielmehr informiert, beteiligt und wirkungsvoll in ihrem Handeln. Dabei bedienten sie sich zum einen jener Rechte, die die Juristen vorgesehen hatten. Sie erstatteten Anzeigen, schrieben Briefe und machten Aussagen. Die ›Laien‹ beschränkten sich jedoch nicht darauf, lediglich die von ihnen erbetenen Informationen einzureichen, sondern lenkten die Blickrichtung der Juristen. Insbesondere die Analyse der Meineidsanzeigen hat dabei gezeigt, dass die Strategie bei einem typisch juristisch erscheinenden Schritt einer überaus alltagsweltlichen Logik – hier der Ehre – entsprechen konnte, ohne dass den Juristen dies bewusst wurde. Zum anderen versuchten die Beteiligten, den Verlauf des dispute processings auf Wegen zu beeinflussen, die das Verfahrensrecht nicht vorsah oder gar kriminalisierte. Sie motivierten, beeinflussten und bedrohten potentielle Zeuginnen und Zeugen, um deren Aussagen und damit die Beweislage eines Verfahrens nachhaltig zu verändern. Sie aktivierten ihr Netzwerk, benutzten Zeitungsannoncen und Petitionen, um ihre Perspektive offiziell und öffentlich zum Ausdruck zu bringen und damit eine größere Macht im Aushandlungsprozess zu erlangen. Die sozialen Machtrelationen vor Ort waren für die Gerichtsverhandlungen von ambivalenter Bedeutung. Einerseits wurden sie in den Verfahren reproduziert, wenn Abhängigkeiten oder Furcht dazu führten, dass Anzeigen oder Zeugenaussagen unterblieben oder modifiziert wurden. Andererseits hatte die Eigenlogik der Verfahren auch eine kompensatorische Wirkung: Die Bewertung eines lokalen Konfliktes durch eine außenstehende Instanz, vor der die lokalen Machtpositionen formal keine Rolle spielen durften, bei der überregionale Netzwerke stärker zum Tragen kommen konnten als vor Ort und die im nicht-juristischen Sinne für demonstrative Ehrbekundungen genutzt werden konnte, ermöglichte es, die eigene Position im Vergleich zu den lokalen Verhältnissen zu stärken. Gerade für sozial schwächere Konfliktparteien bot das Gericht so eine Möglichkeit, die relative sozial schwächere Position zu kompensieren. In den Verfahren zeigte sich, dass das Wissen der ›Laien‹ über die Strafjustiz hoch und juristisch geprägt war. Dabei gilt es auch zu betonen, dass die großen Schnittmengen zwischen Juristen und Nicht-Juristen etwa in der Frage der Bewertung einer glaubwürdigen Aussage nicht allein durch die Rezeption juristischen Wissens 270

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durch die Bevölkerung bestimmt war. Vielmehr teilten Juristen und Nicht-Juristen kulturelle Wissensbestände darüber, wodurch etwa Personen sich verdächtig machten und welches Verhalten ihnen vertrauenswürdig erschien. Hierdurch war eine Interaktion zwischen Juristen und Nicht-Juristen in den Verfahren erst möglich – sie bildete die Verständigungsgrundlage. Die Klage der Juristen über die öffentliche Kritik und das Abwehren von offiziellen Beschwerden waren ja gerade deswegen notwendig, weil auch aus juristischer Perspektive die darin enthaltenen Vorwürfe in einem Maße anknüpfungsfähig an die eigene Logik waren, dass sie nicht pauschal als ungefährlich und falsch abgetan werden konnten. Denn das selbstständige Agieren von ›Laien‹ stieß schnell gegen Mauern, wenn es aus Sicht der Juristen nicht vollständig der ›richtigen‹ Logik entsprach. Trotz ihres vielfachen Klagens über das mangelhafte Fachwissen der ›Laien‹ zeigten sich die Juristen gerade durch dezidierte Kenntnisse und selbstbewusst auftretende Bürger irritiert. Beinhaltete ein derartiges Auftreten Kritik an ihnen, so reagierten die Juristen flexibel mit einer Anpassung der Sanktionsmöglichkeiten. Sie kriminalisierten und pathologisierten kritische Beschwerden, konnten diese aber dennoch nicht verhindern. Auch wenn das individuelle Wissen die strukturelle Benachteiligung der ›Laien‹ im Verfahren nicht vollständig kompensieren konnte, erwiesen sich diese als überaus aktive Teilnehmer eines Prozesses. Die damit verbundene Macht und Teilhabe wurde von den zeitgenössischen Juristen jedoch weitgehend übersehen.

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Zusammenfassung: Staatsbürger vor Gericht

Der Berliner Rechtsanwalt Fritz Friedmann begründete den in der Einleitung zitierten, von ihm verfassten Rechtsratgeber 1897 mit der fehlenden Kenntnis, die selbst in der gebildeten Bevölkerung vorherrsche. Dabei – so warnte Friedmann sein bürgerliches Publikum – komme es gerade auf dem Gebiet der Strafjustiz zum »härteste[n] und gefährlichste[n] Kampf zwischen der Gewalt der Staatsorgane und dem Bürger.«1 Friedmanns Einschätzung einer Sphärentrennung zwischen Strafjustiz und Bevölkerung, zwischen Staat und Gesellschaft, ist typisch für die zeitgenössische Debatte und bildete den Ausgangspunkt der Kulturgeschichte der deutschen Strafjustiz . Sowohl Juristen als auch die justizkritischen Bewegungen gingen davon aus, dass Nichtjuristen aufgrund fehlender Kenntnisse und Kompetenzen in den Verfahren eine passive und nahezu ohnmächtige Rolle einnahmen. Die von den Juristen definierten Regeln und Logiken wurden als alleingültiger Maßstab herangezogen, alle konkurrierenden Deutungen und Handlungsweisen galten entsprechend als defizitär oder sachfremd. In Übereinstimmung mit dieser Denkfigur bemängelten die Emanzipationsbewegungen, dass gerade Arme und Bildungsferne ohne anwaltlichen Beistand vor Gericht kaum erfolgreich sein könnten, da sie sich nicht hinreichend angemessen zu verhalten wüssten. Die Berufsjuristen unterstrichen im Kaiserreich durch die neue Verwendung des Begriffs des ›Laien‹, dass zwischen ihnen und allen anderen Beteiligten ein Kompetenzgefälle läge und nur sie wirklich geeignet wären, Justiz zu betreiben und zu beurteilen. Die vorliegende Studie hat jedoch mithilfe einer Untersuchung der juristischen und nicht-juristischen Diskurse auf Reichsebene sowie einer auf Bayern und das Allgäu zugespitzten Analyse von Praktiken und Logiken gezeigt, dass sich im Kaiserreich und der frühen Weimarer Republik »machtvolle Verhandlungen« in der Strafjustiz beobachten ließen: In den Strafprozessen wurden innergerichtliche Machtpositionen verhandelt; dieselben statteten ihrerseits die Akteure mit zusätzlicher Macht im dispute processing und den zugrundeliegenden sozialen Konflikten aus, und die ›Laien‹ waren im Umgang mit der Justiz keineswegs ohnmächtig und passiv, sondern zuweilen durchaus machtvoll. Darüber hinaus spielten auch und gerade in der rechtspolitischen Verhandlung über die Strafjustiz Fragen der gesellschaftlichen Machtverteilung eine zentrale Rolle. Denn im Strafgericht treffen Staat 1 Friedmann: Was darf ich?, Vorwort.

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und Bevölkerung unmittelbar und in einem juristisch geprägten, hierarchischen Verhältnis aufeinander, wodurch die Ausgestaltung der Strafverfahren immer auch direkt die Frage von individuellen Grundrechten betrifft. Nicht zuletzt wurde an diesem Beispiel pars pro toto die Mitwirkung gesellschaftlicher Gruppen an der Ausgestaltung und Ausübung staatlicher Macht verhandelt. Auch wenn sich die juristische Konzeption des Verfahrens mit ihrer Ausdifferenziertheit, der Logik und Terminologie deutlich von Alltagstexten über das Thema Strafjustiz unterschied, war der juristische Fachdiskurs keineswegs so autark, wie das von Friedmann evozierte Bild Glauben machte. Denn die Berufsjuristen waren als Einzelpersonen wie als Gruppe religiös oder säkular, liberal oder konservativ eingestellt, lasen Zeitungen und Romane, praktizierten mehrheitlich bürgerliche Lebensformen und lebten im Rahmen der zeitgenössischen Geschlechterrollen. Ihre Handlungen und Texte waren entsprechend geprägt, und auch der Fachdiskurs war durch literarische Interdiskurse, bürgerliche Geschlechterstereotype und religiöse Argumentationsweisen beeinflusst. Gleichzeitig waren juristische Themen in der breiten Bevölkerung präsent, beschäftigten alle wesentlichen politischen Gruppen des Kaiserreichs und nahmen selbst in den Lokalzeitungen einen prominenten Platz ein. Auch durch persönliche Erfahrungen mit der Strafjustiz verfügte die Bevölkerung über ein recht scharf umrissenes Bild der Justiz. Dieses Bild war im Vergleich zum juristischen Diskurs angereichert mit Fragen des Klassenkampfes, der Frauenemanzipation oder der völkischen Ideologie, folgte aber im Wesentlichen gleichen Grunddefinitionen. Die bei Friedmann angeführte Trennung einer juristischen von einer gesellschaftlichen Sphäre lässt sich so nur als zeitgenössische Fiktion verstehen. Sie resultierte wesentlich aus der juristischen Logik selbst und wurde durch den zeitgenössischen Professionalisierungsdiskurs der Juristen verschärft. Neben dem Drang, sich als Berufsgruppe zu definieren und gegen ›Laien‹ abzugrenzen, trug dazu vor allem ein juristischer Tunnelblick bei, der alle Handlungen ausblendete, die weder dezidiert strafbar noch idealtypisch vorgesehen waren. Das Beispiel der faktischen Öffentlichkeit der Voruntersuchung hat signifikant gezeigt, wie die juristische Konzeption von Geheimnis, Diskretion und Öffentlichkeit bis in die Details der Raumgestaltung durchdacht war und dennoch wesentliche Folgen aus dem Blick verlieren konnte. Gleiches gilt für die aufgezeigten Formen der Beeinflussung von Prozessen, die nicht durch das Verfahrensrecht vorgesehen waren – etwa die Kommunikation über eine Zeitungsannonce. Das Primat der Form, wie es die juristische Logik durchzog, führte dazu, dass nicht zur Kenntnis genommen wurde, was nicht zuvor definiert worden war. Diese juristische Perspektive, die das Handeln der ›Laien‹ entweder ausblendete oder als sachfremd diffamierte, wenn es nicht exakt den Erwartungen entsprach, ist bis heute wirkmächtig bei der historischen Einschätzung, welche Rolle ›Laien‹ in der Strafjustiz des Kaiserreichs spielten. Denn das Schweigen der Juristen in ihren Texten über einen Teil der Handlungsformen, die einen Prozess beeinflussen konnten, hat dieselben weitgehend dem Blickfeld der historischen Analyse entzogen. Hinzu kommt, dass auch die historische Forschungsliteratur juristische Maßstäbe 274

