LSBTIQ* und Alter(n): Ein Lehrbuch für Pflege und Soziale Arbeit [1 ed.] 9783666702723, 9783525702727

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LSBTIQ* und Alter(n): Ein Lehrbuch für Pflege und Soziale Arbeit [1 ed.]
 9783666702723, 9783525702727

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Tamara-Louise Zeyen / Ralf Lottmann /  Regina Brunnett / Mechthild Kiegelmann (Hg.)

LSBTIQ* und Alter(n) Ein Lehrbuch für Pflege und Soziale Arbeit

Tamara-Louise Zeyen/Ralf Lottmann/ Regina Brunnett/Mechthild Kiegelmann (Hg.)

LSBTIQ* und Alter(n) Ein Lehrbuch für Pflege und Soziale Arbeit

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © bittedankeschön – Adobe Stock Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-70272-3

Inhalt

1 Einleitung Tamara-Louise Zeyen, Ralf Lottmann, Regina Brunnett und Mechthild Kiegelmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2 Grundlagenkapitel zu verschiedenen Sichtweisen 2.1 LSBTIQ* und Alter(n) aus psychologischer Sicht Dirk Kranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.2 LSBTIQ* und Alter(n) aus pflegewissenschaftlicher Sicht Heiko Gerlach und Markus Schupp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.3 LSBTIQ* und Alter(n) aus soziologischer Sicht Lea Schütze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.4 LSBTIQ* und Alter(n) aus sozialarbeiterischer Sicht Ralf Lottmann und Tamara-Louise Zeyen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.5 Intersektionale Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.5.1 Intersektionalität, LSBTIQ* und Alter(n) Christine Riegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.5.2 Migration und LSBTIQ* in der Altenhilfe María do Mar Castro Varela . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.5.3 Behinderung, LSBTIQ* und Alter(n) Heike Raab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .63 2.5.4 Altersarmut bei LSBTIQ* Regina Brunnett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.5.5 Gender und Generationen Mechthild Kiegelmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2.6 Altersbilder Claudia Krell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

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Inhalt

3  Vielfalt in der Lehre: Materialien zu LSBTIQ* und Alter(n) für Pflege und Soziale Arbeit 3.1 Lesbisch und Alter(n) Claudia Krell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.2 Schwul und Alter(n) Klaus Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.3 Bisexuell und Alter(n) Rebecca L. Jones und Ralf Lottmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.4 Trans* und Alter(n) Arn Sauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.5 Inter* und Alter(n) Friederike Reuter und Regina Brunnett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.6 Queer und Alter(n) Tamara-Louise Zeyen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4 Anwendung der Thematik 4.1 Perspektiven und Praxisbeispiele aus den Communitys 4.1.1 Einführung der Praxisbeispiele Tamara-Louise Zeyen, Ralf Lottmann, Regina Brunnett und Mechthild Kiegelmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4.1.2 Das rubicon in Köln Carolina Brauckmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4.1.3 RuT Berlin – Offene Initiative Lesbischer Frauen e. V. Joanna Czapska . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4.1.4 TransInterQueer (TrIQ) e. V. Nora Eckert und Max Roetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 4.1.5 Intersexuelle Menschen e. V., Bundesverband Lucie Veith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 4.1.6 BiBerlin e. V. Paula Balov, Madeline Seel und Thilo Wetzel . . . . . . . . . . . . 161 4.1.7 Lebensstile, Sexualität und Umgang mit HIV/Aids im Alter aus der ländlichen Perspektive – Beispiele aus der Arbeit der Aidshilfe Holger Kleinert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 4.1.8 Herausforderungen christlicher Pflegeeinrichtungen Barbara Weigl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Inhalt

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4.2 Wohn- und Pflegeprojekte von und für LSBTIQ*-Senior*innen im internationalen Vergleich Ralf Lottmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 5  Wissen über Problemlagen von LSBTIQ*-Senior*innen für die Pflege und Soziale Arbeit Regina Brunnett, Tamara-Louise Zeyen, Ralf Lottmann und Mechthild Kiegelmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 6 Anhang Lösungen zu den Fallbeispielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Autor*innenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

Einleitung Tamara-Louise Zeyen, Ralf Lottmann, Regina Brunnett und Mechthild Kiegelmann

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Tamara-Louise Zeyen, Ralf Lottmann, Regina Brunnett und Mechthild Kiegelmann

Hintergrund / Lehrbuch soll konkrete Unterstützung bei der Lehrpraxis bieten

Die Idee für das vorliegende Lehrbuch entstand im September 2017, als wir Herausgeber*innen uns auf der Fachtagung »Heterogenität des Alter(n)s« der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) erstmals kennenlernten und unser gemeinsames Interesse an der Thematik LSBTIQ* und Alter(n) spontan zur Sprache brachten. Wir diskutierten Erfahrungen mit dem Thema in der Lehre. Die Abkürzung LSBTIQ* steht für lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, inter*, queere und weitere Personen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und Geschlechtern. Wie LSBTIQ*-Senior*innen altern und wie sie durch Institutionen der Altenhilfe unterstützt werden können, rückte im Zuge des gesellschaftlichen Wandels der letzten Jahrzehnte zunehmend in die öffentliche Aufmerksamkeit. In den letzten Jahren sind einige Studien und Expertisen zu den Bedarfen und Anliegen von LSBTIQ* im Alter erschienen, verschiedene Träger* der Altenhilfe zeigen sich interessiert, LSBTIQ*-Senior*innen als Zielgruppe anzusprechen; es werden vor allem in den urbanen Metropolen nach und nach spezifische Angebote für einzelne LSBTIQ*-Gruppen initiiert. Um dieses Wissen für die Altenhilfe und damit für die LSBTIQ*-Senior*innen nutzbar zu machen, beschlossen wir, gemeinsam ein Lehrbuch zu dem Thema zu konzipieren und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht vorzuschlagen. Wir arbeiten und leben quer durch Deutschland verteilt – die Gewissheit der Relevanz des Lehrbuchs ermutigte uns aber, an unserem Ziel festzuhalten: ein Lehrbuch zu LSBTIQ* im Alter(n) und für die Pflege sowie Soziale Arbeit zu erstellen. Zudem gab es in dieser Zeit ermutigende neue rechtliche Rahmenbedingungen im Bereich der Pflege, die dieses Lehrbuch aufgreift. So wurden im Rahmen der Pflegeberufereform, die u. a. eine generalisierte Ausbildung der Pflegeberufe beinhaltet, Rahmenpläne erarbeitet, die die Lebenswelt von zu Pflegenden erstmals systematisch einbezieht (siehe Rahmenpläne der Fachkommission nach § 53 Pflegeberufegesetz (PflBG). Nach »CE 09« des Rahmenlehrplans sollen »Menschen in der Lebensgestaltung lebensweltorientiert [unterstützt werden, R. L.]« (Fachkommission nach § 53 PflBG 2019, S. 181 ff.). Auszubildende der Pflege sollen »in ihr Pflegehandeln lebensweltorientierte Angebote zur Auseinandersetzung mit und Bewältigung von Pflegebedürftigkeit und ihren Folgen [integrieren, R. L.]« (Fachkommission nach § 53 PflBG, S. 42). Der Rahmenlehrplan nennt hier erste Beispiele, die um weitere – vielfältige – ergänzt werden sollten. Die Veränderungen im Rahmen der Pflegeberufereform zeigen beispielhaft, dass in der professionellen Ausbildung des Pflegepersonals gesellschaft-

Einleitung

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liche Realitäten anerkannt und Neuausrichtungen anvisiert werden sollen. Damit ist der Weg offen, um in der Altenhilfepraxis neue Wege zu gehen, die sich dafür eignen, die Lebens- und Pflegequalität von LSBTIQ*-Senior*innen aktiv zu fördern. Mit der hervorgehobenen Rolle der Sozialen Arbeit im Titel des Lehrbuches und dessen grundsätzlich interdisziplinärer Ausrichtung fokussieren wir eine individuelle und bedarfsgerechte sowie menschenrechtsorientierte Geragogik und Altenhilfe für alle Menschen.

/ Lehrbuch fokussiert ­bedarfsund menschenrechtsorientierte Ausrichtung der Altenhilfe

Zielgruppen und Zielsetzung Vielfältige Sichtweisen auf Alter(n) und LSBTIQ* prägen das Lehrbuch. Das Lehrbuch soll Lehrende, Studierende und Auszubildende dabei unterstützen, Lebenswelten und Bedarfe älterer LSBTIQ*-Senior*innen kennenzulernen und Altersdiskriminierung in den Communitys sowie Diskriminierung von LSBTIQ-Senior*innen in den vielfältigen Orten sozialer, auch gesundheitsbezogener Praxis aktiv entgegenzuwirken. Als Leser*innen sind Professionelle in den Pflegeberufen, der Gerontologie, der Sozialen Arbeit und Pflegewissenschaft anvisiert. Das Buch richtet sich zudem explizit an Praktiker*innen der Pflege, der Sozialen Arbeit, der Geragogik sowie an qualifizierende pädagogische Personen (Hochschullehrende, Ausbilder*innen, Fortbilder*innen). Dieses Lehrbuch umfasst verschiedene Perspektiven auf das Alter(n) bei den unterschiedlichen LSBTIQ*-Gruppen: Über wissenschaftliche Sichtweisen auf Alter(n) und damit verbundene intersektionale Themen (Religion, Armut, Generationen, Einschränkungen) hinausgehend, legen wir besonderen Wert auf Perspektiven aus den Communitys und Hinweise auf Praxiseinrichtungen sowie bestehende Angebote von und für ältere LSBTIQ*-Gruppen. Der praxisbezogene Einsatz des Lehrbuchs in Hochschullehre, Aus-, Fortund Weiterbildung wird durch Originalzitate und Fallbeispiele, überwiegend aus Interviews oder der praktischen Arbeit mit älteren LSBTIQ*, unterstützt. Mit der didaktischen Aufbereitung der Fallbeispiele und dem Angebot von zusätzlichen Onlinematerialien, das für Lehrveranstaltungen nutzbare Übungsaufgaben enthält, stellen wir mit den Lebenswelten und Erfahrungen älterer LSBTIQ* anwendungsbezogene Möglichkeiten des Lehrens und Lernens auf verschiedenen Ebenen zur Verfügung. Die Fallbeispiele sind in der Regel Interviews entnommen oder sie wurden auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen oder Fachwissen als typisch konstruiert. Alle personenbezogenen Angaben wurden anonymisiert. Die praxisorientierte Gliederung der Beiträge lenkt den Fokus auf professionelles Handeln. Literaturhinweise am

/ Zielgruppen: Praktiker*innen, Lehrende in Ausbildung und Hochschule

/ Verschiedene Perspektiven auf das Alter(n)

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/ Flexible Nutzung möglich

Tamara-Louise Zeyen, Ralf Lottmann, Regina Brunnett und Mechthild Kiegelmann

Ende eines jeden Kapitels zeigen Möglichkeiten für vertiefte weiterführende Lektüre auf. Ein Glossar unterstützt beim Erlernen neuer Begriffe. Unter den Onlinematerialien finden sich Adressen zu Projekten, Initiativen, Filmen und Anlaufstellen für die unterschiedlichen LSBTIQ*-Gruppen. Das Lehrbuch kann somit flexibel und vielfältig genutzt werden, für einen Ein- oder Überblick, aber auch für vertiefende Auseinandersetzungen mit professionellem Handeln in den verschiedenen fachbezogenen Arbeitsfeldern. Damit ist unser Ziel, das Thema LGBTIQ* und Alter(n) aus vielfältigen Perspektiven zu beleuchten und über konkrete Beispiele aus den Lebenswelten für Lehrende und Lernende auf verschiedenen Lernebenen zugänglich zu machen – gleich, ob sie schon oder noch keine Erfahrungen mit LSBTIQ* sammeln durften. Lernprozesse

/ Eigene Erkenntnisse im Rahmen der Erstellung des Lehrbuchs

Das Gelingen des Lehrbuchs ist dem hohen Engagement aller beteiligten Autor*innen zu verdanken. Viele Themenstellungen im Kontext der Lebenswelten von älteren LSBTIQ*-Gruppen werden häufig wenig beachtet, Forschungsergebnisse und spezialisierte Wissenschaftler*innen sind schwer zu finden. Darüber hinaus sind die wenigen Mitglieder der Communitys häufig mit Selbstvertretungsaufgaben ausgelastet. Vor diesem Hintergrund sind wir Herausgebenden dieses Bandes sehr froh, dass ein breites Spektrum von Autor*innen für die vorliegende thematische Vielfalt gewonnen werden konnte. Trotzdem ist die Arbeit noch nicht abgeschlossen. Nicht alle wichtigen Themen konnten wir einbeziehen. So bleiben etwa »Gewalt im Alter« oder Projekte in unterschiedlichen Ländern, Regionen, Religionen, sozialen Klassen und Kulturen folgenden Publikationen vorbehalten. Ein wichtiger Anfang ist jedoch gemacht. Als zentrale Herausforderung stellte sich heraus, dass das Gros der Studien in diesem Lehrbuch sich mit nur einer der heterogenen Gruppen der LSBTIQ*-Senior*innen beschäftigt, am häufigsten sind dies Schwule oder Lesben. Dadurch entsteht eine – nicht in allen Artikeln dieses Lehrbuchs in gleicher Weise herausgearbeitete – Lücke, die mit weiteren Forschungen und Publikationen zu schließen sein wird, um den Lebenswelten und Bedürfnissen der verschiedenen LSBTIQ*-Gruppen gerecht zu werden. Rückblickend lässt sich konstatieren, dass uns Herausgeber*innen das Involviert-Sein in gesellschaftliche Verhältnisse bewusst wurde, als wir feststellten, dass für uns vor allem Unterschiede zwischen den LSBTIQ*-Gruppen und die jeweiligen Besonderheiten im Laufe der Entwicklung des Lehrbuchs

Einleitung

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sukzessiv stärker in den Vordergrund traten. Dies bedenkend, schließen wir an die Sozialarbeiterin und Forscherin Brené Brown (2012) an, welche dafür plädiert, sich auf Themen einzulassen, auch auf die Gefahr hin, sich dadurch verletzlich zu machen. Ferner zeigte sich, dass viele der heute verwandten Terminologien, wie »queer«, die Abkürzung »LSBTIQ*« oder die älteren Begriffe inter-, bisexuell, lesbisch oder schwul für ältere Menschen nicht immer sinnvoll waren, sind oder bleiben. So wie sich Sichtbarkeiten und Anerkennungen von Subgruppen in gesellschaftlichen Veränderungen und in sich entwickelnden Debatten und Diskursen spiegeln, gibt es auch innerhalb der Communitys von LSBTIQ* und zwischen den Generationen Unterschiede im Sprachgebrauch und fortlaufende Veränderungen in Selbstbezeichnungen. Mit diesem Buch wollen wir daher eine Hilfestellung bei der intergenerationellen Arbeit jenseits der Hetero- und Cis-Normativität anbieten. Ausdrücklich wenden wir uns damit an Adressat*innenkreise von professioneller Arbeit mit Älteren, die sich selbst – aus welchen Gründen auch immer – nicht als inter*, lesbisch, trans*, schwul, oder bisexuell bezeichnen würden (sich aber nicht ausschließlich als heterosexuell verstehen) oder solche, die nie die Möglichkeit und/oder den Wunsch hatten, diesen Teil ihrer Persönlichkeit explizit zu benennen oder nach außen zu zeigen. Das vorliegende Buch ist ein Lehrbuch. Damit bieten wir – aus der Perspektive und mit dem ehrenamtlichen Engagement der Autor*innen dieses Buches aus den LSBTIQ* Communitys heraus – ein didaktisches Handwerkszeug an, das alle Lernenden und Lehrenden in Ausbildung und Studium unterstützen soll. Wir laden damit ausdrücklich auch straight allys zum Lesen ein. Mit anderen Worten: Wir heißen heterosexuelle »Verbündete« willkommen und suchen den Dialog mit Professionellen, die sich als heterosexuelle und/ oder Cis–Unterstützer*innen für Lebenswelten von LSBTIQ*-Senior*innen sensibilisieren wollen. Dies soll dazu beitragen, dass Diversität in den Gesellschaften wahrgenommen und akzeptiert, Menschenrechte verteidigt und Diskriminierung von LSBTIQ* entgegentreten wird. Wir freuen uns darauf, auch künftig gemeinsam mit LSBTIQ*-Communitys, Personen, die mit älteren LSBTIQ* arbeiten oder diese betreuen, oder Interessierten am Thema der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt zusammenzuarbeiten und gemeinsam weiter zu lernen. So hoffen wir, zusammen das Ziel der Förderung einer bedarfsgerechten und menschenrechtsorientierten Arbeit mit Älteren voranzutreiben.

/ Lehrbuch ist ein Beitrag für mehr Sichtbarkeit von LSBTIQ*

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Tamara-Louise Zeyen, Ralf Lottmann, Regina Brunnett und Mechthild Kiegelmann

Literatur Brown, B. (2012): Daring Greatly: How the Courage to Be Vulnerable Transforms the Way We Live, Love, Parent, and Lead. London. Fachkommission nach § 53 PflBG (2019): Rahmenpläne der Fachkommission nach § 53 PflBG. https://www.bibb.de/dokumente/pdf/geschst_pflgb_rahmenplaene-der-fachkommission. pdf (Zugriff am 02.11.2019).

Grundlagenkapitel zu verschiedenen Sichtweisen

2.1 LSBTIQ* und Alter(n) aus psychologischer Sicht Dirk Kranz

Hintergrund Die Psychologie beschäftigt sich mit der Beschreibung und Erklärung menschlichen Erlebens und Verhaltens. Der Mensch wird als Einheit von Körper, Seele und sozialen Beziehungen verstanden. Die Psychologie nimmt die Entwicklung über die gesamte Lebensspanne in den Blick und betrachtet eine entsprechende Entwicklungsförderung als ihre Kernaufgabe – vom Säuglings- bis ins hohe Erwachsenenalter. Dabei sollten sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität als wesentliche Aspekte des Menschseins stets berücksichtigt werden. Entwicklung beruht auf dem Zusammenspiel von genetischer Anlage und (v. a. sozialer) Umwelt über die Zeit hinweg (interaktionales Entwicklungsmodell; Plomin 2019). Sie verläuft aber nicht nur passiv; zunehmend gestaltet der erwachsen werdende Mensch (je nach Anlage und Umwelt) aktiv an seiner Entwicklung mit (aktionale Entwicklungsperspektive; Brandtstädter 2006). Selbstwirksamkeit und Selbstverwirklichung zeichnen den homo faber (lat., schaffender Mensch) der Moderne geradezu aus. Entwicklung umfasst nicht immer Veränderung; manchmal geht es auch um das Bemühen um Beständigkeit – wenn alte Menschen beispielsweise trotz eingeschränkter Mobilität an liebgewonnenen Aktivitäten festhalten, indem sie auf weniger angenehme Tätigkeiten verzichten, sich für ihre Vorhaben besonders anstrengen oder dafür Hilfsmittel, etwa Gehhilfen, in Anspruch nehmen (siehe das Modell der Selektion, Optimierung und Kompensation im Alter v. Baltes 1997). Entwicklung verläuft nur selten uniform; sie weist vielmehr eine enorme Variabilität auf und kann bis ins hohe Alter gefördert werden. Man lernt sprichwörtlich niemals aus. Entgegen eines verbreiteten Stereotyps gehen mit dem Alter keinesfalls nur Einbußen einher. Alte Menschen sind in der Regel (wenn man von den letzten Lebensmonaten absieht) mit sich und ihrem Leben

/ Perspektive der Lebensspanne

/ Anlage und Umwelt

/ Veränderung und Beständigkeit

/ Variabilität und Förderung

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/ Negatives ­­ Alters­stereotyp

Dirk Kranz

zufrieden, jedenfalls nicht unzufriedener als junge (Bowling 2005). Das Alter ist eine Entwicklungsperiode von (z. B. motorischen, sensorischen) Verlusten und Gewinnen (z. B. Erfahrung, Gelassenheit). Das Stereotyp des unfähigen alten Menschen ist eine allzu grobe Vereinfachung und in mehrerer Hinsicht problematisch. Es schürt die Angst jüngerer Menschen vor dem eigenen Altwerden. Es belastet die Beziehung zwischen den Generationen. Und schließlich wirkt es, wenn es betagte Menschen internalisieren (auf sich selbst anwenden), wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. So konnte experimentell vielfach gezeigt werden, dass alte Menschen, die mit einem negativen Altersbild konfrontiert wurden, anschließend in alterssensiblen Aufgaben (z. B. Geschicklichkeits- oder Gedächtnisaufgaben) schlechter abschnitten. Dieses Phänomen wird als stereotype threat bezeichnet (engl., Bedrohung durch ein Stereotyp; Lamont/Swift/Abrams 2015). Herausforderungen

/ ZweifachStigmati­sierung

/ Lebens­ geschichte

Das Alter(n) stellt für viele LSBTIQ*-Personen eine doppelte Herausforderung dar. Alte Menschen müssen generell damit zurechtkommen, dass sie nicht mehr dem jugendlichen Idealbild unserer Gesellschaft entsprechen. Mitunter müssen sie gegen das beschriebene Negativbild des Alters – auch in sich selbst – ankämpfen. Zudem ist die Eigenschaft, LSBTIQ* zu sein, oftmals ein weiteres – und wohl noch viel schmerzhafteres – soziales Stigma (griech., Stich). Trotz allen gesellschaftlichen Fortschritts sind mit Abweichungen von Heterosexualität und Geschlechterbinarität (strikte Zweiteilung Mann – Frau bzw. männlich – weiblich) auch heute noch Vorurteile und Benachteiligungen verbunden. Gängige Schimpfwörter auf unseren Schulhöfen sind hier aufschlussreich. Alte LSBTIQ*-Personen haben mitunter Jahrzehnte der Diskriminierung hinter sich. Man denke daran, wie im Nazi-Regime, aber auch noch im Nachkriegsdeutschland mit Menschen verfahren wurde, die nicht dem herrschenden (»deutschen«, »christlichen«) Frauen- bzw. Männerbild entsprachen. Erfahrungen der Pathologisierung (Zuschreibung von Krankheit1)

1 Erst 1990 wurde Homosexualität als Diagnose aus dem ICD gestrichen (ICD: engl., International Statistical Classification of Diseases; weltweit anerkanntes medizinisches Klassifikationssystem). Und erst in der kommenden, elften Ausgabe des ICD (voraussichtlich ab 2022) wird Transsexualität nicht mehr als psychische Störung enthalten sein. Vielmehr wird die Nichtübereinstimmung von empfundenem und zugewiesenem Geschlecht als ein Zustand beschrieben werden, der – insofern gewünscht – gesundheitsförderliche Maßnahmen begründen kann (z. B. Namensänderung, Geschlechtsangleichung).

LSBTIQ* und Alter(n) aus psychologischer Sicht

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und Kriminalisierung (Zuschreibung von Straffälligkeit2) können bis in die Gegenwart traumatisch sein (Trauma: griech., Wunde). Vor dem Hintergrund dieser doppelten Herausforderung – Altersdiskri­ minierung (engl. ageism) und Heteronormativität (Auffassung, dass Heterosexualität und Erfüllung der traditionellen Geschlechterrolle maßgeblich sind und jede Abweichung einen Regelverstoß darstellt) – verwundert es nicht, dass LSBTIQ*-Personen im Allgemeinen und insbesondere im Alter eine etwas schlechtere physische wie psychische Gesundheit aufweisen als heterosexuelle (Fredriksen-Goldsen/Jen/Muraco 2019). Dies liegt nicht an der sexuellen oder Geschlechtsidentität per se, sondern dem damit verbundenen MinderheitenStress (engl. minority stress; Meyer 2003). Er speist sich im Wesentlichen aus vier Quellen: (1) der erlebten Diskriminierung, (2) der befürchteten Diskriminierung, (3) der Internalisierung des Stigmas (also die übernommene Vorstellung, dass man weniger wert ist als andere Menschen) und (4) dem Verbergen oder Verleugnen der eigenen Identität. Neben Risikofaktoren für LSBTIQ*-Personen im Alter sind Faktoren der Resilienz (Widerstandskraft gegen Belastung) von großer Bedeutung (Kwon 2013). Wichtigster Resilienzfaktor ist die soziale Bindung an und Unterstützung durch nahestehende Personen (Partner*innen, Familie, Freund*innen). Daneben sind auch Wertschätzung und Zuwendung in erweiterten sozialen Kreisen relevant; dies kann die LSBTIQ*-Community vor Ort sein, die Nachbarschaft oder auch ein Verein, in dem man sich engagiert. Zunehmend wird im Alter die vertrauensvolle Beziehung zu professionellen Helfenden wichtig. Gerade wenn man nicht mehr selbstständig leben kann und auf ambulante oder stationäre Unterstützung bzw. Pflege angewiesen ist, trägt das Grundgefühl von Respekt und Akzeptanz entscheidend zur Lebensqualität bei. Weitere Resilienzfaktoren sind ein starkes Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen, Interessen und Aktivitäten, aber auch finanzielles Auskommen und Gesundheitsversorgung.

2 Erst 1994 wurde im vereinten Deutschland der berüchtigte Paragraph 175 des Strafgesetzbuchs – im Kaiserreich eingeführt und von den Nazis verschärft – endgültig abgeschafft. Er stellte (männliche) Homosexualität unter (Haft-, später meist Geld-) Strafe. Ab 1969 beinhaltete er in der BRD »nur« noch den Verstoß gegen das Schutzalter, das jedoch höher angesetzt wurde als dasjenige für Heterosexuelle. In der DDR wurde der »175er« ab den 1950er-Jahren praktisch nicht mehr angewendet. Die Stigmatisierung von Trans*- und intersexuellen Menschen muss historisch noch aufgearbeitet werden.

/ Gesundheit und MinoritätenStress

/ Resilienz

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Dirk Kranz

Fallbeispiel Sie arbeiten in einer Einrichtung des betreuten Wohnens, die sich in einer ländlichen Kleinstadt befindet. Wie die Einrichtungsleitung heute in einer Teambesprechung mitteilt, hat sich jüngst eine 78-jährige »etwas besondere« Frau um einen Wohnplatz beworben. Karla D., so ihr Name, sei vor Ort aufgewachsen und habe hier eine Ausbildung zur Buchhändlerin absolviert. Danach sei sie in eine Großstadt gezogen. Ihren Lebensabend möchte sie nun in der alten Heimat verbringen. Im Bewerbungsbogen hat Karla D. festgehalten, dass sie – als Junge (Karl) geboren – seit ihrem 45. Lebensjahr als Frau lebt. Die Einrichtungsleitung steht dem Wunsch von Karla D. etwas ratlos gegenüber. »Wir sollten alle gemeinsam überlegen, ob und wie wir eine transsexuelle Seniorin integrieren können«, heißt es.

Fragen (A) Wie reagieren Sie persönlich auf den Wunsch von Karla D., in Ihre Einrichtung zu ziehen? (B) Welche Aspekte könnten im Hinblick auf die Aufnahme der neuen Mitbewohnerin wichtig sein? (C) Wie könnten Sie sich auf den Erstkontakt mit Karla D. vorbereiten? Hintergründe zur Lösung In der ersten Begegnung mit Trans*-Menschen reagieren viele verunsichert, manche leider auch ablehnend. Verunsicherung mag an mangelnder Erfahrung liegen, Ablehnung hingegen an Intoleranz gegenüber geschlechtlichen Minderheiten. Letztere wäre mit den ethischen Grundsätzen von helfenden Berufen unvereinbar. Sicherheit im Umgang mit Trans*-Menschen gewinnt man recht einfach – durch Offenheit und Kontakt. Akzeptanz von Trans*-Menschen ist wichtig, aber – gerade im beruflichen Kontext – auch Wissen über Transidentität (Identifikation mit einem anderen Geschlecht). Hier könnte eine Fortbildungsveranstaltung in Zusammenarbeit mit einem nahegelegenen LSBTIQ*-Zentrum oder dem Bundesverband Trans* hilfreich sein. Grundsätzlich ist die Geschlechtsidentität einer Person schlicht zu respektieren, insbesondere in der Kommunikation mit ihr bzw. über sie. In Altenpflegeheimen sollten Trans*-Menschen (wie alle anderen auch) freundlich begrüßt werden; ein allgemeiner Hinweis auf die Akzeptanz unterschied-

LSBTIQ* und Alter(n) aus psychologischer Sicht

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licher Lebensweisen (auch symbolisch, etwa durch eine kleine Regenbogenflagge) kann Angst vor Stigmatisierung nehmen. Inwieweit juristische und medizinische Aspekte von Transidentität (Namens- und Personenstandsänderung bzw. medikamentöse und chirurgische geschlechtsangleichende Maßnahmen) für das Leben im Altenheim relevant sind (z. B. in amtlichen Angelegenheiten, bei der Körperhygiene oder medizinischen Versorgung) und zur Sprache kommen, entscheiden die betreffenden Menschen (bzw. diejenigen, die sie gesetzlich vertreten) selbst. Alle, die im Altenpflegeheim arbeiten und leben, tragen Mitverantwortung für die Sicherheit und das Wohlbefinden von Trans*-Bewohner*innen (und selbstverständlich auch Trans*-Mitarbeiter*innen). Schlussfolgerungen Die Psychologie untersucht Entwicklungsprozesse und will diese evidenzbasiert fördern (Evidenz: Nachweis von Wirksamkeit). Im Hinblick auf LSBTIQ*-Personen in Deutschland (z. B. deren Belastungen, soziale Unterstützung, psychosoziale Versorgung und Gesundheit) gibt es einen enormen Forschungsbedarf; fast alle gerontologischen Befunde stammen aus Nordamerika (und beschränken sich meist auf lesbische und schwule Lebenswelten). Auch die systematische Förderung von betagten LSBTIQ*-Personen steckt noch in den Kinderschuhen. Es geht darum, insbesondere Professionelle in Sozial- und Gesundheitsberufen für die individuellen Lebensgeschichten, aktuellen Lebenssituationen, Anliegen und Bedürfnisse von LSBTIQ*-Personen im Alter zu sensibilisieren und sie darüber zu informieren – wenn möglich mit Beteiligung von LSBTIQ*-Personen. Wie die Gesellschaft insgesamt, so täte auch die LSBTIQ*Community gut daran, das eigene Jugendideal zu hinterfragen und ageism zu bekämpfen. LSBTIQ*-Zentren könnten ihre Angebote für alte Menschen erweitern: von altersinklusiven Freizeitaktivitäten (z. B. gemeinsame Spielerunden oder Konzertbesuche) über thematische Diskussions- und Selbsthilfegruppen (z. B. zu politischen Themen bzw. Umgang mit Trauer) bis hin zur Organisation von Freiwilligendiensten (z. B. Begleit- und Besuchsdienste) – der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Menschen sind vielfältig – auch im Alter, auch in Bezug auf ihre sexuelle und geschlechtliche Identität. Das sollten alle diejenigen wissen und wertschätzen, die professionell mit betagten Menschen arbeiten. Alte LSBTIQ*Personen sind in unserem Sozial- und Gesundheitssystem (noch) weitgehend unsichtbar (Lottmann/Lautmann 2015). Sie sollten aber keine Angst haben,

/ Forschungsund Förderungsbedarf

/ Integration von LSBTIQ*-Personen im Alter

/ Professionalität und Wertschätzung

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Dirk Kranz

sich zu öffnen (engl. outing). Eine solche Angst wäre ihrem Gesundheitsstatus und ihrer weiteren Entwicklung sehr abträglich. Profundes Wissen über die Belange von und den Umgang mit LSBTIQ*-Personen im Alter sollten fester Bestandteil der Aus- und Weiterbildung in Sozial- und Gesundheitsberufen sein. Betagte LSBTIQ*-Personen (und Menschen, die ihnen nahestehen und sie begleiten) müssen sicher sein, dass auch in ihrer (z. B. ärztlichen, psycho-, physiotherapeutischen) Praxis, in ihrer Altentagesstätte oder in ihrem Altenheim Vielfalt willkommen ist. Literatur 8 Weitere Lernmaterialien finden Sie im Downloadbereich zu ­diesem Buch

Baltes, P. B. (1997): On the incomplete architecture of human ontogeny: Selection, optimization, and compensation as foundation of develop-mental theory. American Psychologist, 52 (4), 366–380. Bowling, A. (2005): Ageing well: Quality of life in old age. Berkshire. Brandtstädter, J. (2006): Action perspectives on human development. In: R. M. Lerner/W. Damon (Hg.): Handbook of child psychology: Theoretical models of human development (6. Aufl.; S. 516–568). Hoboken. Fredriksen-Goldsen, K./Jen, S./Muraco, A. (2019): Iridescent life course: LGBTQ aging research and blueprint for the future: A systematic review. Gerontology, 65 (3), 253–274. Kwon, P. (2013): Resilience in lesbian, gay, and bisexual individuals. Personality and Social Psychology Review, 17 (4), 371–383. Lamont, R. A./Swift, H. J./Abrams, D. (2015): A review and meta-analysis of age-based stereotype threat: Negative stereotypes, not facts, do the damage. Psychology and Aging, 30 (1), 180–193. Lottmann, R./Lautmann, R. (2015): Queer und Alter(n) – zum Forschungsstand. In: F. Schmidt/ A.-C. Schondelmayer/U. Schröder (Hg.): Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt (S. 337–354). Wiesbaden. Meyer, I. H. (2003): Prejudice, social stress, and mental health in lesbian, gay, and bisexual populations: Conceptual issues and research evidence. Psychological Bulletin, 129 (5), 674–697. Plomin, R. (2019): Blueprint: How DNA makes us who we are. Cambridge.

Weiterführende Literatur Brandtstädter, J./Lindenberger, U. (Hg.) (2007): Entwicklungspsychologie der Lebensspanne: Ein Lehrbuch. Stuttgart. Clarke, V./Ellis, S. J./Peel, E./Riggs, D. W. (2010): Lesbian, gay, bisexual, trans and queer psychology: An introduction. Cambridge. Greve, W./Thomsen, T. (2018): Entwicklungspsychologie: Eine Einführung in die Erklärung menschlicher Entwicklung. Berlin. Harley, D. A./Teaster, P. B. (Hg.) (2016): Handbook of LGBT elders: An interdisciplinary approach to principles, practices, and policies. New York. King, A./Almack, K./Suen, Y.-T./Westwood, S. (Hg.) (2019): Older lesbian, gay, bisexual, and trans people: Minding the knowledge gaps. New York. Otto, H. U./Thiersch, H./Treptow, R./Ziegler, H. (Hg.) (2018): Handbuch Soziale Arbeit: Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik (6. Aufl.). München.

2.2 LSBTIQ* und Alter(n) aus pflegewissenschaftlicher Sicht Heiko Gerlach und Markus Schupp

Hintergrund Bestehende Pflegemodelle und -konzepte richten sich an den Aktivitäten des menschlichen Lebens aus. Die Erhebung, Planung und Durchführung von Pflege steht im Mittelpunkt des wechselseitig ausgehandelten Pflegeprozesses zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen sowie deren Angehörigen. Ein solcher Prozess beinhaltet für die Akteur*innen auch, sich allgemein und individuell mit den Geschlechtern, also den biologischen (»sex«) und den sozio-kulturellen (»gender«) Aspekten sowie deren vergeschlechtlichten Kategorisierungen in Verbindung mit den Körpern, dem Alter(n) und seinen Prozessen sowie deren Wechselwirkung auseinanderzusetzen. Aufgrund gesellschaftlicher Tabuisierung und Stigmatisierung sexueller und geschlechtlicher Identitäten, die von der Heteronormativität abweichen, ist die Auseinandersetzung mit sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten in der Pflegepraxis und -theorie nach wie vor defizitär (Gerlach/Schupp 2018, S. 42 ff.; Kleinevers 2004, S. 38 f.). Alle professionell Pflegenden sind durch den Ethikkodex des International Council of Nurses (ICN) dazu aufgefordert, dass die Pflege von Menschen und die Zusammenarbeit mit Kolleg*innen respektvoll und wertneutral u. a. in Bezug auf »Geschlecht« und »sexuelle Orientierung« ausgeübt wird (International Council of Nurses (ICN) 2012, S. 1). Es besteht zudem als ethische Richtlinie ein Diskriminierungsschutz aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Identität in der »Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen« (BMFSFJ 2014, S. 13). Das Altenpflegegesetz (AltPflG) definiert in § 3 die Aufgaben Pflegender im Hinblick auf eine selbstständige und eigenverantwortliche Durchführung der Beratung, Begleitung, Pflege und Betreuung alter Menschen. Ihre Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten beziehen sich auf sachkundige, pflegewissenschaftlich fundierte und medizinisch-pflegerische Erkenntnisse, die

/ Pflege ­fokussiert Geschlechter und Sexualitäten

/ Autonomie älterer pflegebedürftiger Menschen als Aufgabe von Pflegenden

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/ Doppelte Professionalisierung im pflegerischen Handeln

/ Sensibilität für Diversity in der Pflege

Heiko Gerlach und Markus Schupp

eine umfassende und geplante Pflege ermöglichen. Insbesondere geht es bei der Pflege um die Wahrung und Wiederherstellung der Autonomie pflegebedürftiger Menschen (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz 17.11.2000). Eine weitere Anforderung für Pflegende ergibt sich aus der Definition des professionellen pflegerischen Handelns. Pflegerisches Handeln bedeutet die Anwendung von wissenschaftlichem Regelwissen bei gleichzeitiger Kompetenz eines »hermeneutischen Fallverstehens« (Darmann-Finck 2009, S. 19; 2010, S. 165 f.). Letzteres bedeutet, im pflegerischen Handeln auf implizite und zum Teil situativ gemachte Erfahrungen im Pflegealltag zurückzugreifen, um neue Situationen deuten und Handlungsweisen entwickeln zu können (Friesacher 2008, S. 61). Ein solches pflegerisches Handeln ist von einer Widersprüchlichkeit zwischen der wissenschaftlich basierten Regelanwendung einerseits und einer fall- und situationsbezogenen Handlungsweise andererseits gekennzeichnet (Friesacher 2008, S. 260). Pflegende sind herausgefordert, dieser Widersprüchlichkeit mit einer doppelten Professionalität zu begegnen, indem sie sich dem wissenschaftlichen Diskurs ihres Fachs stellen und gleichzeitig auf fall- und situationsbezogenes Erfahrungs- und Handlungswissen ihres Berufs beziehen (Friesacher 2008, S. 261) Es existieren mittlerweile theoretische Überlegungen einer gender- und körpersensiblen (Alten-)Pflege, einer kultursensiblen (Alten-)Pflege oder einer diversitysensiblen (Alten-)Pflege, die für Theorie und Praxis fruchtbare Anknüpfungen bieten (würden), die teils sehr unterschiedlichen Lebens- und Bedürfnislagen von pflegebedürftigen LSBTIQ* adäquat in der Altenpflege zu berücksichtigen (Gerlach/Schupp 2018, S. 38–58; Gerlach 2019; Schupp 2019; Lottmann/Kollak 2018; Stummer 2015; Backes/Wolfinger 2010). Herausforderungen

/ Subjekt­ orientierte Pflege durch ­wechselseitige Anerkennung

Pflegerisches Handeln kann dazu beitragen, die Identität homosexueller Menschen zu stärken oder aber auch zu beschädigen. Erfahren homosexuelle Pflegebedürftige Anerkennung in Form von emotionaler Zuwendung durch pflegerische Fürsorge, rechtlicher Gleichstellung, bspw. in Form einer konzeptionellen Berücksichtigung, und sozialer Wertschätzung als wertvolle Mitglieder der Gesellschaft, wird ihre Identität als homosexuelle Person gestärkt. Ihre Biografien und Lebensweisen werden pflegekonzeptionell berücksichtigt und ihre Sichtbarkeit, ihre soziale Teilhabe und ihr Wohlbefinden werden gefördert. Sind diese drei Aspekte der Anerkennungserfahrung in ihrer Differenziertheit erfüllt, ist eine subjektorientierte Pflege von homo-

LSBTIQ* und Alter(n) aus pflegewissenschaftlicher Sicht

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sexuellen Menschen gewährleistet. Fehlen hingegen eine oder gar alle drei dieser Aspekte, droht die Beschädigung ihrer Identität und damit ihrer persönlichen Integrität (Gerlach/Schupp 2018, S. 453 ff.). Diese »Theorie der Anerkennung von Homosexualitäten in der Altenpflege« (Gerlach/Schupp 2018) ist in Anlehnung an die Anerkennungstheorie von Honneth (1994) und deren Übertragung in die Pflege von Friesacher (2008) entwickelt worden. Sie lässt sich in ihren Grundsätzen auf die Pflege von bisexuellen, trans*- und inter*-geschlechtlichen sowie queeren Menschen übertragen. Die Pflege von LSBTIQ* mit ihren spezifischen Anforderungen differenziert sich allerdings im konkreten, orientiert an den jeweiligen Lebensund Bedürfnislagen der Personengruppen wie auch an physischen Gegebenheiten, z. B. bei intergeschlechtlichen Personen. Auch in der Altenpflege sind für diese heterogenen Personengruppen deren lebenslange Auseinandersetzung mit der möglichen Gefahr von Homo-, Bi- und Transphobie im Alltag von Bedeutung. Dem übergeordneten Ziel der Wahrung und Wiederherstellung der Autonomie Pflegebedürftiger folgend, ist ihre Anerkennung als LSBTIQ* in der genannten doppelten Professionalisierung der Pflegenden in der Altenpflege erforderlich. Eine Thematisierung ihrer Lebenswelten und der sich daraus ergebenen möglichen Anforderungen an das pflegerische Handeln und an die Pflegeinstitutionen existiert in den Lehrbüchern der (Alten-)Pflege und in den Curricula der Fort-, Aus- und Weiterbildung der Pflegeberufe nur marginal oder teilweise nur einseitig subsummiert unter dem Bereich der körperlichen Sexualität. Daraus ergibt sich das Problem der verhinderten doppelten Professionalisierung von Pflegenden, da sexuelle und geschlechtliche Identitäten nicht als solche wahrgenommen werden. Fehlendes Fachwissen steht in der Altenpflege bis in die Gegenwart im Zusammenhang mit den versteckten oder teil-offenen Lebensweisen der LSBTIQ*. Die immer noch deutlich erkennbare Nicht-Wahrnehmung (Unsichtbarkeit) von älteren, pflegebedürftigen LSBTIQ* untermauert dies. Fehlendes Fachwissen und versteckte Lebensweisen bedingen sich wechselseitig und lassen so eine Anwendung von Wissen oder gar von hermeneutischem Fallverstehen kaum oder gar nicht möglich werden (Gerlach/Schupp 2018, S. 36). Deutschlandweit gibt es bisher nur sehr wenige spezielle oder integrative Angebote für LSBTIQ* in der Altenpflege. Eine Wahlmöglichkeit für LSBTIQ*freundliche Pflegeangebot existiert faktisch nicht. Der Studienlage zufolge bestehen bei LSBTIQ* mehrheitlich ernstzunehmende Befürchtungen, in den Einrichtungen der Altenhilfe nicht respektvoll und nicht ihren spezifischen Bedürfnissen entsprechend versorgt zu werden (etwa Ministerium für Inte-

/ Heterogenität der LSBTIQ*

/ Fehlendes Fachwissen und Unsichtbarkeit

/ Fehlende Pfle­ geangebote und Befürchtungen

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Heiko Gerlach und Markus Schupp

gration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen Rheinland-Pfalz 2015, S. 69 f.). Wie in der Theorie der Anerkennung von Homosexualitäten in der Altenpflege gezeigt, erhalten diejenigen das höchste Maß an Anerkennung und an subjektorientierter Pflege, die in Einrichtungen oder von Pflegediensten betreut werden, die ihre Pflegekonzepte und Qualitätssicherungsprozesse explizit für die Lebenswelten von Homosexuellen geöffnet haben und/oder wo Pflegende entsprechend anerkennend pflegen können (Gerlach/Schupp 2018). Mit dem nachfolgenden Fallbeispiel soll veranschaulicht und diskutiert werden, welche Bedarfe LSBTIQ* mitbringen können und wie eine subjektorientierte Pflege aussehen kann. Fallbeispiel / Heimbewoh­ nerin: »… wenn ich nicht hier rauskomme selber, dann kann ich keine ­Lesben kennen­lernen.«

/ anerkennende Umweltfaktoren

/ soziale Isolation trotz Akzeptanz

Eine Heimbewohnerin Mitte fünfzig, Pauline B., beschreibt sich in einem Interview rückblickend als Einzelgängerin. Außer den jeweiligen Partnerinnen und frühere Freundinnen wusste niemand von ihrer Homosexualität: »Nur ich selber habe mich immer versucht zu tarnen« (Gerlach/Schupp 2018, S. 388). Zu groß waren die Ängste vor Diskriminierungen im Falle eines Outings. Im Pflegeheim verschweigt sie ihre lesbische Identität. Im Rahmen ihrer Lebensbilanzierung entsteht bei ihr das Bedürfnis einer offenen lesbischen Lebensweise. Als sie in dem Heim, in dem sie lebt, einen offen schwulen Pflegeschüler erlebt, fühlt sie sich selbst ermutigt. Sie rückversichert sich jedoch bei den Pflegenden, ob auch Pflegebedürftige offen ihre Homosexualitäten im Heim leben dürfen. »Und da habe ich mir gedacht, na wenn der so out ist, dann kann ich mir das ja wohl auch leisten« (Gerlach/Schupp 2018, S. 421). Schließlich outet sie sich gegenüber den Pflegenden nach ca. sieben Jahren ihres Heimeinzugs. Ihr Zimmer lässt sie erst anschließend mit Bildern ihres lesbischen Lebens bestücken. Obwohl sie von den Pflegenden als Lesbe akzeptiert wird, bleiben ihre individuellen Bedürfnisse nach sozialen lesbischen Kontakten und nach sozialer Teilhabe an lesbischen Veranstaltungen unberücksichtigt. Sie selbst nimmt sich als einzige Lesbe im Heim wahr und sieht aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen keine Möglichkeiten, Unterstützungen in der Begegnung ihrer Bedürfnisse zu erhalten. Ihre Hoffnung ruht aktuell auf der Bereitstellung eines Mobiltelefons, um Kontakte u. a. zu lesbischen Frauen herstellen zu können: »Wenn ich nicht hier rauskomme selber, dann kann ich halt auch keine Lesben kennenlernen« (Gerlach/Schupp 2018, S. 421).

