Luthertum und Demokratie: Deutsche und amerikanischen Theologen des 19. Jahrhunderts zu Staat, Gesellschaft und Kirche 9783666551833, 3525551835, 9783525551837

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Luthertum und Demokratie: Deutsche und amerikanischen Theologen des 19. Jahrhunderts zu Staat, Gesellschaft und Kirche
 9783666551833, 3525551835, 9783525551837

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V&R

Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte

Herausgegeben von Adolf Martin Ritter und Thomas Kaufmann

Band 75

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 2001

Luthertum und Demokratie Deutsche und amerikanische Theologen des 19. Jahrhunderts zu Staat, Gesellschaft und Kirche

von Angelika Dörfler-Dierken

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 2001

Die Deutsche Bibliothek - CI

Ρ-Einheitsaufnahme

Dörfler-Dierken, Angelika: Luthertum und Demokratie: deutsche und amerikanische Theologen des 19. Jahrhunderts zu Staat, Gesellschaft und Kirche / von Angelika Dörfler-Dierken. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2001 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 75) Zugl.: Heidelberg, Univ., Habil.-Schr., 1998 ISBN 3-525-55183-5

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

© 2001 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen.

Danksagung

Der Erziehungsurlaub nach der Geburt unseres Sohnes Jakob eröffnete mir die Möglichkeit, meinen Mann an die Divinity School der University of Chicago zu begleiten. Wir wohnten und lebten in Chicagos Süden, auf dem Campus der Lutheran School of Theology. Hier wurde mir erstmals sinnenfallig deutlich, daß die lutherische Reformation Wirkungen hatte, die über Europa weit hinausgreifen. Lutheraner leben eben nicht nur in Deutschland oder in den skandinavischen Ländern, sondern auch seit über drei Jahrhunderten in den Vereinigten Staaten von Amerika. Aus der lebendigen Erfahrung und Anschauung der Andersartigkeit dieses Luthertums im Vergleich zu dem gewohnten erwuchs die Frage, wie und warum dessen besondere Gestalt sich geschichtlich entwickelt hat. Dabei zeigte sich schnell, daß die Geschichte des amerikanischen Luthertums nicht als zufalliger Appendix zur kontinentaleuropäischen protestantischen Kirchengeschichte zu verstehen ist, sondern sich durchaus eigenständig entwikkelt hat. Erste Studien konnte ich in der Bibliothek der Lutheran School of Theology in Chicago und in der dortigen Regenstein Library treiben. Ermutigung erfuhr ich in dieser Phase der Entwicklung der Idee durch die Professoren der lutherischen Ausbildungsstätte, denen ich meine Überlegungen in einem Vortrag vorstellen konnte. Herr Professor Phil Hefner von der Lutheran School of Theology vermittelte mir Gesprächskontakte zur Historischen Konferenz der amerikanischen Lutheraner und zu einzelnen Kirchengeschichtlern und Historikern. Gespräche mit Professoren der Divinity School der University of Chicago, den Herren Dr. Jerald C. Brauer, Dr. Martin E. Marty und Dr. W. Clark Gilpin, brachten ermutigende Hinweise. Ich bin sehr dankbar dafür, daß ich die Chance erhielt, den offenen Geist und die Freundlichkeit der Vertreter der ,Chicagoer kirchengeschichtlichen Schule' kennenzulernen. Bald schlossen sich zwei Forschungsreisen an den Aufenthalt in Chicago an: zum Concordia Historical Institute in St. Louis, wo mir Quellen zu Carl Ferdinand Wilhelm Walther zugänglich gemacht wurden, sowie zum Gettysburg Theological Seminary mit der Abdel Ross Wentz Library sowie zur Musselman Library in Gettysburg - , wo die Quellen zu Samuel Simon Schmucker zu finden sind. In Gettysburg forderten die Professoren Dr. Eric W. Gritsch und Dr. Frederick K. Wentz meine Studien. Finanziell unterstützt wurden diese Reisen durch ein Stipendium des Landes Baden-Württemberg und eine Reisebeihilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

6

Danksagung

Die Theologische Fakultät der Ruprecht Karls-Universität Heidelberg hat diese Untersuchung im Jahre 1998 als kirchengeschichtliche Habilitationsschrift angenommen. Herr Professor Dr. Adolf Martin Ritter hat die Bedingungen geschaffen und den Freiraum gewährt, in dem die Untersuchung gedeihen konnte. Ihm für diese Möglichkeit zur Einübung ins wissenschaftliche Arbeiten zu danken sowie ebenso dafür, daß er die Untersuchung gutachterlich begleitet und ihre Aufnahme in die Reihe Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte befürwortet hat, ist mir eine besondere Freude. Herr Professor Dr. Gottfried Seebaß hat trotz einiger Einwände gegen eine deskriptiv-genetische Verwendung der Kategorie Luthertum durch sein Zweitgutachten dazu beigetragen, daß das Verfahren seinen geregelten Gang gehen konnte; dafür möchte ich ihm herzlich danken. Kirchengeschichtliche Untersuchungen wie diese könnten nicht entstehen, wenn nicht die Infrastruktur' dafür bereitstände. Deshalb gebürt den Bibliothekaren und Archivaren der genannten Einrichtungen in den Vereinigten Staaten von Amerika sowie denjenigen in Heidelberg, Nürnberg, Hamburg und andernorts ein herzlicher Dank für ihre aufmerksame Hilfe bei der Literaturbeschaffung. Besonders danken möchte ich Frau Annette Gerstenkorn, die mir viel Arbeit abgenommen hat - von Kindhüten bis Kopieren. Von ungleich größerer Bedeutung aber war die häusliche Unterstützung, die Jakob und seine forschende Mutter von Oma Rita und Opa Erich erfuhren. In der Endphase der Vorbereitungen zur Veröffentlichung der Studie haben Herr Görge Κ. Hasselhoff und Herr Tobias Woydack in hilfreichster Weise für ein ansprechendes Layout gesorgt und bei der Erarbeitung der Register geholfen. Frau Reinhilde Ruprecht und die Mitarbeiter des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht haben es ermöglicht, daß diese Schrift kurz nach dem zweihundertjährigen Geburtsjahr des liberalen deutschen Theologen Richard Rothe und seines amerikanischen Geistesverwandten Samuel Simon Schmucker erscheinen konnte. Meine Hoffnung ist, daß diese Studie die Diskussionen um die gerade in unseren Tagen neuerlich bewegende Frage nach der lutherischen Identität befruchtet; und zwar - so würde ich es mir zumindest wünschen - auf eine solche Weise, daß das Verständnis für unterschiedliche, geschichtlich gewachsene Traditionen innerhalb der lutherischen wie der linierten Kirchen zur Besinnung auf das je Andere und Bescheidenheit gegenüber dem je Eigenen anregt.

Inhalt Einleitung 1. Lutherische Sozialethik im Kontext 2. Methodische Grundentscheidungen 3. Begründung der Auswahl der ethischen Entwürfe 4. Quellen 5. Forschungslage 6. Aufbau und Ziel

11 11 17 20 26 29 32

Die lutherischen Kirchen in Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika: Statistischer und historisch-religionssoziologischer Vergleich 1. Rechtliche Stellung der Kirchen in beiden Staaten 2. Christliche Prägung beider Staaten 3. Das jeweilige Verhältnis von Staat und Gesellschaft 4. Christliche Prägung der beiden Gesellschaften 5. Deutsches und amerikanisches Luthertum in Zahlen

35 35 37 40 41 43

Teil A: Richard Rothe: Liberaler Verfassungsstaat - Sittliche Gesellschaft - Protestantischer Nationalverein 1. Grundzüge der Ethik 1.1 Spekulative Pflichtenethik 1.2 Überkonfessionelle Ethik 1.3 Moderne Ethik 2. Staat 2.1 Reich Gottes 2.2 Moderner Staat 2.3 Verfassungsstaat 2.4 Weltbund der Verfassungsstaaten 2.5 Deutscher Nationalstaat 2.6 Monarchisches Prinzip 3. Gesellschaft 3.1 Die revolutionäre Masse 3.2 Verfassungspatriotismus 3.3 Verfassungsbruch 3.4 Sittliche Staatsbürger

49 51 52 54 61 62 64 66 68 73 76 79 82 83 87 88 94

8

4.

Inhalt Kirche 4.1 Bedeutung der Kirche 4.2 Selbständige Landeskirche 4.3 Gemeindeverfassung 4.4 Protestantischer Nationalverein

98 99 100 103 107

Teil B: Samuel Simon Schmucker: Demokratischer Verfassungsstaat Erwecktes Volk - Protestantische Zivilreligion 1. Grundzüge der Ethik 1.1 Biblische Pflichtenethik 1.2 Protestantische Ethik 1.3 Pietistische Ethik 2. Staat 2.1 Demokratischer Verfassungsstaat 2.2 Wächteramt der christlichen Staatsbürger 2.3 Göttliches Recht und Menschenrecht 2.4 Revolution 2.5 Amerikanischer Nationalstaat 2.6 Demokratisches Prinzip 3. Gesellschaft 3.1 Endzeitliches Friedensreich 3.2 Freiwilligkeit und freier Wille 3.3 Abolition 3.4 Protestantische Einheitsfront 4. Kirche 4.1 Individualismus 4.2 Kongregationalistische Kirchenverfassung 4.3 Protestantische Nationalkirche 4.4 Protestantische Zivilreligion

115 116 119 120 128 133 135 139 146 149 150 153 157 158 160 163 175 178 178 179 181 184

Teil C: Christoph Ernst Luthardt: Christlicher Rechtsstaat Lutherisches Volk - Lutherische Nationalreligion 1. Grundzüge der Ethik 1.1 Christliche Gesinnungsethik 1.2 Konfessionelle Ethik 1.3 Apologetische Ethik 2. Staat 2.1 Geschichtliche Schöpfungsordnung 2.2 Göttliches Recht und Rechtsstaat 2.3 Harmonie zwischen Staat und Kirche 2.4 Wächteramt der Kirche 2.5 Deutscher Nationalstaat 2.6 Völkisches Prinzip

187 190 192 195 199 201 202 206 209 214 217 220

Inhalt 3.

4.

Gesellschaft 3.1 Innere Mission 3.2 Sozialdemokratie 3.3 Gehorsam 3.4 Antikatholizismus Kirche 4.1 Volkstümliche Landeskirche 4.2 Corpus Lutheranorum 4.3 Antirationalistische Gemeindeverfassung 4.4 Lutherische Nationalreligion

9 227 228 234 239 242 245 246 249 251 253

Teil D: Carl Ferdinand Wilhelm Walther: Christlicher Machtstaat Widergöttliche Gesellschaft - Konfessionelle Freikirche 1. Grundzüge der Ethik 1.1 Pietistische Verhaltensethik 1.2 Repristinatorische Ethik 1.3 Antiweltliche Ethik 2. Staat 2.1 Heilige Schöpfungsordnung 2.2 Väterliche Gewalt 2.3 Christliche Obrigkeit 2.4 Fürbittamt der Christen 2.5 Pfarrer als Bürger 2.6 Kirchliches Prinzip 3. Gesellschaft 3.1 Vereinskritik 3.2 Sklaverei 3.3 Widerstand durch Flucht 3.4 Sektenkritik 4. Kirche 4.1 Wahre sichtbare Kirche 4.2 Kongregationalistische Kirchenverfassung 4.3 Kirchenzucht 4.4 Lutherische Sekte

259 264 265 270 273 278 280 281 287 292 296 301 302 303 305 310 311 315 316 319 325 330

Luther als Argument für Demokratie und Demokratisierung? 1. Unterschiede und Gemeinsamkeiten 2. Kirche 3. Gesellschaft 4. Staat 5. Demokratie 6. Demokratie und Pietismus 7. Luther und seine Enkel

335 337 339 341 344 347 350 354

10

Inhalt

Anhang: Zwei Familiengeschichten

363

Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Handschriftliche Quellen 1.1 Richard Rothe 1.2 Samuel Simon Schmucker 1.3 Christoph Ernst Luthardt 1.4 Carl Ferdinand Wilhelm Walther 2. Gedruckte Quellen 2.1 Richard Rothe 2.2 Samuel Simon Schmucker 2.3 Christoph Ernst Luthardt 2.4 Carl Ferdinand Wilhelm Walther 3. Sekundärliteratur

373 373 373 376 377 377 379 379 382 386 390 393

Register 1. Bibelstellen 2. Personen 3. Begebenheiten und Sachen

438 438 439 443

Einleitung

1. L u t h e r i s c h e S o z i a l e t h i k i m K o n t e x t

Vor gut einem Dezennium hat eine Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands klargestellt, daß die deutschen Protestanten die demokratischen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland in bewußter Verantwortung mittragen. 1 Hier bricht die deutsche evangelische Kirche mit ihrer antidemokratischen Tradition, die sich in der Ablehnung der Weimarer Republik, der ersten Demokratie auf deutschem Boden, mit fatalen Konsequenzen gezeigt hatte. 2 Eine positive Wertung der Demokratie gilt in ideengeschichtlicher Perspektive eher als Folge der reformiert-puritanischen theologischen Tradition denn der lutherischen, weil jene den Gedanken eines Bundes Gottes mit seinem Volk akzentuiert und also die Verantwortung v o n Regent und Volk eingeschärft habe. Max WEBER und Ernst TROELTSCH vertraten übereinstimmend die Überzeugung des „calvinischen Ursprungs der Modernität und des konservativen Charakters des Luthertums." 3 Dagegen hat der Historiker Thomas NlPPERDEY die These aufge1 E V A N G E L I S C H E K I R C H E ; S T R O H M , Demokratie, 807: „Aus der Erkenntnis, daß Demokratie] nicht ohne Einwirkung des Christentums, aber wesentlich an ihm vorbei entstanden ist, erwuchs die Aufgabe der konstruktiven Aneignung und Ausgestaltung." 2 T A N N E R ; L E H M A N N , Katastrophe; F I S C H E R , Protestantismus; Z I L L E S S E N . Im Sammelbd. F R E I H E I T werden bedeutsame Dokumente zur Geschichte des protestantischen Demokratieverständnisses aus den zwei Jh. zwischen 1789 und 1989 präsentiert und kommentiert. Als Ausnahme unter den deutschen Theologen ist Emst Troeltsch durch von T H A D D E N eindringlich gewürdigt worden. Zu Möglichkeiten, das Resistenzpotential einzelner Lutheraner im Nationalsozialismus vor dem Hintergrund der neueren Widerstandsforschung zu beschreiben vgl. N O W A K , Kirche. 3 NlPPERDEY, Max Weber, 193. Obwohl schon früh Einwände gegen diese These von der Modemitätsfeindlichkeit des Luthertums vorgebracht wurden, ist sie sowohl in Deutschland wie auch in den Vereinigten Staaten von Amerika bis in die jüngste Zeit hinein beliebt.

V g l . NICHOLS; HATCH, Democratization;

HUBER, Protestantismus;

ders., Christianity.

Neuere

kirchenhistorische Untersuchungen zeigen dagegen, daß schon die Sozialethik des frühneuzeitlichen Luthertums die Begrenzung von Herrschergewalt zum Ziel hatte. Nachweise bei NOWAK, Protestantismus, 3-5. Allerdings, so schränkt Nowak ein, band das Luthertum allzu lange den Herrscher ausschließlich an seine Verantwortung coram Deo. SOMMER stellt fest, daß lutherische Hofprediger des 17. Jh. ihren Regenten energische Strafpredigten in der Tradition Luthers hielten. Vgl. a. die Aufsätze in dem Sammelband CHRISTENTUM. Troeltschs Darlegungen zur politischen Ethik des Calvinismus sind jüngst von STROHM, Macht, präzisiert und weitergeführt worden.

12

Einleitung

stellt, daß die lutherischen Kirchen in Deutschland ebensowenig aufgrund ihrer lutherischen Tradition Teil des Obrigkeitsstaates wurden wie die calvinisch geprägten Kirchen in der angelsächsischen Welt aufgrund der calvinischen Soziallehre zu Vorläufern der modernen Freiheitsbewegungen. Entscheidend seien vielmehr die jeweiligen politischen Umstände.4 Das würde bedeuten, daß die deutschen Lutheraner nicht deshalb antidemokratisch agierten, weil sie Lutheraner, sondern weil sie Deutsche waren; die amerikanischen Lutheraner müßten dagegen deshalb Demokraten gewesen sein, weil sie amerikanische Staatsbürger waren. Daß die Formulierung lutherischer Sozialethik kontextabhängig ist, leuchtet grundsätzlich ein, ist aber noch nicht an den Quellen überprüft worden, obwohl dies grundsätzlich möglich wäre; denn schon im 19. Jh. lebten Lutheraner sowohl unter demokratisch-egalitären Bedingungen - in den Vereinigten Staaten von Amerika - als auch unter monarchisch-ständischen - in den deutschen Kleinstaaten beziehungsweise ab 1871 im Deutschen Reich. Ihre sozialethischen Entwürfe können also daraufhin überprüft werden, welchen Einfluß die unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen auf die sozialethische Lehrbildung hatten. Die Kontextbezogenheit lutherischer sozialethischer Entwürfe konnte überhaupt erstmals im 19. Jh. sichtbar werden: Nach der amerikanischen Revolution entwickelte sich jenseits des Atlantiks eine egalitäre Gesellschaft, die den amerikanischen Staat als demokratische Republik bezeichnete und als Produkt ihres eigenen Wollens begriff.5 Amerikaner mußten niemals um Waffen- oder Jagdrecht kämpfen oder sich mit Privilegien verschiedener Stände auseinandersetzen. Adel, Patriziat, Honoratioren und Berufsbeamte fehlten. Alle weißen Männer galten in gleicher Weise als frei. Selbstverwaltung und Dezentralisation ersetzten die Staatsmacht.6 In Deutschland war dagegen der Einfluß der Gesellschaft auf den Staatsapparat noch gering. Bis hinein ins 20. Jh. waren die politischen Verhältnisse von der Dauerwirkung ständischer Kräfte geprägt. Zwar deuten die in dieser Zeit aufgekommenen Adjektive konstitutionell', repräsentativ' oder auch demokratisch' in Verbindung mit dem Substantiv Monarchie darauf hin, daß ein Wandel im Verständnis des Königtums Gange ist; aber nur dann, wenn man die gleichzeitigen romantischen Übersteigerungen des Kaiser-, König- und Fürstentums als Verfallserscheinungen deutet,7 zeigt

4

NlPPERDEY, Luther, 33f; ERDMANN, Luther, 57f, bemerkte schon einige Jahre früher: „Der gleiche Luther erscheint also als Gewährsmann sowohl von fürstlichem Obrigkeitsstaat wie von rechtsstaatlicher Demokratie, je nachdem in welcher historischen Lage seine Lehre zur Wirkung gelangte." 5 Grundsätzlich ist eine Demokratie dadurch ausgezeichnet, daß sie verfassungsmäßig den Schutz der Rechte einer Minderheit gewährleistet, sich zu organisieren. CONZE, Demokratie-, TÖDT, Demokratie. 6 GERHARD, Regionalismur; ders., Entwicklung. 7

BOLDT, 189.

1. Lutherische Sozialethik im Kontext

13

sich in Deutschland ein eindeutiger Richtungssinn der geschichtlichen Entwicklung. Lutherische Sozialethiker mußten sich in beiden Staaten den unterschiedlichen politischen Entwicklungen stellen, ethische Unterscheidungen treffen und Entscheidungen fallen, die der jeweiligen historischen Situation Rechnung trugen. Mit der bloßen Wiederholung Lutherscher Topoi und Argumentationsfiguren konnten sie sich nicht begnügen; sie mußten sich LUTHER vielmehr in ihrer jeweiligen Gegenwart neu aneignen und also eine Interpretationsleistung vollbringen. Der Reformator kannte weder den neuzeitlichen Staat noch die Frage nach der rechten Gestaltung seiner Verfassung; er kannte keine Gesellschaft freier Individuen, die nicht nur ihren Beruf wählen, sondern auch in religiöser Hinsicht entsprechend eigener Willkür entscheiden. Schon die Terminologie LUTHERS unterscheidet sich von derjenigen des 19. Jh. Während der Reformator von der Obrigkeit und ihrem Schwertamt, von weltlicher Gewalt oder weltlicher Ordnung, von iustitia civilis und Weltreich spricht,8 mußten die Lutheraner des 19. Jh. sich mit einer Vielzahl von neuen Begriffen sowie dem Bedeutungswandel auseinandersetzen, 9 den ältere Termini erlebten: Der Staat wird als Kulturstaat, Nationalstaat, Verfassungsstaat, 10 Rechtsstaat, Machtstaat, Sozialstaat oder christlicher Staat bezeichnet. 11 Wenn Lutheraner im 19. Jh. ihren empirischen Staat in LUTHERS Begrifflichkeit als „Obrigkeit" bezeichnen, dann bringen sie vor allem eine beiden Begriffen gemeinsame Bedeutungsdimension zum Ausdruck: Obrigkeit und Staat besitzen beide, so die Formel von Max WEBER, das „Monopol der legitimen Gewaltanwendung." LUTHER denkt an bestimmte Personen und ihre Verantwortung, wenn er von Obrigkeit spricht, unabhängig davon, ob es sich um eine monarchische, eine demokratische oder eine aristokratische handelt. 12 Der neuzeitliche Staat ist dagegen eher als eine juristische Person 8

LOHFF.

Einleitung. Zur Entwicklung des Verständnisses der Begriffe Verfassung und Konstitution von der amerikanischen Revolution an vgl. GRIMM, 891, 898. Im Hintergrund der Theorie des Verfassungsstaates steht die aufgeklärte Vertragstheorie: Die Individuen verbinden sich zum Schutz von Freiheit und Eigentum. Während bis 1848 der Staat an der Verfassung gemessen wurde, verkehrten sich nach der Oktroyierung von Verfassungen die Verhältnisse in Deutschland. Jetzt wurde die Verfassung vom Staat her ausgelegt. Erst nach den Erfahrungen der Weimarer Demokratie und des nationalsozialistischen Regimes wurde die Verfassung zur Norm des Staates. In den Vereinigten Staaten wurde dagegen die Verfassung immer von der Gesellschaft her ausgelegt. 1 ' K O S E L L E C K , Staat-, H A V E R K A T E , 68, zur Bedeutung Kants für die Entwicklung des Gedankens des Rechtsstaats und zur politischen Diskussion um die Schlagworte Fürstensouveränität und Staatssouveränität. R E N D T O R F F , Christentum, 801-807, unterscheidet einen fortschrittlichen und einen konservativen Begriff des christlichen Staates. Vgl. a. BRUCH, 63f. 12 LUTHER, Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können, 1526 (WA 19, 635.1728) unterscheidet in Anlehnung an Aristoteles als verschiedene Herrschaftsformen Monarchie (verwirklicht in England und Frankreich), Demokratie (Dänemark und Schweiz) und Aristo9

10

KOSELLECK,

Einleitung

14

zu bezeichnen, also als eine Anstalt. 13 Dasselbe Grundproblem stellt sich im Bereich der Gesellschaft. Weder die ständisch gegliederte Gesellschaft noch die Klassengesellschaft ist in der lutherischen Unterscheidung zwischen Lehrstand, Wehrstand und Nährstand vorgebildet. 1 4 Einen grundlegenden Wandel erfuhren auch die Begriffe Volk und Nation. W i e der deutsche Begriff Volk rückt auch der amerikanische Begriff nation erst um 1800 zu einem politischen Grundbegriff auf, weil es darum zu tun war, die verschiedenen Staatsvölker des Deutschen Reiches w i e die einzelnen Staaten Nordamerikas zu größeren politischen Einheiten zu vereinen. 1 5 Sogar die deutsche lutherische Kirche des 19. Jh. entspricht nicht mehr derjenigen des Reformationszeitalters: Sie versteht sich nicht länger als Landes- oder Territorialkirche und damit zugleich als Staatskirche, 16 sondern als Volks-, 1 7 National- oder Freikirche. 18

kratie (Zusammenspiel von Kaiser und Ständen im Reich): Die Schweizer „haben vorzeiten auch yhre 6berherm erschlagen und sich selbs frey gemacht rc. Und die Denen newlich haben yhren König verjagt; [,..I]ch zu guter massen wol weis, auch nicht wenig historien gelesen habe, wie offtmals die unterthanen yhre öberkeit erwürget odder veijagt haben, als die Juden, Kriechen und Römer. Und Gott hats also lassen gehen und sie drüber wachsen und zu nemen. Aber zu letzt hat sichs dennoch ymer funden ym auskerich." Luther kritisiert hier nicht die Demokratie als Staatsform, sondern die Art und Weise, wie sie errichtet wurde: durch Gewalt wider eine vorfindliche Obrigkeit. 13 14

KLEIN, Person. RIEDEL, 8 1 6 - 8 1 9 (zur Begriffsverwendung im 18. Jh.), 8 3 3 - 8 3 6 (zum bürgerlich-

liberalen Gesellschaftsbegriff), 836-839 (zu Hegels Gesellschaftsbegriff). 15 Für die deutsche Entwicklung vgl. KOSELLECK, Volk Masse I. und VI., 149f, 284, 388f. Ebd., 150: „Das deutsche Volk als ein sich selbst so benennendes und so begreifendes Handlungssubjekt ist erst im 19. Jh. entstanden." Der Begriff,deutsche Nation' war dagegen schon im 15. Jh. entstanden und erlebte im 19. seine entscheidende Umprägung. Volk wird zunehmend zu Staatsvolk (nation) im Unterschied zur Sprachgemeinschaft (people). Volk im Sinne von people ist die innerhalb bestimmter Grenzen von Natur gegebene Menge optisch sichtbarer Personen. Volk im Sinne von nation bezeichnet die Gesamtheit der gegenwärtigen, der vergangenen und der zukünftigen Generationen, die von bestimmten Werten geleitet und in Repräsentanten dieses Volks präsent ist. Der moderne Begriff der Nation verbindet sich mit dem zweiten Aspekt des Begriffs Volks und geht darüber hinaus, insofern Nation das Selbstbewußtsein des natürlichen Volkes als konkrete Ganzheit mit einem besonderen geschichtlichen Herkommen und Auftrag meint. Ergänzend vgl. LEIBHOLZ. 16 Die Landeskirche ist eine spezifisch deutsche Einrichtung, verständlich nur aus der besonderen deutschen Entwicklung. Erst im frühen 19. Jh. taucht der Begriff als kirchenrechtlicher Terminus und Selbstbezeichnung verschiedener Territorialkirchen auf. Die mit ihm verbundene Vorstellung impliziert, daß alle Einwohner eines bestimmten Territoriums zugleich Mitglieder derselben Kirchengemeinschaft sind. Allerdings war dieses Prinzip schon im Reformationsjh. selbst vielfältig durchbrochen; das cuius regio eins religio galt nur in eingeschränktem Maße. Im 18. und 19. Jh. bezeichnete der Begriff zunehmend diejenigen Kirchen, die im Unterschied zu religiösen Vereinen oder bloß geduldeten religiösen Hausgemeinschaften besonderen Schutz und Förderung durch den jeweiligen Staat erhielten. Staatsbürgerliche Rechte hingen von der Zugehörigkeit des Untertanen zur Staatskirche ab. Nachdem die Deutsche Bundesakte von 1815 den drei christlichen Konfessionen Parität und Gleichberechtigung

1. Lutherische Sozialethik im Kontext

15

B e i der Sichtung amerikanischer u n d deutscher sozialethischer Entwürfe zeigt sich allerdings schnell, daß die R e d e v o n ,den d e u t s c h e n ' und ,den amerikanischen' Lutheranern irreführend ist. Z w a r sind tatsächlich grundsätzliche Unterschiede z w i s c h e n den lutherischen Ethikern j e n s e i t s u n d diesseits des Atlantiks auszumachen, aber auch die D i f f e r e n z e n z w i s c h e n den Lutheranern aus d e m s e l b e n politischen Kontext sind nicht zu übersehen. D i e Vielfalt sozialethischer P o s i t i o n e n offenbart s c h o n ein erster knapper H i n w e i s auf diejenigen Theorien, die in dieser U n t e r s u c h u n g diskutiert werden: D e r Idee v o n der Realisierung des R e i c h e s Gottes in e i n e m ständisch gegliederten Verfassungsstaat mit präsidialer Spitze, die der V e r m i t t l u n g s t h e o l o g e Richard ROTHE propagierte, steht die B e h a u p t u n g der N o t w e n d i g k e i t der Ü b e r w a c h u n g der gewählten Staatsvertreter durch die w i e d e r g e b o r e n e n Christen gegenüber, w i e sie der aufgeklärte Pietist Samuel S i m o n SCHMUCKER forderte. Z u m W o h l e des deutschen V o l k e s sollen lutherische Landeskirche und deutscher Nationalstaat z u s a m m e n arbeiten, warb der Erlanger Neulutheraner Christoph Ernst LUTHARDT, und der garantiert hatte, wurden die konstitutionellen Verfassungen der einzelnen Länder nach und nach entsprechend gestaltet. Zunehmend wurde der Begriff Landeskirche für diejenige Denomination reserviert, in welcher der Landesherr Summepiscopus war, auch wenn er seine Rechte, wie etwa in Sachsen und Bayern, gar nicht ausübte. 1866 brach die Einheit von Territorium und Kirche - wie sie der Begriff Landeskirche suggeriert - erstmals auseinander (in Preußen), auch wenn der Terminus für staatlich privilegierte Kirchen noch lange gebräuchlich war. Jetzt wurde offenbar, daß das Selbstbewußtsein der jeweiligen protestantischen Territorialkirchen sich soweit verfestigt hatte, daß es nicht möglich war, die nach dem Sieg Preußens über Österreich annektierten Gebiete der preußischen Kirchenorganisation einzuverleiben. Deshalb bestanden in Preußen um 1900 sieben staatlich anerkannte Landeskirchen. Der gelegentlich in demselben Sinne wie Staatskirche verwendete Begriff ,Cäsaropapismus' ist vor allem ein Kampfbegriff; er soll die Herrschaft des weltlichen Regiments in der Kirche denunzieren. Vgl. WEBER, Staat; MEHLHAUSEN, Landeskirche, 427f, 43 lf; ders., Konstitutionalismus-, SCHEUNER; LIERMANN, Landesherrliches Kirchenregiment, 1954f; SCHLAICH, Kollegialismus·, ders., Kirchenrechtsquellen; PLRSON; KRUMWIEDE, Kirchenregiment; JOHNSEN. 17 DAIBER, Volkskirche, 1200, schränkt ein, daß es sich hier nicht um eine „religionssoziologische Kategorie im strengen Sinne" handelt, sondern um einen „historischen Begriff." Weil diese Konzeption ihre einzige Ausprägung in Deutschland erfahren hat, verwundert es nicht, daß der Terminus in andere Sprachen nicht übertragbar ist. Für Wicherns Konzept der Kirche des Volkes benutzt beispielsweise LEHMANN, Germans, den Begriff nation 's church. Vgl. zum Verhältnis von Volkskirche zu Nationalkirche: HUBER, Volkskirche. Vier Möglichkeiten, Volkskirche zu definieren, unterscheidet HÄRLE, 306f. Das deutsche Luthertum entwickelte sich aufgrund seiner historischen Ausgangslage, auch nachdem es die rechtliche Möglichkeit dazu hatte, nicht zu einer Freikirche. Die gelegentlichen „Versuche, eine Freikirche ins Leben zu rufen, haben traurige und demütigende Erfolge gezeitigt." FRTTSCHEL, Bd.l, V. 18 Der Terminus Freikirche {free church) ist im 19. Jh. in England geprägt worden und soll eine jede in Unabhängigkeit vom Staat, auf dem Prinzip der Freiwilligkeit der Kirchenmitgliedschaft begründete Gemeinschaft im Unterschied zu einer Volks-, Landes- oder Staatskirche bezeichnen. Drei Möglichkeiten des Verständnisses von Freikirche nennt HÄRLE, 3 0 7 . V g l . a. SCHWARZ, Freikirche-,

ADAM; GELDBACH,

Freikirche.

16

Einleitung

Repristinationstheologe Carl Ferdinand W i l h e l m WALTHER sah das Priestertum aller Gläubigen zwar in einer - w i e es heißt - demokratischen Gemeindeverfassung realisiert, hielt die Frage nach der Verfaßtheit v o n Staat und Gesellschaft aber für gleichgültig. 1 9 D i e historische T h e o l o g i e unterscheidet i m 19. Jh. grundsätzlich z w e i ethisch-politische Optionen, die nicht nur geistesgeschichtlich, sondern auch sozialgeschichtlich a u f z u w e i s e n sind. Hinsichtlich des politischen Bereichs differieren in den lutherischen Kirchen in Deutschland ebenso w i e in den Vereinigten Staaten v o n Amerika z w e i Gruppen mit unterschiedlichen Meinungen: das liberale und das konservative Luthertum, organisiert in j e verschiedenen Vereinen, versammelt bei j e e i g e n e n Kongressen, Leser unterschiedlicher Zeitschriften und Zeitungen. 2 0 Eine s p e z i f i s c h sozialistische Gruppe ist neben der liberalen und der konservativen nur in Ansätzen auszumachen und wurde deshalb 19 Zur Problematik der verwendeten Begriffe Neuluthertum und Repristinationstheologie vgl. KANTZENBACH/MEHLHAUSEN, 330-332. Neuluthertum bezeichnet das sächsische sowie das Erlanger Luthertum. Der Unterschied zu Repristinationstheologie wird ebd., 332, folgendermaßen definiert: „Die neulutherische Bekenntnistheologie, die Erlanger Schule eingeschlossen, vertrat trotz nicht zu unterschätzender Differenzierungen eine einheitliche Konzeption: Das Bekenntnis stehe in einem positiv zu wertenden Verhältnis zur Heiligen Schrift; es entwickele sich in der Geschichte der Kirche organisch, indem es sich dem menschlichen Bewußtsein sukzessiv immer weiter erschließe. Da eine Gemeinschaft Bekennender von vornherein vorausgesetzt wurde, verstand man das Bekenntnis als ein kirchliches, das sich in organischer Entwicklung der Erfahrung der Kirche erschließe. Grundsätzlich sei zwar die Bekenntnisbildung mit den lutherischen Bekenntnisschriften des 16. Jh. beendet, aber es bleibe noch Bewegungsraum für die theologische Entfaltung und Durchdringung der klassichen reformatorischen Texte." Die FC wurde von einigen Erlangern kritisiert; die Neubildung von Bekenntnissen lehnte man ab. Vgl.a. HEIN, Lutherisches Bekenntnis, 163, 176. Sowohl die repristinatorischen als auch die neulutherischen Theologen nannten sich selbst nie anders als lutherisch. 20 Die traditionelle Dreigliederung der theologischen Entwürfe und Positionen im 19. Jh.: neulutherischer Konfessionalismus, rationalistischer Liberalismus und Vermittlungstheologie, ist von der theologischen Dogmatik her gedacht. Entsprechend hat der reformierte Philip Schaff im Jahre 1854, zit. in LUTHERANS, 211-213, auch die amerikanischen lutherischen Theologen in drei Gruppen eingeteilt. Er unterscheidet Neo-Lutheran = American Lutheranism, Old Lutheran = Synoden von Missouri, Buffalo und Iowa, und Moderate Lutheran = General Synod. Der Lutheraner MANN unterscheidet entsprechend: „the left wing - American Lutheranism," „the right wing - the Lutherans of a strictly symbolical tendency" und „the centre." Der Dreiteilung korrespondiert die ethische Option der jeweiligen Theologen nicht. Hier zeigen sich vielmehr sowohl in der Alten als auch in der Neuen Welt zwei Grundtypen der Reaktion auf den gesellschaftlich-politischen Kontext: Liberalismus und Konservativismus. Damit sind freilich nicht parteipolitische Unterscheidungen, sondern der politische Richtungssinn der jeweiligen Sozialethik gemeint. Vgl. VIERHAUS, Liberalismus·, ders., Konservativ, LANGEWIESCHE, Liberalismus·, GRAF, Liberale Theologie-, ders., Konservatives Kulturluthertum·, SCHILLER; PUHLE. Zur Lutherrezeption beider Lager in Deutschland vgl. BORNKAMM, Luther, 52-62, zu der in den Vereinigten Staaten von Amerika vgl. LEHMANN, American Imagination.

2. Methodische Grundentscheidungen

17

nicht in die Untersuchung einbezogen. Während ROTHES und SCHMUCKERS Soziallehre dem Typus einer liberalen politischen Ethik entspricht, sind LUTHARDT und WALTHER als Vertreter einer konservativen politischen Ethik einzuschätzen. Vorläufig kann die Differenz zwischen liberaler und konservativer Sozialethik derart beschrieben werden, daß liberale Ethiker Individualität und Gleichheit der Menschen betonen, konservative dagegen die Persönlichkeit als in Familie und Stand eingebunden ansehen. Sie unterstreichen den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit und fordern eine antirationalistische Gläubigkeit. Liberale Ethiker betonen dagegen das Recht zur Revolution und schreiben der menschlichen Vernunft eine große Bedeutung zu. Die Hypothese dieser Untersuchung lautet, daß die angebliche Demokratieunfähigkeit von Theologen aus der lutherischen Tradition ihre Wurzel nicht in der Theologie LUTHERS hat, sondern im jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Kontext der Lutheraner. Deshalb wird die Verflochtenheit eines jeden der vier Theologen und seiner Ethik in sein historisches, politisches und theologisches Umfeld sichtbar gemacht. Dann kann die Frage der angeblichen Demokratieunfähigkeit des Luthertums 21 neu diskutiert werden.

2. Methodische Grundentscheidungen Diese Untersuchung steht in mancher Hinsicht in der Tradition klassischer religionssoziologischer Konzepte: Schon Ernst TROELTSCH und Max WEBER wählten gelegentlich den Vergleich mit den Vereinigten Staaten als methodischen Zugriff, weil die Stellung des Christentums in der deutschen und der amerikanischen Gesellschaft und im jeweiligen politischen System verschieden war und noch ist.22 Beide Autoren sind davon überzeugt, daß gerade die religiösen Überzeugungen der Menschen ihre Antriebe, Verhaltensweisen und Ansichten stark prägen. Von Bedeutung ist darüber hinaus, daß TROELTSCH, ausgehend von verschiedenen Typen religiöser Organisation, die er als Kirche, Sekte und mystische Bewegung bezeichnet, nach deren politischer Ethik fragt und diese idealtypisch beschreibt. Die vorliegende Untersuchung geht einen anderen, aber in mancher Hinsicht verwandten Weg. TROELTSCHs Methode ähnlich ist sie, weil sie nach Interdependenzen und Wechselwirkungen zwischen den drei Größen Kirche, Staat und Gesellschaft fragt. Sie unterscheidet sich aber von jener, weil sie die sozialethischen Positionen nicht in Beziehung zur jewei-

21 22

RENDTORFF, Demokratieunfähigkeit. TROELTSCH, Religion, 68f, und ders., Politische

Ethik.

18

Einleitung

ligen religiösen Organisationsform sieht,23 sondern die jeweilige politische Option der Lutheraner zum Ausgangspunkt und Unterscheidungsmerkmal nimmt. Vom Ansatz WEBERS in seiner Protestantischen Ethik unterscheidet sich die vorliegende Untersuchung, weil sie nicht danach fragt, welches Religionssystem von entscheidender Bedeutung für die Herausbildung der Moderne war. Da WEBER das Luthertum in seiner landeskirchlich-heilsvermittelnden Anstaltsform in sozialethischer Hinsicht für unfruchtbar hielt, hat er sich mit ihm nicht beschäftigt,24 und auch die Frage nach der Fähigkeit des amerikanischen Luthertums, sich den demokratischen Bedingungen anzupassen, nicht gestellt.25 Die Untersuchung analysiert zwei deutsche und zwei amerikanische sozialethische Entwürfe, je einer aus einem jeden Staat liberal, der andere konservativ. Diese vier lutherischen Sozialethiken werden jeweils aus vier Perspektiven beleuchtet: Grundzüge der jeweiligen Ethik, Lehre vom Staat, von der Gesellschaft und der Kirche. Daß in dieser Untersuchung nicht nur zwischen Kirche und Staat unterschieden wird, hat seinen Grund im Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft, wie es in den Vereinigten Staaten in der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 und in der Verfassung vom 17. September 1787 zum Ausdruck kam und in Deutschland nach der französischen Julirevolution von 1830 sichtbar wurde. Während die Kolonien durch die Revolution unabhängig von Großbritannien wurden und sich zu einem eigenen Staatswesen zusammenschlössen, waren die institutionellen Veränderungen in Deutschland weniger bedeutsam. Dafür hatte die Julirevolution geistige Auswirkungen: Sie machte bewußt, „daß der in der großen Revolution des ausgehenden 18. Jh. und in der Ära NAPOLEONS hervorgetretene demokratische Trend und die dahinter stehende soziale Dynamik nicht überwunden waren und die politische Entwicklung nicht in maßvoll evolutionäre Bahnen zurückgelenkt werden konnte."26 Daß die Unterscheidung von Kirche, Staat und Gesellschaft unter historischen Gesichtspunkten gerechtfertigt ist, steht somit außer Frage. Wichtig für das Verständnis dieses Versuches, einen neuen Blick auf das Luthertum des 19. Jh. zu werfen, sind zwei Veränderungen traditioneller Blickwinkel: Durch den Versuch, in einen Dialog mit dem Luthertum in den Vereinigten Staaten von Amerika zu treten, erscheint manches aus Deutschland Vertraute in einem neuen Licht. Zu diesem ersten tritt ein zweiter Perspektiven23

Vgl. T R O E L T S C H , Kirche·, ders., Soziallehren. Ders., Trennung unterscheidet zwischen Einheitskirche, Freikirche und einem paritätisch-landeskirchlichen System. Zu den Problemen von Troeltschs uneindeutiger Klassifikation vgl. M O L E N D I J K . 24 Zu Webers Schlüsseltext vgl. L E H M A N N , Max Weber. 25 Allerdings hat, aus einer grundsätzlich entgegengesetzten Perspektive heraus, E L E R T , Bd.2, 278, diese Frage durchdacht und folgendermaßen beantwortet: „Auch in den Vereinigten Staaten bewährten die Lutheraner das lutherische Ethos: weder quäkerische Indolenz gegenüber der Schöpfungsordnung noch theokratischer Puritanismus, sondern Dienst an der Nation in der Hingabe an den bürgerlichen Beruf." 26 V I E R H A U S , Konservativ, 542.

2. Methodische Grundentscheidungen

19

Wechsel: Die Sozialethiker werden konsequent in ihr jeweiliges historisch-politisches Umfeld gestellt. Richard ROTHE kommt aus dem politisch liberalen Klima des Großherzogtums Baden, Christoph Ernst LUTHARDT aus dem politisch konservativen Königreich Sachsen. Samuel Simon SCHMUCKER wirkt in Pennsylvania, wo sich schon im Ausgang des 17. Jh. Angehörige verschiedener religiöser Gruppierungen als gleichberechtigte Bürger begegneten, WALTHER dagegen in dem überhaupt erst im 19. Jh. besiedelten Staat Missouri. Zwischen den einzelnen Theologen bestanden keine Beziehungen. ROTHE und LUTHARDT nahmen keine Notiz voneinander, was sich zwanglos aus der Unterschiedlichkeit beider Heimatländer und Wirkungsstätten - Preußen und Baden einerseits, Franken und Sachsen andererseits - , dem Altersunterschied und der jeweiligen theologischen Prägung erklärt.27 Auch SCHMUCKER und WALTHER kannten sich nicht persönlich. WALTHER hat sich mit dem American Lutheranism,28 wie ihn SCHMUCKER vertrat, nicht intensiv auseinandergesetzt, ihm aber stereotyp vorgeworfen, vom Luthertum abgefallen zu sein.29 SCHMUCKER bescheinigt den „rigid symbolists" dagegen seinerseits „intolerance and bigotry."30 Interessanterweise kannten beide Amerikaner LUTHARDT: SCHMUCKER übersetzte auszugsweise eine seiner Schriften,31 27 ROTHE zit. Luthardt in seiner Theologischen Ethik nicht. Auf den seiner Generation angehörigen Harleß (vgl. zu Person und Werk unten Teil C. Anm.5) bezieht er sich dagegen mehrfach. Das deutet darauf hin, daß Rothe nie ein positioneller Theologe und bildungsmäßig auf der Höhe der Zeit sein wollte. Er dachte immer vom Gemeinwohl her und für dieses; deshalb hatte er keine Scheu, auf .konservative, ethische Entwürfe zu verweisen, wenn ihm deren Überlegungen zupaß kamen. Dabei hat er gelegentlich auch einen Autor gegen dessen eigene Intention benutzt. Der Hinweis auf seine Harleß-Rezeption fehlt bei HEESCH, 133-137. Der ältere Rothe hat keinen Einfluß auf den jüngeren Luthardt ausgeübt; der einzige literarische Überschneidungspunkt zwischen beiden liegt in Oetinger: ROTHE hat ein Vorwort zu Auberlens im Jahre 1847 erschienener Untersuchung Die Theosophie Friedrich Christoph Oetinger's beigesteuert; LUTHARDT hat dies Werk im folgenden Jahr in seinem Aufsatz, Theosophie, kritisch gewürdigt. Zum Protestantenverein hat ders., Zur protestantenvereinlichen Literatur, sich nur dieses eine Mal geäußert. 28 Im folgenden wird die in der General Synod organisierte und von Schmucker repräsentierte Richtung innerhalb des amerikanischen Luthertums immer durch Großschreibung des Adjektivs .amerikanisch' kenntlich gemacht: American Lutheranism' beziehungsweise A m e rikanisches Luthertum'. 29 Vgl. unten Teil D., Abschnitt 1.2. 30 SCHMUCKER, Church Redeemer, XI; ders., Doctrinal Basis, 246. 31 Es handelt sich um die Apologetischen Vorträge über die Grundwahrheiten des Christenthums. Schmucker veröffentlichte seine auszugsweise Übers. u.d.T. Tract, im folgenden Jahr. Nach HERTZ, 247, sind Luthardts ethische Schriften im amerikanischen Luthertum intensiv rezipiert worden. NuC Pre-1956, Bd.346, 237-240, weist zahlreiche Schriften Luthardts in amerikanischen Bibliotheken nach. Eine andere Übers, von Apologetische Vorträge Grundwahrheiten erfolgte in Edinburgh. Ebd., 237 Nr.NL 566193-566206, 239 Nr.NL 566232. Kompilationen aus verschiedenen Werken Luthardts erschienen in Chicago, ebd., 239 ohne Nr., zudem erschienen Auszüge aus seiner Geschichte Ethik in Edinburgh 1889, ebd.,

20

Einleitung

WALTHER traf ihn persönlich während seiner zweiten Deutschlandreise im Sommer des Jahres 1860 im Postkeller zu Leipzig „bei gutem Biere."32 Wenn WALTHER sich auch nicht direkt zu LUTHARDT geäußert hat, so war doch in Kreisen der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Synode von Missouri, Ohio und anderen Staaten das folgende Urteil über die Erlanger Theologen verbreitet, zu denen LUTHARDT theologisch zu rechnen ist: „Sie haben dem Christentum nicht bloss die Hände und Füße durchbohrt, sondern auch in das Herz gestochen."33 Zwischen WALTHER und LUTHARDT gibt es geographische Berührungspunkte: WALTHER entstammte der sächsischen Erweckungsbewegung und verließ als junger Pfarrer im Jahre 1838 sein Amt im Muldental; LUTHARDT wurde im Jahre 1854 als Theologieprofessor an die Leipziger Theologische Fakultät berufen. ROTHE wird weder von WALTHER noch von SCHMUCKER je erwähnt, obwohl letzterer ihn während seines Aufenthalts in Heidelberg im Jahre 1846 durchaus hätte aufsuchen können.34

3. Begründung der Auswahl der ethischen Entwürfe Die Auswahl der Sozialethiker erfolgt weniger entsprechend ihrer Bedeutung für die Geschichte der lutherischen beziehungsweise evangelischen Ethik als einer akademischen Disziplin35 als entsprechend ihrer Bedeutung für die Lutheraner des 19. Jh. Dabei ist der Begriff von Lutheraner und Luthertum, dessen sich die vorliegende Studie bedient, nicht normativ-dogmatisch bestimmt; es wird also nicht untersucht, ob einer der ausgewählten Theologen mit Recht oder zu Unrecht als Lutheraner bezeichnet wird beziehungsweise sich selbst als einen sol240 Nr.NL 566258, und aus seinem Kompendium Dogmatik in Rock Island in 2.Aufl. 1895 und Chicago 1902, beide ebd. ohne Nr. 32 W A L T H E R , Briefe, Bd.l, 145. 33 LuW, Januar 1904, 14, zit. nach N E L S O N , 255 Anm.4. Vgl. a. ACM Walther-Briefe V Nr. 17: Luthardt „mag ein böses Gewissen gehabt haben, aber offenbar thut er alles, sein und anderer Lutheraner Gewissen einzuschläfern und die Leute zu überzeugen, die Niederlage [in der Frage des Religionseides, vgl. unten Teil C Kapitel 1.2 mit Anm.48f, ADD] sei ein Sieg gewesen. [...] Geht das so fort, so wird die deutsch-protestantische Kirche bald nichts mehr vom Lutherthum besitzen, als den Namen." Der zentrale Kritikpunkt an Luthardt ist, daß er nicht die sächsische Freikirche fordern, sondern in der Landeskirche bleiben will. Spannungen zwischen den Erlanger Theologen und der Missourisynode offenbart auch die Tatsache, daß Harleß und Luthardt je ein Gutachten für einen der schärfsten Konkurrenten der Missourisynode, die Iowasynode, anfertigten, in denen sie dieser von Löhe beeinflußten lutherischen Splittergruppe ihre Lutherizität bescheinigten. Ü E I N D Ö R F E R , 127. 34 Zu Schmuckers Reisetagebuch vgl. D Ö R F L E R - D L E R K E N , Amerikaner. 35 Zur Geschichte der lutherischen Ethik vgl. R Ö H L S ; R E N D T O R F F , Ethik. Ebd., 509f, wird Rothes Theologischer Ethik im Unterschied zu den ethischen Entwürfen der drei anderen Theologen in der Geschichte der Disziplin ein herausgehobener Platz eingeräumt.

3. Begründung der Auswahl der ethischen Entwürfe

21

chen bezeichnet hat. 36 Sonst könnte man etwa behaupten, ein jeder, der sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht von seiner unierten Landeskirche oder sich nicht explizit auf alle lutherischen Bekenntnisschriften gründenden Landeskirche getrennt habe, sei kein Lutheraner gewesen. Als Lutheraner werden hier vielmehr solche Theologen bezeichnet, die aus einer lutherisch geprägten Tradition stammen und ihre akademische Theologie bewußt in der Wirkungsgeschichte der lutherischen Reformation trieben. Diese Grundentscheidung trägt der besonderen Situation des Luthertums im 19. Jh. insofern Rechnung, als überhaupt erst in dessen zweiter Hälfte ,,[e]in wirklich vertieftes Verständnis für den Reformator" 37 entstand, was beispielsweise daran sichtbar wird, daß die frühen Auflagen der Christlichen Ethik des sich selbst als lutherischer Konfessionalist verstehenden Adolf von HARLESS kaum Lutherzitate aufweisen. 38 Heinrich BORNKAMM39 und Walther von LOEWENICH haben in beispielhafter Weise herausgearbeitet, welchen Wandlungen das Lutherbild unterworfen war und verschiedene Typen desselben miteinander verglichen. Das 19. Jh. gilt ihnen als derjenige Zeitraum innerhalb der Geschichte der Lutherdeutung, der von extrem konkurrierenden Lutherbildern bestimmt war: Als Haupttypen können das Lutherbild des kirchlichen und politischen Liberalismus und dasjenige des neulutherischen Konfessionalismus unterschieden werden. Das liberale Lutherbild beerbt das aufgeklärte, das LUTHER als Vorkämpfer für Vernunft und Gewissensfreiheit sah, 40 daneben das idealistische, insbesondere dasjenige HEGELS und FlCHTEs.41 Die Anfange einer historischen Beschäftigung mit LUTHER liegen im zweiten Viertel des 19. Jh.: Von der Erlanger Lutherausgabe

36

HAUSCHILD, Luthertum,

37

WINTER, 2 1 .

220.

38 Ebd., 41, 48: Lutherzitate finden sich erstmals in der 4.Aufl. aus dem Jahre 1842, und sie werden für die Argumentation bedeutsam erst von der 6.Aufl. an, die 1864 erschien. Im Vorwort zur 7.Aufl. (erschienen 1875) unterscheidet Harleß dann zwischen denen, in denen „Luthers Geist" „zur Herrschaft gelangt ist" und anderen, die nur „den Namen Luthers gelten lassen." 39 Luther. Vgl. a. STEPHAN, 68-88. 40 EßELING, 375f, bezeichnet Freiheit „als Grundwort und Grundwert der Neuzeit," wobei Freiheit verstanden wird als „Unabhängigkeitserklärung des nun eigenmächtigen Menschen." Ahnlich argumentiert auch STEPHAN, der als Vertreter des liberalen Lutherbildes unter anderem Rothes Freund und Kollegen Daniel Schenkel und Rothes Schüler und Biographen Adolph Hausrath heranzieht. 41 Nach HIRSCH, Wirkungen Luthers, 125f mit Anm.l, fühlt Fichte sich, „trotz aller Spannung zum lutherischen Kirchentum, als echten Nachfahren Luthers." Hirsch zit. ebd. Fichte mit folgendem Diktum: „,Jesus und Luther, heilige Schutzgeister der Freiheit, die ihr in den Tagen eurer Erniedrigung mit Riesenkraft in den Fesseln der Menschheit herumbrachet, und sie zerknicktet, wohin ihr grifft, seht herab aus höheren Sphären auf eure Nachkommenschaft, und freut euch der schon aufgegangenen, der schon im Winde wogenden Saat: bald wird der Dritte (Kant), der euer Werk vollendete, der die letzte stärkste Fessel der Menschheit zerbrach, ohne daß sie, ohne daß vielleicht er selbst es wußte, zu euch versammelt werden.'"

22

Einleitung

erschien im Jahre 1826 der erste Band;42 1839 veröffentlichte Leopold von RANKE den ersten Band seiner Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation. Sein Lutherbild bestimmte dasjenige vieler Theologen und Historiker des späteren 19. Jh. und wirkte in der deutschen allgemeinen Bildung bis in das 20. Jh. hinein weiter.43 Der erste Band von Theodosius HARNACKS Theologie Luthers, dem ersten Lutherbuch des 19. Jh., erschien im Jahre 1862 und blieb in der öffentlichen Rezeption weitgehend wirkungslos.44 Diese knappen Hinweise zum Lutherbild des 19. Jh. machen deutlich, daß eine normativ begründete Auswahl der Theologen dann nicht sinnvoll sein kann, wenn vor allem die erste Hälfte und die Mitte des 19. Jh. in den Blick genommen werden sollen. Dieser Zeitraum ist aber für die politische Geschichte, besonders für die Geschichte der demokratischen Ideen, von herausragender Bedeutung. Die ausgewählten Theologen ermöglichen die Untersuchung der beiden skizzierten Grundtypen des argumentativen Bezuges auf LUTHER und die Reformation; sie stehen für herausragende Punkte in dessen Wirkungsgeschichte. Daneben sind sie deshalb bedeutsam, weil gerade sie auf breite Kreise des Luthertums und des Protestantismus im 19. Jh. eingewirkt haben. Keiner der ausgewählten Theologen war ein Einzelgänger oder Sonderling, ein jeder brachte die opinio communis eines größeren Kreises zum Ausdruck und prägte als akademischer Lehrer Generationen von Theologiestudenten.45 Ein jeder hat eine 42

Z u E r l A v g l . VOLZ/WOLGAST, 5 9 2 - 6 0 1 .

43

BORNKAMM, Luther, 41-52; Texte: 249-273. Vgl. a. STEPHAN, 74f. KUPISCH, Ranke, 779, nennt als von Ranke geprägte Theologen Harleß, Hofmann, Löhe, Luthardt und Wichem. 44 BORNKAMM, Lutherbild. Ähnlich ders., Luther, 82. Zu Person und Werk vgl. SEITZ/ HERBST, 459, welche die Theologie Luthers weniger als historisches, denn als systematisches, streng christozentrisch aufgebautes Werk würdigen. 45 Die Heidelberger Theologische Fakultät wurde im Jahr 1836, als Rothe hierher berufen wurde, nur von 14 Studenten besucht; diese Zahl vergrößerte sich Jahre hindurch kaum. Da zudem immer wieder betont wird, daß Rothe nicht im eigentlichen Sinne eine Schule begründet hat, ist sein Einfluß auf Theologie und Kirche seiner Zeit auf andere Weise zu belegen: „In einer Meinungsumfrage, auf die etwa 200 Theologen und Kirchenmänner geantwortet haben und deren Ergebnisse unter dem Titel ,Bücherkleinode evangelischer Theologen' im Jahre 1888 veröffentlicht wurden, wird R. Rothes Ethik am häufigsten unter den Büchern erwähnt, die für die Antwortenden von stärkstem Einfluß gewesen seien." STECK, Rezension, 59. BIRKNER, Rothe, 106, erwähnt, daß ROTHES Stille Stunden die Bedeutung und Wirkung eines Erbauungsbuches hatten. Wie stark der Heidelberger prägend wirkte, zeigt überdies die Verehrung, die ihm von seinen ehemaligen Studenten entgegengebracht wurde, manifest etwa in der Rothe-Büste, die anläßlich seines 100. Geburtstages in der Peterskirche aufgestellt wurde. V g l . d a z u RICHAKD ROTHE; BAUER.

Schmucker bezeugt selbst im Jahre 1857, daß er bisher mehr als 300 Studenten ausgebildet hat. Nach WENTZ, History, 169. Er lehrte danach noch bis 1864. Die Leipziger Theologen unterrichteten alle, die sächsische Geistliche werden wollten, für mindestens zwei Jahre. Im Wintersemester 1886/87 saßen in Luthardts Kolleg über das Johannesvangelium 400 Teilnehmer. KUNZE, D. Luthardt, 75. Vgl. a. DREWS, 31; NEUKIRCH,

3. Begründung der Auswahl der ethischen Entwürfe

23

Vielzahl v o n wissenschaftlichen Publikationen s o w i e populäre Schriften und Artikel fur in weiten Kreisen rezipierte Zeitschriften des j e w e i l i g e n theologiepolitischen Lagers verfaßt. 4 6 Sie alle trugen ihre Ansichten bei den Zusammenkünften der v o n ihnen initiierten Vereine öffentlichkeitswirksam vor. Zwar hat nur WALTHER eine theologische Schule i m eigentlichen Sinne begründet (sie wirkt in der Missourisynode und ihren Ausbildungseinrichtungen s o w i e

441. RIESKE-BRAUN, Zwei-Bereiche-Lehre, hat herausgearbeitet, daß für die Erlanger Theologie charakteristische ethisch-theologische Grundentscheidungen durch Vermittlung der von Luthardt hg. AELKZ die Theologie und Kirchenpolitik des Deutschen Reiches nach 1871 entscheidend prägten. Mit Luthardts dogmatischen und ethischen Kompendien lernten Generationen von Studierenden bis in die jüngere Vergangenheit hinein. Die Wirkmächtigkeit Walthers ist nicht nur an den ihm gewidmeten Nachrufen, sondern auch an der Verehrung abzulesen, die ihm noch in diesem Jh. zuteil wird. Vgl. die Einleitung zu Teil D und GÜNTHER, 190-196. Nach MANN, 71, studierten im Jahre 1856 schon mehr als 50 Studierende am Concordia Seminary in St. Louis. Nach ACHI Walther-Briefe V Nr.33, 4, kamen 20 Jahre später auch Studenten aus Island, Neu-Seeland und Australien. 46 Die Höhe der beiden Aufl. der Theologischen Ethik ROTHES ist nicht bekannt. Zahlreiche Predigten und Ansprachen wurden als Broschüren vertrieben. Für das Interesse an Rothes Theologie spricht der schnelle Beginn der Edition des verstreuten Gutes und der Briefe nach seinem Tod. Daß Schmucker der das amerikanische Luthertum zwischen 1830 und 1860 am stärksten prägende Theologe war, ist an der Vielzahl der Aufl. seiner Schriften leicht abzulesen. Die Elements erschienen beispielsweise 1834 in einer Aufl. von 1000 Exemplaren, die schon vor ihrem Erscheinen vergriffen war. Nur fünf Monate später lag eine 2.Aufl. vor, obwohl die Schrift gleichzeitig in Ausz. im Lutheran Observer veröffentlicht worden war. 1860 lag die 9.Aufl. vor. WENTZ, Pioneer, 158 Anm.7, 166 Anm.28. Zehn Aufl. bis 1871 erfuhr der 1859 von SCHMUCKER für den Gebrauch in den höheren Klassen von Sonntagsschulen bestimmte Evangelical Lutheran Catechism. Die vier Bände von LUTHARDTs Apologetischen Vorträgen wurden im ausgehenden 19. Jh. zum Verkaufsschlager und erfuhren zahlreiche Aufl. und Ubers. Nachdem der erste Vortragszyklus über Grundwahrheiten des Christentums im Frühjahr 1864 erschienen war, wurden noch in demselben Jahr vier weitere Aufl. notwendig. Die 12.-14.Aufl. erschienen 1897. Schon im Erscheinungsjahr erfolgten Übers, in fünf Sprachen; kurz darauf auch eine auszugsweise englische von Schmucker (vgl. o. Anm.31). Luthardt weiß von sieben Übers, bis zum Jahre 1872, auch einer griechischen. Stolz merkt er, ebd., 198 Anm.l, an, daß „das Subskribentenverzeichniß, mit dem sie [die griechische Übers., ADD] versehen ist, [...] so ziemlich die gesammte Hierarchie der griechischen Kirche [enthält]." Auch LUTHARDTs Apologetische Vorträge über die Heilswahrheiten des Christentums erreichten in drei Jahren drei Aufl., bis 1901 sieben. Seine Sammlung Vorträge über die Moral des Christentums von 1872 erlebte die 5.-7.Aufl. 1898, und diejenge über Die modernen Weltanschauungen, 1880, erfuhr ihre 4. Aufl. 1908. Die Auflagenhöhe von WALTHERs Schriften muß enorm gewesen sein. So war etwa die Amerikanische Evangelien Postille aus dem Jahr 1871 im Jahr 1887 in 23.000 Exemplaren in 8.Aufl. verbreitet sowie ins Norwegische (Bergen 1878) übers, worden. Die 1844 von Walther begründete und hg. Wochenzeitung Der Lutheraner wurde 1887 in 18.000 Exemplaren gedruckt. GÜNTHER, 189, 196. Nach HERRMANN, Zwickau, 6, war dieser publizistische Erfolg schon im Jahre 1882 errungen.

24

Einleitung

vermittelt auch bei anderen amerikanischen lutherischen Synoden bis heute fort); aber auch die drei anderen Theologen waren - zumindest zu ihrer Zeit herausragende Exponenten für die öffentliche Wahrnehmung protestantischer Theologie: ROTHE galt als geistiger Vater der badischen Kirchenverfassung, einer der liberalsten ihrer Zeit, und als ,der Heilige des Protestantenvereins'. LUTHARDT bestimmte durch die von ihm herausgegebene Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung, und durch die Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz das Profil desjenigen konservativen Luthertums, das eine Herauslösung der Kirche aus dem staatlichen Behördenapparat grundsätzlich befürwortete. SCHMUCKER war der herausragende, in der ersten Hälfte des Jh. auch der einzige Führer des liberalen American Lutheranism, der sich in der General Synod Zusammenschloß. WALTHER sammelte das amerikanische Luthertum ab 1847 in der Deutschen Evangelisch-lutherischen Synode von Missouri, Ohio und anderen Staaten und richtete es streng konfessionell aus. Wie die Missourisynode so trug auch die Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz entscheidend zur Konfessionalisierung des Luthertums bei.47 Daß als Vertreter des deutschen Luthertums gerade ROTHE und LUTHARDT ausgewählt wurden, erklärt sich also aus der Überzeugung, bei ihnen den liberalen und den konservativen Typus lutherischer Sozialethik besonders wirkmächtig verkörpert zu finden. Aus der Schar amerikanischer Lutheraner gerade SCHMUCKER und WALTHER auszuwählen, legt sich schon allein deshalb nahe, weil in der neueren amerikanischen kirchengeschichtlichen Literatur zum 19. Jh. diese beiden als die „most creative nineteenth century Lutherans" bezeichnet werden.48 Diese Auswahl und Zuordnung der sozialethischen Entwürfe ist nicht nur insofern originell, als erstmals amerikanische und deutsche Sozialethiken nebeneinander gestellt und miteinander verglichen werden,49 sondern auch deshalb, weil die kirchengeschichtliche Forschung die einzelnen Autoren bisher noch nicht in ihrer Bedeutung als Ethiker hinreichend gewürdigt hat. Es ist kein Zufall, daß die beiden im letzten Jahr des 18. Jh. geborenen Theologen - der Deutsche ROTHE und der Amerikaner SCHMUCKER - eine liberal-unionistische Haltung gegenüber den lutherischen Bekenntnisschriften entwickelten, während die beiden konfessionellen Theologen - LUTHARDT und WALTHER - gut eine Generation jünger sind. Die Altersdifferenz markiert die Tatsache, daß Konfessionalismus sowohl in den Vereinigten Staaten von Ame-

47

SPITZ, Walther 's Contribution. JORDAHL, Samuel Simon Schmucker, 115, widerspricht damit AHLSTROM, 525f, der statt Schmucker Krauth nannte: Dieser sei weniger kreativ als kompilativ-wissenschaftlich tätig gewesen. SWEET, Weg, 267-269, stellt Schmucker und Walther einander gegenüber. 49 Rothe ist bisher nur mit Stahl verglichen worden. Vgl. BAUMOTTE, Stahl·, HÜTTER. JORDAHL, Schmucker, hat das Verhältnis der beiden amerikanischen Theologen zu ihrer Umwelt verglichen. 48

3. Begründung der Auswahl der ethischen Entwürfe

25

rika wie in Deutschland das liberal geprägte Luthertum verdrängte. 50 Zu dieser Entwicklung beigetragen haben dürfte in Deutschland der Zerfall des politischen Liberalismus nach 1866, vollends - nachdem das Hauptziel der Liberalen, der deutsche Nationalstaat durch BISMARCKS Machtpolitik verwirklicht worden war während der wirtschaftlichen Depression des Jahres 1873." In den Vereinigten Staaten von Amerika gingen die aus der Einwanderungswelle in der zweiten Hälfte des 19. Jh. resultierenden Probleme mit einer stärkeren Abschottung der einzelnen Denominationen gegeneinander einher, was ebenfalls dem konservativ-konfessionellen Luthertum förderlich war. Aufgrund der Anlage der Untersuchung könnte der Einwand erhoben werden, die beiden als Vertreter liberaler Ethik gezeichneten Theologen seien gar keine Lutheraner gewesen, so daß ihre Ethiken keine Aussagen über die politische Option des liberalen Luthertums erlauben. Diese Beurteilung würde jedoch außer acht lassen, daß der skizzierte Wandel des Lutherbildes fur die Fragestellung von zentraler Bedeutung ist. SCHMUCKER ist nicht nur deshalb als Lutheraner anzusehen, weil er sich selbst immer als einen solchen bezeichnet hat, sondern auch deshalb, weil er sich intensiv mit den Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche auseinandergesetzt hat. Gegen die Aufnahme ROTHES in die Reihe der Lutheraner könnte geltend gemacht werden, er habe eine geradezu nichtreformatorische politische Ethik entwickelt. Dagegen ist jedoch einzuwenden, daß ROTHE, lebensgeschichtlich betrachtet, unzweifelhaft einer lutherisch-aufgeklärten Familie entstammte, in einer lutherischen Landeskirche aufgewachsen war und von HEGEL gelernt hatte, man könne .durch die Philosophie im Luthertum befestigt' werden. ROTHES Heimatstadt Breslau war so stark lutherisch geprägt, daß gerade hier der Widerstand gegen die unionistische Kirchenpolitik FRIEDRICH WILHELMS ΠΙ. seinen ersten Höhepunkt erlebte. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil es sich bei der preußischen Union um eine konföderative Verwaltungsunion handelte, durch deren Vollzug sich am Bekenntnisstand der einzelnen Gemeinden nichts ändern sollte, und weil es überhaupt nur in den Westprovinzen Preußens einige reformierte Gemeinden gab, 52 die unter dem Einfluß der Union „lutheranisirt" wurden. 53 Der durch die Erweckungsbewegung in Preußen geprägte ROTHE schloß sich gerade in den Anfangsjahren des Widerstands gegen die obrigkeitliche Kirchenvereinigung, von 1822 bis 1824, einem Kreis erweckter Lutheraner in Breslau an, aus dem der später in Halle lehrende Julius MÜLLER und der bald als altlutherischer Separatist auftretende

50 Auf die Bedeutung der Generation für die Wirkung des Jahres 1848 macht MARON aufmerksam. Vgl. a. JACOBS, Entstehimg. Die Konfessionalisierung des amerikanischen Luthertums haben BACHMANN, Walther und JACOBS, Confessional Reaction, untersucht. 51

WEHLER, 80, 96; GALL, Liberalismus;

52

HÜFFMEIER, 1 2 0 6 .

53

GOLTZ, 196.

SCHIEDER, Krise.

26

Einleitung

Johann Gottfried SCHEFFIEL hervorragten.54 Allerdings distanzierte ROTHE sich dann in Rom und als Professor am Predigerseminar zu Wittenberg zunehmend vom Konfessionalismus und fühlte sich von den innerprotestantischen Streitigkeiten abgestoßen.55 Sowohl in Heidelberg wie auch in Bonn wirkte er als Theologieprofessor in unierten Landeskirchen. Weil er die lutherische Reformation für noch längst nicht vollendet hielt, formulierte er das .protestantische Prinzip' und beanspruchte, mit seiner Theologie die notwendigen Konsequenzen aus der lutherischen Reformation zu ziehen.56 Entsprechend wird dieser ,Erbe Luthers' von Walter MOSTERT in der Reihe von Theologen und Philosophen genannt, bei denen die Wirkungsgeschichte Luthers auf eine neue Bahn gerät, die von Albrecht RLTSCHL57 und besonders von Ernst TROELTSCH58 dann weiter fortgesetzt wird. TROELTSCH würdigt ROTHES Lutherdarstellung sogar als „das Beste und Tiefste, was zum Verständnis der Reformation und ihrer Entwicklung gesagt worden ist."59 Auch wenn dies Urteil zu bezweifeln ist, bleibt doch die Aufgabe bestehen, ROTHES politische Ethik dem von ihrem Autor erhobenen Anspruch entsprechend zu lesen: als eine Ethik, welche die lutherische Ethik überwindet, indem sie diese vollendet.

4. Quellen Richard ROTHES literarische Hinterlassenschaft60 stellt den Historiker vor einige Probleme: Von der für seine politische Ethik maßgeblichen zweiten Auflage der Theologischen Ethik konnte der Autor selbst nur den ersten und den zweiten Band in überarbeiteter Form fertigstellen. Die weiteren Bände wurden von seinem Schüler und Kollegen Heinrich Julius HOLTZMANN anhand der vorgefundenen Notizen des Lehrers redigiert und veröffentlicht. Die für die Sozialethik 54 Zur K o n f e s s i o n a l i s i e r u n g der E r w e c k u n g s b e w e g u n g vgl. BIGLER; MLECK; MEYER, Kottwitz; ALTHAUSEN, 17-58; KIUNKE; HERRMANN, Freikirche, 3 3 - 3 9 ; WAPPLER; KANTZENBACH/MEHLHAUSEN.

55

Über die Geschichte der badischen Agenden (diejenige des Jahres 1858 etwa wurde von zahlreichen Pfarrern als lutheranisierend abgelehnt) informiert knapp NlEBERGALL, 61. Zu Rothes Haltung gegenüber den Bekenntnisschriften vgl. unten Teil Α Kapitel 1.2. 56 Vgl. unten Teil A, Abschnitt 1.2. 57

Vgl.

TRILLHAAS,

182; HAMMER;

SCHELIHA. In der n e u e s t e n Darstellung

von

HOFMANN, Ritsehl, fehlt jeder Hinweis auf Rothe. 58 FISCHER, Luther. Troeltschs Doppelthese, Luther bedeute einerseits einen Wendepunkt der Christentumsgeschichte, sei aber andererseits ein altkatholischer Mann, ist bei Richard Rothe vorgebildet. 59 Zit. nach ebd., 136fAnm.l3. 60 Chronologisch geordnete Zusammenstellung der veröffentlichten Schriften Rothes sowie einiger Briefe bei GRAF, Rothe, 807-811. Zusammenstellung der Sekundärliteratur bei HEESCH, 2 6 7 - 2 7 4 .

4. Quellen

27

e n t s c h e i d e n d e n D a r l e g u n g e n finden s i c h in der P f l i c h t e n l e h r e , i m f ü n f t e n B a n d der z w e i t e n A u f l a g e der T h e o l o g i s c h e n Ethik, für d e n der H e r a u s g e b e r k a u m B e a r b e i t u n g s h i n w e i s e v o r f a n d . D e r T e x t b e s t a n d entspricht ROTHES t h e o l o g i s c h e r E n t w i c k l u n g b i s z u m Jahre 1 8 4 8 u n d w a r in m a n c h e n P u n k t e n durch d i e p o l i t i s c h e E n t w i c k l u n g s c h o n i m E r s c h e i n u n g s j a h r überholt, w i e der A u t o r i m V o r w o r t s e l b s t a n m e r k t e , w e n n er s i e a n g e s i c h t s der E r e i g n i s s e d e s R e v o l u t i o n s j a h r e s als „ A n a c h r o n i s m u s " b e z e i c h n e t e . 6 1 G e l e g e n t l i c h w i d e r s p r e c h e n d i e in d e n b e i d e n ersten B ä n d e n der T h e o l o g i s c h e n E t h i k o d e r d i e in d e n späten V o r trägen u n d A u f s ä t z e n g e ä u ß e r t e n Ü b e r l e g u n g e n , d i e in Z u s a m m e n h a n g m i t d e m P r o t e s t a n t e n v e r e i n e n t s t a n d e n , d e n älteren D a r l e g u n g e n . 6 2 D i e j ü n g e r e n Ä u ß e r u n g e n ROTHES m ü s s e n d e n älteren v o r g e z o g e n w e r d e n , w e i l nicht d i e G e n e s e der R o t h e s c h e n S o z i a l e t h i k , s o n d e r n ROTHE als liberaler T h e o l o g e i m Z e n t r u m der U n t e r s u c h u n g s t e h e n soll. D a k a u m B r i e f e d i e s e s H e i d e l b e r g e r Ethikers über die v o n NLPPOLD zitierten h i n a u s erhalten sind 6 3 u n d d i e N a c h s c h r i f t e n s e i n e r E t h i k v o r l e s u n g e n k e i n für d i e F r a g e s t e l l u n g r e l e v a n t e s Material enthalten, 6 4 fußt die D a r s t e l l u n g s e i n e r S o z i a l e t h i k v o r n e h m l i c h a u f g e d r u c k t e n Q u e l l e n . 6 5 S a m u e l S i m o n SCHMUCKERs literarische H i n t e r l a s s e n s c h a f t ist i m A r c h i v der v o n i h m m i t b e g r ü n d e t e n u n d für m e h r als v i e r Jahrzehnte b e s t i m m t e n ersten H o c h s c h u l e der l u t h e r i s c h e n K i r c h e in d e n V e r e i n i g t e n Staaten v o n A m e r i k a

61

Vgl. 1 .Aufl., Bd.3, L (Vorwort). Zusammenstellung einiger Widersprüche bei WAGNER, Theologische Universalintegration, 281f, und im Vorwort des Hg. der drei letzten Bd. der 2.Aufl. von ROTHES Theologischer Ethik, Heinrich Julius Holtzmann, hier Bd.3, V - X V . 63 NlPPOLD, Rothe, zit. in seiner Biographie ausgiebig aus Briefen zur religiösen und theologischen Entwicklung Rothes. Unklar bleibt, nach welchen Kriterien Nippold die Briefe ausgesucht und wie er sie gegebenenfalls für die Publikation bearbeitet hat. Daß Auswahl und Bearbeitung stattfanden, legt die Beobachtung nahe, daß mit zunehmendem Alter Rothes immer privatere Briefe geboten werden, obwohl in diese Jahre seine größte politische Wirksamkeit fällt. Daß der briefliche Nachlaß Rothes verbrannt wurde, berichtet Nippold in BUNSEN, 218 Anm.*. Aus dem Bunsen-Nachlaß bietet Nippold einige Briefe Rothes an jenen, ebd., 272-274. Auch einige Briefe Rothes an THOLUCK, Tholuck, 7 1 - 7 3 , liegen gedruckt vor. Nach BAUER, 5, waren Briefe Rothes zum Zeitpunkt der Abfassung von Bauers Vortrag im Besitz von Konsistorialrat Pfarrer Dr. D. Ehlers in Frankfurt a. M. Vgl. das Verzeichis der bisher aufgefundenen Briefe Rothes im Anhang. 62

64 UB Heidelberg. Auch die übrigen Teile im Rothe-Nachlaß und die Personalakte im dortigen Universitätsarchiv bieten keine für die Fragestellung relevanten Materialien. 65 Nach HAUSRATH, Bd.2, 80 Anm. und 564, kam der literarische Nachlaß Rothes an Schenkel. Der verarbeitete ihn zu einer Biographie mit Zitaten aus einem Tagebuch des Verstorbenen: SCHENKEL, Zur Erinnerung. Nachdem Schenkel Rothes Predigten hg. hatte, mußte er, Erklärung, 602, wegen des ihm ob seines Jesusbuches entgegengebrachten Mißtrauens öffentlich erklären, er habe „von [sjeinem Eigenen sachlich auch nicht das Mindeste an irgend einer Stelle hinzugefügt." Das Konzept von Rothes Rede vor der I. Badischen Kammer zum deutschen Anspruch auf die Elbherzogtümer Schleswig und Holstein ist nicht nachweisbar. Nach HAUSRATH, Bd.2, 476f (Referat der Rede), soll es sich im Ahrendt-Nachlaß befinden. Wo dieser liegt, war nicht zu ermitteln.

28

Einleitung

bewahrt, den Archives of the Abdel Ross Wentz Memorial Library, die zum Lutheran Theological Seminary zu Gettysburg in Pennsylvania gehören. Es handelt sich bei dieser Hinterlassenschaft nicht nur um seine wissenschaftlichen Werke, theologischen Lehrbücher und die für ein breiteres Publikum gedachten Ausgaben von Predigten und Ansprachen,66 sondern auch um Vorlesungskonzepte, zahlreiche Briefe privaten und dienstlichen Inhalts sowie Akten aus verschiedenen kirchlichen Gremien. Ebenfalls erhalten ist dort ein großer Teil der Privatbibliothek SCHMUCKERS: In vielen älteren Büchern dieser Bibliothek finden sich seine Eigentumsvermerke; oftmals ist zudem das Anschaffungsdatum notiert. Das ermöglicht Einblicke in die Hintergründe der seiner Überlegungen und Forderungen. In dem ebenfalls in Gettysburg befindlichen Archiv des auch von SCHMUCKER mitbegründeten College, den Archives of the Musselman Library, finden sich zudem über 150 Predigtmanuskripte SCHMUCKERs, alle sorgfaltig ausgearbeitet, sowie ein Tagebuch, das er während einer mehrmonatigen Reise auf dem Kontinent, vor allem in Deutschland und Österreich, im Jahre 1846 führte. Christoph Ernst LUTHARDTS wissenschaftliche Arbeiten und seine populären Vortragssammlungen sind ebenso wie seine Lehrbücher und Predigtsammlungen gut greifbar.67 Die Untersuchung wird sich vornehmlich den Vorträgen über die modernen Weltanschauungen aus dem Jahre 1880 widmen, da diese zu den wirkmächtigsten Schriften des Lutheraners zu zählen sind, gleichwohl aber bisher von der Forschung nur unzureichend berücksichtigt wurden. Überdies macht ihre Analyse einige Korrekturen am bisherigen Bild seiner Sozialethik notwendig.68 Der größte Teil seiner brieflichen Hinterlassenschaft - vor allem Briefe an ihn, die in Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Herausgeber der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung stehen - findet sich im Landeskirchlichen Archiv zu Nürnberg;69 sie enthalten kaum für die Fragestellung 66 Zusammenstellung der publizierten Schriften bei WENTZ, Pioneer, 355-364. Schmukkers Schriften sind in der Bundesrepublik Deutschland nur teilweise im Microfilm Corpus of American Lutheranism greifbar (UB Tübingen). 67 Eine Bibliographie bietet RiESKE-BRAUN, Zwei-Bereiche-Lehre, 488-491 (es fehlen aber unter anderem die anonym publizierten beziehungsweise nur mit Siglen gekennzeichneten Jugendschriften Luthardts). Mein Quellenverzeichnis ergänzt frühere Bibliographien, beansprucht aber keine Vollständigkeit. 68 Das hat schon NEUKIRCH, 441, festgestellt. RiESKE-BRAUN, Zwei-Bereiche-Lehre, 130-163, beschäftigt sich weniger mit den konkreten ethischen Forderungen und Entscheidungen Luthardts als mit der Rezeption der Zweireichelehre im Erlanger Luthertum und in der über lange Jahre hinweg von Luthardt geprägten AELKZ. Deshalb expliziert er ebd., 134— 141, dessen ethische Grundentscheidungen ausschließlich an dessen Lehre vom freien Willen, um dann zu bestätigen, was schon die Zeitgenossen Luthardt vorgeworfen hatten: daß er semipelagianisch lehre. 69 Bestand Personen 8 (Luthardt). Dieser Teil des Nachlasses wurde jüngst von RlESKEBRAUN, Reaktionen, und ders., Zwei-Bereiche-Lehre, 174-459, ausgewertet. Von diesem Material her sind keine über dessen Darlegungen hinausfuhrende Einblicke in die sozialethi-

5. Forschungslage

29

dieser Untersuchung bedeutsames Material. Für die Biographie LUTHARDTs relevante Quellen scheinen verloren zu sein.70 Carl Ferdinand Wilhelm WALTHER veröffentlichte zeitlebens nur in deutscher Sprache. Da er mit prononcierten Voten in deutsche akademische Diskussionen eingriff, wurden viele seiner Schriften auch in Deutschland gedruckt und rezipiert.71 Seine wichtigsten Monographien wurden nicht nur für den Lehrbetrieb in den theologischen Ausbildungsstätten der Missourisynode bedeutsam, sondern auch als Lehrschriften von dieser von ihm mitbegründeten Synode approbiert. Sie wurden teilweise in den letzten Jahrzehnten ins Englische übersetzt. WALTHERs Predigten wurden in großer Zahl veröffentlicht und erlebten enorme Auflagenhöhen; fraglich ist häufig die Datierung der einzelnen Ansprachen. Eine redaktionelle Bearbeitung der posthum publizierten Predigten ist anzunehmen, aus dem Text der Veröffentlichungen aber nicht zu erheben. Außer den publizierten Briefen konnten weitere Briefe und Gutachten in die Untersuchung einbezogen werden, die im Concordia Historical Institute lagern, dem Archiv des von Walther begründeten und 37 Jahre lang geleiteten Concordia Seminary in St. Louis, der Ausbildungsstätte für die Pfarrer derjenigen Gemeinden, die der missourischen Synode angehören.