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bei der Bewertung anlegt: Erfolgreich erscheinen Handlungen zumeist dann, wenn sie etwa zu einem Freispruch führten. Um aber die Strafjustiz kulturhistorisch mitsamt ihren Machtverhältnissen und unterschiedlichen Perspektiven zu bewerten, können die zeitgenössischen Juristen nicht Beobachtungsgegenstand und -maßstab in einem sein. Daher war es notwendig, die juristische Logik zunächst zu dekonstruieren, die juristischen Texte auf konkurrierende Perspektiven zu untersuchen und durch solche Texte zu ergänzen, die nicht dem juristischen Fachdiskurs entstammten. Indem die Agency der Akteure in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt, die Beobachtungsebenen miteinander verknüpft und analytisch sowie narrativ die Multiperspektivität der zeitgenössischen Ereignisse und der Quellen berücksichtigt wurden, konnten die Strafjustiz und die Machtverhältnisse im Kaiserreich neu bewertet werden. Die in der Studie auf mehreren Ebenen aufgezeigte Verwobenheit von Justiz und Gesellschaft unterstreicht deutlich die erste der hier vertretenen Thesen: Im Gericht und in der Rechtspolitik ließ sich ein Verhandeln um Macht zwischen den um ihre Elitenstellung ringenden, zumeist bürgerlichen Juristen und der breiten Bevölkerung beobachten, das exemplarisch für die zeitgenössische Gesellschaft war. Dabei gelang es der Bevölkerung trotz struktureller Hürden, sich von ihrer Rolle als Untertanen zu mündigen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern zu entwickeln und demokratische Haltungen und Praktiken einzuüben. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Strafjustiz, wie andere Gesellschaftsbereiche auch, demokratischer gestaltet worden: Die staatlichen Entscheidungen wurden durch die Etablierung der ›Laienrichter‹ auf mehrere Schultern verteilt, das Publikum und die Presse beobachteten das Geschehen kritisch, die Angeklagten verfügten über zahlreiche Schutzrechte und galten nun als handelnde Subjekte statt als Objekte des Verfahrens. Frauen waren als Zeuginnen oder Angeklagte voll geschäftsfähig und hatten lediglich einen paternalistisch hergeleiteten Anspruch auf Beistand – der jedoch immer auf ihre Zustimmung angewiesen war. Der Einkommens- und Bildungszensus beim ›Laienrichtertum‹ war gefallen, und ab 1921 durften Frauen auch hier mitwirken. Die Niederlassung als Anwalt musste seit 1878 nicht mehr staatlich genehmigt werden, und der Zugang zu den juristischen Berufen stand formal größeren Teilen der männlichen Bevölkerung offen. Dennoch gab es im Kaiserreich von Beginn an lauter werdende Forderungen nach einer noch stärkeren Öffnung der Juristenschaft und einem weiteren Abbau von strukturellen Hürden, durch die Angeklagte in der Ausübung ihrer Interessen behindert würden, und zwar insbesondere wenn sie arm und/oder bildungsfern waren. Zahlreiche gesellschaftliche Gruppen, wie die Frauen- und die Arbeiterbewegung, forderten bei der Justiz eine stärkere Rolle bei der Ausgestaltung ein – wie in anderen staatlichen Bereichen wurde hier eine formale und faktische Gleichberechtigung angemahnt, die das Bürgertum für sich bereits erstritten hatte. Auch die Kirchen, denen im Strafverfahren keine formale Rolle – etwa bei der Vereidigung oder den Leumundszeugnissen – (mehr) zukam, machten mit Hinweis auf ihre Expertise immer wieder einen Anspruch auf Mitwirkung in diesem Bereich staatlichen Handelns deutlich. Sie rekurrierten damit – ob intentional muss offen 275

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bleiben – auf eine gesellschaftliche Funktion, die ihnen etwa mit der Einführung der Zivilehe, der staatlichen Bildungsaufsicht oder der Einschränkung der kirchlichen Gerichtsbarkeit streitig gemacht worden war. Vor dieser Folie sahen die Juristen ihre Elitenposition, die sie in der Gesellschaft und in den Strafprozessen einnahmen, zunehmend bedroht, wie insbesondere die Auswertung der juristischen Literatur zeigte. Die Öffnung der Juristenschaft senkte nicht nur die Einnahmen der einzelnen Anwälte und erhöhte die Konkurrenz um die begrenzten Plätze im Staatsdienst, sondern die sinkende Exklusivität des Berufsstandes ließ diesen auch in seiner sozialen Bedeutung erodieren. Eine weitere Öffnung wurde daher abgelehnt, insbesondere sollten Frauen zum Juristenberuf – wie beim Wahlrecht und weiten Teilen der etablierten Berufe – keinen Zugang erhalten. Als sie ihn sich dann sukzessive doch erkämpften, verwehrte man ihnen zunächst den Staatsdienst und die gleichberechtigte Mitwirkung als ›formale Verteidigung‹. Analog zum aufkeimenden Antisemitismus gab es außerdem seit den 1880ern und bis ins 20. Jahrhundert hinein wiederholt Vorstöße, die Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung auch in der Justiz rückgängig zu machen, selbst wenn sich diese etwa in der Debatte um konfessionelle Eide z.T. auf einer impliziten Ebene bewegten. Zu dieser zunehmenden sozialen Abschottung kam eine dezidierte Abgrenzung des eigenen Berufsstandes von sogenannten »Winkeljuristen«, »Laienrichtern« und ehrenamtlichen Rechtsberatern. Sie alle galten nun als Beispiel dafür, dass es nicht ausreichte, sich ohne formale Ausbildung mit juristischen Fragen zu beschäftigen. Sofern es nicht zu inhaltlichen oder personellen Überschneidungen kam – etwa mit religiösen Vereinen bei der Eidesfrage –, wiesen sie die ›laienhaften‹ Reformvorschläge und Kritik empört zurück. Diese Haltung war Teil eines Professionalisierungsdiskurses, wie er zu dieser Zeit auch z.B. bei Medizinern zu finden war und der die Ausgestaltung der Strafprozesse beeinflusste. Entsprechend der juristischen Logik verliefen Strafprozesse arbeitsteilig, in ihnen wurden allen Beteiligten klare Rollen zugewiesen, die mit eifersüchtig überwachten Rechten, Pflichten und Hierarchiestufen abgegrenzt wurden. Die Dokumentation des Geschehens in der Gerichtsakte war zentral. Sie dekontextualisierte die dokumentierten Handlungen und codierte sie nach juristischen Maßstäben. Die Multiperspektivität der Akteure – das konnte die Analyse der Allgäuer Gerichtsakten deutlich zeigen – wurde zugunsten eines homogenen juristischen Narrativs zum Verschwinden gebracht. Denn juristisches Ziel eines Strafprozesses war die Ermittlung eines als tatsächlich gesetzten Ereignisses und seine strafrechtliche Bewertung, wobei das Verfahren zur Wahrheits- und Urteilsfindung streng gesetzmäßig laufen musste. Das Einhalten des Formalen hatte einen Eigenwert. Um diese komplexen Vorgänge ideal umzusetzen, bedurfte es – folgt man der juristischen Professionalisierungsdebatte – besonderer Kompetenzen und Erfahrung, die sich eben nur im Kreis der Berufsjuristen finden ließen. Ihre eigene Arbeit und Person lösten die Juristen in ihren Darstellungen in analoger Weise von gesellschaftlichen Kontexten und inszenierten sich als kompetent, erfahren und sachlich, unpolitisch und rational. Diesem an männlichen Bürgertumsidealen orientier276

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ten Bild stellten sie im Kaiserreich begrifflich zunehmend und ab 1900 etabliert die ›Laien‹ gegenüber, die gefühlsbetont, ideologisch, irrational, unerfahren und unausgebildet seien. Eine Mitwirkung dieser Personen bei der Ausgestaltung und Durchführung von Strafverfahren konnte dementsprechend nur als gefährlich und unangemessen gelten. In zunehmendem Maße zeigten sich die Juristen skeptisch, ob ›Laien‹ den ihnen zugewiesenen Rollen als Angeklagten, Zeugen, Publikum oder gar Geschworenen von sich aus gerecht werden konnten oder ob sie durch Irrtum, Lügen, Emotionen und Unwissenheit das Verfahren nicht eher erschwerten. Es bedürfe daher der verantwortlichen Leitung durch die Juristen, um den Prozess regelkonform und erfolgreich durchzuführen. Folgerichtig erwarteten die Berufsjuristen von den übrigen Verfahrensbeteiligten eine Unterordnung unter das juristische Personal und die juristisch dominierten Logiken: Sie sollten sich vertrauensvoll und passiv in die Hand der Juristen begeben, die dafür Sorge tragen würden, dass ihnen geholfen würde oder sie ihre gerechte Strafe bekämen. Ein ›Laie‹ war nicht Teil des engeren Gerichtes. Er war unwissend und hilflos. Ihm kamen zwar einzelne Rechte zu, aber im Kern hatte er sich den Juristen anzuvertrauen und ihren Anordnungen zu gehorchen. Als Untertan konzipiert, wurde seine untergeordnete, außenstehende Position seit 1879 reichsweit durch den Kleidungscode und die Topographie der Gerichtssäle zum Ausdruck gebracht. Von den Juristen wurde im Kaiserreich eine Verstärkung dieser strukturellen Asymmetrie im Strafverfahrensrecht zulasten der ›Laien‹ weiter angestrebt und partiell erreicht. Immer stärker wurde die Mitwirkung von Geschworenen zur Disposition gestellt, die Öffentlichkeit der Verfahren wurde zurückgedrängt, die Schutzrechte der Angeklagten wurden stärker in das Ermessen der Juristen gestellt, und die Verantwortung für zuverlässige Zeugenaussagen wurde in ihre Hände gelegt. Diese Verschiebung erfolgte nur zum Teil durch gesetzliche Reformen, zu einem großen Teil schlug sie sich sukzessive in der – weiterhin jedoch heterogenen – Haltung von Juristen und damit letztlich in der Ausgestaltung der konkreten Strafprozesse nieder. Denn eine wesentliche Veränderung der Justiz des Kaiserreichs lag im wachsenden Ermessensspielraum, der den einzelnen Juristen durch die ›juristische Varianz‹ der Strafprozessordnung und die seit Ende der 1870er Jahre veränderte Auslegungsmethodik zukam, wie sie methodisch in dieser Arbeit nachgezeichnet wurde. Dabei ist die stärkere Unabhängigkeit von staatlichen Detailvorschriften unter der Fragestellung einer Demokratiegeschichte als ambivalent zu bewerten. Während sie die Unabhängigkeit der am Verfahren Beteiligten und der Juristenschaft insgesamt erhöhte, war sie doch auch durch eine Ablehnung der parlamentarischen Kompromisslösungen im Gesetzgebungsverfahren inspiriert. Die Emanzipation der Juristen vom Staat richtete sich somit auch gegen den Einfluss breiterer Bevölkerungsschichten, wie er durch den Parlamentarismus seinen Ausdruck fand, und ging damit Hand in Hand mit den Bestrebungen, den Einfluss der ›Laien‹ im Verfahren insgesamt zurückzudrängen. Dass sich die Berufsjuristen spätestens seit den 1890er Jahren mehrheitlich auch gegen das vormärzliche Symbol der 277