LSBTIQ* und Alter(n) aus pflegewissenschaftlicher Sicht

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Fragen (A) Welche förderlichen oder hemmenden Faktoren erkennen Sie im Fallbeispiel, die darauf Einfluss nehmen (können), ob und wie sich Pauline B. als Lesbe zu erkennen gibt? (B) Wie könnte das Bedürfnis von Pauline B. nach lesbischen sozialen Kontakten und sozialer Teilhabe im Pflegeheim unterstützt werden? Welche Berufsgruppen wären hierfür zuständig? (C) Wie könnte pflegerisches Handeln aussehen, sodass die individuelle Bedürfnislage von Pauline B. für das Personal besser in Hinsicht auf ihre sexuelle und geschlechtliche Identität erkennbar wird, und welche Unterstützung benötigen Sie für Ihr professionelles Berufshandeln? Hintergründe möglicher Handlungsoptionen zum Fallbeispiel Um die Pflegebedürftige auch mit ihrer lesbischen Identität als Individuum wahrnehmen zu können, sind ihre biografischen Bezüge und Ressourcen in der Gestaltung der Pflege zu berücksichtigen. Grundlegend ist ein Verstehen des So-Gewordenseins, also ihr lebensgeschichtlich geprägtes subjektives Situationserleben im Pflegeheim mit ihren Ängsten und der Verheimlichung. Erst dadurch kann sich eine vertiefende Vertrauensbildung und interaktive Bedürfniserhebung entwickeln (Darmann-Finck 2009). Ein Abgleich fachlichen Wissens mit der Fallbezogenheit lassen die soziale Isolation der Person offenbar werden. Die Initiierung und Motivation einer Kontaktaufnahme bzw. Vernetzung zu möglichen Bezugsgruppen, in dem Fall zur lesbischen oder queeren Community der benachbarten Großstadt kann sinnvoll sein. Die Vermittlung eines spezifischen Besuchsdienstes wäre eine mögliche Option, wenn regional solche Angebote bestehen. Mitarbeitende, die selbst ihre Identität als LSBTIQ* offen leben, können als positive Vorbilder fungieren, sich zu öffnen und sich nicht als einzige*r LSBTIQ* in der Einrichtung fühlen zu müssen. Integriert eine Einrichtung die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt der Pflegebedürftigen und Mitarbeitenden, so lässt sich diese Offenheit bspw. im Leitbild, im Qualitätsmanagement, in Pflegeplanungen oder als solidarisches sichtbares Zeichen spürbar in den jeweiligen zwischenmenschlichen und betrieblichen Atmosphären wahrnehmen (Gerlach/Schupp 2018; Kenel et al. 2018).

/ Wahrnehmen und Mitdenken von LSBTIQ* im Pflegeprozess

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Heiko Gerlach und Markus Schupp

Schlussfolgerungen / Forderungen an die Altenhilfe und an die Gesellschaft

Neben der Lösung des allgemein sich auf die Pflegequalität auswirkenden Pflegenotstands sind die Öffnung der Regelversorgung der Altenhilfe und zugleich die Schaffung spezieller Angebote für LSBTIQ* nötig, um flächendeckend eine subjektorientierte Pflege und Betreuung von LSBTIQ* auf den Weg zu bringen. Hierzu bedarf es einer emotional, rechtlich und sozial erfahrbaren Anerkennung von LSBTIQ* in den zwischenmenschlichen Begegnungen, Strukturen und Prozessen der Altenhilfe. Insbesondere die Führungskräfte tragen entsprechende Verantwortung in den Einrichtungen, dies auch umzusetzen (Gerlach 2019; Schupp 2019). Zum Gelingen der doppelten Professionalisierung ist zum einen die Verankerung der Auseinandersetzung mit LSBTIQ*-Lebenswelten in der Fort-, Aus- und Weiterbildung der Pflegeberufe zu fordern. Zum anderen ergibt sich der Appell an die Vertreter*innen der LSBTIQ*-Communitys und der Pflegefachverbände, die Teilhabe, die Eigenverantwortung und -ermächtigung der LSBTIQ* zu stärken und entsprechende Kompetenzzentren zu schaffen. Literatur

8 Weitere Lernmaterialien finden Sie im Downloadbereich zu ­diesem Buch

Backes, G. M./Wolfinger, M. (2010): Perspektiven einer gender-körpersensiblen Altenpflege. In: E. Reitinger/S. Beyer (Hg.): Geschlechtersensible Hospiz- und Palliativkultur in der Altenhilfe (S. 45–6). Frankfurt am Main. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (17.11.2000): Gesetz über die Berufe in der Altenpflege (Altenpflegegesetz – AltPflG). https://www.gesetze-im-internet.de/altpflg/ BJNR151310000.html#BJNR151310000BJNG000101308 (Zugriff am 27.03.2019). Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2014): Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen (11. Aufl.). Paderborn u. a. Darmann-Finck, I. (2009): Professionalisierung durch fallrekonstruktives Lernen. In: U. Böhnke/I. Darmann-Finck/K. Straß (Hg.): Fallrekonstruktives Lernen. Ein Beitrag zur Professionalisierung in den Berufsfeldern Pflege und Gesundheit (S. 11–36). Frankfurt am Main. Darmann-Finck, I. (2010): Interaktion im Pflegeunterricht. Begründungslinien der interaktionistischen Pflegedidaktik. Frankfurt am Main u. a. (IPP-Pflegeforschung, Bd. 1). Friesacher, H. (2008): Theorie und Praxis pflegerischen Handelns. Begründung und Entwurf einer kritischen Theorie der Pflegewissenschaft. Göttingen. Gerlach, H. (2019): Leitfaden für Führungskräfte. Zum adäquaten Umgang mit LSBTIQ in der ambulanten und stationären Altenpflege, Fachbereiche Senioren sowie Personal und Organisation der Landeshauptstadt Hannover (Hg.). Hannover. Gerlach, H./Schupp, M. (2018): Homosexualitäten in der Langzeitpflege. Eine Theorie der Anerkennung. Berlin. Honneth, A. (1994): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main. International Council of Nurses (ICN) (2012): ICN-Ethikkodex für Pflegende (Dt. Übersetzung). ICN Code of Ethics for Nurses. Hg. v. Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) Bundesverband e. V. Berlin u. a.

LSBTIQ* und Alter(n) aus pflegewissenschaftlicher Sicht

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Kenel, P./Gather, C./Lottmann, R. (2018): »Das war noch nie Thema hier, noch nie!« Sexuelle Vielfalt in der Altenpflege – Perspektiven für ein Diversity Management. Pflege & Gesellschaft, 23 (3), 211–227. Kleinevers, S. (2004): Sexualität und Pflege. Bewusstmachung einer verdeckten Realität. Hannover. Lottmann, R./Kollak, I. (2018): Eine diversitätssensible Pflege für schwule und lesbische Pflegebedürftige – Ergebnisse des Forschungsprojekts GLESA. International Journal of Health Professions, 5 (1), 53–63, DOI: 10.2478/ijhp-2018-0005. Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen Rheinland-Pfalz (2015): Rheinland-Pfalz unterm Regenbogen. Lebenssituation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgender und Intersexuellen in Rheinland-Pfalz. Auswertungsbericht zur Online-Befragung von Juni bis Oktober 2013. Mainz. Schupp, M. (2019): BISS-Index – gute Pflege, Diversity-Merkmale einer guten Pflege für lesbische Frauen, schwule Männer und Menschen mit HIV. Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS) e. V. (Hg.). Schriftenreihe 003. Köln. Stummer, G. (2015): Kultursensible Pflege für Lesben und Schwule. Informationen für die Professionelle Altenpflege. RUBICON e. V. (Hg.). Köln.

2.3 LSBTIQ* und Alter(n) aus soziologischer Sicht Lea Schütze

Hintergrund Eine sozialwissenschaftliche Perspektive auf LSBTIQ* und Altern fokussiert auf soziale Strukturen, Ungleichheiten und Institutionen, die Lebensweisen und Identitäten von älteren LSBTIQ*-Menschen bestimmen. Eine soziologische Perspektive kann darüber hinaus Handlungsmuster und den subjektiven Sinn älterer LSBTIQ* in den Blick nehmen. Dabei wird deutlich, dass sowohl die Soziologie des Alters und Alterns wie auch die Geschlechter- und Begehrensforschung das Thema LSBTIQ* und Alter(n) weitgehend ausklammern. Erst in den letzten Jahren entdecken die Gender Studies das Thema Alter(n) (Backes 2007; Denninger/Schütze 2017; Gildemeister/Robert 2008), ebenso wird die sozialwissenschaftliche Altersforschung auf ihre eigenen heteronormativen Prämissen aufmerksam (Denninger/Schütze 2017; van Dyk/Küppers 2016). Mit Studien von Bochow (2005) und Krell (2014) wurden Forschungsergebnisse zum Altern von älteren Homosexuellen in Deutschland virulent. Mit einem eigenen Forschungsprojekt3, angesiedelt an der Schnittstelle von Alterssoziologie und Queer Studies, wurde die Bedeutung der Kategorisierung von alt/älter und schwul in den Identitätskonzepten älterer schwuler Männer untersucht (Schütze 2019). Diese Arbeit wird als Beispiel für eine soziologische Annäherung an das Thema sexuelle Identität und Alter(n) für diesen Beitrag herangezogen. Dabei ist soziologisch interessant, wie die Befragten ihre Identitäten für andere verständlich und für sich authentisch beschreiben 3 Das Forschungsprojekt »Schwul Sein und Älter Werden. Selbstbeschreibungen älterer schwuler Männer« wurde von 2013–2017 an der Ludwig-Maximilians-Universität München durchgeführt. In einem qualitativen Forschungsdesign wurden Interviews mit Männern zwischen 60 und 90 Jahren geführt, die sich selbst als schwul beschreiben.

/ Sozial­ wissenschaftliche Forschung zu Alter(n) und LSBTIQ*

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Lea Schütze

und welche Deutungen von Alter, Geschlecht und Sexualität sie dabei nutzen (Butler 1998; Villa 2012). Eine dieser Deutungen findet sich etwa in einer spezifischen Version von Männlichkeit. Konstruktionen von Männlichkeit von älteren schwulen Männern / Spezifisches Verständnis von Männlichkeit im Alter

/ Erlernte Selbstständigkeit als Kompetenz im Alter

Durch das Älterwerden wird das Verständnis der eigenen Männlichkeit von älteren schwulen Männern infrage gestellt. Dabei wird deutlich, dass auch die befragten Männer ein hegemoniales Konzept von Männlichkeit (Connell 2015) als Bezugspunkt nutzen, welches sie durch das Älterwerden zunehmend mit Distanz beobachten. Die Veränderung des Körpers und die Verrentung als biografischer Bruch und krisenhafte Statuspassage werden als Herausforderungen für die Selbstbeschreibung als älterer schwuler Mann benannt. So ist die Verringerung sexueller Aktivität und eine Veränderung der Sexualfunktionen eine Herausforderung, die allerdings laut den Befragten auch nicht-schwule ältere Männer trifft. Auch das Erleben der Rente als »Pensionsschock« (Gildemeister 2008, S. 202), der zu Struktur- und Rollenlosigkeit führt, wird als generelles Merkmal männlichen Alter(n)s beschrieben. Darüber hinaus charakterisieren sich die Befragten als typische ältere Männer mit typischen Altersproblemen (­Fooken 1999; Leontowitsch 2017). Ein Spezifikum des Alter(n)s schwuler Männer wird über Selbstständigkeit und Einsamkeit aufgemacht. Die Befragten formulieren eine erlernte Selbstständigkeit, die sich aus der Erfahrung eines lebenslangen Sich-Verstecken-Müssens speist sowie aus der Abwesenheit von heterokonformen Rollenvorstellungen. Diese stellt im Alter einen Vorteil dar, da sie – anders als heterosexuelle ältere Männer – mit möglicher Einsamkeit und dem Rückzug in den Haushalt (infolge der Verrentung) auch in ihrer Selbstbeschreibung als Mann besser zurechtkommen. Der hohe Grad an Selbstständigkeit bringt häufig auch eine spezifische Form von Einsamkeit mit sich. Insbesondere die nicht geouteten Befragten geben an, unter dem Alleinsein zu leiden und wenig Möglichkeiten der Vernetzung mit anderen (schwulen und heterosexuellen) Älteren zu haben. Auch die Angst vor Homophobie und Zurückweisung in der eigenen Generation wird als Grund für den sozialen Rückzug genannt.

LSBTIQ* und Alter(n) aus soziologischer Sicht

33

Die Selbstbezeichnung als alt oder älter In der Alterssoziologie zeigt sich der Befund einer »relativen Alterslosigkeit« (Graefe/van Dyk/Lessenich 2011; Graefe 2013), d. h., dass kalendarisch ältere Menschen Begründungsmuster finden, warum sie selbst (noch) nicht (so) alt sind. Dies liegt daran, dass es kein eindeutiges Anzeichen dafür gibt, ab wann sich Menschen als älter beschreiben müssen, um sich vor sich selbst und anderen noch sinnvoll darstellen zu können. Die befragten älteren schwulen Männer bezeichnen sich durchaus als alt oder älter. Dabei wechseln sie zwischen den Ausdrücken »alt« und »älter« sowie alt/älter »werden« und »sein«. Die Selbstbeschreibung als alt oder älter findet z. B. über den eigenen körperlichen Verfall statt, der eine Eindeutigkeit des Alters produziert. Auch die Rente als strukturelle Altersphase »macht« im Auge der Befragten alte Menschen, ebenso wie die zu erwartende, geringer werdende noch verbleibende Lebenszeit.

/ Selbstbezeichnung als alt oder älter entlang Verrentung und körperlichem Verfall

Herausforderungen Dass die Befragten sich so eindeutig als alt bzw. älter beschreiben, und nicht versuchen, die Kategorisierung als alt oder älter zu umgehen, zeichnet ihren Wunsch nach, einen »authentischen« und vor allem für sie »ehrlichen« Selbstbezug herzustellen. Nicht nur in Bezug auf ihre Homosexualität wollen sie ehrlich sein, sich nicht verstecken. Auch der zumeist positive Umgang mit dem Alter(n) zeigt die Chance einer offenen und flexiblen Umdeutung des Alter(n)s und die gleichzeitige Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung. Die starke Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstkonzept lässt sich auch daraus ableiten, dass älteren schwulen Männern wie auch älteren LSBTIQ* keine Sozialfiguren und role models eines »guten«, »gelingenden« Alter(n)s zur Verfügung stehen. Um also eine für sie passende Selbstbeschreibung als alt und schwul zu finden, können sie nicht, wie ein Befragter es ausdrückt, »einen Pfad nachtrampeln«, sondern sie selbst müssen einen »Weg finden, um alt zu werden«. Dies zeigt, und dass ist die soziologische Erkenntnis, dass Identitätskonzepte des Alter(n)s (etwa erforscht von Amrhein/Backes 2008; Erikson 1995) im Sinne einer heteronormativitätskritischen und auch intersektionalen Perspektive (Küppers 2014) untersucht werden müssen. Das meint, dass Ethnizität und soziale Klasse und bei der vorliegenden Gruppe insbesondere Alter(n), Geschlecht und (Homo-)Sexualität entscheidend sind für Identitäten. Diese Komplexität muss auch beim Umgang mit älteren LSBTIQ* betrachtet werden.

/ Wunsch nach ehrlichem Umgang mit dem Alter(n)

/ Es wird deutlich: Alter(n) wird immer durch ­Dimensionen von Geschlecht und Sexualität mitbestimmt

34 / Gleichzeitiger Wunsch nach Anerkennung und Selbstbestimmung

Lea Schütze

Auch die Biografien und die Verarbeitung der gesellschaftlichen (häufig negativen) Positionierung als schwuler Mann sind entscheidend für diesen Wunsch nach einem als authentisch erlebten Selbstbezug. In der Praxis ist es daher wichtig, sowohl die Lebensgeschichte als auch die gegenwärtige Selbstbeschreibung von Klient*innen bzw. Patient*innen im Blick zu haben. Dabei ist es gerade die gesellschaftliche Rollenlosigkeit und Unsichtbarkeit des Älterwerdens schwuler Männer, die für die Gestaltung der eigenen Identität auch eine Form von Freiheit darstellt. Die soziologische Perspektive macht deutlich, dass die Sinndeutungen der Befragten bezüglich ihrer eigenen Männlichkeits-, Begehrens- und Alterskonstrukte bestimmte Spezifika eines »schwulen Alter(n)s« aufweisen, aber dennoch allgemein anerkannt werden möchten. Dies gilt für alle älteren LSBTIQ*, die mit sozial negativen Deutungen leben müssen, aber trotzdem einen gesellschaftlich sichtbaren Platz einnehmen möchten. Fallbeispiel Im Rahmen des Forschungsprojekts »Schwul Sein und Älter Werden« wird die Komplexität der Lebenslagen älterer schwuler Männer an den sehr unterschiedlichen Biografien deutlich. Der Befragte Werner S. ist zum Zeitpunkt des Interviews 72 Jahre alt. Er ist deutlich geprägt durch eine stark von Religion geprägte Kindheit und Adoleszenz. So wollte er Pfarrer werden, verließ aber das Kloster, weil er mit der Unaufrichtigkeit gegenüber Homosexuellen in der Kirche nicht mehr leben konnte. Er outet sich Zeit seines Lebens nicht voll, sondern z. T. in der Szene und in seiner Hausgemeinschaft. Daher möchte er auch unbedingt im Falle einer Pflegebedürftigkeit im Haus bleiben können. Das Leben in einer eingegrenzten und unfreiwilligen Gemeinschaft mit Bewohner*innen in einem Pflegeheim, in dem er diskriminiert werden könnte, möchte er unbedingt vermeiden und selbst entscheiden können, wem er von seiner Homosexualität erzählt und wem nicht.

Fragen (A) Beschreiben Sie, inwiefern die gesellschaftliche Bewertung von Homosexualität für Werner S.’ Selbstbeschreibung im Alter eine Rolle spielt. (B) Für den Fall, dass Werner S. nicht zu Hause gepflegt werden könnte. Welchen Umgang könnte er sich in einem Pflegeheim wünschen? (C) Bitte erläutern Sie konkret am Beispiel von Werner S. die häufig unhinter-

LSBTIQ* und Alter(n) aus soziologischer Sicht

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fragte Gleichsetzung von Männlichkeit mit heterosexueller Männlichkeit. Welche Folgen kann Alter(n) und Homosexualität für das Verständnis der Männlichkeit schwuler Männer haben? Schlussfolgerungen Mehr und mehr soziologische Forschungen beschäftigen sich mit der Bedeutung von Älterwerden für die eigene Identität (Amrhein/Backes 2008; Graefe 2013). Auch aus Sicht der Queer/Gender Studies (siehe Beitrag Zeyen i. d. B.) gibt es einige Beiträge dazu, dass Identitätskategorien instabil und vielfältig sein können. An der Schnittstelle wird erkennbar, dass sowohl Homosexualität als auch Alter(n) von Individuen zwar individuell geformt werden, aber dabei immer in Bezug zu gesellschaftlichen Diskursen gesetzt werden. Älteren schwulen Männern bietet gerade der Zwang zur Distanzierung von heteronormierten Alter(n)s- und Begehrensvorstellungen die Möglichkeit, sich als schwuler Mann »authentisch«, aber doch für andere anerkennbar zu beschreiben. Die Stärke einer soziologischen Perspektive ist es, dass der Zusammenhang von gesamtgesellschaftlichen Verhandlungen und individuelle Verarbeitung in den Blick genommen werden kann. So wird deutlich, dass gesamtgesellschaftliche Strukturen, Diskurse und Identitätsverständnisse älterer LSBTIQ* sich gegenseitig bestimmen. Literatur Amrhein, L./Backes, G. M. (2008): Alter(n) und Identitätsentwicklung: Formen des Umgangs 8 Weitere Lernmaterialien mit dem eigenen Älterwerden. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 41, 382–393. Backes, G. M. (2007): Geschlechter – Lebenslagen – Altern. In: U. Pasero/G. M. Backes/K. R. finden Sie im DownloadSchroeter (Hg.): Altern in Gesellschaft. Ageing – Diversity – Inclusion (S. 152–183). Wiesbaden. bereich zu Bochow, M. (2005): Ich bin doch schwul und will das immer bleiben. Schwule Männer im drit- ­diesem Buch ten Lebensalter. Hamburg. Butler, J. (1998): Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin. Calasanti, T./King, N. (2013): Intersectionality and age. In: J. Twigg/W. Martin (Hg.): Routledge handbook of cultural gerontology (S. 193–200). London u. a. Connell, R. (2015): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten (4. durchges. und erw. Aufl.). Wiesbaden. Denninger, T./Schütze, L. (Hg.) (2017): Alter(n) und Geschlecht. Neuverhandlungen eines sozialen Zusammenhangs. Münster. van Dyk, S./Küppers, T. (Hg.) (2016): Theorizing Age – Postcolonial Perspectives in Aging Studies. Journal of Aging Studies 39 (Special Issue). Erikson, E. H. (1995): Der vollständige Lebenszyklus (3. Aufl.). Frankfurt am Main. Fooken, I. (1999): Geschlechterverhältnisse im Lebenslauf. Ein entwicklungspsychologischer Blick auf Männer im Alter. In: B. Jansen/F. Karl/H. Radebold/R. Schmitz-Scherzer (Hg.): Soziale Gerontologie. Ein Handbuch für Lehre und Praxis (S. 441–452). Weinheim u. a.

36

Lea Schütze

Gildemeister, R. (2008): Was wird aus der Geschlechterdifferenz im Alter? Über die Angleichung von Lebensformen und das Ringen um biografische Kontinuität. In: S. Buchen/M. S. Maier (Hg.): Älterwerden neu denken. Interdisziplinäre Perspektiven auf den demografischen Wandel (S. 197–215). Wiesbaden. Gildemeister, R./Robert, G. (2008): Geschlechterdifferenzierungen in lebenszeitlicher Perspektive. Interaktion – Institution – Biografie. Studientexte zur Soziologie. Wiesbaden. Graefe, S. (2013): Der Widerspenstigen Zähmung: Subjektives Alter(n), qualitativ erforscht. In: Forum qualitative Sozialforschung 14 (2). http://www.qualitative-research.net/index.php/ fqs/article/view/1917/3538 (Zugriff am 29.07.19). Graefe, S./van Dyk, S./Lessenich, S. (2011): Altsein ist später. Alter(n)snormen und Selbstkonzepte in der zweiten Lebenshälfte. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 44 (5), 299–305. Krell, C. (2014): Alter und Altern bei Homosexuellen. Weinheim u. a. Küppers, C. (2014): Intersektionalität. In: Gender Glossar, 5 Absätze. Online verfügbar unter http://gender-glossar.de (Zugriff am 29.07.19). Leontowitsch, M. (2017): Altern ist nicht nur weiblich. Das Altern als Feld neuer Männlichkeiten. In: T. Denninger/L. Schütze (Hg.): Alter(n) und Geschlecht. Neuverhandlungen eines sozialen Zusammenhangs (S. 108–130). Münster. Schütze, L. (2019): Schwul sein und älter werden. Selbstbeschreibungen älterer schwuler Männer. Reihe Geschlecht und Gesellschaft. Wiesbaden. Villa, P.-I. (2012): Judith Butler. Eine Einführung (2. akt. Aufl.). Frankfurt am Main u. a.

Weiterführende Literatur Berger, R. (1982): Gay and gray. The older homosexual man. Urbana. Boxer, A. M. (1997): Gay, Lesbian and Bisexual Aging into the twenty-first Century: An Overview and Introduction. Journal of Gay, Lesbian, and Bisexual Identity, 2 (3/4), 187–197. van Dyk, S. (2015): Soziologie des Alters. Bielefeld.

2.4 LSBTIQ* und Alter(n) aus sozialarbeiterischer Sicht Ralf Lottmann und Tamara-Louise Zeyen

Hintergrund Die Internationale Gesellschaft für Soziale Arbeit (IFSW) definiert Soziale Arbeit folgendermaßen: »Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Selbstbestimmung von Menschen. […] Soziale Arbeit befähigt Menschen, die Herausforderungen des Lebens zu bewältigen und die Lebensqualität zu verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein und hinterfragt diese« (IFSW 20144, übersetzt nach DBSH 2016). In der Sozialen Arbeit geht es also darum, Veränderungen durch Befähigung (Empowerment) von Individuen und sozialen Gruppen mit Blick auf gesellschaftliche Gerechtigkeit herbeizuführen. Dabei umfasst sie die Förderung eines kritischen Bewusstseins, indem von in der Sozialen Arbeit Tätigen Privilegien, Strukturen und Unterdrückungsmechanismen reflektiert werden sollen. Dies können zum Beispiel Behinderung, Sprache, Religion oder eben sexuelle und geschlechtliche Identität sein. Soziale Arbeit mit Älteren fokussiert vor allem die Auswirkungen von individuellen Alternsprozessen und die Bewältigung problematischer Lebenslagen, darunter auch die Folgen gesundheitlicher Beeinträchtigungen. Dazu gehören z. B. eingeschränkte Teilhabemöglichkeiten von älteren Menschen, Isolations4

»Social work is a practicebased profession and an academic discipline that promotes social change and development, social cohesion, and the empowerment and liberation of people. […] Underpinned by theories of social work, social sciences, humanities and indigenous knowledge, social work engages people and structures to address life challenges and enhance wellbeing« (IFSW 2014).

/ Soziale Arbeit befähigt Menschen, Herausforderungen zu bewältigen

/ Soziale Arbeit mit Älteren fokussiert Teilhabe

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/ Menschenrecht auf höchsten erreichbaren Gesundheitszustand (Art. 12)

Ralf Lottmann und Tamara-Louise Zeyen

erfahrungen, gesellschaftliche Prozesse der Ausgrenzung oder ein nicht mehr gelingender Alltag (Schmidt 2010), bis hin zu einem sozialen Sterben aufgrund des »Verlusts von Anerkennung und sozialen Teilhabechancen« (Tillmann 2017, S. 29). In Bezug auf die Versorgung sind von der Sozialen Arbeit die Folgen gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die Lebensqualität in den Blick zu nehmen, um zum einen die soziale Teilhabe und zum anderen das Menschenrecht auf den »höchsten erreichbaren Stand an körperlicher und geistiger Gesundheit« zu gewährleisten (siehe UN-Sozialpakt 1966, Art. 12). Auch hier ist die Aufgabe der Sozialen Arbeit, den jeweiligen Menschen zu befähigen, die Teilhabe und das Wohlbefinden zu steigern, individuelle Rehabilitationsoder Förderungspotenziale zu erkennen und die Selbsthilfe zu aktivieren. Aus diesem Grund gilt es für die Soziale Arbeit, sich nicht nur Mehrheiten in der Gesellschaft zuzuwenden, sondern die Rechte aller Menschen, und besonders von vulnerablen Bevölkerungsgruppen, zu vertreten. Dabei gehört es zum Selbstverständnis von Sozialarbeiter*innen Kultur und Gesellschaft als etwas Konstruiertes oder auch Gebildetes zu verstehen, die sich fortwährend verändern und sich verändern lassen (IFSW 2014). Herausforderungen

/ Unsichtbarkeit von ­älteren LSBTIQ* ­Menschen

Die fehlende Wahrnehmung von Diversität monierte Berger bereits 1982, indem er darauf verwies, dass die helfenden Berufe ältere homosexuelle Personen ignorierten (Berger 1982). Diese Aussage lässt sich heute noch bestätigen und auf die gesamte LSBTIQ*-Community ausweiten. Was ist aber bisher in der Praxis geschehen? Und was bedeutet das für die Soziale Arbeit in der Altenhilfe und in der Pflege? Daran anknüpfend wird in diesem Kapitel die angesprochene Diversität in Bezug auf das Alter(n) als Ansatzpunkt für die Soziale Arbeit genauer betrachtet (siehe auch Beiträge Castro Varela und Zeyen i. d. B.). Laut Hildebrandt (2012) gehen die Angebote der Sozialen (Alten-)Arbeit kaum auf die stattfindende Differenzierung und Pluralisierung von Lebensformen (älterer) Menschen ein, auch die Individualisierung der Gesellschaft und die sich verändernden familialen Werte werden nur bedingt thematisiert. Ebenfalls tut sich die Gerontologie hier schwer (Lottmann 2018; Misoch 2016). In der Alterns- und Pflegeforschung ist eine Heteronormativität zu verzeichnen, die sich auf die Pflegepraxis auswirkt. Heteronormativität in Pflegeeinrichtungen heißt, dass allen Bewohner*innen zunächst Heterosexualität unterstellt wird (Westwood 2015; King 2016; zu Cis-Normativität siehe Beitrag Sauer i. d. B.). In der Pflege wird das »Unsichtbarmachen« von Individuen mit

LSBTIQ* und Alter(n) aus sozialarbeiterischer Sicht

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ihren Lebensgeschichten durch problematische Rahmenbedingungen, etwa Mangel an Zeit und an Fachpersonal, für die in der Pflege Tätigen verstärkt. Das Ziel einer personenzentrierten Pflege (Kitwood 2000), die die individuellen Bedürfnisse der zu Pflegenden in den Blick nimmt, kann so kaum erreicht werden. Dadurch wird die Versorgungsqualität der Bewohner*innen deutlich gemindert, im schlimmsten Fall verschlechtern sich deren Mobilität und gesundheitliche Lage (siehe auch Beitrag Gerlach/Schupp i. d. B.). Fallbeispiel5 Anton G. ist 75 Jahre alt, ist homosexuell, lebt seit circa 15 Jahren in einem Pflegeheim in einer ostdeutschen Großstadt (Pflegestufe II). Er ist halbseitig gelähmt und leicht demenziell eingeschränkt. Sein letzter Lebenspartner ist vor zwölf Jahren gestorben. Herr G. muss erleben, dass seine früheren Freund*innen ihn kaum im Pflegeheim besuchen. Herr G. lehnt das Wort »schwul« für sich ab, bezeichnet das Wort gar als »furchtbar« und ist in einer Zeit aufgewachsen, in der Homosexuelle meist im Verborgenen lebten. Er negiert eine Bedürftigkeit als schwuler Mann und käme auch nicht auf die Idee, einen schwulen Besuchsdienst zu kontaktieren. Dem steht ein starkes Verlangen nach sozialer Teilhabe oder Besuchen von Kulturangeboten gegenüber. Er überlässt es den anderen, sich einen Reim aus seinem Leben/ Lebensstil zu machen, geht aber davon aus, dass sie ihn als schwulen Mann wahrnehmen. Anton: »Das kann sich doch jeder zusammenreimen. Und wenn er so dumm ist … irgendwann wird er das schon merken.«

Fragen (A) Wie werden biografische Informationen üblicherweise erhoben und worauf ist bei LSBTIQ*-Senior*innen zu achten? (B) Welche Maßnahmen in Altenhilfe und -pflege sind am besten dazu geeignet, die biografischen Informationen von Anton G. zu ermitteln? (C) Welche Besonderheiten beobachten Sie im Fall von Anton G.? Wie könnte ein biografischer Ansatz bzw. »lebensweltorientierte Arbeit« dazu beitragen, das Wohlbefinden von Herrn G. zu stärken? Bitte beschreiben Sie konkrete Beispiele. 5 Dieses Fallbeispiel ist den Daten des Forschungsprojekts GLEPA der Alice Salomon Hochschule entnommen worden (Lottmann 2018).

/ Fallbeispiel Anton G.: »… irgendwann wird er das schon merken.«

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Ralf Lottmann und Tamara-Louise Zeyen

Hintergründe zur Lösung / Lebenswelt fokussiert die subjektive Erlebenssituation

Um hier konkrete Handlungskonzepte anbieten zu können, ist eine Verstärkung der Lebensweltorientierung wichtig, welche »[…] die (alten) Menschen in ihren lebensweltlichen Kontexten wie Biografien, Ressourcen und Perspektiven […] [wahrnimmt] und dabei ihren objektiven Lebenszusammenhängen sowie subjektiven Erlebenssituationen Rechnung […] [trägt]« (Hildebrandt 2012, S. 254 f.). Die Relevanz Sozialer Arbeit in der Pflege wird an diesem Beispiel durch den biografischen Bezug deutlich. Ihr kommt bei der Verbesserung der Situation von älteren LSBTIQ*-Personen, welche in ihrer Vergangenheit vielfach diskriminiert und kriminalisiert wurden eine außerordentliche Stellung zu (siehe etwa Gerlach/Schupp 2016; Lautmann 2012). Im Alltag – der in der Pflege durch Zeitmangel und Ausrichtung auf körperliche Verrichtungen geprägt ist – werden vergleichbare »biografische Umstände« nur selten sichtbar. Doch ist für eine gute Pflege- und Lebensqualität sowie für soziale Teilhabe die Unterstützung durch die Soziale Arbeit nötig. Kulturelle Veranstaltungen mit Bezug zu schwulem Leben, zu einer Biografiearbeit, die den Lebensstil von Herrn G. berücksichtigt, können hier hilfreich sein. Schlussfolgerungen

/ Forderung an die Soziale Arbeit

/ Inter­ profes­sionelle Zusammen­ arbeit

Zur Sozialen Arbeit in der Altenhilfe und -pflege ist festzustellen, dass die Profession der Sozialen Arbeit leider kaum offiziell erkennbar wird und die Rolle der Sozialen Arbeit diffus bleibt (Schmidt 2010). In der Sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) oder in den Länderheimrechtsgesetzen wird die Rolle der Sozialen Arbeit kaum geregelt. Allein die Aufgaben des Pflegepersonals und der Leitung der Einrichtungen sind festgelegt und sie entscheiden über Personal und Befugnisse. Das ist auch ein Ergebnis der fehlenden Thematisierungen in den Lehrplänen der Pflegeberufe und der nachrangigen Bedeutung der Altenhilfe in der Ausbildung von Sozialarbeiter*innen. Die neue Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Pflegeberufe (PflAPrV) bezieht soziale Netzwerke und Integration sowie soziales Umfeld aber explizit ein. Und auch die Rahmenpläne der Fachkommission nach § 53 PflBG Pflegeberufegesetz beziehen die Lebenswelten von LSBTIQ*-Senior*innen erstmals grundsätzlich ein. Doch die interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen Professionen in der Altenpflege und die Qualifikationsprofile der Verantwortlichen für klassische Aufgaben der Sozialen Arbeit bleiben in der Praxis weitgehend unklar (Lottmann/Kollak 2018). Das eröffnet gleichzeitig Potenziale für Ein-

LSBTIQ* und Alter(n) aus sozialarbeiterischer Sicht

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richtungen und Lehrpersonal, die Funktion der Sozialen Arbeit zu stärken und die Anwendung bestimmter Verfahren, wie z. B. dem Care- und CaseManagement in der Pflege (siehe Beitrag Gerlach/Schupp i. d. B.), zu fördern (Kollak/Schmidt 2015). Es bleibt Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden, des Lehrpersonals in Hochschulen und der Praktiker*innen hier eine Verbesserung der interprofessionellen Zusammenarbeit zu erreichen. Literatur Aner, K./Karl, U. (Hg.) (2010): Handbuch Soziale Arbeit und Alter. Wiesbaden. 8 Weitere Berger, R. M. (1982): The unseen minority: older gays and lesbians. Social Work, 27 (3), 36–242. Lernmaterialien Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e. V. (DBSH) (2016): Deutschsprachige Definition finden Sie im DownloadSozialer Arbeit der Fachbereichstag Soziale Arbeit und DBSH. https://www.dbsh.de/file- bereich zu admin/downloads/20161114_Dt_Def_Sozialer_Arbeit_FBTS_DBSH_02.pdf (Zugriff am ­diesem Buch 04.06.2018). Gerlach, H./Schupp, M. (2016): Lebenslagen, Partizipation und gesundheitlich-/pflegerische Versorgung älterer Lesben und Schwuler in Deutschland: Expertise zum Siebten Altenbericht der Bundesregierung. http://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/49927/ ssoar-2016-gerlach_et_al-Lebenslagen_Partizipation_und_gesundheitlich-pflegerische_ Versorgung.pdf?sequence=1 (Zugriff am 20.05.2018). Hildebrandt, J. (2012): Lebensweltorientierte Soziale (Alten-) Arbeit. In: G. Kleiner (Hg.): Alter (n) bewegt: Perspektiven der sozialen Arbeit auf Lebenslagen und Lebenswelten (S. 249– 259). Wiesbaden. International Federation of Social Workers (ISFW) (2014): Global Definition of Social Work. http://ifsw.org/get-involved/global-definition-of-social-work/ (Zugriff am 20.05.2018). King, A. (2016): Older Lesbian, Gay and Bisexual Adults: Identities, Intersections and Institutions. London. Kitwood, T. (2000): Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern. Kleiner, G. (Hg.) (2012): Alter (n) bewegt: Perspektiven der sozialen Arbeit auf Lebenslagen und Lebenswelten. Wiesbaden. Kollak, I./Schmidt, S. (2015): Fallübungen Care und Case Management. Berlin u. a. Lautmann, R. (2012): Eine Lebenswelt im Schatten der Kriminalisierung – der Homosexuellenparagraph als Kollektivschädigung. In: LADS (Hg.): § 175 StGB – Rehabilitation der nach 1945 verurteilten homosexuellen Männer (S. 71–93). Berlin. Lottmann, R. (2018): LSBT*I-Senior*innen in der Pflege: Zu Relevanz und Besonderheiten sozialer Netzwerke und der Arbeit mit Angehörigen. In: Pflege & Gesellschaft 23(3), 228–244. Lottmann, R./Kollak, I. (2018): Eine diversitätssensible Pflege für schwule und lesbische Pflegebedürftige – Ergebnisse des Forschungsprojekts GLESA. International Journal of Health Professions, 5 (1), 53–63. Misoch, S. (2016): »Lesbian, gay & grey«. Besondere Bedürfnisse von homosexuellen Frauen und Männern im dritten und vierten Lebensalter. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 50 (3), 239–246. Purdie-Vaughns, V./Eibach, R. P. (2008): Intersectional invisibility: The distinctive advantages and disadvantages of multiple subordinate-group identities. Sex Roles, 59 (5–6), 377–391. Schmidt, R. (2010): Soziale Arbeit in der pflegerischen Versorgung. In: K. Aner/U. Karl (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter (S. 173–183). Wiesbaden. Tillmann, C. (2017): Soziales Sterben: Dem Leben mehr Tage schenken – zu welchem Preis? Praxis Palliative Care. Für ein gutes Leben bis zuletzt, 37 (o. A.), 27–30.

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Ralf Lottmann und Tamara-Louise Zeyen

Westwood, S. (2015): »We see it as being heterosexualised, being put into a care home’: gender, sexuality and housing/care preferences among older LGB individuals in the UK«. Health and Social Care in the Community, 24 (6), 155–163. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/ epdf/10.1111/hsc.12265 (Zugriff am 20.05.2018).