5. Forschungslage Kirchengeschichtliche Untersuchungen, die zwischen kirchlichen, theologischen und politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten von Amerika und dem Deutschen Reich eine Beziehung herstellen,72 sind noch rarer sehe Position Luthardts zu gewinnen, da es sich vornehmlich um Schreiben an jenen handelt. Einige bisher in der Forschung unbekannte Schreiben Luthardts und Briefe an ihn sind überdies in Privatbesitz erhalten: Frau Ottony Dreschler, geb. Luthardt, Ansbach, und Herrn Dr. med. Christoph Ernst Luthardt, Müden/Örtze, sei für die Möglichkeit zur Einsichtnahme in die in ihrem Besitz befindliche Hinterlassenschaft Luthardts freundlich gedankt. 70 Unauffindbar ist derzeit Luthardts im Jahre 1858 abgefaßte Autobiographie, die sein Schüler KUNZE, D. Luthardt, für die Biographie seines Lehrers benutzen konnte. Sie befand sich 1913 im Besitz von Luthardts Sohn, dem sächsischen Pfarrer Richard Luthardt. Bei den gegenwärtig lebenden Nachkommen der Familie ist die Schrift ebensowenig bekannt wie in den einschlägigen Archiven. 71 GV 153, 1986, 560-562. 1855 wurde ihm der theologische Doktortitel der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen offeriert; aus konfessionellen Gründen - er hielt die Göttinger Theologische Fakultät für nicht lutherisch - lehnte er ab, nahm aber 1878 die Ehre von der Capital University der Ohio Synod an. ANONYMUS, Walther, 805b. GÜNTHER, 128137, zit. aus dem desbezüglichen Briefwechsel und aus Walthers Dankesrede nach Überreichung der Urkunde. Vgl. a. HOFFMANN. 72 Dies verwundert insofern, als schon im letzten Jh. von Kundigen behauptet wurde, die Vereinigten Staaten von Amerika hätten „ein neues Blatt der Welt- und Kirchengeschichte

Einleitung

30

als deutsche Darstellungen zur amerikanischen Kirchengeschichte.73 Die historische Forschung läuft in beiden Staaten nebeneinander her, obzwar es zahlreiche Verbindungslinien und Anknüpfungspunkte für übergreifende Fragestellungen gäbe, was die historische Wissenschaft spätestens seit den Untersuchungen von Dietrich GERHARD und Hartmut LEHMANN erkannt hat.74 In beiden Ländern hat man sich in den letzten Jahren intensiv mit der Kirchengeschichte beziehungsweise Christentumsgeschichte des 19. Jh. auseinandergesetzt; allerdings unter divergierenden Gesichtspunkten, die sich aus der je verschiedenen Ausgangslage beider Länder erklären. Für amerikanische Darstellungen der amerikanischen Kirchen- beziehungsweise Christentums- und Religionsgeschichte sind die lutherischen Kirchen von nur geringem Interesse.75 Das hat seinen Grund darin, daß die Forschung denominationenübergreifend die Entwicklung des Christentums als einer gesellschaftsprägenden Kraft nachzeichnet.76 Die Lutheraner gelten nicht als eine solche, sondern vielmehr als eine Gruppe, die in einem langsamen und mühevollen

aufgeschlagen." PENZEL, 7. Auf die vorliegenden Untersuchungen wird an gegebener Stelle Bezug genommen. Eine recht allgemein gehaltene knappe Einfuhrung bietet MAURER, Verbindung. 73 NLPPOLD, Amerikanische Kirchengeschichte, §9-11, 139-172; FRITSCHEL; WENTZ, lutherische Kirche; KREMER (Lit.!); KRAUSHAAR, Vereinigte Staaten; BRAUER, Neuzeitliche Kirchengeschichte. 74 GERHARD, Entwicklung; ders., Erweckungsbewegung. LEHMANN, Luther, 184-190, hat die Entwicklung der Beurteilung Luthers durch nichtlutherische amerikanische Historiker und Kirchengeschichtler vom Luthergedenkjahr 1883, in dem Luther als Ahnherr der Vereinigten Staaten von Amerika von allen protestantischen Denominationen gefeiert wurde, bis zu späteren Jahren, als man neben Luther andere Reformatoren stellte, nachgezeichnet. Die Forschungslage im Gebiet der vergleichenden Sozialgeschichte der Religion beschreibt SCHIEDER, Sozialgeschichte. 75 Vgl. zur Methodendiskussion in der amerikanischen Christentumsgeschichte die Aufsätze in dem Sammelband REINTERPRETATION, vor allem denjenigen von BRAUER, Changing Perspectives (mit Zusammenstellung und Bewertung der Standardwerke zur amerikanischen Kirchengeschichte). Diese Artikel verdeutlichen, daß es der amerikanischen Christentumsund Religionsgeschichte darum geht, den religiösen Pluralismus in einem stimmiges Bild einzufangen. Kennzeichnend für diesen Versuch sind vor allem die Klassiker AHLSTROM; MEAD, Lively Experiment. Luzide faßt die Unterschiede zwischen deutscher und amerikanischer Kirchengeschichte und deren Gründe LEHMANN, Nordamerikanische Kirchengeschichte, zusammen. Vgl. a. die ersten deutschen Versuche, eine Christentumsgeschichte zu entwerfen: GRESCHAT, neueste Zeit; BESIER, Religion; NOWAK, Geschichte. 76

Hintergrund der Darstellungen ist häufig die Überzeugung, daß die calvinistische Bundestheologie und die puritanische Lebensweise das amerikanische Christentum'zutiefst durchdrungen haben. Die Integration der riesigen Immigrantenströme sei durch Puritanisierung gelungen. Definition des Puritanismus bei BRAUER, Types, 42; HANSEN, Immigration. Neuere Untersuchungen sehen dagegen nicht im Puritanismus die bestimmende Größe der amerikanischen Christentumsgeschichte, sondern betonen die Bedeutung der Unterschiedlichkeit der Regionen in den Vereinigten Staaten. BRAUER, Regionalism; HILL.

5. Forschungslage

31

Prozeß amerikanisiert wurde. 7 7 SCHMUCKER u n d WALTHER haben deshalb in den großen Werken der amerikanischen K i r c h e n - und Christentumsgeschichtsschreibung nur einen kleinen Platz a n g e w i e s e n b e k o m m e n . 7 8 Sie w e r d e n allein in d e n Historien der amerikanischen lutherischen Kirche, die der A u s b i l dung des e i g e n e n N a c h w u c h s e s für das Pfarramt dienen, breiter gewürdigt. 7 9 Allerdings w e r d e n die beiden in der F o r s c h u n g seitens amerikanischer Lutheraner sehr unterschiedlich behandelt. D a s liegt in der Tatsache begründet, daß das k o n f e s s i o n e l l e das liberale Luthertum in den V e r e i n i g t e n Staaten v o n A m e r i k a stärker n o c h als in D e u t s c h l a n d verdrängt hat. 8 0 D e s h a l b ist die historische A u f arbeitung der G e s c h i c h t e des v o n SCHMUCKER begründeten sogenannten American Lutheranism bisher kaum in G a n g g e k o m m e n . N o c h heute wird in m a n c h e n Kreisen Schmuckerism w i e ein S c h i m p f w o r t benutzt. D i e Schwierigkeit, mit der eine j e d e U n t e r s u c h u n g z u m amerikanischen Luthertum allein aufgrund der kontroverstheologischen A u s g a n g s l a g e zu k ä m p f e n hat, hat L e i g h JORDAHL treffend charakterisiert: Vorurteile verbauen den B l i c k auf den U n t e r s u c h u n g s g e g e n stand. 8 1 D i e Zahl der amerikanischen U n t e r s u c h u n g e n z u m Problem des Verhältnisses z w i s c h e n Staat und Kirche s o w i e der G e s c h i c h t e der Entstehung der Religionsfreiheit ist i n z w i s c h e n unüberschaubar. D i e Arbeiten akzentuieren

77 COBURN beschreibt beispielhaft das große Resistenzvermögen einer lutherischen Dorfgemeinschaft aus Hannover in einem Dorf in Kansas gegen jegliche Amerikanisierung. Der Anschluß der Gemeinschaft an die Missourisynode hatte dabei eine bedeutsame stabilisierende Wirkung. 78 Es genügt ein Blick unter dem Stichwort Lutheranism in die Register der Standardwerke, vgl. oben Anm.75. Bezeichnend ist besonders AHLSTROM, weil gerade ihm vorgeworfen wird, die Kirchen des mainstream in den Mittelpunkt seiner Darstellung gerückt zu haben. Auch neueste amerikanische Darstellungen, die nach dem Verhältnis von ethnischer Herkunft und Theologie fragen, untersuchen meist nicht die deutschstämmigen Lutheraner. Vgl. z.B.

HIGHAM. 79 LUTHERANS; WOLF, Lutherans·, NEVE; WENTZ, Significant Parallels·, ders., Basic History. Dieser letztgenannte Titel wurde in sprachlicher und sachlicher Anlehnung an BEARDs Basic History of the United States gebildet. 80 SCHULTZ, 47 (mit Quellenausz.). 81 JORDAHL, Schmucker, 77: „Thus we easily read the stories of Gettysburg [Lutheran Theological Seminary = American Lutheranism, ADD] and Concordia [Lutheran Theological Seminary, St. Louis = Missouri Synod, ADD] as a contrast between an amorphous American cultur-religion on one hand and a doctrinaire sectarianism on the other. If one comes from the Midwest and has his roots in Missouri Synod confessionalism (or its counterpart in other segments of Midwestern American Lutheranism), the names of Gettyburg Seminary and S. S. Schmucker or the old General Synod conjure up a mythological picture of a form of Lutheranism that simply sold its birthright for a miserable mess of American religion in general, captive to culture and tied to its own form of traditionalism, the traditionalism of the American democratic faith. The same psychological block exists on the other side, too, where Walther and the Missouri Synod have often become symbols of narrowness, lovelessness, bigotry, an legalistic sectarianism. That they might also symbolize attempts, however unsatisfactory', to build an authentic Lutheranism on American soil is not always willingly granted."

32

Einleitung

ebenso wie Untersuchungen zur Entstehung des Gedankens der Demokratie und zu dessen Rezeption in der amerikanischen Gesellschaft die Bedeutung anderer religiöser Gruppen als derjenigen der Lutheraner und den Einfluß des Second Great Awakening auf die amerikanische Gesellschaft.82 Arbeiten zur Staat-Kirche Problematik in Deutschland sind ebenfalls Legion. Dabei erfuhr die Forschung allerdings eine auffallige Zuspitzung auf Preußen, was sich aus dessen Bedeutung für die nord- und westdeutsche Geschichte und die deutsche Einheit erklärt.83 Daß die politische wie die kirchliche Entwicklung in den deutschen Einzelstaaten durchaus unterschiedlich verlief, kommt erst langsam in den Blick. Überdies wurde die Frage nach sozialethischen Konzeptionen des Luthertums vor allem in Zusammenhang mit der Diskussion um die Rezeption von LUTHERS Zweireichelehre im 19. und 20. Jh. thematisiert.84 Die Demokratiethematik ist demgegenüber weniger intensiv untersucht worden.85 Historisch-biographische und theologiegeschichtliche oder systematischtheologische Untersuchungen zu allen vier Theologen liegen vor, sind allerdings teilweise methodisch veraltet und enthalten kaum für die Frage nach der historischen Kontextualisierung der jeweiligen Ethik relevante Überlegungen.

6. Aufbau und Ziel Der Fragestellung entsprechend wird die Untersuchung gegliedert in vier Hauptteile. Ein jeder ist einem Theologen gewidmet. Die Reihenfolge der Besprechung der einzelnen sozialethischen Entwürfe folgt der historischen Entwicklung. Damit ergibt sich zugleich eine sachliche Linie, die von der völligen Hochschätzung, ja: Überschätzung des Staates, bis hin zu seiner Geringschätzung als bloße äußere Ordnung, die den Christenmenschen nicht tangieren muß, sowie umgekehrt: von der Geringschätzung der empirischen Kirche bis zur ihrer Überschätzung als ausschließlichem Lebenshorizont des Lutheraners, auszuziehen ist. Die Untergliederung der Hauptteile ist in den Grundzügen jeweils gleich. Weil die Besonderheit eines jeden der Theologen zutage treten soll, ent82

BURR, 486-493 (zum Luthertum); ENCYCLOPEDIA; REICHLEY. Bibliographien zur Geschichte des Verhältnisses von Staat und Kirche in den Vereinigten Staaten von Amerika: ERNST, 347-364; CHURCH State. Quellensammlung zum Thema: CHURCH State History. 83 FISCHER, Protestantismus, 476-518; KlM. 84 Das Diktum HONECKERs, Interpretation, 160f, Begriff und Theorie seien „wohl nichts anderes als ein Konstrukt der neuesten Theologiegeschichte," steht noch immer im Raum. Vgl. a. NOWAK, Zweireichelehre. Ein knappes Referat der Diskussionslage bietet GRAF, Konservatives Kulturluthertum, 38-40. Aus dem amerikanischen Bereich vgl. HERTZ. 85 LANDAU, Luther, HÖLSCHER, Demokratie. Vgl. a. die Aufsätze in KIRCHE Demokratie; FREIHEIT.

6. Aufbau und Ziel

33

steht ein Darstellungsproblem: Die Möglichkeit der Vergleichbarkeit der sozialethischen Entwürfe wird erschwert. Deshalb muß am Schluß der Untersuchung das Ergebnis der Einzeldarstellungen unter übergeordneten Gesichtspunkten synthetisiert werden. Leitend ist dabei die Frage nach der Affinität der verschiedenen Entwürfe zu einer pluralistischen Gesellschaft in einem demokratisch verfaßten Staat. Die vier Hauptteile sind folgendermaßen aufgebaut: Nachdem einleitend die Grundzüge eines jeden sozialethischen Systems dargestellt worden sind unter den Gesichtspunkten: Verhältnis zur Heiligen Schrift, zu LUTHER und der lutherischen Tradition sowie zur Vernunft, wird die jeweilige Lehre vom Staat, der von den Autoren verwendete Begriff von Gesellschaft und abschließend die Lehre von der Kirche herausgearbeitet. Dabei wird jeweils unterschieden zwischen der ethischen Forderung und der konkreten ethischen Option in bestimmten historischen Situationen. Auf diese Weise kann die Frage nach der Übereinstimmung von Theorie und Praxis im jeweiligen Modell diskutiert werden. Die Linie ist folgendermaßen zusammenzufassen: Während bei ROTHE der Staat zur Kirche wird, ist bei WALTHER die Kirche ein Staat im Staate. SCHMUCKER und LUTHARDT betonen dagegen stärker die Notwendigkeit sowohl des Staates wie der Kirche als auch ihre Unterschiedenheit; in dem einen Fall soll die Kirche dem Staat gegenüber ein Wächteramt wahrnehmen, in dem anderen harmonisch mit ihm zusammenarbeiten. Der Blick in die deutschen und amerikanischen sozialethischen Entwürfe des 19. Jh. kann verstehen helfen, warum einerseits das deutsche Luthertum in den zwanziger Jahren dieses Jh. zu jenen gesellschaftlichen Kräften gehörte, die den Institutionen der parlamentarischen Demokratie von Weimar die Legitimität absprachen, und warum andererseits das amerikanische Luthertum bis heute eine marginale Stellung und Bedeutung im öffentlichen Leben der Vereinigten Staaten von Amerika innehat.

Die lutherischen Kirchen in Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika: Statistischer und historisch-religionssoziologischer Vergleich

In vielerlei Hinsicht unterscheiden sich die deutschen von den amerikanischen lutherischen Kirchen: in ihrer rechtlichen Stellung im Staat, in ihrer Prägekraft für beide Staaten und die jeweilige Gesellschaft, in ihrer statistischen Verbreitung sowie - nicht zuletzt - in ihrer Geschichte.

1. Rechtliche Stellung der Kirchen in beiden Staaten Wird der Unterschied zwischen den deutschen und den amerikanischen lutherischen Kirchen vom Recht her beschrieben, so weist das deutsche Recht eine Besonderheit auf: Es kennt ein spezielles Staatskirchenrecht. 1 Dieses war im 19. Jh. in einer tiefgreifenden Wandlung begriffen: Zwar bestand das landesherrliche Kirchenregiment bis 1918, aber im Verlauf des 19. Jh. wurden in den meisten Landeskirchen Synoden eingeführt und die Konsistorien aus den Kultusministerien ausgegliedert, was eine Beschränkung der Gewalt des Landesherrn und sukzessive Verselbständigung der Kirchenorganisation gegenüber der jeweiligen Staatsorganisation bedeutete. Trotzdem trat hier jetzt noch keine Trennung von Staat und evangelischer Kirche ein. Obzwar also der Landesherr Inhaber des Kirchenregiments blieb, „ist nicht zu verkennen, daß die Trennung von Staat und Kirche in einem tieferen, geistigen Sinn trotz aller äußeren Verklammerungen ein Leitmotiv des deutschen Staatskirchenrechts im 19. Jh. gewesen ist."2 Einen ersten Höhepunkt erreichte der Prozeß der Trennung von Kirche und Staat in der Paulskirchenverfassung. „Kaum ein anderer Artikel" wie der über das Verhältnis von Kirche und Staat „löste innerhalb wie außerhalb der Paulskirche so viel Resonanz aus." 3 Die Frankfurter Reichsverfassung hat die Trennung von Kirche und Staat zwar nicht als allgemeines Prinzip ausgesprochen, aber sie hat doch volle Glaubens- und Gewissensfreiheit, Aufhebung der Staatskirche, Einfuhrung von Zivilehe und Standesämtern, Freiheit zur Bildung neuer ReligionsLANDAU, Entstehung, 29. HECKEL, Zur Entwicklung, 31. So auch schon HIRSCH, Staat, Kirchenrecht, 729f (Lit.!); KlM (Lit.!); STOLLEIS. 3 BESIER, Landeskirche, 386. 2

16.

Vgl. a.

HONFXKER,

36

Statistischer und historisch-religionssoziologischer Vergleich

gemeinschaften und das Recht einer jeden auf Selbstverwaltung gefordert.4 Als FRIEDRICH WILHELM IV. die Kaiserkrone ablehnte, verwarf er damit zwar auch die neue Verfassung; gleichwohl beeinflußte diese die Gesetzgebung der deutschen Länder in den folgenden Jahrzehnten bis hin zum Kulturkampf, als durch die Zivilstandsgesetzgebung der Taufzwang und der Zwang zur Eheschließung vor einem Pfarrer aufgehoben wurden. Ein Staatskirchenrecht kannten die Vereinigten Staaten von Amerika dagegen nicht. Auf der Basis von Freiwilligkeit zustandekommende Vereine freier und gleicher Männer, schlossen sich innerhalb der Grenzen der für alle geltenden Gesetze zur gemeinsamen Religionsausübung zusammen. Deshalb gelten die Vereinigten Staaten von Amerika im allgemeinen als das Mutterland der Religionsfreiheit.5 Zwar hatte sich dieser Gedanke nur langsam in allen Kolonien beziehungsweise bei den Mitgliedsstaaten der Union durchgesetzt, war aber am Anfang des 19. Jh. weitgehend verwirklicht.6 Während die stark basisdemokratische pennsylvanische Verfassung schon 1683 festgeschrieben hatte, daß niemand, der an Gott glaubt, zu einer religiösen Handlung gezwungen werden darf,7 bestanden in Connecticut und in Massachusetts Staatskirchen bis 1817 beziehungsweise 1833. Diese Verschiedenheit der Rechtslage in den einzelnen Kolonien erklärt die Formulierung des First Amendment zur Bill of Rights der amerikanischen Verfassung vom 15. Dezember 1791: Der Bundesstaat darf keine Religionsgemeinschaft den anderen gegenüber bevorzugen oder in die Religionsgesetze der Mitgliedsstaaten eingreifen.8 Der grundsätzliche Unterschied zum deutschen Recht besteht in der rechtlichen Anerkennung einer Vielzahl von staatlicher Einmischung unabhängig sich organisierender und entwickelnder voluntary societies, die sich selbst christliche Kirche nennen.

A m 27. Dezember 1848 wurden im Rahmen der Grundrechte des deutschen V o l k e s die Bestimmungen über das Verhältnis v o n Staat und Religion als Art. ΙΠ, § 14-21, publiziert. Sie gingen unverändert in die Verfassung des deutschen Reiches v o m 28. März 1849 ein als § 144-151. HUBER/HUBER, Bd.2, 33f. Vgl.a. LANDAU, Entstehung, 33-37. Griffige Edition mit Komm, bei FRIEDRICH. 5 Vgl. zur Geschichte des Gedankens WEBER, Religionsfreiheit (Lit.!). 6 COBB; ROTHENBÜCHER, 1 1 8 - 1 3 1 ; LEHMANN, Freiheit. 7

REIBSTEIN, Bd.2, 6 2 - 7 4 , bes. 71f. WILSON, 84. Eine Bibliographie zur Intention der Verfasser und zu frühen Interpretationen bietet ERNST, 357-359. Vgl. a. BEWERSDORF, 7f. Nach dems., 12-15, gibt es erst seit Inkrafttreten des XIV. Amendment zur amerikanischen Verfassung v o m 28. Juli 1868 die Möglichkeit zur Durchsetzung verfassungsmäßig garantierter Freiheiten gegenüber den Einzelstaaten; für die Bundesgrundrechte, die Bill of Rights, gilt dies erst seit 1940. 8

2. Christliche Prägung beider Staaten

37

2. Christliche Prägung beider Staaten

Weder die Vereinigten Staaten von Amerika noch die deutschen Staaten beziehungsweise das Deutsche Reich waren im 19. Jh. säkulare Staaten. Die jenseits des Atlantiks für alle Bürger geltende Freiheit zur kirchlichen Assoziation und zur freien Religionsausübung bedeutete nicht, daß die Bundesregierung der Religion neutral gegenüberstand: Eröffnung des Kongresses mit Gebet war üblich, die Bestellung von Kongreßkaplänen, die Anordnung von nationalen Dank- und Bußtagen ebenso. Das zeigt, daß die Praxis des Kongresses und der ersten Präsidenten keineswegs antireligiös beziehungsweise antichristlich war.9 JEFFERSONs Bild einer Mauer zwischen Staat und Kirche (wall of separation) beschreibt also nicht die historischen Verhältnisse, sondern soll die Kirchen ihrer Freiheit von staatlichen Eingriffen versichern. Der sechste Artikel der amerikanischen Verfassung, der festlegt, daß die Voraussetzung für ein öffentliches Amt niemals die Religion sein darf, wurde im 19. Jh. dahingehend verstanden, daß allein Christen - in manchen Staaten nur solche protestantischer Konfession - öffentliche Ämter übernehmen durften.10 Ebenso wollte die Forderung nach disestablishment nicht staatliche Unterstützung für die Kirchen abschaffen, sondern nur die Bevorzugung einer einzelnen Kirche verhindern." In vielerlei Hinsicht entsprach das amerikanische Staatskirchenrecht also nicht der Vorstellung, die man mit der Formel: Trennung von Kirche und Staat verbindet. Da man al-

9

WILSON, 7 7 - 8 1 .

10

Ebd., 82. Ebd., 83: Religiöse Eide als Voraussetzung der Übernahme politischer Ämter waren in den Einzelstaaten weit verbreitet. Der Kongreß konnte diese Praxis nicht übernehmen, wollte er nicht das neue Regierungssystem gefährden. Gerade das Nichtantasten der staatskirchenrechtlichen Verhältnisse in den Bundesstaaten ermöglichte diesen die Annahme der Konstitution. Nach BEWERSDORF, 12, waren bis weit in das 19. Jh. hinein Juden und Katholiken in einigen Staaten von Staatsämtern ausgeschlossen, etwa in New Hampshire bis 1876; Atheisten durften sogar noch länger kein Staatsamt bekleiden. GREENE, 94f, ergänzt, daß in Pennsylvania, Maryland, North Carolina, Tennessee, Mississippi und Arkansas öffentliche Ämter nur dann angetreten werden konnten, wenn die Christlichkeit des Kandidaten teilweise auch nur der Glaube an die Existenz Gottes, künftigen Lohn beziehungsweise Gericht - nachgewiesen war. Dagegen waren jegliche „religious tests" in New York und Iowa seit 1846 explizit verboten. 1859 wurde in der Verfassung von Oregon festgelegt, daß kein Zeuge vor Gericht nach seiner Kirchenzugehörigkeit gefragt werden darf, auch wenn dies deshalb geschehen sollte, um ein Urteil über seine Glaubwürdigkeit sich bilden zu können. Disestablishment meint ursprünglich die Abschaffung der vom Staat zugunsten der Staatskirche erhobenen Kirchensteuer. Diese Forderung wurde am Beginn des 19. Jh. von den dissenters erhoben, also denjenigen Gruppen, die ihre eigene Gemeinde aus freiwilligen Spenden finanzierten und zugleich die Staatskirche finanziell unterstützen mußten. MURRIN, 33, berichtet, daß bei Roger Williams und den Quäkern die Befürchtung bestand, der Staat korrumpiere die Kirche, bei Jefferson und Madison dagegen die Sorge, die Staatskirche beeinflusse die Politik, so daß mit dem I. Amendment allen Seiten gedient war.

38

Statistischer und historisch-religionssoziologischer Vergleich

lerdings theokratische Tendenzen fürchtete, war den Pfarrern in vielen amerikanischen Bundesstaaten die Übernahme höherer öffentlicher Ämter verboten.12 Sieht man allein auf die Phänomene, so bietet sich in Deutschland ein ganz ähnliches Bild: Die Landesherren hatten Hofprediger und Militärpfarrer. Sie ließen Büß- und Danktage in allen Kirchen ihrer Territorien abhalten und vertrauten Staatsämter - zumindest noch bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jh. hinein - nur Christen, nicht aber Juden, Deisten oder Atheisten an. Der amerikanische Pfarrer trat den Heiratswilligen wie der deutsche gegenüber: als Standesbeamter. Anders als im Deutschen Reich konnte in den Vereinigten Staaten von Amerika die Ehe aber fakultativ vor einem Friedensrichter oder vor einem Pfarrer geschlossen werden, während dort bis zur Einführung der Zivilstandsgesetzgebung ausschließlich die Pfarrer, danach nur noch die Standesbeamten diese Funktion innehatten.13 Auch andere Unterschiede in der Haltung des Staates gegenüber den Kirchen in beiden Ländern sind nicht zu übersehen: Obwohl die deutschen Kirchen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. zunehmend in eine gewisse Selbständigkeit gegenüber dem Staat entlassen wurden, blieben sie Landeskirchen, in die die deutschen Neugeborenen je nach der Religionszugehörigkeit der Eltern hineingetauft wurden, bis zur Zivilstandsgesetzgebung zwangsweise, danach aus Gründen der Tradition und Sitte. In den Vereinigten Staaten von Amerika war dagegen keine Zwangstaufe vorgesehen. Unter den Bedingungen der Western Frontier blieben viele Neugeborene solange ungetauft, bis ein berittener Prediger vorbeikam (dabei war den Eltern dessen Konfessionszugehörigkeit häufig gleichgültig); Kirchengemeinden wurden in den neu erschlossenen und besiedelten Regionen nur nach und nach gegründet. Dazu kommt ein weiterer Unterschied: Die deutschen Staaten verstanden die Konfession ihrer Bürger zunehmend weniger als das Staat und Gesellschaft tragende Fundament und einigende Band. Das illustrieren beispielsweise die stillschweigende Abschaffung der Kirchenparade und der Kniebeugungsstreit: Katholische Soldaten wurden in Preußen nach 1837 nicht mehr gezwungen, nach der Parade am protestantischen Gottesdienst teilzunehmen;14 protestantische 12

GREENE, 95f. HESSE, 1563. 14 BUNSEN, Bd. 1, 463-465. Bunsen berichtet hier von einer Audienz beim König, bei der er diesen für die Gewährung von Gewissensfreiheit auch für Katholiken erwärmt habe. Die Kirchenparade wurde drei- bis viermal jährlich praktiziert. Der König intendierte mit dieser Maßnahme, das Vertrauen des katholischen Truppenteils zu dem protestantischen für die zukünftigen Kampfsituationen zu stärken, weil die Katholiken dessen gewahr werden sollten, daß auch die Protestanten an Jesus Christus glauben. Tatsächlich aber kursierten Gerüchte nach Art von Märtyrergeschichten, wonach ein Soldat, der an der Kirchentür sagte, ,Bis hierher und nicht weiter', verhaftet wurde. Gleichwohl wurden aber in Preußen wie auch in anderen Staaten noch keine frei organisierten Gemeinden außerhalb der Landeskirchen staatlicherseits geduldet und sogar Bismarck war solchen gegenüber skeptisch eingestellt. GÄBLER, 157f. 13

2. Christliche Prägung beider Staaten

39

Soldaten mußten in Bayern beim Vorübertragen der Hostie nur noch ein Dezennium länger auf die Knie fallen. 15 In den Vereinigten Staaten bestanden keine entsprechenden Gesetze, die man als Gewissensbedrückung hätte empfinden können. Der hellsichtige Alexis D E T O C Q U E V I L L E bemerkte allerdings schon 1835, daß Religion in den Vereinigten Staaten von Amerika zwar keinen direkten Einfluß auf die Regierung habe, daß sie aber als allererste der politischen Einrichtungen betrachtet werden müsse, weil die Amerikaner Gott als die entscheidende ordnungsstiftende Macht in der potentiell destruktiven Demokratie ansähen.16 Offensichtlich ist ebenfalls der Unterschied hinsichtlich der kirchlichen Finanzen: Auch nach der Entlassung der deutschen Landeskirchen aus dem Staatsapparat in der zweiten Hälfte des 19. Jh. blieb die Aufsicht über die kirchlichen Finanzen in staatlicher Hand. In den Vereinigten Staaten waren die Kirchen dagegen weitgehend frei von staatlichen Einschränkungen, allerdings auch nicht staatlicherseits finanziell abgesichert. Weder wurden die Gehälter der Pastoren bezahlt noch die gemeindliche und synodale Selbstorganisation in irgendeiner Weise bestimmt, eingeschränkt oder unterstützt. Kontrolle der kirchlichen Finanzen und geschäftlichen Transaktionen durch die Bundesstaaten war allerdings üblich; Ziel war dabei jeweils die Beschränkung von Besitz in den Händen kirchlicher Korporationen.' 7 Ein letzter bedeutsamer Unterschied soll Erwähnung finden: Die amerikanischen lutherischen Kirchen bauten sich von der Gemeinde her auf. Die örtliche Partikulargemeinde trug das Prädikat Kirche im umfassenden Sinne. Wenn überregionale Zusammenschlüsse zustandekamen, so war dies der Initiative einzelner Pastoren und Gemeinden zu danken. In Deutschland bestand dagegen eine staatliche Behörde fur kirchliche Angelegenheiten. Wenn diese auch dem Staatsapparat gegenüber zunehmend an Selbständigkeit gewann, so daß eine eigene landeskirchliche Bürokratie und ein landeskirchliches Bewußtsein entste-

Zu den kirchenpolitischen Vorstellungen Friedrich Wilhelms IV. vgl. GOETERS, 274; BRENNECKE, Kirche-,

MEHLHAUSEN, Friedrich

Wilhelm

IV.

15

Nach einer Kriegsministerialorder König Ludwigs I. vom 14. August 1838 hatte die ganze zu einer Prozession abgeordnete Einheit vor der Hostie niederzuknien. Das umfaßte natürlich auch protestantische Soldaten. Die Protestanten betrachteten diese Anordnung als grundsätzlichen Affront gegen ihre Gewissensfreiheit und gegen ihre Kirche. Schilderung bei HARLESS, Bruchstücke, T.2, 65-82; THIERSCH. Der Streit ist in der ZPK dokumentiert. BLENER, 139f. ANONYMUS, Harleß, 538, druckt die Order ab. Die einschlägigen Gesetzestexte b e i HUBER/HUBER, B d . l , 6 5 6 f . 16

Über Tocquevilles Analyse der Probleme der amerikanischen Demokratie in der Jackson-Ära, die besonders die Gleichheit der Bedingungen, d.h. die Gleichheit des Zugangs zur Gesellschaft betonte, informiert knapp BERMBACH, 345-350. Zu Person und Werk vgl. JARDIN. Vgl. a. zur Bedeutung der Religion im Selbstbewußtsein der Amerikaner im 19. Jh. ERNST, 3 3 3 - 3 3 5 . 17

MURRIN, 1 0 7 f .

40

Statistischer und historisch-religionssoziologischer Vergleich

hen konnten, blieben die deutschen Kirchen doch in der Stellung staatlich geprägter Institutionen gegenüber dem gläubigen Volk. Die amerikanischen Kirchen entstanden dagegen aus dem Bedürfiiis der Gläubigen nach gemeinschaftlicher Religionsausübung heraus. Sie waren Teil der Gesellschaft, nicht - wie in Deutschland - Teil des Staates.

3. D a s jeweilige Verhältnis von Staat und Gesellschaft Die Dissoziation von Kirchen und Staat war in Deutschland eng mit der Auflösung der aus dem Mittelalter herrührenden und im Westfälischen Frieden bestätigten religiös-politischen Einheitskultur verbunden. Durch die Aufspaltung des abendländischen Christentums in drei Konfessionen konnte sich der Staat als diejenige höhere Ordnungsmacht herausbilden, die diesen dreien ihre Existenz garantierte, aber auch ihre friedliche Koexistenz forderte. Weil der absolutistische Staat zu schwach war, sich in allen Lebensbereichen durchzusetzen, entstand im Lauf des 18. Jh. die bürgerliche Gesellschaft. Fielen noch in der Terminologie K A N T S civitas beziehungsweise res publica und societas civilis zusammen, so war die Entstehung einer dritten Größe aufgrund von Interessenkollisionen und Klassenkonflikten zwischen fürstlichem Beamtenstaat und bürgerlicher Gesellschaft im deutschen Vormärz nicht mehr zu übersehen. 18 HEGEL hat schon am Beginn des 19. Jh. Staat und Gesellschaft definiert. 19 Demnach bezeichnet Gesellschaft die private Sphäre des bürgerlichen Lebens im Unterschied zur staatlichen; sie soll dessen Zugriff entzogen sein. Zur Gesellschaft zählen Wirtschaft, Kirchen und Kultur. Sie besteht aus atomisierten Einzelnen, die durch Polizei und Korporationen reguliert werden, und gründet in dem System der Bedürfnisse, das aus der Bedürfnisnatur des Menschen resultiert. Dagegen realisiert der Staat als Rechtsstaat „die Wirklichkeit der sittlichen Idee." 20 HEGEL ordnet Staat und Gesellschaft derart zueinander, daß die Willkür und Freiheit der Einzelnen durch das vom Staat gesetzte Recht garantiert und kontrolliert werden. Staat ist für ihn aber nicht nur die Idee und der Staatsapparat, sondern das Volk als in sich gegliedertes organisches Ganzes. Der Staat stellt als ein Abstraktum die Form dar, in der das Volk existiert. In ihm als einer über die Besonderheit der Individuen hinausweisenden allgemeinen Ordnung, die nicht auf Macht, sondern auf Sittlichkeit gegründet ist, liegt die Voraussetzung für die Entfaltung von Subjektivität und Freiheit im Unterschied zur Anarchie. Der

18

CONZE, Spannungsfeld,

209, 218.

19

Rechtsphilosophie, § 182-256 (Die bürgerliche Gesellschaft), § 257-360 (Der Staat), bes. § 189-208, § 230-256, § 257-259, § 270 mit Anm. Vgl. JAESCHKE, 354, 362 u. ö. und BÖCKENFÖRDE, 484f. 20

HEGEL, Rechtsphilosophie, § 257.

4. Christliche Prägung der beiden Gesellschaften

41

Staat ist also nicht identisch mit einer Regierung oder mit den Methoden ihrer Machtausübung. In den Vereinigten Staaten von Amerika war die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft von den Anfängen an gesetzt. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit von Großbritannien wurde er als Produkt des Wollens der Gesellschaft begriffen. Voraussetzung dafür war die Einheit von politischer und bürgerlicher Freiheit. 21

4. Christliche Prägung der beiden Gesellschaften Die amerikanische wie die deutsche Gesellschaft waren im 19. Jh. christlich geprägt, wenn auch in unterschiedlichem Maß und mit je gegenläufiger Tendenz. In der deutschen Gesellschaft breitete sich zunehmend die Überzeugung aus, daß Staat und Gesellschaft der christlichen Religion zu ihrer Sicherung nicht bedürften, obwohl die Konservativen die vom Atheismus her drohenden Gefahren mit grellen Farben zeichneten. In der amerikanischen Gesellschaft war dagegen gleichermaßen bei Liberalen wie Konservativen die Überzeugung verbreitet, daß das Funktionieren von Staat und Gesellschaft nur durch die Frömmigkeit der Bürger garantiert werden kann. Hinter diesen gegenläufigen Entwicklungen: zunehmende Anerkennung der staats- und gesellschaftstragenden Bedeutung des Christentums in den Vereinigten Staaten von Amerika und zunehmende Bestreitung derselben in Deutschland, verbergen sich unterschiedliche gesellschaftliche und geistesgeschichtliche Entwicklungen: Deutschland war christlich-kirchlich geprägt und verlor diesen Charakter langsam; die Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika war eher unkirchlich-unchristlich orientiert und wurde im Zuge des Second Great Awakening und der Anstrengungen überdenominationeller Vereine zur Hebung der Frömmigkeit und der Sitten während des 19. Jh. zunehmend christlicher. Das ist von vielen Amerikareisenden im letzten Jh. beobachtet worden. 22 Noch Max W E B E R bringt für die Bedeutung der Religion im öffentlichen Leben in den Vereinigten Staaten von Amerika ein eindrückliches Beispiel, das auf Gespräche zurückgeht, die er während seiner Reise im Jahre 1904 gefuhrt hatte: Obwohl es als gesetzwidrig gelten würde, wenn der Staat die Bürger nach ihrer Konfession fragen würde, geschehe dies im geschäftlichen Verkehr - so behauptet er - „immer." 23 Dies führt er darauf zurück, daß die Mitgliedschaft eines Geschäftspartners in einer bestimmten Denomination ein

21

KRIEGER.

22

Beispiele liefert SCHÄFER, 137, 151 (sonntags wurden in New York während des Gottesdienstes die Straßen mit Ketten abgesperrt), 159, 198f. 23

WEBER, Sekten,

207,209.

42

Statistischer und historisch-religionssoziologischer Vergleich

Urteil über dessen geschäftliche Seriosität erlaube.24 Hartmut LEHMANN weist darauf hin, daß diese Unterschiedlichkeit der deutschen und der amerikanischen Entwicklung die gängige These widerlege, „Dechristianisierung und Säkularisierung seien als Folge von Industrialisierung und Urbanisierung zu deuten."2S Die Gegenläufigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung ist beispielsweise abzulesen am Wachstum der Zahl der Kirchenmitglieder im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, wenn auch die Angaben zur Mitgliedschaft in den christlichen Kirchen in beiden Ländern nur schwer zu erheben und zu vergleichen sind. Sicher ist, daß im Deutschen Reich während des 19. Jh. außer den Juden jeder Einwohner Glied einer christlichen Kirche war. Austritt aus der Landeskirche war in Sachsen beispielsweise erst ab 1871 möglich. Vorher gab es nur die Möglichkeit des Übertrittes zu einer anderen Kirchengemeinschaft, der gegebenenfalls nur durch Auswanderung zu bewerkstelligen war. Noch in den Jahren zwischen 1884 und 1905, also lange nach Einführung der Zivilstandsgesetzgebung, sind selten mehr als 4000 Menschen insgesamt jährlich aus sämtlichen deutschen evangelischen Landeskirchen ausgetreten.26 Die christlichen Sitten der Kindertaufe und der Trauung wurden beibehalten; Gottesdienstbesuch und Abendmahlsfrequenz nahmen dagegen deutlich ab. Die Kirchenferne nahm also zu. Neuere Untersuchungen zur Kirchenmitgliedschaft in den Vereinigten Staaten von Amerika ergaben, daß im 19. Jh. nur etwa ein Drittel der amerikanischen Bevölkerung Mitglied einer Kirchengemeinde war. Bei der Trennung von Großbritannien gehörten nur etwa 17 Prozent der Amerikaner überhaupt einer Kirche an. Um 1820 sollen es noch weniger, nämlich nur etwa zehn bis 15 Prozent gewesen sein. Während des Sezessionskrieges erhöhte sich der Prozentsatz auf 35, am Anfang des 20. Jh. auf 50 Prozent.27 Zwischen dem Beginn des 19. Jh. und seinem Ende nahm die Kirchlichkeit der Amerikaner zweifellos zu; in der Mitte des 19. Jh. war etwa die Hälfte der Amerikaner noch kirchlich ungebunden und in ihrer Mentalität kirchenfern eingestellt.

24 Ebd., 211: ,,[I]n eine einigermaßen reputierliche Sekte [wurde] nur aufgenommen [...], wessen ,Wandel' ihn als zweifelsfrei ethisch qualifiziert erscheinen ließ. Daß also die Sektenmitgliedschaft - im Gegensatz zur Mitgliedschaft in einer ,Kirche', in die man ,hineingeboren' wird, und die ihre Gnade über Gerechte und Ungerechte scheinen läßt - ein ethisches, insbesondere auch ein geschäftsethisches Qualifikationsattest für die Persönlichkeit bedeutete. Eine ,Kirche' ist eben eine Gnadenanstalt, welche religiöse Heilsgüter wie eine Fideikommißstiftung verwaltet und zu welcher die Zugehörigkeit (der Idee nach!) obligatorisch, daher fur die Qualitäten der Zugehörigen nichts beweisend, ist, eine ,Sekte' dagegen ein voluntaristischer Verband ausschließlich (der Idee nach) religiös-ethisch Qualifizierter, in den man freiwillig eintritt, wenn man freiwillig kraft religiöser Bewährung Aufnahme findet." 25

LEHMANN, Dechristianisierung,

26

LIERMANN, Kirchenaustritt,

27

AMERICA, 2 2 .

283. 1 3 4 3 ; ZIEGER, 1 3 4 4 .

5. Deutsches und amerikanisches Luthertum in Zahlen

43

In beiden Gesellschaften spielte der römische Katholizismus keine seiner zahlenmäßigen Größe entsprechende Rolle im öffentlichen Bewußtsein. Sie waren vornehmlich protestantisch geprägt und zeichneten sich durch Antikatholizismus aus. Auch wenn die Bestrebungen zur Etablierung einer deutschen protestantischen Nationalkirche nach 1871 scheiterten, wurde der Protestantismus zu einer das Hohenzollernreich prägenden Kraft und L U T H E R ZU dessen Nationalhelden. Kennzeichnend für den amerikanischen Antikatholizismus ist die Know Nothing-Bewegung, die in dem historischen Augenblick entstand, als das Bewußtsein, Gottes Reich auf Erden werde durch die protestantisch geprägten Vereinigten Staaten von Amerika heraufgeführt, durch die Einwanderung irischer Katholiken nachhaltig erschüttert wurde. 28

5. Deutsches und amerikanisches Luthertum in Zahlen Einen statistischen Vergleich des Luthertums in Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika zu wagen, birgt gewisse Probleme, da offizielle Statistiken weitgehend fehlen. Der Historiker ist angewiesen auf zufällige Zahlenangaben in verstreuten Quellen. Dennoch wird die unterschiedliche Situation des Luthertums in beiden Staaten mit den beiden Organisationsformen Landeskirche und Freikirche schlaglichtartig deutlich, wenn die Zahl der Lutheraner in den beiden Gesellschaften in den Blick genommen wird. Der kirchliche Organisationsgrad der amerikanischen Lutheraner war bis weit in das 19. Jh. hinein ausgesprochen gering. So lebten bei Ausbruch der Revolution etwa 225.000 deutschstämmige Personen in den Kolonien, davon allein 75.000 in Pennsylvania. 1775 waren aber von diesen potentiellen Lutheranern weniger als ein Fünftel Mitglied einer lutherischen Kirchengemeinde. Überhaupt gab es zu dieser Zeit in den Vereinigten Staaten von Amerika nur 133 lutherische Gemeinden mit 33 Pfarrern. 29 Im ersten Drittel des 19. Jh. verstärkten sich die Bemühungen um kirchliche Versorgung. Infolgedessen wuchs die lutherische Kirche in den 25 Jahren vor 1800 nur um etwa 10.000 neue Mitglieder, in den 25 Jahren nach 1800 dagegen um 45.000. Es muß sich hier vornehmlich um das Ergebnis innerer Mission handeln, da die Einwanderung im ersten Drittel des 19. Jh. nahezu zum Erliegen gekommen war. In den dreißiger Jahren des 19. Jh. zählten die amerikanischen Lutheraner 62.771 kommunizierende Glieder mit 898 Kirchgebäuden und 217 Predigern, so daß sie in denominationsvergleichen28

Vgl. Teil Β Kapitel 3.4. WOLF, Documents, 3; KRAUSHAAR, Vereinigte Staaten, 1602. Der von Halle ausgesandte Missionar, der als ,Vater des amerikanischen Luthertums' geehrte Mühlenberg (vgl. unten Anm. 43), sprach im Jahre 1771 davon, daß 70 lutherische Gemeinden in Pennsylvania und den angrenzenden Kolonien bestehen. 29

44

Statistischer und historisch-religionssoziologischer Vergleich

den Statistiken als die sechstgrößte Denomination hinter Katholiken (500.000), Alten Methodisten (476.593), Calvinischen Baptisten (304.434), Presbyterianem (217.348) und Kongregationalisten (92.819) erscheinen.30 Im Jahre 1864 zählte man dagegen schon etwa 300.000 Lutheraner in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Zahl der lutherischen Pastoren erhöhte sich von 1826 bis 1864 von etwa 180 auf mehr als 1600. Auch die Zahl der Synoden vermehrte sich von sieben im Jahre 1826 auf 27 im Jahre 1864. Zudem bestanden jetzt acht lutherische Pastorenausbildungsstätten und fünf lutherische Colleges.31 Dieses Wachstum kam zustande durch eine große Zahl lutherischer Einwanderer aus Deutschland, Schweden, Norwegen und Island, so daß das Luthertum in der zweiten Hälfte des 19. Jh. zahlenmäßig zeitweilig zur viertstärksten Denomination hinter römisch-katholischen Christen, Methodisten und Baptisten wurde.32 Damit war aber im Jahre 1850 nur ein geringer Teil der amerikanischen Bevölkerung von knapp 23,2 Millionen lutherisch.33 Die Lutheraner verteilten sich zudem ausgesprochen ungleich auf die verschiedenen Staaten und Regionen der Union.34 Da in den Vereinigten Staaten von Amerika zur lutherischen Kirche sich hielt, wer durch familiäre Tradition und Muttersprache dafür prädestiniert war, genossen die lutherischen Gemeindeglieder keine besondere gesellschaftliche Anerkennung, auch wenn das Luthertum aufgrund der Einwanderungen zu einer zahlenmäßig durchaus imponierenden Kraft anwuchs. Dazu trugen neben der Sprachbarriere einerseits sein kirchlich-anstaltlicher Charakter, der ihm Missionserfolge bei Angehörigen anderer Denominationen erschwerte, andererseits seine ethnische Zerspaltenheit und diverse Akkulturationsschwierigkeiten bei. Wenn hier von amerikanischen Lutheranern gesprochen wird, so ist das insofern mißverständlich, als alle diejenigen Gruppen, die sich selbst für lutherisch hielten, darunter befaßt werden. Die amerikanischen Lutheraner selbst hielten jedoch häufig jede andere als die eigene lutherische Kirche für nicht lutherisch. Die zahlreichen Synoden, deren Mitglieder sich nicht nur theologisch, sondern auch hinsichtlich ihrer ethnischen Herkunft voneinander unterschieden schwedische, finnische, isländische und deutsche Lutheraner sammelten sich in je eigenen Synoden - exkommunizierten sich teilweise gegenseitig. Zu einer nationalen Einigung aller Lutheraner kam es nicht. Schon deshalb konnte das 30

SCHMUCKER, Kurzgefaßte Geschichte, 346f. WENTZ, History, 127. SCHMUCKER, Church Redeemer, 51, 55, bietet für das Jahr 1867 folgende Zahlen: 40 Synoden, 1573 Pfarrer, 2713 Gemeinden, 300.000 Kommunikanten, etwa 1 Million Glieder. 32 ROCKWELL, 1594, nach dem Christian Advocate vom 30. Januar 1913 für das Jahr 1912. Die Angaben beziehen sich auf die Zahl der Kommunikanten der jeweiligen Denomination. 33 ANONYMUS, Vereinigte Staaten von Nordamerika, 59b. Einwohnerzahlen: 1688: 200.000; 1780: 2.945.000; 1800: 5.308.483; 1850: 23.191.876; 1890: 62.831.900. 34 KLOSS; REUSS. 31

5. Deutsches und amerikanisches Luthertum in Zahlen

45

amerikanische Luthertum keinen seiner Mitgliederzahl entsprechenden Einfluß auf das amerikanische Christentum beziehungsweise die amerikanische Gesellschaft ausüben und fiel nach dem Abflauen der Einwanderungswelle auch zahlenmäßig gegen die anderen Denominationen zunehmend zurück. Der Einfluß von Lutheranern in den Vereinigten Staaten von Amerika wurde weiterhin dadurch gemindert, daß besonders diejenigen sich nur langsam in die amerikanische Umwelt integrierten, die sich einer Gemeinde der von WALTHER begründeten Missourisynode anschlossen. 35 Von der Umwelt im Westen wurden die Deutschen im allgemeinen angesehen als ,„aliens' whose habits, language, and customs marked them as cultural deviants."36 Daß die amerikanischen Lutheraner die politische Kultur ihres neuen Heimatlandes nicht prägten, illustriert schlagend die Tatsache, daß bis heute kein überregional bedeutender Politiker aus dieser Denomination hervorgegangen ist.37 Nach den Söhnen Heinrich Melchior MÜHLENBERGS, des von Halle ausgesandten Organisators des amerikani-

schen Luthertums, die sich fiir die Unabhängigkeit von Großbritannien engagierten, nahm kein Lutheraner eine herausgehobene politische Funktion in den Vereinigten Staaten von Amerika mehr wahr.38 Die meisten der amerikanischen Lutheraner stammten aus Deutschland, so daß die Vermutung nahe liegt, die dortigen staatskirchlichen und politischen Verhältnisse hätten sie noch in ihrem neuen Heimatland gelähmt. 39 Weil die weitaus meisten Einwanderer des 19. Jh. 35

Vgl. zur verzögerten Amerikanisierung MEIER/MAYER.. HALE, 120. CONZEN, 421a: „German Americans early won a reputation for political apathy. They failed to produce officeholders commensurate with their numbers and seldom performed as reliable cogs in the political machine. Even the most chauvinistic enumeration of prominent German politicians virtually began and ended with Carl Schurz (1829-1906), the forty-eighter who served as senator from Missouri and secretary of the interior under president Rutherford B. Hayes." 36

37

In Anerkennung dessen heißt es in CHURCH Civil Religion, LH, in einem Papier der USA World Federation Study Group: „It must be admitted that here were few early Lutheran contributions to the common American public and political life." NOLL, 180 Anm.20: „It is perhaps worth nothing here that, in America, Lutherans themselves seem to have lost some of Luther's dynamic tension with culture. Because the visibility of Lutherans in public life is low, the impression is left that they have withdrawn into themseves and have worked harder at creating distinctly Lutheran sub-cultures than at establishing Lutheran stances in the public sphere. From this cultural perspective, Lutherans thus resemble more the Anabaptist Stille im Lande than they do their spiritual ancestor, Martin, Luther." 38 Zu Person und Werk vgl. SCHAAF, Mühlenberg·, STROHMIDEL (Lit.!); GRÄBNER, Geschichte, 4 4 7 - 4 4 9 . Die eingewanderten Achtundvierziger waren zwar für die amerikanische Geschichte von eminenter Bedeutung; sie gehörten aber nicht zur lutherischen Kirche. ELERT zeichnet in dieser Hinsicht ein falsches Bild (vgl. Einleitung, Anm.25). ADAMS, 172f, zählt zwischen 1861 und 1930 43 in Deutschland geborene Mitglieder des Repräsentantenhauses und drei Senatoren. Zu seinen Parametern zählt nicht die Religionszugehörigkeit, so daß nicht feststellbar ist, ob sich einige von diesen Politikern als Lutheraner bezeichneten. 39 GRAEBNER, Lutherans, 19, nennt signifikante Zahlen für Illinois: Während die Bürger zu sechs Prozent Lutheraner sind, sind sie nur zu einem Prozent in öffentlichen Ämtern tätig.

46

Statistischer und historisch-religionssoziologischer Vergleich

aus ökonomischen Gründen kamen, hatten sie nur selten eine Antipathie gegen das politische System der Monarchie als solches. Sie hatten sich Liebe und Anhänglichkeit den Fürsten der alten Heimat gegenüber bewahrt und hängten in ihren ersten Holzhütten dessen Bild auf.40 Dies darf nun allerdings nicht als bewußte Ablehnung der demokratischen Staatsform oder des amerikanischen Kirchenwesens interpretiert werden. Die Nahrungssorge dominierte vielmehr alle anderen Interessen in der Phase der Akkulturation. Vergleicht man mit diesen Zahlen die der Lutheraner im Großherzogtum Baden, demjenigen Kleinstaat im Deutschen Reich, in dem ROTHE den größten Teil seiner Lebenszeit verbrachte, oder mit denen in den Königreichen Sachsen und Bayern, denjenigen Staaten, in denen L U T H A R D T aufwuchs und wirkte, so wirft dies ein bezeichnendes Licht die gesellschaftliche Stellung des deutschen Luthertums: Das Großherzogtum Baden zählte im Jahre 1875 über 1,5 Millionen Einwohner, von denen mehr als ein Drittel evangelisch, lutherisch oder reformiert, knapp zwei Drittel katholisch waren. Allein dieser deutsche Territorialstaat zählte im Jahre 1848 339 evangelische Gemeinden. Der evangelische Sonntagsgottesdienst wurde in der ersten Hälfte der siebziger Jahre von durchschnittlich 28,3 Prozent der evangelischen Bevölkerung besucht; eine entsprechende Prozentzahl erreichte auch die Wahlbeteiligung der stimmberechtigten Mitglieder bei kirchlichen Wahlen.41 Weil das badische Herrscherhaus evangelisch war, war das Großherzogtum stärker protestantisch als katholisch geprägt, obwohl der protestantische Bevölkerungteil der kleinere war.42 Das Königreich Bayern umfaßte im Jahr 1871 knapp 3,5 Millionen Katholiken, mehr als 1,3 Millionen Protestanten.43 Etwa 27 Prozent der bayerischen Bevölkerung waren Lutheraner: 77 Prozent der Mittelfranken und 55 Prozent der Oberfranken im Fürstentum Bayreuth.44 Wegen des katholischen Königs und der protestantenfeindlichen Politik unter dem Ministerium ABEL war das Königreich Bayern im 19. Jh. stark katholisch geprägt. Im Königreich Sachsen wurden im Jahr 1871 knapp 2,5 Millionen Lutheraner und knapp 54.000 Katholiken gezählt. Von den 2.972.805 Einwohnern Sachsens im Jahre 1880 waren 2.876.138 Lutheraner, 9.162 Reformierte, 72.946 römisch-katholische Christen, 1.467 Deutsch-Katholiken und 6.516 Juden.45 Sachsens Bevölkerung war also trotz des römisch-katholischen Herrscherhauses Dieses eine Prozent kommt vor allem durch die Aktivitäten der schwedischen Lutheraner zustande; die Angehörigen der Missourisynode beteiligen sich noch weit weniger. 40

HANSEN, Immigrant,

41

MÜHLHÄUSSER, 5 7 , 59.

42

NIPPERDEY, Geschichte,

43

WAGNER, Bayern,

44

MAGEN, 220. Zu den gesellschaftlichen Verhältnissen vgl. ZORN, Gesellschaft.

45

BLANCKMEISTER, 4 0 7 , 4 1 1 ; DIBELIUS, Sachsen,

80. 7 3 5 ; ALBRECHT, 3 3 .

193. 100, 2 0 2 ; SCHMIDT, Sachsen.

Die

Angehörigen der römisch-katholischen Konfession lebten in ihrer überwiegenden Mehrzahl in der Lausitz.

5. Deutsches und amerikanisches Luthertum in Zahlen

47

fast ausschließlich lutherisch. Allein hier bestanden um 1880 1.314 lutherische Kirchengemeinden mit 1.148 Pastoren.46 Sachsen und Bayern entsprechen sich jeweils darin, daß Lutheraner unter einem römisch-katholischen König ihre lutherische Identität auszubilden und zu bewahren hatten. Beide Länder unterscheiden sich jedoch insofern, als die Lutheraner im Königreich Bayern eine Minorität gegenüber einer zu Dreivierteln römisch-katholischen Bevölkerung, daß im Königreich Sachsen dagegen die Katholiken eine verschwindende Minorität zwischen knapp 95 Prozent lutherischer Bevölkerung bildeten. Zur lutherischen Kirche gehörten zumindest nominell also fast alle sächsischen Bürger; sie war die Kirche des sächsischen Volkes.

46

DIBELIUS, Sachsen, 200, 202.

Teil Α: Richard Rothe

Liberaler Verfassungsstaat Sittliche Gesellschaft Protestantischer Nationalverein Der lutherische Konfessionalist Ernst Wilhelm HENGSTENBERG rief dem gerade verstorbenen Rothe in der Evangelischen Kirchenzeitung nach, seine Seele sei gewiß nicht in den Himmel gefahren. 1 Bezeichnend für den besonderen Charakter von Rothes Frömmigkeit, welcher die Ablehnung verständlich macht, die ihm in konfessionellen Kreisen widerfuhr, ist sein Wunsch, nicht in der Dienstkleidung eines Geistlichen, sondern im Laienrock beerdigt werden zu wollen.2 Rothes Theologie ist unkirchlich; die christlichen Kirchen galten ihm als im Laufe der Geschichte absterbende Institutionen. Würde man etwas anderes aus der Zersplitterung des Christentums ableiten wollen, so sei das widervernünftig, behauptete er. Umstritten war der Theologe auch als Sozialethiker. Seine konfessionellen Zeitgenossen schildern ihn als etwas weltblinden und vertrauensseligen Mann, der sich während der letzten Jahre seines Lebens durch seine liberalen Freunde in die Niederungen der Tagespolitik habe hineinziehen und dazu verleiten lassen, für den Protestantenverein tätig zu werden. 3 Dem begegneten Rothes Freunde aus eben diesem Verein mit dem Hinweis, daß ihm Pietismus und lutherischer Konfessionalismus immer äußerlich geblieben seien.4 TROELTSCH zeichnet Rothe als frommen Einzelgänger, in dem „die unauslöschliche Zuversicht wirkt[e], das Christentum sei nicht am Ende, sondern an einem neuen Anfang." 5 Neuere historische Forschung würdigt Rothe vor allem als Vermittlungstheologen, der „zwischen der Neuorthodoxie des Erweckungspietismus und dem Liberalismus, zwischen der Hegeischen Spekulation und der Empirie schlichter Frömmigkeit" eine Balance herzustellen suchte. 6 Jenseits dieHENGSTENBERG, Rothe, 171. Zu Person und Werk vgl. MEHLHAUSEN, Hengstenberg. 2

NEPPOLD, Rothe,

3

ACHELIS. HÖNIG, Rothe, beschreibt Rothe als religiöses Genie auf den Bahnen Lu-

Bd. 2 , 6 4 0 .

thers. 4

SCHULZE, 1 5 - 1 9 .

5

TROELTSCH, Rothe,

6

1899, 80.

SCHMIDT, Rothe, 37. Im folgenden werden die beiden Aufl. von ROTHES Theologischer Ethik mit den Siglen El und E2 bezeichnet. ROTHE, E2, Bd.l, X (Vorrede), insistiert

Teil Α: Richard Rothe

50

ser theologiegeschichtlichen Einordnung wird der Heidelberger Theologe als Ahnherr liberaler Theologie in Anspruch genommen. 7 Während Manfred BAUMOTTE Rothe als Vorläufer modemer Demokratie würdigte, 8 hielt Falk WAGNER die angebliche Liberalität Rothes fur bloß vorgeblich, weil der Theologe angemessen nur als Theoretiker des totalitären Einheitsstaates zu würdigen sei. 9 W i e die Frau in der Familie auf den Staat hin ausgerichtet werde, sei sogar der Auswanderer auf diesen hin geordnet. 10 D a z u tritt ein zweiter Einwand: Rothe erweise sich mit seiner Behauptung, in der Moderne gebe es ein „unbewußtes Christentum," 11 als imstande, „die moderne Tendenz zu einer distanzierten Kirchlichkeit in einen Triumphalismus des sittlich-staatlich zu reali-

darauf - und dies ist gegen Schmidt einzuwenden daß er keine „Vermittlung" stiften wollte zwischen Hegel und Schleiermacher, sondern von allen gelernt und die Anstöße „selbständig verarbeitet" habe. Vgl. a. ebd., Bd.5, §1168, 398. Wegen der Betonung der Harmonie zwischen Vernunft und Offenbarung hinsichtlich der Ethik hat BAUMOTTE, Begriff, 333f, Rothe als letzten Vertreter des Spätrationalismus eingeordnet. HEESCH, 1-6, bezeichnet Rothe als Spätidealisten. Die Frage der geistesgeschichtlichen Zuordnung muß hier nicht entschieden werden. 7 G R A F , Liberale Theologie, 94f, und ders., Kulturprotestantismus, 2 3 2 , ordnet den späten Rothe aufgrund seiner Verbindung mit dem Protestantenverein der liberalen Theologie beziehungsweise dem Kulturprotestantismus zu. Entsprechend schon R Ö S S L E R , 111. 8 BAUMOTTE, Stahl, 1 8 3 - 1 8 8 . 9 WAGNER, Universalintegration, 280f, und ders., Rothe, 439, diskutiert nicht die Liberalität Rothes in seinem historischen Umfeld, sondern mißt ihn umgekehrt an seinem eigenen, systematisch-philosophisch generierten Begriff von Liberalität. Vgl. unten Anm. 10. Erstmals wurde Rothe Zentralismus von JUNDT, 106, bescheinigt, der die „weitgehende Uebereinstimmung" „der national-sozialen ethischen Anweisungen Rothes mit den Grundzügen der nationalsozialistischen Weltanschauung" für offensichtlich hielt. Jundt interpretierte Rothes Diktum von der Auflösung der Kirche in den Staat als Anregung für den nationalsozialistischen Staat, die Kirchen abzuschaffen und durch eine staatliche Behörde zu ersetzen, die über die Ausbildung der Seelsorger für das deutsche Volk wachen und deren Einsatz planen sollte. Gleichwohl muß er, ebd., 7, konstatieren, daß Rothes Staatsverständnis kosmopolitische Züge aufweist, daß ihm rassisches und völkisches Denken fernliegt. Deshalb argumentiert er „entwicklungspsy-chologisch," um darzulegen, „daß der Unterschied zwischen seiner Haltung zu dem Problem [der Auflösung der Kirche im Staat, ADD] und der Haltung der maßgebenden deutschen Führerschicht der Gegenwart weniger groß ist, als man annehmen sollte und als in der bisherigen Literatur angenommen wurde." 10

WAGNER, Universalintegration, 281, moniert beispielsweise, daß noch nicht einmal der Auswanderer aus dem staatlichen Zwangszusammenhang entlassen werden solle. Wenn Rothe fordert, der Staat solle den Auswanderer nicht seiner Fürsorge und Obhut berauben, so spiegelt das Diskussionen in den vierziger Jahren des 19. Jh.: Verschiedene Vereine propagierten Auswanderung als Sicherheitsventil für soziale Probleme. Das Paulskirchenparlament nahm dann die Forderung nach staatlichem Schutz für Auswanderer in die Verfassung auf. BRETTING, 56. 11 R O T H E benutzt den Begriff „unbewußtes Christentum" erstmals 1869 in der akademischen Predigt Kampf, 327. Vgl. a. T R O E L T S C H , Rothe, 79.

1. Grundzüge der Ethik

51

sierenden Christentums zu übersetzen."12 Angesichts dieser widersprüchlichen Einschätzungen ist die Notwendigkeit offensichtlich, sich mit der Rotheschen Sozialethik neuerlich auseinanderzusetzen, um die unterschiedlichen Urteile aus historischer Perspektive zu überprüfen. Dabei wird sich herausstellen, daß Rothe in historischem Sinne als Liberaler zu bezeichnen ist; seine Theologische Ethik spiegelt die Diskussionslage innerhalb des südwestdeutschen Kammerliberalismus.

1. Grundzüge der Ethik Ein Ethiker wird zuerst nach dem Referenzrahmen seiner ethischen Urteile gefragt werden. Für selbstverständlich dürfte gehalten werden, daß ein Theologe, Universitätsprofessor und Direktor eines evangelischen Predigerseminars, das protestantische Christentum als Bezugspunkt seiner ethischen Theorie angibt. Diese Erwartung enttäuscht Rothe mit seiner spekulativen Ethik,'3 in der er offen und klar ausspricht, daß er nur in einem vermittelten Sinne biblische oder protestantische Ethik treibt. Das ist begründet in seiner Sicht der Gegenwart: Sie ist durch das Auseinandertreten von Christentum und Welt gekennzeichnet. Theologen und kirchlich sozialisierte Christen „schelten" Nichttheologen beziehungsweise nicht kirchlich sozialisierte Menschen als „Unchristen und Unempfängliche für den Glauben an Christum," weil sie nicht entsprechend der Rituale „kirchlich herkömmliche[r]" Frömmigkeit leben.14 Rothe widerspricht dieser Einschätzung seitens der Kirchenchristen, weil die sogenannten Unchristen Interesse an den „Angelegenheiten des bürgerlichen und staatlichen Gemeinwesens" haben, die - auch wenn dies die Kirchenchristen nicht erkennen - in enger Beziehung zum Christentum stehen.15 Die moderne Welt verdankt sich nämlich der Aufklärung und diese wiederum dem Christentum, insbesondere den Einsichten LUTHERS.

12

WAGNER, Universalintegration, 278. Einen Überblick über das ethische System Rothes bietet HOLTZMANN, System. Um die Erhellung der geistesgeschichtlich-philosophischen Grundlagen haben sich FLADE (Fichte, Piaton, Schleiermacher, Hegel) und HEESCH (Kant, Schelling, Schleiermacher, Steffens, Fichte, Lotze) bemüht. 14 ROTHE, Ueber Kirchenverfassung, 11. 15 Ders., Eröffnungsrede, 86. 13

Teil Α: Richard Rothe

52

1.1 Spekulative Pflichtenethik Rothe hat das Verfahren, einzelne ethische Sätze „mit ihren speciell entsprechenden einzelnen Schriftaussagen" zu belegen, ausdrücklich für falsch erklärt, weil es sich, „der Natur der Bibel zufolge [...] nicht mit einiger Vollständigkeit durchführen läßt."16 So wendet er etwa gegen die Forderung des unbedingten Gehorsams der Untertanen gegen die Obrigkeit mit Hinweis auf Rom 13,lf ein,17 daß dies Diktum „für unsere jetzigen Zustände nicht mehr maßgebend sein" könne.18 Schließlich habe das Pauluswort eine „Verhältnißlosigkeit," die Rothe näher als Feindseligkeit und Fremdheit beschreibt, des römischen Staates gegenüber dem Christenthum zu seiner Voraussetzung. Deshalb konnten die Christen zu jenem Staat „gar kein positives Verhältniß haben," sondern mußten „nur darauf bedacht sein [...], ihm nicht Grund zu Beschwerden über sich zu geben."19 Das Verhältnis von Staat und Christentum sei derzeit jedoch ganz anders geartet, denn der Staat selbst sei zu einem christlichen Staat geworden. Deshalb hat der Christ eifrig an diesem christlichen Staat mitzuarbeiten und vor allem darauf zu sehen, „ob und wie die Obrigkeit ihren Beruf erfüllt."20 Es fallt an diesem Beispiel auf, daß der Ethiker die Heilige Schrift nicht normativ, sondern geschichtlich interpretiert.21 Die Forderungen des Apostels Paulus sind nicht Ausdruck eines ewigen Willens oder Anspruchs Gottes gegenüber den Menschen. Sie werden vielmehr als zeitbedingte menschliche Äußerungen bewertet und relativiert. Nach der Reformation ist nämlich deutlich, daß die Heilige Schrift inter-pretationsbedürftig ist; sie ist keine Autorität „im strengen Sinne des Worts", sondern bedarf der Auslegung „mittelst einer freien selbständigen Thätigkeit."22 Selbst die in der Heiligen Schrift überlieferten Worte des Gottmenschen Jesus können keinen grundsätzlich anderen Anspruch als die Worte seines Apostels erheben. Deshalb findet sich in Rothes Theologischer Ethik häufig der lapidare Hinweis, diese oder jene Auffassung könne gewiß nicht durch ein scheinbar entsprechendes Jesuswort begründet werden. Der Ethiker exegesiert 16

Ders., E2, Bd.l, §13, 57 Anm.2. Rothe bezieht sich auf eine ungenannte Aufl. von SCHLEIERMACHER, Christliche Sitte (1817). Eine entsprechende Äußerung findet sich in der Ausg. von Jonas, 2.Aufl. (EA 1843) 1884, 272: „Der Unterthan darf sich weder jemals als Obrigkeit geriren, noch der Obrigkeit Widerstand leisten, d.h. er darf nie, auch nicht in der Absicht, den Staat zu verbessern, auch nicht momentan, den bürgerlichen Verein aufheben. Das folgt klar aus Rom 13,1 flg. und aus Lk 20,21 flg. Denn es hat schwerlich etwas Widerrechtlicheres gegeben, als die Occupation Palästinas durch die Römer [...]." 17

18

ROTHE, E2, Bd.5, 378, Anm.l zu §1164. Ebd., 379. 20 Ebd. 21 ROTHE, Ueber Lehrfreiheit, 43. Zum Zusammenhang dieses Gutachtens vgl. unten Anm.67 und 327. 22 ROTHE, Entwürfe Briefe Pauli, 386f. 19

1.1 Spekulative Pflichtenethik

53

die fraglichen Stellen nicht eigens, sondern stellt einfach fest: „Keine von allen diesen Stellen beweist aber wirklich, was bewiesen werden soll." 23 So zählt er beispielsweise 14 Bibelstellen 24 auf, die seiner Auffassung, daß das Streben nach irdischen Gütern pflichtmäßig ist, widersprechen und wischt die exegetische Diskussion mit dem zitierten Satz einfach hinweg. Eigentum ist ihm im Sinne der Aufklärung ein Menschenrecht. Wie jeder sich selbst zum Eigentum hat und niemand Eigentum eines anderen sein darf, so hat auch ein jeder das Recht, Eigentum zu erwerben, wobei er seine Freiheit verwirklicht. Die Bedeutung der Heiligen Schrift für die evangelische Theologie beschreibt Rothe dahingehend, daß sie „bloß vorstellungsmäßig" dasselbe ausdrücke wie die „in der spekulativen Theologie allein statthafte streng begriffsmäßige Fassung" des Gedankens. 25 Damit hat Rothe H E G E L S Philosophie, die er als sein Student in Heidelberg und Berlin kennengelernt hatte, für die Theologie fruchtbar gemacht. 26 Seine spekulative theologische Ethik setzt ein, so schreibt er selbst in Anlehnung an D E S C A R T E S , bei dem cogito ergo sum der Frömmigkeit, bei „sum ergo credo."27 Dann fragt sie nach dem Inhalt dieses Glaubens. Er besteht in der Gewißheit, daß Gott sein Reich in der Geschichte aufrichten wird, „daß auch in der modernen Geschichte mein Herr und Heiland Jesus Christus die Zügel des Regiments führt, und daß in ihr Seine geschichtliche Macht nicht nachgelassen hat, vielmehr sich immer herrlicher kräftigt zum weltgeschichtlichen Siege. Und wäre dies nicht mein Glaube, wie könnte mir dann Jesus der wirkliche Erlöser sein?"28 Der zentrale Begriff in Rothes Ethik lautet also „Reich Gottes." 29 Wer den Optimismus, daß dieses im Voranschreiten begriffen ist, nicht teilt, zweifelt an Gott selbst. Damit ist implizit ein Urteil über die Gegenwart gefällt: Sie ist besser als die vorhergegangene Epoche und wird von der auf sie folgenden überboten. Spekulative Ethik erweist nun mit den Denkmitteln der Vernunft, in welcher Beziehung dieses in seiner Entwicklung begriffene Reich Gottes zu Staat und 23

Ders., E2, Bd.5, §923, 48. Ebd., Bd.4, 48, Anm.l zu §923, unter Hinweis auf rationalistische beziehungsweise supranaturalistische Ethiker. Zur Diskussion um das Eigentum in der Reformationszeit und im 19.Jh. vgl. GOERTZ. 24

25

26

ROTHE, E2, B d . i , § 1 0 , 5 0 .

Darstellung eines Hegeischen Kollegs bei Rothe, in einem Brief an seinen Vater vom 21. Dezember 1820, zit. bei NlPPOLD, Rothe, Bd.l, 163f. 27 Vgl. ROTHE, El, Bd.l, §2, 14f. Vgl. zur Abhängigkeit dieses Ausgangspunktes von Schleiermacher WALTHER, Typen, 88-119; HEESCH, 50-65, 171-182. 28 ROTHE, Ueber Kirchenverfassung, 23. 29 WALTHER, Typen, 117-136; ders., Reich-Gottes-Begriff; WOLF, Reich Gottes, 921f; STEINACKER, 1533f; ASENDORF, 325-327. Als charakteristisch für den Reich Gottes-Begriff des 19. Jh. gelten seine Verbindung mit dem Fortschrittsgedanken, seine Säkularisierung und seine Bestimmung als Aufgabe des Menschen.

Teil Α: Richard Rothe

54

Kirche steht; sie untersucht, in welcher Form das Reich aufgerichtet werden wird und gibt Anleitung, wie sein Kommen im Lauf der Weltgeschichte befördert werden kann. Die relative Nähe des Reiches Gottes ruft die Menschen weniger zur Buße oder zur Rückkehr in die kirchliche Gemeinschaft auf als zur Weltgestaltung.

1.2 Überkonfessionelle Ethik Ebensowenig wie die Heilige Schrift können nach Rothe L U T H E R S Schriften einen festen Bezugspunkt für die spekulative Ethik abgeben. Die ausschließlich religiöse Prägung des Reformators hat nämlich die Entwicklung einer Ethik überhaupt verhindert. Signifikanter Ausdruck dieser Überzeugung ist, daß sich unter den Tausenden von Zitaten, die Rothe seinen Ausführungen in der Theologischen Ethik beigegeben hat, kaum eines des Reformators findet. L U T H E R sei zwar hinsichtlich seines Glaubens ein Vorbild, nicht aber bedeutsam für die Geschichte der christlichen Ethik. Er sei nämlich von der ,,natürliche[n] Unfähigkeit der menschlichen Vernunft, das Gute zu erkennen,"30 zutiefst überzeugt gewesen und habe als Erkenntnisquelle des Sittlichen allein die Offenbarung anerkannt.31 Der menschlichen Vernunft gebührt aber nach Rothe in der Erkenntnis der ethischen Aufgabe eine höhere Stellung, - schließlich ist der Mensch mit ihr ausgestattet worden, um seine Freiheit zu realisieren.32 Insofern unterscheidet sich seine Ethik von der des Reformationszeitalters. Er ist sich selbst dessen bewußt, daß seine eigene Theologie „von ganz anderem Datum als die der Reformatoren" ist.33 Seine Theologie trage das Signum der „modernen Zeit." Indem der Heidelberger Theologe aber in der lutherischen Reformation den ersten Scheidepunkt in der Geschichte des Christentums sieht - insofern die Reformation den Unterschied zwischen Kirche und Christentum bewußt machte - , begreift er sich in der Wirkungsgeschichte L U T H E R S . Dabei mißt er die Reformation weniger an ihren Absichten als an ihren Folgen: der Auflösung der mittelalterlichen Einheitskirche. „Durch den Protestantismus war die unbedingt gebietende äußre objektive Autorität (wie die der Kirche war) hinweggenommen worden."34 So weiß Rothe sich gerade in der Unterschiedenheit seiner .neuprotestantischen' Theologie von der ,altprotestantischen' (der Theologie L U T H E R S

ROTHE, E2, Bd.3, x x x m (Rothe's Ethica). Ebd. 32 Ebd., Bd. 1, §96, 418f. Vgl. zu Rothes Lehre von Freiheit, Vernunft, Urständ und Erbsünde BIERI, 6 0 - 7 4 . 33 ROTHE, Stille Stunden, 12. 34 Ders., Entwürfe Briefe Pauli, 386 (Nr.126, 18. Februar 1837 = Luthers Todestag). 30 31

1.2 Überkonfessionelle Ethik

55

und der lutherischen Orthodoxie) in der Wirkungsgeschichte der Reformation. 35 Nach Rothes schon in einer frühen Predigt geäußerten Auffassung hatte LUTHER ein ,,sichre[s] Bewußtsein um das Gesetz der neuen Entwicklung, die begonnen hatte."36 Die Reformation ist ihm nicht die Restituierung eines ursprünglichapostolischen Christentums in einer erneuerten Kirche, sondern die prinzipielle Überwindung der kirchlichen Organisationsform des Christentums. Sie hat die Einsicht in die Trennung von Christentum und Kirche gebracht und wirkt in der Weltgeschichte weiter, weil sie nicht „eine bloße Kirchenverbesserung war," sondern „in Wahrheit [...] ein Hinausbrechen aus der Kirche auf das Gebiet des an sich Sittlichen, um auf ihm die Fahne des Christenthums aufzupflanzen für alle Zukunft."37 In der Reformationszeit brach das Christentum aus „dem kirchlichen Boden" auf den „weltlichen, das ist der sittliche" hinüber.38 So war die Kirche eine nur bis zur Reformation notwendige Organisationsform des Christentums;39 seitdem ist die Identifikation von Christentum und Kirche obsolet. Der derzeit noch existierende Katholizismus, der das Christentum ausschließlich in seiner Organisationsform als Kirche anerkennt, repräsentiert fur Rothe ein überholtes Stadium in der Geschichte des Christentums und der christlichen Kultur.40 Entsprechend wertet er die Reformation als ,,kühne[n] Bruch mit der ganzen bisherigen geschichtlichen Entwicklung."41 Allerdings brachte sie nur die Idee eines richtigeren Christentums zum Tragen; zur Klarheit des Begriffs gelangte sie noch nicht. 42 Sie stellte die Christen vor die bislang unabgeschlossene Aufgabe der Gestaltung „der christlichen Welt zu einer echt christlichen,"43

35

Dies Bewußtsein von der Abständigkeit der reformatorischen Theologie zur Gegenwart macht Rothe zum Vertreter des von Troeltsch so benannten Neuprotestantismus. DREHSEN, Neuprotestantismus, 366f. 36 ROTHE, Entwürfe Briefe Pauli, 386 (Nr. 126, 18. Februar 1837 = Luthers Todestag). 37 Ders., E2, Bd.5, §1168, 398. Deshalb herrscht nach dems., Christus, 18f, 24, notwendigerweise Unfriede in der lutherischen Kirche, j a sogar „ K a m p f zwischen „denen, welche noch überwiegend der eben ablaufenden Periode angehören, und so das christliche Leben noch so gut wie ausschließlich nur in seiner kirchlichen Form kennen und besitzen" und denen, die von sittlichen Ideen durchdrungen sind. Dieser Kampf, an dem jeder Christ teilnehmen muß, bringt Christus näher. 38 Ders., Vorlesungen, T.2, 327. 39 Ders., Ε1, Bd. 1, XXIIf (Vorrede, 1845). 40 Ders., Katholicismus, 371: „Das falsche Christenthum des Katholicismus wurde also seit der Zeit der Reformation ein wirkliches Gegenchristenthum, die Unwahrheit zur Lüge." Ebd., 382, 384: Rothe charakterisiert den Katholizismus seiner Zeit mit dem Begriff „Afterchristenthum" und bescheinigt ihm eine „Entartung" des Christentums „bis zur Unkenntlichkeit." Zu diesem vernichtenden Urteil haben sicher Rothes Erfahrungen während seines Romaufenthaltes beigetragen. Vgl. die Zusammenstellung seiner despektierlichen Äußerungen über den Katholizismus in GRAF, Christliche Kultur, 178-181. 41 42 43

ROTHE, Katholicismus, Ebd. Ebd., 386.

382.

Teil Α: Richard Rothe

56

indem sie ihnen die Welt als Raum der Selbstverwirklichung eröffnete. Entscheidend für diese sittliche Ausrichtung war die zwinglische Richtung der Reformation.44 Der mit der Reformation gestellten Aufgabe, das Christentum nicht als „bloße Religion" sondern als „ein ganzes, volles neues menschliches Leben und Dasein" zu fassen, hat Rothe sich zeitlebens gewidmet.45 Aus Rothes posthum publizierten Vorlesungen zur Kirchengeschichte, die auf seinen Vorlesungen basieren, welche er seit 1854 in Heidelberg als Professor fur Kirchengeschichte hielt, erhellt, daß sein Lutherbild von dem idealistischen und demjenigen R A N K E S beeinflußt ist: Wie dieser stellt er den Reformator bei aller Würdigung seiner religiösen Genialität - in die Geschichte der deutschen Reformation ein und betont die Kontinuität zwischen dem mittelalterlichen Katholizismus und LUTHERS Lehre.46 Entsprechend wird der sächsische Reformator von Rothe einerseits als genuin religiös-theologische Persönlichkeit gefaßt, deren Theologie in der persönlichen Herzensfrömmigkeit gründe und auf diese ziele in der Befreiung von allem kirchlichen Dogma, und er wird andererseits als konservativer mittelalterlicher Mensch gezeichnet, der sein eigenes Anliegen teilweise verraten habe, indem er an der Institution Kirche und an magisch-superstitiösen Vorstellungen festgehalten habe. Rothe unterscheidet damit zwischen der vordergründigen, den Zeitgenossen bewußten Bedeutung der Reformation: der Kirchenverbesserung, und dem Prinzip der Reformation: der Auflösung der Kirche.47 Daraus leitet er dann die Aufgabe ab, die Reformation zu vollenden, was für ihn gleichbedeutend damit ist, das Christentum aus seiner kirchlichen Umklammerung zu lösen.48 Die Bedeutung L U T H E R S und der lutherischen Reformation für die Christentumsgeschichte wird durch eine solche Kritik am historischen L U T H E R und seiner geschichtlichen Tat aber keineswegs von Rothe gering geschätzt. Im Gegenteil, dem Heidelberger Professor galt gerade die lutherische beziehungsweise, wie er sagte:, die „deutsche Reformation" als das entscheidende Datum, als 44 Ebd., 387. Nach dems., Rede, 26, wurde im Raum der lutherischen Reformation die entsprechende Einsicht insbesondere seitens Melanchthons vertreten, nämlich „daß es eine Aneignung des Heils in Christo nicht anders gebe als auf dem Wege moralischer Vermittelung." 45 ROTHE, Vorrede zu Ε1, Bd. 1..wieder abgedr. in E2, Bd. 1, XXIIf. 46 Zu Rankes Lutherdeutung vgl. BOKNKAMM, Luther, 41-52; Texte 249-273. Bezeichnend für Rankes Zeichnung Luthers als religiöses Genie ist die folgende Bemerkung, zit. nach ebd. 251: „Nichts hätte ihn gehalten, wenn ihn nicht die Kraft seines geheimen, innigen Lebens hielt." Rothe folgt auch dem Kirchenbegriff RANKEs, Deutsche Geschichte. Vgl. etwa ebd., 201, 234. Aufgrund der unzulänglichen Editionsprinzipien Weingartens bei ROTHES Vorlesungen ist es nicht möglich, zum Beleg für Rothes Abhängigkeit von Ranke auf seine Fußnoten zu verweisen; Weingarten hat nur auf Lutherliteratur seiner Zeit - etwa auf KÖSTLlNs Lutherbiographie aus dem Jahr 1875 - verwiesen, die Rothe gewiß nicht kennen konnte. 47

ROTHE, Vorlesungen,

48

MOSTERT, 575-577, mit Nennung Rothes.

T.2, 398.