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Gewaltenteilung – das Schwurgericht – wandten, kann daher als emblematisch angesehen werden. Im Kern richtete sich eine zuvor aufstrebende, nun im Staat integrierte Schicht gegen die Emanzipationsbemühungen der nach ihr folgenden Personengruppen. Hier bot die Analyse der Justiz einen neuen Einblick in jene Abgrenzungstendenzen des Bürgertums, die für das Wahlrecht sowie berufliche Professionalisierungsdebatten bereits von der Forschung aufgezeigt wurden. Nachdem das Schwurgericht im Vormärz als bürgerlich-liberales Projekt fungiert hatte, lehnte das in der Justiz und im Parlament etablierte Bürgertum selbiges ab, während die Sozialdemokratie zum neuen Unterstützer wurde. Die Analogie in den Diskussionslinien – Bildung als Grundlage für Partizipation, Ablehnung der ›Massen‹ durch das Bürgertum, Lobbyismus und Vereinstätigkeit als Gegenbewegung – liegen dabei auf der Hand. Dass dabei Unterschiede innerhalb der Juristenschaft ebenso zu beobachten waren wie interne Streitigkeiten über die Ausgestaltung der eigenen Berufsrollen und der innerjuristischen Machtverteilung im Verfahren, ist eine unweigerliche Folge rechtspolitischer Differenzen, sozialer Heterogenität und Abstufungen im politischen Liberalismus auch innerhalb dieser großen Personengruppe. Handelte es sich bei der Strafjustiz im Kaiserreich im Ganzen also um eine ›Klassenjustiz‹, in der insbesondere Arme, Frauen und Oppositionelle diskriminiert und strukturell benachteiligt waren? War die Justiz ein Machtmittel eines Obrigkeitsstaates? Nicht nur die Skandalprozesse des Kaiserreichs haben vor Augen geführt, dass (zumindest die preußische) Staatsanwaltschaft und Richterschaft daran mitwirkten, die politische Opposition zu kriminalisieren und die bestehende Herrschaftsordnung gegen Demokratisierungstendenzen zu sichern. Die Justiz wurde von Regierungen zuweilen als Machtmittel eingesetzt. Die keineswegs durchschnittlichen Prozesse gegen Bebel, Heinze, von Harden, den Hauptmann von Köpenick oder den vermeintlichen Konitzer Ritualmörder verweisen auf Extreme. Sie legen typische Strukturen offen, sind aber in keiner Weise geeignet, die Strafjustiz als Ganzes zu porträtieren. Eine Analyse des Gerichtsalltags durch die zeitweise Zuspitzung der Beobachtungsebene auf die Justizverwaltung Bayerns und die Gerichtspraxis im Allgäu ermöglicht hingegen, diese durch Skandalprozesse gewonnenen Strukturen in ein größeres Gesamtbild einzubetten. In der Tat lässt sich beobachten, dass die gesamtgesellschaftlichen Ungleichheiten auch in den Verfahren zu Ungerechtigkeiten führen konnten: Wer arm war, musste oft auf einen (guten) Verteidiger verzichten und war damit deutlich schlechter gestellt als jemand, der sich durch einen Strafrechtsspezialisten verteidigen lassen konnte. Frauen wurde teilweise weniger Glauben geschenkt. Die Justiz reproduzierte insofern die zeitgenössischen Geschlechterstereotypen und Sozialhierarchien; sie war aber auch geeignet, um eine prekäre oder unterlegene Situation zu kompensieren, und ermöglichte durch ihre Eigenlogik zuweilen größere Chancen, sich in einem Konflikt durchzusetzen, als eine außergerichtliche Lösung innerhalb der lokalen Machtstrukturen es vermocht hätte. Dabei bestätigte sich einerseits, dass die Strafjustiz durch strukturelle Machtasymmetrien und eine ›laienskeptische‹ Haltung der Juristen geprägt war. Ande278

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rerseits zeigte sich, dass Deutungen, die auf Grundlage von prominenten Ausnahmeprozessen die Hürden einseitig in den Vordergrund stellen, der Vielgestaltigkeit der Strafjustiz im Kaiserreich nicht gerecht werden. Strukturelle Hindernisse sind nicht mit faktischer Ohnmacht gleichzusetzen: Gerade die Intensität und zuweilen Verbissenheit, mit der die Juristen gegen »Laienrichter« und eine kritische Öffentlichkeit vorgingen, verweist darauf, dass die Mitwirkung der Gesellschaft in Gerichtsverfahren und Rechtspolitik erhebliche Auswirkungen hatte. Die Analyse der Allgäuer Gerichtsprotokolle und der zeitgenössischen reichsweiten wie lokalen Diskurse hat gezeigt, dass ›Laien‹ in der Tat eine aktive, informierte und machtvolle Rolle einnahmen. Damit korrigiert die vorliegende Studie bisherige Befunde, die eine Trennung von Gesellschaft und Justiz überbetonen, die ›Laien‹ als machtlos und passiv darstellen und damit einer zeitgenössischen Fiktion folgen. Dass die wichtigsten gesellschaftlichen Akteure des Kaiserreichs sich alle mit der Ausgestaltung der Strafjustiz beschäftigten, zeigt die gesellschaftliche Relevanz des Themas. Am Beispiel der Justiz lassen sich daher Meinungspluralismus sowie außerparlamentarische Partizipation des Kaiserreichs verfolgen. Denn neben den juristischen Fachdiskursen ließen sich zahlreiche konkurrierende Deutungen, Bewertungen und Kontextualisierungen der Justiz in den gesellschaftlichen Debatten beobachten. Die Arbeiter- und Frauenbewegung sowie die Vereine der Inneren Mission und Kirchen formulierten seit Erlass der Reichsjustizgesetze umfangreiche Kritik und dezidierte Reformprogramme und versuchten – etwa 1893 beim ›Lex Heinze‹ oder bei Forderungen zur Reform der Juristenausbildung –, diese über Kampagnen, Petitionen und Lobbying politisch wirksam werden zu lassen. Gleichzeitig machten sie ab 1894 mit der Etablierung der Rechtshilfe einen zivilgesellschaftlichen Anspruch deutlich, vor Ort selbst die Geschicke der Bevölkerung in die Hand zu nehmen. Während ihre Forderungen im Kern darauf abzielten, die Machtverhältnisse innerhalb des Strafprozesses zugunsten der ›Laien‹ zu verändern, erhoben sie insgesamt den Anspruch, in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung über die Ausgestaltung staatlicher Institutionen eine wesentliche Rolle zu spielen. Dieser Anspruch wurde auch in solchen Forderungen deutlich, die zwar nie Gesetzeskraft erlangten, aber wie etwa jene nach einer gesellschaftlichen Wahl der Geschworenen im Zuge der parlamentarischen Reformansätze in der frühen Weimarer Republik durch die SPD durchaus Wirkung entfalteten. Es muss angesichts der mehrfach abgebrochenen Reformanläufe zur Strafprozessordnung dahin gestellt bleiben, in welchem Grad sich gesetzliche Veränderungen bereits im Kaiserreich hätten niederschlagen können. Die aktive Mitwirkung der ›Laien‹ im Prozess, für die sich in der Analyse der Gerichtsakten zahlreiche Hinweise finden ließen, macht es notwendig, ihre Rolle in der Strafjustiz neu zu bewerten. Bislang wurden ›Laien‹ als gerissene Gauner oder als überforderte Opfer, als skandalisierende Journalisten oder sensationsgierige Zuschauer dargestellt. Hinterfragt man die diesen Urteilen zugrunde liegenden juristischen Konzeptionen, entsteht ein anderes Bild: Die staatliche Elite erwartete eine Unterordnung der restlichen Bevölkerung unter ihre Definitionen und Verhaltensregeln und beklagte deren Unkenntnis. Doch die Bevölkerung wusste in Berlin, 279

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Augsburg oder einem Allgäuer Dorf um ihre Rechte und nahm diese durchaus selbstbewusst in Anspruch. Arme und Reiche; Mägde, Lehrer, Gutsbesitzer und Kneipenwirte; Männer und Frauen – sie alle nutzten das Gericht als alltäglichen Ort der Konfliktaustragung und pflegten einen selbstverständlichen Umgang mit dieser zentralen staatlichen Institution. Anstatt Furcht oder Unwissenheit zeigten sie außerhalb der politisch aufgeladenen Prozesse Nähe und Kenntnis, wenn auch kein uneingeschränktes Vertrauen. Durch ihre Anzeigen, Aussagen, Recherchen und Eingaben wirkten sie auf den Verlauf von Verfahren direkt ein und nutzten dabei die ihnen juristisch zugewiesenen Rollen. Darüber hinaus konnte es durch ein breites Handlungsrepertoire, das außerhalb der Strafprozessordnung lag, ohne deswegen verboten zu sein, gelingen, die eigene Position in einem gerichtlichen Konflikt zu verbessern. Dass eine solche Justiznutzung zwar nicht ohne Probleme, Hürden und Diskriminierungen ablief, ist auch angesichts der sozialen Ungleichheit, von der die gesamte Gesellschaft des Kaiserreichs durchzogen war, naheliegend. Während sich die rechtspolitische Partizipation durch Vereine, Justizkritik und Rechtsberatung im späten Kaiserreich und der frühen Weimarer Republik ausdehnte und zum Teil im Ton aggressiver wurde, lässt sich für den alltäglichen Umgang mit der Justiz anhand der beiden zentralen Fallbeispiele für den durch sie abgedeckten Zeitraum 1890 bis 1903 ein Bild zeichnen, das durch die weiteren Gerichtsakten und Zeitungsanalysen auch für den gesamten Untersuchungszeitraum bestätigt wird. Die Inklusion breiter Bevölkerungsschichten durch Teilhabe an staatlichen Prozessen ist damit auch für den Bereich der Justiz belegt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich zwischen 1879 und 1924 sowohl in der Rechtspolitik als auch in der Ausgestaltung der deutschen Strafjustiz zwar eine Asymmetrie beobachten ließ, in der die Juristen strukturell eine dominierende Position einnahmen und diese gegen Mitbestimmungsforderungen verteidigten und ausdehnten. Gleichzeitig aber nahm die Bevölkerung im Prozess wie im Diskurs ihre – entweder seit 1848 oder spätestens 1879 – neuen Rechte in Anspruch und konnte die eigenen Interessen machtvoll und informiert vertreten. Damit werden die Ergebnisse von Margret Lavinia Anderson, die in ihrer bahnbrechenden Studie betont hat, dass die Bevölkerung des Kaiserreichs die neuen Möglichkeiten des Parlamentarismus intensiv genutzt und dabei Demokratie und Staatsbürgerrechte eingeübt habe, bestätigt.2 Wesentlich für diese Partizipation der Staatsbürger waren liberale Verfahrensrechte und die Öffentlichkeit der Justiz. Die lokalen und überregionalen Berichte über Regeln, Abläufe und Details von Prozessen und die eigene Anschauung bildeten die Grundlage, um über die Funktionsweise der Justiz so weit informiert zu sein, dass Orientierung und Einflussnahme möglich wurden. Hinzu kam, dass die faktische Öffentlichkeit der wesentlichen Gerichtshandlungen vor Ort ausreichend Anhaltspunkte lieferte, um konkrete Strafprozesse beobachten und das eigene Verhalten daran ausrichten zu können. Das aufklärerische Ziel der Rechtsreformer in der ersten Hälfte des 2 Anderson: Practicing Democracy.

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19. Jahrhunderts, dass die Öffentlichkeit von Staatshandlungen zu einer besseren Kenntnis der Bevölkerung und letztlich zu deren Mitwirkung führen sollte, hatte sich im Kaiserreich erfüllt. Dass genau dies zu einer veränderten Einstellung der liberalen Juristen gegenüber der Öffentlichkeit und zu einer Rückbesinnung auf vormärzliche Denktraditionen führte, verweist auf die zweite These der Kulturgeschichte der deutschen Strafjustiz: das Spannungsverhältnis von Persistenz und Wandel, das sich im Kaiserreich am Beispiel der Strafjustiz ablesen lässt. Die Analyse des reichsweiten juristischen Diskurses zum Strafverfahren hat gezeigt, dass 1879 zwar wesentliche liberale Konzepte wie Öffentlichkeit, Mündlichkeit, Geschworene, Verweltlichung des Eides oder die freie Beweiswürdigung reichsweit normiert waren. Sie waren damit aber keineswegs unumkehrbar etabliert. Im Gegenteil, es wurde deutlich, dass gerade die Implementation dieser Reformelemente den Gegnern neue Angriffspunkte bot. Sie konnten nun mit dem rhetorischen Verweis auf die in der Praxis erworbenen ›Erfahrungen‹ traditionelle Argumente verstärkt in den Diskurs einbringen. Die liberalen Argumentationsmuster, die noch vor 1879 den Diskurs beherrscht hatten, wurden nun als ideologisch verbrämt, und es wurde eine sachliche Bewertung der Gerichtspraxis eingefordert. Dabei zeigte sich, dass die Gegner der Geschworenengerichte, die Skeptiker der Öffentlichkeit, die Befürworter von Beweisregeln, die Zweifler gegenüber den Schutzrechten der Angeklagten und die Anhänger religiöser Rechtsrituale bereits vor der Jahrhundertwende an Zustimmung gewannen. Auffallend war dabei, dass sich ihre Argumente inhaltlich kaum von jenen unterschieden, die schon im Vormärz vorgebracht worden und für einige Jahrzehnte nahezu verschwunden waren. Die Aktualisierung bestand weitgehend in einer neuen Rhetorik der Sachlichkeit. Ein lineares Geschichtsbild, das davon ausgeht, dass die Reichsjustizgesetze die Rechtsreformen des 19. Jahrhunderts endgültig etabliert hätten, verkennt daher, dass erst die Normierung die liberalen Konzepte angreifbar machte. Daher gilt es zu betonen, dass die strafprozessuale Debatte des Kaiserreichs in diesen Facetten eher an die Diskussionen vor 1848 als an jene vor 1879 anknüpfte – ohne mit diesen identisch zu sein. Es erscheint für die weitergehende Erforschung der rechtshistorischen Entwicklungslinien notwendig zu sein, Zeiträume langer Dauer in den Blick zu nehmen und die Studien nicht mit 1848 oder 1879 zu umrahmen. Diese in erster Linie ideengeschichtliche Feststellung ist für die Implementationsforschung zum Kaiserreich interessant. Denn es hat sich deutlich gezeigt, dass die Reichsjustizgesetze keinen einheitlichen Rechtszustand herbeigeführt hatten. Insbesondere aufgrund des Kompromisscharakters der Normen stritten sich die Juristen nicht nur im gesamten Untersuchungszeitraum darüber, wie künftige Rechtsreformen aussehen sollten. Sie waren auch von Beginn an unterschiedlicher Ansicht darüber, welche Form der Strafprozess nach der geltenden Gesetzeslage bereits hatte. Die Interpretationsoffenheit des Gesetzestextes führte zusammen mit einer gewandelten Methode der Gesetzesauslegung zu differierenden, sogar widersprüchlichen Ansichten darüber, was im Rahmen des Verfahrensrechtes erlaubt, vorgeschrieben oder verboten war. Dieser in der Studie als »juristische Varianz« bezeichnete Spielraum im Rechtsalltag war auch eine Folge der Parla281