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2.5 Intersektionale Perspektiven 2.5.1 Intersektionalität, LSBTIQ* und Alter(n) Christine Riegel

Hintergrund Um den vielfältigen Lebenslagen von LSBTIQ* im Alter und der damit verbundenen Diversität des Alterns gerecht zu werden und um in der Bildung, Betreuung, Unterstützung und Pflege von älteren Menschen wie auch in der Politik und der LSBTIQ*-Community angemessen den vielseitigen Bedarfen und Interessen entsprechen zu können, ist es notwendig, die Lebenslagen von älteren und alternden LSBTIQ* in ihrer Komplexität und Unterschiedlichkeit wahrzunehmen und sichtbar zu machen. Dies bedeutet nicht nur, das in Alter(n)sforschung, Altenarbeit und Politik ohnehin vernachlässigte Zusammenspiel von Lebensalter und sexueller Orientierung in den Blick zu nehmen, sondern darüber hinaus auch weitere Macht- und Herrschaftsverhältnisse und damit verbundene soziale Differenzlinien, wie gender, class und race etc., die das Leben von LSBTIQ*wie auch die soziale und pflegerische Arbeit mit älteren und alten Menschen strukturieren. Mit dem Ansatz der Intersektionalität ist potenziell eine solch komplexe Perspektivierung möglich. Vor diesem Hintergrund wird zunächst das Konzept der Intersektionalität in seiner historischen Entstehung, den zentralen Ideen sowie deren theoretischen Bezügen und Kritikpotenzialen dargestellt, wobei auch auf die Queer Theory eingegangen wird. Anschließend wird die Relevanz einer solchen Betrachtungsweise für eine differenzierte und machtsensible Perspektive auf Lebenslagen der heterogenen Gruppe der älteren LSBTIQ* diskutiert sowie Konsequenzen für eine Altenhilfe und Altenbildung, die der Diversität des Alterns gerecht werden will, aufgezeigt. Betrachten wir die Entstehungszusammenhänge von Intersektionalitätsansätzen, wird dessen macht- und herrschaftskritische Bedeutung deutlich. Historisch liegen die Ursprünge in den politischen Kämpfen, v. a. von Schwarzen Feminist*innen gegen gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnisse in den USA. Es wurde aufgezeigt, dass in den verschiedenen Anti-Diskriminierungs-

/ In der Sozialen Arbeit ist eine intersektionale Perspektive auf ältere Menschen notwendig

/ Macht- und herrschaftskritische Bedeutung von intersektionalen Ansätzen

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Christine Riegel

bewegungen, jeweils immer nur ein Unterdrückungsverhältnis im Fokus stehe und die anderen vernachlässigt werden, mit ein- und ausgrenzenden Folgen. Schwarze Lesben und Queers of Colour kritisierten, dass dominante feministische Perspektiven v. a. bürgerlich, weiß, christlich und heterosexuell geprägt seien. Weiterhin gaben Sie zu bedenken, dass von einem kollektiven »Wir« ausgegangen wird, das der Vielfalt der Lebenslagen und Erfahrungen von Frauen* nicht entspricht und somit die damit verbundenen komplexen Diskriminierungsformen ausgeblendet werden. Diese Kritik und Erkenntnis war verbunden mit der Forderung, verschiedene Diskriminierungs- und Unterdrückungsverhältnisse gleichzeitig in den Blick zu nehmen (­Combahee River Collective 2000/1982; Lorde 1984). Auf diese Postulate und kritischen Analysen Bezug nehmend, war es die Rechtswissenschaftlerin Kimberlé ­Crenshaw (1989), die den Begriff Intersektionality geprägt hat, um gerade auf das Zusammenwirken von verschiedenen Diskriminierungslinien, ausgehend von gender, class und race aufmerksam zu machen und dieses in die Analysen, u. a. von Rechtsprechung und Politik, einzubeziehen. Diese Analyseperspektive konnte sich nach der Jahrtausendwende auch im europäischen und deutschsprachigen Raum in den Sozialwissenschaften (Phoenix/Pattynama 2006; Walgenbach/Dietze/Hornscheidt/Palm 2007; Lutz/ Herrera Vivar/Supik 2010; Knapp 2013; Portal Intersektionalität) etablieren und wurde auch in der Praxis, bspw. im Bereich der diskriminierungskritischen Bildungsarbeit oder in der Sozialen Arbeit aufgegriffen (Portal Intersektionalität). / Das ­Konzept der Inter­ sektionalität

Das Konzept der Intersektionalität zielt darauf ab, das Zusammenwirken und die Interdependenzen von verschiedenen Differenzkonstruktionen, wie z. B. Geschlecht, Sexualität, natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten und Grenzziehungen, sozioökonomischer Status bzw. Klasse oder Milieu, Körper, Alter usw. sowie damit verbundene gesellschaftliche Dominanz- und Diskriminierungsverhältnisse, wie Heterosexismus, Rassismus, Klassismus, Ableism und Ageism in den Blick zu nehmen und danach zu fragen, welche ein- und ausgrenzenden Effekte aus diesem intersektionalen Zusammenspiel resultieren. Dabei wird davon ausgegangen, dass die verschiedenen Macht- und Herrschaftsverhältnisse und hegemonialen Differenzordnungen Gesellschaften grundlegend und umfassend durchdringen. Dadurch sind sie auch für jede*n Einzelne*n in der jeweiligen Lebenslage relevant und beeinflussen die Möglichkeiten, das Leben zu gestalten, gleich ob sie in den hegemonialen Verhältnissen (eher) privilegiert oder (eher) deprivilegiert positioniert sind.

Intersektionalität, LSBTIQ* und Alter(n)

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Allerdings kann keinesfalls von einem einheitlichen Konzept der Intersektionalität gesprochen werden. Vielmehr gibt es verschiedene Paradigmen und Auslegungen hinsichtlich des interdependenten Zusammenwirkens von verschiedenen Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen (für einen Überblick Knapp 2013). In sich als machtkritisch verstehenden Intersektionalitätsperspektiven geht es darum, unterschiedliche gesellschaftlich relevante Macht- und Herrschaftsverhältnisse in ihrem Zusammenwirken in den Fokus zu nehmen und nach deren machtvollen Effekten für Politik, soziale Repräsentationen, Diskurse und Aushandlungsprozesse sowie für soziale Praxis in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, wie z. B. Sozialer Arbeit, Altenarbeit, Pflegewesen, der Organisation damit verbundener Institutionen und nicht zuletzt für die Lebenslagen, die Biografien und Lebenspraxis von gesellschaftlichen Subjekten, die in diesen Verhältnissen heterogen positioniert sind, zu fragen. Zur Entwicklung einer solchen kritischen Intersektionalitätsperspektive haben u. a. macht- und hegemoniekritische Konzepte, wie z. B. Rassismuskritik, Postcolonial Studies, Disability Studies und nicht zuletzt die Queer Studies beigetragen (Riegel 2016a). Queer Theory bzw. Queer Studies verstehen sich v. a. als Heteronormativitätskritik, mit Fokus auf das Infragestellen der Dominanz einer heterosexuellen Matrix (Butler 1991) und der damit verbundenen zweigeschlechtlich organisierten und heterosexuell ausgerichteten Geschlechterverhältnisse sowie der vermeintlich natürlichen Kohärenz von biologischem Geschlecht, sozialem Geschlecht und Begehren (Hartmann/Klesse/Wagenknecht/Fritzsche/Hackmann 2007). Mit der Begrifflichkeit von Queer wird auf eine unkonventionelle und marginalisierte Erkenntnisperspektive verwiesen, durch die hegemoniale Perspektiven kritisiert und hinterfragt werden.6 Queer Studies beziehen sich neben dem Sichtbarmachen von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, queerer Perspektiven und Lebensweisen v. a. auf die Dekonstruktion heteronormativer Geschlechterordnungen und eindimensionaler sexueller und geschlechtlicher Identitäten. Allerdings beschränken sie sich in Analyse und Kritik nicht darauf, sondern berücksichtigen auch (mit oder ohne expliziten Bezug auf Intersektionalitätsansätze) andere Macht- und Herrschaftsverhältnisse, ebenso Perspektiven der 6 Die ursprünglich diffamierende und abwertende Begrifflichkeit »queer« (mit dem sexuell Abweichendes und vermeintlich »Schräges« bezeichnet wurde), wurde von der LSBTIQ*Community als Selbstbezeichnung wiederangeeignet, neu kontextualisiert und positiviert. Damit wird auch eine theoretische Blickrichtung und Forschungsperspektive begrifflich markiert.

/ Intersektionalität und Machtkritik

/ Queer Studies

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/ Potenziale eines inter­ sektionalen Queerings

Christine Riegel

Kapitalismus- und Rassismuskritik sowie der Disability Studies. Sushila Mesquita (2016) betont, dass es dabei notwendig ist, kritisch herauszuarbeiten, wie sich verschiedene Macht- und Herrschaftsverhältnisse gegenseitig stärken und einander hervorbringen – Heteronormativität wirkt also nicht nur für sich. »In diesem Sinne ist ein Verständnis der Prozesse nötig, durch die Heteronormativität Normen der able bodiedness [Herv. i. O.], institutionelle Formen von Rassismus und Sexismus sowie Klassenunterschiede stützt und verstärkt, um gegenwärtige hierarchisierte Konstruktionen von Heterosexualität wirkungsvoll problematisieren zu können« (Mesquita 2016, S. 93). Sara Ahmed, die in ihren Arbeiten queer-feministische Theorie, Rassismuskritik und postkoloniale Perspektiven verbindet, bezeichnet »Queering« als eine Haltung der Analyse und Kritik, mit der vorherrschende Normen und Denkordnungen (z. B. binäre Kategorien wie weiblich/männlich, hetero-/homosexuell oder Unterscheidungen von Wir/die Anderen) und damit verbundene Wissenschaftsproduktionen irritiert und infrage gestellt werden (Ahmed 2006, S. 161). Mit dieser Kritik-Perspektive können auch Erkenntnisperspektiven, Modi der Wissensproduktion und Praxisformen in Forschung, (Bildungs-, Hilfeund Unterstützungs-)Praxis und Politik für Senior*innen durchdrungen werden und damit hegemoniale (Normalitäts-)Annahmen, Fokussierungen, Kategorisierungen und Grenzziehungen in ihrer Umsetzung und Anwendung hinterfragt werden, wie z. B. die Selbstverständlichkeit von cis- und heteronormativen Gender- und Familienkonzepten. Der Anspruch eines inter­sek­ tio­nalen Queerings besteht also darin, hetero- und cisnormative Geschlechterordnungen als Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu begreifen und in ihrer interdependenten Verflochtenheit mit anderen Diskriminierungs- und Dominanzverhältnissen herauszuarbeiten sowie deren diskriminierende und normalisierende Effekte aufzuzeigen; so auch in die Auseinandersetzung mit Alter(n) und der Lebensgestaltung von Senior*innen. Dies bedeutet, den queeren Blick als intersektionale Kritikperspektive auf die impliziten Normalitätsvorstellungen von Lebensweisen im Alter zu richten, ebenso darauf, wie sich diese in Organisation und Praxis von Altenarbeit und -politik niederschlagen. Des Weiteren gilt es, queere, intersektionale Sichtweisen und Erfahrungen (u. a. von Mehrfachdiskriminierung) zum Ausgangspunkt von Analysen und der Gestaltung von Wohnen, Betreuung, Versorgung und Pflege im höheren Lebensalter zu machen (siehe Beitrag Zeyen i. d. B.). Allerdings ist an dieser Stelle festzuhalten, dass eine solche komplexe Perspektive weder in der Wissenschaft, noch in Politik, Organisation und Praxis der Altenarbeit und auch kaum in der LSBTIQ*-Community Berücksichtigung

Intersektionalität, LSBTIQ* und Alter(n)

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findet. Im Gegenteil, zumeist wird nur die Aufmerksamkeit auf eine oder zwei Differenzverhältnisse gerichtet, mit der Folge, dass in den anderen Bereichen die damit verbundenen Normalitätsordnungen unhinterfragt tradiert werden, und so wesentliche Aspekte des Lebens von Menschen und damit einhergehende Diskriminierungen aus dem Blick geraten. So kann zum einen mit Blick auf die vorherrschenden Debatten um Intersektionalität und auch für deren Anwendung in Forschung und Praxis konstatiert werden, dass das Thema Alter bzw. Altern bisher insgesamt nur geringe Berücksichtigung in Intersektionalitätsanalysen gefunden hat (bspw. Appelt/Fleischer/Preglau 2014). Zum anderen kann für den Bereich der Altersforschung, Altenarbeit und Politik festgehalten werden, dass der Einbezug von verschiedenen strukturellen Macht- und Dominanzverhältnissen und deren Interdependenzen sowie Perspektiven und Erkenntnisse aus der Rassismuskritik, den Disability Studies oder Trans* Studies keinesfalls zum Status quo gehören (Castro Varela 2016). Eine absolut randständige Bedeutung haben im Bereich der Alter(n)sforschung – zumindest im deutschsprachigen Raum7 – Perspektiven, die das Zusammenspiel von Alter(n) und sexueller Orientierung bzw. geschlechtliche Vielfalt in den Blick nehmen. In der Auseinandersetzung mit Themen queerer Lebenswelten wird die sogenannte dritte Lebenshälfte sowie Fragen der Lebensgestaltung und damit verbundenen Erfordernissen von älteren Queers oft ausgeblendet. Dies gilt auch für die LSBTIQ*-Community.8 Darum bemüht zeigen sich u. a. die Arbeiten und Publikationen von und in Lottmann, Lautmann und Castro Varela (2016), Traunsteiner (2015) und Zwickies (2017). Darin wird durchaus betont, wie wichtig und erforderlich es für den Bereich der Sozial- und Pflegewissenschaften sowie für die Soziale Arbeit ist, die Intersektionen von verschiedenen Diskriminierungsverhältnissen zu berücksichtigen, gerade auch, um den heterogenen Erfahrungskontexten der Menschen gerecht zu werden. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang aber auch, dass bei der Thematisierung sexueller Vielfalt sowie lesbischer und schwuler Lebensweisen im Alter nicht unbedingt die Situation von bisexuell lebenden und v. a. Trans*- und Inter*-Personen berücksichtigt wird. Die Situation 7 Im englischsprachigen Raum gibt es hier bereits weitergehende intersektionale Analysen und Studien, wie z. B. von Cronin und King (2010) oder Schulz und Mullings (2006). 8 So weist bspw. Rüdiger Lautmann (2016, S. 20 ff.) darauf hin, dass es in vielerlei Hinsicht einen Graben zwischen den verschiedenen LSBTIQ*-Generationen und eine Vielzahl an Hierarchisierungen innerhalb der Community gäbe, die v. a. von Älteren so erlebt werden und z. T. mit Diskriminierungserfahrungen sowie Vereinzelungs- und Vereinsamungstendenzen einhergehen.

/ Intersektion von Alter und geschlechtlicher Vielfalt wird kaum beachtet

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Christine Riegel

von Menschen, die sich im hegemonialen System der Zweigeschlechtlichkeit nicht verorten können bzw. wollen, wird in den Diskursen um sexuelle Vielfalt im Alter oft ignoriert und damit deren Situation im Bereich von Pflege, Versorgung und Betreuung noch stärker marginalisiert. Forschungen zur Pflegesituation und Gesundheitsversorgung von Trans*-Personen sind bisher generell eher rar (Appenroth/Castro Varela 2019; Beitrag von Sauer i. d. B.), das spitzt sich mit Bezug auf das höhere Lebensalter noch zu. Werden in Intersektionalitätsanalysen also nur Sexualität und Alter in ihrer Interdependenz in den Blick genommen, besteht die Gefahr, dass die Perspektiven von Queers of Colour, von Disabled Queers, sozioökonomisch deprivilegierten Queers ignoriert und unsichtbar gemacht werden. Ebenso ist es problematisch, wie z. B. in merkmalsbezogenen Intersektionalitätsanalysen, sexuelle Orientierung als eine extra (Differenz-)Kategorie zu deklarieren, ohne diese als Bestandteil heteronormativer Geschlechterverhältnisse (in ihrer interdependenten Verflochtenheit mit anderen Macht- und Herrschaftsverhältnissen) zu betrachten. Damit werden die hegemoniale Kultur der Zweigeschlechtlichkeit sowie die Dominanz der heterosexuellen Matrix (Butler 1991) reproduziert und so auch heteronormative und trans*-feindliche Verhältnisse. Angesichts dieser Lücken und Einseitigkeiten in der Auseinandersetzung mit dem Thema LSBTIQ* und Alter(n) zeigt sich die Notwendigkeit des systematischen Einbezuges intersektionaler und hegemoniekritischer Perspektiven für die Sozial- und Pflegewissenschaften sowie für die Altenarbeit und -politik. Mit einer machtsensiblen intersektionalen Analyseperspektive können die Lebenslagen und Erfahrungen von älteren LSBTIQ* in ihrer Vielfalt und Mehrdimensionalität in den Blick genommen werden. Des Weiteren können vorherrschende soziale Ordnungen und Konstruktionen infrage gestellt werden, die sowohl die Lebenslagen von LSBTIQ* rahmen als auch die strukturellen, politischen, institutionellen Voraussetzungen, in denen Altenarbeit agiert. Eine solche intersektional und diskriminierungskritisch informierte Analyseperspektive ist jedoch mit verschiedenen Herausforderungen verbunden. Herausforderungen / ­Komplexität von interdependenten Macht- und Herrschafts­ verhältnissen als Herausforderung

Eine Herausforderung besteht in der Komplexität und den Interdependenzen der sozialen Verhältnisse sowie der Frage, wie sich diese in den Lebenslagen der Menschen, die darin unterschiedlich und durchaus auch uneindeutig positioniert sind, widerspiegeln. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie diese Komplexität der Interdependenzen und der Überlagerungen verschiedener

Intersektionalität, LSBTIQ* und Alter(n)

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Macht- und Dominanzverhältnisse in einer diskriminierungskritischen und machtsensiblen Forschung – und auch in Politik und Praxis – angemessen aufgegriffen werden kann.9 An dieser Stelle ist auch darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei keineswegs um eine Forschungsmethode handelt, sondern vielmehr um ein sensibilisierendes Konzept. Mit diesem Konzept können nicht nur im Bereich der Forschung, sondern auch in einer professionell reflektierenden Praxis, die Lebenslagen von Adressat*innen von Altenarbeit, als auch die Verhältnisse, in denen diese leben und gegebenenfalls betreut, unterstützt, gepflegt werden, untersucht und reflektiert werden können. Die Lebenslagen von älteren LSBTIQ* unterscheiden sich mit Blick auf die Dimensionen Einkommen und Vermögen, natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten, Gender-Positionierung, sexuelle Orientierung, Bildung, Gesundheitszustand, Beziehungs- und Familienkonstellation, soziale Netzwerke, Wohnsituation und soziale Partizipation. Auch wenn ihnen als sozialer Gruppe gemeinsam ist, dass sie in ihren Lebensweisen und Geschlechtlichkeiten nicht der heterosexuellen und/oder binär organisierten cis-geschlechtlichen Norm entsprechen und sich im höheren oder hohen Lebensalter befinden, sind sie in gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen ganz unterschiedlich sozial positioniert, können in unterschiedlicher Weise von sozialen Ressourcen und Privilegien profitieren bzw. sind negativ von Deprivilegierung und Diskriminierung betroffen und verfügen so über ungleiche Lebenschancen und Möglichkeiten, ihr Leben und auch ihren »Lebensabend« zu gestalten. Wie unterschiedlich die Lebenslagen von älteren LSBTIQ* sind, zeigt sich an den im Folgenden genannten Beispielen: Ȥ die einer älteren, alleinstehenden, migrantischen Trans*-Person, die seit langem mit diversen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat, auf Sozialhilfe angewiesen ist und trotz allem in verschiedenen illegalisierten und ausbeuterischen Jobs arbeitet, um sich über Wasser zu halten; Ȥ die eines weißen, schwulen Cis-Mannes, Anfang achtzig, der als früherer Beamter im höheren Dienst im Alter gut abgesichert ist, sich in Beruf und Öffentlichkeit, u. a. aus Angst vor Diskriminierung und Straffverfolgung nie outete, schon immer alleinstehend lebte und nun bei ihm erste Anzeichen einer Demenz diagnostiziert wurden; 9 Dazu gibt es inzwischen verschiedene Studien, die sich damit auseinandersetzen bzw. diese Ansprüche umzusetzen versuchen. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang bspw. die quantitative Studie von LesMigraS (2012) zu »Gewalt und (Mehrfach-) Diskriminierung von LBT* in Deutschland«. Das Potenzial intersektionaler und v. a. dekonstruktivistischer Perspektiven liegt v. a. auch in qualitativen Untersuchungen (bspw. die Arbeiten von ­Tuider 2015; Riegel 2016a; Lutz 2018).

/ Unterschiedliche Lebenslagen und soziale Positionierung von älteren LSBTIQ*

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Ȥ die einer früheren Sozialpädagogin, die nur eine kleine Rente hat, aber gesundheitlich noch agil ist, seit Jahren mit ihrer jüngeren Partnerin (of Colour) zusammenlebt und nicht nur in der lesbischen Community, auch in der Familie, mit Kindern und Enkel*innen ein festes soziales Netzwerk unterhält; Ȥ die einer Schwarzen Person, emeritierte*r Professor*in, welche seit einem Autounfall mit Mitte dreißig querschnittgelähmt ist, autonom in einer eigenen Wohnung lebt, in den Queer- als auch Disability Studies und Politik aktiv ist und sich angesichts des Lebensabends nach einer stimmigen Lebens- und Wohnform umschaut.

/ Potenziale einer inter­ sektionalen ­Perspektive

An dieser Stelle beispielhaft verschiedene Lebenslagen zu nennen, ist insofern problematisch, als dass dabei immer die Gefahr besteht, der Komplexität der darin wirksam werdenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht gerecht zu werden sowie aus der Vielzahl der Lebenslagen von älteren LSBTIQ* nur bestimmte zu repräsentieren und andere auszublenden. Erst mit einer intersektionalen Perspektive können jeweils am konkreten Fall die Lebenssituation, die damit verbundenen Möglichkeitsräume, die spezifischen Erfahrungen und Handlungspraxen und Lebensstrategien sowie Perspektiven und Bedarfe mit Blick auf die Zukunft bzw. die Gestaltung des Lebens im Alter herausgearbeitet werden. Durch diese Analyse- und Reflexionsperspektive werden die Interdependenz verschiedener sozialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie die machtvollen Folgen dieses Zusammenwirkens analysierbar. Mit ihr kann auch die Verschränkung verschiedener sozialer Ebenen bzw. das Wechselspiel von gesellschaftlichen Bedingungen mit den (Handlungs-)Möglichkeiten der einzelnen Subjekte, ihr Leben zu gestalten und sich mit diesen Bedingungen auseinanderzusetzen, in den Blick genommen werden (ausführlich Riegel 2016a, S. 61 ff.). Für die Analyse der Lebenslagen von älteren LSBTIQ* bedeutet dies, nicht nur eine differenzierende Betrachtung entlang der Kategorien Klasse, Geschlecht, Sexualität, Migration, Religion und Alter vorzunehmen, sondern danach zu fragen, wie die einzelnen LSBTIQ* unterschiedlich in die interdependenten Macht- und Herrschaftsverhältnisse involviert und darin positioniert sind und in welcher Weise diese das Leben und auch das Altern von LSBTIQ* strukturieren und welche Konsequenzen dies für ihre Handlungs- und Lebensmöglichkeiten hat. Daran schließen sich weitere Fragen an, die für die Analyse von Lebenslagen aber v. a. auch die jeweiligen Möglichkeiten, in diesen ungleich strukturierten Verhältnissen zu agieren, erkenntnisleitend sein können.

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1. In welcher Weise werden verschiedene Macht- und Herrschaftsverhältnisse für die Lebenslage und die damit verbundenen (Lebens- und Handlungs-)Möglichkeiten relevant? 2. Wie sind die Einzelnen in diesen interdependenten Verhältnissen sozial positioniert? 3. Mit welchen Privilegien und Benachteiligungen/Diskriminierungen/Marginalisierungen ist dies verbunden? Und wie wurden diese biografisch erfahren? 4. Wie zeigt sich dies jeweils in verschiedenen sozialen Situationen und gesellschaftlichen Lebensbereichen und wie wird dies subjektiv erfahren? 5. Welche Möglichkeiten und Begrenzungen resultieren daraus für die Lebensgestaltung der Einzelnen sowie für deren Handlungsfähigkeit sich mit diesen Voraussetzungen (affirmativ oder auch widerständig) auseinanderzusetzen? Mit einer biografiebezogenen intersektionalen Analyse (Riegel 2016b) ist es möglich, die jeweilige Spezifik der Lebenslage von Einzelnen und zugleich das Eingebundensein in gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu analysieren und damit auch bestimmte Diskriminierungserfahrungen sowohl als fallspezifisch zu verstehen, als auch das strukturell Allgemeine darin zu erkennen. Diese Erkenntnisse können für die Unterstützung und Begleitung von älteren LSBTIQ* als auch für politische und strukturelle Entscheidungen im Bereich von Altenarbeit und Pflegewesen zum Ausgangspunkt genommen werden. An dem folgenden Fallbeispiel, einer erfundenen, aber so durchaus möglichen Konstellation im Bereich des Pflegewesens, wird deutlich, wie sich Verhältnisse von Dominanz und Unterordnung, Macht und Ohnmacht überlagern. Fallbeispiel Helmut M., 78, und Jürgen H., 61, ein gut situiertes schwules Paar, leben seit vielen Jahren gemeinsam in einem großzügigen Haus am Ortsrand. Helmut wird nach einem Schlaganfall pflegebedürftig und sie engagieren über eine Vermittlungsagentur eine 24-Stunden-Betreuer*in. Estera P. bleibt jedoch nicht lange. Sie packt am Abend des ersten Arbeitstages wieder ihre Sachen und geht ohne eine Erklärung. Die Männer sind verwundert und entsetzt, denn sie deuten dies als Homophobie und beschweren sich bei der Agentur. Diese interessiert sich jedoch nicht dafür. Es wird lediglich gesagt, dass sie solche Informationen bei der Vermittlung nicht an die Pflegekräfte weiter-

/ Subjektperspektive in intersektionalen Analysen

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geben. Sie würden eine andere Betreuerin vermittelt bekommen, müssten aber nochmal die Gebühr bezahlen. Estera P. ihrerseits, hat das Haus und ihre neue Arbeitsstätte so fluchtartig verlassen – dies vertraut sie nur einer anderen Pflegekraft aus Rumänien an – weil sie Panik und Angst bekam, als sie realisiert hat, dass sie in einem Haus allein mit zwei Männern wohnen muss. Sie hatte zuvor bei ihrer Arbeit in Privathaushalten Gewalt und sexuelle Übergriffe durch den »Hausherrn« erfahren und diese Situation erschien ihr nun zu gefährlich. Nachdem die Agentur ihr damals nicht geglaubt und nichts dagegen unternommen hat, will sie ihre Bedenken und Gründe für ihr überstürztes Weggehen keinesfalls mitteilen. Sie bekommt bei der Agentur einen negativen Vermerk, gilt als »schwierig« und wird nach kurzer Zeit gekündigt.

Fragen (A) Welche Macht- und Ungleichheitsverhältnisse überlagern sich in dieser Situation? In welcher Weise werden diese wirksam, mit welchen Folgen? (B) Welche Zuschreibungen stehen hier im Raum? Was hat dies mit den bestehenden Machtverhältnissen und sozialen Positionierungen der Beteiligten zu tun? (C) Was muss von Vermittlungsagenturen von 24-Stunden-Pflegekräften getan werden, um solche Situationen zu vermeiden? Was resultiert daraus für die Altenhilfe? Hintergründe zur Lösung der Fragen Pflege- und Care-Verhältnisse, und somit auch die Altenarbeit und -hilfe, sind im Kontext gesellschaftlicher Reproduktion organisiert und dabei in vielfältige Macht- und Herrschaftsverhältnisse involviert. So sind Care- und Pflegetätigkeiten in kapitalistischen Verhältnissen Dienstleistungen und zugleich »Produkte«, die vermittelt und verkauft werden. Gleichzeitig handelt es sich um Tätigkeiten und Aufgaben, die in der zweigeschlechtlich organisierten Arbeitsteilung, wie sie sich als bürgerliches Modell seit der Industrialisierung herausgebildet hat, dem familiären Reproduktionsbereich zugeordnet wird, der gegenüber dem gesellschaftlichen Produktionsbereich wenig Anerkennung erfährt, als »weibliche« Domäne gilt und als Reproduktionsarbeit im Privaten unentgeltlich zu leisten ist. Aber auch entlohnte Care- und Pflegetätigkeit ist vergleichsweise schlecht bezahlt und es sind nicht selten migran­ tische Frauen*, die in prekären Verhältnissen und unter ausbeuterischen

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Bedingungen Care-Arbeit leisten, u. a. in der 24-Stunden-Betreuung. Im Zuge einer solchen Care-Migration verschieben sich die geschlechterbezogenen Reproduktionsordnungen in globalen kapitalistischen Verhältnissen sowie deren jeweils nationale oder lokale Organisation. So wird, wenn von den Zentren Europas Pflegekräfte aus Osteuropa oder dem globalen Süden angeworben werden, der Fachkräftemangel in den Herkunftsländern verstärkt. Gleichzeitig muss, wenn Frauen* aus Osteuropa oder dem globalen Süden in die industriellen Zentren reisen, um dort Reproduktionsaufgaben in Betreuung, Pflege oder auch Reinigung zu übernehmen, die Übernahme von Care-Aufgaben in deren Familie, die zurückgeblieben ist, neu organisiert und ausgehandelt werden (Lutz 2018). Um das Ineinanderwirken und das sich gegenseitige Bedingen dieser Verhältnisse, die sich dann auch in ganz konkreten Pflege- und Betreuungssituationen niederschlagen und artikulieren, in dieser Komplexität und Interdependenz erfassen und betrachten zu können, kann eine intersektionale Perspektive, die auch die Dimension globalisierter Ungleichheits- und Abhängigkeitsverhältnisse mit einbezieht, hilfreich sein. Mit einer solchen Intersektionalitätsanalyse können konkrete Konstellationen (von Betreuung, Pflege und Unterstützung im Alter sowie deren Praxis und Organisation) daraufhin untersucht werden, wie darin verschiedene gesellschaftliche Macht- und Unterdrückungsverhältnisse zusammenspielen, wie daraus spezifische Beziehungskonstellationen und Spannungsfelder entstehen, in denen Privilegierungen nicht eindeutig sind und sich verschiedene Diskriminierungserfahrungen und Verletzungspotenziale überlagern und neue Dominanzen und Abhängigkeiten hervorgebracht werden. Mit der Perspektive der Intersektionalität kann also sowohl diskriminierungs- und normativitätskritisch die Diversität des Alterns und der Lebenslagen von älteren LSBTIQ* in den Blick genommen und in der Altenarbeit zum Ausgangspunkt gemacht werden. Es kann danach gefragt werden, inwiefern die Diskurse und Praxis in der Altenarbeit durch Heteronormativität geprägt sind, aber auch inwiefern Rassismen und Kulturalisierungen sowie klassistische Vorstellungen über den Prozess des Alterns an sich, die damit verbundene Lebensführung sowie Familien- und Beziehungsformen in der Organisation und Gestaltung von Altenarbeit wirksam werden. Damit können die gesellschaftlichen, strukturellen und organisationalen Verhältnisse und Voraussetzungen, in denen Altenarbeit sowie gesundheitliche und soziale Versorgung gemacht wird, hinsichtlich ihrer ein- und ausgrenzenden Effekte analysiert werden, um dann in adäquater Weise darauf reagieren zu können. Für eine solche intersektionale Perspektive der Analyse, Reflexion und Kritik wurden für die Bildungsarbeit und die Soziale Arbeit bereits Fragen

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/ Kritische Reflexion der normativen Annahmen in der Altenarbeit

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entwickelt und umgesetzt (Riegel 2016a, 2018), mit denen auch Praxis und Politik der Altenarbeit in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen, institutionellen und situativen Kontext untersucht und reflektiert werden können. Diese Fragen richten sich an die jeweiligen Rahmenbedingungen, aber auch an konkrete Situationen, soziale Praktiken, Repräsentationen und Diskurse, die für die Organisation und Praxis von Altenarbeit in ihren verschiedenen Feldern sowie auch in der Ausbildung und Qualifikation von Fachkräften relevant sind. Mit dieser Perspektive können auch bestehende normative Annahmen hinterfragt werden: Welche Normalitätsannahmen bestehen in diesen Feldern der Altenarbeit bzgl. Geschlecht, Sexualität, Körper, natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeiten, sozialer Klasse, Alter etc.? Inwiefern werden diese in der Ausgestaltung und Organisation von Hilfe und Unterstützung relevant? Inwieweit kommt es hier zu Problematisierungen, Pathologisierungen, Kulturalisierungen, Marginalisierungen? Inwieweit finden Lebensrealitäten und Praxen jenseits dieser Normvorstellungen Berücksichtigung? Wer kann von diesen Verhältnissen profitieren, wer bleibt unberücksichtigt bzw. wird in den Bedarfen ignoriert? Welche Bedeutung und welche Folgen hat dies für die beteiligten Subjekte, sowohl für ältere LSBTIQ*, aber auch für die dort tätigen Arbeitskräfte? Welche Funktionen und Folgen hat dies für die vorherrschende soziale Ordnung, nicht nur im Bereich der Altenarbeit und -politik, sondern auch gesamtgesellschaftlich, unter Einbezug globalisierter Ungleichheitsverhältnisse? Allerdings kann eine intersektionale diskriminierungskritische Perspektive nicht bei Analyse und Kritik stehen bleiben. Darüber hinaus ist unter einer Perspektive der Veränderung (der Organisation und Praxis der Altenarbeit) auch zu fragen, welche Möglichkeiten es gibt, die bestehenden, jedoch machtvoll wirksamen Strukturen, Diskurse und Praktiken zu durchbrechen und zu einer Veränderung dieser Verhältnisse im Bereich der Altenarbeit beizutragen. Hierzu kann beispielsweise das Konzept der diversitätsbewussten Sozialen Arbeit (Leiprecht 2008), für das die Aspekte von Intersektionalität, Diskriminierungskritik und Subjektorientierung zentral sind, für eine entsprechende Ausrichtung und Gestaltung der Praxis der Altenarbeit wichtige Impulse geben. Schlussfolgerungen

/ Intersektionale Perspektive in der (Alten-) Bildungsarbeit

Intersektionalität kann also in mehrfacher Hinsicht als Perspektive der Analyse, Reflexion, Kritik und Veränderung fruchtbar gemacht werden, für ein besseres Verständnis für die »Diversität des diversen Alterns« (Lautmann 2016,

Intersektionalität, LSBTIQ* und Alter(n)

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S. 39) und v. a. für die daraus resultierenden Bedarfe und Konsequenzen für die komplexen Anforderungen an Altenarbeit und Altenpolitik. Intersektionale diskriminierungskritische Perspektiven können zu einem Queering der Altenarbeit, aber auch der diesbezüglichen Forschung beitragen, welches über Heteronormativitätskritik hinausgeht. Eine solche Perspektive befördert eine adäquate diskriminierungskritische Ausrichtung und Gestaltung von Altenhilfe, Pflege und Betreuung, womit potenziell auch den vielfältigen Bedarfen, aber auch den ebenso vielfältigen Erfahrungen im Leben von LSBTIQ* eher entsprochen werden kann, sodass sich bereits lebenslang erfahrene Diskriminierungen von queeren Nutzer*innen im Rahmen von Hilfe und Unterstützung im Alter nicht wiederholen und von diesen Einrichtungen reproduziert werden. Dabei dürfen globalisierte Ungleichheits- und internationale Abhängigkeitsverhältnisse, und wie diese in lokale Care- und Pflegeverhältnisse hineinwirken, nicht aus dem Blick geraten. Literatur Ahmed, S. (2006): Queer Phenomenology. Durham. 8 Weitere Appelt, E./Fleischer, E./Preglau, M. (Hg.) (2014): Pflege, Betreuung und Begleitung alter Men- Lernmaterialien schen in der informellen Pflege in Österreich. Intersektionelle Analysen und Perspektiven. finden Sie im DownloadInnsbruck. bereich zu Appenroth, M. N./Castro Varela, M. d. M. (Hg.) (2019): Trans & Care. Trans Personen zwischen ­diesem Buch Selbstsorge, Fürsorge und Versorgung. Bielefeld. Butler, J. (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main. Castro Varela, M. d. M. (2016): Altern Andere anders? Queere Reflexionen. In: R. Lottmann/R. Lautmann/M. d. M. Castro Varela (Hg.): Homosexualität_en und Alter(n). Ergebnisse aus Forschung und Praxis (S. 51–67). Wiesbaden. Combahee River Collective (2000/1982): A Black Feminist Statement. In: W. K. Kolmar/F. Bartkowski (Hg.): Feminist Theory. A Reader (S. 272–277). California. Crenshaw, K. (1989): Demarginalizing the intersection of race and sex. A Black feminist critique of antidiscrimination doctrine, feminist theory and antiracist politics. The University of Chicago Legal Forum, 1989 (1), 139–167. Cronin, A./King, A. (2010): Power, inequality and identification. Exploring diversity and intersectionality amongst older LGB adults. Sociology, 44 (5), 876–892. Hartmann, J./Klesse, C./Wagenknecht, P./Fritzsche, B./Hackmann, K. (Hg.) (2007): Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht. Wiesbaden. Knapp, G.-A. (2013): Zur Bestimmung und Abgrenzung von »Intersektionalität«. Überlegungen zu Interferenzen von »Geschlecht«, »Klasse« und anderen Kategorien sozialer Teilung. Erwägen Wissen Ethik. Forum für Erwägungskultur, 24 (3), 341–354. Lautmann, R. (2016): Die soziokulturelle Lebensqualität von Schwulen und Lesben im Alter. In: R. Lottmann/R. Lautmann/M. d. M. Castro Varela (Hg.): Homosexualität_en und Alter(n). Ergebnisse aus Forschung und Praxis (S. 15–50). Wiesbaden. Leiprecht, R. (2008): Eine diversitätsbewusste und subjektorientierte Sozialpädagogik, Begriffe und Konzepte einer sich wandelnden Disziplin. Neue Praxis, 38 (4), 427–439.

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LesMigraS Antigewalt- und Antidiskriminierungsbereich der Lesbenberatung Berlin e. V. (2012): »… nicht so greifbar und doch real« Eine quantitative und qualitative Studie zu Gewalt- und (Mehrfach-) Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans* in Deutschland. http://www.lesmigras.de/tl_files/lesmigras/kampagne/Dokumentation%20 Studie%20web.pdf. (Zugriff am 20.11.2019). Lorde, A. (1984): Age, Race, Class and Sex. Women Redefining Difference. In: A. Lorde/C. Clarke (Hg.): Sister Outsider. Essays and Speeches (S. 114–123). Berkeley. Lottmann, R./Lautmann R./Castro Varela, M. d. M. (Hg.) (2016): Homosexualität_en und Alter(n). Ergebnisse aus Forschung und Praxis. Wiesbaden. Lutz, H./Herrera Vivar, M. T./Supik, L. (Hg.) (2010): Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes. Wiesbaden. Lutz, H. (2018): Die Hinterbühne der Care-Arbeit. Transnationale Perspektiven auf Care-­ Mi­gra­tion im geteilten Europa. Weinheim. Mesquita, S. (2016): Eine »Ein-Thema-Methodologie«? Epistemologische Überlegungen zum Heteronormativitätskonzept. In: M. T. Herrera Vivar/P. Rostock/U. Schirmer/K. Wagels (Hg.): Über Heteronormativität. Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Verhältnisse und konzeptionelle Zugänge (S. 89–101). Münster. Phoenix, A./Pattynama, P. (2006): Intersectionality. European Journal of Women’s Studies, 13 (3), 187–192. Portal Intersektionalität. Forschungsplattform und Praxisforum für Intersektionalität und Interdependenzen. http://portal-intersektionalitaet.de/startseite/ (Zugriff am 16.12.2019). Riegel, C. (2016a): Bildung – Intersektionalität – Othering. Pädagogisches Handeln in widersprüchlichen Verhältnissen. Bielefeld. Riegel, C. (2016b): Subjektwissenschaftliche und intersektionale Perspektiven – konzeptionelle Überlegungen für eine kritische Forschung zu Bildungswegen in migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen In: B. Dausien/D. Rothe/D. Schwendowius (Hg.): Bildungswege. Biographien zwischen Teilhabe und Ausgrenzung (S. 97–122). Frankfurt am Main. Riegel, C. (2018): Intersektionalität – eine kritisch-reflexive Perspektive für die sozialpädagogische Praxis in der Migrationsgesellschaft. In: B. Blank/S. Gögercin/K. E. Sauer/B. Schramkowski (Hg.): Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft. Grundlagen – Konzepte – Handlungsfelder (S. 209–220). Wiesbaden. Schulz, A. J./Mullings, L. (Hg.) (2006): Gender, Race, Class and Health. Intersectional Approaches. Hoboken-New Jersey. Traunsteiner, B. S. (2015): Gleichgeschlechtlich l(i)ebende Frauen im Alter. Intersektionalität, Lebenslagen und Antidiskriminierungsempfehlungen. Dissertation Universität Klagenfurt. Tuider, E. (2015): Dem Abwesenden, den Löchern und Rissen empirisch nachgehen: Vorschlag zu einer dekonstruktivistisch diskursanalytischen Intersektionalitätsanalyse. In: M. Bereswill/F. Degenring/S. Stange (Hg.): Intersektionalität und Forschungspraxis – wechselseitige Herausforderungen (S. 172–191). Münster. Walgenbach, K./Dietze, G./Hornscheidt, A./Palm, K. (Hg.) (2007): Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Opladen. Zwickies, A. (2017): Lebenslagen älterer schwuler Männer. Herausforderungen für die Soziale Altenarbeit und Altenbildung. In: K. Kenklies/M. Waldmann (Hg.): Queer Pädagogik. Annäherungen an ein Forschungsfeld (S. 141–168). Bad Heilbrunn.

2.5.2 Migration und LSBTIQ* in der Altenhilfe María do Mar Castro Varela

Hintergrund Deutschland ist ein Einwanderungsland. Diese einfache Aussage, wird sie tatsächlich ernst genommen, hat Folgen für jeden Bereich des täglichen Lebens, aber insbesondere für die sozialen und pädagogischen Professionen, die viel zu lange in ihren Ansätzen davon ausgegangen sind, dass Deutschland eben kein Einwanderungsland sei und so den Mythos aufrecht erhalten haben, Migrant*innen in sozialen und pädagogischen Institutionen seien eine Ausnahme, eine besondere Herausforderung oder gar Störung. Die kritische Migrationsforschung untersucht nun nicht nur die Ursachen der Migration, wie dies etwa im klassischen »Push und Pull Modell« nach Lee (1966) der Fall ist, wonach Menschen aus einem ursprünglichen Gebiet »weggedrückt« (engl.: to push) würden, während sie von einem anderen Gebiet »angezogen« (engl.: to pull) würden. Und sie fragt auch nicht danach, welche Erfahrungen Migrant*innen in den Aufnahmeländern machen, sondern problematisiert prinzipieller die Vorstellung von Migration als Störung. Diese Perspektive aufgreifend, wurde in den 1990er-Jahren damit begonnen, eine monokulturell ausgerichtete Altenhilfe und Altenpflege herauszufordern (siehe Zainer 2015). Wenn Migration der Normalfall ist, dann gilt es, die kulturelle Heterogenität der Gesellschaft nicht nur zu tolerieren, sondern als Ausgangspunkt eines jeden Denkens über Pflege- und Sorgearbeit zu setzen. Dies ist jedoch bei weitem noch nicht die Regel. Die wenigsten Einrichtungen der Altenhilfe und -pflege sind darauf eingerichtet, auf eine kulturelle und ethnische Vielfalt der Bewohner*innen und die damit einhergehenden diversen Bedarfe einzugehen. Dies sind etwa unterschiedliche Sprachkompetenzen, Essgewohnheiten oder religiöse Praktiken wie auch Alltagspraxen (­Rommelspacher/Kollak 2008). Im Gegenteil, immer wieder stellen Untersuchungen heraus, dass Pflegeeinrichtungen und andere Altenhilfeeinrichtungen nicht auf Migrant*innen eingestellt sind (etwa Delkic 2015).