1.2 Überkonfessionelle Ethik

57

„Wendepunkt" der Geschichte und Ausgangspunkt der neueren Christentumsgeschichte. 49 Von einer deutschen beziehungsweise einer sächsischen Reformation spricht Rothe, weil er die verschiedenen „Individualisirungen" des Protestantismus in verschiedenen Kirchentümern mit „Volksindividualitäten" identifiziert. 50 Das spezifische Charakteristikum der deutschen Reformation liege in der Religiosität ihres Stifters, die nur auf dem Boden der germanisch bestimmten Religiosität habe gedeihen können. 51 Zwar kannte Rothe LUTHERS Schriften nur mangelhaft, 52 aber der Wittenberger Reformator gilt ihm als „Prophet im alten Sinn;" 53 das unterscheide ihn von ZwiNGLl und CALVIN und war die Bedingung seiner geschichtlichen Tat."54 LUTHER sei „ein kenntlich gezeichnetes göttliches Rüstzeug" gewesen, dessen innere Entwicklung „in auffallender Ähnlichkeit mit Paulus" oder mit Mose beschrieben werden müsse. 55 Entsprechend lobt Rothe in mehreren Andachten an Luthergedenktagen während seines Wirkens in Wittenberg LUTHER als Glaubenshelden, der „männlichen Mut und [...] Glaubensfreudigkeit" bewiesen habe. 56 Während der römische Katholizismus nicht imstande sei, den Gäubigen die lebendige Gewißheit der Versöhnung mit Gott zu vermitteln, habe LUTHER gesehen, „dass eine fremde Gewährleistung nichts [hilft], sondern daß die Gewissheit nur möglich [ist] als Gottes Gabe". 57 Zugleich aber bedarf es zur Gewißheit auch der „der allereigensten That des Individuums, das ist [das] sich unbedingt hingebende Vertrauen auf Grund der Versühnung der Sünde der Welt." 58 Weil der Reformator ein religiöses 59 Genie war, 60 war seine Sozialethik defizitär; er 49 ROTHE, Vorlesungen, T.2, 407: „Im Princip ist durch den Wendepunkt in der Geschichte, den wir die Reformation nennen, das christliche Leben von der kirchlichen Form emancipirt und in die weltliche oder sittliche hineingeleitet worden." Ebd., 418: ,,[D]ie aus der Reformation unmittelbar hervorgegangene Gestaltung des Christentums und der christlichen Welt [ist] noch nicht die wahrhaft protestantische [...], noch nicht diejenige, welche in dem protestantisch-christlichen Prinzip als definitiver Zweck liegt." Der Ursprung des Begriffs protestantisches Prinzip' ist ungeklärt. Auch Luthardt verwendet ihn im Jahre 1848 (vgl. unten Teil C. Kapitel 2.1 Anm.84). FISCHER, Protestantismus, bringt keine Beispiele für eine entsprechend frühe Verwendung des Begriffs. 50

51

ROTHE, E2, B d . 5 , 1871, 192, Anm.3 zu §989.

Entsprechend beginnt RANKE seine Deutsche Geschichte, 11-47, mit einer ,Ansicht der früheren Deutschen Geschichte" und beschreibt vielfach das Unverständnis der Franzosen, Italiener und Spanier für das deutsche Wesen. 52 BIRKNER, Spekulation, 78 Anm. 189. 53 ROTHE, Vorlesungen, T.2, 328. 54 Ebd. 55 Ebd. Ders., Rede, lOf. Vgl. a. ders., Entwürfe Briefe Pauli, 379. 56 Ebd., 365. 57 Ders., Katholicismus, 385f. 58 Ebd. 59 ROTHE, Entwürfe Briefe Pauli, 365.Vgl. a. ebd., 373-376; 377-382. 60 Ders., Vorlesungen, T.2, 329. SCHAUMKELL, 131, bietet Zitate aus den frühen Reformationsfestpredigten Rothes zur Rechtfertigungslehre. Rothes Verständnis des Reformators

58

Teil Α: Richard Rothe

dachte „altkatholisch".61 Moderner waren MELANCHTHON62 und ZWINGLI; sie werden aber an keiner Stelle von Rothes Kirchengeschichte ähnlich hymnisch gewürdigt wie der Wittenberger Reformator. Zwar sei „die sittliche reformatorische Richtung die bedeutendere, sie ist die eigentlich weltgeschichtliche in jenem Wendepunkt; daher gehört ihr eigentlich die Zukunft; aber in dem damaligen geschichtlichen Moment mußte die religiöse die mächtigere sein."63 Demnach wird die sächsische Reformation durch die schweizerische relativiert; aber sie wird nicht aufgehoben, denn den Reformierten fehlt es „an der alles mit sich fortreißenden Gewalt der christlichen Frömmigkeit in ihrer Urkraft, wie sie in Luthers Seele durch den Blitz von obenher entzündet worden war."64 Beide Typen der Reformation bedurften einander, wenn die Reformation Weltbedeutung erlangen sollte, weil das sittliche nur in Verbindung mit dem religiösen Element lebenskräftig ist.65 Eben diese Verbindung der lutherischen mit der zwinglischen Reformation bringt Rothe mit der Formel „sittlich-religiös" zum Ausdruck.66 Beiden Richtungen der Reformation ist gemeinsam, daß es ihnen um das Individuum in seiner Subjektivität geht, einerseits in ethischer und andererseits in religiöser Hinsicht. Sie bedürfen einander in der Weise, daß die religiöse Reformation LUTHERS dahin drängt, die Dimension des Ethischen in sich aufzunehmen; er ist sozusagen der Wurzelboden für ZWINGLI. Rothe will nun aber nicht die evangelische Kirche von LUTHER her erneuern, sondern die Reformation LUTHERS vollenden. Deshalb wäre es völlig absurd, die lutherischen Bekenntnisschriften in der Gegenwart als Bezugspunkt der Theologie anzusehen, denn sie entsprechen nicht dem Gemeindeglauben, und die Zustimmung zu ihnen kann nicht mehr durch Lehrzucht erzwungen werden; sie müssen der wissenschaftlichen Prüfung und Interpretation unterworfen werden.67 Pfarrern und akaals religiöses Genie unterscheidet sich von dem idealistischen; beide stimmen nur darin überein, daß das Individuum gegen die Institution ausgespielt wird. Vgl. oben Einleitung Anm.41. 61 ROTHE, Vorlesungen, T.2, 334. 62 Ders., Rede. Melanchthon verkörpert das Element des Sittlichen im Raum der sächsischen Reformation. 63 Ders., Katholicismus, 387. 64 Ders., Vorlesungen, T.2, 333. 65 Ebd. 66 ROTHE, Katholicismus, 388. Ders., Rede, 9: „Nun ist aber in ihm [in dem menschlichen Leben, ADD] das Verhältniß zwischen dem Religiösen und dem Sittlichen dieses, daß jenes die eigentliche Seele von diesem ist, so wie freilich auch wieder umgekehrt jenes nur an diesem seine wirkliche Erfüllung erhält. [...] In der Frömmigkeit allein kann folglich die Sittlichkeit in der Tiefe ihre Wurzeln schlagen, aus der ihr unversiegliche Lebenskräfte zuströmen." 67 Ders., Voten 1867, 310f, 434. Ders., Ueber kirchliche Lehrfreiheit, 43, schreibt in einem Gutachten: „Die Bekenntnisschriften aber stellen dasjenige Maß von Verständnis der Person Jesu dar, welches mit den Mitteln ihrer Zeit zu erreichen möglich war, und wollen und können nicht hindern, daß mit den ungleich reichern und bessern Mitteln unserer Zeit ein höheres Maß dieser Erkenntnis erstrebt wurde - selbst auf die Gefahr hin, daß in diesem Streben

1.3 Moderne Ethik

59

demischen Theologen muß deshalb von den Kirchenleitungen „ausdrücklich" eine freie Stellung zu ihnen gewährt werden.68

1.3 Moderne Ethik Mit der Reformation ist die Dissoziation von Christentum und Kirche entstanden; seitdem gibt es ein kirchlich ungebundenes Christentum. Dieses artikulierte sein Selbstbewußtsein in der Aufklärung, die zwar ihre Wurzeln auf die heidnische Antike zurückführt, aber tatsächlich „von ehrlich christlicher Abkunft" ist.69 Die Aufklärung ist nach Rothes Meinung „wesentlich protestantisch."70 Obwohl der Theologe sich dessen bewußt ist, daß ,,[d]ie Reformatoren (so sie auf Erden lebten) [...] diese Frucht ihrer Arbeit zürnend verleugnen"71 würden, unterstreicht er, daß das an dem objektiven Sachverhalt der wesensmäßigen Christlichkeit der modernen Kultur nichts ändere. „Innerhalb der christlichen Welt gibt es kein Element des moralischen oder geistigen Lebens, welches nicht wesentlich mit ein Erzeugniß des Christenthums wäre, das nun einmal unläugbar das Grundprincip der geschichtlichen Entwicklung unserer ganzen christlichen Zeit ist. Grade in unseren Tagen kann gar nicht genugsam daran erinnert werden, daß das thatsächlich Christliche, und zwar das wesentlich und specifisch Christliche, in allen Lebensgebieten weit über den engen Bezirk desjenigen hinausreicht, woran ausdrücklich die offizielle Etikette ,christlich' angebracht ist, oder was doch wenigstens dem jetzigen Geschlecht als christlich bewußt ist. Das Christliche steckt demjenigen Theil der Menschheit, den wir die Christenheit nennen, schon im Blut [...]." Also hat gerade „diese unsere so übel beleumdete moderne Kultur" „Kindesrecht im Hause Christi."73 Weil die objektive Aufgabe der Menschheit der Bau des Reiches Gottes ist, müssen alle, die unkirchlichen Zeitgenossen ebenso wie die bewußten Christen, daran mitarbeiten. Unkirchlich sind solche Zeitgenossen, die von dem christlichen Ursprung der Aufklärung nichts wissen ungenügende und irrtümliche Versuche mit unterlaufen." TROELTSCH, Rothe, 81, hat dieses Gutachten als eines der „schönsten Aktenstücke, die eine kirchliche Kanzlei in diesem [19.] Jh. verlassen haben" gewürdigt. Zum Zusammenhang vgl. unten Anm. 327. Rothe betont auch in privaten Zusammenhängen die Freiheit des akademischen Theologen. Vgl. Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn: I i 98/394. 68 Ders., E2, Bd.5, §1170, 43 lf. 69 Ders., Zur Debatte, 98. 70 Ebd. 71 Ebd., 99. 72 Ders., E2, Bd.l, §14, 59f. 73 Ders., Zur Debatte, 99.

60

Teil Α: Richard Rothe

wollen. Will Rothe gerade diese „unbewußten Christen" für den Dienst am Reich Gottes gewinnen, kann er ihnen weder eine traditionell-kirchliche Ethik anbieten noch eine spezifisch biblisch-jesuanische oder explizit lutherischkirchliche. Der Theologe begegnet deshalb den modern-aufgeklärten Menschen in deren eigener Denkweise; er spricht sie nicht als religiöse Persönlichkeiten, sondern als sittliche an.74 Weil mit der Aufklärung „in der Geschichte der christlichen Menschheit ein neuer Aufzug begonnen" 75 hat, ist die Umbildung des dogmatisch-kirchlichen Christentums in ein ethisch-sittliches notwendig. Dabei handelt es sich aber nicht einfach um eine Anpassung des Christentums an veränderte gesellschaftliche Bedingungen, sondern um seine Befreiung aus der kirchlichen Hülle. Das Christentum ist nämlich seinem Wesen nach laut Rothe nicht ein kirchliches, sondern ein politisch-staatliches Prinzip. 76 Rothes Theologische Ethik bietet somit eine Alternative an zu dem Weg, den viele Theologen und Kirchenchristen im 19. Jh. eingeschlagen haben, denjenigen der inneren Emigration aus Gesellschaft und Staat: Er fordert die Kirchenchristen dazu auf, das kirchliche Christentum in die Welt hinein zu übersetzen und die Nichtchristen dazu, den wahren, nämlich den christlichen Ursprung der vorgeblich säkularen Kultur anzuerkennen. Diese Konzeption eines unbewußten Christentums, das sich sittlich-ethisch realisiert, soll das Problem lösen, das durch den gegenwärtigen Zustand der evangelischen Kirche gestellt ist. Der Unkirchlichkeit breiter Bevölkerungskreise wird nicht missionarisch, durch den Aufruf zur Rückkehr in die altehrwürdige Institution der Kirche begegnet, sondern durch die These, das Christentum ziele seinem Wesen nach überhaupt nicht auf diese, sondern auf den Staat. Es „will eben seinem innersten Wesen nach über die Kirche hinaus, es will nichts Geringres als den Gesamtorganismus des menschlichen Lebens überhaupt zu seinem Organismus haben, d.h. den Staat. Es geht wesentlich darauf aus, sich immer vollständiger zu verweltlichen, d.h. sich von der kirchlichen Form, die es bei seinem Eintritt in die Welt anlegen muß, zu entkleiden und die allgemein menschliche, die an sich sittliche Lebensgestalt anzutun."77 Rothes sittliches Christentums realisiert sich im Staat. Deshalb sind die Adressaten seiner Ethik die Gebildeten der deutschen Kulturnation, die von der 74

Ders., E2, Bd.2, 91, Anm.3 zu §222, und ebd., Bd.l, 1869, V (Vorrede des Autors) unterscheidet zwischen moralisch und sittlich. Der Ausdruck moralisches Handeln gilt ihm als eine Tautologie, weil jedes menschliche Handeln, eben deshalb, weil der Mensch handelt, von bestimmten Werten geleitet ist. Insofern ist jedes Handeln schon moralisch. Moral kann also in Rothes Sprache ebenso ,gut' wie ,böse' sein; sittlich ist ein Handeln dagegen, wenn es ein bestimmt gutes Handeln ist. 75 Ders., Zur Debatte, 94. 76 Vgl. das Zitat unten Anm. 95. 77 Ders.,El,Bd.3, §1177, 1010.

2. Staat

61

Aufklärung geprägt und politisch interessiert sind. Entsprechend widmet er schon die erste Auflage der Theologischen Ethik im Jahre 1845 nicht nur den „Mittheologisierenden" sondern auch dem „über den Kreis des in streng wissenschaftlicher Form denkende[n] hinausfreichenden...] allgemeinefn] gebildete[n] Bewußtsein." 78 Er versucht einzuwirken auf diejenigen Kreise, denen er die verantwortliche Gestaltung des politischen Lebens zutraut. Sie spricht er in sittlicher Hinsicht als Christen an, auch wenn sie sich selbst antichristlich und unkirchlich gebärden. Ihnen will er nicht nur den christlichen Ursprung ihrer Überzeugungen und die Vereinbarkeit ihrer politischen Zielvorstellungen mit dem Christentum darlegen, sondern sie auch dafür erwärmen, ihre politischen Ziele mit Hilfe eines erneuerten Protestantismus zu erreichen; die Kirchenchristen will er dagegen für die Mitwirkung an den bürgerlichen Angelegenheiten gewinnen. 79 Zwar richtet sich Rothes Pflichtenlehre in ihrem Literalsinn an die bekehrten und wiedergeborenen Christen,80 aber diese Terminologie, die Rothe in der Erweckungsbewegung kennenlernte und zeit seines Lebens beibehielt, darf nicht dazu verfuhren, den politischen Gehalt des Begriffs Bekehrung bei Rothe zu übersehen. Er bezeichnet als ,Pietismus' die Haltung weitab gewandter Selbstbezogenheit, wie sie sich in den Konventikeln der „Stillen im Lande" im ersten Drittel des 19. Jh. geäußert hat. Dieses „ausschließend persönliche oder private Christentum" habe sich nicht aus eigenem Antrieb aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, sondern deshalb, weil die politischen Umstände diesen Christen ein Leben als Bürger eines konstitutionellen Staates verwehrten. 81 Indem somit die Erweckungsbewegung zurückgeführt wird auf bestimmte defizitäre politische Verhältnisse, erscheint sie wie eine Bewegung zur inneren Emigration aus demjenigen Feld der Christusnachfolge, welches Rothe selbst für das angemessenere hielt: dem politischen.

2. Staat Die Pflichtenlehre in der zweiten Auflage von Rothes Theologischer Ethik sollte eine „Beurtheilung der politischen Zustände der seit 1866 datierenden Gegen-

78

Ebd., Bd. 1, XIV, XIX (Vorrede). DREHSEN, Vision, 216f, macht zu Recht darauf aufmerksam, daß nach Rothe auch das kirchliche Christentum einem „Selbstmißverständnis" unterliegt. „Wie sich der Kirchenfromme über seine ethische Weltverpflichtung täuscht, so der Weltläufige über den wahren Charakter seines Beitrages zur christlichen Sittlichkeit." 80 Rothe ist noch in seinen späten Predigten und Ansprachen die Begrifflichkeit und Gedankenfuhrung der Erweckungsbewegung selbstverständliches Ausdrucksmedium. Vgl. beispielsweise ders., Predigten, 3, 11, 186 u.ö. 81 ROTHE, Zur Orientierung, 4. Preußen erhielt erst 1848 eine Verfassung oktroyiert. 79

62

Teil Α: Richard Rothe

wart"82 enthalten, was aber der Tod des Verfassers verhinderte. Nach Rothes Überzeugung wandelt sich die Pflichtenlehre im Lauf der Geschichte; sie kann „immer nur für einen bestimmten empirisch gegebenen Stand der Entwickelung der sittlichen Welt aufgestellt werden, nie als eine fur alle Zeiten gültige."83 Entsprechend verändern sich die Pflichten des sittlich-religiösen Menschen gegenüber dem Staat, dessen rechten Begriff nach Rothe die HEGELsche Philosophie lehrt: Danach ist der Staat nicht bloß eine Anstalt zur Sicherung der Wohlfahrt der Einwohner, nicht nur eine aus der Not geborene Einrichtung zum Schutz von Leben und Eigentum gegenüber der Willkür Einzelner, sondern „die specifische Form, unter welcher das menschliche Leben als solches sein Dasein nicht nur, sondern seine Wirklichkeit hat."84 Der Staat ist die allgemeinste Organisationsform des Religiös-Sittlichen, die sich im Verlauf der Weltgeschichte herausbildet. Er ist die ideale Einheit aller Bereiche des menschlich-sittlichen Lebens. Die Geschichte ist „im Wesentlichen gar nichts andres [...] als der allmälige Entwickelungsproceß des Staats, - wie das letzte Resultat der Weltgeschichte wesentlich eben der vollendete Staat ist."85 Dieser vollendete Staat wird hervorgebracht durch die sich geschichtlich realisierende Vernunft, welche Rothe mit dem göttlichem Wirken identifiziert. Rothes Idealstaat ist nicht mit dem Rechtsstaat identisch, da dieser „einen Begriff des Staats nur unter der Voraussetzung der moralischen Abnormität kennt."86 Ein christlicher Rechtsstaat verwirklicht das göttlich vorgegebene Recht. Das war die Konzeption Friedrich Julius STAHLS, die Rothe explizit ablehnte.87 Solange in einer Gemeinschaft Antagonismen mit Zwangsmitteln noch gebändigt werden müssen, handelt es sich nicht um einen Staat, sondern um die bürgerliche Gesellschaft. Erst im Staat stehen sich Allgemein- und Partikularinteresse nicht mehr unversöhnt gegenüber. Der vollendete Staat ist nach dem auch in dieser Bestimmung HEGEL folgenden Rothe der Verfassungsstaat. Die Idee eines solchen hatte sich im zweiten Jahrzehnt des 19. Jh. herausgebildet und wurde während des Vormärz vor allem

12

Holtzmann in seinem Vorwort zu ROTHE, E2, Bd.3, XI. Dieser, E2, Bd.l, XXIV, hatte 1867 selbst angekündigt, in der Pflichtenlehre werde er seine „praktische christliche Lebensansicht in ihrer bestimmten Anwendung auf die Gegenwart ihren Grundzügen nach darstellen." 83 Ders., El, §815, 379 = E2, §820, 383. 84 Ders., Anfänge, §3, 14. Zu Übereinstimmung und Unterschieden zwischen Hegel und Rothe vgl. BOHNERT, 2 3 3 - 2 3 5 ; WALTHER, Typen,

128, 6 0 - 8 7 . Z u H e g e l vgl. SCHMIDT, Reli-

gion. 85

ROTHE, Anfänge, §3, 15. Ders., E2, Bd.2, Anm.l zu §424, 426f. 87 WIEGAND, Stahl, 247-255; die Differenz zwischen Stahl und Rothe sehen nicht BAUMOTTE, Stahl; HÜTTER, 27-75. Rothe kritisiert in Stahl auch den konservativen Führer der Kreuzzeitungspartei. 86

2. Staat

63

im südwestdeutschen Kammerliberalismus propagiert.88 Rothes Eingebundenheit in dieses frühliberale und liberale Gedankengut wird schon durch den Hinweis auf die Zahl der Jahre verständlich, die er in Heidelberg als Student und akademischer Lehrer verbrachte: von 1817 bis 1819, von 1838 bis 1849 und von 1854 bis 1867. Der Heidelberger Professor unterhielt intensive Beziehungen zu den ortsansässigen liberalen Kreisen und galt als einer der Honoratioren der Stadt.89 Diese Liberalen setzten sich ein für den Schutz der Freiheitsrechte des Individuums, die Verwirklichung einer konstitutionellen Repräsentatiwerfassung, die Realisierung eines deutschen Nationalstaates, und sie waren dabei der festen Überzeugung, daß gerade sie um das Gemeinwohl wissen. Im Bündnis zwischen aufgeklärt-liberaler Beamtenschaft und liberal gesinnten, einflußreichen Bürgern sollten ihre Forderungen durchgesetzt werden, keineswegs durch eine Massenbewegung.90 Die Furcht vor einer Herrschaft der Masse, der radikalen Demokratie, bestimmte das politische Denken der Liberalen. Rothe teilte nicht nur die Zielvorstellungen, sondern auch diese Furcht mit ihnen. Individuelle Freiheitsrechte sollten erworben und gesichert werden, sowohl gegenüber dem souveränen Fürsten wie gegenüber dem souveränen Volk.91 Rothes Wirkungskreis reichte, spätestens nach seiner Rückkehr nach Baden im Jahre 1854, weit über Heidelberg hinaus. Mehrfach wurde er vom Großherzog als eines der von ihm persönlich zu berufenden Mitglieder in die Erste Kammer ent88

In den vierziger Jahren hatte Heidelberg im deutschen öffentlichen Bewußtsein Freiburg als geistigen Vorort des südwestdeutschen Kammerliberalismus abgelöst. Vgl. zu regionalen und geistigen Differenzierungen des deutschen Frühliberalismus BERMBACH, 350f. Vgl. a. WOLGAST, Zeitalter, 11; ders., Geschichtsschreibung; FISCHER, Staat; GALL, Partei; HEIN, Bewegung, 31-35; zusammenfassend NlPPERDEY, Geschichte, 348, 350. Ausgezeichnet ist der Frühliberalismus durch sein Interesse an der Einfuhrung von Parlamenten, an politischer Öffentlichkeit, Rede- und Pressefreiheit, Gewerbe- und Vereinsfreiheit und rechtsstaatlich abgesicherten Individualrechten. 89 Rothe war von den fünfziger Jahren an Mitglied verschiedener Gesellschaften, etwa der Donnerstagsgesellschaft, in denen liberale Heidelberger Pfarrer, Kirchenälteste und Professoren zur Diskussion kirchlicher und politischer Tagesfragen zusammenkamen. LEPP, 74f; GRAF, Rothe, 796; RÜCKLEBEN; DANNENMANN, Einfluß; dies., Landeskirche-, MOHR. Zittel beispielsweise, Stadtpfarrer und Vertreter des gemäßigten kirchlichen und politischen Liberalismus, war seit 1842 Mitglied der Zweiten Kammer des Badischen Landtags, ließ sein Mandat allerdings ruhen, als er 1848 in die Deutsche Nationalversammlung gewählt wurde. Er kritisierte schon 1843, daß die badische evangelische Landeskirche dem Innenministerium unterstellt war, weil seiner Meinung nach ein römisch-katholischer Minister eine Gefahr für die evangelische Landeskirche bedeutet. Die Kirchenbehörde sollte direkt dem Großherzog als summits episcopus unterstellt sein und ausschließlich von Protestanten geleitet werden. Trennung von Kirche und Staat forderte Zittel nicht, jedoch Selbständigkeit der Kirche bei der Regelung kirchlicher Belange. 1851 zog er sich aus der aktiven Politik zurück, wirkte allerdings auf den Generalsynoden von 1861 und 1867 mit und war Mitbegründer des Protestantenvereins. 90

GALL, Liberalismus.

91

SCHIEDER, Krise,

189.

64

Teil Α: Richard Rothe

sandt, wo er mit den anderen badischen Honoratioren zusammen FRIEDRICH I. von Baden und seine Minister beriet.92 Zu dieser Zeit wurde Baden von den Liberalen beherrscht. Nach den Wahlen von 1861 waren von 63 Abgeordneten der Zweiten Kammer 48 diesem Lager zuzurechnen.93 Rothe bezeichnet mit Staat also etwas anderes, als LUTHER und die Confessio Augustana mit Obrigkeit meinten. Rothes Staat hat zur Aufgabe nicht nur die Abwehr von Angriffen auf die bürgerliche Ordnung oder die Herstellung gesellschaftlichen Friedens, sondern er dient der Aufrichtung einer Ordnung, welche die moralische Verbesserung der Staatsbürger und damit auch diejenige des Staates selbst zum Reiche Gottes fordert. Damit ist der Staat eine Heilsordnung geworden. Der Staat ist nicht um der bösen Menschen da, die in Schach gehalten werden müssen, sondern deshalb, weil der Heiland selbst einen Gottesstaat begründet hat.

2.1 Reich Gottes Ausgangs- und Zielpunkt der ethischen Spekulation Rothes ist der Begriff Reich Gottes. Zwar ist Jesus nicht als politischer Reformator aufgetreten; er hat aber das Reich Gottes verkündet und damit das objektive Ziel aller geschichtlichen Entwicklung den Menschen bekannt gemacht: die Herrschaft Gottes. Das Gottesreich ist nicht eine jenseitige Gegenwelt, sondern ein Reich, das sich sukzessive im Lauf der Weltgeschichte auf der Erde entwickelt durch das Handeln der Menschen.94 Die große Frage ist nur, welche der beiden menschlichen Gemeinschaften, die Kirche oder der Staat, zum Reich Gottes werden kann. Die Kirche scheidet nach Rothes Meinung als die alleinige und eigentliche Trägerin der christlichen Geschichte aus zwei Gründen aus: Sie realisiert idealerweise das Religiöse, nicht das sittliche; und in der Gegenwart vollzieht sich das christliche Leben zunehmend weniger in spezifisch kirchlicher Form. Schon mit der Reformation ist das Christentum in sein weltliches Zeitalter eingetreten. Allerdings hat die Reformation noch keinen Staat hervorgebracht, denn als solcher kann nur diejenige menschliche Gemeinschaft bezeichnet werden, die sittlich ist; das

92 Vgl. Teilnehmerlisten in VERHANDLUNGEN Stände-Versammlung 1863 und 1865/67. Zu Rothes Verhältnis zum Großherzog vgl. NlPPOLD, Persönlichkeiten, 49-75. Rothes Meinung zur Übertragung dieses politischen Amtes, das er 1863 erstmals wahrnahm, teilt mit NlPPOLD, Rothe, Bd.2, 568f. 93 NlPPERDEY, Geschichte, 723. Bemerkenswert ist, daß dies Ergebnis zustande gekommen war, obwohl die Abgeordneten durch Wahlmänner mittels öffentlicher Stimmabgabe gewählt worden waren. 94 ROTHE, Anfänge, §2, 11. Vgl. a. ebd., §3, 12-18.

2.1 Reich Gottes

65

heißt nach Rothe: in der das Gesetz herrscht. Dies ist allein im modernen Verfassungsstaat der Fall. Weil Rothe als zentralen Inhalt des Christentums die Errichtung des Gottesreiches bestimmt und dieses in dem sich geschichtlich zu seiner vollendeten Gestalt entwickelnden Staat verortet, kommt er zu dem Schluß, das Christentum sei „wesentlich ein politisches Princip und eine politische Kraft." 95 Der Abbruch der sinnlich-irdischen Geschichte wird freilich erst dann eintreten, wenn der Erlöser, „der von seiner alles überragenden Höhe herab das Ganze seines Reiches überschaut," den Zeitpunkt für gekommen hält, an dem die Geschichte erfüllt ist;96 menschlicher Erkenntnis ist nur die Einsicht zugänglich, daß gerade der Staat die Realisation christlicher Sittlichkeit ist, und sie kann Stufen der Entwicklung des Staates auf dem Wege zum Reich Gottes hin unterscheiden. Deshalb kann der Mensch durch seine planvolle politische Arbeit den vollendeten Staat herauffuhren helfen. Er ist cooperator Dei. Wie der vollendete Staat selbst, so bildet sich auch dessen Idee geschichtlich heraus. Von epochaler Bedeutung fur das Werden der Idee des Staates war die Aufklärung, besonders die Französische Revolution. Die Christen sollen dies anerkennen. Sie sollen also nicht den Liebeskommunismus der Jerusalemer Urgemeinde nachahmen oder sich vom Staat fernhalten, sondern sie sollen in ihm so handeln, daß sie ihrem geschichtlichen Auftrag gerecht werden. Den Maßstab zur Beurteilung der Notstände des konkreten geschichtlichen Staates bietet ihnen das Evangelium, denn es erlaubt „die rechte Würdigung des jedesmaligen Zustandes eines bestimmten Staates [...] und die (so nothwendige) Sicherung gegen Ueberschätzung, falsch politisch-patriotische Einbildung." 97 Wie diese Messung des konkreten historischen Staates an der evangelischen Meßlatte erfolgen soll, fuhrt Rothe nicht genauer aus. Wahrscheinlich hält er die Abständigkeit der deutschen Verhältnisse zum Reich Gottes fur unmittelbar evident. Entsprechend ist er davon überzeugt, daß „unsre jetzigen bürgerlichen Zustände noch weit zurück" sind.98 Er betont, daß der „Begriff des Staats dem in unsrer geschichtlichen Erfahrung gegebenen Staate unmöglich entsprechen kann" 99 und hält die Verhältnisse in zweierlei Hinsicht für verbesserungsbedürftig: Zum einen gibt es keinen Zusammenschluß der Staaten zu einem Weltbund Deutschland ist noch nicht einmal zu einem Nationalstaat geeint - , zum anderen sind die Interessengegensätze verschiedener Gruppen, die Einfluß auf den Staat zu nehmen suchen, in der Gesellschaft vorhanden. Um diese beiden Punkte als die zentralen Mißstände der Gegenwart aufzudecken, bedarf es freilich des Evangeliums und des Reich Gottes-Begriffes im Grunde nicht. Eben sie wurden

95 96 97 98 99

Ders., E2, Bd.5, § 1162, 357 und ebd., Anm. zu §1162, 358. Ebd., Bd.3, §585, 188. Ders., Entwürfe Briefe Pauli, 348. Ebd. Ders., E2, Bd.2, §424, 425.

66

Teil Α: Richard Rothe

von einem Großteil der deutschen Öffentlichkeit beklagt. Deshalb bindet Rothe die Erkenntnis der politischen Mißstände nicht an die Christlichkeit der Staatsbürger. Im Gegenteil: Häufig erfassen die sittlich und unbewußt-christlich qualifizierten Staatsbürger die Aufgabe der Staatsverbesserung sogar klarer als die kirchlich gebundenen Christen. Jenen fehlt jedoch die Einsicht darein, daß ihr aufgeklärt-idealistischer Staatsbegriff wesentlich christlicher Abkunft ist.

2.2 Moderner Staat Rothe schreibt der Aufklärung eine eminente Bedeutung für die Herausbildung der neuen Idee des Staates zu. Trotzdem kann er den zukünftigen wie sogar schon den gegenwärtigen Staat als christlichen bezeichnen.100 Weil das konstantinische Zeitalter der Geschichte - nach Rothe ist Kaiser KONSTANTIN der Schöpfer des christlichen Staates unwiederbringlich beendet ist,101 bezeichnet Rothe den nach den Prinzipien der Vernunft organisierten modernen Staat in einem objektiv-geschichtlichen Sinne als christlichen. Dieser kann nämlich seine heilsgeschichtliche Aufgabe erfüllen, ohne um seine christliche Abkunft zu wissen. Allein dem tiefer Blickenden, der imstande ist, den Finger Gottes in der Weltgeschichte zu sehen, ist die objektive Christlichkeit des Staates einsichtig. Entsprechend soll auch die Politik des Staates nicht in dem Sinne christlichen Maximen folgen, daß biblische oder reformatorische Weisungen umgesetzt werden, sondern allein in jenem, daß sittliche Maximen der Gesetzgebung zugrunde gelegt werden. Wenn Rothe also 1854 ein „Christlicherwerden des Staats" in den letzten hundert Jahren beobachten zu können meint, spiegelt das seine Einschätzung, daß die Staaten „ihre Aufgabe weit bewußtvoller als eine sittliche gefaßt" haben.102 In einer Diskussion in der Ersten badischen Kammer am 17.

100

ROTHE, Anfänge, 80 u.ö. In dem verwirrenden Sprachgebrauch hat das Mißverständnis von BAUMOTTE, Stahl, 183-188, seinen Grund, der Stahl und Rothe grundsätzlich gleichordnet. Der Unterschied zwischen beiden Konzeptionen ist als der zwischen einem sich geschichtlich zum Reich Gottes entwickelndenVerfassungsstaat und dem göttliche Forderungen umsetzenden Rechtsstaat zu beschreiben. 101 Ders., Vorlesungen, T.2, l , 4 9 f . 102 Brief vom 28. Februar 1837 an Karl Ullmann, der definitiven Zusage Rothes, nach Heidelberg zu kommen, beigelegt. Zit. bei HENSS, 183. Hier heißt es weiter: „Auch scheint in Deutschland wenigstens (in Preussen unbedenklich), was in der letzteren Zeit für das Christentum geschehen ist und noch geschieht, weit mehr auf Rechnung des Staats und seiner Vertreter zu kommen als auf die des Klerus; und der Anstoß unsrer Theologie selbst zu einer christlicheren Wendung ist nicht aus ihr selbst gekommen, sondern aus der Philosophie." Die Verfassungsänderungen nach der französischen Julirevolution von 1830, die Rothe als seine politische Erweckung charakterisiert, interpretiert er ebenfalls in diesem Sinne. Vgl. dazu unten Anm.264f.

2.2 Moderner Staat

67

März 1866 bekannte Rothe sich explizit zum modernen statt zum christlichen Staat. Dieser moderne Staat hat aber - und damit geht er über den bisher entwickelten historisch-objektiven Begriff des modernen Staates hinaus - „eine Gott dienende und an ihn glaubende Bevölkerung." 103 Die Bezeichnung eines Staates als eines christlichen wegen seines christlichen Staatsvolkes ist nach Rothes Theorie möglich, weil die Sittlichkeit der Staatsbürger immer eine christlich begründete sein muß; sonst ist sie keine Sittlichkeit. Deshalb macht er den Staat zum Pädagogen, der um seines eigenen Zweckes willen, der ständigen sukzessiven Verbesserung bis hin zum Reich Gottes, die Christlichkeit respektive Sittlichkeit des Volkes fördert. Da das Christentum, auch in seiner vorläufigen kirchlichen Organisationsform, die beste Erzieherin zum wahren Staatsbürgertum ist (zumindest solange der Staat diese Aufgabe selbst nicht besser in die Hand nehmen kann), muß der gegenwärtige Staat dafür Sorge tragen, daß die Christlichkeit des Volkes gefördert wird.104 Der Staat weiß um diese Bedingung seiner Fortentwicklung und ordnet deshalb nationale Bußtage an, an denen sich „das Bewußtsein der gesammten Menschheit um die Sünde ausfspricht]," welche die Gemeinwesen bedroht, und gegen die sie sich nur unzureichend mit „Gesetzen, Ordnungen, Polizei und Strafen" schützen können. 105 Rothes Konzeption eines christlichen Volkes basiert nicht auf der Taufe; seiner Meinung nach ist die Bevölkerung christlich, soweit sie sich für die höchste Aufgabe der Menschheit einsetzt: die Staatsverbesserung. In diesem modernen Staat kommt dem Prediger eine bedeutsame Aufgabe zu: Er hat die Menschen zu lehren," daß [d]er Staat ein göttliches Institut [ist], mit göttlicher Autorität bekleidet," 106 und daß schon der Staat der Gegenwart „heilig"107 und „das Sakrament ΚΑΤ EXOCHEN" ist,108 weil er „ein wesentli103

104

ROTHE, Voten 1866,

38.

Ders., E2, Bd.5, §1165, 389: „Ganz besonders aber dürfen wir bei aller unserer Arbeit an der Staatsverbesserung nie vergessen, daß eine reelle Besserung der politischen Zustände ohne eine wirkliche Besserung und Erhebung der Sittlichkeit des Volkes eine reine Unmöglichkeit ist, und daß diese letztere so lange immer noch schwankt, so lange sie nicht an wahrer, d. h. christlicher Frömmigkeit ein letztes Fundament hat. Das wissen freilich unsere jetzigen Schreier von Weltverbesserung nicht; sie sagen sich nicht [...], daß eine sittlich schlechte Gemeinschaft auch nie eine politisch freie und in sich befriedigte sein kann." 105 Ders., Entwürfe Brief Johannis, 284-287, hier 286. 106 Ders., 346f. 107 Ders., E2, Bd.2, §436, 459. Entsprechend betont ders., Ueber Kirchenverfassung, 21, der Staat sei kein „unheiliges Land," auf das die Kirche „von einer erträumten Höhe herabsehen" dürfe. 108 Ders., E2, Bd.2, §436, 459. Ders., ebd., §271, 199 Anm.l, bemerkt, daß sein ethischer Begriff des Sakraments nicht der geläufige dogmatische ist. Ebd., 198: „Die Welt heiligen heißt nichts anderes als: sie, beides, in allen ihren einzelnen Theilen und als einheitliches Ganzes, für Gott zu einem universell anwendbaren Werkzeug gestalten [...], Mittel der Herbeiführung des vollendeten Reiches Gottes auf Erden" zu sein. „Das Produkt des Heiligens ist das Heiligthum oder das Sakrament," also alles, was zur Verbreitung der Frömmigkeit unter

Teil Α: Richard Rothe

68

ches, universelles Mittel zur Vollendung der Gemeinschaft des Menschen mit Gott" ist.109 Rothe nennt den Staat ein äußerlich wirkendes Sakrament und vergleicht ihn mit dem Abendmahl, einem innerlich wirkenden Sakrament. Mittels des Staates wie des Abendmahls kommt es zur Gemeinschaft von Gott und Mensch. Der Staat „ist in der Welt der höchste Gegenstand seines [Gottes, ADD] Wohlgefallens."110 Er ist „von göttlicher Institution," weil er „das wesentliche Mittel [...] für die Erreichung des göttlichen Weltzwecks"111 ist. Auch „die faktische Ordnung desselben [des Staates, ADD] participirt relativ an diesem göttlichen Ansehen (Rom 13,lf; IPetr 2,13f), sofern sie unter der bestimmten Direktion der göttlichen Weltregierung geworden ist."112 Gott will, daß jedes Volk einen Staat bildet, und jedes menschliche Individuum einem Staat angehört, diesen anerkennt und zu seiner Vollendung beiträgt. Wie der Staat selbst, so ist auch ein jeder Angehörige der Staatsverwaltung heilig, weil „der Staat sich [durch ihn, ADD] konstituirt und seine Lebensfunktionen vollzieht."113 Allerdings betont Rothe schon 1837, daß der Staat nach christlicher Auffassung nicht „mit der Person der Regenten identisch ist," und er widerspricht der Auffassung, daß die Regierenden „durch ihre Geburt göttlich berechtigt sind."114 Sie sind „Vertreter"115 des Staates als einer von Gott gewollten Ordnung; sie sind nicht die Vertreter Gottes auf Erden. Deshalb ist ihr Handeln am Staatszweck zu messen. Zweck des Staates ist die Realisierung des Allgemeinen: ,,[D]ie allgemeinen, d.h. die vernünftigen, die religiösen, die göttlichen (in concreto die christlichen) Zwecke herrschen über die particulären."116 Bei diesen Bestimmungen bleibt der als vernünftig und als solcher auch zugleich als christlich bestimmte Staatszweck einigermaßen unbestimmt.

2.3

Verfassungsstaat

Rothe wird meist als Vertreter einer Konzeption des Kulturstaates gewürdigt,117 wobei Kultur das Gesamte der Handlungen und Werte bezeichnet, die sich nach den Menschen geeignet ist. Ebd., 199: ,,[A]lles Produciren von sittlichen Sachen [ist] unmittelbar zugleich, und zwar schlechthin, ein Hervorbringen von religiösen Sachen, d. h. von Sakramenten." 109 Ders., E2, Bd.2, §436, 459. 110 Ebd. Ebd. undBd.5, §1164,363. 1,2 Ebd. m Ebd., Bd.2, §436,459. 1,4 Ders., Entwürfe Briefe Pauli, 347. 115 Ebd. 1,6 Ebd. 117

GRAF, Rothe, 796; DREHSEN, Vision, 214f.

2.3 Verfassungsstaat

69

der Aufklärung herausgebildet haben. 118 Im Verlauf der letzten einhundert Jahre wurde der Staat seiner Meinung nach insofern immer stärker zu einem „Kulturstaat," als er alle Zwecke der menschlichen Gemeinschaft zu verfolgen lernte.119 Aber dieser Kulturstaat kann seine Aufgabe nur mittels einer Verfassung wahrnehmen; deshalb ist Rothe auch als Theoretiker des Verfassungsstaates zu würdigen: „Die Organisation des Volks zum Staat ist die Verfassung des Staats. Der Staat ist daher nicht denkbar ohne Verfassung; ebenso ist aber auch eine Verfassung nur im Staate denkbar." 120 Verfassungen sind nicht „willkürliche Organisationen (schon an sich selbst ein in sich widersprechender Gedanke)," sondern „vielmehr die unveränderlichen Gesetze der menschlichen Gemeinschaft an sich selbst, allerdings in bestimmter nationaler Begrenzung." 121 In seiner Theologischen Ethik stellt Rothe Forderungen auf, welche die Hochschätzung des Verfassungsstaates mit monarchischer Spitze erkennen lassen. 122 Die Regierung soll die Gesetze einhalten und entsprechend der Verfassung regieren. Zudem fordert Rothe, daß der Fürst „von Herzen darauf verzichte, nach autokratischen Ideen zu regieren, dass er sich gern als Staatsbürger fühlt und sich nicht über den Staat stellen, sondern ihm einordnen will." 123 Diese sittliche Entscheidung des Fürsten ist beim Übergang von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie mit ihrer Volksrepräsentation notwendig. Er bindet sich damit selbst ein in den in der Volksvertretung organisierten Gesamtorganismus des Volkslebens und regiert in Übereinstimmung mit dem Volkswillen. Die Verfassung beschränkt ebenso das Recht der Regenten wie sie „die Pflicht [der Staatsbürger, ADD], dem Gebot der Obrigkeit zu gehorchen," 124 heraus-

118

LEPP, 62, beschreibt, wie umfassend Rothe den Begriff Kultur verwendet.

1,9

ROTHE, E2, Bd.2, §424, 429.

120

Ebd., §429,438f. Ders., Ueber Kirchenverfassung, 21. Für Rothe ist - etwa im Unterschied zu Isaak August Dorner - die Verfassung nicht ein Bund zwischen den Völkern mit ihren Regenten und mit Gott; sie ist auch nicht heilig. Vgl. Dorners Ausführungen in VERHANDLUNGEN dritte Versammlung, 38: „Der Vertrag, oder besser der Bund den sie [Regenten und Völker, ADD] mit einander schließen, wird so beiderseits zu einem Bund mit Gott, der obersten Rechtsquelle. Und damit hört für beide Theile die Verfassung auf, ein bloß menschliches Recht zu sein, sie ist zu einem Theile des göttlichen Rechts geworden, und eine wenn auch noch fortschreitende Offenbarung desselben in den Schranken eines Volkes, eines Landes, einer Zeit." Stahl wirft Dorner dagegen vor, es sei unchristlich, die Ordnung, nicht die Personen der Obrigkeit, als göttlich zu bezeichnen. Ebd., 52. Zu Person und Werk Dorners vgl. ROTHERMUNDT, zu Stahl oben Anm.87. Ausführungen wie die soeben zit. lassen erkennen, daß föderaltheologisches Gedankengut nicht nur in der reformierten Theologie, sondern auch in der lutherisch geprägten rezipiert werden konnte. 121

122

123

ROTHE, E 2 , B d . 5 , § 1 1 6 4 , 3 7 3 .

Ebd., §1151, 303. Ebd.: „Im konstitutionellen Staate soll der künstliche Schimmer höfischer Herrlichkeit verbleichen vor dem hellen Sonnenlicht, welches die Idee des Staates über den Herrscher ausstrahlt." 124 Ebd., 365, mit ausfuhrlichem Harleßzitat.

Teil Α: Richard Rothe

70

streicht. Sie setzt den Unterschied von Untertanen und Obrigkeit und hebt ihn zugleich wieder auf, indem jeder einzelne Bürger selbstbestimmt alles fur den Staat tut. Wenn Rothe von Obrigkeit spricht, so meint er nicht den Regenten und seine Beamten als Personen, sondern als Amts- oder Funktionsträger des Staates. Ebenso sind die Untertanen Amts- und Funktionsträger im Staate. Der Unterschied zwischen den Regierenden und den Regierten ist also ein bloß funktionaler, der sich aus dem je unterschiedlichen Verhältnis zum Staat begründet. „Im Staate unterscheidet sich der obrigkeitliche Stand oder der Stand der Beamten nur dadurch von dem der Nichtbeamten, daß seine Angehörigen ihren Beruf ausschließend im Dienste der Staatsleitung haben, d.h. Staatsdiener sind [...]. Es liegt so im Begriff des Staats, daß die Obrigkeit in ihm nicht herrscht, sondern regiert, d.h. ihre Zwecke vermöge der eigenen Selbstbestimmung der Unterthanen erreicht, also mittelst selbständiger Werkzeuge. In ihm leitet die Obrigkeit das übrige Volk seinem eigenen besten Wissen und Wollen gemäß. Ebenso ist aber in ihm auch die Obrigkeit selbst so organisirt, daß allen Staatsdienern bei ihrer exakten Unterordnung unter einander gleichwohl ihre volle Selbständigkeit gesichert bleibt."125 Ein Verfassungsstaat ist dadurch ausgezeichnet, daß es neben der Obrigkeit eine „wahre Volksvertretung" gibt.126 In dieser muß alles ausgesprochen werden können, was das Volk bewegt, weil die Repräsentatiwersammlung so zur politischen Schule der Nation wird. 127 Die öffentliche Meinung bildet die öffentliche Vernunft. Der Fürst hat die Aufgabe, das Volk zu erziehen und sich an die Spitze der öffentlichen Vernunft zu setzen. 128 Die Bedeutung der Verfassung für das Denken Rothes wird etwa daran deutlich, daß gerade der Bruch der Verfassung die Notwendigkeit von Widerstand gegen die Regenten begründet, daß die Unangemessenheit einer Verfassung zum legitimen Grund einer Revolution werden kann, und daß der einzige von ihm gebilligte Patriotismus die Liebe zur Verfas125

Ebd., Bd.2, §430, 444. In der dazugehörigen Anm.l, 445, findet sich eine Art ,Fürstenspiegel' des Tenors, regieren heiße nicht, seinen eigenen Kopf durchzusetzen, sondern es dahin zu bringen, daß die Regierten selbst das Rechte tun. Zum organologischen Gehalt dieser Ausführungen vgl. unten Anm.141. 126 Ebd., Bd.5, §1151, 303. Entsprechend schon ebd., Bd.2, §432,446f. 127 Ebd., §1154, 319f: „Nur wo das Misstrauen der Regierungen die Öffentlichkeit auf die knappste Notdurft beschränkt, eben damit aber die Bevölkerung in die Hand der Demagogen giebt, schlagen die Bürger unbändig und trotzig aus über die lästigen Barrieren, in welche ihre politische Bewegung widernatürlich eingeengt ist." Entsprechend fordert ROTHE, ebd., §1145, 273f, öffentliche Gerichtsverhandlungen und Geschworenengerichte, weil das Volk nur durch Vertrauen zur Unparteilichkeit der Rechtsprechung ein Rechtsbewußtsein ausbilden kann, welches für die Bildimg des sittlichen Bewußtseins unverzichtbar ist. 128 Die Gestalt der Verfassung muß immer dem Stand der in einem Volk vorhandenen Intelligenz beziehungsweise der öffentlichen Vernunft entsprechen. Schon vor der Revolution des Jahres 1848 hat ROTHE, ebd., §1152, 309, von den Regierenden gefordert, sich nicht Zugeständnisse mühsam abringen zu lassen, sondern ihren Völkern freiwillig Verfassungen zu geben. Dies würde „heutigen Tages die fürstliche Würde in das hellste Licht stellen."

2.3 Verfassungsstaat

71

sung des eigenen Staates ist.129 Bezeichnenderweise hat auch der Protestantenverein die Erneuerung der Kirchenverfassung und nicht Fragen des Dogmas zu seinem Anliegen erklärt.130 Nicht Menschen sollen nach Rothe herrschen, sondern Gesetze. Die Souveränität soll weder beim Monarchen noch beim Volk oder beim Parlament liegen, sondern bei der Verfassung.131 Sie garantiert, daß der politisch beseelte Teil des Volkes seine Vernunft zum Wohle des Gesamten 112

einbringen kann. Diese Gedanken Rothes sind typisch für den südwestdeutschen Liberalismus, der als politischer Horizont der Rotheschen Theologie angesehen werden muß.133 Wohl nicht zuletzt wegen der besonderen politischen Verhältnisse in Baden nahm Rothe den Ruf an die Heidelberger Theologische Fakultät an.134 Hier begann er im Wintersemester 1837/38 mit der Arbeit an seiner Theologischen Ethik.135 Das Großherzogtum Baden hatte seit 1818 die relativ fortschrittlichste Verfassung, so daß das Land sich selbst als Führungskraft der nationalen Einigungsbewegung verstand. Seit 1831 bestand in der Zweiten Kammer eine 129

ZILLESSEN, 2 0 7 - 2 2 6 , hat festgestellt, daß der unbedingte Gehorsam des Christen gegenüber der Person des Fürsten erst nach 1848 seine theologische Grundlegung, vor allem durch Friedrich Julius Stahl, erfahren hat. Die Theologen der Reaktionsperiode fragten demnach nicht nach der politischen Form, sondern rückten Amt und Person des Fürsten aneinander. Der formale Faktor Verfassung wurde zugunsten des Gottesgnadentums beiseite gedrängt. Dies sei aus der Reaktion auf 1848 erklärlich und wirke noch 1919 und 1933 nach, nämlich wiederum in der Verkennung der Bedeutung der politischen Form. FÜSSL hat gerade für Stahl das Gegenteil dargelegt: Stahl sei keineswegs ein Gegner oder Kritiker der Verfassung gewesen, sondern wollte nur das monarchische Prinzip, d. h. die Überordnung des Monarchen über die Repräsentanten des Volkes, verwirklicht sehen; er wollte keineswegs das konstitutionelle System abschaffen. Nach Füssl hat Stahl nicht einen absolutistischen Begriff der Monarchie erneuert, sondern aus Furcht vor der Revolution Protestantismus und Reformkonservativismus als politische Partei zusammenzuschweißen und zu formieren gesucht. 130

LEPP, 47f, 134.

131

ROTHE, E 2 , B d . 2 , § 4 2 9 , 4 3 9 .

132

Vgl. dazu unten Abschnitt 2.5. 133 SCHMIDT, Rothe, 41. 134 Zu Heidelberg als geistigem Ort des südwestdeutschen Kammerliberalismus vgl. oben Anm.88f. Gervinus, Mittermaier und Häusser waren dessen herausragende Vertreter im Raum der Universität. Die drei Professoren waren auch als Abgeordnete im Paulskirchenparlament tätig. Vgl. GELEHRTE, speziell KOHNLE, ENGEHAUSEN, WALDENEGG. Auch nach der Revolution blieb die Heidelberger Universität trotz aller staatlichen Maßregeln eine Trägerin des liberalen und nationalen Geistes. Daß Rothe seine Gründe hatte, gerade in Heidelberg Professor werden zu wollen, erhellt aus den Rufen, die er ausschlug: 1830 eine Professur in Basel, 1833 eine in Marburg; zudem eine in Halle oder in Greifswald, die ihm der Minister, Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein, als Alternative zum Heidelberger Ruf offerierte. Rothe schreibt selbst, daß ihm „der Gedanke, Preußen zu verlassen, [...] nicht viel Herzdrücken [macht]. Was man preußischen Patriotismus nennt, hatte ich nie in mir gespürt, und das spezifisch Preußische war mir immer unbehaglich gewesen." Zit. nach SCHENKEL, Zur Erinnerung, 216. 135

Ebd., 219.

Teil Α: Richard Rothe

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liberale Mehrheit. Die Rechte zur Steuerbewilligung, zur Mitwirkung an der Gesetzgebung und zur Petition an den Landesherrn wurden intensiv genutzt. Insofern entwickelte sich hier erstmals in der deutschen Geschichte ein Bündnis zwischen dem Bürgertum als drittem Stand und dem Regenten. Die Großherzöge LEOPOLD und FRIEDRICH I. verstanden sich nicht mehr als Eigentümer des Staates, sondern als seine Organe. Zwar standen sie als Geber einer (oktroyierten) Verfassung rein theoretisch über dieser, aber zu einem ernsthaften Konflikt zwischen der Volksrepräsentation, die durch ein Zweikammersystem gewährleistet war, und dem Fürsten kam es praktisch nicht.136 Sie wurden als Staatsdiener gesehen und fühlten sich selbst an die Verfassung gebunden.137 Rothes Begriff des Verfassungsstaates beinhaltet einen Grundwiderspruch: Das Verhältnis zwischen Fürst und Volkskammer bleibt letztlich ungeklärt.138 Einerseits fordert Rothe wie der Linksliberale Carl von R O T T E C K , die Regierung müsse in Übereinstimmung mit der Mehrheit der Volkskammer stehen,1 insoweit diese die öffentliche Vernunft artikuliert; andererseits beharrte er jedoch mit dem Rechtsliberalen Friedrich Christoph D A H L M A N N darauf, daß der Monarch gegenüber Regierung und Parlament frei bleiben müsse.140 Dieses Dilemma der Rotheschen Konzeption hat seine Wurzeln in der Rechtslage: Der Geber der Verfassung ist grundsätzlich und theoretisch auch imstande, sie wieder zurückzunehmen. Rothe kann deshalb nur an ihn appellieren, sich freiwillig an sie zu binden. Einen Konflikt zwischen Fürst und Volkskammer darf es in dieser Konzeption nicht geben. Hier zeigen sich romantisch-organologische Traditionen, die Rothe mit anderen Politikern des liberalen Lagers teilt.141 Selbständigkeit und Unterordnung, Herrschaft und Freiheit sind demnach keine einander ausschließenden Gegensätze, sondern Aspekte ein und desselben Ganzen, in dem jeder Bürger als Freier selbst regiert und zugleich sich völlig unterordnet. Anders als etwa von R O T T E C K , der aufgrund seiner negativen Anthropologie den Dualismus zwischen Regierung und Volksvertretung als institutionelle Vorkeh136

NIPPERDEY, Geschichte, 346f. GALL, Partei; NIPPERDEY, Geschichte, 346. 138 Auch bei HEGEL ist unklar, welche Rolle dem Monarchen zukommen soll. Ist er derjenige, der „den Punkt auf das I setzt," wie in §280 der Rechtsphilosophie gefordert wird, oder hat er eine weitergehende Aufgabe? Vgl. CESA. 139 NIPPERDEY, Geschichte, 385. 140 Nach ROTHE, E2, Bd.2, §434, 451, soll der Fürst „unverantwortlich und unantastbar" sein.. Zur Erläuterung dessen heißt es ebd., Bd.5, §1151, 303, daß er nicht „irgendwie von dem bestehenden Gesetz exemt ist, sondern [...] daß in allen Fragen der Gesetzgebung die letzte Entscheidung bei ihm steht, ohne daß er über sie Rechenschaft zu geben schuldig ist." 141 Biographisch ist bei Rothe die von Jugend an gepflegte Lektüre von Novalis und später auch von Schelling als Hintergrund des romantischen Gedankens der vollkommenen Einheit und des unendlichen Ausgleichs aller einzelnen Teile anzusehen. Rothe soll „von Schelling's Schriften einen fast berauschenden Eindruck" empfangen haben. SCHENKEL, Rothe, XIV. Zu seiner Schellingrezeption vgl. HEESCH, 40-49, 160-170. Zu dessen Biographie und Werk vgl. FURNESS. Zum Staatsbegriff der Romantik vgl. HEDDERICH, 108-155; TIMM. 137

2.4 Weltbund der Verfassungsstaaten

73

rung gegen die Unberechenbarkeit des Menschen begründete, betonte er mit Karl Theodor W E L C K E R , daß der Staat ein organisches Ganzes ist.142 Rothes Begründung des Verfassungsstaates ist nicht nur wegen dieser harmonistischen Grundhaltung, sondern auch wegen eines sozialkonservativen Moments unscharf: Die Volksvertretung soll nur die Selbständigen als die Spitze der öffentlichen Intelligenz umfassen. Denn diese haben keine persönlichen Interessen und können das Gemeinwohl im Auge behalten. Und so wollte Rothe die altständische Ordnung in eine neuständische überführen: Die Nation soll sich nach Berufen organisieren, und der jeweils Sittlichste soll dann aus den Berufsständen heraus in sein staatsbürgerliches Amt entsendet werden. Wer nicht selbständig ist - Lohnarbeiter, Handwerksgehilfen, Gesellen, Dienstboten, Tagelöhner und Frauen - , soll keine direkte Vertretung seiner Interessen erfahren. 143 Diese Unselbständigen sollen vielmehr fürsorglich von den anderen mitbedacht werden. Allerdings konnte Rothe unter dem Druck der Verhältnisse an diesen Gedanken nicht festhalten, - und auch damit erweist er sich als typischer Vertreter des Liberalismus im Bannkreis der Revolution von 1848: Er gibt theoretisch der Forderung der Masse nach, an der politischen Verantwortung beteiligt zu werden: „Auf die Reife auch der Massen für die politische Freiheit warten zu wollen, bevor man dem Volke einen selbstthätigen Anteil am Staatsleben gewährte, wäre widersinnig und vergeblich."144 Diese Äußerung geht über die Zielvorstellungen des frühen Liberalismus ansatzweise hinaus. Sie verrät Rothes Sorge angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung, die im Ausbruch der Revolution von 1848 kulminierte, wie auch eine gewisse Resignation.

2.4 Weltbund der

Verfassungsstaaten

Wenn Rothe vom Verfassungsstaat als der notwendigen Voraussetzung des Kommens des Reiches Gottes spricht, denkt er nicht allein an die Verfassungsentwicklung in den deutschen Kleinstaaten; er denkt vielmehr international, 142 DLPPEL, Wissenschaftsverständnis, 477-483. ROTHE, Ueber Kirchenverfassung (1861), 21 f: „Glauben Sie wirklich, verehrte Herren, daß das Wesen der Repräsentatiwerfassung darin besteht, daß die Staatsregierung durch eine ihr gegenüber und entgegenstehende Volksvertretung, welche sie mißtrauisch überwacht und controlirt, beschränkt wird? [...I]n Baden, zumal im gegenwärtigen Augenblick, sollte ich meinen, wüßten wir es schon aus der Erfahrung ganz anders." „Zusammenwirken" lautet das Zauberwort Rothes. Zu Person und Werk Welckers vgl. WALDENEGG. 143 Zu den der liberalen Position immanenten Problemen vgl. GALL, Liberalismus, 171175. Daß auch von Mohl noch in den fünfziger Jahren an der Konzeption des berufsständisch gegliederten Staates festhielt, beschreibt ders., ebd., 183 Anm.9. Vgl. a. NORDBLOM. 144

ROTHE, E 2 , B d . 5 , 3 0 3 f .

Teil Α: Richard Rothe

74

denn das Reich Gottes kann sich seinem Wesen nach nur weltumspannend realisieren. Alle einzelnen Kleinstaaten und Nationalstaaten müssen einen bestimmten Punkt der Verfassungsentwicklung erreichen (der in der Gegenwart allerdings noch weit entfernt ist), damit sie zum Reich Gottes werden können. Voraussetzung für das Hereinbrechen des Reiches Gottes ist, daß alle Völker durch die christliche Mission erreicht worden sind, weil das Christentum der Wurzelboden der Sittlichkeit ist, die sich im Verfassungsstaat realisiert. Im Reich Gottes, „der Gemeinde der Erlösten," sind nicht nur die „menschlichen Einzelwesen vollständig zusammengebracht," sondern auch die „National-Individualitäten," die sich aufgrund der unterschiedlichen Klimaverhältnisse auf der Erde herausgebildet haben. Deshalb kann es nur eine Vielheit von Staaten einzelner Völker geben.145 Rothe stellt sich als Endpunkt der irdischen Geschichtsentwicklung einen allgemeinen Organismus von Verfassungsstaaten vor, in dem sich „ein eigentliches Weltbürgerthum,"146 ein „Weltstaatenbund der Humanität"147 realisiert. Dabei werden die Unterschiede der einzelnen Völker nicht „ausgewischt,"148 sondern bleiben in versöhnter Vielfalt nebeneinander bestehen. Die Vielheit des Besonderen soll auch im letzten sittlichen Zustand der Menschheit gewahrt bleiben. Entsprechend ist der „vollendete Staat" kein „Universalstaat," sondern „eine Vielheit von Staaten, in welcher sich auf der Basis der natürlichen Volksunterschiede die Idee des Staats in dem ganzen Reichthum ihrer besondern Momente auslegt, aber eben hiermit auch organisch in sich selbst zurücknimmt, als ein lebendig einheitlicher Staatenorganismus."149 Dieser allgemeine Staatenorganismus soll gedacht werden „als wesentlich zugleich das schlechthin vollendete Reich Gottes, als die absolute Theokratie."150 Wenn Rothe den Begriff Theokratie, Herrschaft Gottes, für den endzeitlichen Zustand reserviert, so meint nicht, daß Gott wie ein absolutistischer Monarch über alle Nationen herrscht. Er stellt sich vielmehr eine Vielzahl von Nationalindividualitäten vor, in denen sich die „Menschwerdung Gottes"151 vollendet. Hier werden romantisch-organologische Vorstellungen vom Christus prolongatus zum Ausdruck gebracht, die unterstreichen, daß Rothes Begriff vom Reich Gottes nicht demjenigen einer autokratischen Herrschaft Gottes synonym ist. Gott regiert die Welt, indem er sie beseelt, so daß ein jedes Glied des Leibes 145

Ebd., Bd.2, §424, 422-431, bes. 424. Ähnlich ebd., Bd.3, §579, 183. Ebd., Bd.2, §444, 470. 147 Ebd., 471. 148 Ebd., 470. 149 Ders., Anfänge, §3, 17. Nach LANGEWIESCHE, Reich, 349, 353 u.ö., ist diese Position typisch für den Frühliberalismus. 150 ROTHE, E2, Bd.2, §450, 476. 151 Ebd. 146

2.4 Weltbund der Verfassungsstaaten

75

seine Funktion für das Ganze selbsttätig erfüllt. Diese Gedanken von der weltumspannenden sittlichen Gemeinschaft der Staaten in einem befriedeten Reich weisen auf die Rezeption KANTischer Motive. 152 Rothe kann die Idee vom Weltbund der Verfassungsstaaten am Ende der irdischen Geschichte auch in HEGELsche Terminologie kleiden. Der vollendete Staat ist demnach die allgemeinste Form, in der menschliches Leben sich vollzieht; dem Wesen des Staates angemessen ist es, „nicht sich in der Einheit Eines allgemeinen Staats zusammen zu fassen, sondern in einer allgemeinen Einheit der Staaten." 153 Rothe wehrt sich explizit gegen den Einwand, hier schildere er nur einen Traum. Seiner Meinung nach zeigt die gegenwärtige geschichtliche Entwicklung genau diese Tendenz: Die Staaten wachsen zusammen. 154 Häufig spricht Rothe auch von einem „Weltstaatenbund," wenn er die sich „langsam und sukzessive geschichtlich entwickelnde]" religiös-sittliche Universalgemeinschaft aller Menschen bezeichnet. 155 Er wird gebildet durch friedlich koexistierende Nationalstaaten, 156 die völlig gleichberechtigt und souverän nebeneinander stehen. 157 In dem Maße, in welchem der Staatenorganismus ein Bewußtsein seiner Allgemeinheit entwickelt, kann die Kirche zurücktreten, weil die Völker ihrer nun nicht mehr als des sie untereinander verknüpfenden Bandes bedürfen. 158 Das Wissen um die Zusammengehörigkeit der Menschen in einer einzigen Gemeinschaft, Katholizität, eignet nur solange allein dem in viele Kirchen zersplitterten Christentum 159 wie die „absolute Einheit eines schlechthin allgemeinen Staatenorganismus" noch nicht realisiert ist.160 Erst der vollendete Staat, die Einheit aller Nationalstaaten, ist „als sittlicher wesentlich ein schlechthin religiöser, und als solcher der Gottesstaat, das Gottesreich, die Theokratie im höchsten Sinne des Worts." 161 In ihm kann die Kirche „erl[ö]schen." 162 Es fällt näm152 Eine Untersuchung zur Rezeption von Kants Manifest Zum ewigen Frieden (1795) bei Theologen des 19. Jh. liegt nicht vor. Zur Verarbeitung Kants durch Rothe im allgemeinen vgl. HEESCH, 25-39, und HUBER, Frieden, 629f, zum Motiv des ewigen Friedens. 153 ROTHE, Anfänge, §3, 17. 154 Ders., E2, Bd.2, Anm.2 zu §444, 472f: Es „erscheint vom Standpunkte der gegebenen geschichtlichen Lage aus ein dereinstiger vollendeter christlicher Staatenorganismus ohne Vergleich weniger als eine Utopie als eine protestantische ,wahre Kirche der wiedergeborenen Menschheit', die nur ,Eine unter dem Einen Haupte Christo' sein würde." 155 Ebd., 471 Anm.l zu §444, in Anlehnung an Fichte. 156 Ders., Anfänge, §3, 18. Ebd., §8, 65: Die civitas Dei, der vollendete christliche Staat, ist „eine einheitlich organisirte Vielheit von Staaten, die eben mittelst der vollständigen Entfaltung und Realisirung aller ihrer besondern Momente sich in sich selbst zurücknimmt und ihre Einheit realisirt." 157 Ders., E2, Bd.2, §439, 465. 158 Ebd., §445, 473. Ebd., §440, 466. 159 Ebd., §299, 258. 160 Ebd., 257. 161 Ebd. 162 Ebd., 256f.

Teil Α: Richard Rothe

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lieh, wenn die menschliche Gemeinschaft als ein umfassender religiös-sittlicher Weltstaatenbund hergestellt ist, das Bedürfiiis nach einem solchen die Staaten verknüpfenden Band hinweg. Zum Verschwinden der Kirche „kann es jedoch schlechterdings nicht früher kommen als mit dem Abschluß der gesammten moralischen Entwickelung der Menschheit."163

2.5 Deutscher

Nationalstaat

Bis zum Gottesreich ist es noch ein weiter Weg. Vorerst muß der Staat der Deutschen zum nationalen Verfassungsstaat werden. Ein jeder Staat soll natürlicherweise so weit reichen, wie seine Bürger durch gemeinsame Sprache und Kultur geeint sind.164 Seit 1837 fordert Rothe, daß alle Menschen in Nationalstaaten leben. Nation ist ihm die „Volksgemeinschaft," die durch einen bestimmten Volkscharakter ausgezeichnet ist, der sich auch in der Verfassung des Staates ausprägt und zu respektieren ist.165 Als Nationalstaat kann eine „nationale moralische Gemeinschaft"166 dann bezeichnet werden, wenn sie drei Bedingungen erfüllt: Sie muß eine tatsächliche Gemeinschaft sein, eine Nation umfassen und sie muß moralisch, das heißt: sittlich und religiös, organisiert sein. Nach Rothes Meinung zeichnet sich die deutsche Gegenwart dadurch aus, daß das Bewußtsein vom Staat weiter entwickelt ist, als die Möglichkeit seiner Realisation.167 Als durch den Sieg Preußens über Österreich die deutsche Einheit in einem preußisch geprägten Nationalstaat als Zukunftsvision sichtbar wird, kritisiert Rothe diese Entwicklung in seiner Rede am 31. Oktober 1866 bei den Verhandlungen der Ersten badischen Kammer. Er habe „ein eigentliche[n] Bundesstaat mit Preußen an der Spitze" ersehnt, entstehen werde aber ein „Einheitsstaat." Rothe meint mit dieser Entgegensetzung, er habe einen Bund selbständiger Territorialstaaten, die ihren je eigenen Volkscharakter realisieren, in einem Bundesstaat erwartet, nicht aber die Nivellierung desselben durch preußischen Geist. Deshalb erscheine ihm „die nächste Zukunft Deutschlands" nicht „im Rosenroth, sondern als sehr ernst - [und] der preußische Bund zu-

163

Ebd. Ebd., §425,431. 165 Ders., Anfänge, §3, 16f. 166 Ders., E2, Bd.2, §435,457. 167 Der bürgerliche Nationalstaat des 19. Jh. war bis 1866/70 im Grunde eine „Gesinnungsgemeinschaft der Gebildeten." ZORN, Probleme, 98f. Man forderte einen deutschen Staatenbund, den man, wie es beispielsweise 1832 von Rotteck formulierte, „zur Bewahrung der Freiheit [für] geeigneter [hielt] als die ungeteilte Masse eines großen Reiches." Zit. nach LANGEWIESCHE, Reich, 353. 164

2.5 Deutscher Nationalstaat

77

nächst nicht als Hort politischer Freiheit." 168 Rothes Wunsch nach einem deutschen Nationalstaat ist also keineswegs so stark, daß er die Kritik an BISMARCKS militärischer Einigungspolitik zum Verstummen brächte. 169 Die „Bismarckerei und die Gewalttätigkeiten Preußens" will er nicht akzeptieren, und er weigert sich, sein „moralisches Urteil [...] unter die Jurisdiktion dessen [zu] stellen, was man Politik nennt." 170 Schon in einem früheren Brief, geschrieben aus dem preußischen Bonn an den ehemaligen Heidelberger Kollegen Friedrich Wilhelm Karl UMBREIT, denkt Rothe unter den Bedingungen der Reaktion darüber nach, was es für Folgen für Deutschland hätte, wenn die staatliche Einigung unter preußischer Federführung zustande käme. Das bedeutet nämlich seiner Meinung nach weniger die erstrebte Versöhnung des Verschiedenen als eine gewisse Gleichmacherei. Preußen fehle der Sinn für Deutschland. Deshalb könne in der Frage der nationalen Einigung nur von einem der süddeutschen Kleinstaaten Entscheidendes in die Wege geleitet werden. 171 Als Professor im preußischen Bonn denkt Rothe also noch wie ein typischer südwestdeutscher Liberaler. Aber nicht erst während des Prozesses der nationalstaatlichen Einigung Deutschlands, sondern auch schon vor der Revolution von 1848 konnte Rothe die Situation der Zersplitterung in zahlreiche Territorialstaaten positiv würdigen. Sie erscheint ihm nicht als Zufall, „sondern in letzter Beziehung [als] ein Werk der weltregierenden göttlichen Weisheit." 172 Zwar ist die Herstellung „einer organischen politischen Einheit Deutschlands, - einer reelleren als die, welche in dem deutschen Bunde gegeben ist, - einer Einheit, die zugleich eine Vereinigung der Völker, nicht bloß der Fürsten, ist"173 die große Aufgabe der Gegenwart. Selbst nach der Herstellung einer solchen wird Deutschland aber aufgrund seiner Geschichte im Vergleich mit den anderen europäischen Völkern, die schon längst zu ihrer politischen Einheit gefunden haben, niemals eine starke Einheit bilden können. Deshalb wird es immer „nach außen hin weniger Macht besitzen und einen geringeren Einfluß auf die europäische Gesammtpolitik ausüben" als andere europäische Staaten.174 Diese Vorstellung „mag für unsere Ei-

168 ROTHE, Voten 1866, 120b. Trotzdem stimmt er dem militärischen Schutz- und Trutzbündnis mit Preußen wegen der realpolitischen Notwendigkeiten zu, wendet sich aber gegen eine Aufnahme in den Nordbund. Nach LEPP, 298f, war das Leitungsgremium des Protestantenvereins zerstritten in der Frage, ob eine Einheit Deutschlands nur mit oder auch ohne Österreich zustande kommen solle. Tanner, in GRAF/TANNER, 191-193, irrt also mit der Behauptung, Rothe wolle „den Prozeß der Einigung der deutschen Partikularstaaten zu einem protestantisch-kleindeutschen Reich unter preußischer Führung" befordern. 169 Vgl. NIPPOLD, Rothe, Bd.2, 625. 170 ROTHE, Briefe, 30f. 171 NIPPOLD, Rothe, Bd.2, 332f. 172 ROTHE, E2,Bd.5, §1158,337. 173 Ebd., 337f. 174 Ebd., 338.

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telkeit demüthigend sein," entspricht aber der „eigenthümlichen Bestimmung des deutschen Volkes." 175 Einen starken deutschen Staat herzustellen, würde dem göttlichen Willen nicht entsprechen. So lasse schon die geographische Lage Deutschlands im Herzen Europas erkennen, daß dem Land eine besondere Bedeutung im göttlichen Weltplan zukomme, „das Geschäft der Blutbereitung. Nicht umsonst ist es so vielfach in sich selbst gespalten oder richtiger: differenzirt und eben damit organisirt, nicht umsonst ist es auch in religiös-konfessioneller Beziehung in den Gegensatz des Katholicismus und des Protestantismus in seiner ganzen Schärfe auseinander gegangen, und zwar so, daß beide Seiten desselben sich das Gleichgewicht halten, und keine von beiden die andere neutralisirt in ihrer vollen Wirksamkeit; es ist sichtlich durch seine geschichtliche Gestaltung in sich selbst hineingekehrt mit seiner Lebensbewegung, in die Tiefe und den Reichthum des Geistes, nicht in die äußere Sphäre der Weltpolitik."176 Die herausragende geschichtliche Tat, zu der Deutschland berufen war, bestand in der Reformation. Damit verbunden war ein Grad von Ausdifferenzierung in einzelne Staaten und Konfessionen, der seine Besonderheit im Vergleich mit den anderen europäischen Nationen begründet. Die weltgeschichtliche Aufgabe der deutschen Nation ist nun freilich nicht geringer zu veranschlagen als die irgend eines anderen Volkes, sondern eher höher. Denn Deutschland „soll die stille Werkstätte sein für die Durchbildung der sittlichen Ideen, welche die geschichtliche Entwicklung unserer europäischen Christenheit zu tragen haben. [...] Sollte es denn nicht für die sittliche Gesundheit unserer modernen Menschheit von der äußersten Wichtigkeit sein, daß neben der großen Mehrzahl von Nationen, welche für die äußere Seite des sittlichen Lebens geschäftig sind, auch Eine die innere Seite desselben versorge?"177 Deutschland soll nach Rothes Vision keine Militärmacht sein, wenn er auch Krieg im Verlauf der Geschichte für notwendig halten kann, damit die kleineren in größeren Staaten aufgehen können. 178 Wesentlich bleibt nämlich, daß die Nationalstaaten „sich liebevoll zu einem allgemeinen Völker- und Staatenbunde zusammenschließen, ...] welcher die höchste und letzte Entwickelung des Staates ist."179

115 m 177 178 179

Ebd. Ebd. Ebd. SCHAUMKELL, 125. ROTHE, E2, Bd.2, §512, 107. Vgl. zum Krieg bei Rothe a. unten Anm.275. Ebd., §511, 106.

2.6 Monarchisches Prinzip

79

2.6 Monarchisches Prinzip Rothe fordert die politische Gleichheit aller Bürger. Bürger sind aber für den Theologen ebenso wie für seine liberalen Politikerfreunde nur die politisch Befähigten beziehungsweise die Selbständigen' unter den Männern des Volkes. Allein sie dürfen sich als Staatsbürger artikulieren und ihre politischen Rechte ausüben. 180 Deshalb ist Rothe kein Vertreter der Idee eines egalitärdemokratischen Staates,181 und er ist allenfalls insofern als Vorläufer der modernen Demokratie anzusprechen, als der konstitutionelle Staat ohne Wahlrecht für den größten Teil der ihm Angehörigen als Vorläufer des modernen Staates überhaupt angesprochen werden kann. Demokratie ist für Rothe keine Staatsform; Staatsformen sind dagegen die Monarchie und die Republik: „Eine demokratische Staatsform gibt es gar nicht, sondern nur ein demokratisches Princip und einen demokratischen Charakter der Staatsverfassung." 182 Diese Bestimmung findet sich in dem von Rothe vor seinem Tod noch durchgearbeiteten zweiten Band der Theologischen Ethik. Die Behauptung, daß er mit zunehmendem Alter die Demokratie immer höher geschätzt habe, 183 ist also mißverständlich; er hat sich eine demokratische Staatsform schlechterdings nicht vorstellen können. Zwar spricht Rothe vom ,,edle[n] Wort,Demokratie', aus welchem die Parteien ein Gespenst gemacht haben, mit dem sie die politischen Kinder erfolgreich schrecken," 184 definiert aber das demokratische Prinzip im Rahmen einer Verfassung dahingehend, „daß an der Regierung des Staats alle einzelnen Staatsglieder einen verhältnißmäßigen persönlichen Antheil zu nehmen haben, und daß alles Regieren im Namen der Staatsgemeinschaft selbst, d.h. des zum Staat organisirten Volks, des DEMOS, selbst statthat."185

180

Ebd., Bd.5, §1157, 332f. Gegen BAUMOTTE, Begriff, 321; ders., Stahl, 173. Rothe hat den Begriff demokratisch/Demokratie nirgends in dem heutigen Sinne positiv gebraucht. Zur Entwicklung des historischen Verständnisses von Demokratie vgl. KOSELLECK, Demokratie-, MAIER, 861, 863f, 867; CONZE, Demokratie. 182 ROTHE, E2, Bd.2, §429 S.440. Rothe verwendet hier Kants in Zum ewigen Frieden (1795) vorgetragene Unterscheidung von Demokratie als forma imperii und Republik als forma regiminU. Kant steht damit in der Tradition von Piaton und Aristoteles, die eine Volksherrschaft als Herrschaft der armen und ungebildeten Menge über die Polis als Pöbelherrschaft disqualifiziert hatten. KOSELLECK, Demokratie, 847, 850f; TÖDT, Demokratie. Eine Mehrheitsdemokratie kann nach dieser Theorie immer in Tyrannei umschlagen; die beste Staatsverfassung bietet deshalb die Republik mit Repräsentativsystem. 181

183

HAUSRATH, B d . 2 , 4 2 8 .

184

ROTHE, E2, Bd.2, Anm. zu §429, 439. Ebd., 440.

185

Teil Α : Richard Rothe

80

Persönliche Anteilnahme am Staat nach dem Maß der Einsicht in die Bedürfnisse desselben ist für Rothe der Gegenbegriff zu Volkssouveränität. Deshalb kann er sich für eine Form der Demokratie aussprechen, in der „die Regierungs-Machtvollkommenheit der moralisch organisirten Gemeinschaft, dem DEMOS, zu[ge]theilt [ist], nicht dem wüsten bloßen Haufen der isolirten Einzelnen, dem OCHLOS."186 Im Staat soll die moralische Idee herrschen, nicht die partikulare Einsicht des Einzelnen. Die entsprechende Organisationsform nennt Rothe Republik. Sie ist dadurch ausgezeichnet, daß die Repräsentativorgane periodisch erneuert werden. Ihr Grundsatz lautet, daß die Macht nicht erblich ist.187 In Rothes Staat regieren also diejenigen Staatsbürger, denen das Wahlrecht zutraut, den DEMOS vertreten zu können. Sie sind der „wirklich politisch beseelte, de[r] von der nationalen politischen, d. i. moralischen Idee erfüllte und getriebene" Teil des Volks,188 der die in ihm vorhandene „nationale Intelligenz oder Vernunft" zur Sprache bringt.189 Rothe betont, daß auch der Bauer über diese Form der Selbständigkeit verfugen kann, nicht aber der Lohnarbeiter.190 Er denkt wie die Liberalen an eine klassenlose Gesellschaft gebildeter und selbständiger Bürger mit jeweils einem mittleren Einkommen; man sah dies Ideal als erreichbar an, weil die ökonomische Entwicklung nach der Auflösung der ständischen Sozial- und Wirtschaftsordnung und vor der Industrialisierung in diese Richtung zu tendieren schien.191 Obwohl nur „die politische Intelligenz der Nation" vertreten werden und die allerintelligentesten Bürger192 die Regierung bilden sollen, so betont Rothe doch eigens, daß auch diese „intelligenten Klassen"193 keineswegs entsprechend „dem alleinigen Gesichtspunkte ihres eigenen partikulären Interesses"194 handeln sol186

Ebd., 441. Ebd., 443. 188 Ebd., 448. 189 Ebd. Diejenige Verfassung, die diese „schlechthin durchgeführte Organisation des Volks" sichert, muß eine ,,demokratisch[e]" sein. Ebd., 439. 190 ROTHE, E2,Bd.5, §1152,310. 191 SiEMANN, 138f. 192 ROTHE, E2, Bd.5, §1153, 316: „Die Regierung muß in einem konstitutionellen Gemeinwesen allezeit an der Spitze der Intelligenz der Nation und der sittlichen Lebensbewegung in dieser stehen, und dazu muß sie die jedesmalige Blüte des tugendhaften Verstandes und der tugendhaften sittlichen Kraft des Volkes in sich koncentriren. Nimmt sie diese geistige Stellung ein, so ist ihr diejenige Superiorität über die Unterthanen vollständig gesichert, die allerdings unzweideutig in ihrem Begriff liegt und ihre Berufserfullung bedingt." 187

193

Ebd., §1164, 374. Ebd., §1152, 311. Vgl. zum Hintergrund BOBERACH, 6 2 - 7 7 . Die Konzeptionen von Mohls und von Rottecks beschreibt BERMBACH, 354-361. Nicht nur verbinden die Liberalen jener Zeit repräsentative mit monarchischen Elementen in der Konzeption einer idealen Staatsverfassung, sondern sie sind auch sämtlich insofern antidemokratisch eingestellt als sie ein Zensuswahlrecht bevorzugen. Das Bündnis zwischen Bürgertum und König soll Stabilität fur die ökonomische Modernisierung schaffen. 194

2.6 Monarchisches Prinzip

81

len. Sie haben immer eifrig für die Verbesserung des Staats zu arbeiten195 und dürfen nichts beabsichtigen als „den (nationalen) Staat und die Realisirung der seiner Idee am meisten entsprechenden Organisation des nationalen Gemeinwesens" herzustellen. 196 Dadurch soll man „allen gewaltsamen Krisen zuvorkommen]." 1 9 7 Die Regierung „kann nur beschliessen und ausführen, wovon sie weiss, dass es im sittlichen Bewusstsein des Volkes reinen Anklang findet."198 Ob Rothe sich die Regierung als von der Repräsentatiwersammlung gewählt vorstellt, oder ob er meint, der Regent solle sie aus den einzelnen in der Versammlung vorhandenen Parteien auswählen, und ob sie der Repräsentativversammlung gegenüber rechenschaftspflichtig sein soll, wird in der Theologischen Ethik nicht recht deutlich. Wahrscheinlich würde er die Auswahl durch den Regenten befürworten, denn dieser ist seiner Meinung nach frei genug zu erkennen, wer die Interessen der Allgemeinheit am besten im Blick hat. Rothe sieht nämlich das probate Gegenmittel gegen die nie auszuschließende Gefahr, daß statt allgemeiner partikulare Interessen verfolgt werden, in der „Stärke der fürstlichen Macht. Denn dem Fürsten ist es in seiner relativen Bedürfnißlosigkeit und von seinem Alles überschauenden Standpunkte aus am leichtesten, die Interessen aller einzelnen Stände richtig zu erkennen und unparteiisch im Auge zu behalten."199 Somit realisiert der Regent in besonderer Weise die Allgemeinheit jenseits allen Partikularinteresses. Als beste Staatsform gilt Rothe ein Präsidialsystem. Der auf Zeit gewählte Präsident steht über den verschiedenen Repräsentanten der Nation an der Spitze der öffentlichen Intelligenz. Er muß nicht - wie in der

195 ROTHE, E2, Bd.5, §1165, 380: Bürgergehorsam muß mit Verbesserungseifer Hand in Hand gehen: „Der Verbesserung bedarf nämlich der Staat immer, in demselben Verhältniß, in welchem die Entwickelung der Sittlichkeit im Volke vorschreitet, und wie kein Staat sich selbst für unverbesserlich halten darf, so darf auch kein Bürger die jedesmal gegebene Gestalt seines Staatslebens als der Verbesserung entweder nicht bedürftig oder nicht fähig betrachten. Jeder Staat muß daher auf sich stets fortsetzende Vervollkommnung eingerichtet sein. Es müssen in seiner Verfassung ausdrücklich Formen vorgesehen sein für eine gesetzmäßige Verbesserung seiner Einrichtungen, und nur innerhalb dieser von ihr selbst vorgezeichneten Wege darf der Bürger an der Staatsverbesserung arbeiten." Ebd., 381: „Der Fortschritt muß in der Weise einer stetigen geschichtlichen Fortentwickelung des gegebenen Bestandes des Staates angestrebt werden." 196

ROTHE, E 2 , Bd.5, § 1152, 309.