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mentarisierung der Gesetzgebung und erweiterte gleichzeitig seit 1879 die Macht jedes einzelnen Juristen bei der Anwendung der Strafprozessordnung. Darüber hinaus führte er dazu, dass auch solche Handlungen schnell wieder als gesetzmäßig anerkannt werden konnten, die der Gesetzgeber als überholt und unerwünscht betrachtet hatte. Gerade jene Ideen, wie etwa die Grenzziehung zur Folter bzw. zum Erzwingen eines Geständnisses, deren Ablehnung aufgrund jahrelanger liberaler Debatten als selbstverständlicher gesellschaftlicher Konsens betrachtet worden waren, konnten dadurch spätestens nach der Jahrhundertwende erneut in den juristischen Diskurs und die Alltagspraxis einziehen. Durch eine Anleihe an moderne Forschungsergebnisse aus dem Umfeld der Kriminologie und Psychologie wurden sie aktualisiert und verloren den Anschein des Unzeitgemäßen. Für die geschichtswissenschaftliche Forschung lassen sich daraus zwei Schlussfolgerungen ziehen: Erstens umfasste die Implementation eines Gesetzes in der Neuzeit einen langjährigen und im Grunde nie endenden Prozess der alltäglichen Aneignung. Dadurch können Reformen niemals als abgeschlossen oder als nicht zu hintergehender Fortschritt betrachtet werden. Es muss immer damit gerechnet werden, dass sie im Alltag zur Disposition gestellt waren. Zweitens erklärt diese andauernde Aneignung und Aktualisierung der Rechtslage, wie sich diskursiv unterlegene Argumente und Ansichten über einen langen Zeitraum konservieren können, um dann mithilfe neuer Rhetoriken (z.B. Verweise auf ›empirische Erfahrungen‹ oder wissenschaftliche Untersuchungen) oder veränderter politischer Bedingungen (z.B. Notverordnungsrechte) wieder wirkmächtig zu werden. Die Strafjustiz des Kaiserreichs – so lässt sich zusammenfassend sagen – war weder die lineare Etablierung eines modernen Rechtstaates noch ein Hort der Klassenjustiz oder ein aus der Zeit gefallener Rest der frühneuzeitlichen Inquisitionsprozesse. Vielmehr war das Kaiserreich eine Epoche des Wandels und der Wiederkehr, der Reform und der Persistenz für die Strafjustiz. Es bildete ein Scharnier zwischen dem liberalen Strafprozess und antiliberalen Rechtstraditionen, ohne dass die Entwicklungsrichtung eindeutig entschieden gewesen wäre. Das Charakteristische der Strafjustiz bestand gerade darin, dass sie interpretationsoffen, umstritten und plural war. Die Balance zwischen Fortschritt, Reaktion, Reform und Persistenz wurde jeden Tag neu ausgehandelt. Die kulturgeschichtliche Analyse der juristischen Texte und die Dekonstruktion der strafjustiziellen Logiken sowie die Untersuchung des Gerichtsalltags in einer bayerischen Region haben eine generelle Annahme bestätigt: Die Strafjustiz war emblematisch für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Kaiserreich. Sie war ein Ort, an dem eine Elite um ihre Vorherrschaft rang und sich mit Partizipationsansprüchen der breiten Bevölkerung konfrontiert sah. Sie war ein Ort der obrigkeitlichen Machtansprüche und der Fundamentalpolitisierung. Sie war ein Ort, an dem die Kirchen sowie Emanzipationsbewegungen Einfluss nahmen und in dem die Strukturen asymmetrische Machtverhältnisse produzierten aber auch kompensierten. Sie war ein Ort der wenigen Skandale und der unspektakulären Normalität, in der jeden Tag unterschiedliche Perspektiven und Erwartungen aufeinandertrafen. Sie war ein Ort, an dem staatliche Macht ausgeübt wurde und 282

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die Bevölkerung sich dieser Macht unterwarf und diese auszugestalten suchte. Sie war ein Ort der Diskriminierung und der Fairness, der Ohnmacht und des Machtausgleichs.3 Sie war ein Ort machtvoller Verhandlungen und Verhandlungen über Macht. Das Kaiserreich war politisch eine Phase des Übergangs von der Monarchie zur Demokratie. In dieser Phase dynamischer und zuweilen gegenläufiger Entwicklungen wurde die Bevölkerung auch in den Gerichtssälen und durch diese vom Untertanen zum Staatsbürger.

3 Die Kaiserreichsforschung hat sich inzwischen weitgehend von dichotomischen Bewertungskategorien gelöst und betont die Dynamik und offene Entwicklungsrichtung des Demokratisierungsprozesses, vgl. u.a. Chickering; Retallack.

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Zeitleisten

Fallbeispiel I: Der gestohlene Deichel Die nachfolgende Chronologie gibt einen Überblick über den Verlauf des Falls (Kap. I.1.1.2), wie er sich aus den Gerichtsakten rekonstruieren lässt. 27.09.1900

28.09.1900 Dezember 1900 Mai 1901 Juni 1901 [unklar] [unklar]

29.07.1901 [unklar] 14.08.1901

28.08.1901 23.10.1901

Dienstknecht Schmidt holt einen alten Deichel aus dem Weiher und gräbt diesen plus einen älteren mit seinem Dienstherrn Steck ein (Variante I) Gerichtsverhandlung Schmidts in Kempten wegen Dienstentlaufens Anton Schmidt holt zwei neue Deicheln aus dem Weiher (Variante II) Gastwirt Fleschutz bemerkt den Verlust von Deicheln Versammlung der Wassergenossenschaft Gespräche zwischen Schmidt, Sänger, Wespe und Fleschutz lassen den Verdacht auf Steck fallen Nach gescheitertem Versuch des Gendarmen Drexels, Steck zur Rede zu stellen, zieht Fleschutz die Diebstahlsanzeige zurück Annonce im Oberdorfer Landboten Gespräch zwischen Fleschutz und Wespe, Fleschutz kündigt an, auf Annonce zu reagieren Fleschutz zeigt Fleschutz offiziell bei Gendarm Drexel an, dieser befragt Schmidt auf dem Feld in Gehren bei dem neuen Dienstherrn Cnauf, lässt bei Steck erfolglos nach den Deicheln graben Gendarm Zachenbacher befragt Schmidt erneut auf dem Feld Erster Verhandlungstag vor dem Schöffengericht Marktoberdorf gegen Steck wegen Diebstahls, Vertagung, danach diverse Kneipenszenen, in denen Schmidt wegen seiner unerwarteten Entlastung Stecks vom erbosten Umfeld zur Rede gestellt wird

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24.10.1901 [unklar] 13.11.1901

21.12.1901 20.02.1902

21.02.1902 02.03.1902 11.03.1902 16.01.1903 21.03.1903 06.05.1903 31.07.1903 27.08.1903 31.08.1903 01.09.1903 09.09.1903 18.09.1903

Dialog Schmidt mit Dienstherren über vorangegangene Verhandlung; Schmidt bereut Aussage Sühnetermin zwischen Hauber und Wespe Zweiter Verhandlungstag vor dem Schöffengericht Marktoberdorf, Verurteilung Stecks zu drei Tagen Gefängnis, insgesamt fünf Zeugen Augenscheinnahme durch Rechtsanwalt Zimmermann, abends Gespräch zwischen Wieser und Gendarm offizielle Augenscheinnahme durch den Amtsrichter Scheidle; auf dem Weg zum Gericht unterhalten sich Schmidt und Henger über den Fall Berufungsverhandlung vor der Strafkammer am Landgericht Kempten, Freispruch, 22 Zeugen Steck erstattet Anzeige gegen das Ehepaar Wespe wegen Meineids Antrag auf Eröffnung der Voruntersuchung, wird am 13.3. genehmigt Voruntersuchung wegen Meineids wird außer Verfolgung gesetzt Gendarm Drexel erstattet Anzeige gegen Anton Schmidt wegen Meineids Voruntersuchung gegen Schmidt wird eröffnet Schluss der Voruntersuchung Anklageerhebung Ernennung des Rechtsanwaltes Stölzle als Pflichtverteidiger Erwiderungsschrift des Rechtsanwaltes Strafkammer beschließt, das Hauptverfahren nicht zu eröffnen Beschwerde des Staatsanwaltes gegen den Beschluss, wird am 1.10. abschlägig beschieden

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Fallbeispiel II: Die tote Dienstmagd Die nachfolgende Chronologie gibt einen Überblick über den Verlauf des Falls (Kap. I.2.1.2), wie er sich aus den Gerichtsakten rekonstruieren lässt. 08.11.1890 11./12. 11.1890 14.11.1890 16.11.1890 20.11.1890 22./23.11.1890 24.11.1890 26.11.1890 Dezember 1890 14.12.1890 20.12.1890 23.12.1890 30.12.1890 02.01.1891 09.01.1891

19.03.1891 20.03.1891 24.03.1891 21.07.1891 15.09.1891 17.11.1891 11.10.1892 Mai 1893 1896 13.10.1901

Dienstmagd Therese Gast verschwindet aus dem Haus ihres Dienstherrn Fichtl gemeinschaftliche Suchaktion Auffinden der Leiche, Gendarmeriemeldung an das Amtsgericht Bericht des Bezirksamtmanns an den Staatsanwalt regt Durchsuchung an Durchsuchung bei Fichtl, ergebnislos Antrag auf Eröffnung der Voruntersuchung wird genehmigt 1. Haftbefehl gegen Fichtl Fichtl wird nach dem Verhör aus der Haft entlassen Die Recherchen werden ausgedehnt und es wird erfolglos nach potentiellen Geliebten der Gast gesucht Untersuchungsrichter konzentriert Recherche wieder auf Fichtl 2. Verhör Fichtl, 2. Haftbefehl gegen Fichtl 3. Verhör Fichtl letztes Verhör des Fichtl, Haftbeschwerde Freilassung Fichtls Untersuchungsrichter ordnet an, Fichtl und sein Umfeld weiter polizeilich zu beobachten und gleichzeitig nach möglichen anderen Tätern zu suchen endgültiges medizinisches Gutachten bestätigt Mord Voruntersuchung wird geschlossen Verfahren gegen Fichtl wird außer Verfolgung gesetzt Privatklage von Konrad Hörmüller gegen Sophie Masch wegen Beleidigung Hauptverhandlung gegen Sophie Masch wegen Beleidigigung von Konrad Hörmüller Freispruch der Sophie Masch weiterer Mord in der Gegend, der Täter war jedoch zum Tatzeitpunkt Gast nicht in der Gegend anonyme Anzeige gegen Bachler aus St. Lorenz Frau Bier zeigt ihren in Noch-Ehemann wegen des Mordes an Gast an Gendarmeriebericht über neue Zeugenaussagen, die ein Verhältnis von Konrad Hörmüller und der ermordeten Gast nahe legen 287