/ Migration ist keine Störung, sondern der Normalfall

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María do Mar Castro Varela

Seit längerem wird dagegen im Fachdiskurs über trans-, interkulturelle oder auch kultursensible Pflege gesprochen und auf Tagungen und Fortbildungen Konzepte vorgestellt und diskutiert (Domenig 2007; Lenthe 2011). In diesen Ansätzen werden zumeist Kompetenzen und Strukturen skizziert, die notwendig erscheinen, um auf die Herausforderungen einer (alternden) Migrationsgesellschaft adäquat zu reagieren. Diese ersten Schritte haben zur Etablierung von Pflegeeinrichtungen und -diensten geführt, die versprechen, diese Kompetenzen mitzubringen. In Städten wie Berlin und Frankfurt am Main sind vielfältige Maßnahmen hierzu bereits Teil der allgemeinen Angebotsstruktur, während andere Heimträger und Pflegedienste häufig nach wie vor die Tatsache ignorieren, dass sie mit einer (alternden) Migrationsgesellschaft zu tun haben. So fordert der Landesintegrationsrat NRW noch in 2019: »Um der Vielfalt der Seniorinnen und Senioren gerecht zu werden[sic] müssen Pflegeheime ihre bestehenden Angebote in der Form gestalten, dass auch Personen mit Migrationshintergrund erreicht werden können«.10 Herausforderungen /M ­ igrant*innen werden pauscha­ lisiert wahrge­ nommen – auch in der Altenhilfe

Auch wenn der Forschungsbericht des Bundesministeriums für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bereits in 2012 betont: »Bei den in Deutschland lebenden älteren Menschen mit Migrationshintergrund handelt es sich um eine heterogene Bevölkerungsgruppe. Die Unterschiede betreffen nicht nur die geographische sowie ethnische und kulturelle Herkunft der Migranten; sie sind auch aus unterschiedlichen Gründen und zu unterschiedlichen Zeiten nach Deutschland zugewandert.« (Schimany/Rühl/Kohls 2012, S. 6) So ist Wissen über LSBTIQ* Migrant*innen in den sozialen, pflegenden und pädagogischen Institutionen kaum vorhanden. Selbst die Datenlage ist kärglich. Während zumindest zu älteren Migrant*innen im Allgemeinen einige Daten vorhanden sind, so führt keine der Studien Daten zu LSBTIQ*-Personen auf. Auch findet Rassismus als zusätzliches Verletzlichkeitsmoment keine 10 Stellungnahme des Landesintegrationsrates NRW zum Antrag der SPD-Landtagsfraktion (Drucksache 17/4455) im Rahmen der Anhörung des Integrationsausschusses am 22. März 2019. https://landesintegrationsrat.nrw/stellungnahme-des-landesintegrationsrates-nrwzum-antrag-der-spd-landtagsfraktion-aeltere-menschen-mit-migrationsgeschichte-denzugang-zu-pflege-und-altenhilfe-erleichtern-und-ihre-lebensleistung-wu/ (Zugriff am 16.01.2020).

Migration und LSBTIQ* in der Altenhilfe

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Erwähnung. Grund hierfür ist die ohnehin problematische Pauschalisierung von Migrant*innen, die die große Heterogenität der Gruppe vernachlässigt und sie stattdessen homogenisiert. So wird zumeist über »Migrant*innen« im Allgemeinen geschrieben, aber lediglich die türkische Einwanderung der sogenannten »Gastarbeiter*innengeneration« adressiert. Hier findet sich tatsächlich ein im Durchschnitt allgemein geringes Bildungsniveau und im Alter höhere Krankheitsraten und ein erhöhtes Armutsrisiko (etwa Schaefer 2009). Im Falle von LSBTIQ*-Migrant*innen muss von einem doppelten Minoritätenstress (Meyer 2007) ausgegangen werden, der im Alter und bei Pflegebedürftigkeit zu einer deutlich erhöhten Vulnerabilität führt, die in der Pflege und in der sozialen Arbeit unbedingt zu beachten ist. Die »Heterosexualisierung« alternder LSBTIQ* Bewohner*innen in Altenpflegeeinrichtungen ist ein bereits recht bekanntes Phänomen gleichermaßen wie in der kultursensiblen Altenpflege von einer erzwungenen »Assimilierung« der Rede ist. In beiden Fällen lässt sich eine Ausrichtung an eine »phantasierte Mehrheitsgesellschaft« attestieren (Castro Varela 2016). Zusammengenommen führt dies zu unterschiedlichen Diskriminierungsstrukturen, die getrennt und in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit betrachtet werden sollten. Intersektionelle Herangehensweisen sind hier von besonderer Relevanz (siehe Beitrag Riegel i. d. B.). So schauen sich Wissenschaftler*innen genauer an, wie bestimmt Kategorien miteinander interagieren und spezifische Bedarfe hervorbringen, etwa wenn ein Mensch der LSBTIQ*-Community angehört und gleichzeitig auch migriert ist (etwa Luibhéid/Cantú 2005; Manalansan IV 2006). Mittlerweile gibt es einige Arbeiten, die sich mit den Intersektionen: »Alter und Migration« (etwa Schopf/Naegele 2005; Aşkın 2018), »Alter und LSBTIQ*« (etwa Castro Varela/Lottmann 2018; Appenroth/Lottmann 2019) oder »LSBTIQ* und Migration« (Luibhéid/Cantú 2005) beschäftigen. Dagegen gibt es kaum Studien oder Erfahrungen mit der Intersektion »LSBTIQ*/Alter/ Migration«. Die Herausforderung ist hier, nicht dem Bedürfnis nach Reduzierung der Komplexität nachzugeben, sondern zu versuchen, die spezifische Verletzlichkeit und Bedarfe der Gruppe zu verstehen.

/ Intersektionelle Herangehensweisen versuchen Alter/ Migration und LGBTIQ* an ihrer Schnittstelle zu fokussieren

Fallbeispiel Karima M. ist 72 Jahre alt, sie bezeichnet sich selber als lesbisch und lebt seit über 25 Jahren gemeinsam mit ihrer Lebenspartnerin in einer privaten Wohnung. Nach Deutschland kam sie als sogenannter »Politischer Flüchtling«. Dem Asylantrag wurde damals stattgegeben, weil sie ihre politische Arbeit

/ Fallbeispiel Karima M.: »Flucht und das Leben als politisierte Lesbe«

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im Widerstand und ihre Verfolgung glaubhaft machen konnte. Ihre sexuelle Identität spielte (für die entscheidenden Instanzen) keine Rolle. Es war eine schwere Zeit als sie mit Ende 20 nach Folter- und Verfolgungserfahrung im Herkunftsland und einer abenteuerlichen Flucht in F., einer deutschen Großstadt, Fuß zu fassen suchte; sich ein Leben aufbauen wollte. Die traumatischen Erfahrungen von damals holen sie immer wieder ein. Sie ist nach wie vor politisch aktiv – auch, wie sie sagt, »um die Dämonen zu zähmen«. Es fällt ihr schwer, über die Zeit der Flucht zu sprechen, obswohl sie selber andere Migrantinnen* und geflüchtete Frauen* berät. Heute lebt sie ein selbstbewusstes Leben und kämpft gegen Rassismus und andere Formen von Diskriminierung. Sie hat einen Hochschulabschluss erwerben können und einen großen Freund*innenkreis. Es war immer ihr Traum, in einer mehrgenerationalen WG mit politisierten Lesben zu leben. Sie hat große Angst vor einer möglichen Pflegebedürftigkeit und fürchtet sich, nach eigener Aussage, vor Pflegeeinrichtungen.

Fragen (A) Sollte Karima M. pflege- oder betreuungsbedürftig werden, was wäre zu beachten? Welche biografischen Stationen wären im Falle einer Pflegesituation zu berücksichtigen? (B) Welche Maßnahmen in Altenhilfe und -pflege sind am besten dazu geeignet, die biografischen Informationen von Karima M. zu ermitteln? (C) Welche Besonderheiten beobachten Sie im Fall von Karima M.? Wie könnten intersektionelle Perspektiven dazu beitragen, die Bedarfe von Karima M. zu erfassen? Hintergründe zur Lösung und dem Aspekt der Intersektionen / Intersektionelle Perspektivierung als Weg zum Umgang mit komplexen Identitäten

Eine Person, die auf unterschiedliche Weise und gleichzeitig sozial diskriminiert und marginalisiert wird, wird spezifische Bedarfe in der Phase des Alterns und der Pflege mitbringen. Intersektionelle Herangehensweisen eignen sich gut, um eine Analyse der Situation durchzuführen. Zudem ist es möglich, die unterschiedlichen vorhandenen Studien zu supplementieren, um ein ungefähres Bild von der Prekarität der sozialen Gruppe: LSBTIQ* migrantische Senior*innen zu erlangen. In einer groß angelegten Studie von LesMigraS Berlin stellte bspw. ein 53-jähriger afrodeutscher Transmann fest, dass Beratungsstellen eigentlich nie wissen, wie mit ihm*ihr umzugehen sei:

Migration und LSBTIQ* in der Altenhilfe

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»… die verstehen das so gar nicht« (Castro Varela 2012, S. 197). Dies deutet auf eine große Lücke hin, die im fortschreitenden Alter und damit einhergehender stärkerer Abhängigkeit von Gesundheitsversorgung und evtl. auch Pflegeinstitutionen zu Problemen bei den betroffenen Subjekten führen wird (Dennert 2009). Schlussfolgerungen Migrant*innen bilden ohnehin eine soziale Gruppe, die in der Pflege- und Altenarbeit vernachlässigt wird. Wird dann noch auf die Gruppe der LSBTIQ*Migrant*innen (oder auch People of Color) fokussiert, so verschwindet diese vollends – wird unsichtbar. LSBTIQ*-Migrant*innen, die in Studien und Handreichungen auftauchen, sind meist jung oder mittleren Alters. Doch gibt es auch LSBTIQ*-Senior*innen mit Migrations- und/oder Rassismuserfahrungen. Werden diese in den Blick genommen, so werden die Lücken nicht nur in der Versorgung deutlich. Gleichsam wird auch anschaulich, dass intersektionelle Perspektiven nur sehr sparsam in der Altenhilfe zum Einsatz kommen, obwohl sie für eine gute Analyse und Praxis sinnvoll – ja, vielleicht unabdingbar sind.

/ LSBTIQ*Migrant*innen im Alter – eine unsichtbare Gruppe

Literatur Appenroth M./Lottmann, R. (2019): Altern Trans anders? Empirische Befunde internationaler 8 Weitere Untersuchungen zu trans Identitäten, Gesundheit und Alter(n). In: M. Appenroth/M. d. M. Lernmaterialien finden Sie im Castro Varela (Hg.): Trans & Care. Trans Personen zwischen Selbstsorge, Fürsorge und Ver- Downloadsorgung (S. 287–302). Bielefeld. bereich zu Aşkın B. (2018): Kultursensible Altenhilfe und Pflege in der Migrationsgesellschaft. In: B. Blank/ ­diesem Buch S. Gögercin/K. Sauer/B. Schramkowski (Hg.): Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft (S. 681–691). Wiesbaden. Castro Varela, M. d. M. (2016): Altern Andere anders? Queere Reflexionen. In: R. Lottman/R. Lautmann/M. Castro Varela (Hg.): Homosexualität_en und Alter(n) (S. 51–68). Wiesbaden. Castro Varela, M. d. M (2012): »… nicht so greifbar und doch real«. Eine quantitative und qualitative Studie zu Gewalt und (Mehrfach-) Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans* in Deutschland. LesMigraS e. V. (Hg.). Berlin. Castro Varela, M. d. M./Lottmann, R. (2018): Altenpflege – die letzte weiße deutsche heterosexuelle Bastion? Eine Vielfaltskritik. IARCHIV für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 2, 80–89. Delkic, E. (2015): Transkulturelle Pflege. Exemplarische Untersuchung der Angebotsstruktur für Migranten in Hamburg Billstedt. Veröffentlicht unter den socialnet Materialien. http:// www.socialnet.de/materialien/220.php (Zugriff am 20.08.2019). Dennert, G. (2009): Gesundheit und Gesundheitsversorgung lesbischer und schwuler MigrantInnen in Deutschland. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Heimatkunde. https://heimatkunde. boell.de/2009/04/18/gesundheit-und-gesundheitsversorgung-lesbischer-und-schwulermigrantinnen-deutschland (Zugriff am 20.08.2019).

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María do Mar Castro Varela

Domenig, D. (Hg.) (2007): Transkulturelle Kompetenz. Lehrbuch für Pflege-, Gesundheitsund Sozialberufe. Bern. Lee, E. S. (1966): A Theory of Migration. Demography, 3(1), S. 47–57. Lenthe, U. (2011): Transkulturelle Pflege. Kulturspezifische Faktoren erkennen – verstehen – integrieren. Wien. Lottmann, R./Castro Varela, M. d. M. (2016): LSBT*I (k)ein Thema für die Altersforschung – Ausgewählte Befunde eines Forschungsprojekts. informationsdienst altersfragen. Bd. 43 (1), 12–20. Luibhéid E./Cantú Jr., L. (Hg.) (2005): Queer Migrations. Sexuality, U. S. Citizenship, and Border Crossings. Minneapolis, Minnesota. Manalansan IV, Martin F. (2006): Queer Intersections: Sexuality and Gender in Migration Studies. The International Migration Review, 40 (1), Gender and Migration Revisited, S. 224–249. Meyer, I. H. (2007): Prejudice and Discrimination as Social Stressors. In: I. H. Meyer/M. E. Northridge (Hg.): The Health of Sexual Minorities. Public Health Perspectives on Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Populations (S. 242–267). New York. Rommelspacher, B./Kollak, I. (Hg.) (2008): Interkulturelle Perspektiven für das Sozial- und Gesundheitswesen. Frankfurt am Main. Schaefer, J.-E. (Hg.) (2009): Alter und Migration. Tagungsband der 15. Gerontopsychiatrischen Arbeitstagung des Geriatrischen Zentrums an der Universität Tübingen. Frankfurt am Main. Schimany, P./Rühl, S./Kohls, M. (2012): Ältere Migrantinnen und Migranten. Entwicklungen, Lebenslagen, Perspektiven. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge; Forschungsbericht 18. Nürnberg. Schopf, C,/Naegele, G. (2005): Alter und Migration – ein Überblick. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 38, 384–395.Zainer, G. (2015): Altern in der Migrationsgesellschaft: Neue Ansätze in der Pflege – kultursensible (Alten-)Pflege und Interkulturelle Öffnung. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Kurzdossiers online: https://www.bpb. de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/211007/altern-in-der-migrationsgesellschaft?p=all (Zugriff am 20.08.2019).

2.5.3 Behinderung, LSBTIQ* und Alter(n) Heike Raab

Hintergrund Behindert, alt und queer. Was bedeutet das für das Individuum, für die Forschung und für die Lehre im Bereich Alter und Pflege? Am Beispiel von LSBTIQ* will ich in diesem Beitrag mit einem queertheoretischen Ansatz Konturen eines kritischen und reflektieren Umgangs mit dieser Personengruppe an den vielfältigen Orten gesundheitlicher und sozialer Versorgung entwickeln. Ursprünglich ist »Queer« ein US-amerikanisches homophobes Schimpfwort und wurde als politisches Bündnis sexueller Randgruppen umgedeutet. Queer hat sich inzwischen als wissenschaftlicher Ansatz etabliert (siehe Beitrag Zeyen i. d. B.). Zentral ist die Kritik an Heterosexualität als sexuelle Norm, die alle Lebensbereiche und Denkgebäude durchzieht (Hartmann/Klesse 2007). Im Bereich von Behinderung gründeten sich die sogenannten Disability Studies aus der Behindertenbewegung heraus, wobei Disability als Nichtbefähigung verstanden wird. Bei den Disability Studies, die auch als Studien zu oder über Behinderung übersetzt werden könnten, haben wir es mit einer interdisziplinären Wissenschaft zu tun, die Behinderung als soziale, historische und kulturelle Konstruktion versteht. Die kritische Perspektive in den Disability Studies, auch als »ableismus-kritische« Perspektive verstanden, hinterfragt dabei beispielsweise Körpernormen, die auf der Grundlage von Fähigkeiten bestehen. Ableism nutzt das engl. Wort able, also »fähig« im Deutschen, und problematisiert, dass Menschen meistens nach körperlichen, kognitiven oder psychischen Fähigkeiten beurteilt werden. Eine ableismuskritische Perspektive kritisiert folglich, dass Behinderung als minderwertig angesehen wird. Ableismus beschreibt grundsätzlich ein Netzwerk von Überzeugungen, Prozessen und Praktiken, welche als gesellschaftliche Normen wirken. Ableismus funktioniert als unsichtbare, regulative Norm der Gesellschaft und beruht auf Nicht-Behinderung als normativem Bezugssystem. Ableistische Normen sind beispielsweise Schönheitsnormen, Leistungsnormen, nor-

/ Ableism kritisiert Fähigkeitsnormen, die auf Gesundheit beruhen

64 / Intersektionalität ist die Überschneidung verschiedener Diskriminierungsformen

/ Peer bedeutet Betroffene helfen Betroffenen

/ Hetero­ sexualität als Norm h­ interfragen

Heike Raab

mative Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit, oder aber mangelnde Barrierefreiheit (Cample 2012; ISL 2016). Diese Sicht hilft aber auch, angesichts des eigenen gebrechlichen und verletzbaren Körpers (etwa im Falle von Behinderung) ein positives Selbstbild zu entwickeln. Zentral ist zudem der Intersektionalitätsgedanke, der die Überschneidung von verschiedenen Diskriminierungsformen in einer Person berücksichtigt (siehe Beitrag Riegel i. d. B.) und in den Disability und Queer Studies häufig herangezogen wird. Doch erscheint in diesem Zusammenhang die Personengruppe der älteren, behinderten LSBTIQ* wie eine Minderheit innerhalb einer Minderheit, die noch als wenig erforscht gilt (Köbsell 2017; Schmidt/Schondelmayer/Schröder 2014; Zander 2016). So gibt es auch kaum wissenschaftliche Studien über die pflegerische und gesundheitliche Versorgung wie auch zur Lebenslage von behinderten, älteren LSBTIQ*-Senior*innen (Lottmann/Castro Varela 2016). Einmal mehr stellt sich hier die Frage nach den zu berücksichtigenden Aspekten und spezifischen Bedarfen von älteren, behinderten LSBTIQ*-Senior*innen in der Sozialen Arbeit und Altenhilfe bzw. im Alltag von Senior*innen (Schmidt et al. 2014). Um individuelle Bedarfe zu erkennen, wird in den Disability Studies – als eines der zentralen Elemente von Fachlichkeit und Professionalität – vermehrt auf Peer-Ansätze gesetzt und an Konzepte der reflexiven Professionalität gekoppelt (Kessl/Maurer 2012). Peer bedeutet, Betroffene helfen Betroffenen. Das heißt, dass verstärkt Behinderte und/oder LSBTIQ*s in Teams eingesetzt werden und dass die Kompetenz eingeübt wird, eine kritische Sicht auf sich selbst einzunehmen. Ziel ist es, die Achtsamkeit gegenüber der Vielfalt der Selbstverständnisse von Adressat*innen zu bewahren, aber auch Bevormundung zu vermeiden. Eine heteronormativitätskritische Ausrichtung der Queer-Theorie ermöglicht eine stärkere Berücksichtigung von Lebenslagen und Nonkonformativität für Lehrende, Praktiker*innen, Studierende und Auszubildende (siehe Beitrag Zeyen i. d. B.). Auf diese Weise ist es möglich, u. a. Heterosexualität als Norm zu hinterfragen und sexuelle Vielfalt zu thematisieren. Durch diese Konzepte sind Lehre, Pflege und Personalmanagement gleichermaßen gefordert. Die Frage ist, was zu tun ist, und wie man es umsetzen kann? Peer-Konzepte können beispielsweise ein an sexueller Vielfalt und/oder Behinderung orientiertes Personalauswahlverfahren, z. B. in Altenhilfeeinrichtungen, stärken oder Diversity-Kompetenzen in Lehre und Curriculum verankern helfen. Beispielsweise kann auch ein*e Sozialarbeiter*in mit körperlichen Einschränkungen, die womöglich selbst lesbisch oder trans* ist, sich besser in Lebensweise und Subkultur von LSBTIQ* einfühlen und entsprechende Unterstützungsangebote für

Behinderung, LSBTIQ* und Alter(n)

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LSBTIQ*-Senior*innen mit Behinderung organisieren. Sogenanntes Insiderwissen kann darüber zu einem beruflichen Vorteil werden (Kenel et al. 2018). In der Pflegeausbildung soll sich darüber ein alternatives Verständnis von Pflege entwickeln – jenseits von berufsbedingten Unterscheidungen in Lai*innen und Expert*innen. Ein solch alternatives Pflegeverständnis stellt eine gegenseitige Pflege- und Assistenzbeziehung in den Mittelpunkt und beruht auf wechselseitiger Anerkennung, Wertschätzung und Gleichheit. Da es sich in der Pflege und in der Altenhilfe stets um die Berücksichtigung individueller Bedarfe einer heterogenen Bevölkerung handelt, erscheint zudem eine intersektionale Perspektive mit der Berücksichtigung mehrerer Diskriminierungsmerkmale sinnvoll, die in Pflege- und Ausbildungskonzepte einfließen sollte, damit biografische und kontextuelle Unterschiede auch in der Altenhilfe sichtbar werden können.

Herausforderungen Aufgrund der sexuellen Orientierung sind viele der behinderten und älteren LSBTIQ*-Senior*innen nicht in die Community der Behindertenbewegung integriert. Umgekehrt ist dieser Personenkreis durch ihre Behinderung auch oftmals nicht in der LSBTIQ*-Community »zu Hause«. Angesichts von Mehrfachbenachteiligungen sind behinderte und ältere LSBTIQ* daher häufig von solchen »intersektionalen Unsichtbarkeiten« betroffen: In der GLEPAStudie zur gleichgeschlechtlichen Lebensweise und Pflege im Alter (siehe dazu Lottmann 2018) sagt beispielsweise ein 70-jähriger schwuler Mann mit Pflegebedarf, der wegen einer frühen Kinderlähmung behindert ist, zu seinen Community-Erfahrungen in der schwulen Szene: »Und in dem Moment, wo die mich dann ganz gesehen haben, haben mich auch viele dann auch stehen gelassen, oder ich habe einen mit nach Hause genommen und dann da plötzlich sagen, nee, geht nicht – und so, ne? Also war dann meistens bei dem anderen auch sehr stark mit schlechtem Gewissen oder so.« Wie das Beispiel zeigt, sind auch in der LSBTIQ*-Community ableistische Normen vorherrschend, die insbesondere körperliche Normen und das Aussehen betreffen. Der Intersektionalitätsgedanke lenkt hier den Blick auf den Kontext der schwulen Community, der subkulturellen Gemeinschaft von – in diesem Fall – schwulen Männern. Der pflegebedürftige schwule Mann beschreibt rückwirkend für diesen Bereich erhebliche Diskriminierungserfahrungen aufgrund seines durch Kinderlähmung nicht den Normen entsprechenden Körpers. In

/ Behinderte LSBTIQ* stoßen oft auf Ablehnung oder fehlendes Verständnis und Mitdenken

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Heike Raab

der Behindertenbewegung überwiegen wiederum heteronormative Strukturen. Daran ist erkennbar, dass die Lebenswelt meist weder auf behinderte Personen noch auf LSBTIQ* ausgerichtet ist. Behinderte sind zunächst alle heterosexuell, wenn sexuelles Begehren überhaupt zur Sprache kommt. Behinderte LSBTIQ* stoßen im Alter oder bei einem Pflegeereignis folglich häufig auf mehrfaches Unverständnis oder Ablehnung – es ist oftmals an ihnen, sich als behinderte Person bzw. als LSBTIQ* zu erklären, in den unterschiedlichsten Kontexten und Situationen. Aktuell scheinen auch nur wenige Träger und Leitungen von Pflegeheimen den Weg einer konzeptionellen Öffnung ihrer Einrichtung, hin zu der von Gerlach und Schupp (2016) sogenannten »kultursensiblen Pflege«, zu beschreiten (Gerhard/Schupp 2016). Umso dringlicher scheint es deswegen, mögliches sozialarbeiterisches oder pflegerisches Handeln daraufhin zu befragen, ob die vorhandenen Konzepte ohne Weiteres auf diese Personengruppe übertragbar sind, und welche ergänzenden Handlungsbedarfe oder Maßnahmen in Forschung und Lehre nötig sind.

Fallbeispiel In der zuvor genannten GLEPA-Studie beschreibt die 59-jährige lesbische Frau Simone M., die Pflege im Rahmen einer Assistenz im sogenannten Arbeitgebermodell erhält, d. h., ihre Pflege relativ eigenständig selbst managt (und gegenüber Pflegenden als Arbeitgeberin auftritt), ihr Erleben der Pflege als lesbischer Frau mit Behinderung: »Interviewer: Was sollte man deiner Meinung nach bei der Pflege von älteren Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans*- und Inter*-Geschlechtlichen beachten?« Befragte: »Ähm, das was man sowieso machen sollte, ältere Menschen wertschätzen. Weil das is nich nur die olle, sondern das is auch n Mensch. Ja, das musste auf jeden Fall sagen, wenn de Assistenz suchst, musst du das schon sagen, dass de lesbisch bist. Weil n bisschen anders leben’wer ja dann doch.«

Fragen (A) Was denken Sie, ist die Hauptaussage in dem Fallbeispiel? Was ist in den Augen der Pflegebedürftigen beachtenswert bei der Pflege von LSBTIQ*? (B) Wie könnte ein Diversity-Training für das Pflegepersonal sowie eine »lebensweltorientierte Arbeit« dazu beitragen, die Pflegequalität bei dieser Frau zu stärken bzw. zu gewährleisten?

Behinderung, LSBTIQ* und Alter(n)

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(C) Was könnte die Frau im Fallbeispiel meinen, wenn sie sagt »n bisschen anders leben’wer ja dann doch«? Was fällt Ihnen dazu ein und inwiefern kann dies für den Alltag von LSBTIQ*-Senior*innen bzw. -Pflegebedürftigen für die Betroffenen und das Personal relevant sein/werden? Hintergründe zur Lösung unter dem Aspekt der Menschenbilder Das Fallbeispiel verdeutlicht, dass Pflegebedürftige nicht ohne ihre Biografie und Lebenswelt eine ganzheitliche Pflege erhalten können. Insbesondere in der Altenhilfe und Pflege sind die Lebensgeschichte und mögliche erlebte Diskriminierungen oder Traumata von Relevanz. Das heißt aber nicht, dass allein negative Aspekte zu berücksichtigen sind. Behinderte LSBTIQ* haben im Verlaufe ihres Lebens auch Strategien entwickelt, von denen sie u. a. im Alter profitieren können, die ihnen helfen, sich im Alltag zu behaupten und diesen selbstbestimmt zu gestalten (siehe Beitrag Lottmann/Zeyen i. d. B.). Diese Ressourcen gilt es auch in professionellen Settings wie der Altenhilfe zu entdecken, zu fördern und zu nutzen –, um eine gute Lebensqualität für den Einzelnen zu erreichen. Peer-Konzepte helfen hier, ebenso sollten DiversityTrainings für Fachkräfte um die intersektionalen Aspekte erweitert werden, um darüber Überschneidungen von Diskriminierungsmerkmalen berücksichtigen zu können (Kessl/Maurer 2012). Schlussfolgerungen Vorstellungen von Überschneidung verschiedener Diskriminierungsformen in einer Person rufen oftmals Unverständnis hervor. Meistens sind die Betroffenen mit stereotypisierenden Annahmen zu Behinderung, Alter, Homosexualität und/oder Geschlecht verbunden. Die intersektionale Auseinandersetzung und die Reflexion von verinnerlichten Bildern zu Behinderung, Alter, Homosexualität und/oder Geschlecht im Selbstverständnis von Trägern und Organisationen, ebenso bei Fachkräften, ist daher von zentraler Bedeutung für eine bedarfsgerechte Betreuung. Statt Stereotypen zu folgen, gilt es, differenzierte Bilder und Perspektiven zu berücksichtigen. Ob in Bezug auf die Aspekte eines späten Coming-outs, hinsichtlich von Körpernormen oder von vielfältigen Lebensformen: unsere inneren Bilder sind oft geprägt von traditionellen und ableistischen Vorstellungen von Ehe, Familie oder Großelternschaft. Diese Vorstellungen wirken gemeinsam und werden durch kleinste Anstöße aktiviert, wiederholt, reproduziert, weitergegeben und erscheinen auf den ersten Blick völlig selbstverständlich (LSVD 2014). Aus diesem Grund sind Praxen und

/ Differenzierte Bilder statt Stereotype helfen für bedarfsgerechte Versorgung/­ Betreuung

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Heike Raab

Projekte bedeutsam, die Aufklärungsarbeit leisten und Partizipation fördern (siehe Kapitel 4). Insgesamt sind daher Sichtweisen von behinderten LSBTIQ* im Alter und in der Praxis zu stärken und sichtbar zu machen. Ableismuskritische Konzepte sind auch in den Communitys relevant. Intersektionalität bietet sich als Konzept für die Ausbildung ebenso an wie Peer-Zugänge. Die Queer-Theorie und Disability Studies ermöglichen dabei eine kritische Reflexion für Pflege- und Gesundheitsberufe und in der Sozialen Arbeit. Literatur 8 Weitere Lernmaterialien finden Sie im Downloadbereich zu ­diesem Buch

Cample, F. (2012): Contours on Ableism. Ashgate. Gerlach, H./Schupp, M. (2016): Lebenslagen, Partizipation und gesundheitlich-/pflegerische Versorgung älterer Lesben und Schwuler in Deutschland: Expertise zum Siebten Altenbericht der Bundesregierung. Berlin. Hartmann, J./Klesse, C. (2007): Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht – eine Einführung. In: J. Hartmann, C./Klesse, P./Wagenknecht, B./Fritzsche und K. Hackmann (Hg.): Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht (S. 9–15). Wiesbaden. ISL Deutschland (2016): Ableismus erkennen und begegnen. Strategien zur Stärkung von Selbsthilfepotentialen. https://www.isl-ev.de/attachments/article/2056/ISL-Able-Ismus_Broschüre. pdf (Zugriff am 11.11.2019). Kenel, P./Gather, C./Lottmann, R. (2018): »Das war noch nie Thema hier, noch nie!« Sexuelle Vielfalt in der Altenpflege – Perspektiven für ein Diversity Management. Pflege & Gesellschaft, 23(3), 211–227. Kessel, F./Maurer, S. (2012): Radikale Reflexivität als zentrale Dimension eines kritischen Wissenschaftsverständnisses Sozialer Arbeit. In: E. Schimpf/J. Stehr (Hg.): Kritisches Forschen in der Sozialen Arbeit: Gegenstandsbereiche – Kontextbedingungen – Positionierungen – Perspektiven (S. 43–55). Wiesbaden. Köbsell, S./Kaulfuß, L. (ABiD Allgemeiner Behindertenverband in Deutschland) (2017): »Alt werden mit Behinderung – Mittendrin ein Leben lang«. Berlin. Lottmann, R. (2018): LSBT*I-Senior*innen in der Pflege: Zu Relevanz und Besonderheiten sozialer Netzwerke und der Arbeit mit Angehörigen. Pflege & Gesellschaft, 23(3), 228–244. Lottmann, R./Castro Varela, M. d. M. (2016): LSBT*I (k)ein Thema für die Altersforschung – Ausgewählte Befunde eines Forschungsprojekts. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Eds.): informationsdienst altersfragen. Bd. 43 (1), 12–20. https://www.dza.de/fileadmin/ dza/pdf/Heft_01_2016_Januar_Februar_2016_kurz.pdf (Zugriff am 10.08.2019). LSVD (2014): Homosexualität in der Familie. Handbuch für familienbezogenes Fachpersonal. Köln. Schmidt, F./Schondelmayer, A.-C./Schröder, U. B. (2014): Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Lebenswirklichkeiten, Forschungsergebnisse und Bildungsbausteine. Wiesbaden. Teilhabebericht (2016): Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Behinderung. Berlin. Zander, M. (2016): Behindert alt werden – spezifische Lebenslagen und Bedarfe. Expertise zum Siebten Altenbericht der Bundesregierung. In: J. Block/C. Hagen/F. Berner (Hg.): Deutsches Zentrum für Altersfragen. Berlin.

2.5.4 Altersarmut bei LSBTIQ* Regina Brunnett

Hintergrund Im Folgenden wird nicht von absoluter Armut, bei der Mittel zur Existenzsicherung fehlen, ausgegangen, sondern von relativer Armut. Das Armutsrisiko wird definiert als 60 % des gemittelten, gewichteten Pro-Kopf-Nettoeinkommens (inkl. Unterhalt und Vermögen). Es ist daher ein Maß, das sich mit dem Lebensstandard in einer Gesellschaft verändert (Naegele 2018, S. 99 f.). Dabei wird teils mittels des Bezugs von Grundsicherung im Alter das Ausmaß von Armut abzuschätzen versucht. Die Zahl der alten Menschen, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach SGB XII IV beziehen, steigt an. Erhielten Ende (jeweils Dez.) 2003 noch 257.734 Frauen und Männer Grundsicherung im Alter, so waren es Ende 2015 schon 536.121 und Ende 2018 bereits 559.419 Menschen (Destatis 2019). Die Dunkelziffer liegt höher: Viele alte Menschen nehmen aus Scham, Unkenntnis oder um ihre Kinder vor Unterhaltsansprüchen zu schützen, ihr Recht auf Grundsicherung nicht in Anspruch. Andererseits gibt es auch die Sichtweise, dass Grundsicherung Armut kompensiert, und daher nicht geeignet ist, das Ausmaß von Altersarmut abzuschätzen. Unverändert beziehen Frauen häufiger Grundsicherung im Alter als Männer (Destatis 2019). Dies ist in geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung begründet, nach der Frauen gesellschaftliche Fürsorgeaufgaben (für Zugehörige, Kinder, Alte), häufig mit den Folgen von Altersarmut, zugewiesen werden. Der Armutsstudie des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zufolge lag die Armutsgefährdungsquote bei alten Menschen 2017 bei 15,9 % und damit erstmals etwas höher (0,2 %) als in der Gesamtbevölkerung (Naegele 2018, S. 100). Andere Erhebungen weisen darauf hin, dass alte Menschen in Deutschland zunehmend Schulden machen. Die Überschuldungsquote steigt in der Gruppe der über 70-Jährigen an – von 2017 auf 2018 um 0,54 % (69.000 Fälle); das Schuldenvolumen ist mit 52.200 in der Altersgruppe von 65–70 Jahren besonders hoch (Creditreform 2018, S. 12 ff.).

/ Frauen beziehen häufiger Grundsicherung im Alter

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/ LSBTIQ* gehören zu den armutsgefährdeten Gruppen

Regina Brunnett

Staatliche Arbeitspolitik hat in den letzten Jahrzehnten atypische Arbeitsverhältnisse gefördert. Daher ist davon auszugehen, dass künftig über die Gruppen der »Frauen«, »Migrant*innen« und »Menschen mit geringer Bildung« hinausgehend alle von Altersarmut bedroht sein werden, die aufgrund von Langzeitarbeitslosigkeit, Selbstständigkeit, Phasen von Arbeitslosigkeit, Teilzeittätigkeit und/oder geringen Löhnen nur geringe Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung aufweisen und sich nicht durch private Zusatzleistungen absichern können. Viele LSBTIQ*-Gruppen sind im Alter besonders armutsgefährdet. Gründe können in geringer Bildung, Diskriminierung und/oder gesundheitlichen Einschränkungen liegen, da diese es verhindern können ein Einkommen zu erzielen, das für existenzsichernde Renten- bzw. Pensionsbezüge oder private Absicherung ausreicht. Die Forschungslage zu Armut innerhalb der LSBTIQ*-Gruppen im Alter ist dürftig. Die Gruppen sind heterogen und unterscheiden sich u. a. danach, ob und wann sich gesellschaftliche Bedingungen liberalisiert haben (Gerlach/ Schupp 2016). Traunsteiner (2018, S. 239 ff.) zeigt in einer qualitativen Interviewstudie mit gleichgeschlechtlich liebenden Frauen in Österreich, dass vor allem Mütter unter ihnen armutsgefährdet sind. Gerlach und Schupp (2016) heben das Armutsrisiko schwuler Männer hervor, die lange Jahre mit einer HIV-Infektion leben. Nach Berechnungen von Kroh, Kühne, Kipp und Richter (2017, S. 9) auf der Basis von Daten des Sozio-Ökonomischen Panels (SOEP) haben Lesben, Schwule und Bisexuelle eine durchschnittlich höhere Ausbildung als heterosexuelle Befragte. Gleichwohl erzielen nach ihren Berechnungen heterosexuelle Männer einen höheren Brutto-Stundenlohn als homosexuelle Männer, hetero- und homosexuelle Frauen. Die Autor*innen ziehen daraus den Schluss, dass die Daten des SOEP auf einen »sexuality pay gap« hinweisen, der zu dem »gender pay gap« tritt (Kroh/Kühne/Kipp/Richter 2017, S. 694). Über die materielle Lage von Inter*- und Trans*-Menschen liegen bislang keine Studien vor. Es kann aber vermutet werden (siehe Beiträge Sauer und Reuter/Brunnett i. d. B.), dass ihre materielle Lage aufgrund gesellschaftlicher Bedingungen noch schlechter ist. Herausforderungen für Pflege und Soziale Arbeit

/ Armut als Lebenslage(n)

Liegt materielle Armut im Alter vor, so ist davon auszugehen, dass diese verfestigt und nicht mehr aus eigenen Kräften veränderbar ist. Der Lebenslageansatz erfasst Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche, die für Pflege

Altersarmut bei LSBTIQ*

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und Soziale Arbeit relevant sind, und die Wechselwirkungen zwischen materieller Unterversorgung und Lebensbereichen. Dazu gehören Wohnen bzw. Wohnumfeld, Gesundheit, soziale Netzwerke und Kontakte, kulturelle und politische Teilhabe sowie subjektives Wohlbefinden (Naegele 2018). Ist Armut nicht erst mit dem Übergang in die Nacherwerbsphase oder nach einer Phase intensiver Familienarbeit aufgetreten, sondern hat sich über den Lebenslauf entwickelt und verfestigt, so fehlen bei alten Menschen vielfach nicht nur materielle Güter (Winterkleidung, Schuhe, Möbel, technische Ausstattung), sondern auch soziale Kontakte und ein stabiles Netzwerk (Kümpers/Alisch 2018). Weil unter Bedingungen von Armut Menschen häufiger gleichzeitig an verschiedenen chronischen Erkrankungen (z. B. Diabetes oder Koronare Herzkrankheit) leiden und früher in ihrem Leben funktional eingeschränkt und/oder pflegebedürftig sind (Lampert/Hoebel 2019), ist die gesundheitliche Lage armer alter Menschen häufig prekär. Zugleich sind die Möglichkeiten, mit Hilfsmitteln (etwa Brillen, Hörgeräte, Gehhilfen, Hygieneartikel) oder Dienstleistungen (z. B. Putzen) diese Einschränkungen zu kompensieren, eingeschränkt (Falk/Heusinger/ Kammerer/Khan-Zvornicanin/Kümpers/Zander 2011; Kümpers/Alisch 2018). Berichte aus der Praxis und Studien verweisen darauf, dass viele alte Menschen in Armut versuchen, sich im Alltag mit den eingeschränkten Möglichkeiten zu arrangieren. Dazu gehört etwa, dass sie alte Brillen mit Tesafilm kleben, nur noch Kartoffeln essen (Chors 2018, S. 380) oder Einladungen aufgrund der üblichen Geschenke nicht annehmen (siehe Falk et al. 2011). Chors (2018) führt aus, dass verschuldete Senior*innen aufgrund ihrer Lebenslagen spezifische Angebote der Schuldner*innenberatung benötigen und dass diese aufgrund steigender Nachfrage in Köln eingerichtet worden seien. Über längere Zeitspannen hinweg erfahrene Einschränkungen und Diskriminierungen können das Kohärenz- und Selbstwertgefühl schwächen. Individuen entwickeln unter diesen Bedingungen häufig Lebensorientierungen und Handlungsstrategien, die sie in der Gestaltung ihres Lebens und Alltags beschränken. Erfahrene Grenzen von außen (z. B. Ausgrenzung) beeinflussen auch das, was Menschen anstreben, und spiegeln sich daher auch in Lebensläufen wider (Klesse 1992; Boltanski 1976; Bourdieu 1997). Die Möglichkeiten zur sozialen, kulturellen und politischen Teilhabe und Partizipation sind daher für arme Menschen im Alter eingeschränkt. Fallbeispiel Leon L. ist 70 Jahre alt und lebt alleine in einer 1-Zi.-Whg. am Stadtrand. L. bezieht eine geringe Rente und Wohngeld, weil er*sie vor über 15 Jahren

/ Handlungsstrategien in Armut

/ Einschrän­ kungen und Ausgrenzung schwächen das Selbstwertgefühl

/ Einge­ schränkte ­Teilhabe

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Regina Brunnett

mit seiner*ihrer Tätigkeit als Webdesigner*in insolvent wurde. Seitdem ist er*sie zu Hause. Leon L. holt seine*ihre Kleidung aus der Kleiderkammer, aber es fehlen u. a. eine warme Jacke und Schuhe, die passen. Er*sie war u. a. deshalb schon Jahre nicht mehr aus und hat sich sehr zurückgezogen. Manchmal spricht er*sie drei Tage mit niemandem. Er*sie isst äußerst sparsam, am Ende des Monats reicht es trotzdem oft nur für trockenen Reis. Als Leon L.’s Depressionen schlimmer werden und er*sie aufgrund ihrer*seiner Knieprobleme nicht mehr gut laufen kann, erhält er*sie einen Pflegegrad II und ein ambulanter Pflegedienst übernimmt Hilfe im Haushalt und zur Körperpflege.

Fragen (A) Welche Informationen über Biografie und soziale Lebenslage finden Sie im Fallbeispiel? Wo werden solche Informationen üblicherweise in der Pflege erfasst? (B) Welche Handlungsstrategien im Umgang mit Armut hat Leon L. entwickelt? (C) Wie könnte Leon L. darin unterstützt werden, wieder stärker am sozialen Leben teilzuhaben? Welche Berufsgruppen wären am besten zu beteiligen? Hintergründe zur Lösung Arme Bevölkerungsgruppen gehören traditionell zu den Adressat*innen der Sozialen Arbeit und der Pflege. Gleichwohl gibt es Unterschiede: Das professionelle Selbstverständnis der Sozialen Arbeit basiert auf den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, der Menschenrechte, gemeinsamer Verantwortung und Achtung der Vielfalt (IFSW, übersetzt und zit. in DBSH/Fachbereichstag Soziale Arbeit 2016, S. 2). Die Pflege fokussiert gruppen- und lebensphasenspezifische Besonderheiten in Bezug auf Versorgung und Betreuung (ICN, übersetzt und zit. in DBfK o. J.). In allen Handlungsfeldern der Altenhilfe sind partizipativen und empowerenden Handlungsansätzen in der Arbeit mit alten Menschen in Armut den Vorzug zu geben. Partizipation und Empowerment sind eng miteinander verknüpft und rücken, vereinfacht gesprochen, Teilhabe sowie Ermächtigung in Bezug auf die Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen in den Fokus (ausführlich Scheu/Autrata 2013). Es gibt in der Pflege und in der Sozialen Arbeit diesbezüglich Unterschiede in Konzepten und Maßnahmen (exemplarisch Thielhorn 2012; Schnurr 2018). Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass par-

Altersarmut bei LSBTIQ*

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tizipative und empowernde Arbeitsweisen Selbst- und Mitbestimmung alter Menschen ins Zentrum rücken; Formen der Unterstützung und Ziele richten sich nach ihren Bedürfnissen und werden in Prozessen konkretisiert (Straßburger/Rieger 2019, S. 17 ff.). In der Arbeit mit alten LSBTIQ*-Gruppen sind empowernde und partizipative Ansätze besonders wichtig: Menschen, die lange in armen Lebenslagen gelebt haben und Diskriminierungen ausgesetzt waren, wie die älteren Kohorten der LSBTIQ*-Gruppen, verfügen häufig über nur geringe biografische Erfahrungen des kollektiven Respekts und über eingeschränkte Chancen ihr Leben selbstbestimmt gestalten zu können. Selbstwirksamkeit, d. h. die Überzeugung mittels eigener Ressourcen die selbst gesteckten Ziele auch erreichen zu können, kann geschwächt sein; positive Erfahrungen können lange zurückliegen (Falk et al. 2011). Partizipative und empowernde Arbeitsweisen können dazu beitragen, verschüttete Ressourcen, Wünsche und Handlungsmöglichkeiten wieder zu mobilisieren. In Verbindung mit einer guten Kooperation zwischen verschiedenen Akteur*innen aus dem Gesundheits- und Sozialwesen (z. B. Hausärzt*in, Pflegedienst, Sozialamt) kann die häufig von Älteren gewünschte Versorgung im eigenen Wohnraum u. U. besser gesichert werden (Heusinger/ Hämel/Kümpers 2017). Schlussfolgerungen Es ist deutlich geworden, dass sozial- und arbeitspolitische Strategien gefragt sind, um zukünftig eine Verschlechterung der materiellen Lage für viele Menschen in der Nacherwerbsphase bzw. in der Phase nach intensiver Familienarbeit zu verhindern. Sie ist für den Erhalt von sozialer und kultureller Teilhabe im Alter zentral. LSBTIQ*-Gruppen sind im Alter besonders vulnerabel für Armut und Einschränkungen in der sozialen Teilhabe, weil ihre soziale Lage durch Diskriminierung und deren soziale und gesundheitliche Folgen geprägt sein kann. Dies ist bei Lesben und Schwulen etwa in ländlichen Regionen Deutschlands oder bei den in der Kriegs- bzw. Nachkriegszeit aufgewachsenen Geburtskohorten der Fall. Wie sich dies für bisexuelle Menschen darstellt, ist bislang nicht bekannt (siehe Beitrag Jones/Lottmann i. d. B.). Die gesellschaftlichen Bedingungen von Trans*- und Inter*-Personen beginnen sich langsam und regional unterschiedlich zu verbessern, sodass ihre sozialen Lagen einer besonderen Beachtung bedürfen (siehe Beiträge Sauer und Reuter/Brunnett i. d. B.).