197

Ebd., §1164, 375. Ders.,E2, Bd.5, §1153,315. Ebd., 312.

198 199

Teil Α: Richard Rothe

82

ersten Auflage der Theologischen Ethik noch gefordert - von Adel sein. Rothe spricht sich statt fur die Geburtsehre für die Amtsehre aus.200 Wenn W A G N E R Rothe vorwirft, er sei kein liberaler Theologe gewesen, dann ist ihm sicher aus heutiger Sicht zuzustimmen. Es ist aber gegen ihn einzuwenden, daß sein Liberalismusbegriff unhistorisch ist.201 Wie andere gemäßigte Liberale ist Rothe ein entschiedener Gegner der Volkssouveränität. Die von ihm intendierte Herrschaftsform wird am besten als gemäßigt liberaldemokratische im historischen Sinne oder als Oligarchie bezeichnet.202 Die Herrschaft der Edlen soll verwirklicht werden in einem Staat, der grundsätzlich Rechtsgleichheit aller Bürger garantiert, dabei aber die Rechte an die sittliche Qualität der Staatsbürger bindet. Rechtsgleichheit heißt für die Liberalen, daß alle dasselbe Recht zum Erwerb von Eigentum haben, was „eine mannigfaltige Ungleichheit an erworbenen Rechten" hervorbringt.203

3. Gesellschaft Rothe hat sich immer für Eintracht zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft ausgesprochen. Sie sollte dadurch hergestellt werden, daß zwischen Regierenden und Regierten kein Dissens besteht. Der von ihm vorzugsweise verwendete Begriff Gemeinschaft bringt eben dieses zum Ausdruck. Er warb dafür, daß die Fürsten das Sehnen ihrer Völker erfüllen. Daß in der Gegenwart dem Staat noch eine von ihm getrennte Gesellschaft mit vielfältig widerstreitenden Interessen gegenübersteht, hält Rothe für einen Mißstand, der durch die zunehmende Versittlichung der Staatsbürger und durch die Herausbildung eines immer vollkommeneren Staates im Lauf der Geschichte beseitigt werden würde. Nach institutionalisierten Lösungsmöglichkeiten für Interessenkollisionen zwischen der Regierung, den Staatsbürgern und anderen gesellschaftlichen Gruppen suchte Rothe nicht. Parteiwesen und Parteien waren ihm ein Greuel.204

200

Vgl. die Nennung der einschlägigen Stellen in der Einleitung von Holtzmann zu ROTHE, E2, Bd.4, IXf. Die Aufhebung deT Standesvorrechte des Adels war in der badischen Verfassung seit dem Anfang des 19. Jh. festgeschrieben. DANN, 169. 201 Vgl. oben Anm.9f. 202

MAIER, 54.

203

So von Rotteck nach DANN, 187. Zur Kritik der Idee der Gleichheit als formalabstraktem Prinzip durch Hegel vgl. ebd., 181. Zum Gleichheitsbegriff des Liberalismus vgl. ebd., 183-188. Ebd., 185: „Das Bekenntnis des deutschen Liberalismus zum vemunftrechtlichen Gleichheitsprinzip wandelte sich demnach in eine entschiedene Abwehrhaltung, wenn es um dessen Anwendung auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ging." 204

ROTHE, E2, Bd.5, §1014f, 232f.

3.1 Die revolutionäre Masse

83

3.1 Die revolutionäre Masse Im Staat soll es keine Kollision der Interessen der Einzelnen und der Gemeinschaft geben, insofern ein jeder sich zum „Werkzeug des Ganzen" macht. 205 Das ganze Sein eines Jeden „muß schlechthin auf den Zweck des Ganzen bezogen, sein eigener besonderer Zweck schlechthin in diesen aufgenommen sein, so daß er durch ihn schlechthin bestimmt wird und seine Berechtigung erhält. Ebenso bestimmt ist aber auch nach der anderen Seite hin zu fordern, daß durch diese einheitliche Zusammenfassung der vielen Einzelnen als Theile zu einem untheilbaren Ganzen ihre wirkliche Vielheit als individuell differente nicht aufgehoben werde (indem die Einzelnen zu Heloten herabgesetzt werden), und daß kein Einzelner eine Aufhebung seines individuellen Seins erleide, oder auch nur eine Störung und (wirkliche) Beschränkung desselben. Auch als Theil des Ganzen darf der Einzelne nicht aufhören, unbedingt Selbstzweck zu sein; denn er ist Person, und seine Personalität darf Keiner weggeben. Durch die unbedingte Unterordnung seines eigenen individuellen Zwecks unter den universellen Zweck des Ganzen darf jener in keiner Weise gefährdet oder beeinträchtigt werden; sondern die Unterordnung jenes unter diesen muß (wie wir es vorhin genannt haben) schlechthinnige Aufnahme oder Einord• · .· • «206 nung von jenem m diesen sein. Diese Verschmelzung der Individuen zu einem einzigen Gesamtwillen kennzeichnet ein politisch beseeltes Volk. In der Gegenwart ist der größte Teil der deutschen Bevölkerung noch Partikularinteressen verhaftet. 207 Deshalb spricht Rothe der ,,allerzahlreichste[n] Klasse" 208 der Bevölkerung die staatsbür205

Ebd., Bd.2, §273, 205f, §428, 436. Ebd., §273, 205. 207 Ebd., §274, 210. 208 Ebd., Bd.5, §1149, 293f. HEIN, 22; NlPPERDEY, Geschichte, 347, 609. Rothe fuhrt nicht genau aus, wen er zu dieser ,Klasse' zählt. Nimmt man das badische Wahlrecht für die Wahlen zur Zweiten badischen Kammer, die 1819 eingerichtet worden war, zum Anhaltspunkt, dann waren im Vormärz alle diejenigen, die kein Ortsbürgerrecht besaßen, - also alle unselbständig beschäftigten Männer, alle Männer ohne Grundbesitz oder mit geringem Einkommen - vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschossen. Etwa 15-17 Prozent aller Einwohner blieben übrig; sie können in Rothes Sinne als Bürger angesehen werden. Voraussetzung für das passive Wahlrecht war ein Alter von mindestens 30 Jahren, ein Steuerkapital von 10.000 fl., feste Einkünfte in Höhe von 1500 fl. oder eine Beamtenstelle. Die Zahl der potentiell zu Abgeordneten wählbaren badischen Staatsbürger betrug schätzungsweise 6500 Personen. Die Wahl war weder direkt noch geheim. Dennoch erfreute die Zweite Kammer sich großer Akzeptanz in der Bevölkerung. Bei den Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung 1848 durften alle selbständigen Männer wählen; das waren mindestens 75 Prozent der deutschen Männer. Dieses Wahlrecht wurde bald wieder aufgehoben und erst 1871 endgültig in Deutschland eingeführt; allerdings noch mit öffentlicher Stimmabgabe, so daß die Honoratioren begünstigt waren. 206

84

Teil Α: Richard Rothe

gerlichen Rechte ab. Für diese Klasse zu sorgen, legt er den Regierenden besonders ans Herz: „Der Staat darf keine Klasse seiner Bürger aus seiner Obhut lassen, und sie der Willkür einer anderen Klasse, die sie in eine faktische Sklaverei versetzt, preisgeben, am allerwenigsten die allerzahlreichste Klasse seiner Bürger." 209 So werden die dieser Masse zuzurechnenden Deutschen Objekte staatlichen Paternalismus. 210 Der Staat muß besonders darauf sehen, daß die Armen nicht derart dürftig vegetieren müssen, daß sie zum „Pöbel" degenerieren, der durch die „Entwürdigung der Gesinnung" gekennzeichnet ist.211 „Schon im Interesse seiner Selbsterhaltung muß der Staat diese Forderung an sich stellen. Denn nichts kann bedrohlicher für ihn sein, als ein solcher hungernder Pöbel in Masse, zumal nachdem in ihm das Bewußtsein um seine unzweifelhaften Rechtsansprüche in der angegebenen Beziehung kräftig erwacht ist [...]. Der Staat sühnt aber auch damit nur eine alte schwere Schuld. Denn das Proletariat, dieser demoralisirende Zustand, in den die unterste Schicht unserer Bevölkerungen hinabgesunken ist, ist nicht ohne große Verschuldung der übrigen Stände der Gesellschaft entstanden, in Folge der langen Vernachlässigung jener Unglücklichen in Ansehung ihrer materiellen und ihrer sittlich-geistigen Bedürfnisse." 2 Deshalb ist es nach Rothe wichtig, daß die „intelligente Klasse des Volkes" 213 durch geeignete staatliche Maßnahmen ständig verbreitert wird. Im Laufe der Herausbildung des Staates verschwinden solche nicht „regierungsfähigen und überwiegend regierungsbedürftigen Individuen." 214 Die Massen werden , j e länger desto mündiger." 215 Dieses Zutrauen in den Gang der Staatsentwicklung äußert Rothe knapp zwanzig Jahre nach der Revolution von 1848, die er als herausgehobener Beamter des Landes: er war Prorektor der Heidelberger Universität - Rektor war der Großherzog L E O P O L D - erlebte.216 Bekanntlich war gerade das schon im Vormärz stark vom Liberalismus geprägte Baden eines der Zentren der Revolution; bemerkenswert viele Geistliche betätigten sich politisch. 217 In einem Brief an 209 ROTHE, E2, Bd.5, §1152, 308. HÜTTER, 53, spricht wegen solcher paternalistischfürsorglichen Äußerungen Rothes davon, er habe einen Sozialstaat präferiert. 210 Vgl. a. ROTHE, E2, Bd.5, §1149,294f. 2.1 Ebd. 2.2 Ebd. 213 Ebd., §1164,374. 214 Ebd., Bd.2, §274,210. 215 Ebd., Bd.4, §1018,245. 216 Schilderung des Prorektorats Rothes bei SCHENKEL, Rothe, XXXVIf. NLPPOLD, Rothe, Bd.2, 241-269. Eine detaillierte Schilderung der Ereignisse mit ausführlicher Zitation der Senatsprotokolle findet sich bei THIELBEER, 45-60. Vgl. a. Akten des Engeren Senats: Universitätsarchiv Heidelberg RA 818, 185-245. 2,7 Vgl. zur Stimmung bei den Geistlichen in Heidelberg und Umgebung sowie zur Politik des Oberkirchenrates LLERMANN, Baden, 533-536. Infolge des Hecker-Putsches, in der zweiten Maihälfte und im Juni 1848, wurden regierungsfreundliche Geistliche in Heidelberg

3.1 Die revolutionäre M a s s e

85

seinen Schwager Heinrich Leonhard HEUBNER vom 4. August, also kurz nach dem Ende des unruhigen Sommersemesters des Revolutionsjahres, schreibt Rothe, daß er in den vergangenen Wochen seine Aufgabe vor allem darin gesehen habe, „in aller Ruhe dem läppischen, kindischen Selbstgefühl entgegenzutreten," mit dem die Studenten die „Zügel der Weltleitung" in die Hand zu nehmen versuchten. 218 Der „lächerliche Uebermuth unserer Jugend, die an der Spitze der Zeit zu stehen träumt," sei kaum erträglich gewesen. ,,[D]as Verlangen, daß der Anarchie kräftig gesteuert werde," 219 sei bei allen Verständigen vorherrschend. Die Revolutionäre seien leichtsinnig und vermessen, insofern sie ein „Luftschloß" zu errichten versuchten, unwissend, daß nur das Haus Bestand hat, welches Gott baut. 220 Die Aktivitäten der Studenten, die Rothe zu so heftigen Worten Anlaß gaben, beschränkten sich im Grunde darauf, einen studentischen Verein zu gründen. Dieser Demokratische Verein 221 hatte am 7. Juli einen Anschlag am Schwarzen Brett der Universität angebracht, in dem er die Verbesserung der Lage der „untern und unterdrückten Stände der Gesellschaft" 222 forderte. Der Universitätsamtmann beschlagnahmte den Aushang. Am 8. Juli teilte der Engere Senat der Universität dem Ministerium mit, daß er das Einschreiten gegen diese Gruppe für bedenklich erachte, weil das Assoziationsrecht bewilligt sei.223 Der Kurator dagegen erläuterte seine Rechtsauffassung dahingehend, daß der Demokratische Verein die Republik fordere, die Frankfurter Nationalversammlung dagegen nur die konstitutionelle Monarchie verwirklichen wolle. Deshalb seien die Forderungen des Demokratischen Vereins als Aufruf zu Aufruhr, Hochverrat und Bürgerkrieg zu beurteilen. Entsprechend heißt es in einem Erlaß des Innenministeriums vom 11. Juli, der am 14. Juli vom Senat publiziert wurde, der Demokratische Verein sei „auf die Untergrabung der öffentlichen Staatsordnung gerichtet," bringe „die Studenten bei der Unerfahrenheit im politischen Leben auf Abwege" und gefährde „das allgemeine Wohl." 224 So wurde die Auflösung des Vereins verfügt. Dessen Mitglieder, inzwischen 40 Studenten, hielten sich gegenüber anderen Vereinen der Bürger für benachteiligt, und for-

in so großer Zahl verhaftet und im Gefängnis Am Faulen Pelz inhaftiert, daß dieses im Volksmund ,das neue Heidelberger Pfarrhaus' genannt wurde. RÜCKLEBEN, 76f. Vgl. a. DANNENMANN, Einfluß; dies., Landeskirche; NlPPERDEY, Geschichte, 596. Von Rothe sind keine Äußerungen zu diesen Vorkommnissen bekannt. 2.8

NIPPOLD, Rothe,

B d . 2 , 244.

2.9

Ebd., 245. 220 Ebd. 221 Ihm gehörten zu diesem Zeitpunkt 28 der 584 im Sommersemester 1848 immatrikulierten Studenten an. Aufgrund der revolutionären Wirren hatte sich die Zahl der Immatrikulierten von 8 2 8 im Wintersemester 1 8 4 7 / 4 8 auf 5 8 4 im folgenden Sommersemester verringert. THIELBEER, 5 5 . 222 223 224

Zit. nach ebd., 50. Ebd., 51. Zit. nach ebd., 52.

Teil Α: Richard Rothe

86

derten, daß auch für sie die Assoziationsfreiheit gelten müsse. So kam es einerseits zur Solidarisierung der Majorität der Studenten, die sich in ihrer Bürgerehre gekränkt fühlten, mit dem Demokratischen Verein, andererseits zur Solidarisierung des akademischen Senats mit dem Ministerium.225 Am Morgen des 17. Juli verließen 364 Studenten die Universitätsstadt; nur 120 blieben in Heidelberg.226 Nachdem der Staat alle demokratischen Bürgervereine verboten hatte, kehrten die Studenten am 27. Juli nach Heidelberg zurück.227 Schuld an den Begebenheiten des Sommersemesters war nach Rothe nicht nur die Starrköpfigkeit der alten Aristokratie, sondern auch ein Teil der akademischen Lehrerschaft, der die Jugend ermuntert hat, „den ihr zukommenden Standpunkt, den der Vorbildung für die künftige Wirksamkeit im Staate, voreilig zu verlassen, und sich schon mithandelnd in das öffentliche Leben einzumischen, in dem sie doch noch keine organische Stelle einnimmt und mithin noch keinen Beruf hat."228 Rothe erwartet von den Studenten dasselbe wie von den Angehörigen der Masse: Sie sollen sich erziehen lassen. Keineswegs haben sie in ihrer Unselbständigkeit das Recht auf Assoziation zu politischen Zwecken; sie sind ebensowenig Bürger wie Tagelöhner und Handwerksgesellen. In seiner Rektoratsrede am dies academicus, dem 22. November 1848, führt der Prorektor aus, daß ,,[a]llein die blinde und rohe Gewalt der noch nicht sittlich beseelten Massen die eben als solche regiert werden müssen, nicht aber zu regieren haben, [...] nimmermehr einen wirklichen Staat begründen" kann.229 Entsprechend hält er die Abhaltung von Volksversammlungen für ein „Unwesen."230 Wie andere Liberale verabscheut er die demokratischen Kräfte, die sich 1848 artikulieren. „Eben weil unser Volk ein edles und intelligentes ist, wird es eine Zwingherrschaft des Unverstands und der Gemeinheit über sich nimmermehr dulden. Es ist zwar eine tiefe Schmach für uns, daß auch die verworfenste Richtung unsers Zeitgeists

225 Zit. nach ebd., 53. Verschärfend hatte gewirkt, daß ein vor den Senat vorgeladener Student am 15. Juli den badischen Staat als ,Polizeistaat' verunglimpft hatte. Rothe ließ von Mohl über Mittermaier über die Heidelberger Vorgänge informieren und berichtete ihm auch selbst brieflich davon. Demnach fingen schon am 20. Juli die Auditorien „wieder an sich zu füllen." UB Tübingen: Rothe an von Mohl am 20. Juli 1848. 226

THIELBEER, 53.

227

Das Selbstbewußtsein der Studenten war keineswegs gebrochen: Am 8. August forderten sie die Berufung Ludwig Feuerbachs auf den frei gewordenen philosophischen Lehrstuhl. Das Justizministerium lehnte dessen Berufung ab, denn es sei bei der „ohnehin aufgeregten Jugend" „eine Brut der Verwilderung in dem Gedankengange" zu befürchten. Zit. nach ebd., 58. Feuerbach las im Wintersemester auf Einladung der Studenten im Bürgerausschußsaal im Heidelberger Rathaus: die berühmt gewordenen Vorlesungen über das Wesen der Religion. THES; SALAQUARDA, 4 1 - 7 0 , 1 4 5 . 228 229 230

ROTHE, Über Aussichten, 10. Ausz. bei NlPPOLD, Rothe, Bd.2, 252-261. ROTHE, Über Aussichten, 11. NlPPOLD, Rothe, Bd.2, 247.

3.2 Verfassungspatriotismus

87

sich in ihrer ganzen Nacktheit vor unsern Augen enthüllen durfte; aber durch diese Enthüllung ist ihrer Macht die Spitze abgebrochen."231 Zuversichtlich ist Rothe, daß die Regierungen nach der Revolution gelernt haben, wie bedrohlich eine von den „unintelligenten Volksklassen" getragene Revolution ist und sich deshalb zukünftig für die Versittlichung der Staatsbürger einsetzen werden, weil „mit der Zunahme der Entwickelung der Intelligenz in einem Volke die Möglichkeit der eigentlichen Revolutionen [abnimmt]."232

3.2

Verfassungspatriotismus

In der zweiten Hälfte des 19. Jh. bildete sich zunehmend ein aggressiver Nationalismus heraus. Rothe erlebte ihn nur in Ansätzen mit. Obwohl er den nationalen Staat für ein „unbedingtes moralisches Gut" hält, kritisiert er von seiner Idee eines weltumspannenden Reiches Gottes her, in dem alle nationalen Partikularzwecke dem Interesse des menschlichen Geschlechts subordiniert sind, den Versuch, der deutschen Bevölkerung ein Nationalgefühl „gewaltsam ankünsteln" zu wollen.233 Auch wenn er feststellt, daß das deutsche Nationalbewußtsein „nur erst sehr dürftig entwickelt und noch gar schwächlich" ist,234 so ruft er doch nicht zu dessen Förderung auf, sondern erläutert, daß seine angebliche Schwäche in Wahrheit seine spezifische Stärke ist. Zwar besteht der göttliche Beruf der Nation in der Herausbildung eines je eigenen Nationalcharakters,235 und „kräftiges" Nationalbewußtsein bei den Staatsbürgern herauszubilden beziehungsweise zu beleben, „ist eine der wesentlichen politischen Aufgaben" 236 des Staates; aber die Herstellung eines solchen Nationalbewußtseins ist durchaus schwierig, weil das Nationalgefühl, wenn es zu stark wird, leicht in ein unsittliches Verhältnis zur Nation, „in Nationalstolz und blinden Nationalfanatismus ausartet."237 Rothe konstatiert deshalb, daß es „außerordentlich schwer für ein 231

ROTHE, Über Aussichten, 11. Ders., E2, Bd.5, §1164, 375. 233 Ders., E2, Bd.2, §426, 433 und ebd., Bd.5, §1158, 337. 234 Ebd., Bd.5, § 1 1 5 8 , 3 3 7 . 235 Ebd., 336. 236 Ebd., mit Hinweis auf Harleß. 237 Ebd., 340: ,,[D]ie Wahrung und die Pflege der Volksthümlichkeit [muß] zugleich allen Nationalegoismus, namentlich auch schon allen Nationalstolz und alle Nationaleitelkeit, von sich fern halte[n], und wesentlich verbunden sei[n] mit der ausdrücklichen und rückhaltslosen Unterordnung des einzelnen besonderen Volksthumes und seiner Interessen unter die allgemeine Idee und den allgemeinen Zweck der Menschheit als solcher, - daß der einzelne Staat, indem er sich in seiner eigenthümlichen Nationalität erfaßt, zugleich sich und seine nationalen Zwecke aufrichtig der Totalität des menschlichen Geschlechtes und ihrem Interesse subordinire." 232

Teil Α: Richard Rothe

88

Volk" 238 ist, seinen Charakter angemessen zu erkennen; „denn es mischt sich dabei sogleich seine Eitelkeit mit ein, und macht ihm Illusionen, die sich für den Unbetheiligten oft lächerlich genug ausnehmen." 239 Hiernach muß er eher unter die Kritiker des aufkommenden Nationalismus als unter dessen Förderer gerechnet werden. Zentral ist für ihn die Einsicht, daß jede Nation „ihre eigenthümlichen Vollkommenheiten" 240 nur dadurch hat, daß sie zugleich in anderer Hinsicht beschränkt ist. Der dem sittlich zweifelhaften Begriff des Nationalismus entgegengesetzte Begriff lautet bei Rothe Patriotismus. Damit bezeichnet er die „Pflicht der unbedingten Hingebung an den Staat."241 Diese Selbsthingabe an den Staat „ist der eigentliche Patriotismus." 242 Er wird näher charakterisiert als „Liebe zur Verfassung" des konstitutionellen Staates.243

3.3 Verfassungsbruch Gehorsam ist die erste staatsbürgerliche Pflicht des Christen - das fordert Rothe wie alle anderen Lutheraner: Gehorsam ist „die Conditio sine qua non des Gedeihens des Staats." 244 Gehorchen kann nämlich nur, wer von der Person absieht, und eben die Trennung von Amt und Person lehrt das Christentum. Aber die Christen wissen nach Rothe auch, daß es eine Grenze des Gehorsams geben muß: „Es ist auch die Gefahr da, daß zu viel gehorcht werde. Weil die Diener des Staats sündige Menschen sind, können sie gebieten auch so, daß aus ihnen nicht das Gesetz gebietet, sondern ihr besonderes selbstsüchtiges Interesse. Wenn auch solchem Gebot gehorcht wird von den Bürgern, so ist das der Untergang des Staats (der eben darin sein Leben hat, daß die particularen Interessen keine Macht haben gegen das allgemeine). Der Staat braucht also auch Bürger, die nicht zuviel gehorchen, sondern Act 5,29 zu sagen und zu thun wissen."2 238

Ebd, 336. Ebd. 240 Ebd., 337. 241 Ebd., §1166,392. 242 Ebd. 243 Ebd. 244 Ders., Entwürfe Briefe Pauli, 349. 245 Ebd. DÖRRIES, Gottesgehorsam, bietet eine Entwicklungsgeschichte der Auslegung von Act 5,29 von Luther bis ins 20. Jh. Er stellt fest, daß die Forderung, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen für die protestantische Theologie des 19. Jh. eher bedeutungslos war. Dabei weist er, ebd., 185, als Ausnahme auf die Verwendung der clausula Petri bei ROTHE, E2, Bd.4, §981, 162, hin, wo sie unter der Pflicht zur Selbsterziehung zu tugendhafter Frömmigkeit behandelt und gefordert wird, die Folgen solchen Ungehorsams „in ehrerbietigem lei239

3.3 Verfassungsbruch

89

Dies ist eine der wenigen Stellen in Rothes Veröffentlichungen, an der ein Schriftwort uneingeschränkt auf die Gegenwart übertragen wird. Gott mehr zu gehorchen als den Menschen ist deshalb notwendig, weil der endzeitliche Zustand noch nicht erreicht ist. So kann der Gehorsam „nur relativ" sein.246 Rothe legitimiert Widerstand gegen die Staatsgewalt bei Verfassungsbruch seitens der Obrigkeit und, wenn dadurch eine Verfassungsverbesserung erreicht werden soll. Zentraler Punkt für seine Diskussion der Frage des Widerstands ist also die Verfassung. Einerseits ist die vorhandene Verfassung die mit göttlicher Autorität ausgezeichnete Norm für Monarch, Regierung, Parlament und Bürger, andererseits muß sie ständig verbessert werden. Überdies schreibt die Verfassung vor, wie der Widerstand erfolgen muß: Er sollte von der Volksvertretung ausgehen, muß aber zumindest immer in der Volksvertretung enden. Widerstand artikuliert sich in Petitionen an den Regenten. Falls der Widerspruch nicht zur Zurücknahme der obrigkeitlichen Maßnahme fuhrt, müssen die Petitionisten alle Folgen ihrer Gehorsamsverweigerung widerstandslos tragen: „Jede Auflehnung des Einzelnen als solchen gegen die Obrigkeit als solche, d.h. jede Empörung (oder Rebellion) ist sonach freilich unbedingt sittlich verwerflich." 247 Weil die Obrigkeit die „sich unbedingt durchsetzende Macht der Gemeinschaft selbst ist," darf das Individuum sich unverfassungsmäßigen Widerstand gegen sie, „so ungerecht auch ihr Verfahren gegen ihn sein möchte, schlechterdings nicht erlauben." 248 Der einzelne Bürger hat kein Recht, sich gegen ungerechtfertigte staatliche „Zumuthungen" zu empören. 249 Akte anarchischen Bürgerungehorsams nennt Rothe „Aufruhr" oder „Rebellion" beziehungsweise „Empörung." 250 Hiergegen hat die Obrigkeit mit allen ihr zur Verfugung stehenden Mitteln einzuschreiten. Wenn aber die Regierung sich mit ihren Gesetzen gegen die Verfassung „auflehnen" sollte,251 stehen die Staatsbürger in der Pflicht zum Ungehorsam,

dendem Gehorsam willig über sich ergehen zu lassen." Tatsächlich interessiert sich Rothe nicht für die Auslegung biblischer Sätze, so daß es umso bemerkenswerter ist, daß er diesen wie einen Merksatz anfuhrt. Damit steht er einer deutlichen Traditionslinie zu Luther. 246 Ebd., Bd.5, §1164, 363. Ebd., 366: Rothe weist zustimmend hin auf Stahl, der den Widerstand erlaubt, wenn die Obrigkeit wider Gottes Gebot oder „das allgemeine Gefühl von Recht und Ehre" handelt. Letzteres legt Rothe in seinem Sinne aus. 247 Ebd. 248 Ebd., 367. Ferner ebd., Bd.3, §509, 84-96. 249 Ebd., Bd.5, §1164, 367. 250 Ebd., 366; vgl. a. ebd., 372 (Definition des Unterschieds von Aufruhr und Revolution). Diese Unterscheidung hat Rothe nach DELIUS, 28, von Friedrich Christoph von Ammon aus dessen Handbuch der christlichen Sittenlehre (1832) übernommen. Zu Person und Werk vgl. SCHMIDT, Ammon. 251 ROTHE, E2, Bd.5, §1164,365.

Teil Α: Richard Rothe

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denn ein Staatsstreich ist die Verletzung des höchsten Gutes im Staate: der Verfassung.252 Sie ist für Rothe, und das unterscheidet seine Konzeption von derjenigen konservativer Lutheraner, Teil der göttlichen Rechtsordnung. Sofern die obrigkeitliche „Auflehnung wider die Verfassung und folglich wider den Staat selbst von Bestand ist, muß er [jeder Staatsbürger, ADD] pflichtmäßigerweise noch einen Schritt weiter gehen, und ihr auch die Anerkennung als Obrigkeit entziehen; denn sie ist Obrigkeit eben nur dadurch, daß sie Trägerin der Verfassung ist und sich dieser als Organ hingibt."253 Wenn der Verfassungsbruch von der Obrigkeit bewußt intendiert ist und unzweifelhaft feststeht, wenn er zudem entsprechend auch in der öffentlichen Meinung bekannt ist, dann hat der Staat sich faktisch selbst aufgelöst und das Volk seinerseits die Aufgabe, einen verfassungs- und gesetzmäßigen Zustand möglichst bald wieder herzustellen.254 Sofern die Obrigkeit sich nicht argumentativ überzeugen läßt und gütlich die alte Ordnung nicht wieder annimmt, muß entweder ein auswärtiger Staat oder das Volk die Obrigkeit stürzen. Gegen eine solche verfassungsbrüchige Obrigkeit, die de iure gar nicht mehr Obrigkeit ist, braucht das Volk keine äußere Gewalt anzuwenden. „Denn indem es in diesem Falle die Obrigkeit einmüthig nicht mehr als solche anerkennt, steht auch in ihm der Gehorsam gegen dieselbe auf vollkommen allgemeine Weise schlechthin still, und diese ist unmittelbar ohne irgend eine Gewaltthätigkeit faktisch in ihren Funktionen sistirt und ihres Amtes entsetzt. Seine Berechtigung [die Berechtigung des Volkes, ADD] dazu steht nicht zu bezweifein."255 Möglichst bald soll eine neue, nun aber verfassungstreue höchste Obrigkeit eingesetzt werden.256 Zumeist wird ein derartiger Grad von Einmütigkeit innerhalb eines Volkes in der Bewertung eines obrigkeitlichen Verfassungsbruches nicht vorhanden sein. Dann bleibt

252

Ebd., 367. Ebd., 368. 254 Ebd. 255 Ebd., 369. 256 Ebd. Vgl. a., 370: Nach ihrer Absetzung können die Vertreter der alten Obrigkeit nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Der Grund dafür ist darin zu sehen, daß es keinen menschlichen Gerichtshof über beiden Parteien gibt. Hier zeigt sich eine gewisse Inkonsistenz des gedanklichen Ansatzes. Insofern einerseits Volk und Regierung an die Verfassung gleichermaßen gebunden sind, ist die Verfassung die höchste Autorität im Staate. Da aber Rothe die Verfassung als in geschichtlicher Entwicklung begriffen denkt, kann sie nicht überzeitliche Norm sein. 253

3.3 Verfassungsbruch

91

„kein anderer Weg der Entscheidung übrig als der des Kampfes mit äußerer Gewalt. Es ist dann ein Bürgerkrieg unvermeidlich, in dem ein Theil des Volkes auf die Seite der bisherigen höchsten Obrigkeit tritt, und zusammen mit ihr den anderen Theil durch Gewalt zur fortdauernden Anerkennung derselben zu nöthigen sucht. Dieß ist unstreitig eine höchst beklagenswerthe Kalamität, allein sie kann in diesem Falle nicht umgangen werden. Nur darf in diesem Kampfe natürlich nie ein an sich sittlich verwerfliches Mittel angewendet werden, wie etwa der im Alterthum so hochgepriesene und auch noch wieder von Mariana für rechtmäßig erklärte Tyrannenmord. Von dem Ausgange des inneren Krieges hängt es dann ab, ob die bisherige höchste Obrigkeit sich behauptet oder weichen muß."257 Tyrannenmord ist sittlich unbedingt verwerflich, weil ein Einzelner beansprucht, im Namen des Volkes zu handeln. Während aber der konservative Protestantismus betont, daß dem Tyrannen gegenüber nur die passive Waffe des freimütigen Wortes und des Gebetes erlaubt ist, weil die Grundhaltung des Christen im Leiden besteht, kennt Rothe eine auch für Christen akzeptable Möglichkeit, sich einer verfassungsbrüchigen Obrigkeit zu entledigen: den Bürgerkrieg, der dazu dient, die verfassungsmäßige Ordnung wieder herzustellen. Beteiligung an einem Bürgerkrieg kann also eine sittlich legitime Form des Widerstands gegen verfassungsbrüchige Staatsorgane sein. Der im Bürgerkrieg unterlegenen Seite bleibt nur die Auswanderung, wenn sie sich mit der als Ergebnis des Kampfes aufgerichteten neuen Ordnung nicht anfreunden will.258 Von diesen Formen des Widerstands gegen die Staatsgewalt um der bestehenden Verfassung willen sind andere Widerstandsformen zu unterscheiden, die zu einer Verfassungsänderung fuhren sollen. Alle Formen kollektiven Widerstandes eines Volkes, die zum „unfreiwilligen Rücktritt der höchsten Obrigkeit" fuhren, nennt Rothe Revolution. 259 Empörungen, die sittlich nicht erlaubt sind, werden im Falle des Sieges der Aufständischen zu Revolutionen. Revolutionen sind „nur scheinbare sittliche Anomalien," weil sie „in concreto betrachtet," 260 also im historischen Verlauf des göttlichen Weltregiments, manchmal unvermeidlich sind. Sie sind allerdings immer eine gefahrliche Angelegenheit, weil ihr Erfolg und ihr Ergebnis maßgeblich von der Sittlichkeit der Revolutionäre abhängt: „Ist sie [die Revolution, ADD] umgekehrt überwiegend das Werk der unintelligenten Volksklassen, oder mischen diese sich auch nur stark mit ein in 257 Ebd., 370f. Der spanische Jesuit Juan de Mariana (1536-1624) hat durch die 1610 päpstlicherseits verbotene Lehre Aufsehen erregt, daß ein regierender Tyrann durch einen Einzelnen getötet werden dürfe, sofern dieser im Namen des Volkes handele. Marianas Lehre, die er in dem König Philipp ΠΙ. gewidmeten Fürstenspiegel De rege et regis institutione vorgetragen hatte, wurde im Protestantismus als Ausdruck von Volkssouveränität aufgefaßt. Zu Person und Werk vgl. MANSILLA. 258

259

ROTHE, E 2 , B d . 5 , § 1 1 6 4 , 3 7 1 .

Ebd., 372. Dies gilt auch für den Fall, daß die bisherigen obrigkeitlichen Personen im Amt bleiben; nun allerdings mit einer neuen Verfassung. 260 Ebd.

92

Teil Α: Richard Rothe

ihre Vollziehung, so ist dieß für sie allezeit von übler Vordeutung."261 Staatsverbesserung seitens der sittlichen und gebildeten Staatsbürger muß immer durch Vorstellung bei der Obrigkeit auf den gesetzlich vorgegebenen Wegen betrieben werden, niemals mittels eines Pakts mit den unteren Klassen der Gesellschaft. Wegen dieser Gefährlichkeit der Revolution ist es immer besser, „die liberalen Ideen [...] am rechten Ort" zur Sprache zu bringen.262 Dies sind „die höchsten Kreise der Gesellschaft, [...] damit sie von denen selbst, welche in den obrigkeitlichen Funktionen, und bevorab in den höchsten, stehen, in die niedrigeren Schichten des Volkes hinabgebracht werden mögen, in welchem Falle dann alle nothwendigen Umgestaltungen völlig friedlich vor sich gehen."263

Rothe war Zeuge der zwei großen Revolutionen des 19. Jh.: der französischen Julirevolution von 1830 und der im Februar in Frankreich beginnenden, im März auch in Deutschland ausbrechenden Revolution des Jahres 1848. Die Julirevolution habe ihn, so schreibt er selbst, „Sinn und Verstand und Reiz"264 der politischen Geschichte gelehrt. Er sei jetzt imstande, unter ,,de[m] Schaum und d[er] Hefe" der geschichtlichen Ereignisse den damit verbundenen „Entwicklungsstoß" wahrzunehmen.265 Rothe lernte also im Sommer 1830 die Weltgeschichte nicht als Abfallsgeschichte von Gott, sondern als Realisation des göttlichen Heilsplanes mit der Menschheit zu interpretieren. Entsprechend bewertet er in der Folgezeit Revolutionen positiv. Sie bringen den Staat zu seiner wahreren Gestalt, „weil die göttliche Weltregierung mit der Herstellung der schlechthin vollkommenen Staatsordnung noch lange nicht zum Ziele gekommen ist."266 Revolutionen sind also nicht nur „grauenhafte Kalamitäten," sondern auch „wichtige Mittel in der Hand der göttlichen Weltregierung, aber eben auch nur, wo sie unverkennbar durch diese selbst herbeigeführt werden."267 Indem Rothe in der Revolution Gott als den eigentlichen Lenker der Geschichte erfahrt, gewinnt er die Möglichkeit zur Anerkennung politischer Veränderungen in der Gegenwart. Er kann sich sogar - diese Sätze sind vor der Märzrevolution 1848 aufgeschrieben - für die Zukunft Situationen vorstellen, in denen die sittli261

Ebd., 374f. Ebd., §1165, 387. 263 Ebd., 387. 264 NLPPOLD, Rothe, Bd.2, 34; so Rothe am 15. August 1832 an seinen Freund Christian Karl Josias von Bunsen, den er in Rom, während er dort als preußischer Gesandtschaftsprediger lehrte (vom 8. Januar 1824 bis Mai 1828), kennengelernt hatte. Rothe wirkte seit Michaelis 1828 als vierter Professor am Wittenberger Predigerseminar. Vgl. zu dieser Eliteanstalt der preußischen Landeskirche BIGLER, 63-70. Zu Person und Werk vgl. GELDBACH, Bunsen; 262

ANONYMUS, 265

Bunsen.

NlPPOLD, Rothe, Bd.l, 34. Vgl. a. ebd., 436, 469; SCHENKEL, Rothe, XXVIDf;

WEINGARTEN, x n f . 266 267

ROTHE, E2, Bd.5, §1164, 364. Ebd., 375.

3.3 Verfassungsbruch

93

che Legitimität einer Revolution unzweifelhaft ist: etwa dann, wenn eine Obrigkeit „einer durch den Fortgang der Geschichte sittlich nothwendig gewordenen Umgestaltung der Staatsverfassung beharrlich nicht nachgibt." 268 Dann wird Gott seinen Heilsplan mit gewaltsamen Mitteln vorantreiben. Briefe, die er als Prorektor der Universität an den ehemaligen Heidelberger Kollegen, den gemäßigt-liberalen Staatsrechtler und zeitweiligen Reichsjustizminister Robert von MOHL 269 sandte, belegen, daß er regen Anteil an den Verhandlungen in Frankfurt nahm. 270 Er versichert dem Reichsjustizminister am 20. Juli 1848, daß seine Arbeit „des aufrichtigsten Dankes aller derer, die die unberechenbare Wichtigkeit des gegenwärtigen Augenblicks begrüßen" würdig sei.271 Schon im November 1848 deutet er „die Erschütterungen der Gegenwart" nicht nur als „Zuckungen des Todeskampfs," sondern auch als „Wehen der Geburt eines neuen Lebens." Zu diesem zuversichtlichen Urteil gelangt er, weil er davon überzeugt ist, daß ,,[d]ie Gedanken Gottes über unser deutsches Volk und unsre europäische Menschheit überhaupt [...] noch Gedanken des Friedens und nicht des Verderbens [sind]. Wir müssen darauf gefasst sein, dass seine Wege mit uns durch die ernstesten Gerichte hindurchgehen können; aber ihr Ziel wird nicht unser Untergang sein."272 Weil Rothe seinen geistigen Standpunkt gleichsam an der Schwelle zum Reich Gottes eingenommen hat, kann er seine Gegenwart teleologisch deuten. Er ist davon überzeugt, daß sich „aus dem jetzigen Chaos zuletzt doch eine verjüngte und höhere Form des Staats erheben" wird. 273 Sich im Jahre 1862 zurückerinnernd sieht er in der Märzrevolution sogar einen „neuen welthistorischen Trieb" hervorbrechen. 274

268

Ebd., 374. Zu Person und Werk vgl.NORDBLOM; ANGERMANN; BERMBACH, 354-358. Nach der Einteilung des Frankfurter Nationalparlamentes von SIEMANN, 128, gehört von Mohl zum linken Zentrum. VonMOHL, Bd.l, 235; Bd.2, 127, 152, erwähnt Rothe. 270 UB Tübingen, Nachlaß Mohl: Rothe an von Mohl am 20. Juni 1848. Weitere Briefe ebd. am 24. Juni 1848 und am 20. November 1853. Am 13. Juli 1846, ebd., wünscht Rothe von Mohl, daß „die Dinge in der Paulskirche mit dem jetzigen günstigen Winde ihren weiteren Fortgang nehmen." 271 UB Tübingen, Nachlaß Mohl: Rothe an von Mohl am 20. Juli 1848. 272 ROTHE, Über Aussichten, 11. 273 NIPPOLD, Rothe, Bd.2, 256. 274 ROTHE, Zur Orientierung, 8. 269

94

Teil Α: Richard Rothe

3.4 Sittliche Staatsbürger Rothe behauptet einerseits, daß Christen die besten Staatsbürger und Staatsdiener sind, bindet aber andererseits die Staatsbürgerschaft nicht an die Zugehörigkeit zu einer christlichen Religionsgemeinschaft, sondern fordert dazu auf, sie auch Juden zu gewähren. Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche läßt sich dagegen mit der Mitarbeit im modernen Staat nur schlecht in Einklang bringen. Diese widersprüchlichen Aussagen zu klären, ist die Aufgabe dieses Abschnitts. Dabei wird sich herausstellen - und dies Ergebnis bestätigt die Darlegungen zum modernen Staat - , daß in Rothes ethischem System Sittlichkeit der Christlichkeit übergeordnete Ausdruck ist; in jener ist diese enthalten. Trotz aller unzweifelhaften persönlichen Frömmigkeit, trotz des teilweise erwecklichen Vokabulars und der Rezeption christlicher Zentralbegriffe, denkt Rothe von der Aufklärung her, die ihm als eine höhere Stufe des Christentums erscheint. Nicht speziell die Christen, sondern die (unbewußt christlichen) Bürger stellen sich dem Staat in der gegenwärtigen geschichtlichen Situation begeistert als Beamte zur Verfugung und opfern fur ihn nicht nur ihr Vermögen, sondern gegebenenfalls auch ihr Leben.275 Staatsbürgerschaft wurde zu Rothes Zeit in keinem deutschen Territorialstaat mehr an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten christlichen Konfession gebunden; entsprechend spricht Rothe alle Christen und darüber hinaus alle diejenigen als Staatsbürger an, die er aufgrund ihrer Sittlichkeit für unbewußte Christen hält. Das Problem, daß im konfessionell gemischten Baden seit 1807 die politische Gleichberechtigung von Katholiken und Protestanten in der Verfassung garantiert war,276 Katholiken aber in Rothes Sinne keine sittlichen Staatsbürger sein können, weil der römische Katholizismus nicht nur historisch überlebt, sondern auch seinem Wesen nach antifreiheitlich ist,277 hat er nicht 275 Ders., E2, Bd.5, §1166, 393. Das ist natürlich im Krieg notwendig, den Rothe im Verlauf der Geschichte der sündigen Menschheit für unvermeidlich hält. Vgl. dazu HOPPE. ROTHE, E2, Bd.5, §1160, 347: Ein pflichtmäßiger Krieg kann nur „um ein wirklich unveräußerliches Gut des Staates" wie etwa Freiheit, Ehre oder Nationalität gefuhrt werden. Ebd., 349: Selbst Eroberungskriege können aber pflichtmäßig sein. Die Teilnahme an einem ungerechten oder Angriffskrieg darf kein Bürger verweigern. Rothes ,positive' Haltung zum Krieg dürfte wohl mit den Erfahrungen in den antinapoleonischen Kriegen zusammenhängen. Sie offenbart sich auch in Zusammenhang mit den Kriegen um Schleswig-Holstein. Vgl. ders., Interpellation, 39. 276 Allerdings konnten Protestanten in katholischen Orten, Katholiken in protestantischen lange Zeit nicht das Ortsbürgerrecht und damit die politische Gemeindebürgerschaft erwerben, es sei denn, sie waren adlig oder hatten ein besonderes persönliches Privileg erlangt; entsprechendes galt für Lutheraner in reformierten beziehungsweise Reformierte in lutherischen Gemeinden. Konstitutionsedikt vom 14. Mai 1807 bei HUBER/HUBER, Bd. 1, Nr.39, 81f. 277 ROTHE, E2, Bd.5, §1165, 390: „Eine Stütze dieser Idee politischer Freiheit kann sie [die römisch-katholische Kirche, ADD] für ein Volk nur so lange sein, als in ihm ein absolu-

3.4 Sittliche Staatsbürger

95

gelöst. Er behauptet einfach, daß die protestantische Kirche mit einem „sich glücklich entwickelnden Staatswesen" zusammen bestehen kann, die römischkatholische dagegen „vermöge ihrer Principien" nicht. 278 Dies Urteil soll freilich nur vom Begriff der jeweiligen Religion her gedacht gelten; es ist nach Rothe nicht übertragbar auf den Stand der Sittlichkeit der jeweiligen Konfessionsglieder. Dabei fallt auf, daß Rothe keinen religiösen Pluralismus kennt, sondern die Aufhebung der jeweiligen positiv-konfessionellen Identität in der staatsbürgerlichen annimmt. Religiöse und kirchlich-theologische Unterschiede werden dann toleriert, wenn sie sich in das Staatsinteresse einbinden lassen. Entsprechend hält Rothe an der alten Auffassung fest, daß Christlichkeit die Grundlage des Staatswohls ist, definiert sie allerdings neu: Christentum schafft Sittlichkeit; sie ist nur auf dem Wurzelboden des Christentums möglich. Da die Menschen nur dann regierungsfähige Staatsbürger sind, wenn sie um Gottes willen beziehungsweise beseelt von den Interessen der Gemeinschaft politisch handeln, kann ein Staat nur dann „gesund und kräftig" sein, wenn er „von einer lebendigen religiösen Gesinnung erfüllt und getragen" ist.279 Der Christ sieht im Staat „nicht eine bloße Polizeianstalt," 280 sondern „die natürliche und als solche für immer nothwendige Form des menschlichen Lebens überhaupt." 281 Wenn Regierende wie Regierte Christen sind, so sind beide zu demselben Ziel der Staatsverbesserung vereint und keine Konflikte denkbar, die nicht friedlich beigelegt werden können. 282 Christen sind überdies deshalb die besten Staatsbürger, weil sie sich in die „fortgehende Entwicklung" des Staates, auch durch Revolutionen hindurch, zu schicken verstehen, indem sie das Ergebnis aller Geschichte als göttlichen Willen annehmen. 283 Diese Äußerungen zu Christen als Staatsbürgern müssen vor dem Hintergrund der Ausführungen zum Staat gesehen werden: Staatsbürgerschaft und die Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte sind nicht an die christliche Religionszugehörigkeit eines Bürgers, sondern an das Maß seiner Sittlichkeit gebunden: „Das allein ist also die unerbittlich festzuhaltende Forderung, daß in einem christlichen Staate Keiner wirklicher Bürger sein dürfe, der nicht sittlich ein Christ ist, oder dessen Sittlichkeit nicht wesentlich die christliche ist." 284

tistisches politisches Regiment die Regungen der Freiheit nieder zu halten sucht. Mit wahrer politischer Freiheit verträgt sie sich nur bei kirchlichem Indifferentismus der Nation friedlich." Im Jahre 1863 bekennt sich der Protestantenverein in seinen Statuten unter anderem zur „Erhaltung und Förderung christlicher Duldung und Achtung zwischen den verschiednen Konfessionen und ihren Mitgliedern." Zit. nach G R A F , Rothe, 8 0 2 . 278

ROTHE, E 2 , B d . 5 , § 1 1 6 5 ,

279

Ebd., Bd.2, 251 Anm. zu §293. Ders., Entwürfe Briefe Pauli, 347. Ebd. Ders., E2, Bd.5, §1164, 375. Ders., Entwürfe Briefe Pauli, 349. Ferner ders., E2, Bd.5, §1164, 373. Ders., E2, Bd.5, §1163,359.

280 281 282 283 284

390.

96

Teil Α: Richard Rothe

Entsprechend kritisiert Rothe häufig, daß die Sittlichkeit der Christen derart zu wünschen übrig läßt, daß sie von Staatsbürgern, die der Kirche entfremdet sind, durchaus überrundet werden können. Deshalb kann Rothe auch den Juden bescheinigen, häufig in sittlicher Hinsicht höher zu stehen als die Christen. Ihre politische Emanzipation ist also zu unterstützen. Der Zugang zu allen staatlichen Ämtern, unabhängig von der Religionszugehörigkeit, war in Baden seit Februar 1849 möglich. Die jüdische Religion war in Baden offiziell geduldet; sie hatte das Recht der privaten Religionsausübung; Synagogen konnten also nicht errichtet werden.285 Daß Rothe die Juden in sittlicher Hinsicht als Christen einschätzt, spiegelt die bestehenden Rechtsverhältnisse in Baden wie seine eigenen ethischen Grundanschauungen. Er legitimiert die Zuerkennung der staatsbürgerlichen Rechte damit, daß die Angehörigen einer anderen Religionsgemeinschaft als der christlichen vom sittlichen Geist des Christentums durchdrungen sind, weil sie sich „in dessen Atmosphäre [...] fort und fort bewegen."286 Weil die Juden von der christlichen Sittlichkeit „unwillkürlich ergriffen und mehr oder minder beseelt werden,"287 haben sie Anspruch auf den Genuß der vollen staatsbürgerlichen Rechte. Das endgültige Urteil darüber, ob das bei allen in Deutschland lebenden Juden der Fall ist, will Rothe zwar nicht fällen; aber er veranschlagt die Macht des sittlichen Geistes des Christentums als so durchdringend, daß - wie er ausfuhrt - selbst Türken, wenn sie denn unter den Einfluß eines christlichen Staates gerieten, versittlicht würden.288 Daß die Andersgläubigen nicht zum Christentum konvertieren, ist kein Gegenbeweis, weil „sich in der Christenheit selbst die christliche Religion und Kirche (nicht etwa das Christenthum überhaupt) in einem Zustande so großer Zerrissenheit, Auflösung und Geltungslosigkeit befindet, daß der Uebertritt zu ihr auch für den Ernstgesinnten, der sich vom Christenthum angezogen findet, mit sehr erheblichen Bedenken verbunden sein muß, und in der daher schon von vornherein zu erwarten steht, daß die Herüberkunft zum Christenthum im Allgemeinen von der sittlichen Seite her anheben werde, nicht von der religiösen."289 Rothe verlagert den Streit um die Judenemanzipation also auf eine neue Ebene: Er argumentiert nicht, wie etwa STAHL, mit der Notwendigkeit eines Bekenntnisses des Staates zum Christentum, sondern mit der modernen Sittlich-

285

RÜRUP, Emanzipation, 29, 37-73. Die stufenweise Emanzipation der Juden wurde in Baden im Jahre 1862, im Norddeutschen Bund 1869 abgeschlossen. Im Mittelpunkt der Diskussion standen vor allem die Ortsbürgerrechte, die den Juden den Status von Schutzbürgern zusprachen und ihnen politische Betätigung auf Gemeindeebene untersagten. 286 ROTHE, E2,Bd.5, §1163,359. 287 Ebd. 288 Ebd. 289 Ebd., 360.

3.4 Sittliche Staatsbürger

97

keit.290 Bestimmen die christlich-sittlichen Maximen die Lebensführung der Juden „etwa in demselben Maße wie durchschnittlich bei unseren Christen," 291 so ist ihr Anspruch auf Gleichberechtigung wohlbegründet. 292 In dieser ersten Bedingung der Judenemanzipation ist implizit eine zweite enthalten: Die Israeliten müssen hinsichtlich ihrer Volkszugehörigkeit nicht mehr Juden, sondern Deutsche sein.293 Interessanterweise liefert Rothe nun noch ein drittes Argument für die Gewährung der staatbürgerlichen Recht gegenüber den Juden: Auch wenn das Urteil über den Stand ihrer durchschnittlichen christlichen Prägung schlecht ausfallen sollte, so wäre ihre Emanzipation doch „ein mächtiges Mittel [...], ihre sittliche Christianisirung und ihre neue Nationalisirung zu befördern." 294 Die Forderung einer vorlaufenden Gewährung von politischen Rechten, welche die Integration in den konstitutionellen Staat unterstützen und beschleunigen soll, hält er für ein Mittel von ,,durchschlagende[m] Erfolg." 295 Er setzt sich auch mit dem möglichen Gegeneinwand auseinander, daß die Ausdehnung der staatbürgerlichen Rechte eine Schwächung des christlichen Geistes bedeute. Wer solches befürchtet, daß „durch die Beimischung eines verhältnißmäßig immer nur sehr geringen Quantums fremdartiger Elemente" 296 der christliche Geist in Frage gestellt wird, dessen „Aengstlichkeit [ist] ein wirklich beunruhigendes Symptom äußerster Glaubensschwäche." 297 Staaten, die sich trotzdem nicht zur Judenemanzipation entschließen können, haben zumindest die Integration ihrer israelitischen Untertanen zu fördern, „ohne dabei irgend ihrem religiösen Glauben und ihren religiösen Sitten und Uebungen zu nahe zu treten [...] und zwar um so mehr, eine je größere alte Schuld sie in dieser Hinsicht abzutragen haben." 298 Diese Bemerkung zur historischen Schuld der Christen gegenüber den Juden ist

290

Im Unterschied zu Stahl und Rothe argumentiert Luthardt von dem Bestehen der christlich-kirchlichen Sitte her in einem Volk, dessen überwältigende Mehrheit christlich getauft ist, und fordert Förderung des positiv-kirchlichen protestantischen Christentums durch den Staat. Vgl. unten Teil C. 291 Ders., E2, Bd.5, §1163,360. 292 Ebd., 361 f. 293 Ebd., 361: „Sittlichkeit, bevorab christliche, und Volksthümlichkeit gehören innerlich so wesentlich zusammen, daß das Individuum sich zu beiden nur auf die gleiche Weise verhalten kann. Sind die Israeliten sittlich christianisirt, so sind sie gewiß auch keine Juden mehr, sondern gute Deutsche u.s.w., und sind sie noch Juden von Nation, so ist es auch gewiß mit der Christlichkeit ihrer Sittlichkeit übel bestellt: was auch die Erfahrung durchweg bestätigt." Rothes Vorstellung von der geschichtlichen Notwendigkeit der Judenemanzipation, durch welche die Formierung eines einheitlichen modernen Verfassungsstaates vorangetriebenen wird, verdankt sich Herder und in seinem Gefolge de Wette sowie Marheineke und richtet sich gegen Fichte. 294 295 296 297 298

ROTHE, E2, Bd.5, §1163,361. Ebd., 361. Ebd., 362. Ebd. Ebd.

98

Teil Α: Richard Rothe

im Oeuvre Rothes einmalig. Es wird allerdings nicht genauer ausgeführt, was genau er damit meint. Rothe hat diese Überlegungen vor 1848 angestellt; zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der zweiten Auflage der Theologischen Ethik waren sie noch nicht in jeder Hinsicht überholt. Die Judenemanzipation kann formell erst in den späten sechziger Jahren als abgeschlossen angesehen werden.299 Den Christen zeichnet in dieser Konzeption die staatsbürgerliche Sittlichkeit beziehungsweise der Verfassungspatriotismus aus, nicht dagegen - wie etwa bei LUTHARDT - eine Gesinnung oder Herzensstellung der Liebe und Milde.

4. Kirche Rothe ist vorgeworfen worden, den Kirchenbegriff der Reformation aufgegeben zu haben, weil er den siebten Artikel der Confessio Augustana als historische Aussage aufgefaßt und spekulativ umgedeutet habe.300 Evangeliumspredigt und Sakramentsverwaltung spielen in seiner Konzeption keine Rolle mehr. Das ist sicher richtig, denn nach Rothe gehört die Kirche in die Welt; sie ist eine menschliche Ordnung, mit Anfang und Ende in der Zeit.301 Überdies war er davon überzeugt, daß LUTHER anfangs keine Kirche gründen wollte, sondern eine solche allenfalls als Erziehungsanstalt für diejenigen, die noch nicht recht Christen sind, akzeptierte.302 Entscheidend ist aber für Rothe nicht das historische Argument, sondern das spekulative, wenn er zu begründen genötigt ist, warum sein Kirchenbegriff nicht von Wort und Sakrament her konstituiert wird: Da eine ausschließlich religiöse Gemeinschaft „eine bloße und mithin leere Abstraction" wäre, denn Religiosität drängt im Unterschied zu Sittlichkeit nicht zu Sozialität,303 kann es gar keine ausschließlich religiöse Gemeinschaft geben.304 Das Wesen des Religiösen läuft dem der Gemeinschaft zuwider, denn es handelt sich nur um eine individuelle Haltung Gott gegenüber. Eine jede Gemeinschaft aber, auch eine zur Pflege eines bestimmten religiösen Interesses, ist ihrem Wesen nach sittlich. Da als diejenige Gemeinschaft, die auf dem Weg zum Reich 299

Vgl. oben Anm.285.

300

BOHNERT, 2 2 2 . ROTHE, Dogmatik,

Bd.2, 1.

301

Ders., Anfänge, 297, 392-394: Die Kirche entstand durch die Einsetzung des Episkopats zwischen 70 und 100 n. Chr., um die durch den Tod der Apostel, das Schwinden der Parusieerwartung und die feindliche Umwelt bedrohten christlichen Gemeinden zu schützen, und um weiter missionieren zu können. 302

303

SCHAUMKELL, 127f.

ROTHE, Anfänge, §5, 28, und ebd.: Empirisch erfahren wird die Unterschiedenheit des Sittlichen vom Religiösen in dem Bewußtsein der Sünde, die freilich nicht „schlechthin vollständig" herrscht. 304 Ders., E2, Bd.2, §260, 171.

4.1 Bedeutung der Kirche

99

Gottes ist, nicht die Kirche, sondern der Staat bestimmt wurde, hat jene diesem bei der Erfüllung seiner sittlichen Aufgabe zu dienen. Unzweifelhaft ist für Rothe, daß im derzeitigen Stadium der Geschichte die Kirche noch eine bedeutsame Aufgabe zu erfüllen hat. Sie ist nämlich bisher die einzige Institution, in der das Bewußtsein des allgemeinen, weltumfassenden Staates lebt. Deshalb wäre es vorschnell, Rothe nur als Theoretiker der Auflösung der Kirche in den Staat zu zeichnen; seine Lebensaufgabe sah er vielmehr in der Förderung der Fortentwicklung des deutschen Staatswesens zu einem nationalen Verfassungsstaat. Auf diesem Weg hat die evangelische Kirche eine große Aufgabe zu erfüllen.

4.1 Bedeutung der Kirche Die Kirche kann sich erst dann, wenn der weltumspannende Universalstaat vollendet ist, im Staat auflösen. In der Gegenwart muß sie noch ihre Aufgabe an ihm erfüllen: Sie muß ihm rechte Staatsbürger heranziehen. Die Kirche bleibt „bis zum völligen Abschluß der moralischen Entwickelung der Menschheit die höhere Einheit, in der die Vielheit von besonderen Gemeinschaftskreisen, zu welcher die moralische Gemeinschaft sich entfaltet, wieder schlechthin in Eins zusammengeht, und in der eben damit die an sich beschränkte und mangelhafte religiössittliche Gemeinschaft des Individuums sich zu schrankenloser Allgemeinheit erweitert."305 Deshalb besteht die Aufgabe der Kirche in der Gegenwart darin, an der Versittlichung des Staates mitzuarbeiten, ihn zu ,,christianisir[en]" und zu ,,entsäkularisir[en]."306 Rothe meint hier, daß die Kirche die Staatsbürger zu solchen erziehen soll, die alle ihre Handlungen auf das Reich Gottes ausrichten. In dem gleichen Maße wie die Kirche das Entstehen des vollendeten Staates fördert, wird sie zur Fessel des von ihr selbst großgezogenen christlichen Lebens und zerfällt in sich.307 Allerdings wird dieser Zerfallsprozeß Jahrhunderte anhal305

Ebd., §293, 247. Ebd., Bd.3, §579, 183. 307 Ders., Bd.3, §579, 183: „Dieser ihr Verfall muß naturgemäß damit anfangen, daß sie sich - in offenem Widerspruche mit ihrem Begriff, der gebieterisch ihre absolute Einheit fordert, in eine immer größere Vielheit von besonderen Kirchen zersetzt, die sich gegenseitig befehden. Während nun so die Kirche langsam in sich zusammensinkt, siedelt sich das christliche (religiös-sittliche) Leben und die christliche (religiös-sittliche) Gemeinschaft nach und nach aus ihr in den Staat (die allgemeine menschliche, d. h. religiös-sittliche Gemeinschaft), hinüber, genau in demselben Verhältnisse, in welchem das christliche Princip von ihm immer vollständiger Besitz nimmt. Eben deßhalb kann die christliche Gemeinschaft allmälig die Kirche immer mehr entbehren, und so tritt diese je länger desto mehr in den Hintergrund zurück." 306

Teil Α: Richard Rothe

100

ten, so daß die Kirche noch lange bestehen wird,308 denn „für die unendliche Mehrzahl der Einzelnen ist doch ein Institut wie die Kirche und das Predigtamt noch immer durchaus unentbehrlich, und wird es noch Jahrhunderte lang bleiben. Es ist noch immer ein unnennbarer Segen daran geknüpft."309 Damit die Kirche ihre Aufgabe für den Staat erfüllen kann, muß die kirchlich-traditionelle, dogmatisch-klerikal verkrustete Form des Christentums überwunden werden. Es muß gegenwärtig „eine der Hauptbestrebungen der Gläubigen sein," „Christum frei machen zu helfen von der Kirche."310 Das heißt nun aber keineswegs, daß die Kirche aufgelöst werden soll. Sie soll vielmehr so reformiert werden, daß sie ihrer zentralen Aufgabe, Schule der Staatsfrömmigkeit zu sein, besser nachkommen kann. Weil „die Kirche nicht um ein Haar breit christlicher ist als der jedesmalige Staat,"311 insofern sich dasselbe Maß an Sittlichkeit in beiden Gemeinschaften findet, ist sie selbst ebenso wie der Staat der Verbesserung bedürftig. Diese Kirchenverbesserung wird freilich nicht um der Kirche oder ihrer Verkündigung, sondern um des Staates willen erstrebt. Die erneuerte, konstitutionell verfaßte Kirche hat in der Gegenwart eine eminent politische Funktion: Sie repräsentiert vorab die Nationalgemeinschaft. Sie lehrt, in modernen Begriffen ausgedrückt, eine civil religion, die Sittlichkeit des Nationalbürgers.312 Diese Überzeugung von der relativen geschichtlichen Notwendigkeit der Kirche als Erzieherin des Volkes erklärt Rothes Engagement als Kirchenfunktionär und -politiker.

4.2 Selbständige

Landeskirche

Der Staat hat anzuerkennen, daß er zur Versittlichung der Staatsbürger, welche die Voraussetzung seiner eigenen Verbesserung ist, der Kirche bedarf. Rothe kann sogar formulieren, die Kirche sei die „Seele" des Staates. Deshalb muß jener sie fördern.

308

Ders., Warum Predigerseminarien, 32: „So wenig ich ein Hehl daraus mache, daß mir nicht die Kirche das Ende der Wege Gottes in Christo ist, so bestimmt ich ihr nur eine relative Nothwendigkeit zugestehe, eben so fest bin ich auch davon überzeugt, daß sie noch auf lange hin eine unentbehrliche Daseynsform des christlichen Principe ist, vorzugsweise eins der geweihten Gefäße, in welchen die von Christo ausgehenden erlösenden Kräfte aufbewahrt werden und mittelst welcher sie auf die durch sie zu reinigende und zu verklärende Welt ausströmen." 309 Ders., Entwürfe Briefe Pauli, 119. 310 Ders., Stille Stunden, 347 [273]. 311 Ders., E2, Bd.3, §580, 185, und ebd., §582, 186. 312 Ders., Anfänge, §4, 19-23.

4.2 Selbständige Landeskirche

101

„Weil der Staat wesentlich eine zugleich religiöse Gemeinschaft und die Frömmigkeit das letzte Fundament und der eigentliche Lebensmittelpunkt aller Sittlichkeit und aller sittlichen Gemeinschaft, mithin auch sein letzter Ankergrund und seine eigentliche Seele ist: so hat er ein wesentliches Interesse, daß im Volk eine Kirche sei." 313

Wegen ihrer segensreichen Wirkungen auf ihn hat der Staat die in seinem Bereich agierenden Landeskirchen anzuerkennen; er soll ihnen „die äußeren Mittel, deren sie zu ihrer Subsistenz und zu ihrem Wohlstande benöthigfen]" 314 in einem Staatskirchenvertrag garantieren und die Kirchen damit im eigentlichen Sinne des Wortes zu „Landeskirchen" machen. Natürlich hat er damit auch ein Recht zu ihrer Beaufsichtigung. Weil der Staat zur Realisierung seiner ihm von Gott gesetzten Aufgabe einer Instanz fur die Erziehung seiner Bürger zu religiös-sittlich gebildeten Individuen bedarf, hält Rothe es für begrüßenswert, daß jeder in eine Landeskirche hineingeboren und von ihr „auch unaufgefordert" begleitet wird, und er hält es für notwendig, daß die Masse der noch nicht sittlich-religiös qualifizierten Einwohner eines Landes dem volkserzieherischen Einfluß der christlichen Kirche nicht entzogen wird. 315 Deshalb soll der Staat die Kirche finanzieren und unterstützen, die Kirche aber „sich vertrauensvoll an den Staat anlehnen." Die deutschen Staaten müssen „das Fortbestehen unserer Landeskirchen" sichern, weil das Christentum nur durch sie den „großen Massen" vermittelt werden kann. Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche bestimmt Rothe also dahingehend, daß diese sich ihm „in irgend einem Maße subordiniren, und ihn in solcher Art Theil nehmen lassen an der Leitung ihrer Angelegenheiten, auch der inneren, daß er im Stande ist, sie gegen alles, was sie nicht nur von außen, sondern auch von innenher gefährden könnte, zu behüten und zu beschützen." 316 Im Gegenzug hat der Prediger die Aufgabe, bei der Herausbildung des Staates als „ein Gehülfe der Staatsgewalt (Obrigkeit)" 317 zu wirken. Er soll nicht nur „I. Die rechte, gesunde Ansicht vom Staat in den Gemüthern pflanzen," sondern auch „II. Die richtige Würdigung des Staates herbeiführen, und III. die rechten Staatsbürger bilden." 318 Die „rechte, gesunde Ansicht vom Staat" als dem zukünftigen Reich Gottes kann allein das Christentum den Menschen vermitteln. Entsprechend soll der Prediger ,glicht etwa als feiler, niedriger Schmeichler der Machthaber" 319 den Repräsentaten des Staates gegenübertreten,

313

Ders., E2, Bd.5, §1179, 499. Zur Frage einer Förderung der römisch-katholischen Kirche hat Rothe sich nicht geäußert. Daß er eine solche für notwendig gehalten hat, muß nach seinen Äußerungen über dieselbe bezweifelt werden. Vgl. oben Anm.40. 3,4 Ebd., 500, und §1170, 428f. 315 Ebd., 429. 3,6 Ebd., 428f. 317 Ders., Entwürfe Briefe Pauli, 346. 318 Ebd. 3,9 Ebd.

Teil Α: Richard Rothe

102

er soll der Obrigkeit nicht „helfen durch abergläubische Einschüchterung der Gewissen," indem er „den Thron auf den Altar bau[t]," sondern er soll ihr mit „(bescheidenefr]) Freimüthigkeit" entgegentreten. Der Prediger wird damit zum ersten Schullehrer des Staats: Er soll nicht wie die regierungsfähigen Bürger auf verfassungsmäßigem Wege für die Staatsverbesserung arbeiten, sondern durch sein Wort den Fortschritt der sittlichen Gemeinschaft zu befördern. Im Gegensatz zu diesen Äußerungen zum Dienst der Kirche am Staat scheinen andere zu stehen, in denen Rothe eine Hochschätzung der Trennung von Kirche und Staat zum Ausdruck bringt. So erschien ihm die fur die Neue Welt kennzeichnende Konzeption des disestablishment als Paradies der Freiheit. Die Trennung von Kirche und Staat ist, so Rothe, „das einfache, naturgemäße, rechte Geleise"320 ihres Verhältnisses. Überdies läßt keine Äußerung erkennen, daß er ein distanziert-kritisches Verhältnis zu den im Frankfurter Parlament diskutierten staatskirchenrechtlichen Grundsätzen hatte.321 Freudig begrüßte er die Trennung von Kirche und Staat, wie sie in Baden 1861 erfolgte.322 Rothes Begeisterung für eine größere kirchliche Selbständigkeit hat wohl ihren Grund darin, daß es sich hier im Grunde gar nicht um einen Bruch mit der deutschen staatskirchenrechtlichen Tradition, sondern lediglich um eine Modifikation handelt: Durch die neue Verfassung wurde die Landeskirche zwar rechtlich zu einer Freiwilligkeitskirche, faktisch aber hielt die kirchliche Sitte in der Bevölkerung. Dazu beigetragen hat sicherlich, daß der Landesherr Summepiskopus blieb. Er stand weiterhin dem Oberkirchenrat vor und hatte ihn zu berufen; bei Streitigkeiten zwischen dem Staatsministerium des Innern und dem Oberkirchenrat, etwa in Fragen der Finanzen, hatte allein der Landesherr die Entscheidungsgewalt.323 Rothe rechtfertigt diese Regelungen und huldigt dem Großherzog 324 FRIEDRICH I. als Inhaber des Kirchenregiments. Der Landesherr betonte seinerseits, er fühle „besondere Theilnahme und Sorgfalt" für seine evangelische Landeskirche, „welcher Wir von Herzen angehören und in welcher Wir das den

320

Ders., Stille Stunden, 294 [215]. Vgl. oben Anm.269-273. SCHENKEL, Rothe, XXXVI, schreibt, Rothe habe die das Verhältnis von Staat und Kirche regelnden Paragraphen für „wunderlich" gehalten, weil er die Auffassung gewesen sei, die Mehrheit der Parlamentarier verstehe davon gar nichts. Da Schenkel nur pauschal auf Briefe Rothes verweist, ohne Adressaten und Daten zu nennen und ohne Zitationen aus den Briefen, sind seine Angaben allenfalls von eingeschränktem Wert. 322 ROTHE, Ueber Kirchenverfassung, 4. Am 21. Mai 1860 hatte die Regierung unter dem Juristen Anton von Stabel, dem Mitbegründer der liberalen Ära in Baden, den Kammern sechs Gesetzentwürfe vorgelegt, die für beide Kirchen gelten sollten, unter anderem das Gesetz betreffend die rechtliche Stellung der Kirchen und kirchlichen Vereine im Staat und das Gesetz betreffend die bürgerliche Standesbeamtung, die nach Zustimmung beider Kammern am 9. Oktober 1860 in Kraft traten. Ausz. aus den Gesetzen bei HUBER/HUBER, Bd.2, Nr.95, 233f; Nr.96, 234-236; Nr.97, 236-237; LlERMANN, Baden, 542-549. 323 HUBER/HUBER, Bd.2, Nr. 176 §4, 281. 324 SPOHN, 171, Kommentar. 321

4.3 Gemeindeverfassung

103

evangelischen Fürsten Deutschlands herkömmlich zustehende Kirchenregiment als Landesbischof zu üben haben." 325 Weder auf theologischer noch auf staatlicher Seite war damit ein Ansatzpunkt für eine Selbstidentifikation der badischen Kirche als Freikirche gegeben. Rothe setzte sich für eine konstitutionell verfaßte Landeskirche ein, die unabhängig vom Staatsapparat agiert, in der aber gleichwohl das monarchische Prinzip in Kraft ist. Zudem betont er 1867, daß der Staat von der von seiner Aufsicht frei gewordenen Kirche noch immer zu befurchten hat, „daß sie in seine Kulturentwicklung störend eingreife." Deshalb hat er „die heilige Pflicht," in Auseinandersetzung mit der Kirche fur die moderne Kulturentwicklung einzutreten.326 Weil der Staat verhindern muß, daß künftige badische Pfarrer ihm widerstreben, hat er darauf zu insistieren, daß sein Recht auf die Aufsicht über das Heidelberger Predigerseminar und dessen Direktor - damals war das Daniel SCHENKEL - gewahrt bleibt.327 Konfessionell-kirchlichen Bestrebungen, Selbständigkeit der Kirche im Staate als Übernahme einer kirchlichen Ausbildungsstätte in kirchliche Verantwortung auszulegen, ist also Rothes Meinung nach staatlicherseits zu widersprechen.

4.3

Gemeindeverfassung

Die Bedeutung der Verfassung für das Denken Rothes erhellt auch aus seinem Einsatz zugunsten der neuen Kirchenverfassung, die in ihrem Wesen eine Gemeindeverfassung war. 328 Seit 1821 war die badische Generalsynode zu gleichen Teilen mit Geistlichen und Laien, Reformierten und Lutheranern besetzt.329 Hier war erstmals ein Synodalsystem praktiziert worden, ohne daß die Fragen nach dem Verhältnis von Gemeindevertretern zu Theologen und nach dem Kir-

325

HUBER/HUBER, Bd.2, Nr. 177, 3 8 2 (Präambel zur Kirchenverfassung v o n 1861).

326

ROTHE, Voten 1867,

104.

327

Ebd., 104-107. VERHANDLUNGEN Stände-Versammlung, 1867, 43: 14.000 Laien und eine große Anzahl von Geistlichen forderten von der Kirchenbehörde den Einsatz für die Entfernung Schenkels von der Stelle des Seminardirektors. Das Seminar war freilich, wofür Rothe sich bei dessen Gründung 1837 eingesetzt hatte, eine staatlich-universitäre Einrichtung. Die Petitionen konnten aber deshalb als sinnvoll erscheinen, weil das Kultusministerium die Entscheidung über die Amtsenthebung Schenkels von der Stellungnahme des Oberkirchenrats abhängig machte. Das Gutachten des Oberkirchenrats war in seinem entscheidenden Teil von Rothe verfaßt. ROTHE, Ueber Lehrfreiheit, 41-44. Zur Wertung dieses Gutachtens vgl. oben Anm.67. Rothe betonte nicht nur im Falle des Predigerseminars, sondern auch im Blick auf die Volksschulen die Notwendigkeit staatlicher Aufsicht und zog diese der geistlichen vor. Ders., Bericht. Zur Geschichte des Predigerseminars und seiner Direktoren vgl. HOF. 328

NLPPERDEY, Geschichte,

329

HUBER/HUBER, Bd.l, Nr.291, 673-675; LLERMANN, Baden, 524f.

436.

104

Teil Α: Richard Rothe

chenbegriff - ob er anstaltlich oder genossenschaftlich zu formulieren sei theologisch geklärt gewesen wären. 3 3 0 Die neue, sogenannte „konstitutionelle" Kirchenverfassung aus dem Jahre 1861 hielt Rothe für das Unterpfand der Erneuerung der Kirche in der Gegenwart. 331 Der Aufbau der Kirche von der Gemeinde aus und die Einrichtung v o n Synoden sollten eine „Gewähr" für die Selbstbesinnung der Kirche bieten. Die neue Verfassung der Kirche legt nämlich „die leitende Macht in ihr nicht einseitig in der Hand eines einzelnen ihrer Stände, des geistlichen Standes [...], sondern [...] in die Hand des Ganzen der in sich geordneten Gemeinde." 3 3 2 Damit sollte der Einfluß der sogenannten unbewußten Christen, die sich an der kirchlichen Form bislang gestört hatten, erhöht und der Kirche neues Leben eingeflößt werden. Wie im Staat dürfen in der Kirche nur diejenigen wählen, denen die Verantwortung für das Ganze zugetraut werden kann. 333

330

331

TILING, 561.

ROTHE, Eröffnungsrede, 89. In der Entschließung des Großherzogs vom 5. September 1861 wird als Maßstab der Neuordnung der evangelischen Kirche der „protestantische Grundsatz" angegeben, „daß nicht der Lehrstand und die Behörden allein, sondern die gesamte Gemeinde der Christen die Kirchen ausmache." HUBER/HUBER, Bd.2, Nr. 177, 382. Diese Formulierungen lenken ab von der Stellung, die der Großherzog als Summepiskopus tatsächlich innehatte. Obwohl ROTHE, E2, Bd.5, §1170, 427, die Repräsentatiwerfassung für den Bereich der Kirche abgelehnt hatte sie würde „grundsätzlich und unvermeidlich die echt republikanische Herrschaft der Majoritäten als solcher mit sich bring[en]" - hat ders., ebd., §1173, 450f, sich für ein kirchliches Repräsentativsystem ausgesprochen, zugleich aber ebd., 452, gefordert, daß der Staat „auch rechtlich in der Lage bleib[en müsse], die kirchlichen Verhältnisse mit fester Hand zusammenhalten zu können." 333 Wahlrecht bei SPOHN. Die Verfassung vom 5. September 1861 sieht vor, daß jeder über 25 Jahre alte Mann, der sich „dauernd" (ebd., §8, 180) in der Kirchengemeinde aufhält, das Stimmrecht in der Gemeindeversammlung und die Wählbarkeit in die Vertretung der Kirche hat (ebd., §10, 181), sofern er nicht im Sinne des Landrechts entmündigt oder „mundtodt" ist (d. h. ihm sind — ζ. B. als Verschwender - einzelne bürgerliche Rechte entzogen), keine „ständige Unterstützung aus öffentlichen Annenmitteln erhält" und nicht in einem dienstbotenähnlichen Abhängigkeitsverhältnis steht (ebd., §14, 182f). Ausgeschlossen war darüber hinaus jeder, dem die staatsbürgerlichen Rechte aberkannt waren, jeder Straftäter und jeder, der „wegen Religionsverachtung oder unehrbaren Lebenswandels öffentliches Aergerniß gegeben hat und deßhalb von den kirchlichen Behörden für ausgeschlossen erklärt worden ist" (ebd., §14, 185) sowie jeder, der mit der Kirchensteuerzahlung länger als ein Jahr im Rückstand ist (ebd., §14, 185). Nach dem Hannoveraner Wahlrecht von 1864 durften nur 12-13 Prozent der Gemeindeglieder wählen, weil regelmäßiger Kirchen- und Abendmahlsbesuch Voraussetzung dafür war. In Bezug auf das passive Wahlrecht entstand aufgrund der Überprüfung der Kirchenbindung der Kandidaten eine Vielzahl von Streitigkeiten. Vgl. HÖLSCHER, Synodalbewegung. Die Wahlbeteiligung lag in den hannoverschen Städten bei zwei bis zehn Prozent, auf dem Land bei zehn bis 25 Prozent der Wahlberechtigten. In Baden waren dagegen weit weniger Menschen von der Wahrnehmung ihres aktiven oder passiven Wahlrechts ausgeschlossen als in Hannover. Folgerichtig lag hier auch die Wahlbeteiligung etwas höher als in 332

4.3 Gemeindeverfassung

105

Rothe wehrte sich explizit dagegen, daß es bei der kirchlichen Repräsentatiwerfassung um die Übertragung eines staatlichen Verfassungsmodells auf die Kirche gehe. Er wollte sowohl im Staat wie in der Kirche eine gedachte ideale Verfassung weitestmöglich realisiert sehen, weil er Staat und Kirche beide als sittlich-religiöse Gemeinschaften betrachtete. Beide sollen entsprechend den „ewigen Prinzipien und Gesetze[n] der menschlichen Gemeinschaft, des moralischen Gemeinwesens selbst" 334 organisiert sein. Die „allgemeinen Grundgesetze" der kirchlichen, das heißt der noch nicht ausschließlich religiösen Gemeinschaft, können nämlich keine anderen sein als die der moralischen. 335 Da der Staat kein „unheiliges Land" ist, bedeutet die Einführung des konstitutionellen Systems in der Kirche keine „Entwürdigung der Kirche," 36 sondern die Chance für ihren „bewußtvoll sittlichen Aufflug." 337 Gerade die konstitutionelle Verfassung ermöglicht es der Kirche wie dem Staat, „das Unvermögen der Regierung, wirklich das leisten zu können, was die Nation oder die Kirche als Zweck sich setzen muß und geleistet haben will" abzugleichen. 338 Die Repäsentatiwerfassung ermögliche die „Repräsentation der jedmaligen öffentlichen Vernunft," und zwar im Staat wie in der Kirche.339 Neu an dieser Verfassung ist, daß Parität von Laien und Geistlichen im Kirchenvorstand, der allerdings indirekt gewählt wird, 340 in der Diözesansynode und in der Generalsynode festgeschrieben wird, und daß die Gemeindeversammlung den Pfarrer wählen darf.341 Die Kirchenältesten, nicht die Diözesansynodalen, wählen indirekt 48 Generalsynodale, die nicht - wie die Diözesansynodalen - über Erfahrung als Kirchenälteste verfügen müssen. 342 Gerade diese Regelung war heftig umstritten. Rothe verteidigte die Möglichkeit der Wahl unkirchlicher Synodaler mit dem Argument, daß sonst diejenigen Laien, die „die Sprache der theologisch Gebildeten" nicht beherrschen, keine Chancen auf Repräsentation in der Kirche hätten. 343 Dies betraf insbesondere die Gebildeten, die auf diese Weise zur Wahrnehmung ihrer kirchlichen Rechte ermuntert werden sollten. Daß

Hannover: in den Städten bei etwa zehn Prozent, auf dem Land bei 30-40 Prozent. HÖLSCHER, Demokratie, 200f, 203. 334 ROTHE, Ueber Kirchenverfassung, 20. 335 Ebd., 21. 336 Ebd. 337 Ebd., 22. 338 Ders., Voten 1861, 282, 293-295. 339 Ders., Zur Orientierung, 45. 340 SPOHN, T.l A, §2 und T.l B, §13. Die Versammlung aller evangelischen Hausväter wählt die Kirchengemeindeversammlung, diese dann den Kirchengemeinderat. 341 Der Gemeinde wurden drei vom Oberkirchenrat ausgewählte Pfarrer vorgeschlagen, unter denen sie wählen konnte. Wenn keine absolute Mehrheit aller Wahlberechtigten für einen Kandidaten stimmte, setzt der Oberkirchenrat den Pfarrer ein. Ebd., 175, Kommentar. 342

H U B E R / H U B E R , B d . l , N r . 2 9 1 , 6 7 5 A b s . 3.

343

R O T H E , Voten

1861,126,

130, 1 3 6 - 1 4 0 .