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22./25.10.1901 31.10.1901 03.12.1901 07./10.12.1901 16.12.1901 18.01.1902 22.01.1902 25.01.1902 06./07.02.1902

18.02.1902 24.02.1902 März 1902 04./08.03.1902 28.03.1902 10.06., 12.07., 16.07.1902 08.08.1902 25.08.1902 27.08.1902 06., 09., 17., 24.09.1902 29.09.1902 04./11.10.1902

Klageerhebung und Eröffnung der Voruntersuchung gegen Konrad Hörmüller 1. Zeugenvernehmung, danach dezente Recherchen Zeugenvernehmungen in Günzach Oberdorfer Landbote berichtet über vermeintliche Verhaftung und anschließende Freilassung Hörmüllers Befragungen und Durchsuchung in den Redaktionsräumen Haftbefehl gegen Konrad Hörmüller wegen »Verbrechen und Collusionsgefahr« Haftbeschwerde Tatortbesichtigung und Anfertigung einer umfangreichen Skizze Klageerhebung, Eröffnung der Voruntersuchung und Untersuchungshaft gegen Rosalie Winkler und Otto Hörmüller wegen Beihilfe Haftbeschwerde Konrad Hörmüller Sophie Masch gibt Zeitungsannoncen von 1890 zu Protokoll Gutachten ist uneindeutig hinsichtlich des tatsächlichen Tatorts Haftbeschwerden Konrad und Otto Hörmüller Schreiben des früheren Untersuchungsrichters begründet, warum er den Fundort für den Tatort hielt Haftbeschwerden Konrad Hörmüller Schluss der Voruntersuchung Bestellung von Rechtsanwälten für die Verdächtigen Anklageschrift gegen Konrad und Otto Häringer sowie Rosalie Winkler Stellungnahmen der Rechtsanwälte Hauptverhandlung wird wegen Mangels an Beweisen nicht eröffnet Beschwerde des Staatsanwaltes, wird vom OLG verworfen

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Dank

Die vorliegende Arbeit wurde 2011 von der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommen. Ihre Entstehung ist wesentlich durch Professorin Dr. Rebekka Habermas geprägt, die bereits während meines Studiums eine Faszination für die historische Beschäftigung mit »den Kriminellen« zu erwecken wusste und mir über viele Jahre eine inspirierende und motivierende akademische Lehrerin gewesen ist. Ihr stets offenes Ohr für wissenschaftliche wie private Pläne, ihre wertschätzende Betreuung, ihre ansteckende Leidenschaft für die Geschichtswissenschaft waren kombiniert mit der Großzügigkeit, mir thematisch, räumlich und intellektuell jene Freiheit zu geben, die ich brauchte, – und mich dafür ggf. auch quer über den Atlantik zu schicken. Ihr gebührt nicht nur dafür, dass dieses Buch entstehen konnte, mein vorderster und herzlichster Dank! Professor Dr. Stefan Haas danke ich für die Bereitschaft, die Zweitbetreuung zu übernehmen und die Ermunterung, das eigene Licht nicht an den falschen Stellen unter den Scheffel zu stellen. Christa Walter gebührt mein tief empfundener Dank dafür, dass sie mir jahrelang den Blauen Turm zu einem Stück zuhause gemacht hat. Während des Promotionsverfahrens war Wolfgang Hampe aus dem Dekanat der Philosophischen Fakultät wiederholt so umsichtig, die schlimmsten Nervositäten des Prüflings zu beruhigen. Den Herausgebern der Kritischen Studien danke ich für die Aufnahme in die Reihe. Pars pro toto geht mein Dank für zahlreiche konzise Hinweise, auf deren Grundlage das Manuskript für die Veröffentlichung umfangreich gekürzt und überarbeitet wurde, an Professor Dr. Dieter Gosewinkel. Karolin Wetjen hat mich beim Kürzen des Textes mit Ausdauer, Sprachgefühl und Scharfsinn unterstützt. Ohne sie wäre es kaum vorstellbar gewesen, den roten Faden der Arbeit im Blick zu behalten. Die Studienstiftung des Deutschen Volkes und die Deutsche Forschungsgemeinschaft haben meine Forschung zu der Dissertation finanziell erst ermöglicht. Hierfür gebührt ihnen mein Dank. Für einen großzügigen Druckkostenzuschuss danke ich der VG Wort. Stellvertretend für eine ganze Reihe an ArchivarInnen in München, Augsburg und in diversen bayerischen Gemeinde- und Stadtarchiven möchte ich Herrn Lemmermeier aus dem meist sonnigen Staatsarchiv Augsburg danken. Er hat mich gut gelaunt bei meinen Recherchen unterstützt und mir an einem trüben Tag inmitten eines riesigen Stapels unbearbeiteter Akten mit einer Frage ein Lächeln ins Gesicht gezaubert und meine Motivation wiederbelebt: »Was machen Sie 289

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da bloß Interessantes – in diesem Teil des Magazins war ich schon ewig nicht mehr?!« Die Forschungskolloquien in Göttingen (Prof. Dr. Habermas), Bochum (Prof. Dr. Schulte), Bielefeld (Prof. Dr. Kessel), Bern (Prof. Dr. Eibach) und die DoktorandInnentreffen der Studienstiftung gaben mir die Gelegenheit, Thesen und Zwischenergebnisse vorzustellen und zu hinterfragen. Drei inspirierende Monate durfte ich an den Kursen von Professor Dr. David W. Sabean und Professorin Dr. Lynn Hunt an der UCLA teilnehmen. Für alles, was ich bei ihnen gelernt habe, und für die Chance, mein Projekt im Gespräch mit ihren DoktorandInnen noch einmal neu zu betrachten, bin ich sehr dankbar. PD Dr. Isabel Richter war mir in dieser Zeit eine wertvolle Gesprächspartnerin, die mir außerdem einen der schönsten Rückzugsorte an einem Holztisch in Santa Monica gezeigt hat. Das von Dr. Richard Wetzell organisierte Transatlantische Doktorandenforum des Deutschen Historischen Instituts (DHI) in Washington bot 2009 eine unvergleichlich intensive Diskussionsatmosphäre, in der nicht nur Ideen erwuchsen, sondern auch bis heute anhaltende Freundschaften. Dr. Richard Wetzell, Professor Dr. Roger Chickering, Professor Dr. Jürgen Kocka und Professor Dr. Helmut W. Smith gilt für die elegante und unterhaltsame Leitung dieses Seminars mein herzlichster Dank. Der ehemalige Arbeitskreis Kriminalitätsgeschichte bot einen verlässlichen und geselligen Treffpunkt für alle an der Justizgeschichte Interessierten. Für wertvolle Anregungen und zuweilen gedankliche Herausforderungen danke ich stellvertretend Dr. Désirée Schauz, Professor Dr. Joachim Eibach, Dr. Alexander Kästner, Dr. Ulrike Ludwig, Dr. Sarah Bornhorst, Professor Dr. Karl Härter und Professor Dr. Gerd Schwerhoff. Den jährlichen Treffen verdanke ich zwei meiner wichtigsten Gesprächspartner: Mit PD Dr. Sylvia Kesper-Biermann und Dr. Richard Wetzell über Kriminelle, Juristen, HistorikerInnen oder aber die besten Reiseziele zu diskutieren ist immer kurzweilig und lehrreich. Diese kollegiale Freundschaft ist mir lieb und teuer. Zahlreiche FreundInnen und KollegInnen haben in den letzten Jahren unschätzbare Beiträge zu diesem Buch geleistet. Mit Dr. Bettina Brockmeyer, Dr. Richard Hölzl und PD Dr. Alexandra Przyrembel habe ich in Göttingen insbesondere die ersten, noch tastenden Ideen diskutieren dürfen; ihre Anregungen und ihre gute Laune haben meine Promotionszeit wesentlich geprägt. Meiner DFG-Kollegin Wiebke Jensen danke ich für den inhaltlichen Austausch und die gemeinsame Zeit in einem nicht immer sonnendurchfluteten Büro. Meinen Göttinger »TeilzeitWGs« danke ich, dass sie mir das Pendeln zwischen Berlin und Göttingen so leicht gemacht haben: Matthias, Ina, Holger, Johannes, später auch: Katharina – Ihr wart großartig! In Berlin habe ich in der Stabi Berlin einen neuen Arbeitsort und in Verena Steller eine weitere liebe Freundin gefunden, die verlässlich bis zur letzten Krise vor Abgabe dieses Manuskripts schlaue Ideen, heitere Anekdoten und gemeinsame Kaffeeleidenschaft beigesteuert hat. Die auch wissenschaftlich fruchtbare Freund290

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schaft zu Angelika Hoelger wurde ebenso durch gemeinsame AHA-Panels wie durch Balkonabende in Neukölln vertieft und konnte selbst durch meine gefühlt 378te Bitte, einen englischen Text für mich Korrektur zu lesen, nicht beschädigt werden. Als ich wenige Seiten vor Fertigstellung der Dissertation mit Elan in meinen neuen Beruf startete, erinnerte mich mein Chef, Dr. Knut Nevermann, daran, dass man manchmal die richtigen Prioritäten setzen muss, und schickte mich für die alles entscheidende Woche nach Hause an den Schreibtisch, wofür ich ihm auch an dieser Stelle danken möchte. Ein persönlicher Dank geht an meine Eltern, Volker Ortmann und Jutta BußOrtmann, die mich immer meinen Weg gehen ließen und mich mit ihrer Liebe unterstützten. Ein besonderer Dank gebührt meiner Mutter, auch wenn sie nicht ahnte, welch Faszination sie mit einem Kinderbuch über die Französische Revolution entflammen würde. Mein abschließender Dank gilt meinen Freunden, die mich in all diesen Jahren umsorgt, erheitert, abgelenkt und unterstützt haben. Für eine familiäre Freundschaft mit Küchenpartys, Fachdebatten und stundenlangen Telefonaten danke ich Verena Schliecker, die noch dazu das Manuskript durch aufmerksame Beobachtungen bereicherte. Gritt Brosowski, Matthias Martens, Eva-Maria Silies und Julia Müller haben geduldig Kapitelentwürfe gelesen und Thesen diskutiert. Für ihre klugen Ideen, ihre herzliche Freundschaft und die nie versiegende Geselligkeit schulde ich Dank. Meine älteste Freundin, Christina Blumentrath, hat sich sicher mehr als einmal das Ende meiner Promotionszeit herbeigewünscht, auch damit meine Reisen mich statt nach Bayern wieder in den Norden zögen. Tina, für über 20 Jahre, in denen ich in jeder Minute auf Dich zählen konnte und Du mich immer wieder zum Lachen gebracht hast: Danke! Ruppert Stüwe hat das Projekt von der ersten Idee, über stöbernde Archivphasen im Allgäu bis zum letzten Formatierungsproblem unterstützt – und wurde durch die Möglichkeit entschädigt, Freunde durch Anekdoten über bayerische Strafverfahren unterhalten zu können. Sonja Staack hat für drei tolle Jahre meine Transkriptionen skeptisch beäugt, meine archivbedingten Untermieter erduldet und unsere WG zu einem echten Zuhause gemacht. Marcus Otto, Nadine Dreyer, Daniel Cammann-Reiß, Hanka Majewski, Ulf Banscherus, Klemens Himpele, Christian Groth, Oliver Fraederich, Neele Mirjam Kämpf, Simon Schliecker waren und sind treue WegbegleiterInnen; geduldig gegenüber phasenweiser Manie – etwa: der Suche nach dem Kruzifix im Gerichtssaal –; verlässlich in Krisenzeiten; interessierte und interessante GesprächspartnerInnen und immer für einen unterhaltsamen Abend zu haben. Kurzum: Eine unverzichtbare Bereicherung. Promotionen sind immer Gemeinschaftswerke, auch wenn nur ein Name am Ende auf dem Buchtitel erscheint. Euch und Eurer Freundschaft sei daher das Buch gewidmet.