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Regina Brunnett

Daher sind behutsame und mittel- bzw. langfristig angelegte Handlungsansätze des Empowerments und der Partizipation in der professionellen Arbeit mit alten LSBTIQ* in Armut in allen Handlungsfeldern der Arbeit mit alten Menschen von besonderer Relevanz. Literatur 8 Weitere Lernmaterialien finden Sie im Downloadbereich zu ­diesem Buch

Boltanski, L. (1976): Die soziale Verwendung des Körpers. In: D. Kamper/V. Rittner (Hg.): Zur Geschichte des Körpers (S. 128–184). München. Bourdieu, P. (1997): Die feinen Unterschiede (9. Aufl.). Frankfurt am Main. Cohrs, M. (2018): Arm und verschuldet im Alter. In: G. K. Schäfer/B. Montag/J. Detering (Hg.): »Arme habt ihr immer bei euch«. Armut und soziale Ausgrenzung wahrnehmen, reduzieren, überwinden (S. 380–386). Göttingen. Creditreform Wirtschaftsforschung (2018): Schuldner Atlas 2018. Neuss. DBfK (Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe) (o. J.): Die Bedeutung professioneller Pflege. https://www.dbfk.de/de/themen/Bedeutung-professioneller-Pflege.php (Zugriff am 31.10.2019). DBSH – Fachbereichstag Soziale Arbeit (2016): Deutschsprachige Definition Sozialer Arbeit des Fachbereichstag Soziale Arbeit und DBSH. https://www.dbsh.de/fileadmin/redaktionell/bilder/Profession/20161114_Dt_Def_Sozialer_Arbeit_FBTS_DBSH_01.pdf (Zugriff am 31.10.2019). Destatis (2019): Pressemitteilung Nr. 130 vom 3. April 2019. Wiesbaden. Falk, K./Heusinger, J./Khan-Zvornicanin, M./Kammerer, K./Kümpers, S./Zander, M. (2011): Arm, alt, pflegebedürftig. Selbstbestimmungs- und Teilhabechancen im benachteiligten Quartier. Berlin. Gerlach, H./Schupp, M. (2016): Lebenslagen, Partizipation und gesundheitlich-/pflegerische Versorgung älterer Lesben und Schwuler in Deutschland: Expertise zum Siebten Altenbericht der Bundesregierung. Berlin. Heusinger, J./Hämel, K./Kümpers, S. (2017): Hilfe, Pflege und Partizipation im Alter. Zukunft der häuslichen Versorgung bei Pflegebedürftigkeit. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 50, 439–445. Klesse, R. (1992): Gesundheitshandeln von Frauen: Leben zwischen Selbst-Losigkeit und SelbstBewußtsein. Frankfurt am Main. Kroh, M./Kühne, S./Kipp, C./Richter, D. (2017): Einkommen, soziale Netzwerke, Lebenszufriedenheit: Lesben, Schwule und Bisexuelle in Deutschland. DIW-Wochenbericht. Berlin. Kümpers, S./Alisch, M. (2018): Altern und soziale Ungleichheiten: Teilhabechancen und Ausgrenzungsrisiken. In: E.-U. Huster/J. Boeckh/H. Mogge-Grotjahn (Hg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung (3. Aufl.; S. 597–618). Wiesbaden. Lampert, T./Hoebel, H. (2019): Sozio-ökonomische Unterschiede in der Gesundheit und Pflegebedürftigkeiten älterer Menschen. Bundesgesundheitsblatt, 69, 238–246. Naegele, G. (2018): Lebenslagenarmut im Alter. In: G. K. Schäfer/B. Montag/J. Detering (Hg.): »Arme habt ihr immer bei euch«. Armut und soziale Ausgrenzung wahrnehmen, reduzieren, überwinden (S. 99–113). Göttingen. Scheu, B./Autrata, O. (2013): Partizipation und Soziale Arbeit. Einflussnahme auf das subjektiv Ganze. Wiesbaden. Schnurr, S. (2018). Partizipation. In: G. Graßhoff/A. Renker/W. Schröer (Hg.): Soziale Arbeit. Eine elementare Einführung (S. 631–648). Wiesbaden.

Altersarmut bei LSBTIQ*

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Straßburger, G./Rieger, R. (2019): Partizipation kompakt. Für Studium, Lehre und Praxis sozialer Berufe (2. Aufl.). Weinheim. Thielhorn, U. (2012): Partizipation in der Pflege. In: R. Rosenbrock; S. Hartung (Hg.): Handbuch Partizipation und Gesundheit (S. 381–390). Bern u. a. Traunsteiner, B. (2018): Gleichgeschlechtlich liebende Frauen im Alter. Intersektionalität, Lebenslagen und Antidiskriminierungsempfehlungen. Wiesbaden.

Weiterführende Literatur Kümpers, S./Heusinger, J. (Hg.) (2012): Autonomie trotz Armut und Pflegebedarf? Altern unter Bedingungen von Marginalisierung. Bern.

2.5.5 Gender und Generationen Mechthild Kiegelmann

Hintergrund Um Gender als Kategorie zu verstehen, wird oft die theoretische Unterscheidung zwischen »sex« als Hinweis auf eher körperliche Unterschiede von beispielsweise weiblichen, männlichen oder intersex* Körpern auf der einen Seite und »gender« als Hinweis auf die eher im sozialen Miteinander ausgelebten Geschlechterunterschiede zwischen Menschen auf der anderen Seite herangezogen (Kortendiek/Riegraf/Sabisch 2019).11 Die Unterscheidung zwischen »sex« als biologisch festgelegt und »gender« als sozial konstruiert, kann jedoch fälschlicherweise leicht als Annahme von gesellschaftlich »unangetasteter« Biologie missverstanden werden (Butler 2002). Gender als Konstrukt im gesellschaftlichen Diskurs erscheint doppelt wichtig: Zum einen gibt es Sexismus im Sinne von Diskriminierungen aufgrund des weiblichen Geschlechts. Zum anderen werden nicht-binäre, trans*-geschlechtliche und inter*-geschlechtliche Menschen benachteiligt (Kortendiek/Riegraf/Sabisch 2019; siehe Beiträge Zeyen, Eckert/Roetz und Jones/Lottmann i. d. B.). Vereinfachte Verständnisse von Geschlecht als eine schlichte Eingruppierung in entweder »weiblich« oder »männlich« gelten mittlerweile in den Sozialwissenschaften als überholt (Butler 2002; Steinebach/Süss/Kienbaum/Kiegelmann 2016, S. 145 ff). Im Alltag wird jedoch noch sehr häufig die vereinfachende Sichtweise von nur zwei Geschlechtern weiterverbreitet und Menschen, die in diese Zweiteilung nicht hineinpassen, werden »passend gemacht« oder dementsprechend behandelt (siehe Beitrag Reuter/Brunnett i. d. B.). Verheerend für die so missachteten Personen ist die gewaltsame Vereindeutigung von Geschlecht mittels chirurgischer Eingriffe. 11 In diesem Sinne kritisiert beispielweise Gilligan (1982, 2011) psychische Belastungen bei jugendlichen Mädchen in westlichen Gesellschaften, die aufgrund von Rollenerwartungen an das soziale Geschlecht zu Verzicht, Unterordnung und Selbstlosigkeit gedrängt werden.

/ Erweiterungen des zweigeschlechtlichen Denkens

/ Diskrimi­ nie­rungen von Frauen und LSBTIQ*

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/ Engagement gegen Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts oder des Alters

Mechthild Kiegelmann

Mit Bezug zur sexuellen Orientierung, also dazu, Menschen mit welchen Geschlechtern eine Person attraktiv findet, kommt es ebenfalls häufig zu gesellschaftlicher Ausgrenzung und Diskriminierungen: Lesben, Schwule, Bisexuelle (Steffens/Wagner 2009) sowie Trans*- und Inter*-Personen (Rauchfleisch 2016) erleben systematische Abwertungen und Benachteiligungen. Gender-Sensibilität und feministisches Engagement schließen mit Blick auf die Intersektionalität ausdrückliche Positionierung der Antidiskriminierung gegenüber Inter*- und Trans*-Personen ein (siehe Beitrag Riegel i. d. B.). Feministische Gesellschaftsanalyse und Engagement wenden sich somit gegen jegliche Formen von Diskriminierungen, hierzu gehört neben dem Blick auf Geschlechter und sexuelle Orientierungen auch die Überwindung von Benachteiligungen aufgrund des Lebensalters, insbesondere Altersdiskrimierung aufgrund von höheren Lebensaltern (Voss/Rothermund 2019). In intergenerationellen Begegnungen im Kontext von LSBTIQ* spielen geschlechtliche Vielfalt, Generationenunterschiede und das Spektrum sexueller Orientierungen eine Rolle. Gender und Generationen werden ineinander verschränkt bedeutsam (Auth/Leitner 2019). Genderrelevante Aspekte von Generationalität

/ Verschiedene Perspektiven auf Generationen

/ Wunschfamilien ­können Her­ kunfts­familien ­ergänzen.

Altersdikriminierung tritt im Zusammenhang von Machtgefällen z­ wischen Generationen auf. Das Konstrukt »Generation« kann hierbei unterschiedlich verstanden werden. So gibt es einen Bezug zu Geburtsjahrgängen und gemeinsam erlebten gesellschaftlichen Ereignissen, z. B. Baby Boomer (Mangelsdorf 2015). Dagegen werden beispielsweise mit Großelterngeneration Familienbeziehungen angesprochen, wobei Großeltern jedoch sehr unterschiedliche Alter haben können. Auch Lebensphasen können zu Generationen zusammengefasst werden (Kruse 2017), beispielsweise kann von Jungen Alten oder Hochaltrigen, aber auch von einer Schulkind-Generation gesprochen werden. Besonders wichtig erscheint bei der Auseinandersetzung mit LSBTIQ*relevanten Themen ein sensibler Umgang mit der Diskussion von Familienstrukturen. Denn häufig wurden LSBTIQ*-Personen von ihren Herkunftsfamilien ausgegrenzt, vor allem in historischen oder nationalen Kontexten, in denen LSBTIQ* kriminalisiert wurden oder werden (ILGA 2017; 2019). Vielen heute älteren Menschen aus LSBTIQ*-Communitys war es zudem im jungen Erwachsenenalter kaum oder nicht möglich, selbst Eltern zu werden. Regenbogenfamilien sind ein verhältnismäßig junges Phänomen, also Familien mit Elternpaaren aus den LSBTIQ*-Gruppen (Jansen/Bruns/Greib/Her-

Gender und Generationen

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bert-Flossdorf 2014). Gerade nach Brüchen mit Herkunftsfamilien bilden LSBTIQ*-Personen häufig enge Freundeskreise aus, die als soziale Familien oder Wahlfamilien dienen und oft fehlende soziale Unterstützung von Herkunftsfamilien ausgleichen oder ergänzen (Zusammenfassung in Misoch 2017). Eine Verschränkung von Gender und Generationen zeigt sich auch darin, dass Personen mit geringer entlohnten Berufskarrieren häufig weiblich sind und daher insbesondere Frauen überzufällig häufig von Altersarmut betroffen sind (Bergmann/Scheele/Sorger 2019; siehe Beitrag Brunnett i. d. B.).

/ Generationenzugehörigkeit ­beeinflusst ­familiares Leben

/ Altersarmut

Herausforderungen Ältere LSBTIQ*-Personen sind mit den üblichen Herausforderungen älterer Menschen konfrontiert. Zusätzlich leben sie mit den Spuren vergangener Diskriminierungserfahrungen, Bewältigungsstrategien wie sozialer Rückzug oder Verstecken des Privatlebens. Hierbei sind Erfahrungen nicht bei allen LSBTIQ*-Personen die gleichen. Je nach vorangegangenen Lebenserfahrungen können nicht nur zwischen heterosexuellen Cis-Personen und Angehörigen der LSBTIQ*-Communitys sehr verschiedene soziale Kontexte und Lebenserfahrungen aufeinander treffen, sondern auch innerhalb der LSBTIQ*-Lebensläufe unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen und Umgangsformen mit Ungleichbehandlungen vorliegen. Rufli (2015) beispielsweise illustriert anschaulich die Lebensgeschichten von heute älteren frauenliebenden Frauen in der Schweiz, mit und ohne berufliche Karrieren, lesbischen, bisexuellen oder heterosexuellen Partner*innenschaften oder Kinder. In der Zusammenarbeit mit Älteren erscheint es daher für professionelle Unterstützungspersonen hilfreich, Lebenserfahrungen zu erwarten, die von den eigenen oder von als »normal« angesehenen Erfahrungen abweichen. Auch LSBTIQ*-Personen bilden nicht einfach eine Gruppe von gleichen Menschen mit gleichen Hintergründen, sondern bringen je nach historischen und räumlichen Kontexten ihrer bisherigen Biografie völlig verschiedene Bedürfnisse ein, auch wenn sie gemeinsam einer Minderheit angehören. Fallbeispiel In einer Geschichtswerkstatt steht das Thema die »wilden 68er« an. Eine verarmte ehemalige Schneiderin erzählt eher abschätzig von Miniröcken in den 1970er-Jahren und zählt Nachteile der Mode von der Stange auf, die ohne Qualität und passenden Sitz sei. Sie bedauert, dass Massenfertigung von Kleidung zur Schließung vieler Schneidereien geführt hat. Ein ehemaliger

/ Unterschiede innerhalb der LSBTIQ*-­ Communitys

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Mechthild Kiegelmann

Buchhändler, der eigentlich fürs Lehramt studiert hatte, hört interessiert zu. Er erzählt von der Zeit im Studium und der Kleidung, die er bei mehr oder weniger heimlichen Studierendenparties trug und davon, dass er damals im Alltag nicht in Männerkleidung herumlaufen konnte, sondern sich versteckte. Die Feiern waren willkommene Ausnahmen für ihn als Transmann. Wie schön wäre es gewesen, wenn er selbst hätte Vater werden können und diese Partykleidung nun seinen Enkel*innen hätte zeigen können. In der Geschichtswerkstatt beginnt eine aufgeregte Diskussion über die politische Aufbruchstimmung am Ende der 1960er-Jahre und über Einschätzungen von heutigen jungen Erwachsenen. Einige der Teilnehmenden der Geschichtswerkstatt bedauern, dass ihre Enkel*innen heute viel zu angepasst und unpolitisch erscheinen. Der Buchhändler bringt sich nicht weiter in die Diskussion ein, hört aber schweigend aufmerksam zu. Die Schwärmerei über die wilden Zeiten der 1968er geht solange, bis die Schneiderin Einhalt gebietet. Sie sagt, dass es damals gar keine politische Bewegung gegeben habe, die anderen würden sich nur eine schöne Zeit zurechtreimen. Ihre beiden Enkel*innen jedenfalls seien politisch heute viel verantwortungsbewusster als die Jugend in den 1960er-Jahren.

Fragen (A) Wie kann eine junge pädagogische Fachkraft die unterschiedlichen Sichtweisen auf die 1968er-Erinnerungen der hier streitenden Personen anerkennen, und dabei alle Personen mit ihren je eigenen Perspektiven mit einbeziehen? (B) Reflektieren Sie die Bedeutung von Elternschaft in den jeweiligen historischen Kontexten und Lebenslagen der Streitenden. (C) Im Fallbeispiel werden verschiedene Bildungswege der alten Menschen angedeutet. Mit welcher Themenvorgabe könnte bei einer späteren Geschichtswerkstatt die Vielfalt von Bildungschancen und Bildungshindernissen einbezogen werden? Hintergründe Geschlechter und Generationen sind Kategorien, die ineinander verschränkt in den Lebensgeschichten vom Menschen Bedeutung haben. Beide Gesichtspunkte gemeinsam zu betrachten, hilft, historisch gewachsene patriarchalische Strukturen der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in ihren jeweiligen

Gender und Generationen

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historischen Kontexten einzuordnen und damit die Gruppe von Älteren auch als Zusammensetzung verschiedener Generationen zu erkennen. Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt erweitern das Spektrum der Erfahrungen. In intergenerationellen Begegnungen können Depersonalisierungen vermieden werden, wenn die je individuellen Lebensgeschichten der sich begegnenden Menschen im Blick bleiben und so vertrauensvolle Beziehungen möglich werden. Vertrauen kann entstehen, wenn auch Verletzlichkeiten von allen Beteiligten angesprochen werden können (Kiegelmann 2009). Mit Bezug auf die Wahrnehmung von LSBTIQ*-Personen können geänderte Gesetzgebungen in den Lebensläufen der Älteren zu unterschiedlichen Umgängen, beispielsweise Coming-out, oder Familienformen geführt haben. Die professionelle Begleitung von Älteren profitiert von Selbstreflexion und Offenlegung eigener Perspektiven. Insgesamt erscheint die Wahrnehmung von geschlechtlicher Vielfalt und unterschiedlichen Ausprägungen sexueller Orientierungen davon zu profitieren, wenn auch die Frage nach Generationenzugehörigkeiten mit in den Blick genommen werden kann. Literatur Auth, D./Leitner, S. (2019): Altern(n): Doing Ageing and Doing Gender. In: B. Kortendiek/B. Rie- 8 Weitere graf/K. Sabisch (Hg.): Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung (S. 1185–1191). Lernmaterialien finden Sie im Wiesbaden. DownloadBergmann, N./Scheele, A./Sorger, C. (2019): Variations of the same? A sectoral analysis of the bereich zu gender pay gap in Germany and Austria. Gender, Work & Organization, 26 (5), 668–687. ­diesem Buch Butler, J. (2002): Gender trouble. Feminism and the subversion of identity. New York, London. Gilligan, C. (1982): In a different voice. Harvard. Gilligan, C. (2011): Joining the resistance. Cambridge. International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA) (2017): State-Sponsored Homophobia 2017: A world survey of sexual orientation laws: criminalisation, protection and recognition. Genf. International Psychology Network for Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender and Intersex Issues. (2018): IPsyNet statement on LGBTIQ+ concerns. http://www.apa.org/ipsynet/advocacy/ policy/statement-commitment.aspx (Zugriff am 18.11.2019). Jansen, E./Bruns, M./Greib, A/Herbert-Flossdorf, M. (2014): Regenbogenfamilien-Alltäglich und doch anders: Beratungsführer für lesbische Mütter, schwule Väter und familienbezogene Fachkräfte. Köln. Kiegelmann, M. (2009): Making oneself vulnerable to discovery. Carol Gilligan in conversation with Mechthild Kiegelmann. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, 10 (2), 43. Kortendiek, B./Riegraf, B./Sabisch, K. (Hg.) (2019): Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung. Wiesbaden (Geschlecht und Gesellschaft, Band 65). Kruse, A. (2017): Lebensphase hohes Alter: Verletzlichkeit und Reife. Berlin. Mangelsdorf, M. (2015): Von Babyboomer bis Generation Z. Der richtige Umgang mit unterschiedlichen Generationen im Unternehmen. Offenbach.

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Mechthild Kiegelmann

Misoch, S. (2017): Lesbian, gay & grey. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 50 (3), 239– 246. Rauchfleisch, U. (2016): Transsexualität – Transidentität: Begutachtung, Begleitung, Therapie. Göttingen. Rufli, C. (2015): Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert. Frauenliebende Frauen über siebzig erzählen. (3. Aufl.). Baden. Steffens M. C./Wagner C. (2009): Diskriminierung von Lesben, Schwulen und Bisexuellen. In: A. Beelmann/K. J. Jonas (Hg.): Diskriminierung und Toleranz (S. 241–262). Wiesbaden. Steinebach, C./Süss, D./Kienbaum, J./Kiegelmann, M. (2016): Basiswissen Pädagogische Psychologie. Weinheim. Voss, P./Rothermund, K. (2019): Altersdiskriminierung in institutionellen Kontexten. In B. K ­ racke/ P. Noack (Hg.): Handbuch Entwicklungs- und Erziehungspsychologie (S. 509–538). Berlin, Heidelberg.

Weiterführende Literatur Bower, K./Lewis, D. C./Bermúdez, J. M./Singh, A. A. (2019): Narratives of Generativity and Resilience among LGBT Older Adults: Leaving Positive Legacies despite Social Stigma and Collective Trauma. Journal of Homosexuality, S. 1–22. DOI: 10.1080/00918369.2019.1648082. Denninger, T./Schütze, L. (Hg.) (2017): Alter(n) und Geschlecht. Neuverhandlungen eines sozialen Zusammenhangs. Münster. Voss, P./Rothermund, K. (2019): Altersdiskriminierung in institutionellen Kontexten In B. ­Kracke/ P. Noack (Hg.): Handbuch Entwicklungs-und Erziehungspsychologie (S. 509–538). Berlin, Heidelberg.

2.6 Altersbilder Claudia Krell

Hintergrund Unter Altersbildern können individuelle und gesellschaftliche Vorstellungen vom Alter als Zustand des Altseins, vom Altern als Prozess des Älterwerdens oder von älteren Menschen als soziale Gruppe älterer Personen und ihrer charakteristischen Eigenschaften verstanden werden (BMFSFJ 2001, S. 64; BMFSFJ 2010, S. 27; Rossow 2012, S. 11). Dabei spiegeln Altersbilder nicht reale Alternsprozesse wider, sondern vereinfachen, typisieren und generalisieren (BMFSFJ 2010, S. 34). Bezogen auf positive und negative Merkmale beinhalten sie sowohl beschreibende und erklärende als auch wertende und normative Aussagen über das Alter(n) (Tews 1995, S. 8). Individuelle und gesellschaftliche Altersbilder beeinflussen sich als soziale Konstruktionen wechselseitig und hängen vom historischen und soziokulturellen Kontext ab (Rossow 2012). Als Stereotype strukturieren und ordnen Altersbilder Wahrnehmungen und Beurteilungen, bieten Orientierung in Interaktionen und reduzieren damit soziale Komplexität (BMFSFJ 2010, S. 28/34). Neben dieser entlastenden Funktion bergen sie durch das Abstellen auf erwünschte und unerwünschte Erscheinungsformen von Alter aber auch die Gefahr von Altersdiskriminierung (BMFSFJ 2010, S. 35). Analytisch lassen sich Altersbilder auf vier Ebenen unterscheiden: der Makro-, der Meso-, der Interaktions- und der individuellen Ebene. Auf der Makro-Ebene entstehen Altersbilder im öffentlichen Diskurs als kollektive Deutungsmuster in Bezug auf ältere und alte Menschen in der Gesellschaft. Altersbilder in Organisationen und Institutionen wirken sich auf der MesoEbene konkret auf das Alltagsleben und die Lebensplanungen von Menschen aus. In sozialen Alltagssituationen werden Altersbilder auf der Interaktionsebene täglich hergestellt und hervorgebracht und entfalten konkrete Wirkung (BMFSFJ 2010, S. 27). Schließlich zeigen sich Altersbilder auf individueller Ebene als persönliche Einstellungsmuster und Verhaltensdispositionen (Amrhein/

/ Altersbilder bezeichnen ­Vorstellungen von Alter(n) und ­älteren ­Menschen

/ Altersbilder auf Makro-, Meso-, Interaktions- und individueller Ebene

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/ Multidimensio­ nalität und Multidirektionalität

Claudia Krell

Backes 2007, S. 108) mit Identitätsrelevanz. Die eigene Biografie und mit fortschreitendem Alter auch eigene Erfahrungen prägen individuelle Altersbilder genauso wie die aktuelle Lebenssituation und der Lebensstil des Individuums sowie deren rechtliche, soziale und kulturelle Rahmenbedingungen. Eine aktive Lebensführung, wesentlich geprägt durch Sozialisations- und Bildungsprozesse, und positive Altersbilder verstärken sich wechselseitig, wobei sich kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern zeigen (Schmidt-Hertha/ Mühlbauer 2012, S. 129 ff.). Das Konzept der Altersbilder erlaubt die Betrachtung von unterschiedlichen altersrelevanten Aspekten und ein möglichst ganzheitliches Bild von Alter(n) in seiner Multidimensionalität und Multidirektionalität. Damit umfasst Multidimensionalität psychische, physische, soziale und lebenslagenbezogene (Finanzen, Wohnen etc.) Aspekte, während Multidirektionalität auf Gewinne und Verluste abstellt (Wurm/Huxhold 2012, S. 63). Unabhängig von ihrer objektiven Gültigkeit entfalten Altersbilder reale Wirkungen (BMFSFJ 2010, S. 32). Insgesamt sind Altersbilder in der Gleichzeitigkeit positiver und negativer, auch widersprüchlicher Einstellungen meist abgewogen (Kelle 2008, S. 22 f.). Auf konzeptioneller Ebene lassen sich Altersselbstbilder, Altersfremdbilder und LSBTIQ*-bezogene Altersbilder unterscheiden, die in engem Zusammenhang stehen (Krell 2014, S. 232). Altersselbstbilder, Altersfremdbilder, LSBTIQ*-bezogene Altersbilder

/ Altersselbstbilder sind Vorstellungen über eigenes Alter(n)

/ Altersfremdbilder sind Vorstellungen vom Alter(n) im Allgemeinen

Bei Altersselbstbildern »geht es um die Person selbst und die Veränderungen, die sie mit dem Älterwerden verbindet. Selbstbilder sind Vorstellungen, die Menschen über den eigenen Alternsprozess, über die Lebensphase des eigenen Alters sowie über sich selbst als ältere Menschen haben« (BMFSFJ 2010, S. 37). Diese Hoffnungen und Befürchtungen bezüglich des eigenen (zukünftigen) Alters hängen sowohl von normativen Überzeugungen als auch von subjektiven Erfahrungen im eigenen Lebensraum ab (Backes/Clemens 2003, S. 59). Bei jüngeren Menschen beeinflusst das Altersselbstbild Interaktionen mit älteren Menschen, die wiederum auf das Altersselbstbild zurückwirken. Altersfremdbilder sind »Vorstellungen, die Menschen jeweils vom Alternsprozess, vom Alter sowie von anderen älteren Menschen im Allgemeinen haben« (BMFSFJ 2010, S. 37). Sie umfassen sowohl generalisierte Einstellungen

Altersbilder

85

gegenüber Älteren und Alten als auch Einstellungen gegenüber konkreten älteren und alten Personen, sowohl auf kognitiver als auch auf affektiver Ebene (Tews 1995, S. 56). Im Gegensatz zu eher positiv geprägten Altersselbstbildern sind Altersfremdbilder meist weniger differenziert und eher von negativen Zuschreibungen, wie Isolation, Vereinsamung, Abhängigkeit, Hilfsbedürftigkeit und Abbau körperlicher und geistiger Fähigkeiten geprägt. Stigmatisierung von Älteren kann eine Folge von negativen Altersfremdbildern sein, die mit dem chronologischen Lebensalter gesellschaftlich gering bewertete Eigenschaften verbinden (Backes/Clemens 2003, S. 58 ff.). LSBTIQ*-bezogene Altersbilder als bereichsspezifische Altersbilder (Kelle 2008, S. 22 f.) über LSBTIQ*-Personen beziehen sich in der Fremddimension auf Vorstellungen vom Alternsprozess und der Lebensphase Alter bei LSBTIQ*Personen sowie Vorstellungen von älteren LSBTIQ*-Personen. In der Selbstdimension umfassen sie Vorstellungen eigenen Alter(n)s als LSBTIQ*-Person. LSBTIQ*-bezogene Altersbilder sind abhängig von allgemeinen Altersbildern und beziehen sich vor allem auf den altersbezogenen Vergleich zwischen LSBTIQ*-Personen und anderen Personen. Für Schwule werden die Thesen des »beschleunigten Alterns« und der »dual existence« (Bennett/Thompson 1991, S. 67) diskutiert, wonach sie sich wegen der jugendlichkeitsorientierten Subkultur mit eigenen, von der heterosexuell dominierten Gesamtgesellschaft abweichenden Altersbildern als älter beschreiben, wenn sie auf ihre Homosexualität Bezug nehmen (Heaphy/Yip/Thompson 2004, S. 885). Herausforderungen Im Pflegealltag und in der Praxis Sozialer Arbeit treffen unterschiedliche Altersbilder der interagierenden Personen aufeinander, die wiederum von bestimmten gesellschaftlichen und institutionellen Altersbildern beeinflusst sind. Um das Ziel einer personenzentrierten Pflege (Kitwood 2000) zu erreichen, scheint es notwendig, dass sich pflegende Personen mit Altersbildern auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Dimensionen auseinandersetzen. Dabei können sich Ambivalenzen und Widersprüche zwischen unterschiedlichen Altersbildern ergeben, die sowohl auf professionell Handelnde als auch auf ältere Menschen selbst zurückwirken. Um solche möglichen Spannungen in Interaktionen produktiv verarbeiten zu können, sollten nicht nur individuelle, sondern auch institutionelle und gesellschaftliche Altersbilder reflektiert werden, die Interaktionen mit Älteren kontextualisieren.

/ LSBTIQ*-­ bezogene Altersbilder sind bereichsspezifische Altersbilder

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Claudia Krell

Fallbeispiel / Fallbeispiel Albert Z. »Die schönsten Jahre meines Lebens«

Albert Z. ist 71 Jahre alt und lebt zusammen mit seinem ungefähr gleichaltrigen Partner offen schwul. Er ist nach wie vor mit seiner Ehefrau verheiratet, von der er seit vielen Jahren getrennt lebt; er pflegt engen Kontakt zu ihr, seinen Kindern und Enkelkindern. Albert Z. hat vielseitige Interessen und ist ehrenamtlich engagiert. Trotz verschiedener gesundheitlicher Probleme bezeichnet er die jetzige Lebensphase als »die schönsten Jahre meines Lebens«, was er vor allem mit der erfüllenden Partnerschaft, dem Renteneintritt, der Tatsache, dass er sich »dann endlich im Alter freigeschwommen« hat, in Verbindung bringt. Mit dem Alter einhergehende körperliche Abbauprozesse versucht er zu kompensieren, indem er zum Beispiel weniger schnell, dafür aber ausdauernder Fahrrad fährt. »Alter« beschreibt Albert Z. unabhängig vom Lebensalter mit festgefügten Meinungen und der Unfähigkeit, den eigenen Standpunkt zu überdenken und infrage zu stellen. Mit zunehmendem Alter bevorzugt er die Gesellschaft von Lesben und Schwulen, »weil man sich da sehr viel schneller über Dinge, die einen berühren, unterhalten kann«. Wegen des quantitativen Übergewichts von Frauen in Angeboten und Einrichtungen der allgemeinen Altenhilfe steht er diesen eher skeptisch gegenüber.

Fragen (A) Wie lassen sich Altersselbstbild, Altersfremdbild und LSBTIQ*-bezogenes Altersbild von Albert Z. beschreiben? (B) Wie könnten Lebenslage und Lebensführung von Albert Z. die Altersselbstbilder von Herrn Z. beeinflusst haben? (C) Beschreiben Sie Maßnahmen der Altenhilfe, die den Bedürfnissen von Albert Z. entsprechen könnten. Schlussfolgerungen Altersbilder wirken in allen Interaktionen von und mit älteren und alten Personen in allen Lebensbereichen, wie beispielsweise der Herkunftsfamilie, der Community und der Altenhilfe. Neben Selbst- und Fremdbildern spielen bei LSBTIQ*-Personen auch bereichsspezifische Altersbilder eine Rolle, deren Berücksichtigung eine bessere Einbeziehung von individuellen Bedürfnissen in Angebote der Pflege und Sozialen Arbeit ermöglichen kann. Zur Förderung individueller und sozialer Ressourcen Älterer und zur Verbesserung

Altersbilder

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ihrer bedarfsorientierten Versorgung sollte die Ausdifferenzierung von Altersbildern auf allen Ebenen unterstützt werden. Ansatzpunkte können die Veränderung objektiv bestehender und subjektiv wahrgenommener Lebensbedingungen sowie der zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen sein, aus deren Zusammenspiel Altersbilder resultieren (BMFSFJ 2010, S. 42). Positive Altersbilder zeichnen sich dabei dadurch aus, dass Veränderungen und Verluste nicht negiert, gleichzeitig aber auch Gewinne, Chancen sowie Kompensations-, Partizipations-, Entwicklungs-, Handlungs- und Anpassungsmöglichkeiten gesehen werden. Literatur Amrhein, L./Backes, G. M. (2007): Alter(n)sbilder und Diskurse des Alter(n)s. Anmerkungen 8 Weitere Lernmaterialien zum Stand der Forschung. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 40 (2), 104–111. Backes, G. M./Clemens, W. (2003): Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissen- finden Sie im Downloadschaftliche Alternsforschung. Weinheim u. a. bereich zu Bennett, K. C./Thompson, N. L. (1991): Acelerated Aging and Male Homosexuality: Australian ­diesem Buch Evidence in a Continuing Debate. Journal of Homosexuality, 20 (3/4), 65–75. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2001): Dritter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland: Alter und Gesellschaft. Bundestags-Drucksache 14/5130. Berlin. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2010): Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Altersbilder in der Gesellschaft. Berlin. https://www.bmfsfj.de/blob/101922/b6e54a742b2e84808af68b8947d10ad4/ sechster-altenbericht-data.pdf (Zugriff am 07.04.2019). Heaphy, B./Yip, A. K. T./Thompson, D. (2004): Ageing in a Non-heterosexual Context. Ageing & Society, 24 (6), 881–902. Kelle, U. (2008): Alter & Altern. In: N. Baur/H. Korte/M. Löw/M. Schroer (Hg.): Handbuch Soziologie (S. 11–31). Wiesbaden. Kitwood, T. (2000): Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern. Krell, C. (2014): Alter und Altern bei Homosexuellen. Weinheim u. a. Rossow, J. (2012): Einführung: Individuelle und kulturelle Altersbilder. In: F. Berner/J. Rossow/K.-P. Schwitzer (Hg.): Individuelle und kulturelle Altersbilder. Expertisen zum Sechsten Altenbericht der Bundesregierung (Band 1, S. 9–24). Wiesbaden. Schmidt-Hertha, B./Mühlbauer, C. (2012): Lebensbedingungen, Lebensstile und Altersbilder älterer Erwachsener. In: F. Berner/J. Rossow/K.-P. Schwitzer (Hg.): Individuelle und kulturelle Altersbilder. Expertisen zum Sechsten Altenbericht der Bundesregierung (Band 1, S. 109–149). Wiesbaden. Tews, H. P. (1995): Altersbilder. Über Wandel und Beeinflussung von Vorstellungen vom und Einstellungen zum Alter. Köln. Wurm, S./Huxold, O. (2012): Sozialer Wandel und individuelle Entwicklung von Altersbildern. In: F. Berner/J. Rossow/K.-P. Schwitzer (Hg.): Individuelle und kulturelle Altersbilder. Expertisen zum Sechsten Altenbericht der Bundesregierung (Band 1, S. 27–69). Wiesbaden.

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Claudia Krell

Weiterführende Literatur Filipp, S.-H./Mayer, A.-K. (1999): Bilder des Alters. Altersstereotype und die Beziehungen zwischen den Generationen. Stuttgart. Kimmel, D. C. (1995): Lesbians and Gay Men Also Grow Old. In: L. A. Bond/S. J. Cutler/A. Grams (Hg.): Psychological Perspectives on Lesbian and Gay Male Experiences (S. 517– 534). New York. Kruse, A./Schmitt, E. (2005): Zur Veränderung des Altersbildes in Deutschland. Aus Politik und Zeitgeschichte, (49–50), 9–17.

Vielfalt in der Lehre: Materialien zu LSBTIQ* und Alter(n) für Pflege und Soziale Arbeit

3.1 Lesbisch und Alter(n) Claudia Krell

Hintergrund Vielfältige Lebenssituationen älterer lesbischer Frauen in der Forschung Ältere lesbische Frauen gelten als triply invisible (Kehoe 1986a), da sie als Frauen, als ältere Menschen und als Lesben gesellschaftlich »unsichtbar« sind (Kehoe 1988). Dies gilt auch für den Forschungsbereich. Wissenschaftliche Studien zu Homosexualität beschäftigten sich bis in die 1970er-Jahre eher mit jüngeren Personen und bezogen ältere Personen nicht ein. In gerontologischen Studien wurde älteren und alten Menschen hingegen implizit Heterosexualität unterstellt (Jones/Pugh 2005). Hinzu kommt, dass in beiden Bereichen meist Männer im Vordergrund standen. Ältere und alte lesbische Frauen werden erst seit wenigen Jahrzehnten im anglo-amerikanischen Raum (zum Beispiel Kehoe 1986a, 1986b, 1988) und erst seit den 1990er-Jahren in Deutschland erforscht (zum Beispiel Wortmann 2005; Plötz 2006; Brauckmann/Schmauch 2007). Die empirischen Arbeiten sind meist explorativ und beleuchten, biografisch orientiert, die Lebenslage und die Lebenssituation von älteren und alten Lesben (Krell 2014). Immer noch gilt die Diversität von älteren und alten Frauen als nur unzureichend berücksichtigt (Cruikshank 1990; De Vries/Herdt 2012). Insbesondere fehlen nähere Erkenntnisse zu lesbischen Frauen im vierten Lebensalter, zu pflegebedürftigen älteren und alten Lesben, lesbischen Frauen in Einrichtungen der Altenpflege sowie der großen Vielfalt an Lebensverläufen und Lebenssituationen von älteren und alten Lesben. In Zukunft ist anzunehmen, dass die Anzahl älterer Lesben steigen wird, die über Gründungsfamilien aus der lesbischen Lebensphase verfügen und deren Alternsprozesse sich vermutlich von kinderlosen oder Lesben mit Gründungsfamilien aus einer heterosexuellen Lebensphase unterscheiden (Krell 2014).