106

Teil Α: Richard Rothe

diese Kirchenverfassung tatsächlich als revolutionär' erscheinen konnte, wird klar, wenn das gleichzeitige Wahlrecht, beispielsweise für den Kirchengemeinderat in Preußen, zum Vergleich herangezogen wird: Pfarrer, Patron und ein Wahlkörper, den das Konsistorium bestimmt, wählen die Gemeindeältesten.344 Die badische Kirchenverfassung erscheint jedoch auf den ersten Blick demokratischer' als sie tatsächlich ist: Der Oberkirchenrat ist vom Großherzog abhängig und nicht der Generalsynode verantwortlich. Der Großherzog beruft die Synode ein und beendet sie; er kann sie auch auflösen. Einwirkungsmöglichkeit der Synode auf den Oberkirchenrat besteht nur durch dessen gewählte außerordentliche Mitglieder.345 Deshalb muß zusammenfassend konstatiert werden, daß diese Kirchenverfassung das Gemeindeprinzip im Grunde nur aus pädagogischen Gründen propagiert, keineswegs aber der Mehrheit der männlichen Kirchenglieder tatsächlich die Möglichkeit zur Anteilnahme am Kirchenregiment eröffnet.346 Daher verwundert es nicht, daß die Verfassung keineswegs zur erhofften Mobilisierung der Kirchenglieder führte. Zudem zeigen sich hier dieselben theoretischen Schwierigkeiten, die auch Rothes Ausführungen zum Verfassungsstaat durchzogen hatten: Harmoniestreben und oligarchisches Denken bei gleichzeitigem Festhalten an einem Monarchen mit unkontrollierbaren Befugnissen verhindern Demokratisierung.347 Daß die Verfassung schwerwiegende Konzeptionsmängel aufweist, indem sie - unausgesprochen - ein harmonisches Verhältnis zwischen Synode und Landesherr vorsieht, ist zu ihrer Entstehungszeit nicht beachtet worden. Das ist bezeichnend für die geringe Fähigkeit Rothes und seiner Geistesverwandten, über angemessene Konfliktregulierungsmechanismen nachzudenken. Dieser Blick auf die badische Kirchenverfassung bestätigt, daß Rothe nicht mehr und nicht weniger als ein Liberaler seiner Zeit war. Liberaldemokratisches und monarchisches Prinzip werden wie im Staat so auch in der Kirche miteinander verbunden, und zwar in der Weise, daß jeweils die öffentliche Vernunft, nicht die Meinung der Majorität zählt. Rothes Vorstellung, daß Kirchenverbesserung durch Petitionen erreicht werden soll, ist an das Idealbild eines Herrschers gebunden, der in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen - wie Rothe ihn für der Vernunft einsichtig hielt - die Kirche leitet. Obwohl die konservativen Theologen sich der Einfuhrung von Synoden noch lange widersetzen, waren sie und ihre theologische Position es, die von den Demokratisierungstendenzen in den deutschen Landeskirchen tatsächlich profitierten. Während Rothe sowie seine Mitstreiter und Erben im Protestantenverein die Hoffnung hatten, die Herrschaft der Pastorenorthodoxie brechen zu können, wurde diese im Gegenteil befestigt. Die Einfuhrung von Kirchenvorständen und 344

HERMELINK, 7 8 .

345

HUBER/HUBER, B d . 2 , N r . 1 7 8 § 1 1 0 , 387.

346

TILING, 5 7 2 .

347

HUBER/HUBER, § 1 1 4 , 3 8 8 .

4.4 Protestantischer Nationalverein

107

Synoden führte nämlich keineswegs zur Stärkung des kirchlichen Liberalismus. Konfessionelle Geistliche und kleinbürgerliche Kirchenvorstände arbeiteten sich vielmehr Jahrzehntelang wechselseitig in die Hände." 348

4.4 Protestantischer

Nationalverein

Die badische Kirchenverfassung des Jahres 1861 forderte von der badischen Kirchenleitung den Einsatz für „eine organische Verbindung mit den übrigen Kirchen Deutschlands"; 349 über die Art dieser Verbindung verlautet hier nichts. Auch Rothe entwickelt keine Pläne, wie eine nationalkirchliche Einheit angesichts der Vielfalt der Verfassungswirklichkeit der einzelnen Landeskirchen erlangt werden kann. Die kirchliche Einheit ist ihm längst nicht so wichtig wie die staatliche. Sichtbare Einheit ist kein konstitutives Element seines Kirchenbegriffes. Die historisch gewordenen deutschen Landeskirchen sollen um ihres volkserzieherischen Auftrags willen bestehen bleiben. Die unterschiedlichen Zwecke der Kirche, die eine einheitliche Organisation nur schwer befriedigen kann, sollen durch freie christliche Vereine wie etwa die Innere Mission erfüllt werden.350 Ein solcher Verein - überhaupt der erste kirchenpolitisch und überregional agierende Verein des liberalen Protestantismus - war der Deutsche Protestantenverein. Rothe galt von seiner Gründung im Jahre 1863 an bis zu seinem Lebensende als dessen höchst geachtete ,Gallionsfigur'. 351 Auch dem Protestantenverein war die kirchliche Einheit weniger wichtig als die staatliche. Seine nationalkirchlichen Bestrebungen waren den auf eine freiheitliche Gemeindeverfassung gerichteten Forderungen subordiniert; die kirchliche Einheit sollte zu keiner Zeit auf Kosten der kirchlichen Freiheit gewonnen werden.352 Bezeichnenderweise erträumte Rothe sich keinen Zusammenschluß protestantischer Lan348

HÖLSCHER, Religion, 612. Zum Scheitern des Protestantenvereins vgl. LEPP, 176-189.

349

SPOHN, §2, 177.

350

MEINHOLD, 480: Rothe gehörte zwar dem badischen Verein für Innere Mission als Vorstandsmitglied an, engagierte sich aber nicht intensiver. ROTHE, E l , Bd.3, §1036, 1037— 1039 = E2, Bd.5, §1169, 423-425, hält die Innere Mission für eine „besondere Sozialpflicht." Wiehern nennt Rothe unter seinen Freunden, die er auf dem 7. Kirchentag in Frankfurt a. M. traf. GERHARDT, Jahrhundert, T . l , 343. ROTHES grundsätzlich positive Stellung dem christlichen Vereinswesen gegenüber offenbart sich auch in seiner Predigt Gustav-Adolf-Verein. Distanzierter als über Vereine war aufgrund eigener Erfahrung sein Urteil über pietistische Konventikel. Ders., E2, Bd.3, §885, 512-519, bes. 518. 351

LEPP. Sowohl bei der Gründung einer Ortsgruppe des Deutschen Protestantenvereins in Heidelberg am 5. November 1863 als auch beim ersten Deutschen Protestantentag in Eisenach am 1865 hielt Rothe Vorträge. Er war beide Male wegen der integrierenden Kraft seiner Persönlichkeit zum Redner bestimmt worden. ROTHE, Eröffnungsrede und ders., Durch welche Mittel, Rede. 352 LEPP, 147-151.

108

Teil Α: Richard Rothe

deskirchen durch das Zusammenwirken der Fürsten und ihrer obersten Kirchenbeamten auf nationaler Ebene, sondern einen solchen, der die Erlangung der Vereinsziele den einzelnen Christen auftrug. Die Abzweckung des Vereins war weniger kirchlich als politisch: Rothes Meinung nach kann vor der Gründung des Deutschen Reiches allein ein Verein im Raum der protestantischen Kirche zum Versammlungsort aller national gesinnten Bürger werden.353 Deshalb wird der in Heidelberg gegründete Protestantenverein als das kirchliche Pendant zum Nationalverein betrachtet.354 Seinen Statuten zufolge wollte er „zur Erhaltung des Christentums" wirken, weil „das deutsche Volk [dessen] zur Lösung seiner nationalen Aufgaben bedarf."355 In allen deutschen Landeskirchen sollten ähnliche staatskirchenrechtliche Regelungen wie in Baden erreicht werden. Die Schöpfer des Protestantenvereins waren sich dessen bewußt, daß ihre Vereinigung als ein Surrogat für die in der Restaurationszeit unmöglich zu erlangende deutsche Einheit gedacht war. Der Verein galt als Sammelbecken für Liberale, solange die nationale Einheit noch nicht Wirklichkeit war. Aus einem Brief Rothes vom 31. August 1863 an Heinrich August EWALD, 3 5 6 der betreffs der geplanten Protestantenversammlung bei Rothe anfragte, wird deutlich, daß Rothe nicht zum innersten Führungkreis dieses Vereins gezählt werden kann, daß er aber beabsichtigte, den Verein zu fördern.357 Rothe sieht mit der Gründung des Protestantenvereins vor allem die Möglichkeit der Staatsverbesserung gegeben. Indem die Christlichkeit der Deutschen befördert wird, wird ihr sittlicher Einfluß im Staat gestärkt, so daß dieser zum nationalen Verfassungsstaat werden kann.358 Rothe will bei der ersten Zusammenkunft des Protestantenvereins nur einen kleinen Kreis versammelt sehen, zu dem auch „eine verhältnißmäßige Zahl von einsichtsvollen und religiös 353

ROTHE, E2, B d . 2 , §199, 2 5 6 f .

354

NlPPERDEY, Geschichte, 436. Auf vielfältige Vernetzungen zwischen dem Protestantenverein und dem Nationalverein weist HÜBINGER, 40 u.ö. hin. Die Führungspersönlichkeiten waren in in beiden Vereinen dieselben: Häusser, Johannes Caspar Bluntschli, Rudolf von Bennigsen. Dazu traten im Protestantenverein Schenkel und Zittel. Die Gründung eines deutschen Protestantenvereins war von der Durlacher Konferenz beschlossen worden; am 30. September 1863 fand die Gründungsversammlung des neuen Vereins in Frankfurt statt. Ortsvereine bestanden bald in Dresden und Heidelberg. Äußerer Anlaß fur die Errichtung dieses Vereines war der Streit um die Einführung eines neuen Gesangbuches in Baden durch die Kirchenregierung, der „als Symptom einer langeingewurzelten Störung des Verhältnisses zwischen dem evangelischen Volk und der evangelischen Kirche," „zwischen unserm gegenwärtigen deutschen Kulturleben, ja zwischen dem modernen Kulturleben überhaupt und der Kirche" bewertet wurde. ROTHE, Eröffnungsrede, 84. Diese Störung soll behoben werden durch Arbeit an der Staatsverfassung. Ebd., 86. 355

356

PROTESTANTENVEREIN, 7.

Vgl. zu dessen kirchenpolitischen Aktivitäten LEPP, 30f. 357 UB Göttingen, Cod. Ms. Ewald 41: Bl. 1300-06. SCHENKEL, Rothe, XLVI, berichtet, er habe Rothe „zur wenigstens passiven Theilnahme" an dieser Konferenz „überredet." 358 Ebd.

4.4 Protestantischer Nationalverein

109

erwärmten Nichttheologen" 359 gehören soll. Er will mit dem Verein „das wirklich evangelische Christenthum ernstlich" fördern,360 - und zwar nicht um seiner selbst willen, sondern weil die Religiosität seiner Meinung nach die Grundlage des Staates ist. Seine briefliche Äußerung gegenüber EWALD illustriert somit, was er mit seiner programmatischen Rede auf dem ersten Deutschen Protestantentag in Eisenach bezwecken wollte. Rothe fragte: „Durch welche Mittel können die der Kirche entfremdeten Glieder ihr wiedergewonnen werden?" und er antwortete ein Doppeltes: Indem die Kirche sich in Lehre und Verfassung der modernen Kulturentwicklung nicht länger verschließt, und indem die der Kirche Entfremdeten, vorzugsweise die Gebildeten, das Christentum als Wurzelboden ihrer Kultur neu entdecken und ihr sittlich durchformtes Christentum in der Kirche zur Geltung bringen. Sind diese Bedingungen erfüllt, so wird die Kirche zur rechten Förderin des Staates.361 Der Protestantenverein soll nicht die Kirche ersetzen, sondern sie durchdringen. Weil es noch unmöglich ist, „mit Allen (wenigstens unseres Volkes) eins zu sein und uns eins zu fühlen auf dem politischen Gebiete," so bietet es sich an, die Realisierung der Gemeinschaft aller Deutschen „da [zu] suchen, wo sie sich ganz von selbst macht, durch den Zusammentritt vor dem, dem gegenüber alle natürlich begründeten Scheidungen zusammenbrechen. Der unsere Zeit auszeichnende politische Trieb, wenn er sich selbst verstehen würde, könnte gar nicht umhin, unsere Gotteshäuser zu füllen. Zu diesen würden dann alle die hinströmen, in denen etwas von edlem Gemeinsinn lebt, zwar nicht eben darum, weil sie erwarteten, aus dem Munde der Prediger christliche Belehrungen zu empfangen, die sie nicht auch sich selbst erteilen oder sich auf anderen Wegen in noch größerer Vollkommenheit verschaffen könnten, sondern deshalb eigentlich, weil sie dort diejenigen Brüder, die im bürgerlichen Leben für sie unerreichbar bleiben, wenigstens im Grunde der Seele, bei der Hand ergreifen und in gemeinsamer anbetender Beugung vor Gott in Christo sich mit ihnen im innersten Heiligtum des Gemüts, das ja zugleich der tiefste Kern des individuellen Menschen ist, in Liebe begegnen wollen."362 Insofern besteht in der Gegenwart für die verschiedenen evangelischen Landeskirchen die Aufgabe, zu einer Nationalkirche zu werden, damit sie auf diese Weise „dem evangelischen Volke Deutschlands ein Herd und Hort wird für diejenigen moralischen Güter, welche allen Edelsten seiner Söhne als die teuersten und heiligsten gemeinsam und das die Nation innerlich zusammenhaltende

359

Ebd. Der weitere Briefwechsel zwischen Rothe und Ewald ist weniger ergiebig. Vgl. UB Göttingen, Cod. Ms. Ewald 41. 360 UB Göttingen, Cod. Ms. Ewald 41: B1.1301r. 361 Grundzüge der hier vertretenen Argumentation finden sich schon in der früheren Predigt ROTHES, Kampf. 362 Ders., Zur Orientierung, 10.

Teil Α: Richard Rothe

110

Band sind."363 Die Perversion des kirchlich institutionalisierten Christentums zu einer „Bauernreligion"364 soll aufgebrochen werden. Erster Schritt zur Nationalkirche im Nationalstaat ist der „Ausbau der deutschen evangelischen Kirchen auf der Grundlage des Gemeindeprincips."365 Die Theologenkirche soll zu einer Gemeindekirche werden, in der die öffentliche Vernunft herrscht. Dann würde sie nicht länger ein Hort der Reaktion, sondern der Motor der Staatsverbesserung sein. Deshalb sollte insbesondere der Einfluß des gebildeten Bürgertums in der Kirche gestärkt werden. Dieses sollte nicht länger kirchenamtlich regiertes Objekt sein, sondern selbst kirchenleitendes Subjekt werden.366 Mit dem Angebot, daß diese Bürger mit der Kirche ihre nationalen Interessen verfolgen, war die Hoffnung auf ihre Rechristianisierung verbunden.367 Gerade die von der Aufklärung beeinflußten staatsbestimmenden Schichten, die unkirchlich sind und sich - weil sie in Rothes Augen falschlich Christentum und Kirche identifizieren - , auch fur unchristlich hielten, waren für die Mitarbeit in einer erneuerten Kirche, die ihren Dienst an der Versittlichung des Staates leistet, zu werben.368 Ihnen muß vor allem erläutert werden, daß das Dogma nicht unveränderlich ist, so daß sie sich nicht länger von der kirchlichen Lehre abgestoßen fühlen müssen. Deshalb widerlegt Rothe ausführlich das „Vorurteil" auf Seiten der Kirchenchristen, daß Verwerfung von Dogmen Ausdruck des Unglaubens oder „im besten Fall eine[s] rationalisierenden Schwachglaubens" sei, und daß das Christentum unbedingt dogmatisch-theologisch gefaßt sein müsse.369 ,,[A]llen diesen angeblichen Axiomen gegenüber spreche ich mein herzhaftes Nein!" Es sei dagegen anzuerkennen, daß das Christentum sich ständig ändere, insofern sich die es umgebende Welt ändert. Die Reformation sei dafür das beste Beispiel. Derselbe Umstand, welcher damals die Reformation nötig machte, „der Umstand, daß in der Geschichte der christlichen Menschheit ein neuer Aufzug begonnen hat, daß auf dem christlichen Boden eine alte Welt zusammengestürzt und eine neue hervorgebrochen ist," fordert heute die Umbildung des dogmatischen Christentums.

•>70

„Die Lebensanschauung und die Lebensgestaltung, in denen man im sechzehnten Jahrhundert den Eindruck fixiert hat, welchen man von dem immerdar sich selbst

363

Ders., Eröffnungsrede, 89. Diktum Rothes, zit. nach MEHLHORN, Protestantenverein, 128. 365 Vereinsstatuten, zit. nach LEPP, 135. 366 Zur neutestamentlichen Begründung dieser Forderungen, die allerdings nicht von Rothe, sondern vornehmlich von Ewald und Schenkel vorgetragen wurden, vgl. ebd., 137f. 367 Zu den Problemen dieses Ansatzes vgl. ebd., 140. 368 ROTHE, Durch welche Mittel, Thesen, 45. 369 Ders., Zur Debatte, 93. 370 Ebd., 94. 364

4.4 Protestantischer Nationalverein

111

gleichen Christus empfing, sie halten nun einmal nicht mehr in dem gegenwärtigen Geschlecht. Das ist eine Thatsache, wider die kein Leugnen hilft."371 Rothes Hoffnungen auf die Rückgewinnung der entkirchlichten Christen erfüllten sich nicht; 3 2 er mußte dieses Scheitern seiner Konzeption freilich nicht mehr erleben. Das entscheidende Kennzeichen der Rotheschen Theologie ist ihre Modernität, die sich allerdings in engen Grenzen hält. Rothes Sozialethik macht den Richtungssinn der staatlichen und politischen Entwicklung zwar zu ihrem eigenen, bleibt dabei aber altständischen Vorstellungen verhaftet. Indem er jedoch die politischen Fragen der Gegenwart von der heilsgeschichtlichen Vision vom Reich Gottes her beantwortet, ist seine Theologie imstande, sogar revolutionäre Erschütterungen als Momente in diesem Entwicklungsprozeß zu deuten. So ist sie fähig, sich den politischen Entwicklungen schnell anzupassen. Unangemessen wäre es, Rothe als Demokraten zu schildern. Er war ein Liberaler des 19. Jh., dessen Ansichten dieselbe Problematik aufweisen wie diejenigen seiner Kollegen im politischen Amt: Sie sind beherrscht von der Angst vor dem vierten Stand. Ein Bündnis zwischen selbständig-sittlichen Staatsbürgern und Regierungen sollte Staatsverbesserung und soziale Befriedung schaffen. Daß Reform am besten von oben her verwirklicht wird, hatte Rothe schon am Beispiel seines Vaters, eines preußischen Beamten in der Ära der Steinschen Reformen gelernt.373 Um Gehör bei den Staatsdienern und staatstragenden Schichten warb er also. Sie sollten angeleitet werden, den besten durch menschliches Handeln zu realisierenden Staat heraufzuführen. Da er sich diesen als Organismus, als Leib mit Gliedern dachte, von denen eines dem anderen dient, und alle an der Verbesserung des Ganzen beständig arbeiten, war er unfähig, über sittlich verantwortbare Konfliktregelungsmechanismen nachzudenken. Dabei war er zwar nicht außerstande, Besonderheit anzuerkennen, sei es die des Nationalcharakters verschiedener Nationalstaaten oder die eines jeden Individuums, aber alle Individualität wird von Gott aufgehoben. Entsprechend kann er seine eigene Position voller Bescheidenheit relativieren, nachdem Martin K Ä H L E R ihn wegen seiner Tätigkeit für den Protestantenverein brieflich getadelt hatte. Rothe sieht sich mit seiner politischen und kirchlichen Position als Lobsänger des Herrn in einem Chor „der verschiedensten Stimmen, die sich durch Dissonanzen hindurch zur Harmonie verschmelzen. Daß in dieser Sinfonie jeder aufrichtig und mit voller Macht seine Stimme singe, darauf // kommt es an, daß keiner sich irre machen lasse durch den anders lautenden Ton seines Nebenmannes, aber auch keiner denselben um seines 371 372 373

Ebd., 95. LEPP, 176-189. Vgl. zusammenfassend zum Elternhaus GRAF, Rothe, 759-761; NlPPOLD, Rothe, Bd. 1,

l 6 f ; HAUSRATH, 3f.

112

Teil Α: Richard Rothe Tones willen verachte - die Auflösung der Dissonanzen in der Harmonie, das ist nicht die Sache des Einzelnen, das ist die Sache dessen selbst, dem das Loblied gilt."374

Dieses eindrückliche Selbstzeugnis erlaubt nicht nur den Einblick in Rothes Selbsteinschätzung, sondern auch in das grundlegende Problem seiner Ethik. Auserwählte Einzelne stehen nebeneinander und „singen" - für die Harmonie sorgt der, dem das Loblied gilt. Daß unterschiedliche Menschen verschiedene Interessen haben, die sie legitimerweise durch Parteibildung zu befriedigen suchen, verträgt sich nicht mit Rothes unbedingter Forderung, nur das Voranschreiten des Staates zum Reich Gottes im Auge zu haben. So wird er selbst zum Angehörigen einer Partei, ohne sich dessen bewußt zu sein, und behauptet, unbeirrt von etwaigen Einwänden, es sei möglich, den Gang der Welt- und Heilsgeschichte gewissermaßen objektiv nachzuvollziehen und durch menschliches Handeln zu beeinflussen. Die Förderung des Reiches Gottes soll nur durch die sittlich-religiösen Individuen, nicht durch vereinsmäßig organisierte Massen geschehen. Selbst die angedachte Ausdehnung des Wahlrechts könnte an dieser starren Konstruktion nichts ändern, denn Rothes Fürst respektive sein gewählter Präsident herrscht über Staat und Kirche wie ein pater familias, der allein das letzte Ziel im Auge hat. Er soll sich freiwillig an die Verfassung gebunden wissen; falls ein Konflikt zwischen ihm und den Volksvertretern besteht, gibt es keine institutionalisierte Möglichkeit, diesen zu lösen. Die Absetzung des Präsidenten ist nur durch das Volk in einer Revolution möglich. Um diese zu vermeiden, beraten die edlen Volksvertreter den gewählten Fürsten beim Regieren. Die ethischen Grundanschauungen Rothes spiegeln das Dilemma des politischen Liberalismus des 19. Jh. Seine Theologische Ethik ist ein typisches Erzeugnis einer Übergangsperiode der staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Sie ist nicht mehr altständisch-monarchisch ausgerichtet, aber auch noch nicht demokratisch. Zwar steht sie auf der Höhe ihrer Zeit; sie ist allerdings nicht wegweisend für die kommende. Trotz aller Unzulänglichkeiten, die diesem ethischen Entwurf anhaften, liegt hier doch ein bemerkenswerter Versuch vor, theologisch die Konsequenzen aus dem erfahrbaren Unterschied zwischen der altständischen Lebenswelt des Reformationszeitalters und der neuständischen Ordnung des 19. Jh. zu ziehen. Rothe denkt fur die Kreise der liberalen Honoratioren Badens; ihnen dient er Christentum und Kirche als Volkes Schule und Symbol der deutschen Nation an. 374 UB Göttingen, Cod. Ms. M. Köhler 9: 308, B1.2r/f: Rothe an M. Kühler, den „von Herzen theure[n] Freund," am 21. Dezember 1863. Bemerkenswerterweise hat Rothe in THOLUCK, Tholuck, 71, sich schon am 20. Juli 1832 in einem Brief an jenen ganz ähnlich geäußert: „Ja, es finden sich zwischen uns beiden [gemeint ist Schmieder, ADD] manche ganz besondre Berührungspunkte, von denen es sich allerdings erst fragt, ob von der Berührung in ihnen, Consonanzen oder Dissonanzen ausgehen würden. Im letztem Falle indessen gewiß solche, die sich in einer höheren Harmonie wieder auflösen würden."

4.4 Protestantischer Nationalerem

113

Es ist symptomatisch, daß Rothe in seiner Terminologie schwankt: Er bezeichnet Regierende und Regierte als Obrigkeit und Untertanen, als Fürst und Staatsbürger oder alle gleichermaßen als Staatsdiener. Faktisch strebte Rothe mit der Herausstellung des Verfassungsgedankens eine funktionale Gliederung des Staates an. Das entspricht zwar nicht LUTHERS Konzeption, nimmt aber die faktische Entwicklung des Staatsgedankens wahr und ernst. Der Reformator war nicht von einem abstrakten Prinzip, sondern vom Individuum coram Deo ausgegangen und hatte auch den Amtsträger in seiner Verantwortung vor Gott beschrieben. Dieser Gedanke spielt bei Rothe keine Rolle. Zwar steht seine Betonung des Dienstes der einzelnen Personen in ihrem jeweiligen Amt an ihren Nächsten in bester lutherischer Tradition, aber die Person des Amtsträgers wird von Rothe nicht mehr als Sünder und Gerechtfertigter zugleich, sondern als vernünftiger, sittlich-religiöser cooperator Dei gesehen. Vor allem aber hat sich seine Lehre vom Staat in mehrerlei Hinsicht von derjenigen LUTHERS weit entfernt: Sein Staat dient nicht wie LUTHERS Obrigkeit ausschließlich dazu, die Sünde in Schach zu halten, sondern hat die weit darüber hinausgehende Aufgabe, sich selbst im Verlauf der Geschichte der Menschheit zum Reich Gottes zu entwickeln. Er ist somit nicht in eine die Welt erhaltende Ordnung Gottes eingebunden sondern in die Erlösungsordnung, und diese Erlösung ist eine Selbsterlösung des Menschen, dem zugesprochen wird, das Gute realisieren zu können, wenn er dies nur will. Bezeichnend dafür ist die häufige Verwendung des Entwicklungsbegriffes, die immer mit dem aufgeklärt-idealistischen Gedanken des Fortschritts verbunden ist. Entsprechend unterscheidet sich auch Rothes Kirchenbegriff von demjenigen des Reformators: die Landeskirchen werden vom späten Rothe funktionalisiert zu Volkserziehungsanstalten, die der Versittlichung der Staatsbürger und der nationalen Einigung Deutschlands dienen sollen. Damit ist die für die Christentumsgeschichte bezeichnende Spannung zwischen Kirche und Welt eingeebnet und die spezifisch lutherische Bestimmung dieser Spannung aufgegeben. Die Größe der Rotheschen Gedankenwelt liegt jedoch darin, daß er „nicht im Christentum eine absterbende Religion sehen kann," 375 sondern der festen Überzeugung ist, Gott wirke auch in der Geschichte des 19. Jh., gerade in den sich zu dieser Zeit anbahnenden politischen wie kirchlichen Neuerungen.

375

TROELTSCH, Rothe, 80.

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

Demokratischer Verfassungsstaat Erwecktes Volk Protestantische Zivilreligion Samuel Simon Schmucker war nicht nur der erste lutherische Theologieprofessor in den Vereinigten Staaten von Amerika,1 sondern er war auch der erste an einer amerikanischen Hochschule, in Princeton, ausgebildete amerikanische lutherische Pfarrer überhaupt. Seine Zeitgenossen kannten ihn als Organisator der General Synod,2 des ersten Versuchs einer nationalen Einigung der amerikanischen Lutheraner. Als „Vater der Evangelischen Allianz"3 war er als einziger amerikanischer Lutheraner zu seiner Zeit über die Grenzen der eigenen Denomination hinaus bekannt. Schmucker entwickelte und vertrat als theologischer Lehrer an der von ihm mitbegründeten kirchlichen Hochschule der Generalsynode der lutherischen Kirche in den Vereinigten Staaten von Amerika wie als theologischer Schriftsteller den American Lutheranism.4 In einem gewissen Ge-

Schmucker war Mitbegründer des Lutheran Theological Seminary in Gettysburg, das seit 1826 lutherische Pastoren ausbildete. Vgl. zu den Hintergründen der Entstehung dieser kirchlichen Hochschule WENTZ, History, 74-89. Zu Schmuckers Bedeutung für die Konzeption und Umsetzung des Projekts vgl. ebd., 92, 96, 100-102, 106-214. Er war von 1826 bis zu seiner Amtsaufgabe im Jahre 1864 erster Professor dort. 2 BACHMANN, American General Synod, 51-54. 3 ANSTADT, 299. MANN/PLITT, XIV, beschreiben Schmuckers Aussehen und Auftreten in London: „Sollten wir H[er]rn Dr. Schmucker, den Vorsteher des lutherischen Predigerseminars in Gettysburg in Pennsylvanien, nicht nennen, einen [...] hochgewachsnen Mann, von bleichem Ansehen, mit langem dunklen Haar, von dem die Engländer sagten, er gleiche mehr einem deutschen Gelehrten als einem Gentleman; H[er]rn Dr. Schmucker, den Mann, der die Achtung der Engländer in hohem Grade besitzt, weil er mit großer Entschiedenheit sich gegen die Sklaverei erklärt hat, nicht nur in Worten, sondern auch in Thaten, indem er ein reiches Heirathsgut, welches in Sclaven bestehen sollte, j a selbst jede Geldentschädigung dafür, als Blutgeld zurückgewiesen hat. Er sprach nicht oft, aber was er sprach, war klar, ruhig, bestimmt und kräftig." Zu Schmuckers Bedeutung für die Evangelical Alliance vgl. MASSIE. Zur Geschichte der Evangelischen Allianz vgl. COCHLOVIUS, 652f; MACFARLAND; MACLEAR, Evangelical Alliance (Lit!); SANDEEN, Distinctiveness (Lit.!). Diese theologische Richtung, die - wie der Name schon andeutet - , ausschließlich in den Vereinigten Staaten von Amerika im 19. Jh. vertreten wurde, wird im allgemeinen mit den

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

116

gensatz zu der mit diesen wenigen Worten schon skizzierten Bedeutung steht seine Behandlung in den amerikanischen Geschichten der lutherischen Kirche: Er wird äußerst knapp abgehandelt.5 Dies ist nicht nur die Folge geschichtlicher Entwicklungen - lutherischer Konfessionalismus hat den American Lutheranism verdrängt sondern auch die Folge einer tiefgreifenden Unsicherheit in der Antwort auf die Frage, ob Schmucker überhaupt in der Reihe der Ahnen des heutigen Luthertums ein Platz gebührt. Häufig wird die These vertreten, er sei während seiner zweijährigen Ausbildung in Princeton von puritanischcalvinistischem Gedankengut erfaßt worden.6 Entsprechend ist gefragt worden, ob er „a courageous interpreter of the Lutheran heritage" oder ein Abtrünniger war.7 Die historische Erforschung seiner Theologie und speziell seiner politischen Ethik ist somit ein Desiderat.

1. Grundzüge der Ethik Schmuckers Sozialethik war schon in seinem ersten selbstverfaßten Werk, den Elements of Popular Theology,8 voll ausgeprägt und änderte sich während der späteren Jahrzehnte nicht. Deshalb konnte er grundlegende Abschnitte aus dem genannten Werk wörtlich in das 21 Jahre später veröffentlichte Lutheran Manual

Worten von WENTZ, Basic History, 137, charakterisiert: „This was a Lutheranism that was strongly modified by the puritan element of American Christianity and was unable to shake off the denominational indifferentism that had prevailed in the youth of the Republic. Failing to see that the conservative type of Lutheranism would restore to the church something of the ardor and earnestness of Muhlenberg and his colaborers, the ,American Lutherans' felt that such a strong infusion of historic Lutheranism, its confessions and its practices, so as to infuse into it the vigor of Presbyterianism and the warmth of Methodism. In short, they sought to adapt Lutheranism to American soil by divesting it of its distinctive traits and making it conform to the average American type of religion." 5 LUTHERANS, 120-124. Schmucker ist bisher nur in einer einzigen Monographie und allein unter dem Aspekt der abolition als Ethiker gewürdigt worden: KUENNING, Rise. 6 Vgl. die folgenden Äußerungen: WENTZ, Pioneer, 30: Schmucker übernahm während seiner zweijährigen Ausbildung in Princeton „Puritanism as a way of Christian living." JACOBS, Confessional Reaction, 153: Er war „more a Puritan than a Pietist." KOCH, Influences, 71: „Above and throughout any specific influences was the Calvinistic environment within which Schmucker had to move as pastor, educator and intellectual. If he wished to converse with learned men of his own stature he had to come into contact with Calvinists. Schmukker lived within his own environment and absorbed from it some of its characteristic Calvinism." 7

8

GRISLIS; FISCHER,

Yes.

Die verschiedenen Bearbeitungen zeigen eher eine beeindruckende Kontinuität als Diskontinuitäten oder Brüche im Denken Schmuckers. Vgl. a. unten Anm.17.

1. Grundzüge der Ethik

117

übernehmen. 9 Mit einer wesentlichen gedanklichen Weiterentwicklung seiner Positionen ist somit nicht zu rechnen. Im Unterschied zu den drei anderen Theologen hat sich dieser Amerikaner selbst als Sozialethiker begriffen und ethische Themen in seinen Publikationen breit behandelt. Er mutet seinen Lesern zu, das Richtige in Kirche, Staat und Gesellschaft zu tun, weil er einen jeden Menschen für ein mit Verstand begabtes Wesen, für einen free moral agent hält, der das, was er tun soll, auch tun kann; eben deshalb, weil er es soll. Was der Mensch soll, lehrt ihn die Heilige Schrift. Sie unterrichtet ihn nicht nur über die Heilstatsachen des christlichen Glaubens, sondern leitet ihn auch dazu an, die Gott wohlgefälligen Entscheidungen in Fragen der politischen Ethik zu fällen. Dafür bedarf der Mensch freilich neben der Heiligen Schrift auch der Vernunft: 10 „Our holy religion addresses us as reasonable beings capable of investigating the evidences of truth, and commands us to be ever ready to give a reason for the hope that is in us."" Vernünftige Wesen sind nach Schmuckers Überzeugung imstande, die Offenbarungswahrheiten mit ihren angeborenen denkerischen Fähigkeiten zu durchdringen, deren Wahrheit einzusehen und diskursiv zu begründen. In der Antrittsrede für sein Professorenamt in Gettysburg formuliert er: „Wir wissen [...], daß die Beweise für eine göttliche Offenbarung nothwendigerweise so beschaffen sind, eine Ueberzeugung in jedem aufrichtigen und unpartheyischen Wahrheitsforscher hervorzubringen; wo würde sonst der Mensch, dessen Glaube auf Beweißgründen ruhet, eine Verbindlichkeit haben, dieselbe anzunehmen?"12

9 SCHMUCKER, Elements, 326-345 (Civil Government) = ders., Lutheran Manual, 178195, erweiterte und anders gegliederte Fassung. Ders. übernimmt auch seinen löseitigen Appeal mit nur geringfügigen Änderungen in das Lutheran Manual, 310-324. WENTZ, History, 169, belegt die Kontinuität des Schmuckerschen Denkens mit Hinweis auf Äußerungen von ihm selbst. Der Lutheraner habe im Jahre 1857 behauptet, er könne noch alles unterschreiben, was er 1834 publiziert habe. Ferner ebd., 115, 122f, 126f, 184f. 10 SCHMUCKER, Discourse Commemoration, 95: Der Protestantismus hat nach Schmukker zwei „fixed principles," nämlich „reason and scripture." Zum spezifischen Profil der Aufklärung in Nordamerika unter Einbeziehung von Luthers Würdigung der Vernunft vgl. ZUR MÜHLEN, Aufklärung. 11 SCHMUCKER, Lutheran Manual, V. 12 Ders., Inaugural Address, 20, zit. nach der deutschen Übers., aus dem Jahr 1826. Als Zeugnis für die Rezeption aufgeklärten Gedankengutes vgl. weiterhin die von Schmucker mitverfaßte FORMULA of Government oder deren Abdr. in SCHMUCKER, Lutheran Manual·, auch zit. bei KRAUSHAAR, Verfassungsformen, 72f: Ausgehend von der natürlichen Religion, die den Menschen die Erkenntnis Gottes lehrt, bedarf er einer speziellen Offenbarung in Jesus Christus. Die von Christus beziehungsweise dessen Dienern Belehrten vereinen sich, um Ordnung und Wohlfahrt zu befördern in einer Kirche, wobei sie ihre Angelegenheiten so gestalten, wie es ihnen nützlich erscheint.

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

118

Deshalb gibt es keine autonome Vernunft, sondern nur eine in der Offenbarung grundgelegte und gebundene. Die Bibel ist das „ultimate Book of facts and principles in morals,"13 das von allen Protestanten eifrig studiert werden muß, damit sie qualifiziert werden, „to judge for themselves, and exercise their civil influence in defence of their rights."14 Ein jeder Mensch hat von Natur aus diese Urteilskraft und ist dafür verantwortlich, sie angemessen zu gebrauchen. Zuerst und vor allem hat ein jeder seine Vernunft für die Erkenntnis der rechten Gottesauffassung und der rechten Kirche zu benutzen. Damit vertritt Schmucker ein erkenntnistheoretisches Modell, in dem die Offenbarung der Vernunft übergeordnet ist, zugleich aber insofern Harmonie zwischen beiden waltet, als eine im Verlauf der geschichtlichen Erkenntnis wachsende Fähigkeit der Vernunft zur Aufnahme der Offenbarung angenommen wird. Vernunft bereitet den menschlichen Geist auf die Offenbarung vor, beweist die Einzigartigkeit der christlichen Lehre und fordert die rechte Interpretation der Heiligen Schrift. Die Wahrheit des Christentums ist durch neueste Forschungen gegenüber allen Ungläubigen erwiesen worden, die aufgrund naturwissenschaftlicher Entdeckungen die Darstellungen der Bibel bezweifelten, so daß nun das Christentum „stands out before the world, fully vindicated as the handmaid of universal knowledge, and as consistent with all truth."15 Der Gebrauch der Vernunft in Glaubensdingen ist unabdingbar, weil Glaube nicht Zustimmung zu unverständlichen Lehren - das wäre Aberglaube sondern Rechenschaft fordert. Diesen Supranaturalismus16 lernte Schmucker durch die Dogmatik von Gottlieb Christian S T O R R in der Bearbeitung von Carl Christian F L A T T kennen. Er publizierte deren von ihm für den Ausbildungsbetrieb in Gettysburg angefertigte Übersetzung im Jahre 182617 und erklärte, gerade sie als Lehrbuch für die angehenden lutherischen Pastoren ausgewählt zu haben, weil sie ein Zeugnis wider „critical and philosophical infidelity" sei.18 13

Ders., Discourse Commemoration, 95. Ebd. 15 Ders., Christian Pulpit, 5f. Nach HOLIFIELD, Theologie, 778, ist diese Position typisch nordamerikanisch. 16 Zum Supranationalismus der älteren Tübinger Schule, der Schmucker maßgeblich prägte, vgl. HOHLWEIN, 796f. Schmucker gibt weiterhin an, durch die Übergangstheologen Sigmund Jakob Baumgarten, Johann Franz Buddeus und Lorenz von Mosheim beeinflußt worden zu sein. Vgl. zu diesen ebd., 794; ANONYMUS, Baumgarten; FOHL; PÄLTZ, 316f, sowie unten Anm.l49f. 17 SCHMUCKER, Elementary Course. Schmucker übers, die 2. Aufl. von 1813. Zu den von ihm vorgenommenen Änderungen vgl. WENTZ, Pioneer, 102-119, 155f. Zur KantRezeption bei Storr und in der Älteren Tübinger Schule vgl. BRECHT, Anfänge. Zu den Autoren vgl. WESSELING, Storr-, ANONYMUS, Flatt. Neben Einflüssen des Supranaturalismus und der Aufklärung sind, - allerdings eher unspezifische - Anklänge an die common senseTheorie greifbar in SCHMUCKER, Church Redeemer, 105. Dazu vgl. SMITH, Theological Au, 1 lOf; dagegen FISCHER, Response, 149; WENTZ, Philosophie Roots. 14

SCHMUCKER, Reviewer,

465.

1.1 Biblische Pflichtenethik 1.1 Biblische

119

Pflichtenethik

Wenn der Satz gilt: „the Bible alone is infallible truth, unmixed with error, that is, objective truth," 19 dann hat christliche Ethik die Aufgabe, den Christen die Forderungen Gottes nahezubringen. Mitte der jesuanischen Botschaft und zentrale Forderung Gottes ist die Freiheit und Selbständigkeit der Jünger und Nachfolger Jesu gegenüber staatlicher Bevormundung. Eben diese Freiheit hat Jesus gefordert: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt" (Joh 18,36) lautet nach Schmucker der Kernsatz seiner Predigt. Damit ist eine organisatorisch-rechtliche Verbindung des Bereiches Christi mit dem des Staates „entirely excluded."20 Die von Jesus unmißverständlich geforderte Trennung von Staat und Kirche ist bisher nur in den Vereinigten Staaten von Amerika realisiert worden; hier ist die Kirche Christi im Lauf ihrer 1800jährigen Geschichte zum ersten Male imstande, „to breathe freely."21 Daß die amerikanische Gestaltung der Trennung von Staat und Kirche die Umsetzung von Jesu Forderungen ist, belegt Schmukker mit einer Reihe von Rückschlüssen aus dem Neuen Testament, die sämtlich die Struktur eines Beweises e silentio aufweisen: Jesus hat niemals seinen Aposteln irgendwelche politischen Pflichten auferlegt22 und keinen Träger eines politischen Amtes zur Kirchenleitung aufgefordert. Im Gegenteil: Er hat für jedes Amt in seiner Kirche explizit Männer aus anderen Berufen, nicht aber Träger eines obrigkeitlichen Amtes eingesetzt. Eine Staatskirche entzieht gerade denjenigen Männern, die Jesus selbst bevorzugt hat, die ihnen vom Heiland selbst verliehenen Ämter: „Hence, when by an unhallowed union of Church and State, civil rulers as such assume the privilege of exercising certain ecclesiastical rights, they perform duties which the Head of the church assigned to others."23 Christus hat Fischer zu seinen Nachfolgern berufen, nicht Landesherren. Er hat niemals die Träger eines politischen Amtes ermahnt, Verantwortung fur seine Kirche zu übernehmen. Es wäre daher absurd, wenn ein König oder irgendein staatlicher Amtsträger, der keine kirchliche Ordination oder Vollmacht empfangen hat, die Quelle geistlicher Autorität sein sollte. Wenn die

19

20

Ders., Church Redeemer, 158.

Ders., Elements, 337 = Lutheran Manual, 188. Ders., Patriarchs, 91: „With few exceptions, the principal churches of our land have been transplanted from countries where they were connected with the civil government. Such was the case with the Lutheran, the Presbyterian, the German Reformed, the Dutch Reformed, the Episcopal and the Papal. All these, except the last, have thrown off all allegiance to foreign powers. Released from the oppressive embrace of civil rulers, the American church, in all her Protestant branches, is left to breathe freely, and to adopt such rules of selfgovernment as from time to time command her conscientious judgement." Ahnlich in ders., Church Redeemer, 177f. 22 Ders., Elements, 337 = Lutheran Manual, 189. 23 Ebd., 338 = Lutheran Manual, 189. 21

120

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

Herrscher über besondere Qualitäten als Christen verfügen, so können natürlich auch sie wie jeder andere Christ in kirchliche Ämter gewählt werden. Aber dann haben sie ihre kirchlichen Aufgaben nicht als Herrscher, sondern als Christen zu erfüllen. 24 In ihrem hohen Amt haben sie als Christen jedoch die Pflicht, für die Verbreitung des Christentums zu sorgen. Gegebenenfalls müssen auch sie der Kirchenzucht unterworfen werden. Schmuckers Ableitung der Forderung nach Trennung v o n Kirche und Staat aus den Worten Jesu war keine singulare Position in der ersten Hälfte des 19. Jh. in den Vereinigten Staaten v o n Amerika. Zahlreiche Protestanten teilten diese Ansicht, welche die dort bestehenden Verhältnisse rechtfertigt und zu einem Heilsereignis verklärt.

1.2 Protestantische

Ethik

Schmuckers Stellung zu den lutherischen Bekenntnisschriften blieb zeitlebens in den Bahnen, die er 1834 in den Elements o f Popular Theology vorgezeichnet hatte. 25 Deshalb nannte Abdel Ross W E N T Z ihn einen „catalyst" für die Ge24

Ebd.,

Lutheran Manual, 189f.

25

Schon die Elements nehmen, wie es im Untertitel heißt: Special Reference to the Doctrines of the Reformation, as Avowed Before the Diet of Augsburg, in MDXXX. Die Schrift wurde von Schmucker als textbook fur die Ausbildung lutherischer Pfarrer im Lutheran Theological Seminary benutzt, weil sich herausgestellt hatte, daß seine Übers, der Dogmatik von STORR/FLATT (vgl. o. Anm.17) dafür zu kompliziert war. ANSTADT, 261. Schmukker gibt im Vorwort an, daß die Monographie aufgrund einer Aufforderung der Generalsynode der Lutherischen Kirche in den Vereinigten Staaten von Amerika entstanden sei, weil man schon länger das Bedürfnis nach einer Darstellung der „primary aspects of Christian Doctrine and Practice" gefühlt habe. In der Tat hatte die Generalsynode in den Jahren 1831 und 1833 beschlossen, eine englische Ausg. der CA mit Erklärungen für die amerikanische Leserschaft zu veranstalten. WENTZ, Pioneer, 158. Entsprechend findet sich im Anhang der Erstausg. der Elements eine lateinische Ausg. der CA, und die Darstellung beansprucht, nichts als die systematische Auslegung dieser ersten protestantischen Bekenntnisschrift zu sein, ohne freilich deren Logik zu folgen. SCHMUCKER, Elements, VI (Vorwort zur 1 Aufl. 1834): „Habitually fond of rigid adherence to system, the writer would have preferred the omission of the Augsburg Confession, as that symbol was neither designed for an epitome of Theology, or is entirely systematic in its structure. This difficulty was however obviated by mainly pursuing a logical connexion in the arrangement of the subjects, and when any particular article of the Confession did not coincide with this order, referring the reader to its appropriate place in the work." Schmucker will - entgegen der Vorgabe der Generalsynode - nicht die CA einfach nur kommentieren, sondern den Unterschied der protestantischen Grundanschauungen zu denen des römischen Katholizismus sowie die Ähnlichkeit der Anschauungen aller Protestanten deutlich machen. Aus der Tatsache, daß die General Synod keine Empfehlung für Schmuckers Elements aussprach - was sie aber zu derselben Zeit für andere Werke anderer Autoren durchaus tat - , schließt WENTZ, Pioneer, 183, daß es schon damals Widerstände gegen

1.2 Protestantische Ethik

121

schichte des amerikanischen Luthertums: Er beschleunigte dessen Konfessionalisierung. 26 Der Gettysburger Theologe hielt zeitlebens daran fest, daß das Augsburger Bekenntnis eine politische Schrift von hoher sozialethischer Bedeutung ist,27 und daß es Irrtümer enthält, und veröffentlichte sogar eine verbesserte Fassung; seine Kollegen und Kontrahenten lernten dagegen die ungeänderte Augsburger Konfession zunehmend schätzen. Schmucker versuchte, ein biblisch begründetes Luthertum zu etablieren, das er in einem gewissen Gegensatz zu einem konfessionell geprägten sah. Bezeichnend für seine Ansichten ist sein Briefwechsel mit seinem Sohn Beale Melanchthon. 28 Der Vater erklärt, wie seiner Meinung nach der Pfarrer zu Gewißheit und Sicherheit in seinen theologischen Ansichten kommen soll: „Yet if you wish to act wisely [...] and to do justice to your own intellect and to the claims of God on your soul, I advise you for several years to come to study the bible almost exclusively on all the grand doctrines and disputed topics of theology." 29 Wenn der Sohn alle für ein Thema einschlägigen biblischen Stellen bedenkt, in ihrem Kontext betrachtet und seine Ergebnisse aufzeichnet, dann ist er imstande, sein eigenes theologisches System „directly and independently from the word of God" abzuleiten. 30 Ein anderes Vorgehen, „the fountain of truth" wie der Sohn formuliert hatte - in den Autoren der lutherischen Orthodoxie erkennen zu wollen, hätte LUTHER selbst abgelehnt, denn er tat ja selbst nichts an-

Schmuckers Ansichten gab. Ebd., 357, findet sich eine Zusammenstellung der Änderungen zwischen den verschiedenen Aufl. der Elements, die sich jeweils aus der geänderten konfessionellen Lage erklären lassen. Stärker als die Elements stellt das 21 Jahre später verfaßte Lutheran Manual die CA in den Mittelpunkt der Darlegungen. Es trägt den Untertitel: the Augsburg Confession Illustrated and Sustained, Chiefly by Scripture Proofs and Extracts from Standard Lutheran Theologians of Europe and America. Entsprechend werden Artikel I bis XXI sowie Artikel XXVIII der CA lateinisch und deutsch geboten, mit Schriftbeweisen und Erklärungen. Zudem war der Schrift eine Liste deutscher orthodoxer Theologen beigegeben, die ausweisen sollte, daß Schmuckers Darlegungen auch in Übereinstimmung mit der lutherischen Tradition stehen. Dieser verstärkte Rekurs auf die CA und die Belege aus Schriften der lutherischen Orthodoxie erklären sich aus der gewandelten konfessionellen Lage. 26 WENTZ, Pioneer, 194, 230-242. FERM, Schmucker, 444, formulierte diesen Sachverhalt als Tragik des Schmuckerschen Lebens: „The paradox of his professional life is [...that] he set out to make his Church more Lutheran, and that the same Church later waved him aside because he was not Lutheran enough." 27 Vgl. zur politischen Ethik der CA MAURER, Kommentar, Bd.l, §10, 78-84; §11, 8496; §17, 124-142; §18, 143-149. 8 Beale Melanchthon war zuerst Pfarrer in Winchester VA, ab 1846 Pfarrer an St. Michael in Philadelphia. Zu seiner Biographie vgl. SCHMUCKER, Schmucker Family, 50-60. 29 AGTS 3100.0002: Samuel Simon Schmucker an Beale Melanchthon Schmucker am 5. März 1849. 30 Ebd.

122

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

deres als zurückzukehren „from the corruptions of Rome to the purity of the Gospel." 31 „Our good old Luther himself would wrap you over the knuckles, if he were present and heard you make such an expression. The bible my son, the bible alone is ,the foundation of truth' in the Christian religion and theology. Other works contain many of the streams which flow from this fountain but we can never be certain of their pursuit, until we compare them with the fountain itself."32 Schmucker will seinen Sohn wie seine Studenten und die jungen Kollegen, die sich vom anwachsenden lutherischen Konfessionalismus beeinflussen lassen, anleiten, „not to love Luther less, but to love Christ more; [...] to be christians first and then Lutherans." 33 Schmucker wurde seitens der konfessionellen amerikanischen Lutheraner vorgeworfen, das wahre Luthertum aufgegeben zu haben, weil er die lutherischen Bekenntnisschriften nicht anerkenne. U m sich gegen den Vorwurf mangelnder Bekenntnistreue zu wehren, weist er mit einem akribischen Ehrgeiz nach, daß Annahme des Konkordienbuches und Luthertum niemals überall zusammengehörten. 34 Noch nicht einmal die Annahme der Augsburger Konfession kann seiner Meinung nach als Ausdruck genuinen Luthertums angesehen werden: Sie erfolgte nicht freiwillig und aufgrund innerer Überzeugung, sondern um in den Genuß des Augsburger Religionsfriedens von 1555 zu gelangen. 35 Schmucker führt weitere Argumente zu seiner Rechtfertigung an: Die Confessio Augustana wurde nicht als System lutherischer Theologie entworfen, sondern

31

Ders., Church Redeemer, ΧΠ. Ebd., Xllf: „Like Luther, he [the symbolist, ADD] should feel himself a free agent, placed under the responsibility of the inspired word of God as the supreme law of the universe, higher far than any human symbols or human legislation. Like Luther, he should examine the infallible Word, in which are described the doctrines, the organization, and worship enjoined by the Saviour and his apostles." 32 AGTS 3100.0002: Samuel Simon Schmucker an Beale Melanchthon Schmucker am 5. März 1849. 33 AGTS 3100.0002: Samuel Simon Schmucker an Beale Melanchthon Schmucker am 29. Juli 1850. SMITH, Theological Authority, 109f, hat deutlich gemacht, daß der innerhalb der Generalsynode und des Gettysburger Seminars gegen Schmucker geführte Kampf zum Teil aus der Generationendifferenz und der unterschiedlichen Situation der verschiedenen deutschen Gruppen in den Vereinigten Staaten von Amerika heraus verständlich ist. Vgl. oben Kapitel 2.und unten Anhang. 34 Im Jahre 1828 lag die erste amerikanische Übers, der CA vor, gefertigt von Emest Hazelius; seit 1834 eine solche der Henkel-Druckerei. NuC Pre-1956 NA 0496735-lf. Die erste englische Übers, des Konkordienbuches wurde im Jahre 1851 von der Henkel-Presse herausgebracht. WENTZ, Basic History, 134. 35 SCHMUCKER, Doctrinal Basis, 164f. Er nennt das Konkordienbuch ein Prokrustesbett in Vocation, 262. Nach seiner Meinung bewirkte die CA faktisch die Schwächling und Zerspitterung des Protestantismus. Ebd., 265.

1.2 Protestantische Ethik

123

war zur Abwehr der grundlegenden römischen Irrtümer gedacht. 36 LUTHER selbst habe sich partiell von ihr distanziert.37 Der Reformator habe zudem jeden Zwang in Glaubensfragen abgelehnt und dagegen, daß eine Kirche sich lutherisch statt christlich nennt, protestiert. 38 Mit diesen Einwänden will Schmucker nicht die Bekenntnisbindung der lutherischen Kirche überhaupt aufgeben; er führt sie an, um zu erklären, warum ausschließlich eine modifizierte und gekürzte Confessio Augustana ein lutherisches Grundbekenntnis abgeben kann. 39 Ein derart weiterentwickeltes, auf die fundamentalen Lehren des Protestantismus reduziertes Bekenntnis wäre nach Schmucker ganz in LUTHERS Sinne. Gegen die Missourianer und ähnlich konfessionalistisch argumentierende Gruppen lutherischer Immigranten wendet Schmucker ein, daß sie nicht von der Heiligen Schritt her denken. Wenn nur diejenigen der evangelischen Kirche angehören sollen, die glauben, was LUTHER gelehrt hat, so wird ein „fallible man" zum „principium cognoscendi, the source of knowledge, of a Christian Church, instead of the inspired gospel of God!" 40 Statt dessen hat die Kirche in der Nachfolge LUTHERS sich mit ganzer Kraft ihrer Aufgabe der Weiterentwicklung zu einem immer vollkommeneren Abbild der Kirche des apostolischen Zeitalters zu widmen. Schmucker war also in dem Sinne ein Lutheraner, als er das grundlegende Prinzip der Reformation: sola scriptura, gegen das Grundbekenntnis der lutherischen Kirche, die Augsburger Konfession, in Anschlag brachte. Die Reformation war ihm nicht ein abgeschlossenes Ereignis, sondern eine in der Gegenwart

36

Ders., Elements, VI.

37

Ders., Church Redeemer, 160f. Schmucker übers, und zit. LUTHER nach L, Bd.20, 185, 196. Es handelt sich um einen Brief an Melanchthon am 29. 6. 1530 (WA.B 5, 405,1720) sowie einen Brief an Justus Jonas am 20. 9. 1530 (WA.B 5, 629,49-630,2). Zur Leipziger Ausg. (1729-1734/40) vgl. VOLZ/WOLGAST, 572-591. Schmucker weist daraufhin, daß die verängstigte Geisteshaltung Melanchthons zur Anpassung an die ,Papisten' geführt habe. Ebd., 161, Anm. Zum Beleg führt er Gottfried Arnold, Kirchen- und Ketzergeschichte, 2.Aufl., 38 Schaffhausen: Hurter 1740, Bd.l, 809, an. Vgl. a. unten Anm.58. SCHMUCKER, Church Redeemer, 60-64. Er übers, und zit. u. a. Von weltlicher Obrigkeit (1523) nach der L, Bd.18, 394f (WA 11, 262,16-263,6). Schmucker behauptet auch, „Luthers Works, vol. xviii, p. 293, 6th Leipsic edition" vorliegen zu haben. Eine solche ist jedoch nicht nachzuweisen. Es handelt sich tatsächlich um die auch sonst benutzte erste und einzige Ausg. L, um ein übers. Zitat aus Eine treue Vermahnung M. Luthers zu allen Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung, 1522 (WA 8, 676-687, hier 685, 4-15). 39 Noch 1867 vertritt SCHMUCKER, Church Redeemer, X, seine Grundüberzeugung von der Notwendigkeit eines kurzen Glaubensbekenntnisses, „containing those leading doctrines of the Gospel, which experience roves to be necessary to cooperation among true believers, and not all that is demanded by narrow-minded bigots." Die letzte Wendung zeigt in ihrer Gereiztheit, daß der Streit schon weit fortgeschritten ist; in früher publizierten Schriften hat Schmucker niemals die konfessioneller als er eingestellten Lutheraner mit solchen Worten bedacht. 40 Ebd., 157.

124

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

zu realisierende A u f g a b e . D a die Väter der amerikanischen lutherischen Kirche niemals die lutherischen Bekenntnisschriften „formally adopted [...] as binding o n our church in this country as tests o f admission or discipline," 4 1 fühlt Schmucker s i c h zur Prüfung und Verbesserung der C o n f e s s i o Augustana nach M a ß g a b e der H e i l i g e n Schrift berechtigt und berufen. D a s Urteil, er habe damit den B o d e n des Luthertums verlassen, stützt sich vor allem auf seine a n o n y m veröffentlichten V o r s c h l ä g e zur R e v i s i o n der Confessio Augustana, die 1855 allen der General Synod angehörigen Pfarrern als A n h a n g zur D e f i n i t e Platform zusandt wurden. 4 2 In der Schrift selbst heißt es, mehrere Pfarrer aus östlichen und westlichen S y n o d e n hätten bei der A b f a s s u n g zusammengearbeitet. A u c h w e n n also Schmucker nicht der alleinige Verfasser sein sollte, so bringt die Schrift doch in seinen Worten eben die Ansichten zum Ausdruck, die er erstmals 1834 in den Elements o f Popular T h e o l o g y öffentlich geäußert hatte. A n l a ß der Veröffentlichung war der W u n s c h v o n zur General Synod gehörenden Synoden i m Westen, sich angesichts des Drucks konfessio41

Ders., Doctrinal Basis, 157, 161. Ders., Definite Platform. Zum Entstehungszusammenhang vgl. W E N T Z , Pioneer, 2 0 5 2 1 4 . Zur bis heute anhaltenden Diskussion um die Schrift vgl. JORDAHL, Samuel Simon Schmucker. Zur Diskussion der Schrift in zeitgenössischen amerikanischen Zeitschriften vgl. SIEGEL; S M I T H , Theological Authority. Schmucker und seine Kombattanten scheinen mit der Abfassung der Definite Platform auf Vorwürfe orthodox lutherischer Kreise zu reagieren, wenn man nur die fundamentalen Lehren der CA annehme, aber diese nicht eigens nenne, lasse man Spielraum für die gänzliche Ablehnung dieser Bekenntnisschrift. Ein entsprechender Vorwurf wird - wahrscheinlich in Unkenntnis dessen, daß die Definite Platform schon im Druck vorliegt - , 1 8 5 6 in LuW erhoben von einem A N O N Y M U S , Generalsynode, 3 5 6 : „Wenn ich [...] sage: ,Die Augsburgische Confession ist das Bekenntniß meines Glaubens, sofern dieselbe mit der heil. Schrift übereinstimmt', so hebe ich durch die Einschränkung meine Aussage völlig wieder auf. [...] Denn so lange ich nicht genau erkläre, wie weit die Augsburgische Confession meiner Meinung nach mit der Schrift übereinstimmt und wie weit nicht, was ich also von der Augsburgischen Confession annehme, und was ich davon verwerfe, so weiß doch niemand, wie er mit mir daran ist. Ein bedingtes Bekenntnis zur Augsburgischen Confession ist darum ein bloßer Schein." Schon vor der Versendung der Definite Platform war Schmucker von William M. Reynolds heftig attackiert worden. W E N T Z , Pioneer, 1 9 1 - 1 9 4 . Schmucker wirft Reynolds im Gegenzug vor, die lutherische Kirche zur verbindlichen Annahme sämtlicher früheren Symbole zu treiben durch den sophistischen Nachweis, daß sie schon derzeit den Symbolen verpflichtet sei. Derzeit habe aber nicht einer von 50 Pfarrern überhaupt die Bekenntnisschriften gelesen. Dabei bestreitet Schmucker der lutherischen Kirche keineswegs das Recht, Bekenntnisschriften anzunehmen; aber dies soll „by fair and honest argument" geschehen. AGTS 3 1 0 0 . 0 0 0 2 : Samuel Simon Schmucker an Beale Melanchthon Schmucker am 24. Dezember 1849. Ebd. am 17. März 1850: Der Vater weist seinen Sohn daraufhin, daß er die Väter der Generalsynode persönlich gekannt habe, wie auch noch Helmuth aus der Generation Mühlenbergs. Diese seien keine Symbolisten gewesen. _„[E]xtended creeds" hätten überdies, wie die Geschichte lehre, einen „deadly influence" und seien „iron bondage" für die Kirche. Konfessionalismus ist zudem „contrary to the laws of intellectual and moral life, and soon degenerates necessarily into lifeless orthodoxy and dead formality. It is moreover contrary to scripture example, and therefore not obligatory or right." 42

1.2 Protestantische Ethik

125

neiler Lutheraner über den Bekenntnisstand in ihrem Synodalverband Rechenschaft abzulegen. Bis dahin sprach man in der General Synod nur von einem „doctrinal test" als Bedingung der Einstellung eines Pfarrers, ohne näher zu auszuführen, was gemeint ist mit der Formulierung, der Kandidat bekenne sich zu „the Word of God, our only infallible rule, and the fundamentals of that Word, as substantially set forth in the Augsburg Confession." 43 In der Definite Platform wird gefordert, daß die American Recension of the Augsburg Confession das Grundbekenntnis der mit der General Synod verbundenen Lutheraner sein soll. Es handelt sich um eine englische Übersetzung der Artikel 1 bis 21 des Augsburgischen Bekenntnisses unter Auslassung einiger erläuternder Abschnitte. 44 Korrigiert werden solche Lehren, die schon die Reformatoren selbst korrigierten, 45 darüber hinaus jene, die wider die Heilige Schrift sind, und solche, die kein modemer Lutheraner mehr einsieht. 46 Kirchliche Gemeinschaft kann mit allen Lutheranern bestehen, die nicht an „Exorcism, 47 Private Confession and Absolution [CA 11, 25, 28, A D D ] , or the Ceremonies of the Mass [CA 10, 24, ADD]" glauben. In allen anderen Punkten, die das revidierte Augsburger Bekenntnis verwirft: die göttliche Einsetzung des Sonntags (CA 28), oder fordert: Wiedergeburt durch Wassertaufe (CA 2, 3) und Realpräsenz (CA 10), denen Schmucker aber widerspricht, soll die General Synod tolerant gegenüber an-

43

Zit. nach SCHMUCKER, Church Redeemer, 148. Die von der General Synod vorgeschlagene Konstitution für Distriktsynoden sieht vor, daß der Kandidat zudem mit ,Ja' auf die folgende Frage antwortet: „Do you believe that the fundamental doctrines of the Word of God are taught in a manner substantially correct, in the doctrinal articles of the Augsburg Confession?" SCHMUCKER, Peace, 34, fordert entsprechend „uniformity in fundamentals, and charity or liberty in non-fundamentals." Den Begriff „fundamental doctrines" hat Schmucker von Georg Calixt übernommen, so WENTZ, Pioneer, 159. Vgl. zur Erläuterung, was fundamental fur Schmucker hieß, welche Lehren er für fundamental hielt und wie er diese Liste nach den Erfahrungen bei der Zusammenkunft der Evangelischen Allianz im Jahre 1846 in London modifizierte ebd., 157-160. Zu Calixt, seiner Lutherrezeption und seiner Auffassung der Bekenntnisschriften vgl. MAGER, Reformatorische Theologie, 17-22, 28f u.ö.; dies., Calixt. 44 Die Begründung fur diese Auswahl ist pragmatisch: Das ganze Bekenntnis ist seiner Meinung nach viel zu lang (Definite Platform, 20); deshalb sind nur die theologisch wichtigen Punkte aufgenommen worden. Vgl. die Nebeneinanderstellung einiger Artikel der Schmuckerschen Rezension der CA mit der derzeit approbierten Fassung in LUTHERANS, 222f. Weitere Beispiele für Schmuckers Ubers, und Interpretation finden sich unten Anm. 116 u. 206. 5 SCHMUCKER, Definite Platform, 22, verweist darauf, daß die Reformatoren die Ausführungen zur Messe in CA 24 in den ASm korrigiert haben, indem sie die Messe als „the greatest and most terrible abomination" bezeichnet haben. Hier zit. er die ASm nach der 2. Aufl. der „Newmarket edition of the Symbolical Books," die 1854 (EA 1851) in der HenkelPresse erschienen war. 46 Ebd., 5. 47 Luthers Taufbüchlein (1526), BSLK, 538. Die Praxis des Exorzismus ist nach Schmucker in den Vereinigten Staaten von Amerika ungebräuchlich und überdies unbiblisch. SCHMUCKER, Definite Platform, 22f.

126

Teil Β : Samuel S i m o n Schmucker

dersgläubigen Lutheranern sein.48 Schmucker war davon überzeugt, die Mehrheitsmeinung zum Ausdruck zu bringen, und konnte sich nicht vorstellen, daß irgendein Lutheraner Lehren, die er als unbiblisch erweisen zu können glaubte, in seinem Bekenntnis festgeschrieben wissen wollte. Insofern ist auch und gerade die revidierte amerikanische Fassung des Augsburger Bekenntnisses Ausdruck der Schmuckerschen Hochschätzung dieses Symbols.49 Freilich schätzte er es nicht in seinem Wortlaut, sondern als Zusammenfassung der biblischen Fundamentalsätze. Der Eid, den Schmucker als junger Professor bei der Einsetzung in sein neues Amt ablegte, bekräftigt dies: „I believe the Augsburg Confession and the Catechisms of Luther to be a summary and just exhibition of the fundamental doctrines of the Word of God."50 Schmuckers Monenda gehören fast alle in das Gebiet der theologischen Ethik.51 Seine Änderungsvorschläge sind jeweils durch seine Anthropologie begründet. Wenn der Mensch tatsächlich - so wie Schmucker meint - ein von Gott mit Vernunft und freiem Willen ausgestattetes Wesen ist, dann ist die Durchführung eines Exorzismus ebenso unsinnig wie die Behauptung, die Wassertaufe mache einen neuen Menschen aus einem jedem ohne dessen Zutun.52 Ohrenbeichte und Absolution spiegeln also nicht nur ein falsches Verständnis des Pfarramts, sondern dienen dazu, daß das Individuum nicht öffentlich Verantwortung für seine Taten übernimmt. Besonders in der Heiligung des Sonntags bringt der freie Mensch zum Ausdruck, daß er bestrebt ist, Gottes Willen entsprechend zu leben. Dieses Menschenbild unterscheidet sich von demjenigen LUTHERS,

48

Ebd., 5. Dazu kommen die Verwerfung der hypostatischen Union der beiden Naturen in Christus (CF 8, S.35-37) und die Verwerfung der sündentilgenden Kraft des Abendmahls (ApolCA 12, KIKat, S.37-39). SCHMUCKER publizierte zur Rechtfertigung American Lutheranism und vertrat seine Kritik der Real Physical Presence in ders., Rev. Brown. 49 Entsprechend ist festzustellen, daß Schmucker von Anbeginn seiner Karriere als lutherischer Kandidat der Theologie bis zum Ende seiner akademischen activitas der CA eine herausgehobene Bedeutung fur die Einigung des Luthertums zusprach. Er wünschte sich, wie aus Tagebuchaufzeichnungen hervorgeht, schon während seines theologischen Studiums in Princeton, daß sämtliche Theologiestudenten, die sich für den lutherischen Kirchendienst bewerben, auf die CA vereidigt würden, und setzte sich 1829 bei der General Synod auch für eine solche Festlegung ein. WENTZ, History, 120. Auch in dem Plan für die Gründung eines Seminars der lutherischen Kirche fordert er, daß „the fundamental doctrines of the Sacred Scriptures, as contained in the Augsburg Confession" gelehrt werden sollen. Ebd., 117. 1826 wurde dies im ersten Artikel der Konstitution der neuen Einrichtung festgeschrieben, ergänzt um die Bemerkung, dieses solle „in opposition to Deists, Unitarians, Arians, Antinomians, and other fundamental errorists" geschehen. Ebd., 118. YODER, Union Proposals, 39-77, hat herausgearbeitet, daß mit einer solchen Rückbesinnung auf die CA die von 1790 bis 1830 dauernde Phase der völligen Preisgabe jedes Bekenntnisses, der Kirchenunionen und des Rationalismus zu Ende ging. 50

WENTZ, History, 118. ' Eine Ausnahme ist allein das Thema Realpräsenz. Vgl. DÖRFLER-DlERKEN, Luther. 52 Zum Menschenbild Schmuckers vgl. unten Abschnitt 3.2. 5

1.2 Protestantische Ethik

127

das nach Schmucker magische Elemente enthält. Nach dem amerikanischen Theologen ist der Mensch nicht deshalb simul iustus et peccator, weil er ganz auf die Rechtfertigungsgnade angewiesen ist, sondern allein aus dem Grund, daß er sich noch nicht genug angestrengt hat, zu einem Gerechten zu werden. Schmucker beruft sich zur Rechtfertigung seiner Korrekturen an der grundlegenden Bekenntnisschrift des Luthertums auf deutsche Theologen. Sein Vorbild für dem Umgang mit den Symbolen ist der Pietist Philipp Jakob SPENER: ,,[H]e preferred the bible to the Symbolic books, and whilst he adherred to all the features of true Lutheranism, he nevertheless restored the bible to its proper place as textbook of instruction in the family and prayer meetings or collegia Pietatis; in the church and in the Professor chair at Halle, although he did not occupy it himself."53 Schmucker zitiert weder intensiv aus LUTHERs Schriften noch referiert er ausführlich dessen Leitideen. Gleichwohl ist feststellbar, daß er einige Schriften des Reformators aus den zu seiner Zeit verbreiteten Werkausgaben, der Leipziger und der Walchschen, kannte.54 Nur an einzelnen herausgehobenen Punkten zitiert er gelegentlich ein Diktum LUTHERs wie einen ,Merksatz.'55 Da zu seinen Lebzeiten keine englische Übersetzung der Werke des Reformators beziehungs-

53

AGTS 3100.002: Samuel Simon Schmucker an seinen Sohn Beale Melanchthon am 17. März 1849. 54 Vgl. den Hinweis auf LUTHERs Schrift Von den guten Werken (1520) nach W 10, 1630, 1647 (WA 6, 204-276) in SCHMUCKER, Church Redeemer, 68, 193; für L vgl. Anm.37f. Zu W, der neuesten zu Schmuckers Zeit abgeschlossen vorliegenden Ausg. der Werke des Reformators, vgl. VOLZ/ WOLGAST, 581-592. ErlA begann erst ab 1826 zu erscheinen. Ebd., 591-601. Die erste amerikanische Ausg. der Werke Luthers in deutscher Sprache, ein verbesserter Nachdruck von W, wurde 1880 begonnen; vorher waren einzelne Schriften des Reformators in Luthers Volksbibliothek veröffentlicht worden. Die beiden letztgenannten Editionen wurden von der Missourisynode vorangetrieben. Ebd., 602—606. Zu englischen Übers, der Schriften Luthers vgl. oben Anm.34, 45, 56 55 SCHMUCKER, Fraternal Appeal, 79: ,J had cherished the hope, that henceforth men would apply to the holy Scriptures themselves, and let my books alone; as they have now accomplished their end and have conducted the hearts of men to the Scriptures, which was my design in writing them. What profit is there in the making of many books, and yet remaining ignorant of the book of books?" Schmucker gibt an, diese Zeilen aus L 14, 422, übers, zu haben. Das ist jedoch eine falsche Angabe. Es handelt sich tatsächlich um die Übers, des folgenden Diktums LUTHERs: „Ich hatte gehofft, man sollt sich hynfurt an die heylige schrifft selb geben und meyne bücher faren lassen, nach dem sie nu auß gedienet unnd die hertzen ynn und z& der schrifft gefuret haben, wilchs meyn ursach war zö schreyben meyne bücher." Das sind die an die Drucker gerichteten Anfangssätze des Sermons von dem reichen Mann und dem armen Lazarus, 1522 (WA 10.ΠΙ, 176,7-10).

128

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

weise seiner Hauptschriften vorlag, dürfte er in diesen Fällen eine eigene Übersetzung geboten haben. 56 Das Urteil, Schmucker sei kein rechter Lutheraner gewesen, stimmt aus historischer Perspektive also nicht. Der Theologe hat in einem unter amerikanischen Verhältnissen ganz unüblichen Maße seine politische Ethik ausgehend von der Confessio Augustana formuliert, er hat dieses lutherische Grundbekenntnis bei den Lutheranern seiner Zeit bekannt gemacht und Forschungen zu seiner Entstehung und Verbreitung angestellt. Daß er allerdings einen Dissens sah zwischen Augsburger Konfession und Heiliger Schrift unterscheidet ihn von seinen neulutherischen und repristinatorischen Kollegen.

1.3 Pietistische

Ethik

In Schmuckers Hochschätzung der Freikirche spiegelt sich nicht nur die Anerkennung der in den Vereinigten Staaten von Amerika bestehenden staatskirchenrechtlichen Situation, sondern auch der Einfluß des Pietismus. Seine kirchenpolitischen Grundüberzeugungen entsprechen denen Gottfried ARNOLDS. So beendete nach Schmucker erst die amerikanische Revolution das konstantinische Staatskirchenwesen, das Europa seit 1400 Jahren bestimmt.57 Kronzeuge für die Auffassung, daß die Vermischung des staatlichen mit dem kirchlichen Bereich unter KONSTANTIN d. Gr. den Verlust der Reinheit der Kirche gebracht habe, ist ARNOLD, dessen Ideen dem Amerikaner vertraut waren.58 Schmuckers Lektüre der Heiligen Schrift und seine eigenwillige und etwas gezwungen wirkende Übertragung der Worte Jesu auf die amerikanische Gegenwart gewinnt vor sei-

56 Vgl. NuC Pre-1956. Geprüft wurden LUTHERS Schriften Von weltlicher Obrigkeit, Von den guten Werken, Von der Freiheit eines Christenmenschen. Nur der Kleine und der Große Katechismus lagen in einer Henkel-Ausg., Newmarket (1842) vor. 57 SCHMUCKER, Retrospect, 23f. Der Text geht auf eine Predigt zur Eröffnung der Generalsynode im Jahre 1841 zurück. Schmucker lädt hier alle Lutheraner ein, sich auf die pietistische Tradition des alten amerikanischen Luthertums, Mühlenbergs und seiner Nachfolger, zurückzubesinnen. Damit ergab sich die Möglichkeit, die konfessionellen Lutheraner als Neuerer zu bezeichnen. 58 Zwar erwarb Schmucker erst im Jahre 1852 eine Ausg. der Kirchen- und Ketzerhistorie (wie Anm.37), aber schon sein Vater hatte für seine Auslegung der Johannesapokalypse (vgl. unten Anm.193) intensiv Ketzerhistorie sowie Arnolds Leben der Altväter (in einer unbekannten Ausg.) benutzt. Da jener die theologische Bildung seines Sohnes prägte, waren diesem die Grundgedanken des pietistischen Geschichtsbildes vertraut. HANEY, Roots, 77. Bezeichnend für SCHMUCKERS Arnold-Rezeption ist auch die Schilderung der konstantinischen Wende in Church Redeemer, 34f. Zu Person und Werk des Pietisten vgl. SCHMIDT, Arnold. Zur Arnoldrezeption in den Vereinigten Staaten von Amerika liegt keine Untersuchung vor.

1.3 Pietistische Ethik

129

nem pietistisch geprägten familiengeschichtlichen Hintergrund an Plausibilität.59 Entsprechendes Gedankengut wurde Schmucker durch seinen Vater60 und den in Philadelphia als lutherischer Pfarrer und Lehrer tätigen, in Halle ausgebildeten Justus Heinrich HELMUTH vermittelt.61 Überdies findet sich in den erhaltenen Resten der Bibliothek Schmuckers eine Vielzahl von pietistischen Schriften. Aus den Schriften von SPENER,62 August Hermann FRANCKE63 und dem eben schon erwähnten ARNOLD lernte Schmucker, daß es eine ,geheime Sukzession' 59

Entsprechend hat schon Schmuckers erster Biograph, ANSTADT, 50, festgestellt: „Yes, Prof. Schmucker was a Pietist.". Ders. fährt ebd. fort: „[...] and his father was a Pietist, and the founder of our General Synod, yea, the fathers of our American Lutheran Church, who came from Pietistic Halle, the Muhlenbergs, Kunzes, Helmuths, Schmidts, Schäffers, and the ministers trained by them, Schmucker Senior, the Lochmans, Kurtzes, Schäffers, were all Pietists of the Spenerian school. They are our spiritual fathers." Schmuckers Hochschätzung des Pietismus erhellt auch aus der Benennung des am 16. Juli 1836 geborenen Sohnes als George William Spener Schmucker. Ebd., 26. Vgl. a. die Schilderung pietistischen Verhaltens der Schmuckers ebd., 42-45: Schmucker nahm keinen Alkohol als Getränk zu sich, besuchte keine Tanz- oder Theaterveranstaltung, mied das Kartenspiel, genoß keinen Tabak oder sonstige Narkotika, u.s.w. Schmucker senior verurteilte öffentlich von der Kanzel herab Kartenspieler, auch wenn sie nur zu unschuldiger Zerstreuung spielten. Dies berichtet Samuel Simon Schmucker in einem Brief vom 24. Dezember 1857, zit. ebd., 20f. 60 Beispiele für pietistische Praktiken aus der Jugend John Georges und Samuel Simons bei ANSTADT, 28f. Vgl. a. oben Anm.59f. 61 Vgl. zu Person und Werk GRENZMER, Helmuth-, DEMME. Zur Hochschätzung Helmuths durch Schmucker vgl. SCHMUCKER, Retrospect, 21-25. 62 Schmucker übernimmt von Spener beispielsweise den Ausdruck Pia desideria. Er hatte 1820, bevor er Princeton verließ, bezeichnenderweise gerade drei,fromme Wünsche': „a translation of some one eminent system of Lutheran Dogmatics, a Theological Seminary, and a College for the Lutheran Church." WENTZ, Pioneer, 49. SCHMUCKER, Patriarchs, 94f, beschreibt Speners und Franckes Einfluß folgendermaßen: „The dead formality of the 17th century had been broken up by the influence of Spener and his coadjutors. This effect was chiefly due to their practical and biblical preaching, to Spener's various publications, especially his Pia Desideria, and his Spiritual Priesthood of the Laity; as also to his Collegia pietatis, or private biblical prayer-meetings, in which after a lecture by the pastor on some part of scripture, any male member present was permitted to address the meeting on the same subject, decently and in order. By all these means, soon employed by numerous other pastors, a great and extensive reformation, or revival of spiritual religion, was effected in the church of Germany. The influence of Franke [sic !], and the establishment of the orphan-house and theological school at Halle, gave rapid and general extension to this reform, and supplied a large part of Germany with pious and practical preachers." 63 Wie enttäuscht Schmucker war, als er während seiner Deutschlandreise im Jahre 1846 Halle besichtigte und feststellen mußte, daß der Geist Franckes, wie er ihn vor Augen hatte, dort nicht mehr lebendig war, erhellt aus seinem Tagebuch. DÖRFLER-DlERKEN, Amerikaner. Schmucker erwarb mehrere Schriften aus Halle (ARWML 223 SS, 196 SS), vor allem die Nachrichten von den Vereinigten evangelisch-lutherischen Gemeinden in Nordamerika, genannt Hallische Nachrichten (ARWML 181 SS und 182 SS), die zum Zweck der Information aller Förderer der lutherischen Kirche in Nordamerika durch Francke und seine Mitarbeiter aus den Briefen Mühlenbergs und anderer zusammengestellt worden waren.

130

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

des wahren Christentums v o m apostolischen Zeitalter an gab. D i e Reformation blieb unvollendet, w e i l sie keine erneuerte Frömmigkeit hervorbrachte. Der B e ginn einer zweiten Reformation erfolgte mit Johann ARNDT; in den Vereinigten Staaten von Amerika bestand nun fur die v o n Halle ausgesandten Missionare die Möglichkeit, diese zweite Reformation zu vollenden und eine wahre christliche Kirche der Wiedergeborenen zu begründen. 6 4 Während seiner Ausbildung hatte Schmucker als Schüler HELMUTHS nicht nur zentrale Texte der genannten Autoren durchzuarbeiten, 65 sondern wurde auch angehalten, täglich in Karl Heinrich v o n BOGATZKYs Losungen, d e m Güldenen Schatzkästlein der Kinder Gottes, 6 6 zu lesen. Schmuckers pietistische Prägung machte ihn empfänglich für Themen und Überzeugungen der amerikanischen Erweckungsbewegung, w e n n er auch ein spezifisch lutherisch-kirchliches Profil beibehielt, das ihn v o n den meisten Theologen des Second Great Awakening unterscheidet. 67 Der Geist der Erwek-

64

SCHMUCKER, Patriarchs, 95f. Nach HANEY, Roots, 87 Anm.42, handelte es sich um Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum, Speners Theologische Bedenken, Franckes Predigten und Freylinghausens Fundamenta theologiae christianae, jeweils in unbekannten Ausg. 66 Ebd., Anm.43. Die Schrift erfuhr in Deutschland über 50 Ausg., in den Vereinigten Staaten von Amerika zahlreiche deutsche Ausg. und Übers, beziehungsweise Abdrucke älterer englischer Übers. Vgl. beispielsweise York, 1790; Philadelphia, 1793; Boston, 1796; New York 1797: NuC Pre-1956 NB 0594741-NB 0594744. Nach den Kriterien zur Einordnung eines Theologen in die Erweckungsbewegung (zusammengestellt bei RUHBACH, 163f, ist Schmucker ein Erweckungstheologe, insofern er sich 1. um bibelorientierte lebendige Frömmigkeit bemüht, sich 2. als Teil eines christlichen Brüderbundes (Evangelische Allianz, protestantische Vereine) fühlt, 3. zu Buße und zur Verwirklichung des Reiches Gottes ruft, 4. an der Versöhnung der großen Konfessionen arbeitet und 5. Wert legt auf persönliche Frömmigkeit, die sich in der Vereinsarbeit konkretisiert. Die Idee eines brüderlichen Bundes speziell der deutschstämmigen Lutheraner mit den Lutheranern in Deutschland steht auch hinter Schmuckers Versuchen, Briefwechsel mit deutschen Theologen zu beginnen, ein Unternehmen, das relativ erfolglos geblieben zu sein scheint. Im Nachlaß Twesten in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek Kiel Cb 55.56: 84. 08-10 finden sich zwei ausgesprochen drängende Briefe Schmuckers an August Detlev Christian Twesten vom 9. Februar 1829 und vom 31. [Monat unleserlich] 1831. Twesten scheint kein Interesse an einem solchen Briefwechsel gehabt zu haben. Auch wenn die Kriterien von MCLOUGHLIN, 186f, angewendet werden, ist Schmucker ein typischer Vertreter der amerikanischen Erweckungsbewegung: „Christ died not for the elect but for all men and women; God created the world not for his own glory but for human happiness; children were not born totally depraved but free moral agents who needed to be treated with respect (for they came .trailing clouds of glory'; the child was parent to the adult not a child of the devil to be submissive to parental authority). Grace was not irresistably forced upon persons and even saints might backslide [...]. Sovereignty might now be trusted to the common people because they were not worms or loathsome sidlers but children of God, capable of self-discipline, self-control, who innately and intuitively responded to the presence of God in nature." Allerdings zeigt sich hier, daß Schmucker manchen dieser Äußerungen nicht zustimmen könnte; sein Autoritätsdenken, sein 65

1.3 Pietistische Ethik

131

kung konnte Schmucker nicht fremd bleiben, erlebte er doch höchst intensiv das sogenannte Evangelical Golden Age mit, das von 1800 bis 1861 gerechnet wird.68 Schmucker sah in den protracted meetings, die er in der Gemeinde seines Vaters69 erlebte, allerdings kein Pendant zu Ereignissen in anderen amerikanischen Denominationen, sondern Wiederbelebungen des Geistes SPENERscher Konventikel, und er interpretierte „outpourings of the Holy Spirit, each resulting in the conversion of multitudes of souls,"70 die sich während seiner eigenen Tätigkeit im Pfarramt ereigneten, als Wiederaufflammen dieses Geistes. Der Unterschied zwischen seinen theologischen und sittlichen Auffassungen zu denen der bedeutendsten Vertreter des Second Great Awakening wird schon durch die Formulierungen deutlich, mit denen Schmucker protracted meetings charakterisiert: Sie sollen nur „decently and in order"71 stattfinden. Das macht deutlich, daß er eine tiefe Skepsis gegenüber dem religiösen Gefühl und Ausbrüchen desselben hat. So geht es schon aus seiner ersten, noch während der Ausbildung am Princeton Theological Seminary verfaßten, und dort am 8. März 1820 erstmals gehaltenen Predigt zu Act 3,19f hervor zum Thema „So tut nun Buße und bekehret euch..."