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Abkürzungen

ALR ArchK-AK AZ BA BGB DJZ DRiZ FS GAB GVG HStAM JMBl By JW kgl. LG A, SG LG A, SK LG K, SK OL RAO RStGB RStPO RT-Protokoll StAA StadtAA StPO ZPO ZRpB ZStW

Allgemeines preußisches Landrecht Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik Augsburger Abendzeitung Bistumsarchiv Augsburg Bürgerliches Gesetzbuch Deutsche Juristenzeitung Deutsche Richterzeitung Festschrift Gemeindearchiv Bidingen Gerichtsverfassungsgesetz Hauptstaatsarchiv München Justizministerialblatt für das Königreich Bayern Juristische Wochenschrift königlich Landgericht Augsburg, Schwurgericht Landgericht Augsburg, Strafkammer Landgericht Kempten, Strafkammer Oberdorfer Landbote Rechtsanwaltsordnung Reichsstrafgesetzbuch Reichsstrafprozessordnung Reichstags-Protokoll Staatsarchiv Augsburg Stadtarchiv Augsburg Strafprozessordnung Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Ungedruckte Quellen Bistumsarchiv Augsburg [BA], Familienbuch der Gemeinde Bernbach. – Heiratsregister der Gemeinde Bernbach. – Taufregister der Gemeinde Bernbach. Gemeindearchiv Bidingen [ohne offizielle Signaturen, hier: GAB], Beschlussbuch der Ortsgemeinde Ob. – Dienstboten-Register. Mitgliederverzeichnis der zur distriktiven Gemeindekrankenversicherung Oberdorf in Bernbach angemeldeten Personen. – Familienstandsbögen [unsortiert]. – Verzeichnis der Fremden welche sich in der Gemeinde Bernbach kgl. BA Oberdorf freiwillig aufhalten. – Verzeichnis der Gemeindebürger in der Gemeinde Bernbach Königl. Bezirksamt Oberdorf. – Verzeichnis der in der Gemeinde Bernbach k. Bezirksamt Oberdorf Heimatberechtigten ohne Gemeindebürgerrecht. Hauptstaatsarchiv München [HStAM], Oberste Baubehörde OBB. – Staatsministerium der Justiz (MJU 4). – Staatsministerium der Justiz (MJU 5). Staatsarchiv Augsburg [StAA], Bezirksamt Marktoberdorf, Abg. 1985; Generalakten und Spezialakten. – Landgericht Augsburg, Präsidialakten. – Landgericht Augsburg, Schwurgericht [LG A, SG]. – Landgericht Augsburg, Strafkammer [LG A, SK]. – Landgericht Kempten nO. – Landgericht Kempten, Präsidialakten. – Landgericht Kempten, Staatsanwaltschaft. – Landgericht Kempten, Staatsanwaltschaft, Ältere Generalakten. – Landgericht Kempten, Staatsanwaltschaft, Bände. – Landgericht Kempten, Strafkammer [LG Ke, SK]. – Regierungskammer der Finanzen von Schwaben und Neuburg. – Rentamt Augsburg – Stadt. – Rentamt Kempten. – Rentamt Marktoberdorf. 295

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Stadtarchiv Augsburg [StadtAA], 10/725: Reichsbund für Vorbestrafte und Rechtshilfe. – Advokaten-Strafen 1827–1908. – FS Abzüge A, 7557. Stadtarchiv Kaufbeuren, Familienstandsbögen. Stadtarchiv Kempten, Kempten, Residenzplatz 4/6. Stadtarchiv Marktoberdorf, Häuserbuch, Bd. I und II.

Gedruckte Quellen Abegg, J. F. H., Zur Lehre der intellectuellen Urheberschaft in besonderer Beziehung auf das Verbrechen des Meineides, in: Der Gerichtssaal, Bd. 17, 1865, S. 266–297. Allgemeine Konferenz der Deutschen Sittlichkeitsvereine, Streitfragen. Wissenschaftliches Fachorgan der deutschen Sittlichkeitsvereine, Berlin, 1892–1894. – Verhandlungen der Allgemeinen Konferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine, Berlin, 1890–1894. Alsberg, M., Zur juristischen Natur der Eidesdelikte. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von den Fälschungsverbrechen, in: Der Gerichtssaal, Bd. 66, 1905, S. 54–78. Amelung, E., Der Volksanwalt: Universal-Rathgeber in allen Verhältnissen des bürgerlichen, gerichtlichen und geschäftlichen Verkehrs, Berlin 1858. Anonymus, Art. Winkel, in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexikon [Reprint Graz 1998], Bd. 57, 1748, S. 442. – Bekanntmachung vom 13.9.1879 den Vollzug der RStPO, hier Formulare für das Strafverfahren bei den Schwur- und Landgerichten betreffend, in: JMBl By, Bd. 2, 1879, S. 933–1157. – Bekanntmachung vom 24.9.1879 das Kostenwesen in gerichtlichen Strafsachen betreffend, in: JMBl By, Bd. 3, 1879, S. 1425–1484. – Bekanntmachung vom 29.12.1879 die Sitzungskleidung betreffend, in: JMBl By, Bd. 3, 1879, S. 1909–1912. – Bekanntmachung vom 3.9.1879, den Vollzug der RStPO, hier einige Bestimmungen zur Geschäfts- und Registraturordnung bei den Staatsanwaltschaften betreffend, in: JMBl By, Bd. 2, 1879, S. 565–603. – Bekanntmachung vom 6.8.1879 den Vollzug des GVG hier die Vorbereitung der periodischen Sitzungen der Schwurgerichte betreffend, in: JMBl By, Bd. 2, 1879, S. 355–358. – Das Gerichtsschreiberamt. Gesetze, betreffend die Dienstverhältnisse der Gerichtsschreiber […], Berlin 1879. – (Hg.), Der Kampf wider den Meineid. Vorträge auf der am 12. October 1893 zu Parchim gehaltenen Jahres-Versammlung des Landes-Ausschusses für Innere Mission in Mecklenburg, Rostock 1894. – Der neue Justizpalast in Brüssel, in: Deutsche Bauzeitung, Bd. XIX, 1885, S. 509. 296

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– Die Personalverhältnisse der Richter und Staatsanwälte in Bayern, in: DJZ, Bd. 13, 1908, S. 408 f. – Die Verhängung der Untersuchungshaft, in: ZRpB, Bd. 3.15/16, 1907, S. 336. – Dienstes-Nachrichten vom 23.8.1879, in: JMBl By, Bd. 2, 1879, S. 394–532. – Dienstvorschriften vom 14.9.1879 für die Gerichtsschreiber, in: JMBl By, Bd. 2, 1879, S. 743–921. – Ergebnisse der Zivil- und Strafrechtspflege und Bevölkerungsstand der Gerichtsgefängnisse und Strafanstalten des Königreichs Bayern im Jahre 1885, München 1887. – Geschäftsordnung für die Gerichtsschreibereien der Landgerichte. SeperatAbdruck aus dem Justiz-Ministerial-Blatt 32, Berlin 1879. – Ministerialentschließung vom 23.3.1879, den Vollzug des GVG, hier die Wahlen und die Herstellung der Listen für den Schöffen- und Geschworenendienst betreffend, in: JMBl By, Bd. 2, 1879, S. 160–173. – Ministerialentschließung vom 23.3.1879, die Herstellung der Urlisten für Schöffen und Geschworene betreffend, in: JMBl By, Bd. 2, 1879, S. 153–159. – Vorschriften für die Geschäftsbehandlung in den zur Zuständigkeit der Schöffengerichte gehörigen Strafsachen, in: JMBl By, Bd. 1, 1879, S. 1–229. Appelius, Sammelrez. Strafprozeß, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Bd. 37, 1895, S. 218–243. Aschrott, P. F., Die Personalverhältnisse des preußischen Juristenstandes, in: DJZ, Bd. 1, 1896, S. 107–110. – Die Versetzung älterer Richter in den Ruhestand zum 1. Januar 1900, in: DJZ, Bd. 4, 1899, S. 243–246. – Personalverhältnisse der Juristen in Preußen, in: DJZ, Bd. 9, 1904, S. 1072–1074. – Personalverhältnisse der preußischen Juristen, in: DJZ, Bd. 12, 1907, S. 57 f. Augsburger Abendzeitung, Augsburg, ab 1879. B., Kann eine Frage an einen Zeugen »als nicht zur Sache gehörig« zurückgewiesen werden, durch deren Beantwortung er über Umstände Aufschluß geben soll, die nach der Annahme des Fragenden für die Glaubwürdigkeit des Zeugen von Bedeutung sein würden?, in: ZRpB, Bd. 5.9, 1909, S. 191. Bähr, O., Der Eid und das religiöse Gewissen, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 51, 1883, S. 289–303. Bang, Justiz und Presse. Beiträge und Vorschläge zum Kapitel über das Ansehen der Gerichte, in: DRiZ, Bd. 1, 1909, S. 144–153. Barsch, H., Das Straf-Gesetzbuch für das Deutsche Reich, nebst den ZusatzBestimmungen des Gesetzes vom 26. Dezember 1871 […], Würzburg 1872. Bartolomäus, R., Der Eid als Mittel zur Erzwingung einer wahrheitsgemässen Aussage, in: DJZ, Bd. 1, 1896, S. 415–417. – Die Fassung des Zeugeneides in den deutschen Prozessordnungen, in: DJZ, Bd. 6, 1901, S. 136 f. Bauer, B., Der Eid. Eine Studie, Heidelberg 1884. Becker, Zur Reform des Strafprozesses: Hauptverhandlung – Öffentlichkeit, in: DJZ, Bd. 8, 1903, S. 555–558. 297

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Beiträge zur Psychologie der Aussage mit besonderer Berücksichtigung von Problemen der Rechtspflege, Pädagogik, Psychiatrie und Geschichtsforschung (Beiträge zur Psychologie der Aussage), Leipzig, ab 1903. Beling, E., Die Nichtbeeidigung unglaubwürdiger Zeugenaussagen und die Bestrafung uneidlicher Falschaussagen, in: DJZ, Bd. 6, 1901, S. 362–364. – Strafprozeß [Sammelrezension], in: ZStW, Bd. 27, 1907, S. 792–808. – Zur Strafprozeßreform, in: ZStW, Bd. 25, 1905, S. 593–602. Benedict, W., Die selbständigen Erhebungen des Vertheidigers und die Strafprozeßreform, Berlin 1901. Bennecke, H., Lehrbuch des Deutschen Reichs-Strafproceßrechts, Breslau 1895. Bergmann, D., Wo könnte die Justizverwaltung sparen?, in: Der Gerichtssaal, Bd. 62, 1903, S. 202–210. Berlin, H., Die Voruntersuchung nach bayrischem, französischem, englischem Recht und dem Entwurfe der deutschen Strafprozess-Ordnung, Bern 1876. Bernheimer, E., Die Öffentlichkeit der strafgerichtlichen Hauptverhandlung im bürgerlichen und militärischen Strafprozeß, ihre Geschichte und ihre Bedeutung, Karlsruhe 1914. Berthold, A., Volksjustiz oder Klassenjustiz? Proletarische Betrachtungen über Recht und Rechtspflege, Hamburg 1895. Beseler, G., Volksrecht und Juristenrecht, Leipzig 1843. Bewer, Bildberichte, in: DRiZ, Bd. 21, 1929, S. 37 f. Binding, K., Die Wahrheitspflicht im Prozesse, in: DJZ, Bd. 14, 1909, S. 161–167. – Grundriss des Gemeinen Deutschen Strafprocessrechts, Leipzig 1881. – Strafgesetzgebung, Strafjustiz und Strafrechtswissenschaft in normalem Verhältnis zu einander, in: ZStW, Bd. 1, 1881, S. 4–29. Birkenfeld, Die Strafbarkeit des fahrlässigen Falscheides, in: DJZ, Bd. 9, 1904, S. 784–789. Bittinger, Polizeilehrfilme, in: ZRpB, Bd. 18.21/22, 1922, S. 158 f. Bleyer, J., Sammlung bayerischer Justiz- und Verwaltungsgesetze, Bd. 1: Justizgesetze, München 1913. Boehm, Die Stenographie im Justizdienst, in: DJZ, Bd. 2, 1897, S. 381 f. Böhmer, K., Die Arbeitersekretariate Bayerns mit besonderer Berücksichtigung der Nürnberger, Nürnberg 1915. Bozi, Die Beeidigung der Zeugen im Vorverfahren, in: Der Gerichtssaal, Bd. 50, 1895, S. 361–377. Brandt, O., Der Eid in den Reichsprozessordnungen, Kassel 1895. Brauweiler, Zur Frage der Gerichtsberichterstattung, in: DJZ, Bd. 23, 1918, S. 188. Bretzfeld, F., Anleitung zur Führung der Sitzungsprotokolle in Strafsachen […], München 1912. – Die Behandlung der Strafsachen bei den bayerischen Justizbehörden. Eine systematische Zusammenstellung [...], München 1909. Bumke, S., Presse- und Bildberichterstattung im Strafprozeß, in: DRiZ, Bd. 21.8/9, 1929, S. 306–308. Burckhard, M., Der Richter, Berlin 1909. 298

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Register

Die kursiven Seitenzahlen beziehen sich auf Angaben in den Anmerkungen.