/ Dreifache ­Unsichtbarkeit älterer Lesben

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Claudia Krell

Lesbische Frauen und erfolgreiches Alter(n) / Soziale Kontakte durch »Wahlfamilien«

/ Hohes Aktivitätsniveau

/ Frauenbewegung und Feminismus

/ Krisenkompetenz

/ Biografische Kontinuität

Im Gegensatz zu verbreiteten Stereotypen über Homosexualität und Alter erlauben Forschungsergebnisse die Annahme, dass ältere und alte lesbische Frauen weder einsam noch isoliert sind. Frühzeitig im Lebensverlauf aufgebaute, auf Freundschaften beruhende verwandtschaftsähnliche Beziehungsnetzwerke, sogenannte »Wahlfamilien« (Weeks et  al. 2001),  – sichern soziale Kontakte und können möglicherweise fehlende oder schwache verwandtschaftliche Beziehungen kompensieren, auch in Antizipation eines altersbedingten Verlusts von sozialen Netzwerken. Die in der Vergangenheit bestehende mangelnde rechtliche Gleichstellung lesbischer Partnerschaften hat die Unterstützung durch Nicht-Familienangehörige häufig erschwert (Reimann/Lasch 2006). Da lesbische ältere und alte Frauen häufig in hohem Maße körperlich, geistig und sozial aktiv sind (Kehoe 1988) und seltener in weibliche Familienrollen eingebunden sind, wirken sie im Vergleich zu heterosexuellen Frauen nach außen häufig jugendlicher (Cruikshank 1990). Dies führt dazu, dass lesbische Frauen mit zunehmendem Alter flexibel bleiben und positiv auf Altern blicken, was sich in der Betonung von altersbedingten Gewinnen und der Chance auf neue Aktivitäten durch ein zunehmendes Maß an Selbstbestimmtheit und Freiheit zeigen kann (Krell 2016). Zusammenfassend zeigen Studien zu Alter(n) bei Lesben, dass diese überwiegend gut an den Alternsprozess und die Lebensphase Alter angepasst sind. Positive Wirkungen entfalten in diesem Kontext Einflüsse von Frauenbewegungen und Feminismus, die die Normen der heterosexuell dominierten Gesamtgesellschaft eher hinterfragen. So konnte für lesbische Frauen weder die These eines beschleunigten Alterns (Friend 1980) noch die These der dual existence (Bennett/Thompson 1991) bestätigt werden (zum Beispiel Laner 1979; Koordinierungsstelle 2004; Schope 2005), die versuchen, negative Einflüsse der Homosexualität auf Alter(n) bei schwulen Männern zu erklären. Darüber hinaus gibt es Grund zu der Annahme, dass sich Lesbischsein begünstigend auf den Umgang mit Alternsprozessen und der Lebensphase Alter auswirken kann. Die (kritisch diskutierte) These der homosexualitätsbedingten Krisenkompetenz (Friend 1980) sieht einen Zusammenhang zwischen der erfolgreichen Bewältigung einer Lebenskrise im Rahmen des Coming-outs und dem produktiven Umgang mit Krisen, die durch andere Stigmata im Lebensverlauf (wie zum Beispiel Alter) ausgelöst werden können. Im Vergleich zu heterosexuellen Frauen können sich durch ein häufig höheres Maß an biografischer Kontinuität (Berger/Kelly 2001; Brown et al. 1997) und einem flexiblen und kritischen Umgang mit traditionellen Geschlechterrollen

Lesbisch und Alter(n)

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(Friend 1980; Kehoe 1986b) Vorteile in Bezug auf altersbedingte Anpassungsprozesse ergeben. Die Unabhängigkeit von an Jugendlichkeit orientierten Attraktivitätsnormen von Männern (Lautmann 1998) führt dazu, dass die Attraktivität lesbischer Frauen mit zunehmendem Alter im Gegensatz zu heterosexuellen Frauen und schwulen Männern weniger abgewertet wird (Kimmel 1995). Ganz allgemein wird Frauen zudem zugeschrieben, dass sie wegen »der mit dem weiblichen Lebenslauf verbundenen Notwendigkeit der häufigen Umstellung und Vereinbarung von Widersprüchen häufig besser in der Lage [sind], Umstellungen und Verluste des Alterns zu verarbeiten, sich zumindest damit zu arrangieren« (Backes 1999, S. 457). Herausforderungen Lesbische Frauen und Alter(n)sprobleme Neben diesen positiven Aspekten werden im Themenbereich Lesben und Alter(n) auch potenziell problematische Zusammenhänge diskutiert. So können sich besondere Problemlagen, die aus einer homosexualitätsbedingten Stigmatisierung und Diskriminierung folgen, mit zunehmendem Alter verstärken (Brauckmann/Schmauch 2007; Adelman 1991). Spiegelbildlich dazu ist es möglich, dass allgemeine Alter(n)sprobleme, gerade auch in einer jugendlichkeitsorientierten Gesellschaft, bei älteren und alten Lesben in höherem Maße auftreten, da zur Altersdiskriminierung auch Diskriminierung aufgrund der Homosexualität hinzukommt (Kochman 1997; Witten 2012). Geschlechtsspezifische Unterschiede können dazu führen, dass lesbische Frauen im Vergleich zu schwulen Männern ggf. aufgrund von einem geringeren Einkommensniveau eher über eingeschränkte materielle Ressourcen verfügen können (Kimmel/Sang 1995; Heaphy 2007; Bradford/Ryan 1991). Fallbeispiel Hedwig S. ist 68 Jahre alt, Single und lebt allein. Seit einigen Jahren ist sie krankheitsbedingt auf den Rollstuhl und auf ambulant pflegerische Unterstützung angewiesen. Hedwig S. lebte seit ihrer Jugend in gleichgeschlechtlichen Partnerschafen, engagierte sich in der lesbischen Frauenbewegung und begreift das Lesbischsein auch als »politische Aussage« in der Ablehnung patriarchaler Strukturen. In diesem Zusammenhang verfolgte sie alternative Lebens- und Erwerbsformen, überwiegend in klassischen »Frauenberufen«, die jedoch eine eher prekäre wirtschaftliche Lebenssituation im Alter bedingen. Pflegeeinrichtungen lehnt Hedwig S. eher ab, weil sie fehlendes

/ Diskrimi­ nierung und ­Stigmatisierung

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Claudia Krell

Verständnis für ihre lesbische Lebensweise befürchtet: »Dann würd ich auf dem Todesbett noch diesen Kampf kämpfen müssen für gleichgeschlechtliche Liebe.«

Fragen (A) Wie könnten pflegebedürftige lesbische Frauen wie Hedwig S. unterstützt werden, insbesondere, wenn ambulante Pflege nicht (mehr) umsetzbar ist? (B) Welche Ressourcen könnte Hedwig S. durch ihr Engagement in der Frauenbewegung erworben haben, die ihr in der aktuellen Lebenssituation im Alter nutzen könnten? (C) Worin könnten Hedwig S.’ Befürchtungen, dass in Pflegeeinrichtungen wenig Verständnis für ihre lesbische Lebensweise besteht, begründet sein? Schlussfolgerungen Für die pflegerische Praxis ist es wichtig, die Vielfältigkeit von Lebensverläufen und Lebenslagen älterer und alter lesbischer Frauen zu berücksichtigen und sich offen für »Überraschungen« zu zeigen. Dazu gehört auch, dass pflegerisch tätige Personen im Gespräch interessiert nach Herausforderungen, (politischen) Erfahrungen und Stärken von Menschen fragen, mit denen sie arbeiten. Erzählungen beispielsweise über Frauenbewegungen und Feminismen könnten auf Bewältigungsstrategien hinweisen, die viele heute ältere lesbische Frauen biografisch geprägt haben und die für die aktuelle Lebensphase der älteren Frauen hilfreich sein können. Dazu könnten etwa Organisationstalent und Mut zu kreativen Versammlungsformen gehören, die ältere lesbische Frauen in Bürger*inneninitiativen zur Planung von neuen Wohnformen und Mehrgenerationenhäusern als konstruktive Lösungen einbringen können. Mit gegenseitigem Interesse an unterschiedlichen Lebenskontexten und Sensibilität für Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Intersektionalitäten von Lebensverläufen lesbischer und heterosexueller Frauen können gegenseitig Vorurteile abgebaut werden. Eine weitergehende Diversifizierung von Angeboten der Altenhilfe und Altenpflege würde es lesbischen Frauen ermöglichen, die für sie passenden, auch lesbenspezifischen Angebote zu wählen.

Lesbisch und Alter(n)

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Literatur Adelman, M. (1991): Stigma, Gay Lifestyles, and Adjustment to Aging: A Study of Later-Life 8 Weitere Lernmaterialien Gay Men and Lesbians. Journal of Homosexuality, 20 (3/4), 7–32. finden Sie im Backes, G. M. (1999): Geschlechterverhältnisse im Alter. Alter als komplementär »weibliche« Downloadund »männliche« Vergesellschaftungsform. In: B. Jansen/F. Karl/H. Radebold/R. Schmitz- bereich zu Scherzer (Hg.): Soziale Gerontologie. Ein Handbuch für Lehre und Praxis (S. 453–469). ­diesem Buch Weinheim u. a. Bennett, K. S./Thompson, N. L. (1991): Acceleated Aging and Male Homosexuality: Australian Evidence in a Continuing Debate: Journal of Homosexuality, 20 (3/4), 65–75. Berger, R. M./Kelly, J. J. (2001): What Are Older Gay Men Like? An Impossible Question? In: D. C. Kimmel/D. L. Martin (Hg.): Midlife and Aging in Gay America. Proceedings of the SAGE Conference 2000 (S. 55–64). New York u. a. Bradford, J./Ryan, C. (1991): Who We Are: Health Concerns of Middle-Aged Lesbians. In: B. Sang/J. Warshow/A. J. Smith (Hg.): Lesbians at Midlife: The Creative Transition (S. 147– 163). San Francisco. Brauckmann, S./Schmauch, U. (2007): Lesbische Frauen im Alter – ihre Lebenssituation und ihre spezifischen Bedürfnisse für ein altengerechtes Leben. Frankfurt am Main. Brown, L. B./Sarosy, S. G./Cook, T. C./Quarto, J. G. (1997): Gay Men and Aging. New York u. a. Cruikshank, M. (1990): Lavender and Gray: A Brief Survey of Lesbian and Gay Aging Studies. In: J. A. Lee (Hg.): Gay Midlife and Maturity. Journal of Homosexuality, 20 (3/4), 77–87. De Vries, B./Herdt, G. (2012): Aging in the Gav Community. In: T. M. Witten/A. E. Eyler (Hg.): Gay, Lesbian, Bisexual and Transgender Aging. Challenges in Research, Practice and Policy (S. 84–129). Baltimore. Friend, R. A. (1980): GAYging. Adjustment and the Older Gay Male. In: Alternative Lifestyles, 3 (2), 231–248. Heaphy, B. (2007): Sexualities, Gender and Ageing. Resources and Social Change. Current Sociology, 55 (2), 193–210. Jones, J./Pugh, S. (2005): Ageing Gay Men. Lessons from the Sociology of Embodiment. Men and Masculinities. 7 (3), 248–260. Kehoe, M. (1986a): Lesbians Over 65. A Triply Invisible Minority. Journal of Homosexuality, 12 (3/4), 139–152. Kehoe, M. (1986b): A Portrait of the Older Lesbian. Journal of Homosexuality, 12 (3/4), 157–161. Kehoe, M. (1988): Lesbians Over 60 Speak for Themselves. Journal of Homosexuality, 16 (3/4). Kimmel, D. C. (1995): Lesbians and Gay Men Also Grow Old. In: L. A. Bond/S. J. Cutler/A. Grams (Hg.): Promoting Successful and Productive Aging (S. 289–303). Thousand Oaks u. a. Kimmel, D. C./Sang, B. E. (1995): Lesbians and Gay Men in Midlife. In: A. R. D’Augelli/C. J. Patterson (Hg.): Lesbians, Gay and Bisexual Identities Over the Lifespan. Psychological Perspectives (S. 190–214). New York u. a. Kochman, A. (1997): Gay and Lesbian Elderly: Historical Overview and Implications for Social Work Practice. Journal of Gay and Lesbian Social Services, 10 (3), 1–10. Koordinierungsstelle für gleichgeschlechtliche Lebensweisen (2004): Unter’m Regenbogen. Lesben und Schwule in München. Ergebnisse einer Befragung durch die Landeshauptstadt München. München. Krell, C. (2014): Alter und Altern bei Homosexuellen. Weinheim u. a. Krell, C. (2016): Altersbilder lesbischer Frauen. In: R. Lottmann/R. Lautmann/M. d. M. d. Castro Varela (Hg.): Homosexualität_en und Alter(n). Ergebnisse aus Forschung und Praxis (S. 111–128). Wiesbaden.

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Claudia Krell

Laner, M. R. (1979): Growing Older Female: Heterosexual and Homosexual. Journal of Homosexuality, 4 (3), 267–275. Lautmann, R. (1998): Das erotische Tabu zwischen den Generationen. In: H.-G. Stümke (Hg.): Älter werden wir umsonst. Schwules Leben jenseits der Dreißig. Erfahrungen, Interviews. Berichte (S. 232–241). Berlin. Plötz, K. (2006): Lesbische ALTERnativen. Alltagsleben, Erwartungen, Wünsche. Königstein/ Taunus. Reimann, K./Lasch, V. (2006): Differenzierte Lebenslagen im Alter. Der Einfluss sexueller Orientierung am Beispiel homosexueller Männer. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 39, 13–21. Schope, R. D. (2005): Who’s Afraid of Growing Old? Gay and Lesbian Perceptions of Aging. Journal of Gerontological Social Work, 45 (4), 23–39. Weeks, J./Heaphy, B./Donovan, C. (2001): Same Sex Intimacies. Families of Choice and other life experiments. London u. a. Witten, T. M. (2012): The Aging of Sexual and Gender Minority Persons. An Overview. In: T. M. Witten/A. E. Eyler (Hg.): Gay, Lesbian, Bisexual and Transgender Aging. Challenges in Research, Practice, and Policy (S. 187–269). Baltimore. Wortmann, M. (2005): Die Lebenslage älterer lesbischer Frauen in Deutschland. Annäherungen an ein verdrängtes Thema. Berlin.

Weiterführende Literatur Claassen, C. (2005): Whistling Women. A Study of the Lives of Older Lesbians. New York.

3.2 Schwul und Alter(n) Klaus Müller

Hintergrund Dieser Beitrag widmet sich der Situation älterer schwuler Männer, die einen pflegerischen Unterstützungsbedarf haben. Ihr Erleben und die Bedeutung ihrer Biografien werden vor dem Hintergrund einer personenzentrierten Pflege (McCormack/McCance 2016; Darmann-Fink 2006) dargestellt und anhand eines Fallbeispiels illustriert. Männerliebende Männer stellen in der Gesamtgesellschaft eine Minderheit dar. Vage Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 2–7 % der Bevölkerung homosexuell sind (Dalia Research 2016). Jedoch stellt sich die Frage, welcher Mann sich als homosexuell definiert, und welcher dies nicht tut, aber Sex mit anderen Männern hat, als komplex dar (Gerlach/Schupp 2018, S. 199). Menschen, die eine andere Identität als der heterosexuelle Mainstream der Gesellschaft haben, erleben sich als anders, am Rande stehend und häufig nicht gleichberechtigt im gesellschaftlichen Alltag. Sie erleben eine Art von nicht dazugehören, von Fremdsein. Wird ihre Identität zum Gegenstand des gesellschaftlichen Diskurses, erleben sie häufig Ausgrenzung, Stigmatisierung und Diskriminierung. Hier ist darauf hinzuweisen, dass die gesellschaftliche Praxis, gleichgeschlechtliche Liebe auf sexuelle Handlungen zu reduzieren, das Ausgrenzungserleben verstärkt, weil der Aspekt der persönlichen Identität keine Berücksichtigung findet. Auf der anderen Seite, also der gegengeschlechtlich liebenden Mehrheit der Gesellschaft, lösen Menschen die »anders« sind als sie selbst, ebenfalls das Gefühl von Fremdartigkeit (Schäffter 1991) aus. Daraus können Strategien der Abwehr entstehen, um die eigene Identität, das eigene Selbstbild mit der Zugehörigkeit zur Mehrheit zu stabilisieren, sich rückzuversichern, auf der »richtigen« Seite, der der Mehrheit, zu stehen. Schwule Männer haben ihrem Identitätsmuster folgend eine Lebensstrategie entwickelt, die es ihnen erlaubt, in ihrem Lebensumfeld stimmig

/ Sexuelle Identitäten sind vielschichtig und komplex

/ Sexuelle Identität wird oft auf sexuelle Handlungen reduziert

98 / Auftretender Pflegebedarf kann Identitätspraktiken infrage stellen

/ Schwulsein hat eine Geschichte von ­Diskriminierung und Verfolgung

Klaus Müller

zu leben. Dies kann bedeuten, völlig offen und frei zu leben und ihre Identität nach außen wahrnehmbar darzustellen. Dies kann aber auch bedeuten, die eigene Identität und die damit verbundenen Bedürfnisse versteckt vor der Öffentlichkeit zu halten und nur in bestimmten Momenten oder an bestimmten Orten zu leben. Für Menschen, die einen Pflegebedarf entwickeln, ändert sich die Lebenswirklichkeit radikal. Konnten sie bislang ihr Leben autonom gestalten, sind sie nun abhängig von fremder Hilfe. Für den Aspekt ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität und die damit verbundenen Bedürfnisse kann das bedeuten, in den Hintergrund treten zu müssen, weil die Person diese nach außen nicht preisgeben möchte. Eine solche Situation hätte dann die Einschränkung der Selbstentfaltung zur Folge. Homosexuelle Männer blicken historisch auf eine lange Zeit der Ausgrenzung und Verfolgung zurück. Bis 1994 galt in der Bundesrepublik Deutschland der § 175 StGB, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte (Hoffschildt 2002). 1968 ersetzte § 151 StGB in der DDR diesen Paragraphen, der gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen sowohl für Frauen als auch für Männer unter Strafe stellte. 1988 wurde auch dieser Paragraph ersatzlos gestrichen. Bis heute gibt es kaum Gesellschaften, in denen Homo- und Heterosexualität tatsächlich als Optionen gleichberechtigt nebeneinander bestehen. Zwar gilt in einigen Ländern juristisch die Gleichbehandlung, in der gesellschaftlichen Praxis jedoch finden sich weiterhin Bestrebungen der Ab- und Ausgrenzung (Bachmann 2013). Besonders ältere Schwule waren in ihrem Leben in besonderem Maße der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt. Diese Bedrohung aufgrund der sexuellen Identität ist Bestandteil der kollektiven Geschichte von schwulen Männern und kann als verinnerlichte Angst bei allen sich zu dieser Gruppe zählenden Menschen angenommen werden. Berichte über homonegative Ereignisse oder Entwicklungen, wie beispielsweise Gewalt gegen Schwule oder die Einführung bzw. Beibehaltung der Todesstrafe für gleichgeschlechtliche Handlungen in einigen arabischen und afrikanischen Ländern, können diese Ängste mobilisieren. In der Begleitung und Betreuung schwuler Männer mit Pflegebedarf stehen die Herstellung eines stigmatisierungsfreien Lebensumfeldes und die Zusicherung der Durchsetzung des Rechtes auf Nicht-Diskriminierung an zentraler Stelle (Gerlach 2019). Dies ermöglicht es den Betroffenen, selbst zu steuern, welche Form der Öffentlichkeit oder Privatheit in welcher Situation herrschen soll. Zentrale Kompetenz im Umgang mit anders liebenden Menschen ist die möglichst vorbehaltslose und offene Begegnung, das Ausdrücken von Willkommen-Sein sowie das ehrliche Interesse am Gegenüber.

Schwul und Alter(n)

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Identität wird zu einem Teil immer über die Aspekte von Zugehörigkeit und Abgrenzung hergestellt. Bei der Beantwortung der Frage nach dem »Wer bin ich?« wird immer nach Ähnlichkeit und Unterschied gesucht. Dabei findet eine Identifikation in der Regel mit dem Ähnlichen, Vertrauten, eine Abgrenzung zu dem fremden Anderen statt. Soziale Berufe stehen vor der Herausforderung, den Vorgang der eigenen Identitäts(re)konstruktion bewusst kontrollieren zu können, wenn sie ausdrücklich mit Menschen arbeiten, die anderen gesellschaftlichen Gruppen und Kulturen angehören. Hier gilt es in besonderem Maße, das Andere, Fremde willkommen zu heißen, sich diesem auszusetzen, sich befremden zu lassen, um diesen Menschen Selbstverwirklichung, Autonomie und positiven Identitätserhalt zu ermöglichen. Ziel der Bearbeitung der folgenden Aufgabe ist, dass sich die Lernenden ihrer eigenen Berührungsängste, Vorannahmen und Bewertungen bewusst werden, offensiv in den Kontaktaufbau zu einem ihnen fremden Menschen gehen und etwas über ihn und sein Leben erfahren. Wenn das Setting und die Lernenden es zulassen, kann die Aufgabe explizit zur Kontaktaufnahme zu einem Schwulen gestellt werden. Ist dies aufgrund der Rahmenbedingungen nicht möglich, kann der Arbeitsauftrag abgeändert werden: Kontaktaufnahme zu einem ihnen möglichst fremden Menschen.

/ Pflege schwuler Männer muss einen Identitätserhalt ermöglichen

Fallbeispiel12 Egon K. hat lange gebraucht, bis er der Welt sagen konnte: »Ja, ich bin schwul. Dann kam er ins Pflegeheim – und braucht diesen Mut dort wieder« (Hartwig 2015, S. 35). Egon K. ist als Schwuler in den 1940er-Jahren in einer Kleinstadt aufgewachsen. Als er einmal verprügelt und als schwule Sau beschimpft worden war, fühlte er sich selbst schuld daran, weil er homosexuell war. Seine Eltern wollten dies nicht wahrnehmen, und als er es seiner Mutter in einem Streit offenbarte, sagte diese: »Wieso tust Du uns das an?« Sein ganzes Leben hatte Egon K., der seine Homosexualität als Makel bezeichnet, Angst, dass jemand sein Schwulsein bemerkt, und er erneut beschimpft, ausgegrenzt oder sogar angegriffen wird. Auch, wenn er in der zweiten Lebenshälfte ein spätes Coming-out hatte und dann viel in der schwulen Szene unterwegs war, fällt ihm diese Offenheit in seinem neuen Zuhause, dem Pflegeheim schwer. Wer weiß, was die anderen Mitbewohner*innen dann über ihn denken und 12 Das Fallbeispiel ist bereits unter dem Titel »Alte Geheimnisse« im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschienen (Hartwig 2015, S. 39), siehe https://sz-magazin.sueddeutsche.de/liebeand-partnerschaft/er-sagte-es-ohne-hemmungen-82082 (Zugriff am 03.02.2020).

/ Fallbeispiel Egon: »Und nun tue ich manchmal wieder so, als wäre es schlimm, sodass ich es nicht erzählen kann hier dem Nachbarn.«

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sagen? Und wer weiß, ob nicht ein*e Mitbewohner*in früheren Zeiten an der Verfolgung und Inhaftierung von Schwulen beteiligt gewesen war? Egon trifft für sich die Entscheidung, sein Schwulsein nicht offen, sondern eher im Verborgenen zu leben, obwohl er es im Pflegeheim eigentlich anders tun könnte.

Fragen (A) Welche Lebensereignisse haben Egon K. in welcher Art und Weise nachhaltig geprägt? (B) Wie geht Egon K. mit seiner sexuellen Identität um? (C) Was hat sich für Egon K. durch den Einzug in eine Pflegeeinrichtung verändert? Hintergründe zur pflegerischen Begleitung schwuler Männer / subjektorientierte Pflege ermöglicht individuelle Lebens­entwürfe

Egon hat eine gebrochene Entwicklungsgeschichte seiner sexuellen Identität. In der Familie galt Homosexualität als eine Schande und war mit dem Wissen um die Strafverfolgung gleichgeschlechtlich liebender Männer im NaziDeutschland verknüpft. Er selbst erlebt, dass er aufgrund der Vermutung, er sei schwul, zusammengeschlagen worden ist und zieht für sich den Schluss daraus, daran selbst schuld gewesen zu sein. Die Wahrnehmung, sich zu einem Teil verstecken zu müssen, betäubt Egon mit Alkohol. Erst im fortgeschrittenen Alter und im Kontext einer Psychotherapie bekennt sich Egon offen zu seinem Schwulsein. Im Anschluss daran entwickelt er eine Lebensstrategie, die seine sexuelle Orientierung in der Öffentlichkeit nicht zur Schau stellt. Er lebt diese in Clubs und privaten Räumen. Mit dem Auftreten von Pflegebedarf und damit der Abhängigkeit von fremden Menschen steht Egon vor seinem zweiten Coming-out. Er entscheidet sich erneut zu einem Zwiespalt. Ausgewählten Personen gegenüber äußert er sich zu seiner sexuellen Identität. Gegenüber den meisten Mitbewohner*innen verschweigt er diese aber zunächst aufgrund von Ängsten vor Stigmatisierung und Diskriminierung. Gleichzeitig verspürt er jedoch ein großes Bedürfnis unter Gleichgesinnten zu sein und so seine Identität zu erhalten. Pflegerische Begleitung steht hier vor der Herausforderung, Freiräume für jede*n einzelne*n Bewohner*in zu eröffnen, in denen diese frei entscheiden können, wie sie mit ihrer sexuellen Identität umgehen möchten. Diese Freiräume müssen stigmatisierungsfrei verfügbar sein. Das heißt, ein schwuler Mann muss sich nicht erst outen müssen, um zu erfahren, dass Schwulsein in dieser Einrichtung willkommen

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ist und er vor Diskriminierung geschützt wird. Diese Kommunikation ist sehr sensibel zu führen und bedarf einer hohen Selbstreflexivität, um Stigmatisierung zu vermeiden. Schlussfolgerungen Sexuelle Identität ist ein mit anderen gleichberechtigter Aspekt der Identität eines Menschen, der in pflegerischen Kontexten häufig ausgeblendet wird. Damit schwule Männer identitätserhaltend mit pflegerischer Unterstützung leben können, muss sich diese an der Einzigartigkeit des Menschen ausrichten. Dies kann gelingen, wenn Pflegeinrichtungen stigmatisierungs- und diskriminierungsfreie Lebensräume sicherstellen und dies nach außen sichtbar machen. In der Pflegebeziehung braucht es ernsthaftes Interesse am Gegenüber und die Wahrnehmbarkeit uneingeschränkter Akzeptanz individueller Lebensentwürfe.

/ Pflegende brauchen Diversitätskompetenz

Literatur Bachmann, A. (2013): Lebenssituationen und Diskriminierungserfahrungen schwuler und 8 Weitere bisexueller Männer, https://www.berlin.de/sen/lads/_assets/schwerpunkte/lsbti/materialien/ Lernmaterialien finden Sie im schriftenreihe/g-32-studie-sb-diskr-bachmann_bf.pdf (Zugriff am 08.05.2019). DownloadDalia Reasearch (2016): Counting the LGBT Population. https://daliaresearch.com/counting- bereich zu the-lgbt-population-6-of-europeans-identify-as-lgbt/ (Zugriff am 14.06.2019). ­diesem Buch Darmann-Finck, I. (2006): Professionelle PatientInnenversorgung durch Biografieorientierung. ipp info 2 (3), 1–2. Gerlach, H. (2019): Pflege homosexueller Menschen – Es besteht das Bedürfnis nach Sicherheit, Schutz und Diskriminierungsfreiheit. Die Schwester/Der Pfleger, 58 (8), 4–7. Gerlach, H./Schupp, M. (2018): Bewusstheitskontexte und Identitätskonstruktionen homosexueller Frauen und Männer im Setting der Altenpflege. Pflege & Gesellschaft. Zeitschrift für Pflegewissenschaft. Schwerpunktheft Gleichgeschlechtliches Leben und Pflege im Alter, 23 (3),197–211. Hartwig, S. (2015): Alte Geheimnisse. Süddeutsche Zeitung Magazin, 52, 39–44. Hoffschildt, R. (2002): 140.000 Verurteilungen nach »§ 175«, In: Invertito, 4: Denunziert, verfolgt, ermordet. Homosexuelle Männer und Frauen in der NS-Zeit (S. 140–149). Hamburg. McCormack, B./McCance, T. (2016): Person-Centred Practice in Nursing and Health Care: Theory and Practice (2. Aufl.). Chichester. Schäffter, O. (Hg.) (1991): Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung (S. 11–42). Opladen.

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Klaus Müller

Weiterführende Literatur Almack, K./Crossland, J. (2018): Erfahrungen von LSBT*-Patient_innen am Ende ihres Lebens. Die Situation Sterbender in England und Erkenntnisse der Studie »The Last Outing«. Pflege & Gesellschaft. Zeitschrift für Pflegewissenschaft, Schwerpunktheft Gleichgeschlechtliches Leben und Pflege im Alter, 23 (3), 245–261. Bundeszentrale für politische Bildung (2018): Homophobie: Abwertung von lesbischen, schwulen und bisexuellen Personen. http://www.bpb.de/gesellschaft/gender/homosexualitaet/265197/ homophobie (Zugriff am: 14.06.2019). Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz e. V. (Hg) (2018): Pflege unterm Regenbogen. Über den Umgang mit homosexuellen, bisexuellen, transidenten und intersexuellen Menschen in der Kranken- und Altenpflege. Lottmann, R./Kollak, I. (2018): Eine diversitätssensible Pflege für schwule und lesbische Pflegebedürftige. Ergebnisse des Forschungsprojekts GLESA. International Journal of Health Professions 5 (1), 53–63. Schmauch, U./Braukmann, S./Göttert, M./Habert, U./Schüller, E./Knijff, C. (2007): Lesbische Frauen im Alter. Ihre Lebenssituation und ihre spezifischen Bedürfnisse für ein altengerechtes Leben, Ergebnisse einer empirischen Untersuchung und Empfehlungen für die Praxis. Frankfurt am Main. Stummer, G. (2014): Kultursensible Pflege für Lesben und Schwule. Informationen für die professionelle Altenpflege. RUBICON e. V. (Hg). Köln.



3.3 Bisexuell und Alter(n) Rebecca L. Jones und Ralf Lottmann

Hintergrund Was ist Bisexualität? Dieser Artikel definiert Bisexualität als romantische oder sexuelle Attraktion zu einem oder mehreren Geschlechtern – wobei Geschlecht als Gender verstanden wird, dem sozialen Geschlecht (siehe Beitrag Kiegelmann i. d. B.). Diese Definition unterscheidet sich von der eher althergebrachten Definition der »Attraktion für beide Geschlechter«, weil sie kein binäres Verständnis von Geschlecht zugrunde legt. Sie bezieht solche Menschen mit ein, die sich bisexuell definieren, solche, die sich bisexuell verhalten, aber nicht als solches definieren sowie Menschen, die sich nicht nur von einem Geschlecht angezogen fühlen, aber sich nicht als bisexuell identifizieren oder sich nicht so verhalten (Jones 2016). Viele Aspekte des Alterns betreffen bisexuelle Menschen so wie alle anderen alternden Menschen: Anpassung an körperliche Veränderungen, Veränderungen des Lebensstils durch den Renteneintritt, durch den Lebensstil, das Einkommen, die Familiensituation, altersbedingte Erkrankungen und Einschränkungen und in vielen Teilen der Welt auch eine Anpassung an die strukturelle Abwertung des Alter(n)s. Andere Aspekte, die bisexuelle Menschen im Alter betreffen, haben sie mit LSBTIQ*-Menschen gemeinsam, wie z. B. die Erwartung, dass alle älteren Menschen heterosexuell und cisgender sind (womit gemeint ist, dass sich ein Mensch mit dem Geschlecht, welches bei der Geburt zugewiesen wurde, identifiziert). Dazu gehört auch der Minoritätenstress (Meyer 2007), über Aspekte des Lebens und der Erfahrungen zu schweigen, wie gleichgeschlechtliche Partner*innen oder eine relativ große Anzahl ehemaliger Partner*innen zu haben in einer Kultur oder Gesellschaft, in der langlebige Paarbeziehungen die Norm sind. Themen, die bereits früher im Leben auftreten, betreffen bisexuelle Menschen auch in der Lebensphase Alter, wie die Unsichtbarkeit der Bisexualität als eine eigenständige sexuelle Identität und die Konfrontation mit Biphobie

/ Definition von Bisexualität

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/ Unterscheiden zwischen ­Identifikation, Verhalten und Anziehung

/ Bisexuelle fühlen sich in LSBTIQ*-Gruppen oft nicht willkommen

/ Sexuelle Identität bleibt relativ konstant im Alter

Rebecca L. Jones und Ralf Lottmann

(Diskriminierung und Vorurteile gegenüber bisexuellen Menschen). Bislang wurden nur sehr wenige Untersuchungen zu Anliegen älterer und hochaltriger bisexueller Menschen durchgeführt. Nach einem kurzen Überblick über die Vielfältigkeit von Bisexualität in verschiedenen Altersphasen stellt dieser Beitrag eine Diskussion über die Aspekte der Bisexualität und die Stabilität der bisexuellen Identität im späteren Leben dar. Weiterhin wird die Situation älterer bisexueller Menschen in der Forschungsliteratur betrachtet, insbesondere in Bezug auf diejenigen, die sich nicht nur als bisexuell, sondern die sich zu einer ethnischen Minderheit zugehörig fühlen. Fragen im Zusammenhang mit dem Coming-out als bisexuell im Alter werden aufgegriffen, gefolgt von einer Betrachtung der Rolle von generationalen und historischen Kohorten bei der Herausbildung und Ausdrucksweise bisexueller Identitäten. Wie zuvor erwähnt, ist uns wichtig, zwischen bisexueller Identifikation, Verhalten und Anziehung zu unterscheiden. Menschen, die sich als bisexuell identifizieren, bilden eine viel kleinere Gruppe als diejenigen, die sexuelle und romantische Beziehungen zu Menschen mit mehr als einem Geschlecht haben oder sich von mehr als nur einem Geschlecht angezogen fühlen. Dieses Verhaltensmuster von bisexuellen Menschen setzt sich auch im späteren Leben fort, wobei auch dann noch relativ wenige ältere LSBTIQ*-Personen sich selbst als bisexuell identifizieren. Ältere Menschen, die sich wiederum selbst als bisexuell identifizieren, haben eher einen Zugang zu Angeboten und Gruppen, die sich an ältere LSBTIQ*-Menschen richten, als solche, die sich als heterosexuell identifizieren, sich aber bisexuell verhalten. Allerdings werden allgemeine LSBTIQ*-Angebote und -Gruppen aufgrund von Biphobie innerhalb von LSBTIQ*-Gemeinschaften oft als nicht einladend oder integrativ empfunden (Jones 2016, S. 3). Diese Erfahrungen können die Bereitschaft älterer Bisexueller, LSBTIQ*-Angebote und -Gruppen zu nutzen, beeinträchtigen. Ältere bisexuelle Menschen sind mitunter in der Lage, diese Angebote in Anspruch zu nehmen, jedoch oft um den Preis, dass sie ihr bisexuelles Verhalten oder ihr Begehren verschweigen. Sexuelle Identität, Verhalten und Begehren werden allgemein als weniger bedeutsam angesehen, wenn Menschen älter werden. Die Menschen nehmen an, dass ältere Menschen generell ein geringeres sexuelles Begehren haben als Jüngere, doch ist dies insbesondere für viele Senior*innen in guter gesundheitlicher Verfassung und solche mit Partner*innen nicht der Fall (Hinchliff/ Gott 2016). Sexuelle Identität bleibt für Menschen auch dann wichtig, wenn sie nicht mehr sexuell aktiv sind (AgeUK 2017, S. 14; Bochow 2005). Eine Studie (Weinberg et al. 2001) zu einer Gruppe bisexueller Menschen im mittleren Erwachsenenalter (35–67 Jahre, Durchschnittsalter 50 Jahre), die in den 1980er- und 1990er-Jahren in San Francisco lebten, ergab, dass

Bisexuell und Alter(n)

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die Wahrscheinlichkeit, dass die Teilnehmenden mit Menschen mit mehr als einem Geschlecht Sex hatten, in ihrer Jugend geringer war als im höheren Alter. Jedoch berichteten viele Teilnehmenden dieser Studie, dass ihre bisexuelle Identität konstant geblieben und stabiler war als in ihrer Jugend. Empirische Studien zu LSBTIQ*-Senior*innen umfassen in der Regel nur sehr wenige bisexuelle Befragte und analysieren die Daten meist nur nach Geschlecht und weniger in Hinsicht auf das sexuelle Begehren. So werden »schwule und bisexuelle Männer« und »lesbische und bisexuelle Frauen« oftmals zusammengefasst. Diese empirische Vorgehensweise verhindert spezifische Erkenntnisse darüber, was an bisexuellen Erfahrungen des Alterns, wenn überhaupt, charakteristisch ist. Wir wissen daher nur sehr wenig über die Erfahrungen von Menschen, die sich zwar bisexuell verhalten, sich aber nicht als solche identifizieren sowie über solche Bisexuelle, die älter und hochaltrig sind. Nachfolgend wollen wir aber die bestehende Forschung zu diesem Themenbereich darstellen und für die Lernaufgaben nutzen. Herausforderungen Das verschwindende »B« in LSBTIQ*: Heutzutage verwenden die meisten Organisationen, Kampagnen und Publikationen, die sich mit nicht-heterosexuellen Menschen befassen, das Akronym »LSBTIQ« (lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, inter* und queer). Die Verwendung dieser Abkürzung scheint auf ein Bewusstsein hinzudeuten, dass nicht-heterosexuelle Menschen nicht nur lesbisch oder schwul sind, sondern auch bisexuell, trans*, inter* und queer. Allerdings verschwinden in der Praxis oft das B sowie das T, I und Q in LSBTIQ*, sodass der Fokus oft immer noch auf lesbischen und schwulen Menschen liegt (Angelides 2001; siehe auch Hunt/Dick 2008; Hunt/Fish 2008). Fritz Klein hat zu Bisexualität geforscht und unterscheidet zwischen Gefühlen und Begehren (Klein 1993) sowie zwischen vergangenen, gegenwärtigen und idealen Aspekten. Um die Komplexität des bisexuellen Lebens und die Selbstidentifikation der Person zu visualisieren, identifizierte er vier verschiedene Typen von bisexuellen Menschen (Klein 1993). Diese stehen im Zusammenhang mit dem Lebenslauf und dem Prozess des Alterns. Ȥ Übergangs-Bisexuelle – die von einer heterosexuellen Identität zu einer lesbischen oder schwulen Identität wechseln oder – seltener – von einer lesbischen oder schwulen Identität zu einer heterosexuellen; Ȥ Historisch/geschichtliche Bisexuelle – die heute entweder homosexuell oder heterosexuell sind, deren Vergangenheit aber auch bisexuelle Beziehungen umfasst;

/ Vier Typen von bisexuellen ­Menschen

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Rebecca L. Jones und Ralf Lottmann

Ȥ Sequenzielle Bisexuelle – die zu unterschiedlichen Zeiten in ihrem Lebenszyklus Partner*innen unterschiedlichen Geschlechts hatten; Ȥ Gleichzeitige/gleichlaufende Bisexuelle – die im gleichen Zeitraum sowohl mit Männern als auch mit Frauen sexuell aktiv sind. Diese Typologie macht deutlich, dass sich die sexuellen Identitäten der Menschen im Laufe ihres Lebens verändern können. Das bedeutet, dass eine Momentaufnahme zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben eines Menschen – aus einer Lebensverlaufsperspektive gesehen – möglicherweise nicht der entsprechenden Identität(-skategorie) entspricht. Darüber hinaus veranschaulicht Abbildung 1 von Klein (1993, angepasst nach Jones 2010) die Unterscheidung zwischen bisexuellen Gefühlen/Begehren, Verhaltensweisen und Identitäten. Bisexuelle(s) Gefühle/Begehren

Bi-Verhalten

Bi-Identität

Abbildung 1: Bisexuelle(s) Gefühle/Begehren, Verhalten und Identitäten (Klein 1993, angepasst nach Jones 2010)

Die Abbildung veranschaulicht, was in beständiger Weise in Studien festgestellt worden ist: dass sich wesentlich mehr Menschen von Menschen verschiedenen/mehreren Geschlechts angezogen fühlen, als dass sie sich bisexuell verhalten. Des Weiteren verhalten sich mehr Menschen bisexuell, als dass sie sich bisexuell identifizieren (Rodriguez-Rust 2000). Fallbeispiel/Fallstudie / Bisexuelle ­Senior*in Muriel als Fallbeispiel

Die folgende britische Fallstudie untersucht einige der Gründe, warum sich jemand nicht (immer) als bisexuell bezeichnen könnte, obwohl diese Person Beziehungen zu mehr als einem Geschlecht hatte (für weitere Fallstudien über Bisexualität in Gesundheits- und Sozialeinrichtungen über den gesamten Lebensverlauf, siehe Jones 2010).

Bisexuell und Alter(n)

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Fallbeispiel Muriel T. ist 78 Jahre alt. Als sie ein Mädchen war, war sie oft und intensiv in ältere Mädchen verliebt. Aber mit 18 traf sie ihren zukünftigen Ehemann und verliebte sich schnell in ihn. Sie heirateten und bekamen drei Kinder. Als Muriel Anfang 30 war, ließ sich ihr Mann von ihr scheiden. Als sie Ende 30 war, schloss sich Muriel T. einer Frauen-Selbsthilfegruppe/ Organisation an. Dort kam sie in Kontakt mit der lesbischen Liebe und traf Pat K., die sich bereits als Lesbe identifizierte. Muriel T. fühlte sich stark zu ihr hingezogen und schon bald hatten sie eine Beziehung begonnen. Nachdem Muriels T.’s Kinder ihr Zuhause verlassen hatten, lebten sie mehrere Jahre zusammen und wurden ein vertrautes Paar in der lokalen Lesbenszene. Pat K. entwickelte Brustkrebs und starb nach vielen schweren Monaten der Krankheit. Muriel T. erhielt viel Unterstützung von ihrem Kreis lesbischer Freunde und einer lokalen Selbsthilfegruppe für hinterbliebene Lesben und Schwule. Einige Monate später verliebte sie sich zu ihrem Erstaunen in einen Mann namens Colin M. Ihre Freunde waren sehr missbilligend und kritisch gegenüber ihrer neuen Beziehung und brachen allmählich den Kontakt zu ihr ab. Die neue Beziehung florierte, obwohl Muriel T. erkannte, dass sie sich auch weiterhin zu Frauen hingezogen fühlte und ihren alten Freundeskreis vermisste, zumal sie immer noch um Pat trauerte. Sie fühlte sich nicht mehr in der Lage, die Selbsthilfegruppe zu nutzen, weil sie nicht mehr als Lesbe zu gelten schien. Mitte der 1980er-Jahre beschäftigte sich Muriel T. mit dem Thema »Bisexualität« und bezeichnete sich selbst als bisexuell. Nach einigen Jahren endete die Beziehung zu Colin M. freundschaftlich und sie traf eine andere Frau mit dem Namen Joan V. und betrachtete sich fortan wieder lesbisch, weil es auch Joan V’s Identität war. Sie ging davon aus, dass dies die letzte Beziehung ihres Lebens sein würde. Doch Joan V. verstarb und Muriel T. hatte nun selbst diverse starke gesundheitliche Probleme. Sie nahm häusliche Pflege in Anspruch. Muriel T. versteht sich gut mit einer ihrer regulären Betreuerinnen, die sie nach den Fotos fragte, die sie im Haus ihrer ehemaligen Partner*innen hatte. Muriel T. antwortet ehrlich, ist aber entsetzt als sie später erfuhr, dass ihre Betreuerin unter ihren Kolleg*innen böswilligen Klatsch über ihre Vergangenheit verbreitet hat und behauptete, dass Muriel T. sexuell lüstern und promisk gewesen sei.

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Rebecca L. Jones und Ralf Lottmann

Fragen Lesen Sie das Fallbeispiel und denken Sie anschließend über diese Fragen nach. Es kann hilfreich sein, diese mit einer*m Kolleg*in zu besprechen. (A Wenn Sie eine Pflegefachkraft wären, die Muriel T. jetzt trifft, halten Sie es für richtig, sie als bisexuell zu bezeichnen? (B) Was könnte der von ihr eingesetzte ambulante Pflegedienst tun, um ein besseres Ergebnis bzw. eine gute Pflegequalität für und Beziehungen zu bisexuelle*n Senior*innen zu erzielen? (C) Haben Sie jemals jemanden wie Muriel T. getroffen? Gibt es Möglichkeiten, wie Sie helfen könnten, das Verhältnis zwischen einem ambulanten Pflegedienst und seiner Kundin zu verbessern, auch wenn Sie das nächste Mal jemanden in so einer Situation treffen? Schlussfolgerungen / Komplexe Lebensverläufe von Bisexuellen erfordern gute Biografiearbeit in der Altenhilfe

Die Studien und auch das Fallbeispiel verdeutlichen, wie vielfältig Bisexualität von den Menschen erlebt wird. Kann ihr Verhalten je nach Kontext und Situation mal als hetero-, mal als homo- oder als bisexuell verstanden werden, ist nicht nur ein vorschnelles Etikett oftmals falsch, es macht ein genaueres Hinschauen und eine gute Biografiearbeit in der Altenhilfe nötig. Das gilt beispielsweise für die Angehörigenarbeit, die sich – wie bei Muriel – komplexer darstellt, wenn Kontaktpersonen im Falle einer Notfallsituation oder Unterstützung für die soziale Teilhabe im Alter oder in der Pflege erforderlich werden. Bisexuelle Senior*innen blicken meist auf ein Leben zurück, das hinsichtlich ihres individuellen bisexuellen Begehrens und aufgrund ihrer Partner*innen und Lebenspartner*innen unterschiedlichen Geschlechts, eine komplexe soziale Netzwerkstruktur aufweist. Hier können Dokumente wie Aufnahmebögen oder soziale Aktivitäten helfen, wenn diese auch Lebensverläufe von Bisexuellen (wie auch immer sie sich bezeichnen) berücksichtigen und Bisexuelle z. B. nicht in homo- oder heterosexuelle Kategorien und Normen zwingen. Auch Pflegepersonal, das sich als bisexuell identifiziert, kann in Altenhilfeeinrichtungen eine wertvolle Ressource darstellen, da sie über ein hohes Bewusstsein über Bisexualität verfügen und Kompetenzen im Betrieb einbringen können (siehe auch Kenel et al. 2018). Ein verbessertes Verständnis des Personals in der Altenhilfe gegenüber bisexuellem Begehren oder Verhalten kann durch Schulungen und Weiterbildung ermöglicht werden (siehe Dobinson et al. 2005). Das gilt insbesondere für den Umgang mit Begrifflich-

Bisexuell und Alter(n)

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keiten, das Erkennen und den Umgang mit der sexuellen Identität über den gesamten Lebensverlauf. Literatur AgeUK (2017): Safe to be me. Meeting the needs of older lesbian, gay, bisexual and transgen- 8 Weitere der people using health and social care services. A resource pack for professionals. https:// Lernmaterialien www.ageuk.org.uk/globalassets/age-uk/documents/booklets/safe_to_be_me.pdf (Zugriff finden Sie im Downloadam 15.10.2019). bereich zu Angelides, S. (2001): A history of bisexuality, Chicago. ­diesem Buch Bochow, M. (2005): Ich bin doch schwul und will das immer bleiben. Schwule Männer im dritten Lebensalter. Hamburg. Dobinson, C./MacDonnell, J./Hampson, E./Clipsham, J./Chow, K. (2005): Improving the access and quality of public health services for bisexuals. Journal of Bisexuality, 5 (1), 41–78. Hinchliff, S. & Gott, M. (2016): Ageing and sexuality in Western societies: Changing perspectives on sexual activity, sexual expression, and the sexy older body. In: E. Peel/R. Harding (Hg.), Ageing and sexualities: Inter-disciplinary perspectives. Ashgate. Hunt, R./Dick, S. (2008): »Serves you right: Lesbian and gay people’s expectations of discrimination«. London. Hunt, R./Fish, J. (2008): Prescription for change: Lesbian and bisexual women’s health check 2008. London. Jones, R. L. (2010): Troubles with bisexuality in health and social care. In: R. Jones/R. Ward (Hg.): LGBT Issues: Looking beyond Categories. Policy and Practice in Health and Social Care (10) (S. 42–55). Edinburgh. Jones, R. L. (2012): Imagining the unimaginable: Bisexual roadmaps for ageing. In: R. Ward/ I. Rivers/M. Sutherland (Hg.): Lesbian, gay, bisexual and transgender ageing: Biographical approaches for inclusive care and support (S. 21–38). London. Jones, R. L. (2016): Aging and Bisexuality. In: A. E. Goldberg (Hg.): The SAGE Encyclopedia of LGBTQ Studies (S. 57–61.) Thousand Oaks. Kenel, P./Gather, C./Lottmann, R. (2018): »Das war noch nie Thema hier, noch nie!« Sexuelle Vielfalt in der Altenpflege – Perspektiven für ein Diversity Management. Pflege & Gesellschaft, 23(3), 211–227. Klein, F. (1993): The Bisexual Option. New York. Meyer, I. H. (2007): Prejudice and Discrimination as Social Stressors. In: I. H. Meyer/M. E. Northridge (Hg.): The Health of Sexual Minorities. Public Health Perspectives on Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Populations (S. 242–267). New York. Petford, B. (2003): Power in the darkness: Some thoughts on the marginalisation of bisexuality in psychological literature. Lesbian and Gay Psychology Review, 4 (2), 5–13. Rodriguez-Rust, P. C. (Hg.) (2000): Bisexuality in the United States: A social science reader. New York. Weinberg, M. S./Williams, C. J./Pryor, D. W. (2001): Bisexuals at midlife: Commitment, salience and identity. Journal of Contemporary Ethnography, 30 (2), 180–208.