Verantwortungsbewußtsein und sein traditionell-lutherisch bestimmter Glaube standen dem Aufsehen im Sog der amerikanischen Erweckungsbewegung entgegen. 8 Überblick bei LINDER, Introduction, 1990, 7 - 1 1 . JORDAHL, Samuel Simon Schmucker, 101, hat Schmucker als zur American Middle Period zugehörig geschildert, „when the evangelical impulse, so strikingly represented by our founding father, was so closely intertwined with the American ,Democratic Dream' that the two were only revers sides of the same coin." 69 Die Synode von West-Pennsylvania erlaubte „Special-Conferencen" (protracted meetings), die auch über mehrere Tage dauern durften, sofern nur „alles unnötige Lautwerden und sonstige Unordnungen" verhütet werden. Frauen durften in gemischten Versammlungen der lutherischen Kirchen nicht öffentlich beten. VERHANDLUNGEN Achte Synode, 24. 70 HANEY, Roots, 68. Samuel Simon Schmucker hatte während seiner Tätigkeit als Pastor von vier Gemeinden in der Nähe von New Market, VA ein bedeutendes Wachstum seiner Gemeinde an die Synode von Maryland und Virginia zu melden; in fünf Jahren wurden aus nur 70 Kommunikanten etwa 200. ANSTADT, 92. SCHMUCKER, Schmucker Family, 4: „That his ministry was effective is reflected in the remark that when he entered the area not one family in four had a Lutheran member within its ranks. While, when he left, not one in four was without a Lutheran." 71 SCHMUCKER, Sermon, 17: „A few individuals may, for a short season, be unable to restrain their feelings; but continued, or habitual, loud weeping or rejoicing, as well as all other boisterous demonstrations of feeling can be avoided and ought to be surpressed." Charakteristisch für die Jahre bis etwa 1825 war, daß eine Erweckung innerhalb einer Gemeinde intensiv vorbereitet wurde; sie bestand nicht in einem völligen Umschwung und Neubeginn, sondern in der Herausbildung einer christlichen Persönlichkeit in einem Prozeß längeren Bemühens und führte zur Mitgliedschaft in einer Kirchengemeinde. In diesem Sinne hat Schmucker zeitlebens Erweckung verstanden. Vgl. zu diesem kirchlichen Typ von Erweckung SCOTT, Office, 7 7 - 8 5 . Wie im Unterschied dazu eine .Konversion' zum .bekennenden' Abolitionisten vor sich ging, beschreibt ders., ebd., 93f.

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

132

„Die gefuhle, die nach der bekehrung folgen, sind sehr verschieden, und dienen also nicht zum klaren merkmal, um zu entscheiden, ob eine seele bekehret worden sey oder nicht. Aber ein beständiger, mit den göttlichen Vorschriften übereinstimmender wandel ist ein sicherer beweiß einer begnadigten seele."72 Entsprechend heißt es in einer seiner späten Predigten: ,,[T]he Protestant churches have returned to the apostolic method, and insist [...] on moral qualifications as a pre-requisite to a personal profession of religion f...]."73 Schmucker mißt also die Wahrhaftigkeit der Konversion an der Beständigkeit des ernsthaftsittlichen Lebenswandels.74 Andere als die apostolischen .Methoden' Erwekkungen hervorzurufen - üblich bei den Erweckungsveranstaltungen an der Grenze zum Westen war etwa die Versammlung unter freiem Himmel, der Gebrauch der Bußbank, tagelanges, auch nächtliches Singen und Beten lehnt er entschieden ab. Der Lebenswandel ist entscheidend für die Christlichkeit eines Menschen; und zwar als Bedingung wie als Folge der Wiedergeburt. Indem Schmucker Wiedergeburt nicht an die Taufe bindet, beerbt er den älteren deutschen Pietismus. Eine Erweckung des Sünders kommt zustande durch die sonntägliche Predigt, durch intensive Schriftlektüre zu Hause und im Collegium pietatis sowie durch herzliches Gebet, und sie äußert sich in einem beständigen, bewußt sittlichen Lebenswandel.75 „Spricht man zu dem unbekehrten, Glaubest du, daß ein Gott sey? so ist er eben so bereit, die frage mit ja zu beantworten, als der redliche Christ. Aber untersuchet sein betragen gegen Gott, gegen sich selbst, & gegen seinen nächsten, und ihr werdet finden, daß sein gantzer wandel seinem bekenntniß wiederspricht."76

72

AML, Schmucker-Predigten, Sermon Nr.l, S.8.

73

SCHMUCKER, Sermon, SCHMUCKER, Sermon,

74

15. V g l . a. ULRICH. 20,23.

75

WENZKE, 21, ist STUEMPFLE, Preaching, mit der Behauptung gefolgt, Schmucker sei ein typischer Vertreter der amerikanischen Erweckungsbewegung gewesen. Sie hat allerdings zwischen den verschiedenen Typen der amerikanischen Erweckungsbewegung (vgl. oben Anm.67, 71) nicht unterschieden. Deshalb hat sie nicht bemerkt, daß Schmucker in zahlreichen Punkten andere Auffassungen als viele seiner amerikanischen Zeitgenossen vertritt. Wenzke setzt Pietismus und Erweckungsbewegung einander gegenüber. Sie behauptet beispielsweise, während der Pietismus eine Änderung des Herzens durch Gott gefordert habe, habe Schmucker Bekehrung als eine bewußte Änderung des Willens angesehen und dem Menschen die Fähigkeit zugesprochen, sein Heil zu wählen. Entsprechend sei Sünde für ihn allein willentliches Verhalten. Dies ist verkürzt. Sowohl Spener wie Francke haben intensive Schriftlektüre und Gebet als Voraussetzungen der Wiedergeburt bezeichnet. Damit verbunden ist bei beiden eine bewußte Änderung der Ausrichtung des Willens. Wie für die beiden deutschen Pietisten geht allerdings für Schmucker die Bekehrung nicht im willentlichen Entscheid des Menschen für Gott und sein Gebot auf; menschliches Bemühen ist nur die Voraussetzung des Gnadenwirkens. 76

AML, Schmucker-Predigten, Sermon Nr.l, S.4: Predigt vom 8. März 1820 u.ö.

2. Staat

133

Die Rezeption aufgeklärter Ideen in Verbindung mit lutherisch-pietistischen und dies unter freikirchlichen Bedingungen - diese drei Momente geben Schmuckers Theologie ihr besonderes Gepräge.

2. Staat Schmucker hat keinen dem deutschen vergleichbaren Begriff des Staates. Er unterscheidet nicht zwischen Staat, Regierung und Volk, sondern zwischen der Regierung als der Legislative, den Amtsträgern des Staates in Judikative und Exekutive und dem Volk, das die Regierung gewählt hat. Der Staat ist eine durch die Gesamtheit der an der politischen Willensbildung beteiligten Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika, der nation, zustande kommende ideelle Größe. Er tritt nirgends dem Volk entgegen, sondern ist Ausdruck seines Willens. Das Volk ist die Gesamtheit der Wähler, die auf dem gesetzlich vorgegebenen Weg die Regierung bildet und durch voluntary societies in vielfältiger Weise Einfluß auf sie nimmt. Zum Staatsvolk gehört ein jeder weiße Mann, gleich welche Sprache er spricht und welchem Kulturkreis er seiner Herkunft nach angehört, sofern er nur fünf Jahre lang in den Vereinigten Staaten ansässig ist.77 Die Regierung vertritt die Interessen der nation gegenüber anderen Nationen und erläßt Gesetze für die Bestrafung von Übeltätern. Die für eine bestimmte Zeit aus der Gesellschaft heraus in ein Regierungsamt delegierten Männer sind Treuhänder {trustees) des Volkes. Potentiell ist ein jeder Amerikaner ein Mitglied der Regierung, denn alle Amerikaner sind gleichermaßen als zum Regieren befähigt anzusehen. Von Staat ist bei Schmucker also nur in einem im Vergleich zu ROTHE eingeschränkten Sinne zu sprechen. Der amerikanische Staat versteht sich als demokratischer. Demokratie ist für Schmucker ein ausschließlich positiv besetzter Begriff; Assoziationen wie Pöbelherrschaft oder die Unterscheidung zwischen dem politisch beseelten und dem noch erziehungsbedürftigen Teil der Bürger kennt er nicht. Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung, Volkssouveränität - das sind fur ihn Werte, welche die Amerikaner als Gottes Segnung empfangen haben, und die sie verpflichten, dieser Gabe entsprechend zu handeln. Schmuckers Ansichten spiegeln die gängigen demokratietheoretischen Vorstellungen der Ära des Präsidenten Andrew JACKSON ( 1 8 2 9 - 1 8 3 7 ) und seines ebenfalls demokratischen Nachfolgers Martin V A N BUREN ( 1 8 3 7 - 1 8 4 1 ) . Damals wurde die Demokratie verherrlicht als eine göttlich gewollte Staatsform. 78 77

VEREINIGTE STAATEN, 5 5 .

78

Zur Jacksonian

Democracy, welche die Periode von etwa 1824 bis James Buchanan

u m f a ß t , vgl. GUGGISBERG, 9 4 - 1 0 5 ; SCHLESINGER; HATCH, Democratization,

9 9 f , hat heraus-

gestellt, daß die Demokratievorstellungen der Jackson-Ära stark religiöse Wurzeln hatten, al-

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

134

Schmucker verschließt allerdings nicht die Augen davor, daß die Demokratie permanent gefährdet ist durch Machtmißbrauch und Korruption. Deshalb fordert er statt des Untertanengehorsams die Bindung der freien und gleichen Bürger an die amerikanische Verfassung einerseits und ihre Erweckung zu christlichen Staatsbürgern andererseits. Um die junge amerikanische Demokratie zu stabilisieren, schärft er seinen Lesern die Prinzipien der amerikanischen Verfassung ein und erweist diese als übereinstimmend mit Gottes Wort. Er ist ein politischer Theologe, auch wenn er sich aus den brennenden Tagesproblemen der amerikanischen Politik weitgehend heraushält. Das ist die Folge seines Amtsverständnisses: Theologen sollen sich nur in die Demokratie selbst gefährdenden Ausnahmesituationen in die Tagespolitik einmischen. Grundsätzliche Anfragen an die amerikanische Demokratie hat Schmucker nicht gestellt. Solche Fragen wären etwa gewesen: Herrscht tatsächlich ,das Volk', oder begünstigt das Wahlsystem nicht vielmehr eine bestimmte Gruppe von Honoratioren? Werden durch die Gag-rules (Gesetze, die das bewußte Nichtwahrnehmen von die Abschaffung der Sklaverei betreffenden, millionenfach in den Repräsentantenhäusern eingehenden Petitionen vorsehen) die verfassungsmäßig garantierten Rechte der amerikanischen Bürger unzulässig eingeschränkt? Sichert die Änderung wichtiger Gesetze in der JACKSON-Ära die Vorherrschaft der demokratischen Partei?79 Ihm geht es vielmehr um die Erläuterung der Prinzipien der ersten demokratischen Verfassung der Welt, die er als Modell für alle Staaten versteht. Daraus leitet er eine weltmissionarische Aufgabe seines Heimatlandes ab. Seine besondere Aufgabe sieht Schmucker in der Integration der deutschstämmigen Lutheraner in das politische und gesellschaftliche System der Vereinigten Staaten von Amerika. Ihnen erklärt er die Vorzüge des amerikanischen Regierungssystems und ihnen stellt er ihre Verantwortung für das Funktionieren der Demokratie als christliche Pflicht vor Augen. Da er aber seine Hauptwerke nicht in deutscher Sprache abgefaßt und sich auch nicht um eine Übersetzung derselben bemüht hat, sind als seine Adressaten vor allen Dingen diejenigen deutschstämmigen Lutheraner anzusehen, die schon seit ein bis zwei Generatiolerdings waren sie weniger bei den Lutheranern als bei Baptisten, Methodisten, Disciples of Christ u. a. verbreitet: Führergestalten (saints genannt) bewegen große Menschemnassen, wobei die Bewegten der Überzeugung sind, selbst zu denken und in einer geschwisterlichen Gemeinschaft aufgehoben zu sein. Daß der Egalitarismus vor allem in ökonomischer Hinsicht mehr eine Ideologie denn der Wirklichkeit entsprechend war, beschreibt JONES, 134f. Gleichwohl bestimmte die Idee und Erfahrung der Gleichheit tatsächlich viele amerikanische Lebensvollzüge: So ließ etwa die Kleidung nicht den sozialen Status erkennen; auf Reisen mischten sich die Angehörigen aller Schichten; es gab keine schichtenspezifische Sprache. Zur Auswirkung der Gleichheitsideologie auf die Gestaltung der politischen Verhältnisse: Mehrheitsentscheid, Direktwahl der Amtsträger, Auswechslung der Amtsträger aus politischen Gründen, Ablehnung der Bürokratie vgl. ebd., 136-141. 79

Vgl. die Zusammenstellung solcher grundsätzlich kritischer Fragen bei RICHARDS. Zu

den Gag-rules

vgl. VEREINIGTE STAATEN, 94; RICHARDS, 1 lOf.

2.1 Demokratischer Verfassungsstaat

135

nen im Lande ansässig und amerikanisiert sind. Darüberhinaus spiegeln die breiten Informationen über nichtlutherische protestantische Denominationen, daß er seine Leser in allen religiös interessierten Kreisen zu finden hoffte. Anstrengungen zur politischen, sozialen oder theologischen Integration der nach 1830 einwandernden Lutheraner machte Schmucker nicht; im Gegenteil: Ihnen gegenüber teilte er die Attitüde aller Seßhaften gegenüber den zureisenden Fremden.

2.1 Demokratischer

Verfassungsstaat

Die amerikanische Verfassung ist nach Schmucker nicht ein zufalliges Ergebnis historischer Entwicklung, sondern erster Ziel- und Höhepunkt des göttlichen Weltregiments, das im tausendjährigen Friedensreich sein Ende finden wird. Der demokratische Verfassungsstaat hat sich geschichtlich herausgebildet. Entscheidende Schritte auf dem Weg zu ihm waren die Botschaft Jesu, die Reformation L U T H E R s und der Aufstand der Pilgerväter gegen die englische Krone. Nach Schmucker fordert Gott, daß alle Menschen frei und gleich sind, weil er sie als solche schuf. Dieses schöpfungstheologische Argument folgt der Formulierung der Väter der amerikanischen Verfassung: „All men are created free and equal." Er fuhrt darüber hinaus an, Gott habe seinen Willen, daß alle Menschen frei und gleich sein sollen, dadurch deutlich gemacht, daß er die Angehörigen aller Nationen von einem einzigen Paar abstammen ließ, so daß das gleiche Blut durch aller Adern strömt.80 Jesus konkretisierte die Gleichheit aller Menschen unmißverständlich mit den Weisungen: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst' (Mt 19,19) und ,Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen!' (Mt 7,12). Zur Gleichheit tritt die Freiheit eines jeden. Freiheit heißt Wahlfreiheit zwischen dem Guten und dem Bösen, wobei die Verantwortung für diese Wahl übernommen werden muß. Wie dieser für einen jeden einzelnen Menschen gestorben ist, so wird jedes menschliche Individuum einzeln vor seinem Richter stehen und für seine Taten zur Rechenschaft gezogen. Gott fordert also von einem jeden weißen Mann, seine Freiheit in rechter Weise zu gebrauchen und politische Verantwortung zu übernehmen. Für die Herausbildung des demokratischen Verfassungsstaates war die christliche Kirche von herausragender Bedeutung. Sie hat, indem sie Christi Worte überlieferte, während aller Zeiten die Verantwortlichkeit des Individuums 80

Bei dem von Schmucker ausgebildeten späteren Bischof Daniel A. Payne findet sich eine ganz ähnliche Formulierung: „God who of one blood did make all the nations of the earth, all its races, all its families, every individual man [...]" Zit. nach NOON, 57. PERRY hat die Aufklärungstraditionen bei Payne hervorgehoben.

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

136

vor Gott betont und damit das grundlegende Prinzip des demokratischen Staates befördert. LUTHER hat dies neu herausgestellt. Deshalb war die von ihm initiierte Reformation nicht nur eine religiöse, sondern auch eine politische Revolution.81 Der Reformator hat einerseits die geistliche Tyrannei abgeschüttelt, 82 andererseits die Entwicklung der bürgerlichen und politischen Freiheit befördert: Die Reformation „has delivered the civil government of the countries which embraced it, from papal tyranny, and has given a new impulse to civil liberty, which has been felt in every kingdom of Europe." 83 Sie ist somit historischer Ausgangspunkt eines umfassenden Befreiungsprozesses, 84 der seinen bisherigen Höhepunkt in den Vereinigten Staaten von Amerika erlebt. „Yet the seeds of liberty, civil as well as religious, were sown by the Reformers; and the same principles which led them to protest against the corruptions, and resist the encroachments of the Papal hierarchy, led our fathers to erect the standard of liberty on these Western shores, exploded the absurd doctrine of passive obedience to kings, and taught the crowned heads of Europe that their subjects have rights, which can no longer be trampled on with the impunity of the dark ages."85 Auch die vernünftige Abwägung der Vor- und Nachteile verschiedener Staatsformen erweist die demokratische als die beste, weil sie „in the highest degree the rights and happiness of all its citizens" sichert. 86 Deshalb ist sie „doubtless the most perfect form of government;" die Vorteile dieser Verfassung sind an der Geschichte „of our own favoured country" leicht abzulesen. 87 Neben diesem biblisch-kirchengeschichtlichen und vernünftig-utilitaristischen Argument für die demokratische Staatsverfassung fuhrt Schmucker ein weiteres kirchengeschichtliches an: Die Kirchenverfassung war zu der Zeit der Apostel demokratisch. Schmucker schließt daraus, daß Jesus eine solche Ver81

SCHMUCKER, Discourse Commemoration, 5f. Ebd., 9. 83 Ebd., 94. 84 Ders., Church Development, 3: „The ball of revolution, set in motion by the reformers of the sixteenth century, has been perpetually rolling on." Schmucker arbeitete hier eine 1840 vor der West Pennsylvania Synod anläßlich der Weihe der First English Lutheran Church in Pittsburgh gehaltene Predigt aus. Er behauptete darin erstmals, daß Luther selbst die Reformation für unabgeschlossen gehalten habe. Die Kirche entspreche ihrem Wesen nur als ecclesia semper reformanda. Thomas Jefferson hat 1795 eine ganz ähnliche Formulierung gebraucht, allerdings zur Kennzeichnung der Bedeutung der amerikanischen Revolution: Sie habe einen „ball of liberty" ins Rollen gebracht. Zit. nach VOSSLER, Revolutionsideale, 181 Anm.l. Auch in SCHMUCKER, Portraiture, 47, heißt es: „It was a revolution not merely of outward form, but of the elementary principles [...]; a revolution, to which, in the providence of God, these United States may clearly trace their liberties." 82

85

SCHMUCKER, Elements, 328 = Lutheran Manual, 181. Ebd. = Lutheran Manual, 180. Jede Regierung, die imstande ist, „to secure the rights and promote the happiness of its members" will Schmucker anerkennen. Ebd. = Lutheran Manual, 180. 86

2.1 Demokratischer Verfassungsstaat

137

fassung auch für das Reich der Welt angemessen finden würde. „Had the divine Saviour prescribed any form, it doubtless would have been the republican." 88 Schmucker unterscheidet, wie sich hier zeigt, nicht zwischen Demokratie und Republik. Es geht ihm im gedanklichen Zusammenhang, dem das Zitat entstammt, um individuelle Verantwortlichkeit und Gleichheit der ersten Christen. Daß die Urgemeinde demokratisch organisiert war, hält er für so evident, daß er fordert, das Neue Testament solle in allen amerikanischen Schulen gelesen werden, weil es die beste Einführung in die amerikanische Verfassung biete.89 Schmucker muß nun erklären, warum Jesus nicht öffentlich Reform oder Revolution des römischen Staates forderte. Er antwortet: Jesus konnte die Demokratie nicht explizit fordern, weil er um der Ausbreitung des Christentums willen auf die offene Kritik am römischen Reich verzichten mußte. 90 Gleichwohl haben die Herrscher die Gefahr erkannt, die der apostolischen Kirchenverfassung innewohnte. Deshalb haben sie die Kontrolle der Kirche angestrebt und Christen zu Märtyrern gemacht: „Hence, there would have been some semblance of ground for the objections of kings and despots, that it forms an imperium in imperio, hostile to the principles of their governments, which must therefore be controlled by the civil authorities." 91 Wie John WISE,92 dessen Vorstellungen einhundert Jahre nach seinem Tod politisch wirksam wurden, galt Schmucker die demokratische Kirchenverfassung als die von Jesus selbst eingeführte. Deren Prinzip wird auf den Staat übertragen und heiligt ihn. Es verwundert bei dieser Bestimmung der demokratischen Verfassung als apostolischer nicht, daß der Gettysburger Theologe sich zutiefst davon überzeugt zeigt, sein Vaterland habe eine Mission in der Welt zu erfüllen, die mit seiner Verfassung zusammenhängt: Die Vereinigten Staaten haben Modellcharakter für alle freiheitlich gesinnten 88

Ebd., 330 = Lutheran Manual, 181. Einzig in Massachusetts war Bibellektüre in öffentlichen Schulen im 19. Jh. explizit erlaubt. In anderen Staaten war sie nicht explizit verboten, so daß mehrere Prozesse um diese Frage gefuhrt wurden. JOHNSON/YOST, 33-36, 41-73. 90 Jesus habe nicht dazu aufgefordert, das römische Reich zu stürzen; aber er hat doch so führt SCHMUCKER, Church Development, 11, aus indem er gewisse Prinzipien in seiner Kirche zur Geltung brachte, einen Stachel in das Fleisch der Regierungen gesetzt. „Designing his church for universal extention, and foreseeing that the reflex influence of its government on the civil institutions of nations, would awaken the suspicions of political rulers, our Saviour and his apostles settled only the general principles of church government, and a few specific statutes, leaving all the rest to the judgement of believers in different ages, to be accomodated to the genius of the people and the civil institutions of nations." Das lutherische System der Kirchenorganisation und des Kirchenregiments, wie es in Amerika in Kraft ist, entspricht nach dems., Elements, 217, allen Prinzipien und Vorschriften, die im Neuen Testament genannt werden, zudem demjenigen, was die Vernunft vorgibt, so daß es „best adapted to the genius of our free republican institutions" ist. 89

91

Ders., Church Development, 12. Zu Wise und der Bedeutung naturrechtlicher Traditionen für die geistigen Grundlagen der amerikanischen Demokratie vgl. WELZEL; GABRIEL, 26-39; REIBSTEIN, Bd.l.II, 290-297. 92

138

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

Menschen der Welt,93 welche die „substantial blessings" einer Republik erhoffen;94 deshalb soll ein jeder Amerikaner sie schützen.95 Entsprechend besteht die Pflicht der Amerikaner darin, für die „universal brotherhood and equality of man in civil rights"96 nicht nur im eigenen Staat, sondern in der ganzen Welt einzutreten. Über die Herkunft seines Freiheits- und Individualitätsbegriffes97 legt Schmucker keine Rechenschaft ab; er unterscheidet nicht zwischen explizit biblischen und explizit aufklärerischen Gedanken. Seine Ausführungen spiegeln amerikanisch-protestantisches Gemeinbewußtsein zu seiner Zeit, bieten aber nicht einen eigenen theologischen Beitrag zur Frage der besten Staatsverfassung. AufFälligerweise fordert Schmucker die demokratische Staatsform nicht aus einem politischen oder ethischen Grund, etwa weil sie durch die Gewaltenteilung das beste Gegengewicht gegen die menschliche Sünde biete, sondern deshalb, weil sie selbst eine gewissermaßen göttliche Weihe hat. Dadurch, daß er jedes mit Vernunft begabte Wesen - trotz seiner möglichen Armut und Ungebildetheit an der Verantwortung für den Staat zumindest als Wähler beteiligt, hat sein Begriff von Demokratie tatsächlich den Gehalt von Volkssouveränität. Die R O T H E stark beschäftigende Frage, wie der Einfluß derjenigen, die das Ganze des Staates im Blick haben, zum Wohle des Staates und der Gesellschaft gestärkt werden kann, spielt in Schmuckers Denken keine Rolle. In der an egalitären Prinzipien ausgerichteten amerikanischen Gesellschaft, die keinen Fürsten kennt, der dem Hofprediger gnädig sein Ohr leiht, wird der lutherische Theologe nicht nur gezwungenermaßen zum Demokraten, sondern erweist sich gar als überzeugter Vertreter der Volkssouveränität.

93 SCHMUCKER, Address Anniversary, 22f: „The influence of our example has already materially improved the condition of European nations. We have heard much of a Holy Alliance among the kings of Europe; but there is an alliance far holier between the people of the different kingdoms, a bond of sympathy which binds them to each other and to us, and which will eventually compel kings to grant their subjects the substantial blessings of a republic, if they wish to retain even the forms of monarchy." Entsprechend a. ders., Vocation, 250f u.ö. 94 Ders., Address Anniversary, 23. 95 Ebd., 22. 96 Ders., Christian Pulpit, 17. 97 JANKE/LUTHER, 124. Zur Mythologisierung des Individualismus im 19. Jh. in den Vereinigten Staaten, verklärt als Überlebensfähigkeit des eigenen Hauses und seiner Bewohner unter den Bedingungen der western frontier und der Industrialisierung vgl. GABRIEL, 3 -

11.

2.2 Wächteramt der christlichen Staatsbürger 2.2 Wächteramt der christlichen

139

Staatsbürger

Neben Gleichheit und Freiheit aller Bürger weist die amerikanische Demokratie ein zweites konstitutives Merkmal auf: die Trennung von Staat und Kirche. Diese geht nach Schmucker auf eine Forderung Jesu zurück, die LUTHER erneuerte. Nach dessen Lehre hat der Staat keinen Auftrag zur Bekämpfung von Irrlehre: ,,[T]o counteract heresy is the business of ministers, not of the civil rulers. [...] Heresy is an intellectual thing, that cannot be hewn by the sword, nor burned with fire, nor drowned with water."98 Im spätmittelalterlichen Deutschland konnte LUTHER sein auf diesem Grundsatz aufgebautes Werk nicht vollenden, weil die Reformation gegen den Antichristen zu Rom gesichert werden mußte." Das landesherrliche Kirchenregiment erfüllte zwar diesen Zweck, hat aber die Verhältnisse der konstantinischen Staatskirche konserviert, obgleich schon Confessio Augustana 28 die Vermischung des geistlichen mit dem weltlichen Regiment kritisiert hatte.100 Der Staat verhinderte dann in Europa die Selbständigkeit der Kirche.101 Erst mit der Aufklärung wurden wieder Anstrengungen zu einer Trennung von Staat und Kirche unternommen. Die amerikanische Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche erscheint Schmucker als Wiederbelebung des goldenen, apostolischen Zeitalters der Kirchengeschichte. „The separation between church and state is worthy of all praise, and demands our wannest gratitude to Heaven. It has restored the American Protestant church to the original advantages of the golden age of Christianity in the apostolic days. In this

Qfi

SCHMUCKER, Discourse Commemoration, 92. Vgl. die Zitation der Worte Luthers in Teil C Anm.229. 99 Ders., Elements, 337 = Lutheran Manual, 188: Die Reformatoren haben nur angesichts der Bedrohung durch den römischen Katholizismus zugestimmt, daß „the civil government might to a certain extent manage the affairs of the church." 100 Ebd. = Lutheran Manual, 188. 101 Indem damals jedem Pfarrer das rechte Verständnis der Hl. Schrift vorgeschrieben wurde, wurde er dessen beraubt, was ihm Luther gerade erobert hatte: seiner individuellen Verantwortung vor Gott. Ders., Lutheran Manual, Vllf: „But after his [Luther's] death these two compositions [CA und ASm, ADD] were employed for an entirely different purpose [: ...] to arrest the progress of reformation, and virtually, though not intentionally, to annihilate the feeling of individual responsibility, by fixing for generations to come, the exact sense in which the Scriptures must be understood by all ministers; to rob them of that right, out of which the Reformation grew, which is an inalienable right and obligation of man; namely, the duty of individual responsibility for our views of Scripture truth, and modes of action in advancing the kingdom of Christ. [...] But the unhappy union of Church and State, whilst throwing the shield of civil protection over the Protestant church, fixed the Reformation by law at the point which it had then attained, and robbed the ministry and church of their liberty of investigation, by imposing the penalty of deposition from office on the attainment of any other results."

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

140

land of refuge for oppressed Europe, God has placed his people in circumstances most auspicious for the gradual,perfecting' of his visible kingdom."102 Allein ein demokratischer Staat kann der Kirche Christi Selbstregierung zubilligen. Diese Gewährung von Selbständigkeit ist aber nicht Ausdruck von Großzügigkeit oder Desinteresse seitens des Staates, sondern Einsicht in eine höhere Notwendigkeit. Notwendig ist die Trennung von Staat und Kirche nämlich deshalb, weil eine Demokratie permanent gefährdet ist. So unterscheidet Schmucker beispielsweise zwischen rechtmäßig und auf andere Weise in ihre Ämter gelangten Staatsbeamten. Damit kritisiert er implizit das spoils system, das dem jeweiligen Wahlsieger bei Bundeswahlen erlaubte, die einträglichen öffentlichen Ämter zu besetzen.103 Sie galten als Pfründen für Parteifreunde; Korruption war an der Tagesordnung. Deshalb haben die Christen ein Wächteramt dem Staat gegenüber wahrzunehmen. Allein das Christentum macht Menschen zu guten Demokraten, denn Christen wissen sich unter das Gericht Gottes gestellt.104 Schmuckers Begeisterung für die demokratische Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika verbindet sich mit der Forderung einer neuen christlichen Religiosität, die aus ihrer Unabhängigkeit vom Staat die Kraft zur Staatskritik schöpft.105 Also ist die Trennung von Staat und Kirche nicht nur biblisch und christentumsgeschichtlich als dem Willen Gottes entsprechend zu begründen, sondern auch die Voraussetzung fur die nationale Wohlfahrt.106 Weil die amerikanische Gesellschaft aus eigener Kraft das ordnungsgemäße Funktionieren ihrer Institutionen nicht bewahren kann, bedarf sie der Christen und der Pfarrer. Da jedoch die Christen aus Europa nur Staatskirchen kennen, müssen sie für die Demokratie erst erzogen werden. Deshalb behandelt Schmucker in der traditionellen Frage- und Antwortform das Thema ,Der Christ und die Politik' auch in seinem Katechismus.107 Allerdings beschränkt er sich nicht, wie LUTHER in

102

Ders., Fraternal Appeal, 71.

103

VEREINIGTE STAATEN, 1 7 3 .

104

SCHMUCKER, Address Anniversary, 7. Er sprach vor gemischtem Publikum in einer Gettysburger Kirche. Washington gilt als Begründer der amerikanischen civil religion sowie als deren erstes Objekt. PLERARD/LLNDER, 65-86, 78-86. 105

M C L O U G H L I N , 1 8 8 U.Ö.

106

SCHMUCKER, Evangelical Catechism, Antwort auf Frage Nr.307, 117. Vgl. a. mit Hinweis auf CA 28 und Joh 18,36 ders., Elements, 337 = Lutheran Manual, 188. 107 Ders., Evangelical Catechism. Dieser Katechismus dürfte tatsächlich in den Sonntagsschulen der Mitgliedskirchen der General Synod breit eingesetzt worden sein. Das Anliegen des Verfassers erhellt aus dem Vorwort, S. 4: Er will systematischer als frühere Theologen die Materie aufrollen. Zu Sonntagsschulen bei den American Lutherans vgl. THURAU; zur amerikanischen Sonntagsschulbewegung als Vorläuferin der modernen ökumenischen Bewegung v g l . HÖRNIG; z u m p ä d a g o g i s c h e n K o n z e p t v g l . BOYLAN.

2.2 Wächteramt der christlichen Staatsbürger

141

seinem Kleinen Katechismus, 108 auf die Wiedergabe neutestamentlicher Zitate zum Thema, sondern hat Fragen gebildet und Antworten formuliert, die sich allein aus der amerikanischen Situation erklären lassen und Anleitungen speziell für diese bieten. Nach Schmucker hat ein jeder Katechumene der lutherischen Kirche zu lernen, daß die bürgerliche Regierung als eine „divinely appointed institution" (Rom 13,1) anzusehen ist, und sogleich fortzufahren, daß die Regierung ihre Gewalt „in accordance with God's word, for the benefit of the people" zu gebrauchen hat. Entsprechend ist nur den „lawful requisitions" der Regierung um Gottes willen Folge zu leisten.109 SPENER, mit dessen Einßltige[r] Erklärung der Christlichen Lehr / Nach der Ordnung deß kleinen Catechismi deß theuren Manns Gottes Lutheri Schmucker aufgewachsen war, 110 hatte dagegen betont, daß die Obrigkeit eine göttliche Gewalt ist, die zwar nichts wider Gottes Wort befehlen darf, der aber vor allem Gehorsam um Gottes willen gebührt.111 Sogar unbillige Auflagen ihrerseits müssen nach SPENER erfüllt werden; Aufruhr und Empörung wider die Obrigkeit ist „Gott ein Greuel." 112 Christen sollen Unrecht geduldig leiden; ihr herzliches Gebet gewinnt „oft" eine gottlose Obrigkeit. 113 Schmuckers Katechismus unterscheidet sich also insofern von seinen lutherischen Vorläufern und Vorlagen, als er die individuelle Verantwortung des einzelnen Christen für seine Regierung und die Pflicht zum Widerstand wider eine schlechte Regierung gleich in der ersten Frage zur Einsetzung der Obrigkeit verankert. Natürlich ist eine jede Regierung von Gott eingesetzt; das bedeutet aber keine besondere Legitimation oder herausgehobene Würde, sondern vor allem eine Verpflichtung. Schmuckers Übersetzung des 16. Artikels der Confessio Augustana zeigt, warum er den Widerstandsgedanken mit dem der göttlichen Einsetzung der Obrigkeit verbinden zu können meint. In der deutschen Fassung heißt es: „Von Polizei und weltlichem Regiment wird gelehret, daß alle Obrig108 BSLK, 501-527. Zwar findet sich das Frage-Antwortschema auch hier, aber nicht in Bezug auf die weltliche Obrigkeit und das Verhältnis der Untertanen zu ihr. Luther stellt Zitate aus den Haustafeln des Neuen Testaments und verwandte Texte, geordnet unter den zwei Stichworten: „Von weltlicher Oberkeit" (Rom 13,lf.4) und „Was die Untertan der Oberkeit zu tun schüldig sind" (Mt 22,2; Rom 13,3; ITim 2,4; Tit 3,6; IPetr 2,7) zusammen; Schmucker bildet Fragen und Antworten, die Anleitung speziell für die amerikanische Situation bieten; dabei kommt der biblischen Begründung weniger Gewicht zu. Vgl. zur Geschichte der katechetischen 1 f)9 Unterweisung BlZER, 688f. SCHMUCKER, Evangelical Catechism, Antwort auf Frage Nr.304, 116. Sein Vater besaß die Ausg. Frankfurt: Johann David Zunners, gedr. bey Johann Dieterich Friedgen, 1679 (AGTS 3780.0006). In Schmuckers kommentierter Literaturliste, überschrieben mit „Libri Catechetici," wird dieser Katechismus wegen seiner Anlage und seiner Biblizität als „incomparable opus" gelobt (AGTS 3710.0001, S.2). 111 SPENER, Katechismuserklärung, Antwort auf Frage 1239, 388; 1240, 388f; 1243, 389f: 1245, 390; 1247, 390f. Ebd., Antwort auf Frage 1246, 390. 113 Ebd., 391. 110

142

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

keit in der Welt und geordnete Regiment und Gesetze gute Ordnung, von Gott geschaffen und eingesetzt sind [...]."IM Die lateinische Übersetzung verwendet dagegen die termini technici: „De rebus civilibus docent, quod legitimae ordinationes civiles sint bona opera Dei [...]." ns Schmucker geht von der lateinischen Fassung aus und übersetzt: nur „legitimate political enactments" sind gute Werke Gottes.116 Der christliche Bürger hat also die Verpflichtung, die Anordnungen der Regierung kritisch zu bewerten und sie gegebenenfalls bei nächster Gelegenheit abzuwählen.117 Den demokratischen Idealbürger nennt Schmucker „christian patriot." Ein solcher zeichnet sich einerseits dadurch aus, daß er die Verfassung kennt und aktiv fur sie eintritt, andererseits dadurch, daß er für das ökonomische Wohl der nation arbeitet."8 Schmuckers zentrale Forderung an den christlichen Patrioten zielt auf die rechte Wahrnehmung des Wahlrechts, denn Wahlen sind essentiell für den Erhalt der Freiheit.119 Um richtig wählen zu können, muß es ein gutes öffentliches Erziehungswesen geben.120 Die besten Wähler sind die Christen, denn sie wissen die rechten Maßstäbe an die Kandidaten anzulegen; sie werden nicht zum „tool of political demagogues," sondern durch das Beispiel des Heilands und seiner Apostel zu „good men and valuable citizens."121 Sie wählen die Gottes Ansprüchen am besten genügenden Männer in öffentliche Ämter.122 Deshalb verpflichtet Schmucker die christlichen Bürger,

" 4 B S L K , 67,16-68,1. 1,5 Ebd. 116 S C H M U C K E R , Elements, 326 = Lutheran Manual, 176. Ebd., 329 = 179, wird dies folgendermaßen ausgelegt: „In this article the Confessors clearly represent the welfare of the whole community as the proper end of all civil governments. The legislative power is to be exercised in the production of just laws'. The judicary is to be conducted on equitable principles; ,for the judgment to be given is just'. ,Just punishments' alone are to be inflicted, ,the right of property,' and ,the obligations of contracts to be observed', and ,the duties both of civil and domestic life are to be performed in the spirit of Christian benevolence'." 117 Nach S C H M U C K E R , Elements, 343 = Lutheran Manual, 194, ist es „the duty of every Christian patriot to study the principles and vindicate the integrity of our happy political institutions." 118 Ders., Address Anniversary, 8: Der „christian patriot" fördert die nationale Industrie, denn ihr verdankt das junge Land seinen Wohlstand. Er ist selbst arbeitseifrig, denn arbeiten ist eine von Gott den Menschen aufgetragene Pflicht. Schon Adam wurde im Paradies die Bearbeitung des Bodens aufgetragen (Gen 1, 17-19), und nach Paulus soll, wer nicht arbeitet, auch nicht essen (IIThess 3,10). Derjenige Amerikaner, der sich schämen würde, mit einer Axt in der Hand angetroffen zu werden, wäre kein rechter Amerikaner. 119 Ebd., 9. 120 Ebd., 9-11. Die Diskussion um die öffentliche Förderung des Elementarschulwesens wurde vor allem zwischen 1830 und 1850 gefuhrt. Vgl. knapp GUGGISBERG, lOlf. 121 S C H M U C K E R , Address Anniversary, 10. 122 Ders., Christian Pulpit, 18. Die Heilige Schrift leitet dazu an, die rechten Amtsinhaber zu bestimmen: Ex 18,21; Deut 1,18; ÜSarn 23,3.

2.2 Wächteramt der christlichen Staatsbürger

143

sich an den Wahlen zu beteiligen. 123 Ein wahrhaft christlicher Bürger überwacht schärfstens die Vertreter der eigenen Partei und vermeidet Parteigeist. 124 Zwar sind unterschiedliche politische Parteien für das allgemeine Wohl notwendig, ihr Programm muß aber an Gottes Willen gemessen werden. Die entscheidende Frage des Wählers hat nicht zu lauten, welche Partei seinen eigenen Interessen forderlicher ist, sondern wer der Feind oder der Freund des höchsten Richters ist.125 Nur der Christ ist von Eigennutz frei und behandelt seine Mitbürger nicht als Mittel für seine Zwecke, sondern als Kreaturen Gottes. 126 Daß Pfarrer aller Denominationen die vom Präsidenten angeordneten Nationalfeiertage gestalten, widerspricht dem Prinzip der Trennung von Staat und Kirche deshalb nicht, weil diese Anordnung zur öffentlichen Buße fur nationale Sünden und zum Dank für göttliche Wohltaten sehr weise ist. Alle „good citizens" 127 werden an diesem Tag unter das Wort Gottes gestellt, um über ihre „individual responsibility" nachzudenken: Die Ungerechtigkeiten der Amtsträger, „men in their delegated character," fallen nämlich „less upon those who are guilty of them" als auf diejenigen, die sie gewählt haben und unterstützen. 128 Die fur deutsche Theologen kennzeichnende Vorstellung, daß obrigkeitliche Anordnungen, wenn sie schon nicht richtig sind, zumindest der Obrigkeit auch persönlich von Gott zugerechnet werden, wird explizit zurückgewiesen: „There seems to be a vague impression in some superficial minds, that whatever the rulers of a country enact as a law, must be right; or at least, if in obeying it we should be transgressing the laws of God, on our legislators and not on ourselves must the guilt rest. This opinion could not be maintained even in regard to the legislation of despotic governments, and on the supposititon that kings ruled by divine right. For would it not still be absurd to suppose, that the great Ruler in heaven would invest his viceregents on earth, with power to nullify and supercede the laws of his kingdom, by authorizing men to commit deeds which he had pronounced sinful, and subversive of the highest interests of humanity? But in a republican or representative government, the thing is still more absurd. Are not our lawgivers men like ourselves, chosen by us, and from the midst of us; and did we ever observe any more evidence of infallibility in them than in ourselves?"129

123 Ders., Evangelical Catechism, Antwort auf Frage 308, 117. Der Christ als Wähler hat speziell dafür zu sorgen, daß gottesfürchtige, aufgeklärte und fromme Männer in die staatlichen Ämter gelangen; sie haben dafür zu beten (ITim 2,4), daß diese die Hilfe Gottes bei der Erfüllung ihrer Pflichten erfahren und haben sie in ihrer Amtsführung zu unterstützen. 124 125 126 127 128 129

OSTS., Address Anniversary, 16. Ebd., 19. Zum kategorischen Imperativ vgl. MALTER, 576. SCHMUCKER, Christian Pulpit, 3. Ebd., 13. Ebd., 14f.

144

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

Der Pfarrer bildet Christen zu Demokraten weiter, die ihre politischen Rechte angemessen wahrnehmen und ihre öffentlichen Ämter untadelig ausfüllen. Er ist deshalb der „rightful guardian of morals, in political no less than in private life."130 Weil die Demokratie fur ihr Funktionieren Christen braucht, bedarf sie auch - und das in ganz besonderer Weise - der Pfarrer, der „ministers of our holy religion,"131 durch deren Ausführungen „important reformations may be achieved in the moral administration of our governmental machinery."132 Der Einwand, „that the political affairs of the country do not fall within the legitimate province of pulpit discussion,"133 wird von Schmucker mit einer hintergründigen Invektive abgeschmettert: Wer so argumentiert, überträgt Verhaltensweisen aus den europäischen Staatskirchentümern auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Dadurch werden diejenigen, die ihn vorbringen, verunglimpft als Immigranten, die den freien Geist der amerikanischen Institutionen nicht verstanden haben und geistig unter den „despotisms of Europe" stehen, „where preachers never mention their rulers but in terms of adulation, or in prayers for blessings on their heads."134 Allerdings, so wird zugestanden, gibt es auch falsche politische Predigt, welche die Kanzel entweiht und deshalb weder der Kirche noch dem Staate förderlich ist; etwa die Verstärkung von Parteigeist und Patriotismus, was dem Gebot der Feindesliebe widerspricht (Mt 5,44),135 oder falschen Patriotismus, der sich als Ungerechtigkeit, Raub oder Unterdrückung gegen andere Nationen richtet.136 Den Pfarrern obliegt jedoch grundsätzlich das Amt der alttestamentli130

Ebd., Zitat des Untertitels. Die Ansprache wurde an Thanksgiving 1846 in Gettysburg gehalten. Dir Motto ist der Rede des Paulus vor dem Statthalter Felix entnommen: „Als aber die Rede auf Gerechtigkeit, Enthaltsamkeit und das bevorstehende Gericht kam, erschrak Felix und unterbrach ihn: Für jetzt kannst du gehen, wenn ich Zeit finde, werde ich dich wieder rufen" (Act 24,25). Dieses ist für die Anliegen der Weltverbesserungsvereine typisch. Es ist nur schwer vorstellbar, daß Schmucker seine 32 Druckseiten lange Rede tatsächlich gehalten hat. Im Unterschied zu seinen anderen publizierten Ansprachen findet sich hier im ersten Teil die direkte Anrede der Adressaten als „brethren" nicht. Die Darlegungen sind aufweite Strekken eher eine Anleitung für Prediger zu verstehen denn Erbauung der Gemeinde. Allerdings kann - und dies trägt der spezifisch amerikanischen Organisation von Kirchengemeinden Rechnung auch der Gemeinde das Wissen um die rechte Ausübung des moralischen Wächteramtes der Kirche dienen, insofern sie die Predigten ihres Pfarrers sorgfaltig zu beurteilen und ihn gegebenenfalls zu unterweisen und zu ermahnen hat. 131

Ders., Christian Pulpit, 4. Ebd. 133 Ebd. DREISBACH, 39-110, hat eine Predigt des episkopalen Pfarrers Jasper Adams, The Relation of Christianity to Civil Government in the United States, aus dem Jahre 1833 ediert und kommentiert. Der Vergleich ergibt, daß Schmuckers veröffentlichte Predigten in ein in der Jackson-Ära beliebtes literarisches Genre gehören. 134 SCHMUCKER, Christian Pulpit, 4f. 135 Ders., Address Anniversary, 16. 136 Schmucker hatte allen Anlaß, diese Beispiele für die Entweihung der Kanzel beizubringen, denn während des damaligen Krieges gegen Mexiko war dessen Kritik selten. Von 132

2.2 Wächteramt der christlichen Staatsbürger

145

chen Propheten: Sie haben das Urteil Gottes über die Gegenwart zu verkünden und Gottesgehorsam einzuschärfen (Act 5,29; 4,19).137 Verhallt die Predigt der göttlichen Gebote ungehört, erfolgt das göttliche Strafgericht am ganzen Volk. 138 Besonders in Zeiten des Niedergangs der Nation („national degeneracy") 139 hat die Pfarrerschaft die Aufgabe, die christlichen Bürger zur Reue anzutreiben, damit Gott von Strafe absieht. 140 Schmucker lehrt die Selbständigkeit der Kirche im Staat, freilich nicht die Selbständigkeit des Staates gegenüber der Heiligen Schrift beziehungsweise Gottes Willen. Einen laizistischen Staat kennt er nicht. Im Gegenteil: Gerade die Christen haben eine staatstragende Bedeutung, denn sie verhindern durch ihre politische Tätigkeit, daß die amerikanische Demokratie zu einer wüsten Anarchie verkommt. Schmuckers Idealstaat soll von „true christians" bestimmt werden, er soll keine „christian nation" sein.141 Der gesamte Bereich politischen Handelns steht unter Gottes geoffenbarten Forderungen. Die Christen bringen das göttliche Recht, wie es in der Heiligen Schrift niedergelegt ist, zur Geltung. Dieses steht nicht in einem Gegensatz zu vernünftig zu begründenden politischen Forderungen. Das hätte zwar auch R O T H E nicht behauptet, aber er hätte doch die Akzente anderes gesetzt, weil er nicht biblisch, sondern spekulativ begründete Sozialethik getrieben hat. Die besten Staatsbürger sind nach Meinung beider Theologen die Christen, aber sie verstehen darunter jeweils etwas anderes: R O T H E meint damit sittliche Staatsbürger, also auch solche, die sich selbst nicht als Christen sehen; Schmucker meint dagegen Wieder geborene. Er kennt überhaupt keine unbewußten Christen. Wer kein persönliches Verhältnis zu seinem Erlöser hat, kann seiner Meinung nach auch kein guter Staatsbürger sein. Ihm fehlt nämlich das rechte Fundament fur seine politischen Handlungen; er steht ständig in der Gefahr zu einem unmoralischen Subjekt zu degenerieren.

der Kanzel herab darf seiner Meinung nach auch nicht der persönliche Heldenmut („personal valor, or bravery") gelobt werden, unabhängig davon, in welchem Zusammenhang er sich gezeigt hat. SCHMUCKER, Christian Pulpit, 8. Vgl. a. ebd., lOf. 137 Ebd., 7. Ebd., 13: „But whilst we are justly called on for gratitude on account of the numerous blessings of God, have we not equal reason to recognize God by humiliation before him on account of our numerous and grievous national sins?"

138

Gott läßt über eine jede Nation das kommen, was sie selbst einer anderen zugefügt hat (Mt 7^12). Grundsätze der Individualethik werden hier auf ein Kollektiv übertragen. Ders., Christian Pulpit, 14. 140 Ebd., mit Hinweis auf IIReg 7,14. 141 Oers., Lutheran Manual, 183.

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

146

2.3 Göttliches Recht und Menschenrecht Hintergrund der Auffassung vom Wächteramt der Pfarrer und eines jeden Christen gegenüber dem Staat ist Schmuckers Überzeugung, daß ein Vertrag zwischen der amerikanischen nation und Gott besteht. Dieser ist in seinem Wesen ein Pachtvertrag, der den menschlichen Pächtern vorschreibt, wie sie ihre politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse einzurichten haben. Weil Gott nicht nur der Schöpfer des Menschen ist, sondern ihm auch seine politischen Rechte verliehen hat, muß deren Gebrauch in seinem Sinne erfolgen. „Who is it, that gave us the soil we inhabit, the quiet possession of which we regard as one of the fundamental privileges, secured by our civil institutions? Who created the very air we breathe, the birthright of all earth's inhabitants, and who causes the land to bear its annual fruits? Yea, is not even government itself - are not ,the powers that be', who define and defend our possession of these privileges, .appointed of God?' And shall God himself have no right to instruct us in the proper use of his won grants? Shall we, the usufructuaries, claim absolute possession of the property, of which we are mere tenants at his will; and vainly attempt to cast of the conditions and obligations inevitably connected with its possession?"142 Die Verantwortung dafür, daß das Verhalten der Pächter den Interessen des Eigners nicht zuwiderläuft, hat ein jeder Amerikaner, weil er seine Regierung selbst wählt. Der Maßstab zur Beurteilung der Regierung ist die Heilige Schrift als eine Sammlung von Rechtssätzen, in der Gott als der Eigentümer des Landes den Pächtern Grundsätze für ihr Verhalten hinterlassen hat: „God himself [...] has given numerous instructions on this subject. The Bible is replete with directions for the official conduct of kings, lawgivers, judges, and civil rulers of every class." 143 Die Gesetze der Regierung müssen das göttliche Recht in der jeweiligen historischen Situation verwirklichen. Gerechtigkeit erhöht ein Volk (Prov 14,34), Ungerechtigkeit erniedrigt es.144 Wenn die Nation Buße tut, kann Gott ihr vergeben, wie er dem alttestamentlichen König Samuel vergeben hat (IlChr 7,14). Schmucker faßt die Pflichten der Regierung unter vier Gesichtspunkten zusammen: Sie soll Justly and peacefully with other nations" umgehen, „righteous and wholesome laws" erlassen und diese mit „impartial fidelity" einhalten „for the best interests of the people," so daß sie zu einem „terror to evildoers and a praise to them that do well" (Rom 13,3) wird. 145 Haben Christen Regierungsämter inne, so sollen sie ihre Macht dazu benutzen, „to suppress vice 142

Ders., Christian Pulpit, 6. Ebd., 7. 144 Ebd., 25f. 145 Ders., Evangelical Catechism, 1859, Antwort auf Frage Nr.305, 116, vgl. IPetr 2,7 und Rom 13,3. 143

2.3 Göttliches Recht und Menschenrecht

147

and immorality, to protect the poor and helpless, and to promote the virtue, peace and prosperity of the people." 146 Der Gedanke, daß die Regierung die ,prosperity' der Bürger zu befördern hat, ist als durchaus unbiblisch anzusehen; im Neuen Testament wird keine solche Forderung erhoben, schon gar nicht sollen Christen nach Wohlstand streben (vgl. Mt 6,19 u. ö.). Auch aus dem Augsburger Bekenntnis läßt sich die Forderung, es sei Aufgabe der Regierung, den Wohlfahrt und Wohlstand der Untertanen zu heben, nicht herleiten, obwohl Schmucker genau das behauptet. 147 Allenfalls von Werken, die dem Nächsten dienen,148 kann eine Brücke zu Wohlfahrt und Wohlstand geschlagen werden. Entsprechend haben schon Sigmund Jakob BAUMGARTEN149 und Johann Lorenz von MOSHEIM,150 deren Ethiken Schmucker kannte, weniger von den Bestimmungen in der Confessio Augustana oder von LUTHER her argumentiert, als vielmehr Motive der eudämonistischen Popularphilosophie aufgenommen. 151 Wichtiger als die lutherische Tradition sind für das Verständnis der Forderung, daß die Regierung die Wohlfahrt und Wohlstand zu befördern habe, die Einleitungsformulierungen amerikanischer Verfassungen. In der Grundrechteerklärung von Virginia vom 12. Juni 1776 findet sich die Formulierung, daß die von Natur aus freien und gleichen Menschen nicht nur Leben, Freiheit, Eigentum und Sicherheit genießen sollen, sondern auch nach „Glück" streben dürfen. Wenn in demselben Dokument nun die Beamten als „Diener" des Volkes bezeichnet werden und diejenige Regierung die beste ist, die ihren Bürgern „den höchsten Grad von Glück und Sicherheit" bietet, liegt Schmuckers Schluß na-

146 TTUJ

Ebd. Ders., Elements, 328 = Lutheran Manual, 181: Die Reformatoren „clearly represent the welfare of the whole community as the proper end of all civil governments." 148 BSLK, 69, 12f. 149 Schmucker las von Baumgarten die 1825 erworbene Theologische Moral aus dem Jahr 1738 (ARWML 198 SS) und den 1825 erworbenen Unterricht vom rechtmässigen Verhalten aus dem Jahr 1738 ( A R W M L 224 SS). Zu Person und Werk vgl. H E R Z O G ; A N O N Y M U S , Baumgarten. 1 Mosheims 1819 erworbene Elementa Theologiae Dogmaticae, Bd.1-2, 3.Aufl. 1781, hat Schmucker genau durchgearbeitet (ARWML 249 SS). Zu Person und Werk vgl. W E S S E L I N G , Mosheim. Schmuckers Hochschätzung dieses Theologen wird nicht nur dadurch belegt, daß er Mitglied der Mosheim-Gesellschaft in Philadelphia war, sondern auch durch die Benennung eines erstgeborenen Sohnes als Samuel Mosheim. Bevor er sich zur Übers, der Dogmatik von S T O R R / F L A T T (vgl. oben Anm.löf, 2 5 ) entschied, hatte er erwogen, die Mosheimsche Dogmatik zu übers. Mosheims Kirchengeschichte lag den amerikanischen Kirchengeschichtlern übers, vor und prägte stark das dortige Lutherbild. L E H M A N N , American Imagination, 94-98 u.ö. 151 H O L S T E I N , 12f. Zu Kants Staatsphilosophie vgl. ebd., 22-25. Der Begriff Wohlfahrt mit der entsprechenden Vorstellungswelt findet sich auch bei dem bei den Deutschen in Pennsylvania viel gelesenen Jung-Stilling. B A U M A N N , 135-140, mit Bezug auf dessen Lehrbuch der Staats-Polizey-Wissenschaft, das freilich bei den deutschstämmigen Pietisten auf weniger Interesse gestoßen sein dürfte als die Romane. Vgl. unten Anm.191. 147

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

148

he.152 In der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 findet sich dann zur Begründung der Revolution die Bemerkung, daß Großbritannien keine dem „Oeffentlichen Wohl" heilsamen Gesetze habe erlassen wollen,153 und in der Präambel zur amerikanischen Verfassung heißt es schließlich, daß „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, [...] das allgemeine Wohl zu fordern," die Verfassung beschließen.154 Schmuckers Darlegungen zeigen somit eine im Vergleich zur Reformationszeit veränderte Auffassung weltlicher Ordnungen: Sie dienen weniger dazu, die Sünde in Schach zu halten, als die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen zu befördern. Entsprechend soll der Christ Regierungsanordnungen nicht geduldig erleiden, sondern er muß aktiv Verantwortung für die Regierung tragen. Im Unterschied zum Augsburger Bekenntnis ist Schmucker nicht der Ansicht, daß Christen im obrigkeitlichem Amt sich darauf beschränken sollten, „nach kaiserlichen und anderen üblichen Rechten Urteil und Recht [zu] sprechen,"155 sondern sie sollen - sofern sie in der Legislative tätig sind - dafür sorgen, daß christliche Gesetze verabschiedet werden, weil diese die dem Gemeinwohl dienlichsten sind. Das reflektiert wiederum die veränderte amerikanische Situation im Vergleich zu der reformatorischen. Die Confessio Augustana mußte erweisen, daß die evangelische Praxis im Kurfürstentum Sachsen die Geltung kaiserlichen Rechts nicht beeinträchtigt; Schmucker entwirft dagegen unter den amerikanischen Bedingungen eine Theorie der Wahrnehmung politischer Verantwortung, die Christen nicht nur im judikativen oder exekutiven Amt, sondern auch im legislativen an die geoffenbarten Rechtssätze Gottes bindet. Obzwar bestimmte charakteristische Grundgedanken der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika biblisch begründet werden konnten - die Idee von Freiheit und Gleichheit etwa durch Hinweis auf die Schöpfung, die Trennung von Staat und Kirche durch Hinweis auf die apostolische Kirchenverfassung - , gilt das für viele andere Grundgedanken der Schmuckerschen Staatsethik nicht. Der Staat gründet sich nach ihm auf einen Vertrag freier Bürger, die sich die Verfassung gegeben haben: „It is regarded as a contract between all the people or citizens of the different States, in their elementary or primary capacity."156 Das ist ein gängiger aufgeklärter Gedanke, der seine Wurzeln in der Antike hat. Er hat keinen Anhalt an der Heiligen Schrift. Schmucker wendet ihn gegen Sezessionsgelüste: Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika 152

Virginia Bill of Rights, Art. 1-3, zit. nach DOKUMENTE, 1 lOf.

153

DOKUMENTE, 115.

154

The Constitution of the United States vom 11. September 1787, zit. nach DOKUMENTE, 169. Vgl. a. den Originaltext in AMERICAN Constitutional Law, XXXI. 155 BSLK, 68,4f. 156 SCHMUCKER, Lutheran Manual, 192. Diese Auffassung, die Schmucker etwa mit Lincoln teilte, führte 1860 zum Krieg der Nordstaaten gegen die Südstaaten, die sich zum Zweck der Erhaltung der Sklaverei von der Union losgesagt hatten. Zu Lincoln vgl. knapp PlERARD/LINDER, 87-113.

2.4 Revolution

149

ist nämlich kein Vertrag zwischen souveränen Staaten, der beliebig wieder aufgekündigt werden könnte; sie begründet nicht eine Konföderation oder einen Staatenbund, wie dies in Deutschland zur Zeit LUTHERS der Fall war, weil das unweigerlich zum Zerfall der Union fuhren würde. Indem die Vereinigung auf Volkswillen beruht, schließt sie ein Recht zur Sezession aus.157 Mit diesen Äußerungen kritisiert Schmucker state's right-Theorien, welche den Widerstand der einzelnen Staaten gegen die Union zu rechtfertigen versuchten.158 Das bestätigt die bisherige Interpretation, wonach der Staat eine voluntary association ist.

2.4

Revolution

Versagt die Regierung bei der Aufrichtung eines dem göttlichen Willen entsprechenden Rechtszustandes, so haben die Regierten das Recht zur Revolution. Diese soll einen dem göttlichen Recht entsprechenden Zustand herstellen. Gottesgehorsam dem Menschengehorsam vorzuordnen, ist nach Schmucker das reformatorische Prinzip.159 Die Kriterien für Widerstand sind im eigenen Gewissen beziehungsweise - wie er bezeichnenderweise die Aufgabe des Gewissens beschreibt: - in der Überzeugung, was pflichtmäßiges Handeln ist, angelegt. Zwar muß Schmucker einräumen, daß die Reformatoren Gehorsam unter allen Regierungen gefordert haben. Entsprechend seiner Rezeption aufgeklärter Gedanken beschränkt er allerdings die Gehorsamsforderung auf denjenigen Zeitraum, während dessen die Obrigkeit Rechtssicherheit und Glück aller Untertanen befördert. Da er die Reformation als Revolution bewertet, verwundert es nicht, daß er grundsätzlich Revolutionen gutheißt und für ein durch die lutherische Sozialethik legitimiertes Mittel der Politik hält: „The Confessors inculcate the justice of revolution in those governments which fail to accomplish the just end of their establishment."160 Eine schlechte Regierung ist immer noch besser als keine Regierung;161 aber es bleibt doch menschlicher Erfahrung und menschlichem Urteilsvermögen überlassen, wann eine revolutionäre Situation eintritt. Grundsätzlich gilt nach Schmucker, daß irdische Herrscher „Knechte Gottes zum Guten" (Rom 13,4) sein sollen; sie sollen ein Schrecken für die

157

158

SCHMUCKER, Lutheran Manual, 191 f.

Die Diskussion um den Charakter des amerikanischen Bundesstaates, um die Autorität der Verfassung, liegt in der Constitution selbst begründet. Denn wenn es auch in der Präambel heißt, das Volk gebe sich die Verfassung, so hatten doch die einzelnen Staaten ihr zugestimmt. VEREINIGTE STAATEN, 7 2 - 7 5 . 159 160 161

SCHMUCKER, Discourse Ders., Elements, 330. Ebd., 229f.

Commemoration,

92.

150

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

Übeltäter sein, Gutes tun, gerechtes Gericht halten und nicht unschuldiges Blut vergießen (Jer 22,3). Sobald sie von diesem Wege abweichen, verlieren sie den Anspruch auf den Gehorsam der Regierten.162 Diesen Prinzipien entsprechend nimmt das Thema Widerstand gegen die Regierung einen so großen Platz in Schmuckers Denken ein, daß er sogar in seinen theologischen Lehrbüchern erklärt, wie eine Revolution erfolgversprechend durchgeführt werden kann: 163 Er rät dazu, in die Bewertung der Situation die Gefahr von Bürgerkrieg und Anarchie einzubeziehen und sich gut zu organisieren. Als vorbildlich für etwaige weitere wird die amerikanische Revolution hingestellt. Da der Erfolg dieses Aufstandes gegen den englischen König Gott zugeschrieben wird: „a righteous God smiled upon their [der Founding Fathers, ADD] efforts,"164 entspricht auch der nachrevolutionäre Zustand grundsätzlich göttlichem Willen. Es ist nur auf den ersten Blick unverständlich, daß Schmucker in einer Situation, in der die Bürger eine Regierung einfach abwählen konnten, das Recht des Volksaufstands geschichtlich und biblisch begründet. Einerseits spiegelt sich hier der Stolz auf den Erfolg der amerikanischen Revolution, andererseits verfolgten die Amerikaner mit großem demokratischen Sendungsbewußtsein die politischen Verhältnisse auf dem europäischen Kontinent. Die politische und religiöse Unfreiheit der Menschen in Deutschland und Österreich konnte Schmukker fast zu Tränen rühren.165

2.5 Amerikanischer

Nationalstaat

Schmucker sieht voller Stolz sein Heimatland in besonderer Weise von Gott gesegnet. Deshalb kann er begeistert ausrufen: „Under the wide heavens no other land can be found, in which the great mass of the people enjoy so large a share of liberty and security for their equal rights."166 Gleichwohl ist der amerikanische Nationalstaat bedroht: durch die aus Unchristlichkeit folgende Amoralität seiner Bürger und Amtsträger. Diese zeigt sich etwa in den Annexionsgelüsten gegenüber Mexiko und in Sezessionsbestrebungen. Beiden Gefahren versuchte Schmucker in Wort und Schrift zu wehren. 162

Ders., Christian Pulpit, 15f. Ders., Elements, 328 = Lutheran Manual, 180f: „For it is a principle maintained by the ablest writers on political philosophy, that resistance to any existing government becomes proper and a duty, only when the grievances actually endured or with certainty foreseen, outweigh the hazards of anarchy and violence always attendant on revolutions." 164 Ders., Elements , 332. 165 Vgl. zu Schmuckers Europareise DÖRFLER-DffiRKEN, Amerikaner, und zum amerikanischen Sendungsbewußtsein BLANKE. 166 SCHMUCKER, Elements, 332. 163

2.5 Amerikanischer Nationalstaat

151

Bezeichnend ist seine Kritik am Krieg gegen Mexiko im Jahr 1846. Schmucker unterscheidet zwischen „aggressive" und „defensive war." Er definiert den Verteidigungskrieg als Abwehr einer aktuellen Invasion. 167 Wichtig ist hier das eingrenzende Adjektiv „aktuell": Damit will er die Möglichkeit der Rechtfertigung eines Präventivkrieges ausschließen. 168 Ein solcher gerechter Krieg ist derjenige gegen Mexiko nicht, auch wenn das amerikanische Volk ihn mit überwältigender Mehrheit billigt. 169 Schmucker gehört zu den wenigen Predigern seiner Denomination, die sich öffentlich gegen diesen Krieg ausgesprochen haben. Seine Argumente sind einerseits biblisch-millennaristisch und lutherisch begründet, andererseits dem Arsenal der aufgeklärten Kriegskritik entnommen. Nach Schmucker verbietet schon die Gemeinschaft aller Menschen „all infringement on the rights, person, or territory of others, either by individuals or nations." 170 Krieg ist nichts weiter als eine Multiplizierung individueller Grausamkeiten. Angriffskriege sind kollektiver Mord: „Yet aggressive wars possess all the essential features of robbery and murder by the individual, whilst their enormity is aggravated by the stupendous scale of their execution." 171 Auch eine politische Rechtfertigung des Krieges gegen Mexiko ist nicht möglich, weil die amerikanische Verfassung ausschließlich die Möglichkeit eines Verteidigungskrieges vorsieht. Also haben Präsident und Kongreß wider die Verfassung 167 Ders., Lutheran Manual, 185: ,,[T]his is the only war in which a Christian government can rightfully engage, a war of defence against actual invasion." Schmuckers Position ist also nicht pazifistisch, wie KUENNING, Pacifism, 263f, behauptet hat. 1 8 SCHMUCKER, Lutheran Manual, 185: „If the civil officer is the minister of God for good, and holdeth not the sword in vain, if he is to be a terror to individual evil-doers, and bound to protect the citizens against violence from individual robbers and murderers; why should he not be bound to do so against a number of them? If in protecting the citizen against individual robbers or murderers, he may even take the life of the aggressor; what reason can be assigned why he should not do so to thousands of robbers or murderers? If this be not admitted, we are forced to the absurdity, that the guilt of crime is diminished in the ratio of the increase of criminals, and that robberies and murders may be multiplied until they become innocent, and until it is wrong for the government which was bound to protect the citizens against thousands of robbers and murderers unter the name of soldiers." 169 VEREINIGTE STAATEN, 96-98. Der Ausgang der Präsidentschaftswahl von 1845 wurde dahingehend gedeutet, daß das Volk die Aufnahme von Texas in den amerikanischen Staatenbund befürworte, die von den Whigs und den Abolitionisten zuvor bekämpft worden war. 170 SCHMUCKER, Christian Pulpit, 20. Zur Haltung der Kirchen im Krieg gegen Mexiko vgl. WELLS, 61. Demnach waren die Lutheraner gespalten. 171 SCHMUCKER, Christian Pulpit, 20. Während seines Aufenthaltes in Wien hört Schmucker vom Beginn der Kriegshandlungen mit Mexiko. In einem Brief an seine Frau am 6. Juni 1846 (AGTS 3100.0001) beklagt er sie und weist zur Illustration seiner Ablehnung dieses Krieges auf die verheerenden Wirkungen stehender Heere in Europa hin. In einem anderen Brief an dieselbe Adressatin vom 10. Mai 1847 (ebd.), erinnert er anläßlich der Feiem zum Sieg über Mexiko an die Opfer des Krieges und fordert, auf Illumination der Stadt zu verzichten.

152

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

gehandelt, als sie diesen Krieg beschlossen.172 Diese humanitär-aufklärerische Kriegskritik wird auch in religiöser Begrifflichkeit vorgetragen: Der Krieg gegen Mexiko läuft Gottes Willen zuwider, weil der Friedefürst nicht will, daß seine Jünger anders als friedlich mit anderen Nationen umgehen. Deshalb müssen alle amerikanischen Bürger sich dafür einsetzen, den Krieg sofort abzubrechen, wollen sie nicht persönlich von Gott für das Unrecht verantwortlich gemacht werden. „And if we do not, if we continue to applaud the exploits of our army in such a cause; we encourage our rulers and are justly held individually responsible before the judge of all the earth. And as assuredly as there is a righteous God in heaven, if our citizens continue to foster the spirit of conquest, [...] the days of our true national glory will mere long be numbered."173 Der Prediger droht einem jeden einzelnen Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika, der wider Verfassung und Gottes Gebot sich nicht für einen sofortigen Kriegsabbruch einsetzt, die himmlische Strafe an. Mit der Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg nimmt Schmucker grundlegende Gedanken LUTHERS auf, auch wenn er in dieser Frage nicht eigens auf den Reformator verweist. Er übernimmt auch den Ratschlag des Reformators, daß niemand seinem Herrn in einen ungerechten Feldzug Folge leisten darf; sofern er dessen nur gewiß ist.174 Internationale Konflikte sollen - so wünscht Schmucker in Anlehnung an von KANT vorgetragene Forderungen - , nach Möglichkeit friedlich gelöst werden mit Hilfe eines internationalen Gerichtshofes und durch die Gründung von nationalen Verständigungsgesellschaften wie der 1828 gegründeten American Peace Society.115 Der Vergleich dieser Äußerungen zum Krieg gegen Mexiko mit denen zur amerikanischen Revolution, die ebenfalls mit Kriegshandlungen verbunden war, zeigt, daß Schmuckers Position gewaltsamen Entwicklungen des Staates gegenüber widersprüchlich ist. Während er Revolutionen grundsätzlich rechtfertigt, und den Aufstand der Amerikaner wider die englische Krone zum Modell für Revolutionen in Europa verklärt, verwirft er apodiktisch jeden Angriffskrieg. Das Kriterium, ob eine aufständische oder kriegerische Handlung coram Deo rechtmäßig ist, gewinnt Schmucker offenbar aus der Haltung und dem Ziel der

SCHMUCKER, Christian Pulpit, 31. Ebd., 32. 174 Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können, 1526 (WA 19, 623-662, hier 656, 22-25): „Wie, wenn mein herr unrecht hette zu kriegen? Antwort: Wenn du weist gewis, das er unrecht hat, so soltu Got mehr furchten und gehorchen denn menschen, Acto. 4. [Act 5,29, ADD], und solt nicht kriegen noch dienen; denn du kanst da kein gut gewissen für Gott haben." 175 SCHMUCKER, Lutheran Manual, 1855, 185f. Vgl. a. CURTI, 42-66, 123-125. Zu Vorstellungen vom ewigen Frieden vgl. oben Teil A Anm.152. 173

2.6 Demokratisches Prinzip

153

Beteiligten, nicht aus dem Ergebnis des geschichtlichen Ereignisses - schließlich haben die Amerikaner Mexiko besiegt und einen Teil ihrem Territorium einverleiben können, was durchaus im Interesse der dort lebenden Amerikaner war und nach dem Sieg als göttlichem Willen entsprechend interpretierbar wäre. Aber Schmucker faßte den Sieg nicht als Ausdruck göttlichen Segens auf. Im Unterschied dazu rühmte etwa LUTHARDT zusammen mit vielen anderen deutschen Lutheranern trotz anfanglicher Skepsis den Sieg über Frankreich als Gottes Gabe. Die Founding Fathers wollten nach Schmucker das öffentliche Wohl befördern, die Vereinigten Staaten von Amerika dagegen im Falle Mexikos ihr Territorium vergrößern.

2.6 Demokratisches

Prinzip

Im Mittelpunkt der Schmuckerschen Staatsethik steht die Idee, daß alle Christen den Staat im christlichen Sinne zu beeinflussen haben. Sie verbürgen - weil sie von dem supreme ruler aller Menschen belehrt werden - den Bestand der Demokratie, denn allein sie wissen um die rechten, in der Beurteilung der konkreten ethischen Situation anzuwendenden Grundsätze. Die Idee eines Wächteramtes der Christen gegenüber dem Staat wurde zu Schmuckers Lebzeiten besonders von den Theologen des sogenannten Evangelical beziehungsweise Righteous Empire vertreten, den „theocrats," 176 die sich im allgemeinen der J^z'g-Partei nahe fühlten. 177 Als Hintergrund der theokratischen 176

Zur Definition vgl. BODO, 42-45. Vgl. a. mit speziellem Bezug auf reformierte Theologen der Südstaaten, HOLIFIELD, Gentlemen, 155-185. Das Ziel dieser Theokraten, ein Protestant, Righteous oder Benevolent Empire soll von Predigern verschiedener Denominationen mittels interdenominationeller societies herausgebildet wurde. Während BODO die theologischen Grundüberzeugungen der Theokraten herausarbeitet, akzentuiert MARTY, Righteous Empire, 6 7 - 7 7 , 92, 96, die soziologisch beschreibbaren Veränderungen, die mit dem disestablishment einhergingen. Er kritisiert die persönlich „warmhearted and benevolent" Führer der Vereinigungen als „Protestant Jesuits" im öffentlich-politischen Bereich, die zumindest bis 1840/50 mit unnachsichtiger Härte solche „major problems" wie Kartenspiel und Theaterbesuch geißelten und damit eine Ideologie der Anpassung an Urbanisierung und Industrialisierung schufen. Zum Verhältnis des Righteous Empire zur deutschen Immigration vgl. ebd., 126. FOSTER, 179-207, beschreibt am Beispiel des Mississippi Valley, wie die großen Gesellschaften in der Jackson-Ära eine Evangelisierungskampagne durchführten. 177

Zur Geschichte der Whigs und zur Verquickung von Religion mit Politik vgl. HOWE, 134f, 141f. Kennzeichnend für die PFÄig-Überzeugung ist, daß Politik als Reflex privater Frömmigkeit gesehen wird. Was für das individuelle Heil notwendig ist, soll durch die Regierung für alle Bürger verbindlich gemacht werden. Die Whigs setzten sich für eine Stärkung der Gewalt der Regierung gegenüber den Einzelnen ein. Ihren ersten Wahlsieg errangen sie 1841 mit William Henry Harrison. Die Partei zerfiel unter dem Druck der unterschiedlichen Interessen der Anhänger im Norden wie im Süden zur Sklavenfrage in den fünfziger Jahren. Sowohl

154

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

Vorstellungswelt gilt die puritanische Föderaltheologie, 1 7 8 die einen Bund zwischen Gott und den Amerikanern annimmt, dem entsprechend nicht nur das individuelle Leben, sondern auch die Politik der Union gestaltet werden muß. Entscheidend ist dabei der Gedanke, daß die Regierung selbst für die Verwirklichung des Gottesreiches aktiv werden und es gegebenenfalls gegen den Mehrheitswillen der Bürger durchsetzen muß. Schmucker war der einzige Theologe in den lutherischen Denominationen, der überhaupt Kontakt zu den politisch einflußreichen Kreisen des Evangelical Empire hatte, die von den meisten Deutschen abgelehnt wurden. 1 7 9 Er war aktiv e s Mitglied einiger der wichtigsten societies.180 Deshalb ist zu prüfen, ob er als Theokrat oder als Demokrat dargestellt werden muß. Schmuckers Sozialethik stimmt mit derjenigen der Theokraten darin überein, daß sein Ideal ein protestantisch geprägter Staat ist. Er fordert aber nicht, daß die Regierung entscheidende Maßnahmen zur Durchsetzung einer heiligmäßigen Lebensweise in der Bevölkerung ergreift. Im Zentrum seines Denkens 1852 wie auch 1856 siegten die Demokraten; bei der letzten Wahl allerdings nur knapp, weil sich inzwischen die Republikaner aus den ehemaligen Whig-Anhängern und anderen kleineren Parteien konstituiert hatten. Allerdings hatten sich auch schon vorher zwei Gruppen von Whigs, die sogenannten ,Conscience' Whigs und die ,Cotton' Whigs herausgebildet. Sie unterschieden sich im Umfang der vom Staat geforderten Maßnahmen zur Versittlichung der Gesellschaft. Schmucker dürfte, sofern er tatsächlich das Parteibuch der Whigs besaß, wie WENTZ, Pioneer, 262, behauptet, eher der Richtung der Conscience Whigs zuzurechnen sein, welche stärker die individuelle Verantwortung des Bürgers und die Grenze staatlicher Befugnisse akzentuierten. 178 Die Föderaltheologie denkt an zwei Bünde: in dem einen verpflichten sich König und Volk zum Gehorsam gegen Gott, in dem anderen verpflichtet sich das Volk, dem König zu gehorchen, solange er gerecht regiert. Damit ist der König nicht, wie bei Luther, eine Obrigkeit von Gottes Gnaden, sondern er ist abhängig vom Volkswillen. MOLTMANN. Die schematische Entgegensetzung eines lutherischen und eines foderaltheologischen (reformierten) Typus politischer Ethik ist problematisch, weil sie die lutherische Position und die Vielfalt der von Lutheranern vertretenen politischen Optionen nicht wahrnimmt. Schließlich bestraft Gott die schlechte Obrigkeit nach LUTHER, Von weltlicher Oberkeit (1523) und Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können (1526) gegebenenfalls durch einen Aufstand des ,Pöbels' (WA 11,265; 19,639,26). 179 Die Lutheraner in den ländlichen Gebieten Pennsylvanias lehnten die Weltverbesserungsgesellschaften großenteils ab. SCHMUCKER, Kurzgefaßte Geschichte, VI. 1 0 Schmucker war Mitglied und zeitweilig Vorsitzender u. a. der folgenden Gesellschaften: American Tract Society, American Temperance Society, American Sunday School Union. Zwar lehnte er, als er seine erste Pfarrstelle in New Market bekleidete, einen Ruf als Generalagent der American Bible Society ab, setzte sich aber für deren Ziele ein. Er gründete oder war Mitbegründer der Sunday School Union of the Lutheran Church, der Home Missionary Society, der Foreign Missionary Society und der Parent Education Society of the Evangelical Lutheran Church. Die General Synod unterhielt Beziehungen zur American Bible Society, zur American Sunday School Union und zur American Tract Society. Die American Education Society unterstützte im Jahr 1829 vier lutherische Theologiestudenten in Gettysburg, danach regelmäßig weitere. WENTZ, Pioneer, 251-265, 267.

2.6 D e m o k r a t i s c h e s P r i n z i p

155

steht das Individuum als freier und selbstbestimmter Mensch, der sich frei für das Gute entscheidet, ohne daß er durch Gesetze dazu gezwungen würde. Auch als Vizepräsident der American Temperance Union hat Schmucker nicht die Prohibition verteidigt. Gleichwohl war er davon überzeugt, daß Nüchternheit das Kennzeichen des Wiedergeborenen (IKor 6,10) ist.181 Die Forderung freiwilliger Abstinenz wird nicht nur biblisch begründet, sondern ist auch durch seine pietistischen Kronzeugen gedeckt: Schon SPENER forderte in seinen Pia desideria im Jahre 1675 Enthaltsamkeit vom Alkohol. 182 Entsprechend fordert Schmucker auch niemals, die durchaus erwünschte und in Predigten und Traktaten gepriesene Sonntagsheiligung auf gesetzlichem Wege durchzusetzen. 183 Schmucker ist also ein Theologe, dem Freiwilligkeit bei der Erfüllung des göttlichen Gebotes über alles geht. Eine Beschränkung von Individualrechten zum Wohl der nation hat er nicht angestrebt. Es geht ihm nicht darum, daß das Volk christlich ist, sondern darum, daß ein jeder Bürger zu einem Christen wird. Das unterscheidet ihn von führenden theocrats. Diese Überlegung zum Grundgedanken der Schmuckerschen Sozialethik wird unterstrichen durch die Beobachtung, daß er sich vor allem in solchen Vereinigungen engagiert hat, welche die individuelle Verchristlichung amerikanischer Bürger durch Bibel- und Traktatlektüre zum Ziel hatten. Vereinigungen, die explizit politische Zielsetzungen verfolgten - wie die American Anii-Slavery

181 Im Jahre 1850 war Schmucker Vizepräsident der American Temperanz Society. AGTS 3250.0401: Hallock, deren Sekretär, am 1. April 1850 an Schmucker. Vgl. HARRISON; EATON. Vom Jahre 1846 an wurden in insgesamt dreizehn Staaten Prohibitionsgesetze erlassen, deren Wirkung freilich begrenzt blieb. Zur Diskussion des Temperanzproblems im Luthertum und zu lutherischen Temperanzgesellschaften vgl. LEHMAN, Lutherans. SCHMUCKER publiziert in seinem Evangelical Catechism, 145f, ein Lied, das erklärt, der echte Lutheraner nehme deshalb keinen Schluck aus der Flasche, weil das seinen Leib und seine Seele abtöte; er trinke allein dasjenige, was Gott ihm aus den himmlischen Wassern destilliert hat: den Trank zum ewigen Leben. Die Deutschen galten im allgemeinen als Anführer der Gegner der Prohibition wie auch der Temperanz. Noch im Jahre 1909 konnte der in den Vereinigten Staaten von Amerika lehrende Professor Hugo MÜNSTERBERG, 45, seine Landsleute fragen: „[Kann] das einzige Ideal, das alle Deutschen zu gemeinsamer Tat zusammenruft, immer und nur der ungehinderte Bierausschank sein?" Bezeichnenderweise war im Jahre 1908 ein bemerkenswert großer Teil wirtschaftlich erfolgreicher deutschstämmiger Amerikaner im Braugewerbe tätig. CONZEN, 1 OT 414.