Personenregister Adickes, Oberbürgermeister 159 Ahlwardt, Hermann 30 Alsberg, Max 150 Ammann, Amtsrichter 53 Anderson, Margaret L. 109f. Anzengruber, Ludwig 149 Bebel, August 157, 180 Becher, Johannes 149 Benedict, Wilhelm 213 Bennecke, Hans 44, 46 Berent, Margarete 74 Binding, Karl 41 Böhm, Verteidiger 84, 97, 145 Brauneck, Anne-Eva 75 Brauweiler 109 Dalcke, Albert 44 Daude, Paul 44 Delius, M. 44 Deuber, Staatsanwalt 136 Dochow, Franz 44 Drexel, Otto – Gendarm 34, 133, 238, 251 Engels, Friedrich

Geyer, August 44, 99f. Glaser, Julius 200 Goldberg, Ann 248, 264 Gross, Hanns 44, 50, 92, 204f., 214, 223 Hab, Staatsanwalt 263 Habermas, Jürgen 109 Halle, Felix 179 Hamm 159 Hantmann, Untersuchungsrichter 59, 131, 189, 238 Heinze, Karl Rudolf 159 Heinze, Professor 85 Hellweg, August 44 Henschel, Arthur 224 Hommen, Tanja 245 Huch, Ricarda 149 Jäger 99 Jellinek, Camilla 178 John, Richard E. 44

157

Färber, Alexius – Gendarm Feuchtwanger, Leon 149 Fraenkel, Ernst 156f.

Friedländer, Adolf und Max 98 Friedmann, Fritz 9, 124, 273 Fuchs 100 Fuchs, Ernst 161

57f., 253 Kafka, Franz 150 Kant, Immanuel 28f.

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Karl, Untersuchungsrichter bzw. Landgerichtspräsident 59, 128, 238, 266 Keller, Adolf 44 Knauer, Johann – Gerichtsschreiber 58f., 64, 103, 220 Kohler, Josef 41 Kohn, Elisabeth 74 Kolisch, Otto 44 Kollmann, Anwalt 97 Krafft-Ebing, Richard 266 Krah, Carl 44 Kulemann, Wilhelm 214, 223 Lasker, Eduard 28 Lassalle, Ferdinand 180 Leonhardt, Adolph 84 Liebknecht, Karl 157, 180 Linnemann, Gerd 159 Lombroso, Cesare 206 Löwe, Ewald K.A.E. 44, 46, 50

Schmid, Untersuchungsrichter 128 Schmoeckel, Mathias 225 Schoch, Magdalene 75 Schubart-Fikentscher, Gertrud 75 Schulte, Regina 245 Schultz, Anna 178 Schwarmeyer, Elisabeth 74 Schwarz, Vanessa 109 Selo, Anna 74 Shaya, Gregory 146 Staubwasser, Rechtsanwalt 126 Staudinger, Julius 44 Stenglein, Melchior 44, 164 Stöcker, Adolf 30 Stritt, Marie 177 Suback, Ilse 149 Tucholsky, Kurt

Mamroth, Ernst 44, 99 Mann, Heinrich 150 Marx, Karl 157 Mayer – Oberlandesgerichtsrat 136 Meltzing, C. 44 Merkel, Richter 84 Meves 44 Mittermaier, C.J.A. 82, 167 Mittermaier, Wolfgang 84, 167 Ogorek, Regina 40 Otto, Maria 73 Papp, Karl – Gerichtsschreiber Polzin, Reinhold 92 Puchelt, Ernst S. 44 Putz, Anwalt 136

Rosenfeld, Ernst H. 44, 92 Schellhas, Paul 164

102

Radbruch, Gustav 83 Raschke, Marie 178 Reichenbach, Andreas 27 Reiner, Untersuchungsrichter 58, 218, 238 Repstein, Emmy 75 Rohling, August 30 Rosegger, Peter 149 Rosenberg, Werner 44, 46, 92

150

Ullmann, Emanuel

44, 45

Voitus, E.A. 42, 44 Vollmuth, Untersuchungsrichter 53 von Bomhard 44 von Fäustle, Johann Nepomuk 43 von Feuerbach, Anselm 83, 168 von Holtzendorff, Franz 44 von Kries, August 44, 92 von Lilienthal, K. 99 von Liszt, Franz 12, 99f., 205 von Mittnacht, Hermann 37 von Rothenfelder, Staatsanwalt 86, 88, 91, 97 von Savigny, Friedrich Carl 168 von Schwarze, Friedrich Oskar 42, 44, 84 Wach, Adolf 41 Walch, Staatsanwalt 263 Weber, Marianne 75 Wehner, Richter 84 Weitin, Thomas 224f. Wulffen, Erich 206 Zucker, Alois

92

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Ortsregister Allgäu 33, 152 Augsburg – Landgericht 16, 78, 84, 112, 118f. und 122f. und 126 (Gebäude), 139f., 248, 262f. – Oberlandesgerichtsbezirk 14, 43, 228 – Stadt 174–177, 179 Baden 73, 77 Bayern 13f.; 16, 36, 71f., 73f., 77f., 101f., 171, 174–176, 216f., 220, 264 Bayreuth 111 Berlin 14, 111, 132, 167 Biesenhofen 33, 128, 130 Braunschweig 73, 96 Deggendorf, Amtsgericht

139f.

Gehren 133 Günzach 127, 128 Hannover 79, 225 Hessen 73 Kaufbeuren 128 Kempten – Landgericht 16, 34, 102f., 117 (Gebäude), 139f., 191, 229, 248 – Stadt/Umfeld 33, 56, 128, 174f. Kraftisried 56, 128, 131, 210, 229 Landau 114, 143 Leipzig

112, 167

Marktoberdorf – Amtsgericht 34, 117 (Gebäude), 139f., 191, 229 – Stadt/Umland 16, 128, 152 Mecklenburg 73 Memmingen 219 Mindelheim 129 München 77, 111, 151, 167, 175, 176f. Nürnberg

177

Ob 33, 229, 261 Obergünzburg, Amtsgericht 56, 139f. Oldenburg 73, 77 Preußen 9, 36, 43, 71f., 73f., 79, 114, 158, 225, 264 Reinhardsried

56, 128, 131, 191, 229

Sachsen 73 Schotten 131, 211 Sonthofen 129 Thüringen

73

Unterthingau

56

Westenried 56, 229 Württemberg 73, 77, 171

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Sachregister Angst 83, 131, 197f., 240f., 280 Anklage 34, 49, 54f., 59f., 65, 87, 90, 134, 137, 212f., 239, 260, 263f., 267 Anwalt, Rechtsbeistand – Anwälte, Verteidiger 17, 26, 44, 47, 55, 66, 71f., 73–75 (Frauen), 78, 84, 88, 95–100, 104–106, 115, 118, 120, 122, 131, 144f., 153, 168, 177, 190, 194, 210, 212f., 222, 226, 234, 262f., 273, 276 – Deutscher Anwaltstag 74 – Deutscher Anwaltsverein 84 – Frauen als Pflichtverteidigerinnen 73f., 178 – Misstrauen gegenüber Anwälten 97f., 181 – Pflichtverteidigung 60, 96, 98, 214 – Rechtsbeistand, gesetzliche Vertretung 212f. – Rechtskonsulenten, ,Winkeladvokaten‘ 75f., 153, 276 Anzeige 65, 243–252, 263 – formaler Ablauf 34, 56, 90, 233, 244, 253 – Anteil erfolgloser Anzeigen 200 – Anzeigehäufigkeit 229, 244, 269 Ausbildung, juristische 70–72 Aussage – Aussage als Beweis 25 – Aussagepflicht, Aussageverweigerung (Zeugen) 26, 100, 191 – Aussagestrategien 67, 197, 230–233 – Vorladung 26, 129, 142f., 190f., 210, 254, 259 Beeinflussung des Verfahrens 165, 195–200, 231, 239, 255–262, 270 – Absprachen 35, 123 – Drohungen 231, 236, 259–261 – selbstständige Recherchen 255 Beleidigung – Beleidigungsklagen, Logik der Beleidigung 13, 35, 219, 232, 251, 264, 267 – Beschwerden als Beleidigung 262–265 Berufung, Revision, Neuverhandlung

– faktisch 35, 250f., 267 – formal 25, 33f., 54, 77, 125, 141f., 169, 229 Beweis 26, 58–60, 87–90, 94, 98–100, 120, 137, 140f., 145f., 149, 154, 159, 191, 212f., 219, 249–253, 267, 270 – Akten als Beweis 54–56 – Aussage als Beweis 25, 93, 193, 200f., 249, s. a. Glaubwürdigkeit – Beweisführung in der Voruntersuchung 48f., 65, 214f., 221, 254, 260f. – (gesetzliche) Beweisregeln 203–207, 219 – freie Beweiswürdigung 56, 79, 87, 215, 252, 281 – Indizienbeweise 25, 58, 140, 165, 204, 215 Bundesrat 38, 170, 262 Bürgerliches Gesetzbuch 9, 43, 177 Bürgertum, bürgerlich 10, 20, 70–72, 75f., 78f., 83f., 103–107, 109–112, 156f., 159–161, 166f., 171, 173, 179, 181f., 184, 206f., 234, 273–278, 280 – Def. Bürgertum 10 – Def. Staatsbürger 10 – hegemoniale bürgerliche Männlichkeit 75, 241 Demokratie, Demokratisierung 11, 42, 80, 107, 162, 248, 275, 273–283 Deutscher Juristentag 75, 82 Ehre, Ehrlogik 12, 165, 171, 173, 196f., 219, 246f., 257, 263, 270 – Berufsehre 88, 97, 223, 251f., 263f. Eid – Eid als Beweis (Zivilrecht) 26 – Eidesformel 26–28 – Eidritual 26f. – religiöser Eid; Eid und Religion 12, 26–32 – Kants Kritik am Eid 28f. – Kritik am Eid, Debatte, Reform 159, 201–203

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Elite – Abwehrkampf, elitär 76, 83, 103f., 106, 162f., 184, 266–268, 275 – Juristen als gesellschaftliche Elite 10, 70, 77, 275, 279 Emanzipationsbewegungen 11, 103, 173f., 182, 273, 279 – Arbeiterbewegung 84, 174–177, 275 – Frauenbewegung 73f., 84, 177f., 213, 275 Erfahrung 44, 70, 80, 82, 105, 172, 204–207, 281 Fachliteratur, juristische (Gesetzeskommentare, Zeitschriften, Handbücher) 43f. Folter, Foltervorwürfe 224f., 282 – Eid als ,Geistesfolter‘ (Kant) 29, 224 freie Rechtsanwaltschaft 71, 275 Gaststätten – als Orte von Gerichtshandlungen 126–131 – in Biesenhofen (Linder’sches Postgasthaus, Gasthof zur Post) 128, 130 – in Günzach (Bareis’sches Gasthaus) 127 – in Kaufbeuren (Zum Hasen) 128 – in Kraftisried (Zur Post) 131 – in Marktoberdorf (Gasthaus zur neuen Post) 53, 128 – in Reinhardsried (Gabler’sches Gasthaus) 131 – in Sonthofen (Gasthaus zum deutschen Haus) 128f. Geheimnis, geheime Verhandlungsschritte, Diskretion 11, 47, 89, 112f. (Def.), 114f., 122–135, 163, 169, 171, 185, 192, 274 – s.a. Voruntersuchung Gendarmerie, Gendarmeriestation 17 – Räumlichkeiten 33, 128, 132 – Recherchen 131–134, 234f. Gerede, Gerücht 15, 129f., 134, 193, 197, 210f., 235, 244–246, 253–257