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Rebecca L. Jones und Ralf Lottmann

Weiterführende Literatur Barker, M./Richards, C./Jones, R./Bowes-Catton, H./Plowman, T./Yockney, J./Morgan, M. (2012): The bisexuality report: Bisexual inclusion in LGBT equality and diversity. Milton Keynes, England: Open University, Center for Citizenship, Identity and Governance/Health and Social Care. Ochs, R. (2007): ›What’s in a name? Why women embrace or resist bisexual identity‹. In: B. A. Firestein (Hg.) (2007), Becoming visible: Counseling bisexuals across the lifespan, New York. Bochow, M./Sekuler T. (2016): Bisexuell aktive Männer: Schutz und Risikoverhalten vor dem Hintergrund von HIV/Aids. Ein Bericht im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Köln u. a.

3.4 Trans* und Alter(n) Arn Sauer

Mit Geschlechtsidentität wird das Zugehörigkeitsgefühl zu einem Geschlecht beschrieben. Geschlechtsidentität, -ausdruck und das bei Geburt zugewiesene Geschlecht können auseinanderfallen oder sich scheinbar widersprechen. Daher sind auch in der Pflege und Sozialen Arbeit neue Sichtweisen auf Geschlecht erforderlich. Alle Fachpersonen in der (Alten-)Pflege oder in der Altenhilfe sollten sich für eine Vielfalt von Geschlecht, Geschlechtsidentität und Geschlechtsausdruck öffnen und mit den daraus resultierenden Themen vertraut machen. Hintergrund Der Begriff »trans*« umfasst verschiedene geschlechtliche Selbstidentifi­ ka­­tionen, wie z. B. transgeschlechtlich, transsexuell, transident, transgender, weder noch, nicht-binär, zwischengeschlechtlich, a-gender oder nichtgeschlechtlich. Diesen Begriffen liegen teils unterschiedliche Lebenslagen und Bedürfnisse zugrunde. Besonders wichtig sind Kenntnisse in Bezug auf Trans*-Männer (Frau-zu-Mann Transsexuelle, Trans*-Männlichkeiten etc.), Trans*-Frauen (Mann-zu-Frau Transsexuelle, Trans*-Weiblichkeiten etc.) und geschlechtlich nicht-binäre Menschen. Wie überall ist es zudem notwendig, zu berücksichtigen, dass Trans*-Personen in verschiedenen Bereichen auch privilegiert sein können, und dass sie aufgrund unterschiedlicher Merkmale (z. B. aufgrund von Hautfarbe, Bildung, Migration) Diskriminierung erfahren können (= Mehrfachdiskriminierung; siehe Beitrag Castro Varela i. d. B.). Der Blick auf Trans*-Menschen ist häufig noch durch eine klinisch-medizinische Sicht geprägt. Das bedeutet, dass Trans* als Abweichung von einer Norm konstruiert wird, weil fälschlicherweise daran festgehalten wird, dass es nur zwei, vollkommen unterscheidbare Geschlechter gäbe (= Zweigeschlechtlichkeit). Ein weiteres Problem liegt darin, dass es viele verschiedene (Selbst-)

/ Trans* ist ein Sammelbegriff

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/ Anhaltspunkte zu Trans* und Alter in Deutschland

/ Probleme von Trans*-­ Menschen im Alter

Arn Sauer

Definitionen gibt, die sich zudem unterscheiden und verändern können (Sauer 2015). Dadurch entstehen Unschärfen in empirischen Studien. Schließlich gibt es bislang nur wenige Forschungen zu den Bereichen, die für die Pflege und Soziale Arbeit handlungsrelevant sind. In Deutschland wurden mit Inkrafttreten des sogenannten Transsexuellengesetzes (Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen – TSG) zum 1.1.1981 Trans*-Menschen v. a. unter den Bezeichnungen »transsexuell« oder »transident« gefasst (Lauwert 2018, S. 3). Menschen, die in den 1980ern rechtliche und ggf. sogar noch früher medizinische Schritte der Geschlechtsangleichung vorgenommen haben, sind mittlerweile 60 Jahre oder älter und ziehen als erste Generation Transsexueller/Transidenter nun in Pflegeeinrichtungen und Altenwohnheime. Erste Erhebungen zum Transitionsalter in Bezug auf die rechtliche (Adamietz/Bager 2017, S. 175 ff.), soziale (Schaaf im Druck) und/oder medizinische Geschlechtsangleichung (Naß 2016) zeigen, dass eher junge Menschen (v. a. Trans*-Männer) und Menschen im mittleren Lebensalter (v. a. Trans*Frauen) transitionieren (Schaaf im Druck). Trans* ist also ein Generationenthema von steigender Bedeutung. Eine Erhebung zu geschlechtlicher Vielfalt (Hoenes/Sauer/Fütty 2019) unterstreicht die Unterrepräsentanz von Senior*innen über 60 Jahre (nur 28 von 1544 Befragten). Es zeigt sich, dass die Meisten im großstädtischen Umfeld wohnen und eine Bandbreite an sexuellen Orientierungen aufweisen. Viele leben in einer Beziehung und fast alle sind kinderlos. Sie verfügten über weniger Einkommen als die jüngeren Trans*-Personen der gleichen Untersuchung und viele gaben Diskriminierungserfahrungen an.13 Anglo-amerikanische Publikationen benennen Probleme älterer Trans*Menschen: Der allgemeine Gesundheitszustand, der Zugang zu Gesundheitsleistungen, zu somatischer und psychischer Versorgung, zu Arbeit, Wohnen und anderen Bereichen der Lebensgestaltung und -erhaltung sind problematisch (Auldridge/Tamar-Mattis/Kennedy/Ames/Tobin 2012). Trans*-Menschen sind stark von Behinderung und sozialer Benachteiligung betroffen (Adams 2016) und sie unterstehen häufiger Vormundschaften (Steadman 2018). Eine zusammenfassende Darstellung internationaler Studien gibt für ältere Trans*-Personen in den USA an, dass 40 % mindestens einen Suizidversuch überlebt haben, sie einem höheren Risiko einer HIV-Infektion unterliegen und 13 Auf die Angabe von Prozentzahlen wird aufgrund der geringen Fallzahl in der Stichprobe der über 60-Jährigen verzichtet. Siehe die Sonderauswertung der Rohdaten von Hoenes et al. (2019).

Trans* und Alter(n)

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dazu tendieren, aus Angst vor Diskriminierung Arztbesuche oder Gesundheitsdienstleistungen zu vermeiden (Appenroth/Lottmann 2019, S. 291 ff.). Diese Beispiele verweisen auf strukturelle Benachteiligungen, die sowohl Auslöser für gesundheitliche und soziale Problemlagen als auch deren Folge sein können. Entsprechend ist davon auszugehen, dass die Bedarfe für Unterstützung und Versorgung im Alter bei Trans*-Menschen höher sind als bei der Mehrheitsbevölkerung. Herausforderungen Die geschlechtliche Selbstbestimmung von Trans*-Menschen ist in Deutschland bei der noch aktuellen Version des TSG nicht gewahrt. Denn es sind zwei externe Gutachten bei nur zweigeschlechtlicher Identifikationsmöglichkeit (männlich/weiblich) einzuholen und die Entscheidung liegt beim Gericht. Selbstbestimmung zu erhalten, ist in Pflegeheimen unter den gegenwärtigen Bedingungen der Personalknappheit und des Fachpersonalmangels ohnehin schwierig. Bei Trans*-Personen kommen nicht-normative, d. h. nicht den zweigeschlechtlichen Normen entsprechende, Körperlichkeiten und die Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität hinzu. Trans*-Menschen können in Pflegesituationen aufgrund schlechter Erfahrungen Vorbehalte haben und/ oder versuchen, körperlichen Kontakt zu vermeiden. Dabei treffen sie – so die Ergebnisse eine Studie von Drevin (2019, S. 227 ff.) – häufig auf Personal, dem Wissen über Transgeschlechtlichkeit fehlt und das vielfach unsicher darüber ist, was angemessenes Verhalten darstellt. Es gehört zu den Aufgaben von Pflegepersonen, Trans*-Menschen die Sicherheit zu vermitteln, dass ein diskriminierungsfreier Umgang gewährleistet ist. Hierfür benötigen sie Weiterbildungen, Wissen und die Fähigkeit zur Reflexion von Geschlechtlichkeit. Es gibt inzwischen erste Informationen (Schwulenberatung Berlin 2016; LZG 2018; MÜNCHENSTIFT 2018; BISS 2019) und Gütesiegel u. a. für Pflegeund Altenheime – von unterschiedlicher Trans*-Spezifik (siehe Beitrag Lottmann i. d. B.). Interviews mit Pflegepersonen legen nahe, dass Alten- und Pflegeeinrichtungen noch einen hohen Bedarf an Weiterbildung und Kompetenzen für den Umgang mit älteren Trans*-Menschen haben (Drevin 2019; Weiß 2019). Um gegenzusteuern, wäre es ein Ansatz, die bestehenden Angebote für die Belange von Trans*-Menschen zu sensibilisieren; ein anderer Ansatz besteht darin, spezifische Angebote zu unterbreiten. Bekannt sind bisher zwei Träger aus Berlin, die betreutes Einzelwohnen und Verbundwohnen trans*-inklusiv ausgestaltet haben. Die Inklusivität von übergreifenden LSBTIQ*-Informa-

/ Selbstbestimmung von Trans*-­ Menschen ist nicht gewahrt

114

/ Trans*Menschen sind besonders von sozialer Isolation betroffen

Arn Sauer

tionen und -Angeboten hinsichtlich Trans*- und Inter*-Personen muss kritisch hinterfragt werden, weil die Belange von Trans* und Inter* meist untergeordnet bzw. nicht spezifisch behandelt werden. Es gibt im Kontext von Beratung vereinzelte Berichte, dass bspw. Trans*-Männer auch bei scheinbar inklusiven Trägern als nicht »vollwertig« schwul angesehen wurden und in gemischten Projekten Diskriminierung erfahren haben (Ablehnung des betreuten Wohnens in einer schwulen WG) oder, dass Trans*-Frauen aus Frauennotunterkünften ausgeschlossen wurden. Die tägliche Auseinandersetzung mit Mikro-Aggressionen, verbalen Anfeindungen und dem Risiko Gewalt zu erfahren, können Trans*-Menschen in Vereinsamung drängen. Mit dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben, verringertem finanziellen Spielraum und Mobilitätseinschränkungen im Alter geht oft zusätzlich soziale Isolation einher. Trans*-Menschen sind besonders vulnerabel, da sie noch weniger Einkommen zur Verfügung haben als die Durchschnittsbevölkerung, was sich auf ihre Rente auswirkt. Sie sind strukturell stärker gefährdet, Partner*innenschaften, Zugehörigkeiten zur Herkunftsfamilie und Netzwerke durch die Transition zu verlieren (Franzen/ Sauer 2010). Aus Angst vor Ablehnung fällt es Trans*-Menschen nicht selten schwer, sich in die Öffentlichkeit zu wagen – ein gesellschaftlicher Ausschlusseffekt, der mit zunehmendem Alter die Isolation verstärkt. Erst seit kurzem gibt es vereinzelte Angebote, die ältere Trans*-Menschen adressieren (siehe Beitrag Eckert/Roetz i. d. B.). Fallbeispiel Die über 60-jährige Trans*-Frau Karin K. war nach Antrag auf eine genitalangleichende Operation (GaOP) zur Genehmigung der Kostenübernahme von ihrer Krankenkasse zum Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) geschickt worden. Sie schildert die Begutachtung in eigenen Worten wie folgt: »Bei dem MDK-Termin passierte ein eklatanter Übergriff seitens des MDKGutachters. Als ich sein Büro betrat, stand er vom Schreibtisch auf, kam auf mich zu und reichte mir nicht, wie erwartet, seine Hand, sondern klopfte mir mit beiden Händen auf meine Hüften und fragte mich: ›Was haben Sie mit Ihren Hüften gemacht?‹ Ich war total irritiert, denn meine Hüften waren schon immer so, und mir war bis dato auch nicht bewusst, dass sie breiter als ›normal‹ seien. Natürlich hielt ich den Mund, erstens war ich derart verdattert und zweitens wollte ich ja das O. K. zur GaOP. Nun, das Gutachten kam und beinhaltete die Befürwortung zur OP, allerdings ohne die Anlage einer Neo-Vagina, was mit meinem ›hohen Alter‹ von damals 66 oder 67 begründet wurde.«

Trans* und Alter(n)

115

Ausschlaggebend für eine geschlechtsangleichende Operation ist lediglich, dass diese diagnostisch legitimiert (ICD-10: F64.0)14 ist und sie kein bedenkliches Gesundheitsrisiko für die betreffende Person darstellt.

Fragen (A) Bitte entwickeln Sie drei verschiedene alternative und angemessene Möglichkeiten für eine Begrüßung von Frau K. durch den Arzt. (B) Auf welche Weise reproduziert das Verhalten des Arztes Heteronormativität und das Aufrechterhalten der Zweigeschlechterordnung? Bitte begründen Sie Ihre Position. (C) Wie hätten Frau K. und der MDK im Vorfeld mit Blick auf die Begutachtungssituation unterstützt werden können? Hintergründe zur Lösung Damit Fachpersonen in der Pflege und Sozialen Arbeit professionell handeln können (Weiß 2019), benötigen sie (Trans-)Genderkompetenz, d. h. Wissen und Reflexion über Geschlecht und geschlechtliche Vielfalt.15 Nur so können sie sensibilisiert und sicher darin werden, mit Trans*-Menschen respektvoll umzugehen. Diese erweiterte Form von Genderkompetenz beinhaltet mit Identitäts- und Körperkompetenz zwei Komponenten von nicht-normativer Geschlechtlichkeit. Identitätskompetenz: Nicht (immer) sind Trans*-Menschen »out« oder auf den ersten Blick als trans* erkennbar. Vom ersten Eindruck auf die Identität einer Person zu schließen, führt häufig zu Fehlschlüssen. Es ist besser nach gewünschter Anrede und Pronomen zu fragen, um geschlechtliche Selbstbestimmung zu gewährleisten. Dabei ist es zweitrangig, welcher Name oder welches Geschlecht in den Ausweisdokumenten oder in Unterlagen festgehalten 14 Damit Krankenkassen die Kosten für eine geschlechtsangleichende Operation übernehmen, wird üblicherweise der ICD (International Classification of Diseases), der in Deutschland gültige Katalog der WHO, für die Diagnostik herangezogen; der ICD-10 ist jedoch bezogen auf Diagnosen, die für die Bewilligung geschlechtsangleichender Operationen gestellt werden, veraltet. 2022 wird der ICD-11 in Kraft treten und damit auch Veränderungen in Bezug auf die für Trans*-Menschen geltende Diagnostik mit sich bringen (hierzu kritisch Sauer/ Nieder 2019). 15 Idealerweise gehört auch Wissen und Kompetenz zu Intersexualität, Intergeschlechtlichkeit, Intersex etc. dazu, dessen Ausformulierung durch Inter*-Personen und ihre Verbände erfolgen sollte (siehe Beitrag Reuter/Brunnett i. d. B.).

/ GeschlechtsIdentitätsKompetenz

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/ GeschlechtsKörperKompetenz

Arn Sauer

sind. Allein das Selbstbestimmungsrecht der Person zählt. Die gewünschte Anrede sollte unter Beachtung des Datenschutzes und im Einvernehmen mit der Person vermerkt werden, um wiederholtes Nachfragen zu vermeiden. Es ist zudem wichtig, die gewünschten Namen und Pronomen immer zu verwenden, auch wenn sich die Trans*-Person nicht in Hörweite befindet, um den Respekt jederzeit zu wahren und einem ungewollten Outing Vorschub zu leisten. Körperkompetenz: Fachpersonen, die für Pflege verantwortlich sind, sollten alle Menschen diskriminierungsfrei versorgen können. Dazu gehört, dass sie daran denken, dass Genitalien, sekundäre Geschlechtsmerkmale und andere Körpermerkmale nicht deckungsgleich mit der (unterstellten) Geschlechtsidentität sein müssen. Pflegekräfte sollten in der Pflege primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale, die im scheinbaren Widerspruch zum Identitätsgeschlecht stehen (z. B. Mann mit Vulva, Frau mit Penis und Brüsten) oder Annahmen von Geschlecht anderweitig infrage stellen (vermeintlich uneindeutige Geschlechtsmerkmale), keine Irritationen zeigen und besonders respektvoll pflegen. Dies ist grundlegend für professionelle Pflege – daher sind Fort- und Weiterbildungen besonders wichtig. Sollte die Trans*-Person in Pflegeheimen auf die Einnahme von Hormonen angewiesen sein, so ist dies bei der Medikamentenverordnung und -gabe zu berücksichtigen. Bei weiteren Medikamentenverordnungen ist zu prüfen, ob das bei Geburt zugewiesene Geschlecht bei der Wahl der Medikamente oder ihrer Dosierung einen Unterschied machen kann (Gender Medizin). Routineuntersuchungen, Früherkennung und Diagnostik müssen neben dem Identitätsgeschlecht auch das bei Geburt zugewiesene körperliche Geschlecht (z. B. Mammographien bei Trans*-Männern oder Prostatauntersuchungen bei Trans*-Frauen) einschließen. Biografie und medizinische Interventionen sollten bekannt sein und beachtet werden. Schlussfolgerungen Die Einrichtungen der Altenhilfe sollten für Trans*-Menschen sensibilisiert sein. Idealerweise nehmen sie dies in ihr Leitbild, ihre (An-)Sprache und die Symbolik auf, sodass Trans*-Personen dies erkennen können und eine entsprechende Wahlmöglichkeit haben. Es ist erforderlich, dass relevante Themen im Curriculum der Aus-, Fort-, und Weiterbildung verankert werden und regelmäßige Schulungen der Fachpersonen stattfinden. Dafür muss die eher auf sexuelle Orientierung fokussierte »Regebogenkompetenz« (Schmauch 2016) um (Trans-)Genderkompetenz als Identitäts- und Körperkompetenzen

Trans* und Alter(n)

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in Bezug auf geschlechtliche Vielfalt erweitert werden. Denn nur, wenn sich Trans*-Personen eines diskriminierungsfreien Umgangs versichern können, erfüllt die Altenhilfe ihren gesellschaftlichen Auftrag. Literatur Adamietz, L./Bager, K. (2017): Gutachten: Regelungs- und Reformbedarf für transgeschlecht- 8 Weitere liche Menschen Begleitmaterial zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Inter- & Transsexuali- Lernmaterialien finden Sie im tät – Band 7. Berlin. DownloadAdams, M. (2016): An Intersectional Approach to Services and Care for LGBT Elders. GENER- bereich zu ATIONS. Journal of the American Society on Aging, 40 (2), 94–100. ­diesem Buch Appenroth, M. N./Lottmann, R. (2019): Empirische Befunde internationaler Untersuchungen zu trans Identitäten, Gesundheit und Alter(n). In: M. N. Appenroth/M. d. M. Castro Varela (Hg.): Trans & Care. Trans Personen zwischen Selbstsorge, Fürsorge und Versorgung (S. 287– 301). Bielefeld. Auldridge, A./Tamar-Mattism, A./Kennedy, S./Ames, E./Tobin, H. J. (2012): Improving the Lives of Transgender Older Adults. New York u. a. Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren e. V. (BISS) (2019): Diversity-Merkmale einer »guten Pflege« für lesbische Frauen, schwule Männer und Menschen mit HIV. Köln. Drevin, K. (2019): Und die andere Seite? Die Pflege und Betreuung von trans Personen aus der Pflegeperspektive. In: M. N. Appenroth/M. d. M. Castro Varela (Hg.): Trans & Care. Trans Personen zwischen Selbstsorge, Fürsorge und Versorgung (S. 271–286). Bielefeld. Franzen, J./A. Sauer, A. (2010): Benachteiligung von trans* Personen, insbesondere im Arbeitsleben. Berlin. Hoenes, J./Sauer, A./Fütty, T. J. (2019): Dritte Option beim Geschlechtseintrag für alle? Berlin. Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz e. V. (LZG) (2018): Pflege unterm Regenbogen. Mainz. Lauwert, E. (2018): Zwischen Identitätspolitiken und Aufgehen in normativer Zweigeschlechtlichkeit. GENDER, Sonderheft 3, 50–60. Meyenburg, B./Renter-Schmidt, K./Schmidt, G. (2015): Begutachtung nach dem Transsexuellengesetz. Auswertung von Gutachten dreier Sachverständiger 2005–2014. Zeitschrift für Sexualforschung, 28 (2), 107–120. MÜNCHENSTIFT GmbH (2018): Kultursensible Pflege für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender bei der MÜNCHENSTIFT. München. Naß, A. (2016): Trans*identität – Eine soziologische Betrachtung zur Wahl des Zeitpunktes der Transition. In: M. Schochow/S. Gehrmann/F. Steger (Hg.): Inter* und Trans*identitäten. Ethische, soziale und juristische Aspekte (S. 303–334). Gießen. Sauer, A. (Hg.) (2015): Gutachten: Begrifflichkeiten, Definitionen und disziplinäre Zugänge zu Trans- und Intergeschlechtlichkeiten. Berlin. Sauer, A./Nieder, T. (2019): We Care. Überlegungen zu einer bedarfsgerechten, transitionsunterstützenden Gesundheitsversorgung. In: M. N. Appenroth/M. d. M. Castro Varela (Hg.): Trans & Care. Trans Personen zwischen Selbstsorge, Fürsorge und Versorgung (S. 75–101). Bielefeld. Schaaf, S. (im Druck): »Es werden immer mehr …!«. Zur Situation transidenter/transsexueller Menschen in Deutschland: Dokumentation Ergänzungsausweis und Bestandsanalyse über den Zeitraum von 1999–2016. Mainz u. a. Schlenzka, N. (2017): Diskriminierung als Teilhabehindernis – Erkenntnisse der Studie »Diskriminierungserfahrungen in Deutschland!« In: E. Diehl (Hg.): Teilhabe für alle?! – Lebensrealitäten zwischen Diskriminierung und Partizipation (S. 258–272). Bonn.

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Arn Sauer

Schmauch, U. (2016): Auf dem Weg zur Regenbogenkompetenz. In: I. Borchardt/H. Reinhold (Hg.) (2016): Homosexualität in der Familie: Handbuch für familienbezogenes Fachpersonal (S. 37–45). Köln. Schwulenberatung Berlin gGmbH (2016): Pflege. Informationen zum diskriminierungsarmen Umgang mit lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und inter* Menschen in der Pflege. Berlin. Steadman, S. (2018): It’s Still Me: Safeguarding Vulnerable Transgender Elders. Yale Journal of Law & Feminism, 30 (2), 371–400. Weiß, I. C. (2019): Trans* in der Pflege. In: A. Naß/S. Rentzsch/J. Rödenbeck/M. Deinbeck/ M. Hartmann (Hg.): Empowerment und Selbstwirksamkeit von trans* und intergeschlechtlichen Menschen. (S. 63–79). Gießen.

Weiterführende Literatur Kolip, P./Hurrelmann, K. (Hg.) (2016): Handbuch Geschlecht und Gesundheit. Männer und Frauen im Vergleich. Bern. Sauer, A./Zodehougan, S./Kohnke, G./Klatte, L./Zepp, A. K./Fritz, V. (2016): Intersektionale Beratung von/zu Trans* und Inter*. Ratgeber zu Transgeschlechtlichkeit, Intergeschlechtlichkeit und Mehrfachdiskriminierung. Berlin.

3.5 Inter* und Alter(n) Friederike Reuter und Regina Brunnett

Hintergrund Die Idee einer zweigeschlechtlichen Gesellschaft stößt bei Intersexualität an eine Grenze. Inter*-Menschen können auf einer oder mehreren körperlichen Ebenen nicht ausschließlich dem weiblichen oder ausschließlich dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden. Der ursprünglich im medizinischen Diskurs verwandte Begriff Intersexualität (für einen Überblick Klöppel 2010) bezieht sich allgemein auf Menschen, die körperliche Merkmale aufweisen, die im Kontext des binären Zweigeschlechtersystems als nicht eindeutig und/ oder ausschließlich »weiblich« oder »männlich« gelten. Da die körperliche Dimension von Geschlecht (= sex) mehrere Ebenen umfasst, kann sich der Begriff auf die genitale, hormonelle, chromosomale, gonadale und/oder die bio-morphologische Ebene beziehen (Baltes-Löhr 2014, S. 31). Dabei ist es möglich, dass auf einer Ebene »uneindeutige« Merkmale bestehen, z. B. auf der gonadalen Ebene Hoden und Eierstöcke, oder auf zwei oder mehr Ebenen, z. B. durch die Ausbildung von üblicherweise als weiblich kategorisierten äußeren Geschlechtsorganen bei gleichzeitig vorliegendem XY-Chromosomensatz. Es gibt äußerst vielfältige biologische Formen von Intersexualität, in einer Publikation werden ca. 4.000 Variationen menschlicher Geschlechtlichkeit beziffert (Holtehus 2012 in Veith 2014, S. 153). Einige Variationen bleiben unbemerkt, andere können vorgeburtlich, in der Kindheit oder in der Pubertät bemerkt werden (Victorian Department of Health and Human Services 2018). In anderen Dimensionen des Geschlechts, wie der sexuellen Orientierung, der Geschlechtsidentität und dem Geschlechtsausdruck, gibt es keine feststehenden Übereinstimmungen zwischen Inter*Personen. Einer australischen Befragung zufolge verstehen sich einige Inter*Personen als non-binär, andere identifizierten sich mit einer männlichen oder weiblichen Geschlechtsidentität (Victorian Department of Health and Human Services 2018, S. 13).

/ Inter*Menschen passen nicht in das Zwei­ geschlechter­ system

120 / Inter* ist ein Sammelbegriff

Friederike Reuter und Regina Brunnett

Im Diskurs um Inter* sind verschiedene Begrifflichkeiten gebräuchlich: So werden die Begriffe »Intersexualität«, »Intergeschlechtlichkeit«, »Inter*«, »Inter*s« oder »Intersex*« synonym verwandt. Im Folgenden wird Inter* als Sammelbegriff für »die Vielfalt intergeschlechtlicher Lebensrealitäten, Körperlichkeiten und Selbstidentifizierungen« (Hechler 2015, S. 63) verwandt. Inter* zwischen Medizin und Menschenrechten16

/ Normanpassende Operationen im Kindesalter in der Kritik

In den 1970er-Jahren etablierte sich in euro-amerikanischen Ländern die operative geschlechtliche Normanpassung im Kindesalter als Standard. Dies stützte sich auf die von einer Gruppe um den Psychologen Money vertretene Auffassung, eine operative »Vereindeutigung« der Genitalien in Verbindung mit einer geschlechtskonformen Erziehung würde sozialer Stigmatisierung und psychischer Belastung vorbeugen und eine störungsfreie Geschlechtsidentitätsentwicklung ermöglichen (Wahl 2018, S. 124 ff.; siehe Beitrag Veith i. d. B.). Seit Anfang der 1990er-Jahre begannen Inter*-Personen diese Praxis früher normanpassender medizinischer Eingriffe zu kritisieren. Sie begannen sich damit »ihres So-Seins« (Veith 2014, S. 146) zu bemächtigen und Raum für die vorhandene Vielfalt von Identitäten zu schaffen. Die Praxis kosmetische Operationen ohne Heilcharakter an gesunden Kindern vorzunehmen, sie damit z. T. zeugungsunfähig zu machen und ihnen ohne die Möglichkeit informierter Einwilligung ein Geschlecht zuzuweisen, wird von Selbstvertretungen, Menschenrechtsorganisationen und zunehmend auch von Mediziner*innen als ungerechtfertigt und teils als Zwangsbehandlung und Menschenrechtsverletzung gewertet. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG), das Recht auf die Wahrung der geschlechtlichen und sexuellen Identität, auf Fortpflanzung und eine offene Zukunft würden dadurch verletzt (Deutscher Ethikrat 2012). Der Deutsche Ethikrat empfahl in seiner Stellungnahme (2012) u. a. den Aufschub der Operationen bis zu einer Einwilligungsfähigkeit des Kindes, gesellschaftliche Integration und eine Veränderung des Personenstandsrechts (Tillmanns 2015). Auch in der aktuellen S2k-»Leitlinie für Varianten der Geschlechtsentwicklung« (2016) wird betont, dass eventuelle Operationen möglichst auf den Zeitpunkt der Einwilligungsfähigkeit verschoben werden sollen. Es hätte sich, so wird in der Präambel festgehalten, das »Bewusstsein für die Unzulänglichkeit des Entweder/Oder von ›Zweigeschlechtlichkeit‹« 16 Die Überschrift ist der Publikation von Wahl (2018) entlehnt.

Inter* und Alter(n)

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entwickelt (Deutsche Gesellschaft für Urologie e. V./Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie/Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie e. V. 2016, S. 4). Eine Auswertung der Daten über Hauptdiagnosen aus der fallbezogenen Krankenhausstatistik des Bundes zwischen 2005 und 2016 (Hoenes/Januschke/Klöppel 2019) belegt jedoch, dass sich die Häufigkeit der Operationen im Kindesalter im Berichtszeitraum kaum verändert hat. Daraus ist zu folgern, dass bislang noch nicht von einem Paradigmenwandel in Bezug auf medizinische Eingriffe bei Inter*Menschen gesprochen werden kann. Herausforderungen In Deutschland wurden im letzten Jahrzehnt durch kritische Diskurse angestoßene Studien durchgeführt, die Lebenssituationen von Inter*Menschen in den Blick nehmen (für einen Überblick Tillmanns 2015; Schweizer/Richter-Appelt 2012b; Gregor 2015). So auch die im Zusammenhang mit der Befassung mit Inter* durch den Ethikrat durchgeführte Onlinestudie (Bora 2012), an der 199 Personen teilnahmen. Bemerkenswert ist der Befund, dass Befragte ab 37 Jahren mehrheitlich einen durchschnittlichen, schlechten oder sehr schlechten körperlichen Zustand angegeben haben; ca. die Hälfte berichtete von einem reduzierten psychischen Wohlbefinden (Bora 2012, S. 18). Viele Inter*Menschen leiden unter multiplen Erkrankungen und Beschwerden (Jones/Hart/Carpenter/Ansara/Leonard/Lucke 2016) und sind daher früher und stärker eingeschränkt als andere Menschen gleichen Alters. Für die Pflege und Begleitung im Alter ist bedeutsam, dass erhebliche körperliche und psychische Beeinträchtigungen als Auswirkungen einer paradoxen Hormonersatztherapie beschrieben sind, die Störungen in Organ-, Nervenund Stoffwechselfunktionen einschließen (Intersexuelle Menschen e. V./XYFrauen (2011b). Auch in Folge der normanpassenden Operationen können, wie die Hamburger Studie gezeigt hat, erhebliche psychische Belastungen17 auftreten (Schweizer/Richter-Appelt 2012b, S. 189). Dies zeigt, dass die psychischen und physischen Auswirkungen von medizinischen Eingriffen im Kindes- und Jugendalter bis in hohe Alter andauern und chronifizieren (können); sie angemessen in der Pflege und Sozialen Arbeit zu berücksichtigen, stellt eine Herausforderung dar (siehe Beitrag Veith i. d. B.).

17 Die Autor*innen geben an, dass die Symptome denen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) gleichen. Dies findet sich auch in verschiedenen anderen Studien (z. B. Gregor 2015; Victorian Department of Health and Human Services 2018).

/ Gesundheit­ liche Einschrän­ kungen als Folge medizinischer Eingriffe

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/ Erfahrungen von Diskrimi­ nierung und ­Ausgrenzung

/ Prekäre Lebenslagen als Folge der gesundheitlichen Einschränkungen

Friederike Reuter und Regina Brunnett

Inter*-Menschen schildern in Interviews und Selbstberichten häufig unangemessene Formen der Diagnosemitteilung, dass ihnen die Diagnose seitens der Ärzt*innen teils (auch absichtlich) verheimlicht wurde und sie häufig nur lückenhaft und nicht verständlich aufgeklärt worden seien (Schweizer/RichterAppelt 2012b, S. 194 f.; Gregor 2015); die Behandlung sei nicht selten fehlerhaft gewesen (Tillmanns 2015). Wiederholt berichten Inter*-Menschen, dass sie ungefragt fotografiert wurden und diese Fotos auch ohne Einwilligung verwendet (Gregor 2015, S. 197), oder dass sie vor Studierendengruppen untersucht wurden (Schweizer/Richter-Appelt 2012b). In Folge der – häufig mehrfachen – Operationen im Kindesalter, so ist durch Studien und Selbstberichte belegt, treten nicht selten bis ins höhere Erwachsenenalter anhaltende Traumatisierungen, Schmerzen und Empfindungsstörungen auf (siehe Beitrag Veith i. d. B.). Wiederholte medizinische Eingriffe, Tabuisierungen und Schweigegebote in der Familie können eine große Belastung für die Kinder und ihre Beziehung zu den Eltern darstellen (Lang 2006, S. 319) und erhöhen die Wahrscheinlichkeit weiterer sexueller Grenzverletzungen und Übergriffe im Erwachsenenalter (Katzer 2019, S. 133). Dabei weisen die von Sabisch (2014) durchgeführten Interviews darauf hin, dass offen gelebte Intergeschlechtlichkeit ab dem Kindesalter auch mit Erfahrungen eines diskriminierungsfreien Aufwachsens einhergehen kann. Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass aus aufgezwungenen Operationen im Kindesalter schwerwiegende psychische und körperliche Beeinträchtigungen resultieren können (Intersexuelle Menschen e. V./xy-Frauen 2011a, b). Viele Inter*-Menschen geben darüber hinaus Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung, auch im beruflichen Alltag, an (z. B. Bora 2012). Zusammengenommen führt all dies nicht selten dazu, dass Inter*-Personen schwerbehindert werden, sodass sie keiner existenzsichernden Berufstätigkeit nachgehen können – wodurch ihre Lebenslagen überdurchschnittlich häufig prekär sind (Intersexuelle Menschen e. V./XY-Frauen 2011a, b) und sie ein hohes Risiko für Armut im Alter haben (siehe Beitrag Brunnett i. d. B.). Fallbeispiel Erika A., 69 Jahre, besucht ein Erzählcafé für ältere Menschen. Erika A. ist ein freundlicher, zugewandter Mensch, wenn auch anfangs noch zurückhaltend. Bei einem Treffen, bei dem die Teilnehmenden von Erfahrungen mit Ärzt*innen und medizinischer Behandlung in ihrer Kindheit erzählen, verändert sich

Inter* und Alter(n)

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ihre Haltung und negative sowie widersprüchliche Gefühle kommen zutage. So drückt sie bei Berichten von negativen Erfahrungen ihr Mitgefühl für die Erzählenden und unverhohlene Wut auf die Mediziner*innen aus: »Unmenschen sind das.« Manche ihrer Äußerungen zeigen auch ein Unbehagen, über das Thema zu sprechen. Erika A. wurde intergeschlechtlich geboren, als Kind mehrfach operiert und erinnert sich mit Grauen an die Krankenhausaufenthalte, die damit verbundene Trennung von den Eltern und die erlebten Schmerzen. Den Grund für die Operationen hat sie mit 20 Jahren von der Mutter erfahren und damals mit einer Freundin darüber gesprochen, die daraufhin den Kontakt abbrach. Erika A. wurde zeitlebens von anderen als weiblich gesehen und bezeichnet sich auch selbst als Frau, obwohl sie sich in dieser Rolle fremd fühlt. Sie ist keine feste Partner*innenschaft eingegangen, hat aber immer freundschaftliche Kontakte und vielseitige Interessen gepflegt. Aus Angst vor Ablehnung vermeidet sie es bis heute, über ihre Intergeschlechtlichkeit zu sprechen. Dabei leidet sie unter dem Gefühl, nicht so akzeptiert zu werden, wie sie ist.

Fragen (A) Wo finden sich im Kontext der Altenhilfe Personen, denen sich Erika A. anvertrauen kann, ohne Irritation, Ablehnung und Ausgrenzung fürchten zu müssen? Wie könnten sich positive, ermutigende Reaktionen gestalten? (B) Welche Möglichkeiten können geschaffen werden, um Erika A. den Kontakt mit anderen intersexuellen Menschen zu ermöglichen, falls sie dies wünscht? (C) Welche Anforderungen ergeben sich aus den möglichen Anliegen und Bedürfnissen Erika A.’s für die Soziale Arbeit und Pflegeberufe? Hintergründe zur Lösung Die biografisch sehr häufig erlebte Fremdbestimmtheit über den eigenen Körper und die eigene Identität, die meist fehlende Aufklärung über medizinische Eingriffe und Traumatisierungen sowie Diskriminierungserfahrungen haben viele Inter*-Menschen erschüttert. Daher ist in der Arbeit mit älteren Inter*Personen eine besondere Aufmerksamkeit und Umsicht in den Bereichen Biografiearbeit, Befragung zu persönlichen Daten und Körperpflege erforderlich. Damit Fachpersonen in der Pflege und in der Sozialen Arbeit Inter*-Personen bedürfnisorientiert pflegen und betreuen können, benötigen sie Kompe-

/ Die vermeintliche Selbstverständlichkeit geschlechtlicher Zuschreibungen überwinden

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Friederike Reuter und Regina Brunnett

tenzen im Umgang mit non-binären Körperlichkeiten und Identitäten (siehe Beitrag Sauer i. d. B.). Es ist Fachwissen sowie eine größtmögliche Transparenz und Sensibilität in der Pflege von Inter*-Personen vonnöten. Die eventuelle Einnahme von Hormonen muss in pflegerischen Arrangements dokumentiert und bei der Verordnung von Medikamenten durch Ärzt*innen unbedingt berücksichtigt werden. Die teils lange zurückliegenden Operationen müssen in der Pflegeund Krankenakte dokumentiert sein, sonst sind sie durch Pflegefachpersonen zu erfragen; bei auftretenden gesundheitlichen Problemen sind frühere medizinische Eingriffe seitens der Ärzt*innen unbedingt zu berücksichtigen (siehe Beitrag Veith i. d. B.). In allen Fragen, die den eigenen Körper betreffen, muss das höchste Maß an Selbstbestimmtheit gewährleistet sein. Geschlechtliche Identität kann nicht von außen zugewiesen werden; die Definitionsmacht liegt bei der betreffenden Person selbst (Hechler 2016). Selbstzuschreibungen müssen sich dabei nicht auf männlich oder weiblich beschränken oder beides zugleich beinhalten, sie können auch völlig anders gefasst sein. Ein offenes Nachfragen nach der gewünschten Anrede kann nicht nur im Kontext von Inter* Grenzüberschreitungen vorbeugen. Eine solche professionelle, wertschätzende Grundhaltung erfordert aufseiten der Fachkräfte ein hohes Maß an »Reflexion der eigenen geschlechtlichen Gewordenheit« und »eine Offenheit gegenüber anderen geschlechtlichen Gewordenheiten und Existenzweisen« (Hechler 2014, S. 47). Schlussfolgerungen / Grundlagen für eine diskriminierungsfreie Soziale Arbeit mit Inter*Personen

Die Grundlage für einen diskriminierungsfreien Umgang mit Inter*-Personen bildet die Akzeptanz der Vielfalt geschlechtlicher Erscheinungsformen und Selbstverortungen. Dies eröffnet sowohl in der Pflege als auch in der Sozialen Arbeit Möglichkeiten eines diversitätssensiblen Umgangs mit Inter*Personen. Tillmanns (2015) fordert daher eine Aufnahme von Aspekten der Genderkompetenz und Geschlechterspezifik in die Ausbildungsstandards sozialer und gesundheitlicher Berufe und konstatiert: »Nur durch eine Vermittlung von und durch Einblicke in die Lebenswirklichkeiten von Inters* können Perspektivwechsel überhaupt erst ermöglicht werden« (Tillmanns 2015, S. 123) (siehe Beitrag Sauer i. d. B.).