SPENER, Pia Desideria, 28-30. SCHMUCKER, Patriarchs, l l l f , bezeichnet hier die Enthaltsamkeit von „ardent spirits" (unter speziellem Bezug auf Rum und Brandy) bei Mühlenberg als vorbildlich; dieser gehört nach Schmucker zu den „temperance men before the age of temperance." Allerdings kritisiert er, daß jener nur die destillierten, nicht auch die gegorenen Alkoholika abgelehnt habe. 183 Ders., Plea. Ders., Happy Adaption. Diese Predigt wurde auch in die deutsche Sprache übers.: Der christliche Sabbath, und, versehen mit einem Schlußwort an deutsche Einwanderer, von der Amerikanischen Tractat-Gesellschafit vertrieben. Vgl. a. JOHNSON/YOST, 2 3 2 255; STATE; JONAS.

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

156

Society, die das Wohl der Nation von der zwangsweisen Beseitigung der Sklaverei abhängig machte - , hat er dagegen öffentlich kritisiert.184 Schmuckers Begriff von Demokratie nimmt die klassischen Postulate auf: Selbstbestimmung, politische Gleichheit und Volkssouveränität. Trotzdem ist sein Idealstaat ein christlicher Einheitsstaat und nicht mit einem modernen demokratischen Staat zu verwechseln. Christlich ist dieser Staat dann, wenn alle Bürger Christen sind und damit ausschließlich den Willen Gottes in ihrem privaten wie öffentlich-politischen Leben vollziehen. Ein jedes christliche Glied des Volkes kann nach entsprechender Unterweisung letztlich nur den einen Willen haben, der dem göttlichen entspricht. Bis dieser selige Zustand erreicht ist, bleibt dem Christen nur das Leiden unter dem Willen der Mehrheit des Volkes und der rastlose Einsatz für die Erweckung seiner Nachbarn. Weil Gott die amerikanische Nation „in the present life"185 bestrafen wird fur ihre Sünden, muß der Christ sich anstrengen. Dieses Weltverbesserungs- und Missionspathos war LUTHER fremd, wenn dieser auch gelegentlich die Überzeugung zum Ausdruck brachte, daß Gott Kollektive bestrafe. Schmucker modifiziert allerdings dessen Gedanken: Der Reformator meinte, eine ungerechte Obrigkeit würde vom himmlischen Richter bestraft, möglicherweise durch einen Volksaufstand. LUTHER war nämlich skeptisch, daß das Individuum den rechten Überblick zur Beurteilung der Anordnungen des Herrschers hat und exkulpiert deshalb im Zweifelsfall den einzelnen Gläubigen. Schmucker macht dagegen jeden einzelnen Christen für die Taten der Regierung verantwortlich, weil er schließlich die Regierung gewählt hat und über gesetzlich garantierte Möglichkeiten verfugt, auf sie Einfluß zu nehmen. Höchstes Gut, das die Regierung zu befördern hat, ist die welfare eines jeden. Eben das ist der göttliche Auftrag. Daß das Wohl des einen Menschen zum Nachteil des anderen sein kann, kommt nicht in den Blick. Deshalb bedenkt Schmucker nie, daß ein Ausgleich divergierender Interessen notwendig ist; er denkt die Regierung nicht als Regelungsinstanz in einem differenzierten politischen, sozialen und ökonomischen System, sondern idealerweise als Knecht Gottes zur Beförderung des göttlichen Willens in der Welt. Sein Demokratiebegriff unterscheidet sich also insofern vom gegenwärtig vorherrschenden, als die Idee des Ausgleichs legitimer Gruppeninteressen nicht vorkommt.186

184 185 186

Vgl. unten Abschnitt 3.3.. Ders., Christian Pulpit, 25. KlELMANSEGG, 179, 187.

3. Gesellschaft

157

3. Gesellschaft Die Demokratie ist „nicht ein formloser Sandhaufen von Individuen, sondern ein Gewirr streng exklusiver, aber voluntaristischer Verbände." 187 Entsprechend ist der Bezugspunkt des sozialethischen Denkens von Schmucker weniger der Staat als die Gesellschaft, der Raum, in dem die Individuen sich zusammenschließen, um ihre politischen wie religiösen Interessen zu verfolgen. Die Vereine {voluntary societies) sind der Ort, an dem der politisch-religiöse Wille der Individuen zum Ausdruck gebracht wird in Konkurrenz und in Gemeinschaft mit den Überzeugungen anderer Bürger. Zwischen 1810 und 1830 entstanden aus dem Geist des Second Great Awakening heraus die wichtigsten dieser überdenominationellen Vereine zur Verchristlichung der Vereinigten Staaten von Amerika; zwischen 1830 und 1850 bestanden mehr als 160 solcher Gesellschaften, die über enormen Einfluß in der öffentlichen Meinung verfügten. Sie beförderten ein emotionales, antiintellektuelles, millennaristisches und ethisches Christentum. Dogma, Tradition und Kirche sind bedeutungslos im Vergleich zur Bekehrung des Individuums; die Heilige Schrift wurde vom apostolischen Zeitalter her ausgelegt, religiöser Enthusiasmus und ethischer Rigorismus ersetzten häufig theologische Bildung. Geistiger Hintergrund der Vereinsgründungsbewegung war die Aufklärung mit dem ihr eigenen Erziehungspathos und Fortschrittsglauben. Die Überzeugung, daß der Mensch und seine Lebensverhältnisse unendlich verbessert werden können, war in den Vereinigten Staaten von Amerika allgemein verbreitet. So sagte sogar der kirchenlose Präsident Andrew J A C K S O N , ein Demokrat, in seiner Antrittsrede 1 8 2 8 : „I believe man can be elevated; man can become more and more endowed with divinity; and as he does, he becomes more Godlike in his character and capable of governing himself. Let us go on elevating our people, perfecting our institutions, until democracy shall reach such a point of perfection that we can acclaim with truth, that the voice of the people is the voice of God."188 Schmucker teilt zwar die optimistische Ansicht J A C K S O N S , daß die Menschen fähig zur ständigen Selbst- und Weltverbesserung sind, will aber nicht, daß die Amerikaner ,göttlich', sondern daß sie zu wahren Christen werden. Nur wer ein true Christian ist, kann auch ein true christian patriot sein. Die Gesellschaft, die Schmucker anstrebt, ist insofern eine christliche, als wiedergeborene Individuen sie prägen. Soziologisch betrachtet besteht Schmuckers Gesellschaft aus einer Vielzahl von Freiwilligkeitsvereinen, deren Ur- und Vorbild die pietistischen conventicula sind, die sich allerdings nicht mehr schwerpunktmäßig

Sekten, 215.

187

WEBER,

188

Zit. n a c h MCLOUGHLIN, 190.

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

158

als Vereine zur gemeinsamen Schriftauslegung verstehen, sondern der Erziehung der Welt dienen.

3.1 Endzeitliches

Friedensreich

Im Unterschied zu ROTHES Anschauung soll nach Schmucker nicht der Staat, sondern die Gesellschaft zum Reich Gottes werden. Dies Reich Gottes wird qualifiziert als endzeitliches Friedensreich. Die Aufgabe, dessen Hereinbrechen zu befördern, haben die protestantischen Christen aller Denominationen. Sie sollen die Welt so verbessern, daß der Wiederkehr Christi nichts mehr im Wege steht. Die Menschen sind, wie bei ROTHE, nicht Sünder, sondern cooperatores Dei. Das entspricht aufklärerischem Fortschritts- und Humanitätsdenken. Schmucker sieht sich in der Tradition SPENERs, mit dem er die ,Hoffnung besserer Zeiten' teilt.189 Daß tatsächlich die amerikanische Gesellschaft seiner Zeit auf dem Wege zu einem solchen Reich Gottes ist, meint Schmucker an der wirtschaftlichen Prosperität und der politischen Stabilität der Vereinigten Staaten von Amerika sowie an deren religiöser Situation ablesen zu können. Die voluntary societies gelten ihm als der Motor dieser Entwicklung zum Reich Gottes. Die Amtsträger des Staates müssen einen Zustand innergesellschaftlichen Friedens schaffen, in dem sich durch den Einfluß der Vereine das Reich des Friedefürsten ausbreiten kann.190 Das endzeitliche Friedensreich war für Schmucker das unterscheidet ihn deutlich von ROTHE - , nicht Jahrtausende entfernt, sondern sollte bald hereinbrechen. Er war wie viele Amerikaner seiner Zeit davon überzeugt, daß die Johannesapkalypse den tatsächlichen Verlauf der Geschichte offenbart habe, daß man derzeit im sechsten von sieben Weltaltern lebe. Sein Optimismus gründete sich speziell auf Heinrich JUNG-STILLING191 und Albrecht 189 SPENER, Pia Desideria, 43,31: „Sehen wir die heilige Schrift an / so haben wir nicht zu zweifflen / daß Gott noch einigen bessern zustand seiner Kirchen hier auff Erden versprochenιhabe." qo SCHMUCKER, Peace, 191

15.

Zum Datum vgl. BENRATH, 470. In der amerikanischen Ausg. dieser 1810 in Deutschland erstmals gedruckten Schrift wird der Beginn des letzten Weltalters verschoben auf 1837; das hat natürlich seinen Grund darin, daß das zuerst angegebene Datum längst verstrichen war. JUNG-STILLING, Posaunen. Jung-Stilling wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika verehrt als „patriarch of revivals." HANEY, Roots, 91f Anm.55. Auch seine Lebensbeschreibung wurde 1811 hier gedruckt. Die Begeisterung für den deutschen Autor führte bei Schmucker senior dazu, daß er ihn am 17. September 1804 um einen Brief für die amerikanischen Deutschen bat, den er im ersten Jahrgang des für die reformierten und lutherischen Deutschen in Pennsylvania hg. Evangelischen Magazins (1812, 132-134) veröffentlichte. SCHWINGE, 45, 52, erwähnt die amerikanische Rezeption des Autors. Eine genauere Untersuchung liegt dazu nicht vor.

3.1 Endzeitliches Friedensreich

159

welche - allerdings ohne das auf Zeitereignisse zu beziehen - die These vertreten hatten, das Reich Gottes beginne 1816/17 beziehungsweise am 18. Juni 1836. Zwar mußte dieser Termin immer weiter verschoben werden - so hat schon Schmuckers Vater in seiner Auslegung der Johannesapokalypse errechnet, der letzte Tag komme erst 1859 -, 1 9 3 aber die millennaristische Spannung ließ erst bei Ausbruch des Sezessionskrieges nach. Postmillennarismus ist ein Charakteristikum der amerikanischen Frömmigkeit in der ersten Hälfte des 19. Jh.194 Auch breite Kreise der amerikanischen Lutheraner waren von Endzeitstimmung ergriffen. Das geht aus einem Artikel des Evangelischen Magazins hervor: 1829 spricht der Redakteur davon, „daß wir in den Tagen der gnädigen Heimsuchung Gottes uns befinden, daß der Herr seine Werfschaufel in die Hand genommen [hat] und im Begriff ist, seine Tenne zu fegen." 195 Das Endzeitbewußtsein fordert den rastlosen Einsatz fur das letzte Reich. Es ist getragen vom Optimismus, daß die ganze Welt durch die gemeinsame Anstrengung aller Christen noch in der eigenen Generation verchristlicht werden könne. Das ist die Antriebskraft Schmuckers. Zugleich kann der Theologe nicht übersehen, daß zwischen seinem Ideal und der amerikanischen Wirklichkeit eine Diskrepanz besteht. Er erklärt die Tatsache, daß die meisten Amerikaner sich nicht so verhalten, wie es das göttliche Gebot fordert, damit, daß die Amerikaner zwar „nominally" eine „christian nation," aber noch keine „nation of true Christians" 196 seien. Deshalb würden Fortschritte in der Christianisierung der Vereinigten Staaten von Amerika sowie der Welt deren völlige Befriedung BENGEL,192

192

Er erwarb 1834 BENGEL. Zu Person und Werk vgl. BRECHT, Bengel, 586. The Prophetic History of the Christian Religion, or: a Brief Exposition of the Revelation of St. John, 1857. Vgl. zu den Quellen von Schmucker senior HANEY, Roots, 71. Samuel Simon Schmucker erwarb 1836 ein Exemplar der Johannesauslegung der Radikalpietistin Johanna Eleonora PETERSEN (ARWML 275 SS). Dieser Bucherwerb belegt nicht nur sein anhaltendes Interesse an millennaristischen Fragen, sondern bestätigt auch seine geistige Zuordnung zum älteren deutschen Pietismus. 94 McLouGHLIN, 178. Einen Überblick über die Millennarismus-Forschung in den Vereinigten Staaten von Amerika bietet SWEET, Millennialism, 529, 527; HATCH, Liberty-, SANDEEN, Roots, 42-58; MOORHEAD, beschreibt, inwiefern der Sezessionskrieg das Ende aller millennaristischen Hoffnungen bezeichnete. 195 EVANGELISCHES MAGAZIN, NF l, 1829, Nr.l (April), 2: Als Indiz für den Anbrach der Endzeit werden die der Verchristlichung der Amerikaner dienenden Anstalten und Vereine aufgezählt. „Man sehe nur hin, auf die Verbreitung der heiligen Schrift, auf das Missionswesen, auf christliche Bildungsanstalten, auf Traktatgesellschaften, auf Sonntagsschulen, auf andere nützliche Anstalten und Menschenwohl bezweckende Vereine." Das Evangelische Magazin bietet überdies im Jahr 1829 unter der Redaktion von Johann Herbst Informationen über bedeutende Lutheraner, neben anderen Spener und Francke, und erzählt von Erweckungen. 196 SCHMUCKER, Lutheran Manual, 183. 193

160

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

vorantreiben.197 Zwar werden die Menschen erst im tausendjährigen Reich der Herrschaft Christi „war no more" erfahren können,198 aber dieser Zustand kann in kürzester Zeit erlangt werden durch verstärkte missionarische Anstrengung der Christen.199

3.2 Freiwilligkeit

und freier Wille

Die freiwillige Selbstorganisation von Menschen setzt voraus, daß die Individuen einen freien Willen haben, der ihnen zielgerichtete Assoziation möglich macht. Entsprechend ist Schmucker der Überzeugung, daß der menschliche Wille „possesses some liberty for the performance of civil duties, and for the choice of those things laying within the control of reason." 200 Mit diesen Worten übersetzt Schmucker den achtzehnten Artikel des Augsburgischen Bekenntnisses: „Vom freien Willen wird also gelehrt, daß der Mensch etlichermaß ein freien Willen hat, äußerlich ehrbar zu leben und zu wählen unter denen Dingen, so die Vernunft begreift." 201 Voraussetzung des rechten Gebrauches des freien Willens ist nach Schmucker Bildung. Er denkt nicht in Standes- oder Organismuskategorien, die dem Einzelnen seinen Platz in einer Gemeinschaft von Geburt an zuweisen, sondern geht davon aus, daß es die Aufgabe eines jeden ist, sich seinen Platz im staatlich-bürgerlichen wie im religiös-kirchlichen Leben zu erarbeiten. Mit seinem freien Willen entscheidet er sich beispielsweise für die Übernahme bestimmter Praktiken menschlicher Vorbilder: „Daß uns das Exempel gottseliger Männer zur Belehrung dienen soll, lehrt uns ausdrücklich das göttliche Wort. Das Vorbild Christi bleibt uns zwar immer das höchste, das allein vollkommene Muster. Aber unsere Lage ist in mancher Hinsicht von der des Gottmenschen Jesu so verschieden, daß der Muth oft zu sinken pflegt und wir das Ziel als unerreichbar fahren laßen. Betrachten wir hingegen das Leben eines frommen Dieners Jesu, in deßen Charakter wir Schwachheiten, in deßen Wandel wir Fehltritte erblicken, aber der dennoch in der Heiligung große Fortschritte gemacht, und in der Ausbreitung des Reiches Gottes viel ausgerichtet hat;

197 Ebd. Diese Darlegungen werden mit Hinweis auf Jes 2,4 und Jak 4,1 untermauert. Dazu kommen Verweise auf zahlreiche andere Bibelstellen (Am 1,11; 13,10; Prov 16,7; Mt 5,38; Eph4 32). Ders., Christian Pulpit, 22. 199 Ebd. 200 Ders., Definite Platform, 14. 201 BSLK, 70,1. Vgl. a. ebd.: „De libera arbitrio docent, quod humana voluntas habeat aliquam libertatem ad efficiendam civilem iustitiam et deligendas res rationi subiectas."

3.2 Freiwilligkeit und freier Wille

161

so ruft uns das Gewißen laut zu: so könntest auch du, Ο Mensch! für den Himmel reifen; so solltest auch du an dem ewigen Wohl deiner Mitmenschen arbeiten."202 Mit diesen Worten wird Johann Friedrich OBERLIN gewürdigt, bei dem in nach Schmuckers Meinung vorbildlicher Weise Selbst- und Weltverbesserung Hand in Hand gingen. Schmucker ist vorgeworfen worden, daß er weniger eine lutherische als eine amerikanisch-calvinistische Anthropologie und Ethik vertrete. Diese zeichne sich durch unendlichen Optimismus aus. Überdies lehre er semipelagianisch, weil er den Menschen für fähig halte, sich für das Gute zu entscheiden. Zum Beleg wird darauf hingewiesen, daß er die lutherische Lehre von der Erbsünde verworfen habe. 203 Diese Ansicht wurde schon von einem Zeitgenossen Schmuckers vertreten: Der in der Schweiz geborene, in Deutschland ausgebildete reformierte Theologe Philip SCHAFF hat Schmucker als Leugner der Erbsünde öffentlich gebrandmarkt. 204 Zwar veranlaßte der Lutheraner seinen Kritiker zu einer Richtigstellung, in der jener Schmuckers Ansichten nun dahingehend zusammenfaßte, daß er nicht die „entire doctrine of natural depravity" negiere, sondern nur „the old Lutheran, or symbolic Lutheran view of original sin and guilt, or more particularly of the imputation of Adam's guilt to all his posterity, as taught in the Lutheran Confessions" verwerfe; 205 diese Richtigstellung ist aber niemals gedruckt worden. Schmucker hat die Verderbtheit des Menschen im Naturzustand („natural depravity") „as a hereditary ,disorder of our bodily and mental constitution'" verstanden und sich damit in Übereinstimmung mit dem Augsburger Bekenntnis und der Konkordienformel gewußt. 206 Disorder

202

Ders., Vorwort zu: Sarah Atkins (anonym veröffentlicht): Leben und Wirken des Johann203 Friedrich Oberlin, 1831, III. Zu Person und Werk Oberlins vgl. ZwiNK. Zuletzt WENZKE, 22. Vgl. zur Auseinandersetzung mit deren Thesen Abschnitt 3.3. 204 SCHAFF, 228. WENTZ, Schaff, 597, behauptet, daß der eine Generation jüngere Schaff trotz seiner in manchen Punkten gegensätzlichen Ansichten Schmucker freundschaftlich verbunden gewesen sei. Das ist ausgesprochen unwahrscheinlich, wenn man die Äußerungen Schaffs über den American Lutheranism (zu Schaffs Einteilung des amerikanischen Luthertums in drei Richtungen vgl. oben Einleitung Anm.20) berücksichtigt; 1854 heißt es über diesen, unter Nennung von Schmuckers Namen: „Theological training and thorough education ist not found among them, but instead mostly superficial American routine sophistication, gift of eloquence, knowledge of parliamentary order, and businessmanship." Zit. nach LUTHERANS, 211.

205

So geht es aus einer „correction" hervor, die Schaff nach einem Gespräch mit Schmucker verfaßte und diesem zusandte. WENTZ, Schaff, 579. SCHMUCKER, Elements, 303. 206 Ders., Rev. Brown, 5. Schmucker hat in einem auf den 11. Februar 1858 datierten vierseitigen Manuskript, „On the Fall and Depravity of Man," das in den „Course of Instruction in Didactic Theology" inseriert werden sollte, seine Vorstellungen zu der Frage „Is natural Depravity seated primarily in the body?" zusammengefaßt (AGTS 3420. 2002). Vgl. BSLK, 52f, 70f; 848f.

162

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

verstehen nach Schmucker auch Franz Volkmar R E I N H A R D , 2 0 7 B A U M G A R T E N , 2 0 8 und Julius M Ü L L E R 2 0 9 als disease. Diese natürliche Schwäche wird erst mit dem Tod überwunden; wenn die Seele in den Himmel kommt, wird sie „perfectly liberated from all remaining depravity."210 Die Erbsünde als Schwäche der menschlichen Realisationsmöglichkeit des Guten aufzufassen, erlaubt es, die Verwirklichung hoher sittlicher Ideale anzustreben. In seiner United Protestant Confession formuliert Schmucker, daß der menschliche Wille „is either forced, nor by any absolute necessity of nature determined to do good or evil,"211 aber zum Guten der Kraft des Heiligen Geistes durch das Wort Gottes bedürfe. Schmuckers Position macht ihn nicht zu einem enfant terrible des Luthertums. Schon L U T H E R unterschied zwischen dem Menschen, der das Rechte tut, und dem gerechtfertigten Sünder. Zudem kann der Amerikaner tatsächlich auch Äußerungen aus den lutherischen Bekenntnisschriften und der lutherischen Tradition beibringen, die seine Position absichern. Deshalb greift der Vorwurf zu kurz, Schmucker lehre calvinistisch, nicht aber lutherisch. Schmucker vertritt ein Luthertum, das die menschliche Fähigkeit herausstreicht, innerhalb der ihm von Gott gezogenen Grenzen mit Hilfe seiner Vernunft das Gute - im Sinne des dem Nächsten Nützlichen - zu realisieren. Als Kronzeugen seiner Auffassung führt er nicht nur rationalistische und supranaturalistische Theologen, sondern auch den neokonfessionellen Julius M Ü L L E R an. Sogar L U T H E R selbst kann auf diese Weise interpretiert werden als ein Theologe, welcher der Vernunft für die Ordnung der weltlichen Dinge eine herausragende Bedeutung einräumt.212 Seinem pietistisch-aufgeklärten Menschenbild entsprechend, eliminiert Schmucker wie R O T H E jedes Moment magischen Denkens aus Luthers Theologie: Wie es keine gratia infusa gibt, die dem Sünder unverlierbar zu eigen bleibt, so bedarf es bei der Taufe auch keines Exorzismus. Es geht beiden Theologen um den 207 Welche Schriften Reinhards außer dessen Vorlesungen über die Dogmatik in einer unbekannten Aufl. (die 1. erschien 1801, die 5. 1824) Schmucker kannte, ist nicht deutlich. In ders. u.a., Aus Amerika, 264, nennt er Reinhard als Kritiker der Idee der Höllenstrafe. Zu Person und Werk vgl. SffiBERT. 208 Schmucker las neben den in Anm.149 genannten ethischen Schriften Baumgartens die 1822 erworbenen Theologischen Streitigkeiten, in der Ausg. von Semler, Halle: Johann Justinus Gebauer, 1764 (ARWML 202 SS und 203 SS), die zweibändige 1828, von seinem Vater erhaltene Glaubenslehre, in der Ausg. von Semler, Halle: Johann Justinus Gebauer, 1759f (ARWML 206 SS, 207 SS und 210 SS, hier S.565 der Beleg) und die 1826 erworbenen Altertümer Halle 1768 (ARWML 234 SS). Das tatsächlich von Schmucker gelesene Werk konnte in seiner Bibliothek nicht gefunden werden. Es dürfte sich um Julius Müller, Die christliche Lehre von der Sünde, 3.Aufl., Bd.l, 1849, 177, gehandelt haben, da dies Werk in SCHMUCKER, Rev. Brown, 10, angeführt wird. Zu Person und Werk vgl. GRAF, Müller, bes. 282. 210

211

SCHMUCKER, Rev. Brown,

12.

Ders., Church Redeemer, 258f (United Protestant Confession, Art. IV. Of Human Depravity). Vgl. die Überlegungen im Schlußkapitel Abschnitt 7.

3.3 Abolition

163

willentlich und mit Überlegung vollzogenen Wandel der Einstellungen und Handlungen. 213

3.3

Abolition

Im Unterschied zu anderen Fragen der Schmuckerschen Ethik ist seine Kritik der Sklaverei in jüngster Zeit mehrfach thematisiert worden. Das Interesse an gerade dieser Frage ergibt sich aus der Bedeutung des Sklavereiproblems für die amerikanische Geschichte und Kirchengeschichte. 214 Der Biograph Schmuckers, Abdel Ross WENTZ, hat ihn als einen gemäßigten Abolitionisten gezeichnet.215 Paul E. KUENNING hat Schmucker vorgeworfen, die Sklaverei nicht als sin gebrandmarkt zu haben. 216 Annabelle WENZKE behauptete dann in ihrer geharnischten Rezension der Dissertation KUENNINGS, daß Schmucker zwar Abolitionist war, aber nicht aus theologischen Gründen, sondern weil er zu den Yanfee-Theologen gehörte. Ob jemand zum Gegner der Sklaverei wurde, entschied sich ihrer Meinung nach weniger entsprechend theologischer Überzeugungen als nach familiären, lokalen oder geographischen Loyalitäten. 217 In den Heimatstaaten Schmuckers war die Rechtslage allerdings unterschiedlich, so daß das Argument von WENZKE nicht trifft: Während in Maryland und Virginia die Freilassung von Sklaven verboten war, war diese in Pennsylvania für über 28 Jahre alte Männer und Frauen möglich. Weil Schmucker in Maryland geboren war und in Virginia fünf Jahre lang ein Pfarramt innehatte, überdies dort in eine Familie einheiratete, die Sklaven hielt und selbst zum Sklavenhalter wurde, kannte er die Auswirkungen der Sklaverei aus eigener Anschauung. Seine familiären und geograpischen Bindungen hätten ihn also nach WENZKE zu einem Gegner der Abolitionisten machen müssen; das war er jedoch nicht - im Gegen-

213 Ebd., 7. Damit will Schmucker allerdings nicht negiert haben, daß Kindern göttliche Gnade zuteil wird. Ebd., 8. 214 Vgl. zur Geschichte des Sklavenproblems die informativen Zusammenfassungen von DARMSTÄDTER, 1 4 0 - 1 5 8 ; VEREINIGTE STAATEN, 7 1 - 1 2 4 . V g l . z u L u t h e r a n e r v o r d e m P r o -

blem der Sklaverei LUTHERANS, 141-144; HEATHCOTE, 9; WENTZ, Basic History, SMITH u. a., American Christianity, 168. WEATHERFORD, 138-169.

157-174;

215 WENTZ, Pioneer, 316-331. Vgl. a. STANGE, Slavery; ders., Schmucker, 78b-83b, ediert dessen Lecture on Slavery, Delivered to the Senior Class of the Gettysburg Seminary aus dem Jahr 1845 (AGTS 3420.2005). 216

") 1 7KUENNING, Rise. WENZKE, 22. Vgl. dazu den Widerspruch von WENTZ, Social Policy. Schon NOLL, 176-180, hat beschrieben, wie Lutheran Evangelicals sich von American Evangelicals unterscheiden; die Rezeption seiner Überlegungen hätte WENZKE vor ihrem Irrweg bewahren können.

164

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

teil: er galt als Befürworter der Sklavenbefreiung.218 Seine persönliche Einbindung in das System der Sklaverei unterscheidet ihn ebenso wie seine theologische Prägung von den führenden Abolitionisten und erklärt, warum seine Ansichten weder denen der südstaatlichen Theologen noch denen der Colonization Society oder denen der American Anti-Slavery Society entsprachen. Im Unterschied zu den bisherigen Untersuchungen der Schmuckerschen Position in Bezug auf die Sklaverei wird im folgenden die Rechtslage in den einzelnen amerikanischen Bundesstaaten einbezogen und neues Quellenmaterial geboten. Daraus erhellt, daß Schmuckers Behauptung, es gebe Menschen, die - wie er selbst - , gegen ihren Willen zu Sklavenhaltern werden, mit den gesetzlichen Möglichkeiten der manumission, der Sklavenfreilassung, in den Einzelstaaten zusammenhängt. Die Diskussion um Schmuckers Abolitionismus kreist letztlich um seine Rechtfertigung der unwillentlichen (involuntary) Sklavenhaltung. KUENNING wirft Schmucker vor, diese Formulierung verrate seine grundsätzliche Fehleinschätzung der Radikalität der Sünde der Sklaverei, während WENZKE ihm unlutherische Lehre in der Frage von freiem Willen und Erbsünde vorhält. Schmukker bildet diese Ansicht aufgrund eigener Erfahrung aus: Als er sich 1825 in zweiter Ehe mit Mary Catherine STEENBERGEN verehelichte, brachte diese mehrere Sklaven in die Ehe mit.219 Der Umzug nach Gettysburg in Pennsylvania, ein damals 1100 Einwohner zählendes Städtchen, in dem Schmucker lutherische Pastoren ausbilden sollte, brachte insofern Veränderungen für den jungen Haushalt, als hier der Besitz von arbeitsfähigen älteren Sklaven unüblich, der Besitz von unter 28 Jahre alten Sklaven dagegen erlaubt war.220 Um seiner Frau die gewohnte südstaatenspezifische Lebensweise zu erhalten, schlägt Schmucker ihr vor, im Haus der Schwiegermutter ausgebildete jugendliche Sklaven mitzubringen und dann später freizulassen, was bei entsprechender Gestaltung der Kaufverträge rechtens war.221 Sofern Schmucker Sklavenhaltung zu diesem Zeitpunkt 218 Vgl. neben der folgenden Darstellung auch die Beschreibung seiner Position auf der Konferenz der Evangelischen Allianz in London, zit. oben in Anm.3. 219 Die erste Frau war nach dem ersten Kindbett gestorben. Zur Familie Steenbergen vgl. WENTZ, Pioneer, 333. 220 Im Jahre 1790 hatten in ganz Pennsylvania noch 3737 Menschen in Sklaverei gelebt; während Schmuckers Wirksamkeit in Gettysburg dürften es schon deutlich weniger gewesen sein. GLATFELDER, Pastors, 46, ist der Meinung, daß die Deutschen in Pennsylvania am Problem der Sklaverei wenig interessiert waren. Schmucker unterscheidet sich also von seinen Mitbürgern, was nicht nur mit seiner familiären Herkunft und seinem weiteren Horizont, sondern sicher auch mit seiner Lehrtätigkeit zu tun hatte, die ihn in Kontakt zu vielen Studenten aus den Südstaaten brachte. 221 AGTS 3100.0001: Schmucker an seine Frau am 12. und 14. September 1826: „The only thing requisite would be, that you make some exchange of servants by which you get one of about 16 years of age, who could, this spring & summer, be trained for a cook by our good Mother, & another of the same age or a little less, for other work. You would then be situated with regard to servants precisely as in V[irgini]a for 12 or 13 years. Should we still be in the

3.3 Abolition

165

irgend ethisch bedenklich erschien, konnte er sich zu Gute halten, einen in Virginia lebenslänglich der Sklaverei ausgesetzten Menschen nach ein paar Ausbildungs- und Dienstjahren in die Freiheit zu entlassen. Er nennt Sklaven im Unterschied zur verbreiteten Terminologie „servants." Offenbar will er damit zum Ausdruck bringen, daß sie nicht Besitztum wie Dinge sind, obwohl das Recht sie als solche behandelt. Später erbte Schmucker Sklaven von seiner Schwiegermutter, von denen einer nicht freigelassen werden wollte. 222 Als Theologe und Kirchenpolitiker hatte Schmucker sich in drei Zusammenhängen zur Frage der Sklaverei zu äußern, die mit den Namen dreier voluntary societies bezeichnet werden können: Colonization Society, American Anti-Slavery Society und Evangelical Alliance. Schmucker stellt sich mit seinen Äußerungen öffentlich nicht nur gegen die Colonization Society, sondern auch gegen die American Anti-Slavery Society, eine der bedeutendsten Gesellschaften des Evangelical Empire, die im Jahr 1838 mehr als 100.000 Mitglieder zählte, und er geriet wegen der amerikanischen Sklaverei in offenen Dissens mit weiten Kreisen der Evangelischen Allianz. Im Jahre 1824 warb Schmucker auf dem Treffen der lutherischen Synode von Maryland and Virginia für die Pläne der American Colonization Society,223 Aus seinem Synodalantrag ist nicht zu entnehmen, ob er zu diesem Zeitpunkt

land of the living at that time, we would let these go free, & again procure several again by a similar arrangement for 12 years or 6." 222 Aus dem Zeugnis seines jüngsten Sohnes Samuel D. Schmucker (zit. bei ANSTADT, 292f) erhellt, daß der Vater zwei alte Sklaven, die er von seiner Schwiegermutter übernommen hatte, auch nach deren Freilassung bis zu ihrem Lebensende finanziell unterstützte. So auch WENTZ, Pioneer, 317. SCHMUCKER, Lecture, 81b, weist auf sein eigenes Verhalten als Beispiel hin und spricht von einem dritten Sklaven, der nicht freigelassen werden wollte: „This [die Freilassung, ADD] the writer did in two of the three cases, in which slaves were under his control, and offered it to the third who refused and preferred to remain in slavery." 223 Die Gesellschaft war im Jahre 1816 gegründet worden, um den Rücktransport ehemaliger Sklaven nach Afrika und deren Ansiedelung in dem späteren Liberia zu finanzieren. Dort sollte ein christlicher und demokratischer Musterstaat nach amerikanischem Vorbild errichtet und von diesem aus die Mission des schwarzen Kontinents vorangetrieben werden. Zwischen 1820 und 1830 gelang die Rückführung von etwas über 1000 Sklaven; eine recht geringe Zahl im Vergleich zur Zahl der Sklaven. Noch aus dem Jahre 1854 ist ein Anschreiben der Colonization Society an Schmucker erhalten, in dem er gebeten wird, für den Transport und die Ansiedelung der 48 Sklaven eines Pfarrers namens Herndon sowie einiger mit diesen verbundener Personen, insgesamt 71 Schwarze, zehn Dollar zu spenden. AGTS 3254.0811: W. McLain an Schmucker am 11. August 1854. Aus dem Schreiben geht hervor, daß die Gesellschaft für Transport und Unterhalt eines jeden Schwarzen 60 Dollar rechnete. Die Gesamtsumme von 4260 Dollar soll durch Spenden von je 10 Dollar seitens 426 friends der Colonization Society erbracht werden. Ob Schmucker dieser Aufforderung Folge leistete, ist aus den Unterlagen nicht zu entnehmen. Vgl. a. STANGE, Lutheran Involvement. Bisher ist nur von einem lutherischen Prediger bekannt, daß er in die Colonization Society eingetreten war. Ders., Slavery, 5.

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ein Befürworter oder Gegner der Sklaverei war,224 denn die Gesellschaft zum Zwecke der Expatriierung von Schwarzen konnte von beiden Gruppen unterstützt werden. Die Befürworter der Sklaverei wollten so das Land von den freigelassenen Schwarzen säubern; ihre Gegner sahen im Wirken dieser Gesellschaft die Möglichkeit, den Süden für die Mitarbeit an der Sklavenbefreiung zu gewinnen. Im Jahre 1834 bringt Schmucker in seinem Lehrbuch Elements of Popular Theology erstmals Einwände gegen die Colonization Society vor, hält sie aber für solange unterstützenswert,225 wie die Sklavenbefreiung noch nicht verwirklicht ist: Ein Teil der Schwarzen wird nicht nach Afrika wollen, und diese zwangsweise zu expatriieren, wäre unmoralisch.226 Außerdem würde der Gedanke, die Schwarzen sollten nach Afrika zurückkehren müssen, die Forderung nahelegen, ein jeder Amerikaner solle dorthin zurückkehren, woher er kam. Also soll man besser allen Sklaven die Freiheit gewähren und ihnen Arbeitslohn bezahlen, denn die Erfahrung aus den Nordstaaten lehre, daß „the expense of free labour is less than that of feeding and clothing the slave, together with the interest of the capital invested in them, and risk of loss by their disease or death."227 Diese strikt ökonomische Argumentation ist von Schmucker völlig ernst gemeint; sie war unter Abolitionisten weit verbreitet.228 In einem Leserbrief vom 6. Juni 1838 an den Colonization Herald229 äußert Schmucker weitere Einwände gegen die Colonization Society. Weil diese Gesellschaft den Prozeß der Emanzipation an den nur langsam voranschreitenden der Kolonisation binde, verhindere sie die Verwirklichung von Gerechtigkeit, 224

Daß Schmucker schon im Jahr 1824 ein Gegner der Sklaverei war, könnte sich durch seine Ausbildung in Princeton nahelegen. Die dortigen Lehrer waren von der schottischen Common .seme-Philosophie geprägt und also von der Gleichheit aller Menschen überzeugt; zudem war man in Princeton gegen den Missouri-Kompromiß von 1820, der das Gebiet ausweitete, in dem Sklavenhaltung erlaubt war. ANSTADT, 320. SCHMUCKER, Elements, 335. 226 Ebd. formuliert er als Vorstellung, daß die freigelassenen Schwarzen, wenn sie Selbstachtung und vorsorgendes Handeln gelernt haben, sich irgendwann irgendwo in Südamerika sammeln werden, wo keine Rassentrennung und Vorurteile gegen Schwarze existieren, unter denen die Sklaven in Nordamerika auch nach der Freilassung noch lange zu leiden haben werden. Ebd., 335. 227 Ebd. 228 Zum ökonomischen Argument, das zwischen dem armen Lohnarbeiter, der Selbständigkeit und private Daseinsvorsorge gelernt hat, und dem kindlichen Sklaven unterscheidet, vgl. GLICKSTEIN. Daß der Norden im Industrialisierungs- und Urbanisationsgrad fortgeschrittener als der Süden war, heißt nach DAVIS, Reflections, 803, nicht, daß die Sklavenwirtschaft ein weniger prosperierendes ökonomisches System gewesen sei. 229 SCHMUCKER, Letters, widerspricht der Angabe in einer früheren Ausg. dieser Zeitung, daß er einer der Vizepräsidenten der Pennsylvania Colonization Society sei. Er ist entrüstet darüber, daß ihm hier eine Position in der Frage der Sklaverei zugeschrieben wird, die er ablehnt. Er habe sich schon lange öffentlich von dieser Gesellschaft distanziert. Damit dürfte er seine Ausführungen in den Elements meinen.

3.3 Abolition

167

die herzustellen eine unaufschiebbare Pflicht sei. 230 Dieses philosophische Argument wird ergänzt von einem theologischen: Sklaverei ist nicht nur ein Übel (ιevil) für die Staaten, in denen sie noch existiert, sondern „injustice and criminality in the sight of God." 231 Die Einrichtung der Sklaverei ist jedoch keine Sünde, weil Institutionen nicht sündigen können; aber der Sklavenhalter ist ein „sinner," wenn er, aus Gottes Wort belehrt über die unveräußerlichen Menschenrechte der Schwarzen, Sklaven hält, obwohl sein Staat deren Freilassung erlauben würde. Was eine Sünde ist, bestimmt sich allein aus Gottes Wort. Viele Übel sind keine Sünde, aber alle Sünden sind auch Übel. 232 Und politische und gesellschaftliche Übel müssen abgestellt werden. Die Unterscheidung zwischen dem Menschen als sinner und der Institution der Sklaverei als evil ist in den Diskussionen zur abolition von großer Bedeutung. Zum einen ist sie theologisch nach Schmucker zumindest - berechtigt, denn zur Sünde gehört der individuelle Wille; zum anderen erlaubt sie es, Pauschalurteile über Angehörige ganzer Staaten zu vermeiden. Schmucker wirbt zudem mit pädagogischen und sozialen Argumenten für die Freilassung als einfachstem Weg, dem Sklaven Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Sie wird sich günstig auf den religiösen und intellektuellen Charakter des früheren Sklaven auswirken, so daß die finanziellen Interessen und die häusliche Ruhe des master und seiner Familie viel besser geschützt sind als durch polizeiliche Kontrolle; zudem würde die Verschiffung der gesamten schwarzen Bevölkerung nach Afrika die Wirtschaft lahmlegen und die Lebensverhältnisse insgesamt beeinträchtigen. 233 Ein Blick auf einen anderen Leserbrief, der zusammen mit demjenigen von Schmucker abgedruckt wurde, beleuchtet schärfer, worin dessen Position sich von der anderer Christen unterscheidet. Ein gewisser Gerrit SMITH spricht von „the sinfulness of slavery," 234 die er darin begründet sieht, daß den Sklaven christliche Eheführung und Bibellektüre verboten ist. 235

230

Ders., Letters, lb. Ebd. und ders., Lecture, 82a. 232 Ebd., 82b. 233 Ders., Elements, 335. 234 Ders., Letters, 2b. 235 Ebd., 3b: „It is, in other words because it opposes the immediate and unconditional deliverance of the enslaved millions of our countrymen from the yoke of slavery, and rejects the doctrine, that slavery is sin - and denies that a system, which forbids marriage and the reading of the bible, and which classes immortal, godlike man with chattels, is contrary to the bible." Auch in der lutherischen Kirche konnten am Anfang des 19. Jh. getaufte Sklaven keine vollwertigen Gemeindeglieder sein, weil die Rechte der master durch kirchliche Akte nicht beeinträchtigt wurden: Das Gebot ehelicher Treue für christlich verheiratete Sklaven galt nur so lange, wie diese nicht durch ihre Herren voneinander getrennt wurden durch Verkauf oder Ansiedlung an weit entfernten Orten. 231

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Der Unterschied der Argumente macht schlaglichtartig deutlich, daß Schmucker in der Frage der abolition weniger vom Christentum her als politisch und ökonomisch denkt. Entsprechend hat er von der ersten Auflage der Elements of Popular Theology an die Sklaverei einen „reproach to our political system, and a violation of the rights of,equal' men" genannt.236 Er will in diesem populären theologischen Lehrbuch besonders denjenigen Südstaatlern ethische Hilfestellung bieten, die persönlich die Sklavenemanzipation befürworten, sich allerdings nicht entscheiden können, wie sie am besten zu bewerkstelligen ist. Schmucker gibt mit Hinweis auf seine persönlichen Erfahrungen zu, daß die Sklavenemanzipation schwierig sein wird, hält sie aber für durchführbar, weil das, was sein soll, auch gemacht werden können muß, - das ist ganz kantisch gedacht. „Himself a native of a slave State, and for many years resident among slaves, the writer is convinced that this great work has difficulties more formidable than some Christians in non-slaveholding States suppose. But it is feasible."237 Religion und Vernunft lehren beide, daß es immer möglich ist, das Rechte zu tun.238 Auch wenn der Pfad der Pflicht und des Rechts manchmal mit Schwierigkeiten verbunden ist, dann sind diese doch niemals unüberwindbar, wie das Vorbild Großbritannien zeigt, dessen Parlament 1833 die westindischen Sklaven in Arbeiter überführt hat.239 Diesem Gedanken entsprechend ändert Schmucker die Überschrift des Abschnitts zur Sklaverei in seinem theologischen Lehrbuch: Nachdem er in der ersten Auflage der Elements of Popular Theology die „graduelle" abolition gefordert hatte,240 fordert er in der zweiten Auflage noch in demselben Jahr, bevor die Anti-Slavery Society mit ihrer Forderung nach „immediate abolition" hervortrat, „entire abolition".241 Am Textbestand dieses Abschnitts ist keine Änderung vorgenommen worden. Hinter dem Unterschied der Begriffe „entire" und „immediate" verbirgt sich auch ein Unterschied in der Sache. David Brion D A V I S hat beschrieben, daß die Forderung nach sofortiger Sklavenfreilassung bei den Abolitionisten nicht nur eine Änderung der Taktik zwecks Erlangung größerer öffentlicher Aufmerksamkeit, sondern auch und vor

236

Ders., Elements, 332. Ebd., 333. 238 Ebd. 239 Ebd.: „Although the path of duty and right is sometimes connected with difficulties, as in the case under consideration, they are never insuperable. [...] Reason and justice demand the effort." Vgl. a. ders., Lecture, 83b. 240 Ders., Elements, 278: „Duty of gradual-total abolition of all slavery" war der Abschnitt überschrieben. Graduelle Abolition, Rückführung der Sklaven nach Afrika und Entschädigung der Sklavenhalter forderten vor allem die aus dem Süden selbst kommenden Reformvorschläge. GUGGISBERG, 103f. 241 SCHMUCKER, Elements, 335: „Duty of the entire abolition of all slavery." 237

3.3 Abolition

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allem eine Veränderung des Verhältnisses des Individuums zur Sklaverei bedeutet: In Bezug auf die Sünde darf niemand einen Kompromiß eingehen. Der Abolitionist ist ein innerlich freier Mensch, der sich nicht mehr um das Wohl der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Institutionen zu kümmern braucht. Sein Interesse besteht allein darin, persönlich frei von Sünde zu sein. Indem er sich zum Abolitionismus bekehrt, erfahrt er sich als Christ. Dadurch wird die Unterstützung der Bewegung zur sofortigen Abschaffung der Sklaverei zur Alternative zu traditioneller Religion und ihrer Heiligungskonzepte. Abolition wird zum Testfall des wahren Glaubens. 242 Nach Schmucker verdient sich jedoch niemand das Heil, indem er sich für die sofortige Sklavenfreilassung einsetzt, sondern er handelt als politischer Mensch, der ein gesellschaftliches Übel abstellt. Mit diesen Überlegungen steht Schmucker im Gegensatz zur American AntiSlavery Society,243 Ein Blick in eine Predigt Charles Grandison FINNEYS belegt, wie stark Schmucker sich in Forderungen und Stil von diesem Erweckungsprediger unterscheidet: „The churches must take right ground on the subject of slavery. And here the Question arises, what is right ground? And first, I will state some things that should be avoided. 1. [,..T]he subject of slavery is a subject upon which Christians, praying men, need not and must not differ. 2. Another thing to be avoided is an attempt to take neutral ground on this subject. [...] It is a great national sin. It is a sin of the church. [...] It is in vain for the churches to pretend it is merely a political sin. I repeat it, it is the sin of the church. [...] While she [die Kirche, ADD] tolerates slave-holders in her communion she justifies the practice!"244 FINNEY beschwört seine Zuhörer, eine einheitliche Stellung zur Sklaverei einzunehmen; er bedroht jeden, der meint, hier handele es sich um ein politisches Problem^ mit dem Vorwurf der Unchristlichkeit und fordert die Abspaltung von der sündigen Kirche, die Abendmahlsgemeinschaft mit Sklavenhaltern zuläßt. Schmucker argumentiert dagegen vernunftrechtlich. Er spricht sich für Ausbildungsprogramme für Schwarze aus und unterstützt den Vorschlag, Sklavenhaltern eine staatliche Kompensation auszusetzen. In einer weiteren Hinsicht 242

Zur Geschichte des Gebrauchs von „gradual" und „immediate abolition" vgl. DAVIS, Emergence, 246f, 252 Anm.67. Bezeichnenderweise läßt sich für viele Abolitionisten eine große religiöse Ängstlichkeit feststellen, wogegen ihnen die traditionellen Heilmittel der Kirchen nicht halfen. SCOTT, Office, 76-111, beschreibt unter Hinweis auf Temperanz und abolition wie das Sündenverständnis und Weltverhältnis der Evangelikaien sich änderte. Vgl. a. ders., Abolition. Ein ähnlicher Prozeß der Radikalisierung läßt sich nach CLARK auch in der Mentalität der Trinker und der Abstinenzler aufweisen. 243 DARMSTÄDTER; VEREINIGTE STAATEN, 71-124; SMITH U. a., American Christianity, 167-212, mit Quellenausz. Vgl. zur Forschungsgeschichte und Forschungslage KOLCHIN; DRESCHER. 244 Auszug aus Finneys Lectures on Revivals of Religion aus dem Jahr 1835 in: ROLE, 110-118, hier zit. 111. Zu Person und Werk vgl. HARDMAN; STARR.

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unterscheidet er sich von den führenden Abolitionisten: Er spricht sich explizit gegen die Kriminalisierung der Südstaatler aus und betont: ,,[T]he present generation find themselves innocently involved by the guilt of their ancestors."245 Die Behauptung, daß es Unschuld im Stand des Sklavenhalters geben kann, kam für F L N N E Y und seine Anhänger einem Sakrileg gleich. Schmucker argumentiert dagegen mit dem vorfmdlichen Rechtszustand, für dessen Aufrichtung die gegenwärtigen Sklavenhalter nicht verantwortlich gemacht werden können, weil sie die Einrichtung der Sklaverei und die Sklaven geerbt haben. Die Sünde der Väter fallt aber nur dann auf deren Kinder, wenn diese sich nicht für die Abschaffung des bestehenden Systems einsetzen.246 An der Anti-Slavery Society kritisiert Schmucker weiterhin deren agitatorischen und denunziatorischen Stil.247 Da das gegenwärtige Geschlecht von Sklavenhaltern mit dieser Einrichtung geboren und aufgewachsen ist, muß es erst einmal freundlich unterwiesen werden. Die Sklavenhalter der Südstaaten als „robbers and manstealers"248 zu brandmarken, wie dies führende Abolitionisten der Anti-Slavery Society taten, sei unchristlich, verfehle aber auch allein deshalb seinen Zweck, weil die Sklavenhalter sich unschuldig angegriffen fühlten, die Seriosität ihrer Gegner bezweifelten und für deren Argumente taub würden. Zudem kritisiert Schmucker den Gestus moralischer Entrüstung vieler Nordstaatler. Bevor sie andere verdammen, haben sie erst einmal ihre eigene Schuld bei der Errichtung des Systems der Sklavenhaltung zu bekennen.249 Dieser Lutheraner blieb immer davon überzeugt, die Sklavenbefreiung gelinge in den Südstaaten „by the peaceful and voluntary action of the slave States themselves."250 Auch wenn der Christ sich keiner der beiden Weltverbesserungsgesellschaften anschließen kann, muß er doch für die einmal erkannten Ziele wirken. Deshalb wandte sich der Einzelkämpfer Schmucker im Jahre 1839 persönlich an den in Harrisburg tagenden Kongreß mit einem Memorial Relative to Binding Out Minor Colored Children.251 Es sollte dazu dienen, die handwerkliche oder landwirtschaftliche Ausbildung schwarzer Kinder und Jugendlicher zu fördern,

245

246

SCHMUCKER, Elements,

336.

Ebd. 247 Ders., Letters, lb. 248 Ebd., 2a. 249 Ebd. Die Schuld für die Sklaverei liegt auf den Häuptern deijenigen, die den „poor Africans" die Ketten angelegt haben; sie trifft die Vorfahren der Nordstaatler ebenso wie die der Südstaatler. Schließlich sind die Sklaven auf den Segelschiffen des Nordens transportiert worden. 250 Ders., Christian Pulpit, 30. 251 Er ging selbst nach Harrisburg „and laid before the Legislature of the State, a petition for the passage of a law for the melioration of the colored people." So Diehl, Quaterly Review, zit. nach ANSTADT, 294. Wegen der gag-rules (vgl. oben Aran. 79) hatte die Eingabe keinen Erfolg.. STANGE, Slavery, 14, schreibt falschlich, daß zu jener Zeit niemand am Sklavenproblem interessiert war und Schmuckers Vorschläge zu radikal für seine Zeit waren.

3.3 Abolition

171

damit diese auf eigenen Füßen stehen können und ein Leben als ordentliche Bürger in einem freien Land vor sich haben. Schmucker wünschte sich die Schwarzen vor allem als Farmer, damit die Slums der Städte entvölkert würden. 252 Er nennt die Schwarzen „fellow beings" oder „oppressed portions of our race" 253 und fordert fur sie - wie im übrigen auch für die Indianer - dieselben Menschenrechte, die für Weiße gelten. 254 Damit folgt seine Argumentation aufgeklärten Mustern. Er nimmt eine „universal brotherhood of men" an, zu der jedes mit Vernunft ausgestattete Individuum von seiner Geburt an gehört. 255 Die vierziger und fünfziger Jahre brachten eine gewisse Verschärfung der Diskussionen unter den Lutheranern 256 und für Schmucker die Möglichkeit, seine Ansichten in der Ausbildung eines Schwarzen zu bewähren. 257 Da die Generalsynode es vermied, in der Frage der abolition Stellung zu beziehen - auf diese Weise gelang es, die Spaltung der lutherischen Kirche in eine nördliche und eine südliche aufzuschieben wurde sie im Jahre 1851 von der Pittsburg Synod beschuldigt, die Sklaverei gutzuheißen. 258 252

SCHMUCKER, Memorial, 4-5 (AGTS 3750.0001). Ders., Lecture, 81a. 254 Ders., Elements, 336: „Let the American patriot recollect the language of his fathers, ,that all men are created equal', and have unalienable rights, among which is ,liberty'." In Schmuckers Schrifttum finden sich immerhin in einer Ansprache kritische Äußerungen zur Indianerpolitik: Christian Pulpit, 19, 25. 255 Daß dies unter Lutheranern nicht selbstverständlich war, zeigt der Blick auf seinen rassenbiologisch argumentierenden Amtsbruder in den Südstaaten, Johann Bachmann in Charleston, der 1850 die Minderwertigkeit der schwarzen Rasse gegenüber der weißen zu erweisen sucht. STANGE, Slavery, 1. Bachmann hat sich aber gleichwohl als Lehrer und Pfarrer für Schwarze stark eingesetzt. 256 1836 stellte die Synode von Süd-Carolina fest, daß lutherische Pfarrer aus den Nordstaaten die Kollegen in den Südstaaten wegen deren Rechtfertigung des Sklavenhaltersystems angriffen. Im Jahre 1837 trennten sich vier Pastoren von der Hartwick Synod und nannten sich selbst Franckean Synod nach dem Begründer des Hallischen Waisenhauses. Im Jahre 1842 sandten sie einen Fraternal Appeal on Slavery an alle lutherischen Synoden, worin sie das Institut der Sklaverei „a sin against God, a violation of the laws of nature, the claims of justice, and the doctrines of divine revelation" nannten. Zit. nach WEATHERFORD, 157, 144. Sie forderten alle lutherischen Synoden zu eindeutiger Stellungnahme auf. Es stellte sich heraus, daß die Franckeaner die einzigen mit einer eindeutigen Meinung waren. Vgl. zur ethischen Position der Franckean Synod SERNETT, 21f; KUENNING, Rise. 253

257

Schmucker unterrichtete von 1835 bis 1837 den Schwarzen Daniel Payne aus Charleston, South Carolina, der später Bischof der African Methodist Episcopal Church und Präsident der Wilberforce University wurde. Die Franckean Synod ordinierte ihn im Jahre 1839 auf Vermittlung Schmuckers hin. Vgl. STANGE, Payne·, WENTZ, Pioneer, 325f. Faksimile eines Briefes von Payne an Schmucker in NOON, 63. Payne bescheinigt Schmucker, daß er sich ihm gegenüber im Jahre 1835 als Abolitionist, nicht als Anhänger der Colonization Society zu erkennen gab. Vgl. ebd., 56. Das entspricht auch den Beobachtungen am Text von SCHMUCKER, Elements, 332-336. 258 WEATHERFORD, 162. Daß die amerikanisierten Lutheraner die Kircheneinheit länger als die meisten anderen Kirchen aufrecht erhalten konnten, ist die Folge davon, daß sie infolge

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Teil Β: Samuel Simon Schmucker

Aus dem Jahre 1840 datiert ein vollständig ausgeschriebenes Vorlesungsmanuskript Schmuckers, in dem er das Problem der Sklaverei „in the light of time, philosophy, and revelation" bedenkt.259 Sein Inhalt bestätigt die bisher dargestellten Grundzüge seiner Position. Unzweifelhaft haben Christen die Pflicht, gegen die Sklaverei Zeugnis abzulegen, weil sie gegen die Menschenrechte verstößt, indem sie den Menschen zum Ding degradiert, „into a mere chattel, the person into a mere thing, the immortal being into a mere article of property."260 „Every institution which violates the inalienable rights and obligations of individuals is in its own nature an evil, and all who voluntarily and knowingly establish it, or who find it previously existing, fail sincerely to its desire and faithfully to labour for its extinction, are also guilty of sin."261 In der Vorlesung wird der von südstaatlichen Theologen vertretenen Auffassung widersprochen, die Heilige Schrift rechtfertige die Sklaverei. Die amerikanische Sklaverei ist nach Schmucker mit der im Alten Israel bestehenden nicht zu vergleichen, denn der hebräische Sklave - in die Sklaverei verkauft wurde nur, wer eine Schuld abzuarbeiten hatte - , befand sich nur zeitlich begrenzt in diesem Zustand (Ex 21,2; Dtn 15,12; 13,14; Lev 25,10 u. ö.) und hatte die Möglichkeit, in eine der Fluchtstädte zu fliehen. Wer sich als Sklave in die Sklaverei verkaufen mußte, tat dies unwillentlich („involuntary"), entsprechend dem geltenden Gesetz.262 In der Gegenwart gilt, daß eine bestimmte Gruppe von Menschen in die Sklaverei verkauft wird, obwohl sie keine Schulden abzutragen hat. In diesem Vorlesungsmanuskript wird auch erstmals von „involuntary slaveholding" gesprochen.263 Kein Sünder kann nämlich unter bestimmten Bedingungen auch derjenige sein, der Sklaven hält. Unwillentlich hält Sklaven, wer sie aufgrund der bestehenden Gesetzeslage weder freilassen noch in ein freies Land schicken kann.264 Die Überlegung, daß Menschen, die von dem Übel der Sklaverei überzeugt sind, durch Erbschaft oder Heirat in den Besitz solcher gelangen und sie aufgrund der gesetzlichen Lage nicht freilassen dürfen, ist sicher ihrer relativ größeren Armut im Vergleich zu anderen Gruppen nur recht selten Sklaven besaßen und meist nicht in Sklavenstaaten lebten. 259 Es handelt sich um 15 Thesen, die ursprünglich im Jahre 1840 von der Synode von West Pennsylvania verabschiedet werden sollten, was aber unterbleiben mußte, da Schmucker wegen Krankheit nicht an der Zusammenkunft teilnehmen konnte. 1845 fugte Schmucker drei weitere Thesen an. Er benutzte das Ms. im Unterricht. SCHMUCKER, Lecture, 1967, 78b. Vgl. a. WENTZ, Pioneer, 322. 260 SCHMUCKER, Lecture, 79b. 261 Ebd., 79b. 262 Ebd., 81a. 263 Ebd., 81ab, Nr.l 1-14, bes. 11: „Involuntary slaveholding ist not sinful, so long as it is strictly of this character [...]." 264 Ebd., 81b.

3.3 Abolition

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aus der eigenen Erfahrung geboren, ist aber auch eine folgerichtige Konsequenz der ethischen Theorie. Menschen, die entsprechend den biblischen Grundsätzen, aber unbelehrt über den Punkt, in der Vergangenheit Sklaven gehalten haben, waren Christen und unschuldig. Gegenwärtig ist es jedoch die Pflicht eines jeden, sofort die Verletzung unveräußerlicher Menschenrechte zu beenden und Sklaven, so dies staatlich erlaubt ist, freizulassen beziehungsweise sich für Gesetzesänderungen einzusetzen. 265 Schmucker verwendete die Formulierung „involuntary slaveholding" auch im Jahre 1846 bei der Versammlung der Evangelischen Allianz in London. Dort diskutierten die von ihren Kirchen entsandten Konferenzteilnehmer mehrere Tage lang über die Frage, ob Sklavenhalter beziehungsweise Vertreter von solchen Kirchen, zu deren Gliedern Sklavenhalter gehörten, Mitglied der Vereinigung werden dürfen. 266 Im August war eine in Birmingham verabschiedete Resolution angenommen worden, die den Ausschluß aller Kirchenvertreter vorsah, in deren Kirchen Sklavenhalter Mitglied sein konnten. Das hätte den Ausschluß fast aller Amerikaner bedeutet. Schmukker argumentierte gegen diese Zusatzpapiere mit dem Argument, daß sie nach der Einladung, welche die Lehrbasis der Allianz festschrieb, erstellt wurden. Sie haben überdies seiner Meinung nach nichts zu tun „with the proper object of the Alliance. The Alliance is a union, for purposes exclusively religious, of Evangelical Christians who agree in the great doctrines of the gospel. Slavery is a political evil and although it draws great moral evils in its train and we are all heartily opposed to it, and ready in every proper way to promote its removal, we do not think that the subject comes within the province of this Alliance."267 Nachdem im Jahre 1850 der Kongreß den fugitive slave act verabschiedet hatte, sollten in den Nordstaaten aufgegriffene Sklaven ohne ordentliches Verfahren in die Südstaaten zurücktransportiert werden. Nach der Schilderung seinesjüngsten Sohnes hat Schmucker jetzt zivilen Ungehorsam praktiziert. 268 Alle unsterblichen Seelen sind vor Gott gleich, auch wenn falsches Menschenrecht

265

Ders., Lecture, 81b. ANSTADT, 304. Vgl. a. WENTZ, Pioneer, 285-291. 267 Schmucker, zit. nach ANSTADT, 305. 268 Samuel D. Schmucker (zit. nach ANSTADT, 293) berichtet, „that in my early life runaway slaves would occasionally come to our house. Father would allow any such to sleep in his barn by day, and I am sure, assisted them, at least to the extent of supplying them with food. After the decision of the Dred Scott case, I once asked him, what he would do, if a fugitive slave were to approach him personally for aid? He replied, that he would never assist in returning a fellow being into bondage, and would succor any such that were in distress, and that if he was prosecuted for it, he would admit the fact, and pay the penalty for which the law might make him liable." 266

174

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

einige davon zum Eigentum anderer Menschen erklären sollte.269 Zivilen Ungehorsam rechtfertigte der Theologe auch in einer öffentlichen Ansprache.270 Den Ausbruch des Sezessionskrieges hat Schmucker nirgends kommentiert. Im allgemeinen sprachen sich die lutherischen Distriktsynoden der Nordstaaten fur den Erhalt der Union aus, womit sie den Krieg faktisch billigten.271 Schmukker dürfte vor allem enttäuscht gewesen sein, daß seine Hoffnungen auf die Herausbildung einer nation of true Christians im Blutbad weggeschwemmt wurden. Sein Biograph WENTZ hat ausgeführt, seine politischen Überzeugungen seien in den Südstaaten wohlbekannt gewesen, zumal in Gettysburg auch viele Studenten aus den Südstaaten ausgebildet worden waren. Er weist auf einen Brief eines Maryländer Pastors hin, in dem Schmucker vor den konföderierten Truppen gewarnt wird, die seine Ergreifung und Inhaftierung planten.272 Als General LEES Truppen dann nach Gettysburg kamen, wo die entscheidende Schlacht dieses Krieges geschlagen werden sollte, war Schmucker geflohen. Sein Haus wurde verwüstet.273 Ob dies als Racheakt eines ,bekennenden' Abolitionisten an Schmucker zu interpretieren ist, muß offen bleiben. Schmuckers Überlegungen entsprechen eher denen eines aufgeklärten Südstaatlers als denen eines nordstaatlichen Abolitionisten. Seine Forderung nach „entire abolition" wäre im Grunde schon dann erfüllt, wenn die manumission in den Südstaaten erleichtert wäre. Dann könnte nämlich ein jeder Plantagenbesitzer seine Sklaven zu freien Lohnarbeitern machen und auf diese Weise dem Gebot der Vernunft wie dem des in der Schöpfung grundgelegten Naturrechts Genüge tun. So müßte er sich in der Frage der Sklaverei nicht mehr als sinner vor Gott wissen, als einer, der, obwohl er das Rechte kennt, das Falsche tut. Schmucker erweist sich hier als eigenständiger und verantwortlicher lutherischer Theologe. Gegenüber dem amerikanischen Evangelikaiismus hält er an der Unterscheidung zwischen Welt und Kirche, zwischen Recht und Evangelium in dieser konkreten ethischen Frage fest. Er fordert die individuelle Anstrengung zur Selbst- und Weltverbesserung (die freilich nicht das Heil schafft) und 269

SCHMUCKER, Christian Pulpit, 16; ders., Elements, 332. Ders., Christian Pulpit, 16. 271 Zitate aus Synodalpapieren bringt HEATHCOTE, 72f. Ebd., 74: Beim Treffen der Generalsynode 1862, nachdem man die Synode des Jahres 1861 wegen des Kriegsausbruchs in allgemeinem Einverständnis hatte ausfallen lassen, erschien aus den Südstaaten nur ein Delegierter, abgesandt von der Tennesseesynode. Das bedeutete die Spaltung der General Synod. ANDERSON hat die Trennung der Synoden des Südens von denen des Nordens beschrieben als Folge der anfänglichen Siege der Südstaaten. Unter den Bedingungen des Krieges setzte sich nach ihm der theologische Schwenk vom Liberalismus zum Konfessionalismus auf breiter Linie durch. 272 WENTZ, Pioneer, 294. Schmucker verurteilte auch die Rebellion des Südens gegen die übergeordnete Zentralgewalt. ANSTADT, 326. WENTZ, Pioneer, 326. Schmuckers Bericht vor dem Board of Directors, Oktober 1863, zit. ebd., 328. Vgl. a. ders., History, 193f.

3.4 Protestantische Einheitsfront

175

denkt konsequent vom Individuum als moral agent und nicht von Institutionen her.

3.4 Protestantische

Einheitsfront

Die Vereinigten Staaten von Amerika gelten als das Ursprungsland des religiösen Pluralismus. Unbehelligt von staatlicher Einmischung können die verschiedensten Gruppen sich entwickeln und um Mitglieder werben. Diese Situation beurteilt Schmucker nicht als positiv. Die innerprotestantischen Trennungen erscheinen ihm als Abfall von dem Urbild des apostolischen Zeitalters und dem Christentum abträglich.274 Deshalb war es ihm ein wichtiges Anliegen, mit den Angehörigen anderer Kirchengemeinschaften zusammen an der Verchristlichung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Welt zu arbeiten.275 Dabei erstrebte er keine organisatorische Kirchenunion oder einen Kirchenbund, sondern begnügte sich mit der Vereinigung von Individuen. Um dogmatische Unterschiede zwischen den einzelnen protestantischen Kirchen kümmerte er sich wenig. Konkurrenz auf dem Feld der theologischen Lehre empfand er als leere Rechthaberei.276 Durch eine „united evangelical front," eine protestantische Einheitsfront, sollte der religiöse Pluralismus gebändigt und in Bahnen gelenkt werden, die dem Bestand und der Vervollkommnung der amerikanischen Demokratie dienen.277 Das zeigt sich deutlich an seiner Haltung gegenüber den amerikanischen Katholiken. Wenn Schmucker von christlichen Patrioten spricht, dann meint er keineswegs auch römisch-katholische Christen. Die Vereinigten Staaten von Amerika sollen ein Protestant Empire werden, weil sich allein der Geist der Kirchen der Reformation mit den freiheitlichen Institutionen Amerikas verbinden läßt; schließlich ist die Reformation die Mutter der Freiheit. Der größte Feind der amerikanischen Freiheit ist der Papst, der die Völker Europas unterjocht und ihnen das wahre unverfälschte Evangelium entwendet hat.278 Er

274

SCHMUCKER, Church Redeemer, 49. LOETSCHER.

276 SCHMUCKER, Church Redeemer, XVII: „Absolute external union of denominations is not necessary to Christian union; but the Christianity of conflicting sects, of Paul, of Apollos, or of Cephas, of Luther, of Zwingli and Calvin, is certainly not the Christianity of the New Testament." 277 Vgl. unten Abschnitt 4.3 und 4.4.

278

SCHMUCKER trägt seine desbezüglichen Ansichten erstmals auf Anforderung der Synode von Westpennsylvania im Jahre 1838 vor: Discourse Commemoration. Diese Synode ermahnte später ihre Pfarrer, gegen Rom durch jährlich mindestens eine Predigt zum Thema vorzugehen. Schmuckers Ansprache erreichte vier Aufl. in zwei Jahren und wurde im Anhang zu seinem Commentary in erweiterter Form noch einmal abgedruckt. Bemerkenswert ist darüber hinaus, daß eine Predigt, in der Schmucker aufgewiesen hat, daß das vierte Tier mit den

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

176

strebt nach der Herrschaft „over the highest civil governments of the world" und verbietet seinen Anhängern, der Regierung zu gehorchen.279 An solchen Äußerungen offenbart sich, daß Schmucker den um die Jahrhundertmitte in den Vereinigten Staaten verbreiteten Antikatholizismus, der die Einwanderung riesiger Zahlen deutscher und irischer Katholiken begleitet hat, nicht nur teilt, sondern auch in seinen Publikationen befördert.280 Gab es um 1790 nur etwa 35.000 Katholiken in den Vereinigten Staaten, so waren es schon mehr als 3 Millionen im Jahre I860.281 Aufgrund der Überzeugung, die Demokratie verdanke ihre Entstehung der Reformation, und sie bedürfe des Protestantismus für ihr Gedeihen, bedeutete die Einwanderung einer so großen Zahl von Nichtprotestanten die Infragestellung des Gelingens des amerikanischen Experiments. Römische Priester lernen und lehren noch derzeit - so verrät Schmucker seinen Lesern - , daß Protestanten mittels Körperstrafen dazu gebracht werden müssen, zur allein seligmachenden römischen Kirche zurückzukehren.282 ,,[T]he papal Rome has shed the blood of sixty-eight millions of the human race in order to establish her unfounded claims to religious dominion."283 Schmuckers antikatholische Argumente basieren einerseits auf der Reformationsgeschichte,284 andererseits werden schreckliche Visionen heraufbeschworen, was die Priester mit freien Amerikanerinnen bei der Beichte anstellen könnten.285 Daß Gott selbst den Protestantismus will, ersieht man leicht aus dessen politischer, sozialer und kultureller Überlegenheit: „How much, how incalculably much the Protestant nations have gained by the Reformation, is demonstrated by their manifest and striking superiority to their Catholic neighbors in every thing relating to civil rights and liberty, to internal improvements, to domestic purity and happiness, to literary activity and enterprise and to scientific investigations."286 Als wie bedrohlich Schmucker die Immigration von Katholiken erschien, wird daran deutlich, daß er sogar in seinem Katechismus für Sonntagsschulen zehn Hörnern in der Danielapokalypse (Dan 7,23-26) die Herrschaft des Papstes bedeutet, Papal Hierarchy, ins Deutsche übers, wurde. Schmucker gehört nach der Untersuchung von L E H M A N N , Anti-Catholic Propaganda, mit seinen antikatholischen Schriften in ein bestimmtes literarisches Genre mit starrer Argumentationstypologie, welches von den 1830er bis zu den 1850er Jahren verbreitet war. Der Kulturkampf in Deutschland erscheint nach Lehmann wie ein verspätetes Auftreten desselben Phänomens. 279 S C H M U C K E R , Discourse Commemoration, 9 7 , 1 0 6 . 280 L E H M A N N , Anti-Catholic Propaganda, 1 2 1 - 1 3 3 . 281

ALBERS,

282

Discourse Commemoration, Ebd., 90. Ebd., 5-63. Ebd., 55f, 61-63. Ebd., 96f.

283 284 285 286

III.

SCHMUCKER,

75.

3.4 Protestantische Einheitsfront

177

die Frage der bürgerlichen Stellung römischer Priester diskutiert.287 Wer dem Papst treu ist und dies gar - wie der Priester - eidlich geschworen hat, kann kein treuer Amerikaner sein.288 Um die Freiheit der Vereinigten Staaten von Amerika zu bewahren, sollen auch die Katholiken die Heilige Schrift lesen und ihre Kinder sollen in Sonntagsschulen erzogen werden. 289 Wie diese beiden Ziele - die in der Bekehrung von Katholiken zum Protestantismus gipfeln - , erreicht werden sollen, verschweigt Schmucker allerdings. Deshalb sind seine Äußerungen nichts anderes als die religiöse Verbrämung der Forderung nach Einwanderungsbeschränkungen und verlängerten Einbürgerungszeiten für römischkatholische Immigranten. 290 Allerdings hat er nicht die Gewaltaktionen der Anhänger der Know nothing-Bewegung gerechtfertigt oder mit seinen Veröffentlichungen riots provoziert. Entscheidend fur das Verständnis der Schmuckerschen Sozialethik ist die Bestimmung und Abgrenzung des Bereiches des Politischen von dem des Christlichen. Obwohl er vom Staat die Realisation göttlichen Rechts fordert und die nation als Gottes Pächter an die Gebote des Pachtherrn bindet, favorisiert er nicht christliche staatliche Institutionen oder die Herbeiführung einer christlichen Gesellschaft durch staatliche Zwangsmaßnahmen, sondern einen Zustand, in dem ein jeder einzelne Amerikaner sich von Gottes Geist berührt weiß und um Gottes willen bestimmte ethische Normen einhält. Der true christian believer zeigt in seinem ganzen Lebenswandel, als Privatmann wie als Wähler oder Politiker, daß er den göttlichen Geboten folgt. Die theologische Selbständigkeit Schmuckers zeigt sich nicht nur in seiner Ablehnung einer der bedeutendsten Gesellschaft seiner Zeit, sondern auch darin, daß er sich gegen die Humanisierung des Strafvollzugs ausssprach. Während voluntary societies vehement für die Humanisierung des Strafvollzugs und für die Abschaffung der Todesstrafe eintraten, äußerte Schmucker sich für die Todesstrafe, weil er sie als biblisch belegt und vernünftig (weil sie die höchste Abschreckungswirkung habe) beurteilte. 292

287

SCHMUCKER, Evangelical Catechism, 117f: „Q. 309. Are romish priests exempted from the jurisdiction of the civil courts, as their standard authors claim? A. Such a claim is absurd, and is not recognized in any apart of our civil institutions." Dasselbe Thema wird breit entfaltet in ders., Discourse Commemoration, 108-111. 288 Ebd., 129 u.ö. 289 Ebd., 131. 290 Vgl. zu den Diskussionen um eine verlängerte Einbürgerungszeit, modifizierte Einwanderungs- und Einbürgerungsgesetzgebung MARSCHALCK, 106f. 291 LEONARD/PARMET, 85-98, zu dem Geheimbund Know Nothing, der sich 1852 als Partei organisierte und zwischen 1852 bis 1856 seinen größten Einfluß hatte. Ebd. auch Abdr. zahlreicher einschlägiger Quellen. Vgl. a. CARWARDINE; GUGGISBERG, 107. 292 SCHMUCKER, Capital Punishment.

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

178

4. Kirche Schmuckers Kirchenbegriff unterscheidet sich von dem der meisten seiner deutschen Kollegen, insofern die Kirche nicht ein göttliches Institut, sondern ein Verein zur Verfolgung bestimmter religiöser Zwecke ist. Die sichtbare Kirche ist eine willentliche Vereinigung von Menschen, die mit Furcht und Zittern ihr Heil suchen.293 Die Predigt dieser sichtbaren Kirche ist bestimmt vom Gedanken, daß alle Menschen von Natur aus und aufgrund ihrer Taten Sünder sind und durch Gottes Gesetz verdammt wären, wenn dieser nicht durch seinen Sohn denjenigen, die ihre Sünden bekennen und in seinem Geist wiedergeboren sind, Gnade gewähren und sie in eine Vereinigung versammeln würde, „for mutual edification and encouragement in the ways of God."294 Die Kirche der Wiedergeborenen ist somit vor allem ein Verein zur Menschenverbesserung. Schmukker unterscheidet von dieser sichtbaren Kirchengemeinde die unsichtbare Kirche, deren Angehörige Gott allem kennt. Die sichtbare Kirche hat die Aufgabe, Mitglieder für diese himmlische Kirche heranzubilden. Diese können aus allen christlichen Denominationen kommen, da nicht die jeweilige Kirche den Christen macht, sondern das Evangelium: „The gospel was before the church. The revealed truths of Christianity were the means, by the preaching of which sinners were converted."295 Der aufgeklärte Vertragsgedanke, der im Hintergrund von Schmuckers Reflexionen über Staat und Gesellschaft stand, bestimmt auch seinen Kirchenbegriff.

4.1

Individualismus

Ausgangspunkt des Schmuckerschen Nachdenkens über die Kirche ist das Individuum, das sich mit anderen in einem Verein zur Gottesverehrung verbindet. Unter den Bedingungen des Denominationalismus ist es für den Einzelnen ausgesprochen schwierig, festzustellen, welcher Kirchengemeinde und -organisation er sich anschließen soll. Seine Verantwortung wahrzunehmen, ist für den Christen deshalb eine wichtige Aufgabe, weil jede Religionsgemeinschaft (iassociation) von sich selbst behauptet, die wahre Kirche zu sein, aber tatsächlich interessengeleitete Partei (interested party) ist.296 Kein Christ darf sich seiner individuellen Verantwortung entziehen, sondern er muß immer die Lehre seiner Gemeinde beziehungsweise des Synodalverbandes, zu dem die eigene

293 294 295 296

Ders., Church Redeemer, 27. Ebd. Ders., Lutheran Manual, VI. Ebd., V.

4.2 Kongregationalistische Kirchenverfassung

179

Gemeinde gehört, prüfen und für wahr befinden. Es kann keine „legitimate church of Christ" geben, „in which the members are divested of their individual responsibility and absorbed in the organism of the whole."297 Eben diese Einsicht in die individuelle Verantwortlichkeit des Einzelnen gegenüber dem Gotteswort und die darauf aufbauende Lehre von der Kirche habe LUTHER gelehrt: „God exercises his moral government over every man individually, and not over the race in the aggregate. [...] Christ tasted death for every man individually, and not for mankind in the aggregate, much less in the abstract. Every individual must repent, and believe the gospel for himself, if he would be saved [...]. Nor is man divested of his individual responsibility, when entering into connection with the church. [...] As an individual he is to search the Scriptures dayly, and test by them the instructions he receives." 298

Schmucker betont also die individuelle Wahlfreiheit in Kirchendingen. Allerdings besteht nach seiner Ansicht im Grunde gar keine Nötigung zu wählen, weil der faktisch bestehende religiöse Pluralismus keinen positiven Sinn hat. Alle protestantischen Denominationen lehren nämlich dieselben fundamentalen Sätze des Christentums und unterscheiden sich nur an wenigen Punkten von geringer Bedeutung.299 Somit darf der Staatsbürger zwar seine Religionsgemeinschaft aus einer Vielzahl von Möglichkeiten auswählen; faktisch findet jedoch keine Wahl statt. Somit beschränkt sich Schmuckers Anerkennung des menschlichen Individualismus in religiösen Fragen auf die Forderung, daß jeder protestantischer Christ wird und sich irgendeiner protestantischen Kirchengemeinde anschließt.

4.2 Kongregationalistische

Kirchenverfassung

Weil Staat und Kirche in den Vereinigten Staaten von Amerika wie im apostolischen Zeitalter voneinander getrennt sind, hindert niemand die amerikanischen Christen daran, die Kirchenverfassung des apostolischen Zeitalters in den Gemeinden und ihren überlokalen Zusammenschlüssen wieder einzuführen.300 Schon MÜHLENBERG und seine Mitstreiter nahmen diejenige Kirchenverfassung an, die LUTHER und die lutherischen Theologen sämtlich fur die des Urchristen297 TQO

Ebd., Vn.

Ebd., VI. Vgl. a. FORMULA, übers, bei KRAUSHAAR, Verfassungsformen, 73, unter Hinweis auf Rom 2,13.15 u.a.; Dan 6,1-3; Act 4,19. Vgl. a. oben die Ratschläge Samuel Simon Schmuckers an seinen Sohn Beale Melanchthon Abschnitt 1.2, Anm. 28-33. 299 Vgl. Anm. 4 2 , 3 1 8 , 3 2 6 u.ö. 300 SCHMUCKER, Church Redeemer, XI: „The General Synod undeniably returns, in substance, to the practice of the primitive Ages of the Christian Church."

180

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

turns gehalten hatten: nämlich Gleichheit der Pfarrer, deren Wahl durch die Gemeinden, Mitarbeit der Laien im Kirchenregiment und freiwillige Bildung von Synoden.301 Diese Kirchenverfassung ist im amerikanischen Luthertum 1748 eingeführt worden; sie ist nicht nur lutherisch, sondern auch „more congenial to our civil institutions" als jede andere Verfassung. Deshalb hat sie Modellcharakter für die lutherischen Kirchen in Europa. Durch voluntary association kommen nicht nur die unterschiedlichen protestantischen Gemeinden, sondern auch die Distriktsynoden und Synodalverbände zustande.302 Die näheren Fragen der rechten Organisation einer Kirche sind nicht in der Heiligen Schrift entschieden worden; eine Kirchenverfassung ist nicht in irgend einem Sinne heilig. Ihre Ausgestaltung ist vielmehr das Ergebnis vernünftigen Nachdenkens unter den gegebenen historischen Bedingungen. Die faktisch geltende Verfassung entspricht ebenso wie diejenige der Missourisynode dem amerikanischen Recht. Die Bedeutung der Ortsgemeinde in Schmuckers Konzeption wird unterstrichen, wenn die Aufgaben der General Synod in den Blick kommen: Sie hat einzig beratende Gewalt, auch wenn sie „the ministers of the District Synods [inspiziert, ADD], in order to exert a favorable influence on the Church at large."303 Die Kirchengemeinden delegieren an die Generalsynode die Entscheidung über die Einführung neuer Gesangbücher; sie kann Empfehlungen für Lehrbücher aussprechen und prüft die Kandidaten für das Pfarramt. Alle Pfarrer sind gleich, Bischöfe gibt es nicht. Der Präsident der Generalsynode wird jeweils für zwei Jahre gewählt; eine Wiederwahl ist nicht möglich. Auf der Generalsynode haben Laien und Pfarrer in je gleicher Zahl Stimmrecht.304 Synoden sind nicht den Kirchengemeinden qua göttlichen Rechts übergeordnet, sondern haben nur diejeni301

Ders., Retrospect, 3 If. Schon nach der von Mühlenberg erarbeiteten KlRCHENORDNUNG der Deutschen Evangelisch-Lut. Gemeine in Philadelphia von 1762 findet sich die Bestimmung, daß Zweidrittel des Gemeinderates (dessen Mitglieder mit einfacher Mehrheit gewählt werden) und Zweidrittel der männlichen Gemeindeglieder sich gegebenenfalls schriftlich für einen Pfarrer aussprechen müssen. Die Pfarrer können auch von der Gemeinde gekündigt werden, wenn ihr Wirken „unbefriedigend und ohne Segen" ist. KRAUSHAAR, Verfassungsformen, §9, 20,21f und 86c. Vgl. a. SCHOMERUS, 125. SCHMUCKER, Church Redeemer, 178. 303 Ebd., 178f. Ders., Lutherische Kirche, 334-345, beschreibt in einem der wenigen von ihm in deutscher Sprache verfaßten Texte die Entstehung und die Aufgaben der Generalsynode aus eigener Anschauung. Er war schon bei der Gründungsversammlung und beim ersten Treffen der Generalsynode im Jahre 1820 dabei. Zur Ordnung der Distriktsynoden der General Synod vgl. KRAUSHAAR, Verfassungsformen, 295-307. Die Pfarrer der Distriktsynoden prüfen und ordinieren die Kandidaten, entscheiden über die Anklagen wegen Irrlehre gegen einzelne Pfarrer und nehmen gegebenenfalls ausländische Pfarrer in die Kirche auf bei sogenannten Ministerialsitzungen (Versammlungen allein der ordinierten Amtsträger). Diesen ist die Synode übergeordnet. Ebd., 301-305. Zur Ordnung der General Synod vgl. ebd., 434-447. Die Generalsynode war in gleicher Zahl von Geistlichen und Laien aus den Distriktsynoden besetzt. 304 WIGGERS, 466f.

4.3 Protestantische Nationalkirche

181

gen Rechte wahrzunehmen, welche die einzelnen Kirchengemeinden an sie übertragen. Mit der Konstitution einer Synode ist die Kirchengemeinde nicht des Rechts verlustig gegangen, den Synodalverband wieder zu verlassen.305 Die sichtbare Kirche ist in dieser Konzeption keine Anstalt, die sakramental Heil vermittelt, sondern eine Versammlung natürlicher Personen zur Verfolgung des Vereinszweckes.