Gerichtsakte – Aufbau 56–61 (Voruntersuchung 56–60; Hauptverhandlung 60f.) – Gebärdenprotokolle 63, 94, 240 – Logik, Narrativ 54–56, 64, 65f., 214, 276 (s.a. Multiperspektivität) – Quellenkritik 19, 61, 66–69 – Vernehmungsprotokolle 53, 61–65, 192f. Gerichtssaal, Justizgebäude 114–123 – als Ort der politischen Auseinandersetzung (s.a. Rote Hilfe) 100, 179–182 – Symbolik, Schmuck, Ausgestaltung der Gebäude 115–119 – Topographie, Ordnung des Gerichtssaals 87, 95, 119–122, 134 Gerichtsschreiber 43, 63f., 89, 95, 101–103, 115, 118, 120, 122, 126, 128, 177, 190–192 Gerichtsverfassungsgesetz 9, 38, 43, 101, 173 Gesetzesauslegung 40–51, 93, 104 – juristische Varianz 37, 46–51, 106, 190, 217–223, 277, 281f. – Methodenstreit 39–42 – Verwendung der ,Materialien‘/,Motive‘ 41, 45 Geständnis 98f., 214, 215–217, 282 Glaubwürdigkeit 25, 35, 99, 193, 196–199, 233–242 – grundsätzliche Skepsis der Juristen 200–207 – Zweifel an Glaubwürdigkeit bei Frauen, Technik der indirekten Bestätigung 205f., 236–238 – Zweifel an Glaubwürdigkeit bei Juden 30f. – Zweifel an Glaubwürdigkeit bei Sozialdemokraten 201 Grundrechte, Schutzrechte 39, 83, 105, 213, 223, 277

Hausdurchsuchung 57, 87, 94, 132, 253 Hierarchie innerhalb des Strafverfahrens 11, 86–103, 120–122, 134, 139, 141, 276

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Journalisten 119, 125, 147, 163f., 175 Juden, jüdische Bevölkerung – Antisemitismus 30f., 161, 276 – Gleichstellung 30f., 71, 84, 161 – jüdische Juristen 71f., 161, 276 Justizkritik 148, 150f., 156–161, 182 – Klassenjustizthese, Klassengesetz 9, 71, 156–160, 162, 175f., 179, 269, 278 – Männerjustizthese 158, 177f. – Rassenjustizthese 158 – Reaktion auf Justizkritik 159, 161–173 (s.a. Beschwerden als Beleidigung) – völkische Justizkritik 160f. – Weltfremdheit 82f., 148, 159f. Justizministerium – Bayern 37, 262 – Preußen 124

Kirche, Konfessionen – Katholiken, katholische Kirche 72, 157, 170, 175f. – Protestanten; protestantische Kirche 31, 175 – Rolle der Kirche im Staat 30–32, 72, 116f. (Gerichtsgebäude), 275, 279 – Säkularisierung 30 Kriminologie 80, 137, 149, 160, 205f., 216, 223, 282

,Laie‘, s.a. Geschworene/Schöffen – Begriff 84f. Leitbilder des Strafverfahrens 25, 39, 50, 226 – inquisitorisch/,inquisitorisch‘ 25, 39, 47, 223–225 – Parteiverfahren 25, 39 Liberalismus, liberal 9, 11f., 38, 72, 79, 83f., 88, 92, 98, 103, 106f., 110, 125, 158, 161, 163, 173, 226, 274, 278, 280–282 Lobbyismus, Petitionen – Def. Lobbyismus 32 – Petitionen, Kampagnen 28f.; 31f., 74, 174, 178, 182f., 264, 279 – religiöser Lobbyismus 32, 170–174, 279

Macht – Def. 10 – Macht / Machtkonflikte, innerhalb des Gerichts 12, 14, 86–104, 242, 278 – Machtkonflikte, gesellschaftlich 10–12; 103f., 165, 181–184, 242 – Machtstrukturen, lokal 15, 196–200, 234f., 240f., 245–247, 260f., 270 – s.a. Hierarchie innerhalb des Verfahrens Medien 136–155, 258, 280f. – Augsburger Abendzeitung 16, 139–145 – Film/Kino 151–154 – Literatur 148–151 – Lokalpresse 16, 138–146 – Oberdorfer Landbote 16, 138–145 – überregionale Presse 138, 147f. – Zeitungsannoncen 246f., 256–258 Meineid, Eidesbruch 27, 77, 195, 239 – ,meineidig machen‘ 240, 260f. – Meineidslogik 32f. – Sanktionen, Strafen 29, 35f., 201f., 230f. – steigende Meineide, sinkender Respekt vor dem Eid 201–203, 252, 269 Misstrauen/Distanz 91, 200, 225, 269, 280 Multiperspektivität, Homogenisierung 17, 24, 52, 53–69, 105, 275f. Nachbarn, persönliches Umfeld 34, 131, 136, 143–145, 196f. Nationalliberale 28, 139, 170 Öffentlichkeit 15, 37, 109–113, 277 – Ausschluss der Öffentlichkeit 123–125, 168–173 – Def. 110–112 – Kritik an der Öffentlichkeit, Debatte, Reform 12 – gesetzliche Einschränkung 161–173 Persistenz 11, 80, 106, 172, 281f. Persönlichkeitsschutz 153, 165 Presserecht 77, 137f., 151–153, 169–171 Professionalisierungsdiskurs, Professionalität 70, 80, 84, 105, 183, 201, 203, 206f., 276–278 Querulationsvorwurf

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Rechtsberatung, freie – Rechtsberatungsstellen 173–178 – Rechtsratgeber 173 – Rote Hilfe 179–182 Rechtsbewusstsein 77, 80, 83, 161, 178 Reichsgericht 31, 125, 137 Reichsstrafgesetzbuch/Strafgesetzbuch 9, 38, 105, 152, 170, 172f., 177, 225, 266 Reichstag 38, 143, 170 Richter 11, 17, 26f., 31, 35, 42–44, 54, 56, 70–72, 73f. (Frauen), 77f., 80–84, 86–91, 95f., 98–100, 102f., 106, 110, 117–122, 124f., 141f., 144f., 150, 153, 158–162, 164f., 166, 168–170, 177, 183, 191f., 194, 200, 202–205, 208f., 211, 217, 222, 226, 230, 232, 234, 239–241, 252, 263f., 278 – Deutscher Richterbund 84 – Deutscher Richtertag 74, 83, – Preußischer Richterverein 84 – Republikanischer Richterbund 162 – Richterleitbild 40–42 Robe 72, 87, 90, 102 Schöffengericht 38, 55, 77, 82, 85, 111, 117 und 121 (Gebäude), 134, 139–141, 159f. – Auswahl der Schöffen 78f. (Urliste), 144, 161f. – Schöffen 74 (Frauen), 12, 77–79, 86, 89, 139, 141, 173, 228 – Zusammensetzung der Schöffen 78 Schuld – implizites Schuldeingeständnis 219 – Unschuldsvermutung 213–215, 225f. Schwurgericht 11, 38, 77, 89, 110f., 118–122 (Gebäude), 141, 159, 202 – Auswahl der Geschworenen 78f. (Urliste), 140, 144, 149 – Fragerechte, Urteilsfällung 55, 87, 88f., 94, 142 – Geschworene 12, 74 (Frauen), 77–87, 89, 136, 168, 173, 228, 277, 279, 281 – Kritik am Schwurgericht, Debatte, Reform 11f., 79–84 – Zusammensetzung der Geschworenen 78f., 83, 150, 162 Sittlichkeitsvereine, Innere Mission 31f., 170, 202, 279 Sitzungspolizei 87, 91, 95f., 168

Skandal, Skandalprozesse 9, 13, 93, 97, 145, 147f., 152, 163, 183, 245, 254, 269, 278 – Eulenburg 9, 148, 183, 254 – Graef 148, 168f. – Harden 125, 164 – Hauptmann von Köpenick 9, 148, 152, 165 – Heinze 9, 148, 168–171 (Lex Heinze) – Hitlerprozess 1932 153 – Kneißl 211 – Konitz 13, 148, 165, 254 – Kwilecki 148 – Lubbe 153 – Raubmörder Hennig 152 – Sternberg 99 – Tscherwonzen-Fälscher 153 Sozialdemokraten 28, 31, 71, 72, 84, 158, 171, 278 – als Geschworene 83, 162 Sozialistengesetz 9, 158, 181, 245 Staatsanwalt 11, 17, 26, 33, 44, 47f., 55–59, 65, 68, 70–72, 73 (Frauen), 88–91, 95, 97, 99–101, 103, 106, 115, 118f., 121, 124f., 131f., 143f., 153, 160, 190, 194, 210, 226, 234, 244, 256, 262–264, 278 Strafe 24–26, 54, 60, 77, 88, 116, 141, 143f., 148f., 157, 170, 190, 196, 214, 217, 218, 220, 224, 230f., 235f., 263, 277 – s.a. Meineid, Sanktionen Strafprozessordnung – allgemeine Reformdebatte 38f.; 142f., 279 – Stellung der Frauen 212f. Teilhabe, Partizipationsanspruch 10, 78, 80, 83f., 106, 156, 181, 182f., 266–271, 274, 279f. Untersuchungshaft 97, 214, 253 – Kollusionsgefahr/Collusionsgefahr 129, 209 Untersuchungsrichter 47–52, 57f., 61, 63–68, 91–94, 96f., 102–104, 117, 126–131 (Räumlichkeiten), 132, 134, 190, 193, 208, 214, 218f., 221–224, 226, 229, 234, 238, 241, 256

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Urteil 25, 33, 35, 40, 44, 49, 55f., 60, 74, 78, 87–89, 105, 112, 122f., 125, 134, 139–141, 145, 147, 148, 150–153, 158f., 166, 168f., 179f., 196, 204, 216, 246, 248, 250–252, 264–267, 270, 276 – Gerichtsurteile als Grundlage der Gesetzesauslegung 46 – Urteilsfällung in Schöffengerichten 77, 82, 85 – Urteilfällung in Schwurgerichten 77f., 80f., 83, 85, 89, 142, 202 (s.a. Rechte der Geschworenen) – Urteilsschrift, Urteilsbegründung 60f., 235, 242, 253 Verhör, Vernehmung des Verdächtigen/Angeklagten 209–227 – Ablauf 87, 210–225 – Befragungstechniken (auch Vorhalt, Konfrontation) 15, 221–225 – Begriff 209 – Belehrung 159 – soziale Folgen der Vernehmung 143 – Schweigerecht 218f. Verteidigung – materielle Verteidigung 88, 96f. – formelle Verteidigung 88 – s.a. Anwalt, Rechtsbeistand Vertrauen/Nähe 110, 200, 269, 280 Voruntersuchung 46–51, 88, 90, 102f. – Ausgestaltung 47f., 57 (Eröffnung), 92–94

– Kritik an der VU, Reformdebatte 47f., 125, 159 – Öffentlichkeit/Geheimnis in der Voruntersuchung 111f., 125, 126–131, 134, 210 – Ziel, Zweck 48–50 Wahrheit – Ermahnung zur Wahrheit 142, 215, 220 – formelle Wahrheit 24, 35f., 49, 105, 146 – materielle Wahrheit 24, 35f., 49, 90, 105, 146 – Wahrheit im Meineidsverfahren 32–36 Wissen, Kenntnisse, Informationsquellen, Alltagswissen 10, 110, 129, 133f., 141, 143, 145, 149, 153–155, 165, 173, 180f., 193–195, 212, 228–242, 263, 270, 273f., 280 Zeugenvernehmungen 190–208 – Ablauf 87f., 128–131, 190–193 – Befragungstechniken (auch Vorhalt, Konfrontation) 15, 61f., 193–195 – soziale Folgen der Vernehmung 144, 196–200 – schweigende Zeugen, offensives Schweigen 195–200, 236 – Zeugengebühr 26, 128, 229 – Zeugenzimmer 123 Zivilgericht 142, 249

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