4.3 Protestantische

Nationalkirche

Das Golden Age der amerikanischen Kirchengeschichte ist dadurch ausgezeichnet, daß das Bewußtsein der einzelnen Denominationen tendenziell verschwindet, sich von den anderen grundlegend zu unterscheiden. Auch die Generalsynode der Lutherischen Kirche soll nach ihrer Konstitution nicht nur der Einheit der lutherischen Synoden, sondern der aller Christen dienen, zum Zwecke der Beförderung von „rise and progress of unity of sentiment among Christians in general, of whatever kind or denomination."306 Weil die Kirche Christi wesensmäßig Eine ist in Lehre und Leben sowie „in mutual and universal love,"307 muß ihre Zersplitterung in miteinander konkurrierende Denominationen überwunden werden. Schmucker träumt von untereinander brüderlich verbundenen Kirchen mit gemeinsamen Grundansichten und Regeln. In seinem im Jahre 1838 erstmals veröffentlichten Fraternal Appeal to the American Churches with a Plan for Catholic Union on Apostolic Principles308 beschreibt er die Grundzüge der erstrebten Einheit: Wie die Christen sich im apostolischen Zeitalter alle unter den Namen Christi stellten, so sollen die Denominationen auf ihre verschiedenen Namen verzichten; sie alle lehren Irrtümer „on some nonessential points."309 Kircheneinheit meint nicht die Errichtung einer obersten Glaubensbehörde,3,0 sondern friedliches Zusammenwirken im Dienst der Weltmission in einer ober-

305

SCHMUCKER, Church Redeemer, 226: „It is an erroneous idea, that Synods possess any inherent powers from God, beyond what is delegated to them by the churches, for they are not even mentioned in His Word. [...] Synods can possess only those powers delegated to them by the individual ministers and congregations by which they are formed, and the General Synod only such as are delegated to it by the District Synods. Of course, after these powers had been delegated to a higher judicatory thus formed, they cannot be exercised by the lower body during its connection with the higher." Ebd., 231, zit. aus der Konstitution von 1820, Art. HI. Sect. V m . Vgl. a. JOHNSON, Schmucker. 107

308

SCHMUCKER, Church Redeemer, 231. WENTZ, Samuel Simon Schmucker, bietet eine Einführung in diese Schrift. Vgl. a.

NORLIN. OAQ SCHMUCKER, Fraternal Appeal, 12. 310

Ebd., 6f, 38.

182

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

sten Synode als einem die Kirchen beratenden Gremium.311 Wie im apostolischen Zeitalter soll Verschiedenheit der Lehre und der religiösen Gefühle anerkannt werden, jeder soll dem anderen in Friedfertigkeit dienen und Disputationen vermeiden.312 Weil Schmucker die Einheit des Geistes wichtiger ist als eine solche des Bekenntnisses, will er alle diejenigen gleichermaßen christliche Kirchen nennen, die sich auf die Heilige Schrift und die fundamentalen Lehren ihrer Bekenntnisschriften gründen, Kirchenzuchtmaßnahmen der anderen Denominationen anerkennen, bei „doctrinal errors of a minor grade" gar keine Kirchenzucht anwenden,313 jedem überall das Abendmahl reichen, die Ordinationen ihrer Pfarrer gegenseitig anerkennen und gemeinsame Konzilien abhalten.314 Um die Notwendigkeit dieses Plans biblisch zu begründen, vergleicht Schmucker die protestantischen Denominationen seiner Zeit mit den Sekten in apostolischer Zeit: Die amerikanischen Christen führen sich so auf, als wären sie Schüler des Paulus oder des Apollos, aber nicht eines Meisters (IKor 3,4f).315 Wenn Pfarrer sich um Fragen der rechten Lehre streiten, dann wären dies bei einem geeinten Protestantismus nur Streitigkeiten in „non-fundamental" Punkten; Verlust an Einkommen oder Ansehen wäre nicht mit einer Niederlage im Theologendisput verbunden.316 Alle Kirchen sollen ihr jeweils vorhandenes System von Kirchenregiment beibehalten, es aber an der Erfahrung auf seinen Nutzen hin überprüfen.317 Arbeiten die Kirchen dann noch in der Mission und bei Bibel- und Schriftenvereinen sowie in der Sonntagsschule zusammen, wird schnell ein großes Maß an Übereinstimmung der protestantischen Denominationen sichtbar, und ein nationaler Kirchenrat entsteht.318 Das gemeinsame Glaubensbekenntnis dieser protestantischen Einheitskirche soll nur dasjenige enthalten, was von allen Mitgliedskirchen geglaubt wird.319 Dabei kommt den zwischen den Denominationen nicht diskutierten Punkten die größte Bedeutung zu: Weil die entsprechenden Ansichten von allen geteilt werden, sind sie sicher wahr.320 Schmucker 311

Ebd., 41. Ebd., 45-50. 313 Ebd., 97. 314 Ebd., 51-64. 315 Ebd., 64f. Schmucker nennt auch die Novatianer und Donatisten Christen. Ebd., 67. Er zit. überdies ebd., 69, ohne eine genaue Stellenangabe beizubringen, das Diktum LUTHERs, daß niemand sich nach ihm nennen solle. Eine entsprechende Bemerkung des Reformators findet sich in Eine treue Vermahnung M. Luthers zu allen Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung, 1522 (WA 8, 685). 316 SCHMUCKER, Fraternal Appeal, 88. 317 Ebd., 91f. 318 Ders., Plan for the Restoration of Catholic Union on Apostolic Principles, in dessen Fraternal Appeal, 87-111. Im Grunde gehen Schmuckers Hoffhungen auf Einheit weit über den nationalen Kirchenrat hinaus; er erstrebt einen Weltkirchenrat, den er ansatzweise in der Evangelischen Allianz vorgebildet sieht. 3 " Ebd, 107. 320 Ebd., 111. 312

4.3 Protestantische Nationalkirche

183

hat seinen Plan für eine amerikanische Nationalkirche gleich mit einem, seiner Meinung nach für alle annehmbaren Glaubensbekenntnis versehen, der United Protestant Confession, - zusammengestellt aus den wichtigsten protestantischen Bekenntnisschriften. 321 In der protestantischen Nationalkirche soll nach Schmuckers Meinung eine protestantische Nationalreligion in Geltung stehen, die den in den Sonntagsschulen gelehrten Glaubensinhalten entspricht. Kinder und Erwachsene sollen nur mit der Bibel und den Schriften der American Tract und der Sunday School Society erzogen werden, weil hier „the common ground of christian doctrine" gelehrt wird. 322 Welche Bedeutung hat, so ist angesichts dieser Vision einer amerikanischen Nationalkirche zu fragen, überhaupt noch die lutherische Denomination mit ihrem besonderen Identitätspunkt, der Confessio Augustana? Schmucker schätzte sie hoch - so ist zu antworten - , aber nicht als Grundbekenntnis der lutherischen Kirche, sondern als Grundbekenntnis aller protestantischen Kirchen, weil sie deren gemeinsames Urbekenntnis ist. 323 Entsprechend fehlte schon seinen Elements of Popular Theology ein im engeren Sinne lutherisch-konfessioneller Charakter; die Schrift bietet, dem Anspruch ihres Verfassers nach, diejenigen Grundgedanken der reformatorischen Lehre, welche von allen protestantischen Kirchen geteilt werden. Die Lutheraner sollen nach Schmucker eine ihrer Zahl und historischen Bedeutung entsprechende Rolle bei der Vereinigung aller amerikanischen Protestanten spielen; schließlich war ihre Kirche die erste, „to throw off the yoke of ecclesiastical tyranny, and break the scepter of religious despotism; to maintain the great Protestant principle, that the Bible is the only infallible rule of faith and practise; to assert the right of private judgement in the interpretation of the Scriptures; and to proclaim the doctrine of Justification of Faith alone, as the foundation of a ,standing and falling church.'" 324 Diese Sätze sind nicht nur als Beschreibung historischer Tatbestände zu interpretieren, sondern formulieren einen Anspruch und eine Aufgabe. Die Herausstellung eines besonderen Auftrags der lutherischen Kirche in den Vereinigten Staaten von Amerika war deshalb möglich geworden, weil die Amerikaner begonnen hatten, LUTHER für den ersten Freiheitshelden in der eigenen Nationalgeschichte zu halten. Die Grundzüge des Schmuckerschen Lutherbildes spiegeln die in sämtlichen Denominationen in den Vereinigten Staaten von Amerika im ersten Drittel des 19. Jh. aufkommende, bei der Feier des vierhundertjährigen Luthergeburtstages im Jahre 1883 ihren Höhepunkt erreichende Lutherbegeiste321

Ebd., 107f. Ders., Overture und ders., United Protestant Confession. Ders., Fraternal Appeal, 77. 323 Deshalb werden von der 2. Aufl. an auch in seinen Elements Bekenntnisschriften anderer als der lutherischen Kirche geboten. 324 Ders., American Lutheran Church, Ulf (Vorwort). 322

184

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

rung, die den Reformator als den Überwinder mittelalterlich-römischen Aberglaubens und Ahnherrn der amerikanischen Republik sah.325 LUTHER ist nicht allein der Vater des Luthertums, sondern des Protestantismus und der Vereinigten Staaten von Amerika, indem er die Wahrheit des Evangeliums wiederentdeckte und für die Freiheit des Individuums kämpfte. Schmuckers American Lutheranism war bis 1855 identisch mit dem mainstream des amerikanischen Luthertums, und der Gettysburger Professor war der guten Hoffung, er könne alle Lutheraner in die General Synod integrieren und so den American Lutheranism zu einer zahlenmäßig und theologisch einflußreichen Denomination im Konzert der amerikanischen protestantischen Kirchen machen. Doch das Gegenteil geschah. Er mußte im Februar 1864 sein Amt niederlegen; der American Lutheranism wurde zunehmend marginalisiert. Mit dem Begriff Amerikanisches Luthertum wurde nun nicht länger die besondere Gestalt lutherischer Kirchengemeinden und Theologie unter den freikirchlichen amerikanischen Bedingungen bezeichnet, sondern eine unzulässige Preisgabe des spezifisch lutherischen Erbes. Schmucker ist also in seinen Bemühungen gescheitert. Das gilt sowohl für seine Pläne zur Begründung eines nationalen Kirchenrates und einer Nationalkirche wie für die Pläne zur Einigung des Luthertums.326 Die historische Entwicklung ging den Weg der stärkeren Sonderung der einzelnen Denominationen in theologischer und ethnischer Hinsicht.

4.4 Protestantische

Zivilreligion

Schmuckers protestantische Nationalreligion trägt Züge einer civil religion?21 Die amerikanischen Kirchen sollen der Erhaltung und ständigen Verbesserung des amerikanischen Staates durch die Heranbildung von Demokraten dienen.

325

LEHMANN, Entdeckung, zeichnet die unterschiedlichen Lutherbilder der Unitarier, Evangelikaien, Nativisten und Transzendentalisten nach, die Luthers Ruhm in den Vereinigten Staaten von Amerika begründeten, sich sachlich allerdings stark voneinander unterscheiden. Vgl. a. ders., Luther; ders., American Imagination. 326 SCHMUCKER, Church Redeemer, XVI: „I cheerfully testify that I feel happy in looking back on nearly fifty years of my life spent, not in building up the walls of sectarianism, but in laboring to promote the kingdom of Christ in the Lutheran Church, on the most Catholic or liberal principles, - building it up with constant recognition of the other evangelical denominations. I rejoice that my life and action have been in consonance with the Saviour's prayer: ,Holy Father, keep through thine own name [...]'." 327 Vgl. die knappe Einfuhrung von BELLAH, Civil Religion; ders., Religion. MARTY, Nation, 180-203, beschreibt die historischen Bedingungen, die zur Entstehung des Begriffs führten, und die unterschiedlichen Möglichkeiten seines Verständnisses. Vgl. a. SCHÖFTHALER; KODALLE.

4.4 Protestantische Zivilreligion

185

Insbesondere mit seiner Theorie vom Wächteramt der Christen gegenüber Staat und Gesellschaft lehrt Schmucker amerikanische Bürgertugenden. Er verbreitet diese Ideen vor allem unter den Nachfahren solcher Lutheraner, die noch im 18. Jh. in die Vereinigten Staaten von Amerika eingewandert waren. Am Beginn des 19. Jh. hatte sich die englische Sprache als Kirchensprache bei vielen durchgesetzt. 328 Damit war allerdings ihre politische, kulturelle und gesellschaftliche Integration in den American way of life noch keineswegs geleistet. Sie waren häufig Farmer auf dem Land und standen der politischen Entwicklung zurückhaltend gegenüber. Bezeichnenderweise ist kein einziger dieser Lutheraner als Politiker oder Unternehmer hervorgetreten, obwohl gerade Pennsylvania, wo Schmucker wirkte, etwa dreißig Prozent deutschstämmige Bürger hatte. Diese Lutheraner wollte Schmucker in den demokratischen Aufbruch des Jacksonian Age integrieren. Sie sollten zu Demokraten erzogen werden. Deshalb schärft er ihnen als Redner an Nationalfeiertagen wie in seinen theologischen Lehrbüchern immer wieder ein, daß jeder Amerikaner die Unabhängigkeitserklärung und die Konstitution der Republik kennen muß. Dabei hält er es für evident, daß ,,[t]he principles developed in them are coincident with the dictates of God's word." 329 Schmuckers Versuch, in den Vereinigten Staaten von Amerika eine lutherisch geprägte protestantische Nationalkirche und eine civil religion für an staatskirchliche Verhältnisse gewohnte Lutheraner zu schaffen, ist deshalb bemerkenswert, weil das Ringen deutlich erkennbar ist, in dem Schmucker sich selbst verfangen hat: Er versucht, eine Gegenposition gegen die Theologen des Evangelical Golden Age aufzubauen, indem er mit LUTHER zwischen Person und Amt unterscheidet und daran festhält, daß nicht die Institutionen, sondern die Menschen sündigen. Zugleich aber wendet er sich von der Sündenlehre des Reformators ab. Er hält den Menschen fur einen, der an sich selbst arbeiten kann und dem das Verfolgen des eigenen Glückes Lebensinhalt ist. Schmuckers politische Ethik stellt somit vor Augen, daß ein Lutheraner die demokratische Aufbruchstimmung des zweiten Viertels des 19. Jh. als Chance für die Neuformulierung lutherischer Theologie begreifen konnte, indem er behauptete, in den Vereinigten Staaten von Amerika sei gerade zu dieser Zeit die Möglichkeit gegeben, die lutherische Reformation zu vollenden. Diesen Gedanken teilt er mit ROTHE. Wie jener versucht er, zwischen Aufklärung und Reformation zu vermitteln. Er geht allerdings im Unterschied zu dem Deutschen nicht von dem Gedanken der Freiheit des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit aus, sondern von dem Gedanken der Befreiung des Gewissens aus klerikaler Bevormundung. LUTHER habe das Individuum erstmals direkt vor Gott gestellt und einem jeden einzelnen damit die Verantwortung für die Kirche und die Welt zugesprochen. War es ROTHES letztes Ziel, die sittlich-religiösen Staatsbürger freimachen zu 328

329

WENG.

Ders., Address Anniversary, 19.

186

Teil Β: Samuel Simon Schmucker

helfen von der Kirche, so ist es dagegen Schmuckers Absicht, sie in die Kirche einzubinden. War ROTHES Kirche im besten Falle eine Schule der staatsförderlichen Sittlichkeit, so ist Schmuckers Kirche ein Verein zur gegenseitigen Aufmunterung bei der ständigen Selbst- und Weltheiligung. Schmucker erreichte seine Adressaten mit dieser Botschaft nicht. Die Flut deutschsprachiger Einwanderer verstärkte bei den deutschstämmigen Lutheranern die Besinnung auf das deutsche Erbe und verhinderte die weitere Amerikanisierung, der Schmucker dienen wollte. Beispielhaft dafür ist zu nennen, daß im Jahre 1839 in Pennsylvania für deutsche Siedlungsräume der Gebauch der deutschen Sprache in öffentlichen Schulen von der Regierung erlaubt wurde;330 an der lutherischen Pfarrerausbildungsstätte in Gettysburg wurde daraufhin ein Professor speziell für deutschsprachigen Unterricht eingestellt.331

330

CONZEN, 420f. Die Pfarrer, welche den Lehrstuhl jeweils innehatten, waren weder so intensiv akademisch vorgebildet wie Schmucker noch hatten sie eine der seinen ähnliche gesellschafts- und kirchenpolitische Vision. 331

Teil C: Christoph Ernst Luthardt

Christlicher Rechtsstaat Lutherisches Volk Lutherische Nationalreligion Christoph Ernst Luthardt ist theologiegeschichtlich ein Vertreter der Erlanger Schule,1 wenn er auch nicht in der fränkischen Universitätsstadt, welche dieser Theologengruppe den Namen gab, sondern in der sächsischen Großstadt Leipzig lehrte.2 Die Erlanger Schule gilt als die „bedeutendste und theologisch fruchtW A G N E R , Zur Theologiegeschichte, 132, hat in seinem Forschungsbericht unterstrichen, daß die Fremdbezeichmmg .Erlanger Theologie' keineswegs auf Uniformität hindeutet, so daß man seiner Meinung nach nicht von einer .Schule' sprechen kann. Wegen der strukturellen Ähnlichkeit der von Erlanger Theologen vertretenen Theologien hält R I E S K E - B R A U N , Reaktionen, 197, an dem Begriff fest. Vgl. a. ders., Zwei-Bereiche-Lehre, 130-163, bes. 134f Anm.30. Die Erlanger selbst wehrten sich im Jahre 1843 gegen die Beschreibung als .Schule'. B L E N E R , 118. Dafür, von Luthardts Zugehörigkeit zur .Erlanger Schule' zu sprechen, wobei bewußt sein sollte, daß der Begriff Schule eine gewisse Pluriformität einschließt, sprechen seine eigenen Äußerungen. Er wollte immer ein .Erlanger' sein, und die dortigen Theologen anerkannten ihn als einen der Ihren. In welch engem Verhältnis er sich zu den Erlangem fühlt, bringt L U T H A R D T , Lehre Willen, Vf (Vorwort), zum Ausdruck. Die Arbeit ist der Erlanger Theologischen Fakultät gewidmet zum Dank für die Verleihung der theologischen Doktorwürde. Luthardt ist - wie er hier ausführt - vor allem daran gelegen, „daß meine eigenen Aufstellungen wie mit der Schrift so mit dem Glauben und Bekenntniß unsrer Kirche übereinstimmend mögen erfunden werden. Ich wüßte kein anderes Tribunal, dessen Entscheidung ich das Urtheil über meine Arbeit wie überhaupt so insonderheit in diesem letzten Punkte mit gleich unbedingtem Vertrauen übergeben könnte als Ihre Fakultät. Wie viel oder wie wenig Werth aber auch meine Arbeit in Ihren Augen haben möge - nehmen Sie dieselbe wenigstens als einen Ausdruck der Gemeinschaft, welche mich im kirchlichen Glauben, in der theologischen Richtung und im wissenschaftlichen Streben mit Ihnen verbindet!" Zur Geschichte der Erlanger Theologischen Fakultät, die 1841, nachdem Harleß hierher gekommen und im Jahr 1838 die ZPK ins Leben gerufen worden war, am Beginn ihrer Blütezeit stand, vgl. BEYS C H L A G , 33-82; H E I N , Erlangen-, S I M O N , Erneuerung. 2

Zur Leipziger theologischen Fakultät während Luthardts Wirken dort vgl. WAR727f; KIRN, 198-221; LAU, Leipzig, 309. B L A N C K M E I S T E R , 402, beschreibt, wie Luthardt von seinen Zeitgenossen gesehen und beurteilt wurde: „Eine scharfkantige, an die alten Dogmatiker der Kirche, an Deyling und Löscher erinnernde Persönlichkeit, hat er es doch verstanden, die Anschauungen der Väter des 16. und 17. Jh. in glänzender Darstellung dem Geschlechte des 19. Jh. verständlich zu machen und nahe zu bringen. Auf Katheder und

TENBERG,

Teil C: Christoph Ernst Luthardt

188

barste Richtung"3 des Neuluthertums im 19. Jh. Ihre Bedeutung war auch für die Entwicklung der lutherischen Ethik des Politischen weitaus größer, als man gemeinhin vermutet.4 Schon der Ethik des geistigen Vaters der Erlanger Theologie, Gottlieb Christoph Adolf von HARLESS,5 der im Jahre 1842 die überhaupt erste konfessionell-lutherische Ethik unter dem Titel Christliche Ethik vorgelegt hatte, war ein beeindruckender Erfolg beschieden: Die achte Auflage erschien 1893.6 Luthardt ist im Vergleich zu den anderen Erlanger Theologen jüngst von Uwe RIESKE-BRAUN als „theologiegeschichtlicher Katalysator, in dem die bisherige Erlanger Sozialethik zusammenläuft und in veränderte, wirkungsträchtige Bahnen einschwenkt," gewürdigt worden.7 Ein „Funktionswandel" der sogenannten Zweireichelehre zu einer „Zwei-Bereiche-Lehre" zeige sich in seinen Schriften.8 Als ,,[p]rägend für das Luthardt'sche Denken" bezeichnet RIESKEBRAUN das Modell eines christlichen Staates, wie es von Friedrich Julius STAHL entwickelt worden war.9 Dagegen nannte Friedrich Wilhelm GRAF Luthardt einen Kritiker des Konzeptes eines christlichen Staates.10 Offensichtlich besteht also hinsichtlich der Staatsethik Luthardts noch einiger Klärungsbedarf. Daß ,,[d]ie vielgescholtene Staatsethik des Luthertums [...] im wilhelminischen Reich besser als ihr nachmaliger R u f war, hat jüngst Kurt NOWAK betont, mit Hinweis auf „eine regelrechte konservativ-lutherische Opposition gegen die Zügellosigkeit der Staatsgewalt."11 Ob Luthardt zu diesen Oppositionellen gehörte, wird zu prüfen sein.

Kanzel, in Vorträgen und durch seine Zeitschriften hat er wie kaum je ein Theolog die sächsische Landeskirche beeinflußt und ihr in vielen Stücken das Gepräge seines Geistes aufgedrückt." 3

GRASS, 5 6 6 .

4

Vgl. zur Ethik der Erlanger Theologen RLESKE-BRAUN, Zwei-Bereiche-Lehre·, GRAF, Konservatives Kulturluthertum. 5 Zu Person und Werk vgl. ANONYMUS, Harleß; HEIN, Harleß; MERZ, Kirche-, SCHMIDT, 6

Harleß.

Vgl. zu Harleß' Ethik, deren Grundzüge Luthardt stark beeinflußt haben, MOHAUPT;

RIESKE-BRAUN, Zwei-Bereiche-Lehre, 7 8

62-77.

Ebd., 130. Ebd., 140. Luthardt verwendet die Begriffe „Sphären", „Welten" und „Gebiete." Ebd.,

143. 9

Ebd., 20-61, 149, 157f. Hier wird als die organisierende Mitte der Erlanger Sozialethik der Begriff .christlicher Staat' im Sinne Stahls herausgestellt. Das ist falsch. Vgl. unten Abschnitt 2.6. 10 GRAF, Konservatives Kulturluthertum, 46. Entsprechend hat auch NLPPERDEY, Geschichte, 438, beobachtet: Die Erlanger Lutheraner „konnten mit der Idee des .christlichen Staates' im katholischen Bayern verständlicherweise nicht so viel anfangen; sie relativierten darum die Staatsform in Blick auf Geschichte und Volk." 11

NOWAK, Machtstaat,

58.

Lutherische Nationalreligion

189

Luthardt wurde mit Schreiben v o m 14. März 1856 aus Marburg an die Leipziger theologische Fakultät berufen, um Karl Friedrich August K A H N I S 1 2 ZU unterstützen, den damals einzigen konfessionell eingestellten Lutheraner dort. 13 Bis zu seiner Emeritierung z u m 1. April 1902 1 4 entfaltete er eine weitverzweigte Wirksamkeit, als deren Mittelpunkte Ethik 15 und Kirchenpolitik 1 6 angesehen werden können. Er bildete z u s a m m e n mit KAHNIS und dem später aus Erlangen nach Leipzig berufenen Franz Julius DELITZSCH 17 das sogenannte lutherische Dreigestirn. Während seiner 46jährigen Wirksamkeit im Königreich Sachsen trug er maßgeblich zur Herausbildung einer „klerikalen Pastorenorthodoxie" bei, die d e m sächsischen „Gemeindeliberalismus" die Stirn bot. 1 8 Sachsen war in kirchlicher Hinsicht stark lutherisch-konfessionell geprägt. Dafür wird einerseits HARLESS verantwortlich gemacht, der, nachdem er von 1845 bis 1850 an der Leipziger Theologischen Fakultät gelehrt hatte, z u m Vizepräsidenten (nach d e m König) des Landeskonsistoriums und Oberhofprediger in Dresden bestellt worden war, w o er bis zu seiner Rehabilitation durch den bayerischen K ö n i g und Berufung z u m Präsidenten des Bayerischen Konsistoriums

12

Zu Person und Werk vgl. knapp WESSELING, Kahnis. Schreiben des Königlich Sächsischen Ministeriums des Cultus und öffentlichen Unterrichts vom 14. März 1856, Privatbesitz Dr. med. Luthardt, Müden/Örtze. 14 Luthardt starb am 24. September 1902. Schon seit 1895 hatte er infolge eines leichten Schla^anfalls nicht mehr lehren können. Luthardt wurde in dem Brief, der ihm seine Berufung mitteilte (vgl. oben Anm.13), gebeten, sogleich eine ethische Vorlesung zu übernehmen, weil er damit eine Lücke ausfüllen könne. Im Lauf der Jahrzehnte entstand ein breites Schrifttum, das die Ethik vor allem als geschichtliche Wissenschaft entfaltete. 16 KUNZE, D. Luthardt, 56-61. Wichtig ist besonders die Tätigkeit für die Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz und die Herausgabe von deren Organ, der AELKZ. Vgl. dazu FLEISCH; FISCHER, Zur Geschichte. 17 Zu Person und Werk des 1867 berufenen Delitzsch vgl. PLÜMACHER; PROFESSOREN, 14f; WAGNER, Delitzsch. Letztgenannter, ebd., 213, 215, 223, 225f, zeichnet Delitzsch als Antikonfessionalisten, weil er sich der Forderung nach Auswanderung in die Vereinigten Staaten widersetzte. Die Argumentation ist nicht überzeugend, denn Konfessionalismus ist nicht an Auswanderung gebunden. Bemerkenswert ist jedoch, daß recht enge persönliche Beziehungen zwischen Walther beziehungsweise seinem Kreis und Delitzsch in den dreißiger Jahren des 19. Jh. bestanden: In dem Kreis um Martin Stephan erfuhr Delitzsch 1832 seine Erweckung. Vgl. zu Delitzschs Einschätzung Stephans SCHMIDT, Ringen, Iii. 1850 wurde Delitzsch nach Erlangen berufen; die Rückberufung nach Leipzig wurde dann von Luthardt und Kahnis betrieben. Ebd., 216. Zuvor hatte Delitzsch seinem ,,[i]nnigstgeliebte[n] Freund" Luthardt erklärt, daß er selbst gerne nach Leipzig zurückkehren würde, weil seine Mutter dort lebe. Er bat Luthardt weiterhin, Frank in Leipzig zu promovieren, weil Erlangen Luthardt promoviert habe. LKAN Bestand Personen 8 (Luthardt) Nr.l Mappe D: Delitzsch an Luthardt am am 19. April 1856 am 24. November 1858 u.ö. 13

1R

NIPPERDEY, Geschichte, 435.

190

Teil C: Christoph Ernst Luthardt

im Jahre 1852 wirkte. 19 Andererseits hatten sich im Königreich Sachsen schon vor HARLESS' Wirken Separationen von der Landeskirche ereignet, deren Führer Andreas Gottlob RUDELBACH20 im Muldental und Martin STEPHAN in Dresden waren.

1. Grundzüge der Ethik Zwischen den ethischen Entwürfen ROTHES und SCHMUCKERs und demjenigen von Luthardt gibt es einen grundsätzlichen Unterschied: Während jene herausarbeiten, welche Pflichten der Christ hat, beschäftigt sich dieser mit der „Gesinnung," 21 die das Handeln bestimmt. Er denkt weniger darüber nach, was der Christ und Bürger tun soll, als darüber, wie er als Christ etwas tut. Die „Gesinnung der Liebe und die Reinheit des Herzens sollen wir bewahren inwendig, auch wenn wir als Angehörige des Staates in unserm äußern bürgerlichen Leben nach dessen Satzungen einhergehen. Es ist, um es an einem Beispiele deutlich zu machen, ein Unterschied, ob ich mit der Gesinnung der Schadenfreude auf Bestrafung des Uebelthäters antrage, oder mit innerlichem Leidwesen und nur aus dem Grunde, weil Ordnung auf Erden herrschen und Recht Recht bleiben muß. Aeußerlich ist beidemal das Thun dasselbe, aber im Herzen ist es verschieden."22 Entsprechend beschäftigt Luthardt sich nicht mit der Auslegung göttlicher Gebote im Alten und Neuen Testament oder mit deren Übertragung auf die Gegenwart. Die Übertretung des Gottesgebotes erfolgt nämlich nicht erst im Tun des Verbotenen, sondern schon im falschen Wollen. Deshalb soll jeder Mensch die rechte christliche Gesinnung annehmen, indem er sein Wollen auf Gott hin ausrichtet. Der gewissermaßen natürliche Ausfluß davon ist dann die Umgestaltung der Welt zu einer christlichen Welt.

19 Vgl. zum Wirken Harleß' in Sachsen BRÜCK. Sie verfolgt die These, daß die Konfessionalisierung der sächsischen Kirche durch die ,Ausländer' Rudelbach und Harleß maßgeblich vorangetrieben sei. Den politischen, gesellschaftlichen, kirchlichen und theologischen Kontext der durch die Berufung von Harleß ausgelösten Konfessionalisierung des sächsischen Luthertums herausgearbeitet hat KOCH, Neuprofilierung, 203-211. Zu den Hintergründen der Berufung vgl. JUNGHANS; NIEDNER. 20 Zu Biographie und Werk vgl. von KLOEDEN; SCHMIDT, Rudelbach. 21 Im Unterschied zur antiken Ethik lehrt die christliche nach Luthardt nicht, was zu tun ist, sondern wie etwas zu tun ist. Das führt er an Aristoteles vor. LUTHARDT, Ethik Aristoteles, Bd.2.I, 8. Vgl. a. ders., antike Ethik; ders., Geschichte Ethik, Bd.l, §22, 6 8 - 7 2 ; ders., Vorträge, 84f u.ö; ders., Kompendium Ethik, §30-39, 122-180. Vgl. a. OYEN; HOFMEISTER. 22 LUTHARDT, Vorträge, 136. Ebd.: Das Gesetz muß „Wunden schlagen," und „das Evangelium streicht Balsam darauf."

1. Grundzüge der Ethik

191

Diese Möglichkeit zur Durchdringung der Welt ist durch Jesus Christus gegeben. Er überbot die antike Moral, indem er die Menschen vom Zwang des Sollens befreite und zu solchen machte, die können. 23 Erkenntnisquelle der christlichen Ethik ist also die in Jesus Christus erschienene Offenbarung Gottes beziehungsweise die Persönlichkeit Jesu Christi, wie sie dem Menschen im neutestamentlichen Bericht über Leben und Lehre Jesu Christi entgegentritt.24 Daraus folgt nun aber für Luthardt keineswegs die Notwendigkeit, eine explizit neutestamentliche Ethik zu betreiben, welche die Weisungen Jesu auf die Gegenwart appliziert. Im Gegenteil: Luthardt betont den Unterschied zwischen der Zeit Jesu beziehungsweise der Urgemeinde und der Gegenwart. „Kein Bestandteil christlicher Sitte darf lediglich aus dem Alten Testament begründet werden; aber ebensowenig hat jede einzelne Vorschrift der ersten Jünger, auch nicht jede einzelne Anweisung Jesu für alle Zeiten Gültigkeit. Ferner lagen und liegen auch so manche Fragen unsrer Zeit der Anfangsgemeinde ferner. So können die uns geltenden sittlichen Anweisungen nicht unmittelbar aus den einzelnen Worten Jesu entnommen werden [...]. Sie sollen das aber auch nicht, weil ja keine Zeit sich völlig mit der andern deckt und die Geschichte dazu immer neue Aufgaben stellt. Eine jede Anweisung aber ist im Zusammenhang mit dem Mittelpunkt des Evangeliums zu verstehen, aus dem Grundgedanken des christlich Guten, wie es uns aus der Offenbarung gewiß wird."25 Auch R O T H E führt die Unterschiedlichkeit der Zeiten als Argument an, um zu begründen, warum er eine ihre einzelnen ethischen Forderungen aus der Heiligen Schrift ableitende Ethik für unzulänglich hält. Luthardt argumentiert ebenso geschichtlich wie jener. Sie unterscheiden sich aber darin, daß R O T H E aus der Unterschiedlichkeit der Zeiten die Notwendigkeit einer vernünftig begründeten Ethik ableitet. Luthardt argumentiert dagegen mit dem Geist der Liebe. Im Zentrum seiner ethischen Überlegungen steht also nicht der ideale Staat, sondern das reine Herz. Entsprechend ist seine Sozialethik, durch - wie er selbst sagt: „eine gewisse sittliche Resignation gegen die einzelne Staatsform" gekennzeichnet. Luthardt kennt nur „ein gesinnungsvolles Interesse an der politischen Frage und der bürgerlichen Ordnung an sich" beziehungsweise eine „gesinnungsvolle Betheiligung" daran.26

23 LUTHARDT, antike Ethik-, ders., Kompendium Ethik, §5, 1 lf und §10f, 23-54. Entsprechend weist die Geschichte des Ethos nach Luthardt eine stufenförmige Entwicklung auf: Der sittliche Zustand der Völker entwickelt sich hin zum immer Besseren bis zu Jesus Christus. 24 Ders., Kompendium Ethik, 3.Aufl., §8b, 22. 25 Ebd., 25. 26 Ders., Protestantismus, 229f.

192

Teil C: Christoph Ernst Luthardt

1.1 Christliche Gesinnungsethik Die Gesinnung vermittelt nach Luthardt zwischen den zwei Welten, denen ein jeder Mensch angehört. Er nennt sie „Natur und Persönlichkeit, Nothwendigkeit und Freiheit."27 Im Gebiet der Natur herrscht gesetzmäßige, von Gott gesetzte Notwendigkeit: Frei ist dagegen die Persönlichkeit. Luthardt gebraucht diese Begriffe nicht in einem unmittelbar eingängigen Sinn: Mit Natur meint er die vorfindliche soziale Ordnung. Ist jemand in die untere soziale Schicht hineingeboren, so ist das auf den Zwang der Natur zurückzuführen, - allerdings nicht im Sinne eines Zufalls, sondern einer göttlichen Bestimmung. Bedeutsam für den Menschen ist aber nicht die Natur beziehungsweise sein Stand, sondern sein Verhältnis zu Gott, das durch die Begriffe Persönlichkeit und Freiheit bezeichnet wird. Insofern kann der Leibeigene eine ebenso freie Persönlichkeit sein wie der Beamte, der Künstler und der Fürst - oder sogar eine freiere. Freiheit hat eine jede Persönlichkeit einzig in ihrem Verhältnis zu Gott. Wie sie sich diesem gegenüber stellt, entscheidet darüber, wer sie ist. Als Naturwesen hat der Mensch nur eine formale Freiheit, „in seiner Gottesangehörigkeit [liegt dagegen, ADD] seine reale, somit wahre Freiheit."28 Entsprechend verwendet der sächsische Theologe den Begriff Gleichheit. Die Natur macht die Menschen ungleich, allein vor Gott sind sie gleich. Indem Luthardt die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse als unveränderliche Naturverhältnisse beschreibt, ist schon der Ansatzpunkt aller weiteren ethischen Überlegungen statisch und sozialkonservativ. Zwar nimmt er zwei zentrale Stichworte seiner Zeit auf, liberie und egalite, prägt sie aber in einer solchen Weise um, daß ihnen jeder revolutionäre, soziale Veränderung fordernde Gehalt entzogen wird: Freiheit und Gleichheit erfährt jeder Mensch in seiner Gottesbeziehung - und nur in dieser.29 Auf diese Weise versucht er, die Aufklärung zu überwinden, und überhöht zugleich die restaurativen Tendenzen nach der Revolution des Jahres 1848 religiös. Es ist in einem weiteren Sinne bedeutsam, daß Luthardts Ethik nicht bei dem lutherischen Kardinalpunkt einsetzt: der Rechtfertigung des Menschen durch Gott, sondern bei der Frage der rechten Gesinnung. Gesinnung ist nämlich ein zweideutiger Begriff; er kann einerseits die Haltung des durch göttliche Gnade Erweckten bezeichnen, andererseits eine bewußte Willensausrichtung desjenigen, der nach der Gnade verlangt.30 Luthardt macht einen Unterschied zwischen 27

Ders., Vorträge, 26. Ders., Kompendium Ethik, §15, 59-64. 29 GRAF, Restaurationstheologie, 84-88, bezeichnet diese als typische Argumentationsstrategie der konfessionellen Theologen. LUTHARDT, Lehre Willen, 453: „Aber immerhin macht es doch einen Unterschied, ob die Gedanken eines Menschen sich auf die sittliche Welt ewiger Güter richten oder auf die sinnliche Welt der vergänglichen. Findet der Mensch auch nicht den Weg zu Gott selbst, so rührt er doch an den Saum seines Kleides." Ebd., 455f: „Es ist immer das eigene Thun, durch 28

1.1 Christliche Gesinnungsethik

193

dem sich um die göttliche Gnade bemühenden Menschen und dem natürlichen. Deshalb entscheidet seiner Meinung nach ein menschliches Verhalten darüber, wer der Mensch ist. Das Verhältnis zwischen dem natürlichen Menschen und dem Christen bestimmt Luthardt dahingehend, daß „der Christ die höhere Wahrheit des Menschen [ist], weil das Verhältniß des Christen zu Gott in Christo die Wahrheit des Verhältnisses des (sündigen) Menschen zu Gott, die christliche Sittlichkeit also die höhere Wahrheit der natürlichen [ist]."31 Diese Struktur der Überbietung soll sicherstellen, daß der Bereich des Natürlichen angemessen gewürdigt wird. Zwar ist der Christ,besser' als der natürliche Mensch; aber auch dieser hat seine Fähigkeiten, die ihm der Schöpfer in die Wiege gelegt hat. So will Luthardt das Schöne, Wahre und Moralische in der natürlichen Menschheit anerkennen, zugleich aber auf seine Defizienz hinweisen. Der Unterschied zwischen dem Christen und dem natürlichen Menschen besteht darin, daß der Erstgenannte sich mit seinem freien Willen für Gott entschieden hat; Gott besiegelt dann mit dem Vollzug der Bekehrung die menschliche Anstrengung. 32 Damit wird aber kein neuer Status des Menschen begründet, denn zwischen dem alten Adam, und dem Christenmenschen eine scharfe Trennungslinie zu ziehen, wäre abstrakt. In beide Verhältnisse ist der Mensch durch Gott hineingestellt. Dies ist durch Schöpfung und Erlösung bedingt und fordert eine „doppelte Sittlichkeit," eine natürliche und eine christliche.33 Die natürliche Sittlichkeit, also das sittliche Handeln des natürlichen Menschen, der durch seine Existenz von seinem Schöpfer zeugt, gleichwohl von ihm nichts wissen will, ist zwar durch die Sünde „widerspruchsvoll geworden," aber auf das wahre Menschsein in Christus hin angelegt. Der natürliche Mensch weiß in seinem tiefsten Innern um das Ideal wahren Menschseins, ist aber außerstande, es zu verwirklichen. 34 Luthardt war der Überzeugung, daß das Christentum nicht nur die einzelnen natürlichen Menschen veredelt, sondern diese mittels ihrer Gesinnung auch veredelnd auf alle natürlichen Verhältnisse einwirken, in die Gott mit der Schöp-

welches man das Wohlgefallen der Gottheit sich erwerben will. Die reine Gnade widerstrebt allzeit dem Menschen. Aber es ist doch ein Suchen Gottes. [...E]s macht doch einen tiefinnerlichen Unterschied zwischen den Menschen, ob einer sich bestimmen läßt, nach Gott zu verlangen oder nicht. Dadurch kommt doch in den Menschen ein thatsächlicher Widerspruch zu seiner der Welt zugekehrten sündigen Willensrichtung." 31 Ders., Kompendium Ethik, 11. 32 Ders., Lehre Willen, 465: „Daß der Mensch sich verneint und fahren läßt, um Gott zu bejahen und zu ergreifen, wie er sich ihm in der Heilsgnade darbietet - das ist der entscheidende sittliche Akt des menschlichen Willens, mit welchem die Gnade der Einwirkung ihre Absicht und ihr Ziel erreicht. Die religiöse psychologische Gestalt dieses sittlichen Aktes ist der Glaube." Luthardts Vorstellung, daß der Mensch sich selbst für Gott entscheiden muß, haben schon Zeitgenossen als Semipelaginanismus kritisiert. RLESKE-BRAUN, Zwei-BereicheLehre, 135. LUTHARDT, Kompendium Ethik, §4.6, 10. 34 Ebd.

194

Teil C: Christoph Ernst Luthardt

fang die Menschen hineingestellt hat. D i e s e „Ordnungen und Gemeinschaften des natürlichen Lebens" - Familie und Staat sind zuvörderst zu nennen - , sind durchaus in ihrer Selbständigkeit und Berechtigung zu sehen, allerdings nur als Pädagogie für das Christentum. 35 Entsprechend lautet Luthardts Grundsatz: „Gratia non tollit sed sanat naturam." 36 Diese Verhältnisbestimmung des Christen zum natürlichen Menschen, die nicht v o n diametralen Gegensätzen ausgeht, sondern die Möglichkeit kontinuierlicher Entwicklung annimmt, lernte Luthardt zuerst auf der Schule kennen, dem Melanchthon-Gymnasium in Nürnberg. 37 In dieser Sichtweise wurde er dann bestärkt während seines Studiums in Erlangen. H A R L E S S vermittelte Luthardt die „Devise," daß „der Christianismus der wahre Humanismus ist." 38 In seinen Erinnerungen berichtet Luthardt zwar, daß er vor seinem Wechsel nach Berlin H A R L E S S nicht gehört habe - und als er nach Erlangen zurückkehrte, war jener schon in Leipzig; er betont jedoch, von dessen Persönlichkeit und Theologie beeindruckt gewesen zu sein. 39 35

Ebd., §63.2, 320f. Ebd., §11, 53, verwendet er auch den Begriff „natürliche Gottesordnung," womit er auf CA 16 (BSLK, 69,11.19) Bezug nimmt. 36 LUTHARDT, Kompendium Ethik, §63.2, 320f. Dies ist die bezeichnende Abwandlung des Thomas von Aquin zugeschriebenen Satzes: Gratia non tollit sed perficit naturam. Bei Luthardt findet sich häufig eine der medizinischen entlehnte Terminologie: Verben und Adjektive wie heilen, lebenskräftig, gesund u.ä. treten in verschiedenen Formen und Zusammensetzungen auf. Diese Begrifflichkeit hat ihre Wurzeln im romantischen Organismusdenken, nimmt aber mit der (Lebens-)Kampf-Metapher auch Motive des Sozialdarwinismus auf. Hier kann dieser Beobachtung nicht weiter nachgegangen werden. 37 Luthardt wurde ab Ostern 1834 besonders durch den Rektor dieses Gymnasiums geprägt, Karl Ludwig Roth. Der ehemalige Schüler besuchte Roth noch als Student. LUTHARDT, Erinnerungen, 37-39, 42-46. Vgl. zu Person und Werk PLANCK. Mehrere sehr freundliche Briefe Roths an seinen ,,Liebste[n] Luthardt" finden sich in dessen Nachlaß: LKAN Bestand Personen 8 (Luthardt) Nr.3, Mappe R: Briefe vom 22. Februar 1846, 19. Oktober 1846, 29. Oktober 1848 und 9. Januar 1853. Als prägenden Lehrer beschreibt Luthardt desweiteren den Altphilologen Karl Friedrich Nägelsbach, bei dem er gelernt habe, daß das Christentum die Erfüllung des Sehnens der Antike sei. LUTHARDT, Erinnerungen, 39-41. Vgl. zu Person und Werk AUTENRIETH. 38 Zit. bei KANTZENBACH, Erlanger Theologie, 127. Eine ähnliche Äußerung zit. BEYSCHLAG, 44 Anm.78. Harleß verwendet bis zur 7. Auflage seiner Ethik den Begriff „Durchdringung," danach den Begriff „ E r f ü l l u n g " für die Bezeichnung des Verhältnisses von Natur und Gnade. Ebd., 45 Anm.79. Vgl. a. GRÜTZMACHER, 450f. 39 LUTHARDT, Erinnerungen, 54f. Nicht nur Harleß' Ethik, sondern auch der Kniebeugungsstreit (vgl. oben Kapitel 2 Anm.15) sicherten ihm die Aufmerksamkeit der fränkischen Protestanten. Dem Studenten, ebd., 58, erschien er wie ein „Kirchenfurst." Diese Bemerkung aus der Erinnerung des reifen Luthardt reflektiert, daß Harleß 1852 zum Präsidenten des protestantischen Oberkonsistoriums in München berufen worden war. Daß Luthardt schon als Kandidat der Theologie Harleß sehr hoch schätzte, geht auch aus seiner Protestantische[n] Erwiederung [sie !], 4f, 12f, hervor: Luthardt ordnet den Lehrer, der am 25. März 1845 nach Bayreuth strafversetzt worden war, in die Tradition lutherischen Märtyrertums ein. In seinen späteren ethischen Werken führt er Harleß auffallend häufig in den Fußnoten an und beschei-

1.2 Konfessionelle Ethik 1.2 Konfessionelle

195

Ethik

Der „wesentliche Ertrag der ethischen Erkenntnis Luthers" ist in den Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche durch MELANCHTHON niedergelegt worden. Sie werden - nach Luthardts Meinung: fälschlicherweise - meist ausschließlich dogmatisch aufgefaßt. 4 0 Dabei sind sie „eine zweite Quelle sittlichen Erkenntnisstoffes" 4 1 neben den evangelischen Berichten v o m vollkommenen Menschen Jesus Christus. Während die katholische Phase für die Geschichte der christlichen Ethik einen Rückschritt bedeutete, hat LUTHER die Grundsätze der neutestamentlichen Ethik erneuert. 42 Luthardts neulutherische Hochschätzung der lutherischen Bekenntnisschriften zeichnet sich dadurch aus, daß er sie einerseits zu einer zweiten, eigenen Erkenntnisquelle neben dem N e u e n Testament macht und die Übereinstimmung von LUTHER und MELANCHTHON betont. 43 Er warnt aber andererseits davor, daß die Kirche „der Knechtschaft menschlicher Autorität, und auch der Luthers" verfällt. 44 D i e Bekenntnisschriften sind nach Luthardt geschichtliche Dokumente. 4 5 Schon vor 1850 kritisierte die Erlanger Zeitschrift nigt dessen Ethik in seinem Kompendium Ethik, 3.Aufl., §11, 59, „gesund und nüchtern und frei von falsch pietistischem Wesen" zu sein. Später muß eine persönliche Beziehung zwischen den beiden Theologen entstanden sein, was etwa daraus erhellt, wie Harleß Luthardt in seinen Briefen anredete. LKAN Bestand Personen 8 (Luthardt), Nr.2, Mappe H: „Mein theurer Freund! [...] Dein getreuer Avharless" (Brief vom 29. Juli 1868), „Mein alter Freund!" (Brief vom 9. Mai 1871), „Mein lieber alter Freund!" (Brief vom 30. Januar 1874). 40 LUTHARDT, Kompendium Ethik, 3.Aufl., §11, 53f, verweist besonders auf CA 6, 12, 20, 16, 17, 23 sowie auf die entsprechenden Partien der Apologie und FC 4, 5, 6, 12. Vgl. a. ders.. Melanchthon, 24-32. Ders. Kompendium Ethik, 3. Aufl. §8b, 25. 42 Ebd., §11,53. Entsprechend a. ders., Ethik Luthers. 43 LUTHARDT, Kompendium Ethik, 3.Aufl., 54f, kritisiert Melanchthon aber zugleich, weil dieser Moralgesetz und Vernunftgesetz identifiziert habe, so daß es keine eigenständige theologische Moral geben kann. Melanchthon habe „die philosophische Moral [...] dem Evangelium so sehr angenähert [...], daß für eine selbständige theologische Moral wenig Raum mehr übrig blieb und so denn auch die folgenden selbständigen Arbeiten über die theologische Moral die Grenze gegen die philosophische wenig scharf einhielten." Ahnlich ders., Melanchthon, 28. 44 Ders., Protestantische Erwiederung [sie !], 1845, 14. 45 Nachdem Luthardt für eine Professur oder ein Extraordinariat in Göttingen vorgeschlagen worden war, fragt der alte Marburger Kollege und Freund, der Kirchengeschichtler Ernst Henke, im Auftrag Dorners an, wie Luthardt es mit dem Bekenntnis halte. LUTHARDT, Aus den Briefen, 3, antwortet am 13. Mai 1855: „Dass ich Lutheraner bin oder zu sein begehre, das bekenne ich gerne. Aber ich bin mir bewusst, nicht bloss trotzdem, sondern eben darum frei zu sein. Darum kann ich auch die Frage, ob ich fortgehende Regeneration und wissenschaftliches Wachstum der Dogmatik oder nur traditionelle Fixirung derselben und mit ihr der Exegese will - am entschiedensten und fröhlichsten beantworten. Oder vielmehr, ich glaube, meiner Kirche schlecht zu dienen, wenn ich nur wiedergäbe, was sie vor 300 Jahren fixiert hat. Das ist mir keine Dogmatik, die nicht frei aus dem fundamentalsten Quell des Christseins

Teil C: Christoph Emst Luthardt

196

für Protestantismus und Kirche, daß die Stephaniten nur sich selbst als bekenntnistreue und deshalb lutherische Kirche verstanden, mit der Begründung, die Bekenntnisse würden sich geschichtlich weiterentwickeln: „Die falsche Exklusivität hingegen tritt da ein, wo man das Bekenntniß unserer Kirche für schlechthin fertig und gegen die Möglichkeit jeder weiteren Fortbildung für abgeschlossen erklärt."46 Nach Luthardts Meinung ist es ausreichend, wenn die Bekenntnisschriften als norma normata Lehrabweichungen ausschließen;47 sie müssen nicht selbst die Lehre normieren. Dies wird deutlich an seinem Votum bezüglich der Formulierung des Religionseides für Religionslehrer und Theologieprofessoren im Königreich Sachsen. Drei Fassungen des Eides standen zur Diskussion auf der ersten sächsischen Landessynode im Jahre 1871, an der Luthardt als Vertreter der Leipziger Theologischen Fakultät teilnahm. Sie unterscheiden sich jeweils in ihrem Verpflichtungsgrad sowie in der Bedeutung, die sie den Bekenntnisschriften zumessen. Die strittigen Formulierungen lauten: Der Hochschullehrer hat sich zu verpflichten, die Bekenntnisschriften „zu berücksichtigen," oder: er hat zu geloben, „das Evangelium von Christo, wie dasselbe in der Heiligen Schrift enthalten und in der Augsburgischen Confession und alsdann in den übrigen Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche bezeugt ist, nach bestem Wissen und Gewissen lauter und rein zu lehren," oder: er hat er zu beschwören, „die reine Lehre der evangelisch-lutherischen Kirche wie sie in der Schrift enthalten, in der ersten ungeänderten Augsburgischen Konfession dargestellt und in den übrigen Bekenntnißschriften unserer Kirche wiederholt ist, lauter und rein zu verkündigen und bei Abweichungen selbst Anzeige bei der Kirchenbehörde zu machen."48 Luthardt stimmt für die vermittelnde Formulierung und nicht für die repristinatorische, die das Festhalten am Wortlaut der Bekenntnisschriften fordert. Schließlich sei der Professoreneid auf die Bekenntnisschriften kein göttliches Gebot. Es müsse Bewegungsraum für die theologische Entfaltung und Durchdringung der Symbole bleiben, und überdies schrecke

heraus geboren ist; und das ist mir keine Bekenntnistreue, die nicht die Sätze und Formeln u.s.w. in den Schmelztigel des Geistes wirft, um sie neu werden zu lassen - mag die Gestalt, in welcher sie daraus hervorgehen, sein, welche sie will. Ich kenne kein Gesetz, als welches in der Person Jesu Christi selbst gegeben ist. Was daraus nicht von selbst hervorgeht, achte ich für Last und Schaden." Zu Person und Werk des Adressaten vgl. ANONYMUS, Henke. 46 Zit. bei BlENER ,131. 47

48

LUTHARDT, christliche

Glaubenslehre,

83-85.

KUNZE, D. Luthardt, 65f. Abdruck der ab 1862 geltenden Gelöbnisformel in R.OENSCH/KLÄN, Nr.74, 248, sowie der ab 1871 geltende ebd., Nr.75, 249. Die Diskussion und Rezeption der neuen Eidesformel in der Öffentlichkeit untersucht HERRMANN, Freikirche, 80-90. Luthardt nahm nicht nur an dieser sondern auch an der folgenden Synode im Jahre 1876 als Abgesandter der Leipziger Fakultät teil; 1881 und 1886 wurde er von den Staatsministem in evangelicis in die Landessynode berufen.

1.2 Konfessionelle Ethik

197

auch die strengste Eidesformel keine unlauteren Schwörer ab.49 Im Unterschied zu S C H M U C K E R denkt Luthardt nicht an die Neuformulierung oder Aktualisierung der Augsburger Konfession, sondern rechnet nur mit der Möglichkeit einer neuen Interpretation. Er hält es überdies fur unmöglich, daß ein Dissens zwischen der Heiligen Schrift und den lutherischen Bekenntnisschriften besteht, da er entsprechend der kirchlichen Tradition der Überzeugung ist, daß die Bekenntnisschriften - um deren Auslegung er sich im einzelnen allerdings nicht in besonderer Weise bemüht hat - die adäquate Wiedergabe der biblischen Wahrheit bieten. Auch diese Grundsätze des Neuluthertums lernte Luthardt in Nürnberg kennen.50 Die Erlanger Theologische Fakultät war zudem vom Geist der fränkischen Erweckungsbewegung bestimmt. Die meisten der Lehrer Luthardts hatten sich schon zu ihren eigenen Studienzeiten in den Dienstagskränzchen Karl von RAUMERS versammelt.51 Hier wurde nicht nur anhand der Lektüre von AuGUSTINs Confessiones über das eigene Leben coram Deo nachgedacht, sondern auch das Bewußtsein, zur lutherischen Kirche zu gehören, besonders gepflegt. Das war die Folge der politischen Lage Frankens: Nach dem Anschluß an Bayern im Jahre 1806 stand man einer altbayerisch-katholischen Majorität gegenüber und litt unter der katholischen Bürokratie. Das führte zur Besinnung auf ,das Eigene'. Zugleich aber war es auch ausreichend, sich auf LUTHER und die Bekenntnisschriften zu berufen; ein Streit um deren rechtes Verständnis wurde in Erlangen nicht geführt. Unter den Bedingungen des Kulturkampfes52 knüpft 49

KUNZE, D. Luthardt, 66. Vgl. a. den Bericht von der spannenden Diskussion auf der ersten sächsischen Landessynode während deren 20. Sitzung am 14. Juni 1871 in: VERHANDLUNGEN, erste Landessynode, 578-612. Diese Diskussion wird aus der Perspektive der sächsischen Freikirche beschrieben von HOCHSTETTER, 418f. 50 Nach KUNZE, D. Luthardt, 8, hat Luthardt „die Achtung vor der Lehre der Kirche" schon auf dem Gymnasium durch seinen Religionslehrer, den späteren Erlanger Systematiker Gottfried Thomasius, kennengelernt. Vgl. zu Person und Werk knapp PROFESSOREN, 81 f. 51 Zum Raumer-Kreis vgl. WEIGELT, 43, 81, 93f, 101. Die Namen deijenigen Studenten, die unter Raumers Anleitung Augustin lasen, sind bislang nicht bekannt. Zur Erweckungsbewegung in Franken vgl. a. KANTZENBACH, Erlanger Theologie, 99-114. Das enge Verhältnis zwischen Raumer und Harleß erhellt etwa aus der Anrede, die der ältere dem jüngeren zollt, LKAN Bestand Personen 81 (Harleß) Nr.13, am 21. März 1864: „Mein theurer alter Freund [...] In alter treuer Liebe, Dein Raumer." Auch Luthardts Freund Hofmann (vgl. unten Anm.62) gehörte zu Raumers Kreis, wo man ihm zur Sündenerkenntnis verhalf. BEYSCHLAG, 20 Anm.17. 52 BESIER, Kulturkampf (Lit.!) mit bes. Berücksichtigung Preußens. Der Kulturkampf richtete sich vor allem gegen die römisch-katholische Kirche. Er hatte jedoch, da die Gesetze für beide Konfessionen galten, starke Auswirkungen auch auf die rechtliche Stellung und öffentliche Bedeutung der protestantischen Kirchen. Zentral ist, daß ein neuer Staatsbegriff, der seinen Mittelpunkt in der Trennung des Staates von der Kirche hat, sich herausbildete. BORNKAMM, Staatsidee; KUPISCH, Staatsmann; MORSEY (Lit.!); kurze Bemerkungen zum Kulturkampf speziell im Königreich Sachsen aus römisch-katholischer Perspektive finden sich bei KISSLING, 418-422. Vgl. a. unten Anm.304.

Teil C: Christoph Ernst Luthardt

198

Luthardt an diese einigende Funktion des Luthertums und der Konfessionsschriften wieder an: ,,[J]e mehr die äußeren Mauern und Stützen der Kirche sinken, um so mehr muß sie sich auf sich selber stellen und in ihrem eigenen Wesen den Halt und die Einheit suchen, derer sie bedarf. Dieß aber ist ihr Glaube, wie er sich in der bekenntnismäßigen Lehre ausspricht."53 Der Rückgriff auf die Bekenntnisschriften ist jetzt deshalb geboten, weil Luthardt die lutherische Kirche im jungen Deutschen Reich von Marginalisierung bedroht sieht.54 Wie die Bekenntnisse in der Gegenwart angemessen verstanden werden können, diskutiert er freilich auch jetzt nicht. In die Auseinandersetzung mit repristinatorischen Lutheranern tritt er ebensowenig ein wie in die mit Vertretern der Union; liberaler Theologie wirft er stereotyp Rationalismus vor und geißelt deren Preisgabe der Bekenntnisschriften. Schon 1845, als Luthardt nach Abschluß des Theologiestudiums zum Zwekke der Vorbereitung auf das Examen zurück zu seinen Eltern nach Nürnberg kam, war er imstande, seine Grundsätze in einem kirchenpolitischen Pamphlet zusammenzufassen, das gegen den „neuprotestantisch" gesinnten Friedrich Wilhelm G H I L L A N Y 5 5 gerichtet war, der das liberale Bürgertum Nürnbergs anführte und eine Reform der lutherischen Kirche anstrebte. In einem Römisch oder deutsch? betitelten Schriftchen hatte G H I L L A N Y behauptet, der lutherische Konfessionalismus in Bayern sei eine Neuauflage des durch die Reformation eigentlich überwundenen Romanismus. Dagegen verlangte er einen aufgeklärten Protestantismus, dessen einziges Bekenntnis das zu allgemeiner christlicher Menschenliebe sein solle.56 Luthardt antwortete G H I L L A N Y in einer anonym publizierten „Erwiederung" [sie !],57 und er war noch im Alter stolz darauf, daß er als einfacher Kandidat der Theologie gegen den angesehenen Gelehrten und Stadtbibliothekar die Prinzipien des lutherischen Konfessionalismus vertreten hatte.58 In polemischem Ton weist er den Liberalen zurecht, er fordere in der Tradition des Rationalismus ein aus der Vernunft zu erweisendes Christentum und stelle sich mit seiner Ablehnung des Bekenntnisses auf die Seite der Feinde

53

LUTHARDT, moderne Weltanschauungen, 203. Ebd., 202. 55 Ders., Erinnerungen., 115f. Zu Person und Werk vgl. WEGELE; PFEIFFER, Ghillany; VALENTIN. Nach der Gesamtdarstellung der Vorgänge während des Vormärz und der Märzrevolution in Nürnberg von ZIMMERMANN, 243, 294, 357f, 383-383, spielte Ghillany damals eine gewisse Rolle, indem er eine Adresse an den König mit 719 Unterschriften initiierte, in der für die Reform des „altlutherischen, die Menschenwürde so tief verletzenden Glaubens" geworben wurde. Ghillany war aber beileibe kein Demokrat; deshalb wurde er als „Vorsitzender des Vereins für Prügelfreiheit und Bedientenordnung" verhöhnt. Tatsächlich war er Vorsitzender des ,Vereines für gesellschaftliche Freiheit und Ordnung'. 54

56

LUTHARDT, Erinnerungen,

57

Ders., Protestantische Erwiederung [sie !]. Ders., Erinnerungen, 116.

58

116.

1.3 Apologetische Ethik

199

der Religion.59 Wie diese Erstlingsarbeit zeigen auch alle späteren Arbeiten Luthardts eine Kampfhaltung, wobei der ,Feind' verschieden benannt werden kann: Liberalismus, Unionismus, Separatismus, Pietismus oder Katholizismus. Mit den Schriften LUTHERS verfährt Luthardt also anders als mit der Heiligen Schrift. Er bezieht dessen ethische Weisungen und die der Bekenntnisschriften direkt auf seine Gegenwart. Die Bibel wird in ethischer Hinsicht,mittelbar', LUTHER dagegen ,unmittelbar' gelesen. Zwar weiß Luthardt, daß er eine bestimmte Form des Luthertums im Unterschied zu anderen vertritt, etwa der sächsischen und der missourischen Freikirche oder den Vertretern der kirchlichen Union. Er macht aber keine Anstrengungen, seine Anschauungen durch exegetisch-philologische oder systematische Darlegungen zu erhärten. Selbst seine zahlreichen Schriften zur Ethik des Reformators zeigen nirgends eine intensive theologisch-historische Auseinandersetzung mit einem anderen Lutherverständnis. Der Grund für diesen Umgang mit LUTHER ist in Luthardts Auffassung des Luthertums zu suchen. Indem er sich selbst als Vertreter der rechten lutherischen Kirche in der Gegenwart weiß, spricht er aus der Tradition heraus mit der Autorität seiner Kirche. Seiner Meinung nach besteht noch eine größere Zahl bekenntnisgebundener lutherischer Landeskirchen; diese müssen gegen unionistische wie gegen freikirchliche Tendenzen gesichert werden. Dazu reicht es völlig aus, auf LUTHER und die Bekenntnisschriften, wie sie in ,intakten' Landeskirchen in Geltung stehen, zu verweisen.

1.3 Apologetische

Ethik

Luthardts ethische Theorie gipfelt in der Apologie des Luthertums. Wenn das Luthertum als die höhere „sittliche Macht des öffentlichen und des einzelnen Lebens" erwiesen werden kann, dann ist das der schlagende Beweis seiner Überlegenheit. 60 Der höhere Wert der lutherischen „Weltanschauung"61 muß unter den spezifischen Bedingungen der Gegenwart nicht philosophischvernünftig oder theologisch erwiesen werden, sondern geschichtlich-praktisch durch den Aufweis der Überlegenheit der lutherisch angeleiteten Lebensweise über die modern-natürliche in Vergangenheit und Gegenwart. Entsprechend weisen Luthardts apologetisch-volkstümliche Vorträge ebenso wie seine wissen-

59

Ders., Protestantische Erwiederung [sie !], 12f. Auch in ders., christliche Glaubenslehre, 116-119, bringt er die Überzeugung zum Ausdruck, daß Offenbarung und Bekenntnis zusammengehören, daß wer hier zweifelt, die der menschlichen Vernunft gezogenen Grenzen überschreitet. 60 LUTHARDT, Vorträge, V. 61 Vgl. LUTHARDTS Titelbildung: moderne Weltanschauungen.

200

Teil C: Christoph Emst Luthardt

schaftlichen Veröffentlichungen nicht nur einen polemischen Ton 6 2 wider Katholizismus und Calvinismus, 6 3 sondern auch wider Rationalismus, Sozialismus, Materialismus und Atheismus auf. Daß die Apologie des Luthertums auf dem Feld der Ethik und nicht dem der Dogmatik betrieben werden muß, hat nach Luthardt seinen Grund in der Denkungsart der Gegenwart. Weil nämlich die Menschen der Moderne dem kirchlichen D o g m a „kühl gegenüberstehen," 64 wird der sittliche Wandel der Lutheraner zu einem „ B e w e i s des Lebens und der That" für die Wahrheit des Luthertums. 65 In seiner Autobiographie aus dem Jahre 1858 schreibt Luthardt, daß ihm nach der Rückkehr aus Berlin nach Erlangen, also im Wintersemester 1843/44, die spätere Lebensaufgabe als Apologet 6 6 des Christentums in seiner lutherischen Gestalt erstmals klarer vor A u g e n trat.67 Schon 1845 setzt Luthardt diese Grundeinsicht u m in seinem schon erwähnten kirchenpolitischen Pamphlet wider G H I L L A N Y . Liberale Kritik an der lutherischen Kirche würde sofort verstummen, wenn der Kritiker „mehr lebendiges und thätiges Christenthum in der Gemeinde" sähe. 68 Später versuchte Luthardt

62

Nach Luthardts Lehrer und Freund HOFMANN, Apologetik, 336, sind Apologetik und Polemik sind zwei eng zusammengehörende Teile der Praktischen Theologie; es geht um die wissenschaftlich fundierte Vertretung der lutherischen Kirche gegen Angriffe von innen und außen. Während aber die Apologetik mehr das Christentum gegen die Angriffe anderer Religionen oder Weltanschauungen verteidigt, legt die Polemik dar, „wie die Kirche des schriftgemäßen Bekenntnisses als die Kirche behauptet wird." Zu Person und Werk vgl. BEHR; BEYSCHLAG, 5 8 - 9 2 ; HÜBNER; STECK, Hofmann.

Das enge Verhältnis von Hofinann und

Luthardt ist im Briefwechsel vielfaltig bezeugt. LKAN Bestand Personen 8 (Luthardt), Nr.2, Mappe H. 3 Zur Kritik an Romanismus und reformiertem Protestantismus vgl. zusammenfassend LUTHARDT, Apologetische Vorträge Heilswahrheiten, 121-129, und ders., christliche Glaubenslehre, 57-68. Vgl. a. unten Anm.l 19. 64 Ders., Vorträge, V (Vorwort, datiert: 25. Juni 1872). Die Vorträge wurden im Winter 1872. also wahrscheinlich zwischen Januar und März, in Leipzig gehalten. Ebd. LUTHARDT, Erinnerungen, 61, wurde nach seinem eigenen Zeugnis zu diesen Gedanken über die apologetische Funktion christlichen Lebenswandels durch den Erlanger Philosophen und Theologen Emil August von Schaden angeregt. Dieser konfrontierte ihn erstmals mit ,,ein[em] umfassende[n] System der Weltanschauung, [...] welches zu einer allseitigen Apologie des Christenthums werden sollte." Ebd., 71, verrät er seinen Lesern, daß er von Schadens „großes Schreibzeug von Holz" geerbt hat und es noch immer benutzt „zur steten Erinnerung an den reichbegabten Geist und an die bleibenden Einwirkungen, die ich als Student von ihm erfahren" habe. Zu Person und Werk vgl. die von dessen Schüler Thiersch hg. Biographie SCHADENS. 66 Luthardt gilt heute als herausragender Vertreter der Apologetik im 19. Jh. STECK, Apologetik, 418; PÖHLMANN. Zit. n a c h KUNZE, D. Luthardt, 68

19.

LUTHARDT, Protestantische Erwiederung [sie !], 22. Hier wird deutlich, daß Glaube und Gewißheit nach Luthardt nicht auf intellektueller Überzeugung, sondern auf „Erfahrung" beruhen. Ders., moderne Weltanschauungen, Ulf (Vorwort). Mit dem Begriff Erfahrung ist zugleich ein Grundthema der Erlanger Theologie angesprochen. JELKE, 20, nennt als Grund-

2. Staat

201

nachzuweisen, daß allein die Rückbesinnung auf das recht verstandene Luthertum sämtliche Probleme des deutschen Kaiserreichs lösen kann. Es ermögliche die Abwehr der Angriffe sowohl der Arbeiterschaft als auch der Katholiken, weil es die rechte Gesinnung lehre. Diese These versucht Luthardt einerseits geschichtlich zu beweisen, indem er den segensreichen Einfluß der lutherischen Ethik in der Geschichte Deutschlands herausstellt (etwa die Niederschlagung des Bauernaufstandes und die aus der lutherischen Frömmigkeit erwachsene Standhafligkeit des deutschen Volkes im Dreißigjährigen Krieg), andererseits prophetisch-eschatologisch, indem er dem jungen Deutschen Reich den Untergang androht, wenn es sich nicht neuerlich auf seine lutherische Tradition besinnt.69 Das Luthertum ist „wie geschichtlich so sachlich die Macht und der Segen unsres gesammten nationalen Lebens" 70 behauptet Luthardt und schließt damit einen Bogen zu der im Bürgertum verbreiteten Lutherverherrlichung. 71

2. Staat Luthardt betont ausdrücklich, daß das politische Handeln des Christen sich in den Bahnen des Rechts zu vollziehen hat: „Das äußere Thun selbst ist nicht christlich und nicht unchristlich, sondern eben das rechtliche Thun, wie es die Existenz des Staates mit sich bringt." 72 Das scheint die Formulierung einer durchaus befreienden Maxime zu sein, die einerseits den Bereich des Politischen entlastet vom Anspruch, nach speziell christlichen Gesichtspunkten organisiert zu sein, indem der Bereich des Staates als derjenige des Rechts beschrieben wird. Christi Wort zielt auf die „persönliche Stellung des Herzens" und „nicht auf das äußere berufsmäßige Thun im Staatsleben." 73 Damit aber drängt sich die Frage auf, ob der Christ als Christ überhaupt keine christlichen Kriterien zur Beurteilung des Staates und seines Rechts hat, eine Frage, die traditionellerweise mit dem Begriff Gewissen verbunden wird. Schließlich hatte zumindest ein Teil der Christen, nämlich die Männer aus den höheren gesellschaftlichen Schichten, durchaus die Möglichkeit, innerhalb der vom geltenden Recht vorgeschriebenen Grenzen einen politischen Willen bei Wahlen zum Ausdruck zu bringen. Luthardts Konzeption einer Gesinnungsethik birgt also die Gefahr, daß

motive der Erlanger Theologie den „subjektiven Ausgangspunkt" und die „streng religiöse Gesamtanschauung." Ergänzend vgl. TRACK, 122f. 69 LUTHARDT, Vorträge, 198 Anm.l. 70 Ebd., IV (Vorwort). 71 LEHMANN, Nationalheld·, TÜMPEL. 72 LUTHARDT, Vortrüge, 136. 73 Ebd..

Teil C: Christoph Ernst Luthardt

202

Christen das Handeln in der Welt vernachlässigen. Damit wäre aber der Staat möglicherweise seiner Eigengesetzlichkeit überlassen.

2.1 Geschichtliche

Schöpfungsordnung

Die Formulierung dieses Zwischentitels scheint paradox, insofern Schöpfungsordnung etwas bleibend Gültiges anzudeuten, das Adjektiv geschichtlich' dagegen auf Wandel und Entwicklung zu zielen scheint. Die Formel erklärt sich aus Luthardts organologischem Denken.74 Er ist der Meinung, daß Gott keine über Familie und Kirche hinausgehende Gesellungsform der Menschen mit der Schöpfung begründet hat, und daß der Staat nicht wie die Familie natürlich, sondern geschichtlich geworden ist. Geschichte und Schöpfung verhalten sich nicht als einander ausschließende Gegensätze zueinander. Denn der Staat entwickelte sich aus Bünden von Familien heraus zu einer Vielzahl von nationalen Staaten, deren jeweils besonderer Charakter durch die jeweiligen natürlichen Besonderheiten seines Staatsgebietes bestimmt wird. Deshalb kann Luthardt den Staat wie die Familie einen „Gemeinschaftskreis des natürlichen Lebens"75 beziehungsweise „eine göttliche Ordnung"76 nennen, und er kann auch davon sprechen, daß der Staat eine „Schöpfungsordnung Gottes,"77 eine „natürliche Gottesordnung"78 und „göttliche Stiftung"79 ist. Luthardt versucht mit dieser schillernden Terminologie zwei Gedanken miteinander zu verbinden: die Ein-

74

Vgl. zum Organismus-Gedanken bei den Erlangern BÄRCZAY, 136,140-142. LUTHARDT, Kompendium Ethik, §63, 292. Allerdings ist nach dems., Ethik Luthers, 95, die obrigkeitliche Gewalt „von der älterlichen [sie !] spezifisch unterschieden." Die Obrigkeit ist göttlich, aber nicht christlich. Ebd., 101. 76 Ders., Protestantismus, 225. 77 Ders., Kompendium Ethik, §78.5, 339. Dieser Begriff fällt auch in ders., christliche Glaubenslehre, 504, und ders., Geschichte Ethik, Bd.2, 230, sowie ders., Ethik Luthers, 76. Luthardt dürfte zu seiner Verwendung des Begriffs angeregt worden sein durch die Formulierung CA 16 (BSLK, 67,19), daß die Obrigkeit eine von Gott geschaffene Ordnung ist. Vgl. LAU .Schöpfungsordnung·, VAN TILL, 107b. LUTHARDT, Kompendium Ethik, §11, 53. Zu Gottesordnung vgl. CA 16 (BSLK, 69,11). LUTHARDT, Ethik Luthers, 87f („drei Gottesstifte", synonym mit „Stände" gebraucht). Ebd., 94: „Die beiden andern [neben der Kirche, A D D ] großen Gemeinschaftskreise der menschlichen Gesellschaft, Haus und Staat, in denen der Christ steht, gehören dem Gebiete des natürlichen Lebens an. Hierüber hat das Evangelium keine Anordnungen zu treffen. Denn das Evangelium hat es mit dem geistlichen Leben zu thun. Das natürliche Leben unterliegt der Vernunft, als der Quelle alles natürlichen Rechts." Es ist aber, wie Luthardt ebd., 95, feststellt, „nicht eigentlich profan," „[d]enn Gott gebraucht seine Kreaturen wie ,Larven', hinter denen er selbst verborgen ist." Ähnlich ders., sittliche Würdigung, 26. Zur Dreiständelehre vgl. unten Teil D A n m . 139. 75

2.1 Geschichtliche Schöpfungsordnung

203

sieht in eine gewisse Selbständigkeit und besondere Würde des Staates gegenüber der Familie und die Einsicht in die geschichtliche Entwicklung des Staates und seines Begriffes. Die Betonung der Selbständigkeit und Würde des Staates ist ihm in doppelter Hinsicht wichtig: Sie dient einerseits der Zurückweisung der Ansprüche des Ultramontanismus, dem Luthardt theokratische Neigungen zuschreibt, weil er die Unterwerfung des Staats unter die Kirche fordert und dem Staat Existenzberechtigung allein aufgrund „seines äußeren Dienstverhältnisses zur Kirche" zugesteht. 80 Sie dient ihm andererseits zur Forderung der Anerkennung kirchlicher Selbständigkeit seitens des Staates, die er deshalb nicht für erschreckend hält, weil „die Anerkennung der Selbstständigkeit [sie !] der beiden Lebensgebiete das politische Prinzip des Protestantismus ist."81 Luthardt sah schon vom Jahre 1848 an Kirche und Staat als zwei voneinander unabhängige „Gotteswelten." 82 Das erhellt aus einem nur mit seinen Initialen gekennzeichneten Aufsatz in der Zeitschrift für Protestantismus und Kirche, in dem er vom Paulskirchenparlament fordert, die „Vollberechtigung der selbstständigen [sie !] Existenz und selbstständiger Bewegung des kirchlichen Lebens" anzuerkennen. 83 Entsprechend beschreibt er noch im Jahre 1871 ,,[d]as politische Prinzip des Lutherthums" als die Anerkennung von ,,volle[r] Freiheit und Selbstbestimmung" der Kirche wie des Staates. Beide sollen nicht „subordinirt, sondern koordinirt zueinander [stehen]."84 Damit will er aber nicht der Trennung von Staat und Kirche, wie sie etwa in den Vereinigten Staaten von Amerika realisiert ist, das Wort reden, weil eine solche „der Geschichte und der Natur der Dinge" widerspräche. 85 Sie würde das deutsche Luthertum in eine Vielzahl von protestantischen Sekten zerfallen lassen und dem gesellschaftlichen Vordringen des Katholizismus keinen Riegel vorschieben können. Auch Luthardts Forderung der Anerkennung der Eigenständigkeit des Staates wie der Kirche erklärt sich nicht zuletzt aus seiner politischen wie theologischen Sozialisation in Franken. Die Integration der fränkischen Lutheraner in den bayerischen Staat gelang nach einigen provokanten Entscheidungen des Ministers Carl von ABEL86 nur schwer, weil dieser aufgrund seiner Überzeu80

LUTHARDT, Protestantismus, 222. Ebd., 229. Vgl. a. ders., Vorträge, 133; BÄRCZAY, 156-158. 82 LUTHARDT, Kompendium Ethik, §78.5, 340. 83 Ders., Protestantismus, 230f. 84 Ovis., politische Prinzip, 277. 85 Ebd., 278. Die Lage der nordamerikanischen lutherischen Kirche beschreibt LUTHARDT, ebd., 279f, als „knechtische" gegenüber dem Staat, insofern sie moralisch in ihn hineingewachsen sei, ohne dies näher auszuführen. Das habe dazu geführt, daß auf allen Kanzeln der Sezessionskrieg unter dem Vorwand der Sklavereifrage gerechtfertigt worden sei, obwohl tatsächlich der Norden nur das politische und ökonomische Übergewicht des Südens habe brechen wollen. Vgl. dazu Teil Β Abschnitt 3.3. 86 SPINDLER, 197-213. Vgl. zur antibayerischen Stimmung der Protestanten in Franken vor 1850 ECKE, 4 2 - 5 8 . 81

204

Teil C: Christoph Ernst Luthardt

gung, daß der Protestantismus einen K e i m der Zersetzung in sich trage, eine dezidiert prokatholische Politik betrieb. Viele Lutheraner fühlten sich schikaniert und zur Opposition gegen den bayerischen Staat herausgefordert. 87 D i e „an Haß grenzende Abneigung" 8 8 der bayerischen Protestanten gegenüber dem Minister machte sich insbesondere am Kniebeugungsstreit 8 9 fest. H A R L E S S ' Versetzung nach Bayreuth wurde v o n den fränkischen Protestanten als Demütigung empfunden. A u c h nach dessen Wechsel nach Leipzig war es für sie „selbstverständlich, auf Seite der Opposition zu stehen; es war eine Ehrensache, für liberal zu gelten. Während der Reaktion, die auf die Unruhen v o n 1848 und 1849 folgte, war es nicht anders." 90 Bezeichnenderweise ist bekannt, daß Luthardt schon während der Ausbildungsjahre am Münchner Predigerseminar, 91 in der gespannten Atmosphäre des Vormärz und der ersten Jahre nach der Revolution, an Landtagsverhandlungen in München teilnahm. 92 In den vierziger Jahren sei ihm aufgegangen, so schreibt er selbst, „wie heilsam und nötig eine journalistische Vertretung eines gesunden

„Für uns Protestanten insbesondere hatte die Erinnerung an die Thätigkeit der bayerischen Fürsten im Dienste der Gegenreformation nichts anmutendes, und das seit 1837 herrschende Abel'sche Regiment hatte sich uns durch seinen Absolutismus und seine Feindseligkeit gegen unsere Kirche verhaßt gemacht." Mit diesen Worten beschreibt Christoph Emsts jüngerer Bruder, August Emil LUTHARDT, in seiner Autobiographie Mein Werden, 27, die bayerischen Verhältnisse. August Emil, 15 Monate jünger als Christoph Ernst, war königlich bayerischer Regierungsdirektor und als konservativer Publizist Mitbegründer der konservativen Partei in Bayern. HARLESS, Bruchstücke, T.2, 67, hat freilich eine andere Erinnerung an die Lage der Protestanten unter einem katholischen König. ,,[I]ch [sage] noch heute, daß wir Lutheraner in Bayern glücklicher und geschirmter uns befinden, als unsere Glaubensgenossen in Preußen." Harleß bezieht sich mit dieser Äußerung auf die relative Selbständigkeit der lutherischen Kirche in Bayern und die Haltung des Königs: Das Protestantenedikt von 1818 proklamierte zwar das Kirchenregiment als staatliche Aufgabe, der katholische König überließ aber die Ausübung des Summepiskopats dem dem Staatsministerium des Innern untergeordneten Oberkonsistorium. SIMON, konfessionelle Entwicklung·, PFEIFFER, Bayern, 373, 376f. 88

LUTHARDT, Mein Werden, 40. Vgl. oben Kapitel 2, Anm. 15. 90 LUTHARDT, Mein Werden, 253. Vgl. zur Geschichte des bayerischen Protestantismus nach 1848 MAGEN. 91 Das 1834 eingerichtete Predigerseminar in München diente dem Oberkonsistorium dazu, eine konfessionell ausgerichtete Pfarrerelite heranzuziehen. Der sogenannte Agendensturm von 1856 offenbart einen Dissens zwischen dem liberalen lutherischen Bürgertum und dem Konfessionalismus des Oberkonsistoriums. PFEIFFER, Bayern, 378, und MAGEN, 140— 142. LUTHARDT, Erinnerungen, 122, besuchte das Predigerseminar ab Anfang 1846; danach lebte er bis 1851 als Gymnasiallehrer in München. 92 Ders., Erinnerungen, 127. Zu den Debatten jener Jahre vgl. KLRZL, 62-81 (zu Protestantischen Generalsynoden und den Diskussionen und Ereignissen im Jahr 1848). Derjenige Protestant, der sich bei den Verhandlungen am meisten hervortat, war der Erlanger Kirchenrechtsprofessor Scheurl. LUTHARDT, Erinnerungen, 136, verfolgte nach eigenem Zeugnis auch die Verhandlungen der Paulskirche „mit größter Theilnahme." 89

2.1 Geschichtliche Schöpfungsordnung

205

Konservativismus sein würde." 93 Bei dem jungen Luthardt verband sich also wie bei dem Gros der bayerischen Protestanten im Vormärz politisch gemäßigtliberales - das er im Rückblick als gesund-konservatives bezeichnete - mit kirchlich-konfessionellem Denken. 94 Er lieferte als Münchner Gymnasialprofessor 1848 für eine in Bremen erscheinende liberale Zeitung, „weisheitsvolle Betrachtungen über politische Ereignisse wie über den Rücktritt König LUDWIGS I. von der Regierung" 95 und war der Meinung, daß „der Liberalismus Wahrheiten, die man ihm gerne danken wird" vertritt, nämlich einzelne Grundsätze, die „eine auf das politische Gebiet gemachte Uebertragung des von der Reformation ausgesprochenen Grundsatzes des kirchlichen Rechts der Gemeinde" sind.96 Zugleich macht Luthardt aber das „göttliche Recht der Obrigkeit" 97 gegen die Ansprüche der Liberalen geltend. In diesen gedanklichen Spagat wurde er hineingedrängt durch Vorwürfe von katholischer Seite, das Luthertum habe den Geist der Revolution befördert, indem es die mittelalterliche Einheitskultur zerbrach. 98 Luthardt heftet im Gegenzug dem Katholizismus das Kainsmal des Revolutionären an; schließlich seien die Hauptvertreter der Lehre von Naturrecht und Gesellschaftsvertrag Katholiken gewesen, und die Revolution von 1789 habe sich gerade im katholischen Frankreich ereignet.99 Wenn Luthardt imstande ist, den Staat gewissermaßen' als göttliche Schöpfungsordnung darzustellen, dann können Lutheraner nicht Feinde des Staates sein. Deshalb stellt Luthardt mit LUTHER fest: „Der Staat ist an sich göttliche Ordnung." 100 Damit meint der damalige Erlanger Kandidat der Forderung nach Freiheit für Kirche und Staat Ge-

93

Ebd., 135.

94

BEHR, 2 8 6 f .

Q