Inter* und Alter(n)

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Literatur Baltes-Löhr, C. (2014): Immer wieder Geschlecht  – immer wieder anders. Versuch einer 8 Weitere Begriffsbestimmung. In: E. Schneider/C. Baltes-Löhr (Hg.): Normierte Kinder. Effekte der Lernmaterialien finden Sie im Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz (S. 17–40). Bielefeld. DownloadBora, A. (2012): Zur Situation intersexueller Menschen. Bericht über die Online-Umfrage des bereich zu Deutschen Ethikrates. Berlin. ­diesem Buch Deutsche Gesellschaft für Urologie e. V./Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie/Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie e. V. (2016): S2k-Leitlinie »Varianten der Geschlechtsentwicklung«. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/174-001l_ S2k_Geschlechtsentwicklung-Varianten_2016-08_01.pdf (Zugriff am 04.10.2019). Deutscher Ethikrat (2012): Intersexualität. Stellungnahme. https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/DER_StnIntersex_Deu_Online.pdf (Zugriff am 02.12.2019). Gregor, A. (2015): Constructing Intersex. Intergeschlechtlichkeit als soziale Kategorie. Bielefeld. Hechler, A. (2014): Intergeschlechtlichkeit als Thema in Pädagogik und Sozialer Arbeit. Sozialmagazin. Die Zeitschrift für Soziale Arbeit, 39 (3–4), 46–53. Hechler, A. (2015): Intergeschlechtlichkeit in Bildung, Pädagogik und Sozialer Arbeit. In: A. T. Sauer (Hg.): Gutachten: Begrifflichkeiten, Definitionen und disziplinäre Zugänge zu Transund Intergeschlechtlichkeiten. Begleitmaterial zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Inter& Transsexualität Bd. 1 (S. 63–75). Berlin. Hechler, A. (2016): »Was ist es denn?« Intergeschlechtlichkeit in Bildung, Pädagogik und Sozialer Arbeit. In: M. Katzer/H.-J. Voß (Hg.): Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung. Praxisorientierte Zugänge (S. 161–185). Gießen. Hoenes, J./Januschke, E./Klöppel, U. (2019): Häufigkeit normangleichender Operationen »uneindeutiger« Genitalien im Kindesalter. Follow-Up Studie. Berlin. Intersexuelle Menschen e. V./XY-Frauen (2011a): Parallelbericht zum 5. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland. Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (CAT). Berlin. Intersexuelle Menschen e. V./XY-Frauen (2011b): Parallelbericht zum 5. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zum Internationalen Pakt der Vereinten Nationen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR). Berlin. Jones, T./Hart, B./Carpenter, M./Ansara, G./Leonard, W./Lucke, M. (Hg.) (2016): Intersex. Stories and Statistics from Australia. Open Book Publishers. Katzer, M. (2019): Sexuelle Grenzverletzungen – (k)ein Thema im Kontext von Intersexualität und Transsexualität? In: A. Naß/S. Rentzsch/J. Rödenbeck/M. Deinbeck/M. Hartmann (Hg.): Empowerment und Selbstwirksamkeit von trans* und intergeschlechtlichen Menschen. Gießen. Klöppel, U. (2010): XX0XY ungelöst: Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität. Bielefeld. Sabisch, K. (2014): Geschlechtliche Uneindeutigkeit, soziale Ungleichheit? Zum Alltagserleben von intersexuellen Kindern. Psychosozial, 135 (1), 55–61. Schweizer, K./Richter-Appelt, H. (2012): Die Hamburger Studie zur Intersexualität. Ein Überblick. In: K. Schweizer/H. Richter-Appelt (Hg.): Intersexualität kontrovers. Grundlagen, Erfahrungen, Positionen. (S. 187–206). Gießen. Tillmanns, M. (2015): Intergeschlechtlichkeit. Impulse für die Beratung. Gießen. Veith, L. (2014): Vom Opfersein zum Menschsein in Würde: Intersexuelle Menschen auf dem Weg zurück in das gesellschaftliche Bewusstsein. In: K. Schweizer/F. Brunner/S. Cerwenka/ T. Nieder/P. Briken (Hg.): Sexualität und Geschlecht. Psychosoziale, kultur- und sexualwissenschaftliche Perspektiven (S. 145–154). Gießen.

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Friederike Reuter und Regina Brunnett

Victorian Department of Health and Human Services (2018): Health and Wellbeing of people with intersex variations. Initially prepared by T. Jones and W. Leonhard, revised and edited J. Rostant on behalf of Health and Human Services 2016–2018. Melbourne. Wahl, A. v. (2018): Die Re- und De-Naturalisierung der Geschlechterdichotomie. Intersexualität zwischen Medizin und Menschenrechten. In: G. Bauer/R. Ammicht Quinn/I. Hotz Davis (Hg.): Die Naturalisierung des Geschlechts: Zur Beharrlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit (S. 115–134). Bielefeld.

Weiterführende Literatur Landesarbeitsgemeinschaft Seniorenbüros NRW (LaS NRW) (Hg.), in Kooperation mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Seniorenbüros e. V. (2016): Arbeitshilfe zum Erzählcafé. Ahlen. Schmidt, F./Schondelmayer, A. C./Schröder, A. C. (Hg.) (2015): Selbstbestimmung und An­ erkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Lebenswirklichkeiten, Forschungsergebnisse und Bildungsbausteine. Wiesbaden. Schweizer, K./Vogler, F. (Hg.) (2018): Die Schönheiten des Geschlechts. Intersex im Dialog. Frankfurt am Main.

3.6 Queer und Alter(n) Tamara-Louise Zeyen

Hintergrund »Oft fällt der Begriff [queer] im Kontext solcher als political correct etikettierten Begrifflichkeiten wie Vielfalt, Gender, Diversity etc.; aber auch im Zusammenhang mit zunehmendem medialen Interesse für Gender ­Trouble à la Lady Gaga, Conchita Wurst oder Laverne Cox.« (Förster 2017, S. 9) Dabei ist die Bedeutung des Begriffs »Queer« jedoch oftmals unklar und wird im deutschsprachigen Raum vielfach als »frisch klingende Alternative« (Förster 2017, S. 9) von schwul oder lesbisch verwendet. Das englische Verb to queer weist bereits darauf hin, dass durch den Begriff etwas verstört bzw. verunsichert werden soll (Förster 2017). Ursprünglich galt das Wort queer in der englischen Umgangssprache als eine homophobe Beschimpfung (Hartmann 2012). So wurden z. B. in den 1940er-/ 1950er-Jahren die schwulen und lesbischen Personen von anderen Menschen als queer bezeichnet, da sie anders, unüblich und somit auch getrennt vom »Normalen« waren oder als solche konstruiert wurden. Das Label queer zu tragen, konnte als Schande aufgefasst werden (Hughes 2006). In Deutschland gab es dieses Wort jedoch damals noch nicht, sondern nur Worte wie »kwer« oder »quer«, die jedoch andere Bedeutungen hatten und bis heute noch haben. Der Begriff Queer wurde dann von Aktivist*innen bewusst als schräg, pervers oder falsch und als eine Selbstbezeichnung benutzt (Förster 2017). Die 1990er-Jahre wurden zur Geburtsstunde der »queeren Bewegung«, welche bis heute aktiv ist (Moser 2010). Von Personen aus der Community wird das Wort queer also als Selbstbezeichnung für die eigene Identität verwendet (Sauer 2018). Sich als queer zu verorten, kann für verschiedene Personen unterschiedliche Aspekte beinhalten. Für viele Personen ist queer eine politische Überzeugung, wel-

/ Historischer Hintergrund von Queer

/ Queer in der Praxis

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/ Queer-Theory

/ »Wer queer denkt, verlässt sich nicht auf bereits ­Gedachtes.« (Förster 2017, S. 52)

Tamara-Louise Zeyen

che verschiedene sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten umfassen kann (Mortimer 2016) (siehe Beitrag Riegel i. d. B.). Im Folgenden entstand die Queer-Theorie, welche die heterosexuellen und zweigeschlechtlichen Normen infrage stellt. »Die theoretisch entscheidende Leistung von Queer Theory ist es, Heterosexualität analytisch als ein Machtregime rekonstruiert zu haben […]« (Hark 2005, S. 285). Doch queere Ansätze problematisieren nicht nur Homo- und Heterosexualität, sondern werfen den Blick auf Machtverhältnisse und wollen Naturalisierung und Normalisierung verunsichern. So wurde der Begriff auch ein »Auffangbecken« für Personen, die durch Ausschlusserfahrungen in den sozialen Bewegungen, wie der Frauenund Schwulenbewegung, enttäuscht waren, da sie sich hier nicht repräsentiert fühlten (Förster 2017). Dies hatte zur Folge, dass die Queer Studies die Gay and Lesbian Studies weiterentwickelten (Hartmann 2012). Zusammengefasst kann einerseits für die Praxis gesagt werden: »Die Aneignung und Umdeutung des Begriffs als stolze Selbstbezeichnung hatte eine äußerst verstörende Wirkung, hielt sie der moral majority18 doch den Spiegel vor.« (Förster 2017, S. 12) Andererseits lässt sich auf theoretischer Ebene festhalten, dass Queer Studies Heterosexualität als Machtregime sichtbar gemacht hat, welches Bauer wie folgt beschreibt: »Queer steht für ein Konzept von Identität, das Veränderung, die Möglichkeit multipler Identitäten (ohne darin notwendig einen Widerspruch zu sehen oder zu pathologisieren), sowie die Möglichkeit einer Verweigerung, sich zu definieren miteinbezieht. […] Es geht um eine Erweiterung von Möglichkeiten, sich selbst zu definieren, nicht um neue Normen an der Stelle alter, sondern um eine grundlegende Kritik an starren, besonders an dichotomen Kategorien.« (Bauer 1999, o. S.) Dies verdeutlicht, dass unter einer queeren Identität viele Ausprägungen, wie z. B. Lesbisch, Bisexuell oder Pansexuell (sexuelle Orientierung ohne Vorauswahl nach Geschlecht), fallen können (Bauer 1999). Herausforderungen Der Begriff queer wird oftmals als Selbstbezeichnung verwendet. Zudem ist auch bekannt, dass gerade die heute älteren Personen teilweise Begriffe wie schwul oder lesbisch ablehnen. Dies resultiert u. a. daraus, dass die Identi18 Moral Majority war eine amerikanische politisch konservative Organisation.

Queer und Alter(n)

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tätskonstruktionen von homosexuellen Männern und Frauen auch von den jeweiligen gesellschaftlichen und sozialen Kontexten abhängen sowie mit eigenen Identitätsvorstellungen und Rollenverpflichtungen einhergehen (Krell 2014). Hinzu kommt, dass viele der betreffenden Personen sich aus Angst vor gesellschaftlicher Diskriminierung überhaupt nicht geoutet haben (­Reimann/ Lasch 2006). Dies kann dazu führen, dass viele Personen gar nicht als LSBTIQ* erkannt werden, was wiederrum bedeuten kann, dass das Thema in der Altenhilfe oftmals nicht als relevant anerkannt wird (Schröder/Scheffler 2015). Manche ältere Personen haben Angst, als »alte Queere« angesehen zu werden, da sie es immer noch zu sehr mit dem Stereotyp vom alten, einsamen, bitteren Queeren in Verbindung bringen (Hughes 2006). Robson (2017) zeigt die Auswirkungen, die es gerade in der Vergangenheit dadurch gab: »Often, we feel that we’re set apart as queer people. None of the stories we read or see are our stories. Sometimes this has got us into trouble – especially those of us who are older, because we remember the bad times – the times when being queer meant that we were shamed, locked up, given electric shocks or fired from our jobs« (Robson 2017, S. 66). Die Angaben der Selbstbezeichnung queer beziehen sich jedoch größtenteils auf den angelsächsischen Raum, da »queer« in Deutschland erst in den späten 1990er-Jahren Einzug in die Alltagssprache fand und bis heute oftmals nur vermehrt im Rahmen der Community und hier oftmals in akademischen und jungen LSBTIQ*-Milieus anzutreffen ist. So kann es dazu führen, dass ältere Personen diesen Begriff nicht kennen und sich selbst anders definieren. Angesichts so komplexer Lebensläufe bietet sich eine biografieorientierte Sicht in der Arbeit mit älteren queeren Personen an, welches auch das folgende Zitat durch seine Verortung der Biografiearbeit verdeutlicht:

/ Der ­Begriff queer in Deutschland

»Ein wichtiges Merkmal ist die Bezugnahme auf die Lebenswelt sowie auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen, in denen das eigene Leben stattfindet bzw. stattgefunden hat. Dadurch wird das Verständnis für die eigene Person und den Lebensweg vertieft.« (Memory Biografie- und Schreibwerkstatt/Morgenstern 2013) Es bilden sich z. B. vier Schwerpunkte heraus, wenn in der offenen Senior*innenarbeit und Altenhilfe ressourcenorientiert biografisch gearbeitet wird: Biografisch erworbene Ressourcen bewusst wahrzunehmen und diese zu nutzen; die Erkennung von Handlungsspielräumen im eigenen Leben; Lernen,

/ Ressourcenorientierte Biografiearbeit

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Krisen als Herausforderungen und Chancen zum Lernen zu verstehen sowie etwa Gemeinsames im Individuellen zu entdecken (Memory Biografie- und Schreibwerkstatt/Morgenstern 2013). Dabei kann die Zugehörigkeit zu der queeren Community auch im Alter als eine Art Erleichterung gesehen werden, da queere Ideologien und Politiken mit den normativen Ansprüchen des Alter(n)s oftmals lockerer umgehen (Taylor 2012). Fallbeispiel Marion C. ist 83 Jahre alt, sie hat sich einen komplizierten Beinbruch zugezogen und ist in Folge dessen sehr depressiv geworden. Durch die damit verbundene Lethargie hat sie schnell an Mobilität verloren und sich mehrere Folgeerkrankungen zugezogen. Sie lebt mit ihrer Lebensgefährtin Jeanette D., die 30 Jahre jünger ist als sie selbst, in einem Einfamilienhaus in der Eifel. Marion C. war in den 1950ern in der Hamburger Szene politisch aktiv. In den 1990er-Jahren hat sie sich mit ihrer Partnerin aufs Land zurückgezogen. Frau C. ist mit ihrer Situation sehr überfordert, war sie doch in ihrer Beziehung immer die Starke und die treibende Kraft. Als butch (auch: Kesser Vater) fällt es ihr schwer, Gefühle auszudrücken, Schwächen zuzugeben und mit der zunehmenden Abhängigkeit von der Pflege und Betreuung zu leben. Exkurs: Marion C. hat in ihrer Jugend wegen ihres maskulinen Aussehens und Auftretens (sie wurde und wird häufig als »Mannweib« beschimpft) viel Diskriminierung, verbale und teils auch körperliche Gewalt erfahren. Sie lebt in einer langjährigen Beziehung mit einer femme, die eher einen femininen Part auslebt. Ihre Beziehung ist jedoch nicht zu verwechseln mit einer heterosexuellen Paarbeziehung und einer tradierten Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen. Ihre Butch-femme-Beziehung wird in der Lesbenszene vielfach nicht verstanden und als »heteronormativ« abgelehnt. Dadurch haben Marion C. und Jeanette D. nicht viele Kontakte in die Lesben- und auch nicht in die Schwulenszene. Marion C.’s Depression ist sehr schwer, sodass sie häufig ihre Wohnung oder sogar ihr Bett nicht verlassen kann, ihrer Lebensgefährtin gegenüber ist sie sehr anspruchsvoll und wird häufig wütend. Wenn Sie hingegen Besuch »aus alten Zeiten« bekommt, ist sie manchmal »ganz die Alte«, sehr charmant und tough. Jeanette D. würde gerne einen Pflegegrad beantragen, damit sie entlastet werden kann. Marion C. lehnt dies ab. (siehe auch Feinberg 2008)

Queer und Alter(n)

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Fragen (A) Wie könnten Erfahrungen von Diskriminierungen und sozialer Ausgrenzung aber auch von Anerkennungen und sozialen Kontakten in der Biografie von Marion C. in ihrer derzeitigen Situation nachwirken? (B) Im Beispiel wird der Verdacht auf eine psychische Störung bei Marion  C. und eine Belastungssituation bei Jeanette D. angesprochen. Welche Lö­ sungsansätze könnten greifen und warum? (C) Warum glauben Sie, dass die Beziehung von Marion C. und ihrer Partnerin in der Lesbenszene oftmals nicht verstanden wird? Hintergründe zur Lösung und dem Aspekt der Biografiearbeit Das Fallbeispiel von Marion C. kann aus vielen verschiedenen Sichtweisen betrachtet werden. An dieser Stelle wird ein biografischer Ansatz gewählt, um eine Verbindung zwischen Marion C.’s Vergangenheit und Zukunft herzustellen. Biografiearbeit bietet hier auch die Möglichkeit Exklusions- und Inklusionsprozesse aufzudecken. Dies kann dabei helfen, sowohl Ressourcen zu mobilisieren als auch Barrieren abzubauen. Bei der Anwendung von Biografiearbeit sollten die Grenzen dieses Ansatzes beachtet werden, indem bei psychischen Störungen und Traumata an entsprechende Fachleute (wie zum Beispiel Therapeut*innen, Hausärzt*innen oder Psychiater*innen) verwiesen wird. Schlussfolgerungen »In aged care practice, awareness of the multiplicity and constructedness of older people’s identities highlights the value of facilitating their narratives so that they might present their own understanding of their identity in their own way. « (Hughes 2006, S. 54) Hughes (2006) fordert damit auf, Gespräche anzuregen, bei denen sich Personen wohlfühlen über ihre Identität zu reden. Es muss Raum für Geschichten aus der Vergangenheit sowie Zukunftswünsche geben, damit das Personal weiß, was der Person wichtig ist. Hier ist eine Vertrauensbeziehung aufzubauen. Die Erzählungen der Personen können gleichzeitig als empowerned also ermächtigend aber auch herausfordernd empfunden werden (Hughes 2006), sie sollten aber durch Ansätze wie die Biografiearbeit, wenn die Personen dies wünschen, sichtbar gemacht werden (siehe Beitrag Lottmann/

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Zeyen i. d. B.). Nicht zuletzt spricht sich Hughes (2006) deswegen gezielt für die Wahrnehmung und Akzeptanz von älteren queeren Menschen aus. Literatur 8 Weitere Lernmaterialien finden Sie im Downloadbereich zu ­diesem Buch

Bauer, B. (1999): »Was heiist [sic!] hier queer? Mehr als ein Modewort für schwul oder lesbisch«. Standpunkt: sozial, 3. http://www.sterneck.net/gender/bauer-queer/index.php (Zugriff am 11.06.2019). Bennett, A./Hodkinson, P. (Hg.) (2012): Ageing and youth cultures: Music, style and identity. Oxford. Feinberg, L. (2008): Stone Butch Blues. Träume in den erwachenden Morgen (4. Aufl.). Berlin. Förster, F. (2017): »Who am I to feel so free?« – Eine Einführung in den Begriff und das Denken von Queer. In: K. Kenklies/M. Waldmann (Hg.): Queer Pädagogik. Annäherungen an ein Forschungsfeld (S. 9–59). Bad Heilbrunn. Hark, S. (2005): Queer Studies. In: C. von Braun/I. Stephan (Hg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien (S. 285–303). Köln u. a. Hartmann, J. (2012): Queertheoretische Ansätze der Frauen- und Geschlechterforschung: Die konstruktive Perspektiven auf Geschlecht und Sexualität in der Pädagogik. Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online. Fachgebiet: Geschlechterforschung, Theoretische Grundlagen (S. 1–36). Weinheim. Hughes, M. (2006): Queer Ageing. Gay and Lesbian Issues and Psychology Review, 2 (2), 54–59. Kenklies, K./Waldmann, M. (Hg.) (2017): Queer Pädagogik. Annäherungen an ein Forschungsfeld. Bad Heilbrunn. Krell, Claudia (2014): Alter und Altern bei Homosexuellen. Weinheim u. a. Memory Biografie- und Schreibwerkstatt/Morgenstern I. (2013): Biografiearbeit im Stadtteil mit Kindern und Eltern. http://www.memory-schreibwerkstatt.de/mediapool/80/804223/data/ Biografiearbeit_im_Stadtteil_mit_Kindern_und_Eltern_Memory_Werkstatt_e. V._2013. pdf (Zugriff am 13.06.2019). Mortimer, D. (2016): Can Straight People be Queer? https://www.vice.com/en_us/article/avy9vz/ can-straight-people-be-queer-435 (Zugriff am 28.01.2019). Moser, A. (2010): Kampfzone Geschlechterwissen. Kritische Analyse populärwissenschaftlicher Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit. Wiesbaden. Reimann, K./Lasch, V. (2006): Differenzierte Lebenslagen im Alter. Der Einfluss sexueller Orientierung am Beispiel homosexueller Männer. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 39 (13), 13–21. Robson, C. (2017): What’s it like to be queer. In: C. Robson/K. Blair/J. Marchbank (Hg.): Basically Queer. An Intergenerational Introduction to LGBTQA2S+ Lives (S. 65–67). New York. Robson, C./Blair, K./Marchbank, J. (Hg.) (2017): Basically Queer. An Intergenerational Introduction to LGBTQA2S+ Lives. New York. Sauer, A. (2018): Queer/queer lebende Menschen. In: LSBTIQ – Lexikon der Bundeszentrale für politische Bildung. http://www.bpb.de/gesellschaft/gender/geschlechtliche-vielfalttrans/245426/lsbtiq-lexikon?p=46 (Zugriff am 28.01.2019). Schmidt, F./Schondelmayer, A. C./Schröder, U. (Hg.) (2015): Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Wiesbaden. Schröder, U. B./Scheffler, D. (2015): »Bei uns gibt es dieses Problem nicht «– Leitlinien als Impuls für Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld. In: F. Schmidt/A. C. Schondelmayer/U. Schröder (Hg.): Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt (S. 319–335). Wiesbaden.

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Taylor, J. (2012): Queering age: Performances of post-youth sexual identities in queer scenes. In: A. Bennett/P. Hodkinson (Hg.): Ageing and youth cultures: Music, style and identity (S. 24–36). Oxford.

Weiterführende Literatur Hölzle, C./Jansen, I. (2009): Ressourcenorientierte Biografiearbeit. Grundlagen, Zielgruppen, kreative Methoden. Wiesbaden. Kenklies, K. (2017): Queer Pädagogik: Annäherung an ein Forschungsfeld. Bad Heilbrunn. Specht-Tomann, M. (2012): Biografiearbeit in der Gesundheits- Kranken- und Altenpflege (2. akt. und erw. Aufl.). Berlin/Heidelberg.

Anwendung der Thematik

4.1 Perspektiven und Praxisbeispiele aus den Communitys 4.1.1 Einführung der Praxisbeispiele Tamara-Louise Zeyen, Ralf Lottmann, Regina Brunnett und Mechthild Kiegelmann

In den letzten Jahren sind in Deutschland insbesondere in den urbanen Me­ tro­polen einige Initiativen und Projekte für und von LSBTIQ*-Gruppen im Alter initiiert worden. Dabei zeigt sich sehr deutlich die Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung solcher Gruppen in den lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und inter* Communitys, sowie zwischen städtischen und ländlichen Regionen. Im Schwerpunkt werden in diesem Kapitel Personen aus den verschiedenen Communitys selbst ihre Projekte und Organisationen vorstellen und sie anhand von Fallbeispielen für die Lehre nutzbar machen. Einig scheinen sich die Organisator*innen der Projekte bei der Motivation für ihre Arbeit und ihr Engagement zu sein, die oftmals Folge der gesellschaftlichen Diskriminierung von älteren Menschen der verschiedenen Communitys ist und ihre Unsichtbarkeit, ihre Angst vor Diskriminierung in der Abhängigkeit von Drittpersonen in der Pflege oder/und Betreuung wie auch ihre soziale Isolation in den Blick nimmt. Gleichzeitig zeigen die Stimmen aus den Communitys ermutigende Impulse für eine menschenrechts- und bedarfsorientierte Versorgung von Älteren sowie für den Erfolg gesellschaftlichen Engagements und solidarischen Handelns auch unter erschwerten sozialen Bedingungen und Möglichkeiten gesellschaftlichen Wandels. Innovative Projektideen wurden umgesetzt und illustrieren Ansätze von Partizipation Älterer in der Verantwortung und Gestaltung unterschiedlicher Lebensformen im Alter, sowohl innerhalb von LSBTIQ*-Communitys als auch darüber hinaus. Die folgenden Kapitel sollen Einblicke in die Arbeit verschiedenster Selbstvertretungen, Verbände, Organisationen und Einrichtungen geben, die bereits Angebote für ältere und alte LSBTIQ*-Gruppen entwickelt und institutionalisiert haben, oder die Bedarfe aus der Erfahrung jahrelanger Arbeit darlegen. Dabei ist das Spektrum der Initiativen hinsichtlich Struktur und Förderung sehr breit: Es reicht von Modellprojekten, wie solche zum Thema »Wohnen«, welche die Altenhilfestrukturen aufbrechen und ergänzen sowie

/ Motivation für die Arbeit mit älteren LSBTIQ*Personen

/ Neuere Initiativen von LSBTIQ*Gruppen

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Tamara-Louise Zeyen, Ralf Lottmann, Regina Brunnett und Mechthild Kiegelmann

Hetero- und Cis-Normativität problematisieren wollen, bis zu Beratungsstellen und Besuchsdiensten. Auch ein Blick über den nationalen Tellerrand wird gewagt, wenn ausgesuchte internationale Projekte im Bereich Wohnen und Pflege mit solchen in Deutschland in Bezug gesetzt werden. Dieses Kapitel kann nicht abschließend sein, möchte jedoch Interesse wecken und dazu anregen, die Angebotsstruktur und Ressourcen für LSBTIQ*Senior*innen in den verschiedenen Regionen Deutschlands zu erkunden und weiter auszubauen.

4.1.2 Das rubicon in Köln Carolina Brauckmann

Offene lesbische und schwule Senior*innenarbeit im rubicon e. V., Köln Das Beratungszentrum rubicon unterstützt lesbische, schwule, bisexuelle, trans*-idente sowie queer orientierte Menschen und setzt sich aktiv für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt ein. Im rubicon e. V. sind seit 2005 die kommunal geförderten Netzwerke für ältere Lesben und Schwule (ALTERnativen) angesiedelt. Köln war damals die erste Stadt in Deutschland, die eine unbefristete Förderung für eine lebensweltorientierte Altersarbeit bewilligte. Eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter sind hauptamtlich mit je einer halben Stelle für das Aufgabengebiet zuständig. Vorausgegangen und ebenfalls im rubicon angesiedelt waren ein mehrjähriges Modellprojekt »Schwules Seniorenbüro NRW« und eine Erhebung zur Lebenssituation älterer lesbischer Frauen in Nordrhein-Westfalen, beides gefördert vom Land NRW. Aufgaben Die ALTERnativen Netzwerke sind Anlaufstellen für ältere Lesben und Schwule. Die lesbischen ALTERnativen wenden sich an lesbische Frauen ab 50 Jahren; die schwulen ALTERnativen wenden sich an schwule Männer ab 40 Jahren.19 19 Unsere Erfahrungen bestätigen die Beobachtungen der Studie »Unter’m Regenbogen« von 2004. Demnach differieren bei Lesben und Schwulen die angenommenen Fremdwahrnehmungen und die Selbstwahrnehmung mit Bezug auf das eigene Alter. Ein größerer Teil der befragten Schwulen geht davon aus, dass Schwule bereits als unter 50-jährige für alt gehalten werden. Bei der angenommenen Fremdwahrnehmung glauben ca. 48 % der Frauen, dass sie bereits als unter 50-Jährige für alt gehalten werden, ca. 30 % schätzen dies für die Altersstufe 50–60 Jahre so ein und ca. 21 % glauben, erst als über 60-Jährige für alt gehalten zu werden. »Diese Zahlen verdeutlichen eindrucksvoll, welche Rolle ›Jugend(lichkeit)‹ in der schwulen Szene noch mehr als bei den Lesben spielt.« (Landeshauptstadt München 2004, S. 26)

/ Das Beratungszentrum rubicon in Köln

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Ȥ Ȥ Ȥ Ȥ

Carolina Brauckmann

Zu den Leitzielen gehören: Stärkung der Sichtbarkeit von alten Lesben und Schwulen Aufbau und Koordination alters- und zielgruppenspezifischer Angebote Förderung von Selbstorganisation und bürgerschaftlichem Engagement Kooperationen mit Trägern der offenen Senior*innenarbeit

Gemeinschaft Gruppenangebote gehören zum Kernbereich der lesbisch-schwulen Altersarbeit im rubicon. Die Aktivitäten hängen vom Engagement einzelner Akteur*innen ab. Im Unterschied zur traditionellen offenen Senior*innenarbeit, bei der die Impulse häufig von den Verantwortlichen gesetzt werden, kommen bei den ALTERnativen die Anregungen für neue Gruppen von der Zielgruppe selbst. Vielen ist diese eigenständige Vorgehensweise durch ihr langjähriges Engagement in der autonomen Lesben- und Schwulenbewegung vertraut. Gemeinsam werden die Rahmenbedingungen und Möglichkeiten der Umsetzung geklärt: Veranstaltungsformat, Präzisierung der Zielgruppe, Raumkapazitäten, Werbemaßnahmen, Verantwortlichkeiten, ggf. auch erforderliche finanzielle Ressourcen. In jedem Fall muss gewährleistet sein, dass sich eine Ansprechperson für den weiteren Verlauf findet, denn das Prinzip der Selbstorganisation entspricht dem Selbstverständnis des Trägers. Da es in Köln seit 2003 – nach Schließung des Schwulen- und Lesbenzentrums SCHULZ – kein offenes Zentrum für LSBTIQ* mehr gibt, erfüllen die selbstorganisierten Gruppen auch den Zweck des offenen Treffs. Vernetzung / Vernetzung ist von großer Relevanz

Die ALTERnativen Netzwerke sind innerstädtisch angesiedelt, sollen ihre Wirkung aber stadtweit entfalten. Da das rubicon hier nur auf Basis von zwei halben Mitarbeiter*innenstellen arbeitet, ist die Zusammenarbeit mit den in den Kölner Stadtteilen beheimateten Senior*innennetzwerken unter der Trägerschaft der Stadt und der Wohlfahrtsverbände als Ergänzung wichtig. Ziel ist es, diese Zentren auch für die Community attraktiv zu gestalten, denn mit zunehmendem Alter und bei nachlassender Mobilität wird es bedeutend, Gemeinschaft im eigenen Wohnumfeld zu erleben und dafür die Begegnungszentren in den Stadtvierteln zu nutzen. Um das zu erreichen, werden Kontakte zu den hauptamtlichen Ansprechpartner*innen der Kölner Senior*innen-

Das rubicon in Köln

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arbeit geknüpft und Kooperationen aufgebaut (Brauckmann/Roth 2018). Die Koordinator*innen der ALTERnativen nehmen an den Gremien der offenen Senior*innenarbeit teil, wirken gelegentlich an Stadteilfesten mit, sind beim Tag der Generationen präsent oder am Runden Tisch zum Thema »Alter und Zukunft« und konnten nach und nach das Thema Homosexualität zumindest teilweise in den Strukturen der Kölner Senior*innennetzwerke platzieren. Ohne die Offenheit der Hauptakteur*innen der vergleichsweise modern aufgestellten Kölner Senior*innenarbeit wäre das kaum möglich gewesen. Prävention Alltags- und Altersbewältigung bei zunehmender körperlicher, möglicherweise auch mentaler Einschränkung sind Themen, die lange »aufgeschoben« werden. Mit Informationsveranstaltungen, zu denen als Inputgeber*innen Fachkräfte aus Senior*innenberatung, Gesundheitswesen und unterschiedlichen Dienstleistungsbereichen eingeladen werden, versucht das Koordinationsteam auf unterstützende Maßnahmen im Alter aufmerksam zu machen. In pragmatisch ausgerichteten Mitmach-Veranstaltungen können die Interessierten an Ort und Stelle ihre Patient*innenverfügungen oder Vollmachten ausfüllen, sich im Hörgeräte-Fachgeschäft über die Funktionsweise der Technik informieren oder der Pflegedienstleitung beim gemeinschaftlichen Besuch einer Pflegedienststelle konkrete Fragen stellen. Im Gegensatz zu den Gruppenanboten, die sich in der Regel entweder an Lesben oder an Schwule wenden, sind diese Informationsveranstaltungen geschlechter­ übergreifend. Die Unternehmungen sollen das »Wir-Gefühl« stärken und zielen daher ähnlich wie die Gruppenangebote auf Prävention gegen Vereinzelung ab. Einschätzungen aus der Praxis Diese Einschätzungen stammen von Birgit Erlenbruch, Koordinatorin der lesbischen ALTERnativen, und Norbert Reicherts, bis Januar 2020 Koordinator der schwulen ALTERnativen zu der Frage: »Welche Themen und Aufgaben sind besonders wichtig?« Auseinandersetzung mit Hilfsbedürftigkeit Das Koordinationsteam hat in Gesprächen mit Einzelnen und durch die Arbeit mit den Gruppen erfahren, dass die Auseinandersetzung mit der eige-

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/ Die Ausein­ an­der­setzung mit Hilfs­bedürf­ tig­keit stellt eine Herausforderung dar

Carolina Brauckmann

nen Hilfsbedürftigkeit zu den großen Herausforderungen des lesbischen und schwulen Alter(n)s gehört. Insbesondere Lesben nehmen ihrer Einschätzung nach Informationsveranstaltungen zu Themen wie Vorsorge, Pflege, Altenheime nur zögerlich an. Es sei ein »langsames Herantasten«. Ohne persönliche Ermunterung »sich das doch einfach mal anzuhören«, würden viele ältere Lesben und Schwule den Schritt in die aktive Prävention nicht machen. Es gelte, Angebote zu finden, die Hilfe »annehmbar« machen, denn dass Hilfsbedürftigkeit irgendwann eintreten werde, sei den meisten sehr bewusst. Zu den Ideen, die immer wieder favorisiert werden, gehören z. B. telefonische und persönliche Besuchsinitiativen oder feste Vereinbarungen innerhalb bestehender Gruppen. Dazu sind allerdings Ressourcen notwendig. Ehrenamtlich lassen sich Besuchsdienste weder aufbauen noch für den laufenden Betrieb koordinieren. Geborgenheit statt Sichtbarkeit Der soziale Rückzug, so die Beobachtung, spiele bei älteren Lesben und Schwulen gleichermaßen eine Rolle. Das habe auch damit zu tun, dass öffentliche Orte als »zu laut«, »zu unruhig«, gelegentlich auch als »zu teuer« empfunden werden. Erwünscht seien Orte, die Geborgenheit vermitteln. Das kann z. B. ein regelmäßiger Frühstücksbrunch oder ein selbstorganisierter Sonntagstreff sein, zu dem die Verantwortlichen aus den Gruppen einladen – beides übrigens Veranstaltungen, die in einem Kölner und einem Düsseldorfer Begegnungszentrum der kommunalen Senior*innenarbeit stattfinden. Empowerment durch Sichtbarkeit Sichtbarkeit ist ein weiterer wichtiger Aspekt. Das Team engagiert sich gemeinsam mit den Ehrenamtlichen für die Wahrnehmung einer Gruppe von Menschen, die in der Gesellschaft normalerweise nicht wahrgenommen wird. Ältere und alte Lesben und Schwule werden ermutigt, selbstbewusst zu ihrer politischen, auch persönlichen Geschichte zu stehen, sich zu zeigen, Raum einzunehmen, Orte zu »besetzen«. Nur wer sich zeigt, wird gesehen. So wurde unter dem Titel »lesbisch.schwul.alt.lebendig« eine Ausstellung konzipiert, die auf Anfrage mit Plakaten und Roll-Ups in Seniorenzentren und Bezirksrathäusern auf Wanderschaft geht. Das YouTube®-Video »­lesbisch. schwul. älter«, 2014 mit ehrenamtlich aktiven lesbischen und schwulen Senior*innen in Köln erstellt, ist ermutigend und sorgt ebenfalls für Sichtbarkeit. Es wird auf seniorenspezifischen Veranstaltungen gezeigt und ist oftmals eine Brücke

Das rubicon in Köln

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zwischen den »Profis« der Senior*innenarbeit und der in der Senior*innenarbeit noch relativ unbekannten Zielgruppe der älteren Lesben und Schwulen.20 Akzeptanz In Bezug auf Kooperationen mit Alters- und Pflegeeinrichtungen geht es nach Einschätzung des Koordinationsteams im Wesentlichen um Akzeptanz. Nur wenn Leitung und Mitarbeitende eine verstehende, akzeptierende Haltung gegenüber sexueller und geschlechtlicher Vielfalt entwickeln und lebensweltorientiere Angebote schaffen, könne es gelingen, dass Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und intergeschlechtliche Menschen sich angesprochen fühlen. Die ebenfalls im rubicon angesiedelte Landesfachberatung für gleichgeschlechtliche Lebensweisen in der offenen Senior*innenarbeit hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Träger der Senior*innenarbeit und zuständigen kommunalen Fachverwaltungen als Kooperationspartner*innen zu gewinnen. Schritt für Schritt werden Maßnahmen entwickelt, um die »neuen« LSBTIQZielgruppen zu erreichen. Orte, die die unbedingt notwendige Teilhabe und Gemeinschaft im Alter gewähren, müssen offen und stimmig sein für alle Gruppierungen. Beispiele von Nutzer*innen der altersspezifischen Angebote im rubicon Rita L., 77 Jahre »Die Lesbengruppe ›Golden Girls‹ ist für mich fester Bestandteil in meinem Leben. Ich selbst habe ja noch Familie, aber für etliche, die allein sind, sind die ›Golden Girls‹ ein guter Schutz gegen Einsamkeit. Dass es die ALTERnativen Netzwerke im rubicon gibt, ist viel Wert. Ich bekomme regelmäßige Informationen über den Rundbrief, und ich kann Ideen einbringen, die aufgegriffen werden. Zum Beispiel, dass wir am Internationalen Frauentag als ältere Lesben mit einem eigenen Stand im Rathaus vertreten sind. Wir treffen uns als Gruppe in der Kneipe, wir sind ziemlich autonom, aber das rubicon unterstützt uns. Wir bekommen Geld für Flyer oder können zum Beispiel unsere Jubiläumsfeste kostenlos in 20 »lesbisch.schwul.älter«, https://www.youtube.com/watch?v=o9rVrp_P-Ko (Zugriff am 16.01.2020). In kurzen Portraits erzählen Lesben und Schwule zwischen 60 und 84 Jahren über ihre Erfahrungen und Wünsche in Bezug auf Sichtbarkeit, Netzwerke und Community im Alter (2014).

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den rubicon-Räumen feiern. Was mir fehlt, ist ein Lesben- und Schwulenzentrum wie damals das SCHULZ und ein lesbischer Besuchsdienst für später, wenn wir mal nicht mehr mobil sind. Ich glaube nicht, dass ich ein ›normales‹ Seniorenzentrum nutzen würde. Vielleicht, wenn sich dort auch Lesbengruppen treffen. Unter Heteros ist der Umgang anders, allein schon die Gesprächsthemen!« Klaus M., 66 Jahre »Ich bin seit vier Jahren bei der Gruppe ›Golden Gays‹. Für mich ist die Gruppe sehr wichtig. Sie ist die beste Prävention gegen Einsamkeit. Alleine macht ja kein Schwuler was, aber so sind wir gut beschäftigt mit Planungen von Ausflügen, Festivitäten oder gemeinsamen Kneipenbesuchen. Wir haben einen prall gefüllten Veranstaltungskalender und informieren uns regelmäßig untereinander. Das funktioniert gut. Die ALTERnativen Netzwerke nehme ich gar nicht so wahr, für mich ist das alles das rubicon. Darüber wüsste ich gelegentlich mehr. Wer arbeitet dort, wer sind die anderen Gruppen? Wenn es diese Angebote und Gruppen nicht gäbe und ich mich woanders hinwenden müsste, würde ich mich vor allem nach Ärzten, Pflegeadressen und so was erkundigen. Aber das kann ich ja alles im rubicon fragen.« Literatur 8 Weitere Lernmaterialien finden Sie im Downloadbereich zu ­diesem Buch

Brauckmann, C./Roth, G./rubicon e. V. (Hg.) (2018): Gleichgeschlechtliche Lebensweisen in der offenen Senior*innenarbeit. Praxisleitfaden für Lesben und Schwule, die ihr Alter(n) gestalten wollen. Köln. Landeshauptstadt München (2004): Unter’m Regenbogen. Lesben und Schwule in München. München.

Weiterführende Literatur und Links Video: Lesbisch.schwul.älter https://www.youtube.com/watch?v=o9rVrp_P-Ko In kurzen Portraits erzählen Lesben und Schwule zwischen 60 und 84  Jahren über ihre Erfahrungen und Wünsche in Bezug auf Sichtbarkeit, Netzwerke und Community im Alter. 2014, 11 min., dt. Original. Eine Produktion im Auftrag von Carolina Brauckmann und Georg Roth, Landeskoordination für ältere Lesben und Schwule in NRW, rubicon e. V., Köln.

4.1.3 RuT Berlin – Offene Initiative Lesbischer Frauen e. V. Joanna Czapska

Hintergrund Frauenliebende Frauen im Alter sind die Zielgruppe, der sich der Berliner Verein Rad und Tat (RuT), Offene Initiative Lesbischer Frauen e. V., besonders verpflichtet fühlt und auf deren spezielle Bedürfnisse er in seinem breit gefächerten Beratungs-, Freizeit- und Veranstaltungsangebot im Lesben-/ Frauenzentrum »RuT« und insbesondere im Rahmen des ehrenamtlichen Besuchsdienstes »Zeit für Dich« fokussiert. RuT ist vor 30 Jahren gegründet worden. In diesem Beitrag soll das Augenmerk auf die Verschränkung dieser Aktivitäten mit Handlungsfeldern von Einrichtungen der ambulanten und stationären Altenpflege, der offenen Senior*innenarbeit, der Behindertenhilfe sowie anderen Besuchs- und Mobilitätshilfediensten gerichtet und anschließend mit einem Praxisbeispiel illustriert werden. Dabei wollen wir insbesondere pflegebedürftige Frauen in den Blick nehmen. So vielfältig ältere lesbische Frauen auch sind, die sich im RuT als Besuchende, Mitarbeitende, Vereinsfrauen und Förderinnen engagieren, so unterschiedlich gehen sie mit dem Prozess ihres Älterwerdens um. Vor allem die »jungen Alten« unter den Lesben, die in ihren Biografien von der bundesdeutschen Frauen- und Lesbenbewegung der 1960er- bis 1980er-Jahre geprägt wurden, sind dabei sehr aktiv und offensiv. Sie gestalten das Programm im RuT, bieten Beratung an, organisieren Selbsthilfegruppen und Veranstaltungen, stellen politische Forderungen auf und machen auf Probleme aufmerksam, um Verbesserungen der Lebenslagen von älteren lesbischen Frauen zu bewirken. Eine generationsübergreifende Aktivistinnen*gruppe unterstützt das RuT in dem Bestreben, ein Wohnprojekt zu realisieren, das selbstbestimmtes, diskriminierungsfreies lesbisches Leben und bezahlbares Wohnen im Alter möglich machen soll. Engagierte lesbische Rentnerinnen, zusammen mit immer mehr auch jüngeren Lesben, sind als Ehrenamtliche die tragenden Kräfte unseres Besuchsdienstes »Zeit für Dich«.

/ RuT ermöglicht ehrenamtlichen Besuchsdienst »Zeit für Dich« für lesbische Frauen

146 / Besuchsdienst begleitet ältere, alleinstehende und mobilitätseingeschränkte lesbische ­Seniorinnen

Joanna Czapska

In der Arbeit unseres Besuchsdienstes werden die unterschiedlichen lesbischen Lebensweisen und die Vielfalt der ungelösten Probleme, mit denen frauenliebende Frauen im Alter konfrontiert sind, sichtbar. Denn RuT besucht und begleitet insbesondere ältere, alleinstehende und in ihrer Mobilität eingeschränkte lesbische Frauen in ihrer Häuslichkeit, in Senior*innen- und Pflegeheimen, in Krankenhäusern. Vor allem die Vereinsamung ist ein Altersproblem, das viele lesbische Seniorinnen betrifft. Wenn die Berufstätigkeit nicht mehr für die täglichen sozialen Kontakte sorgt und an ihre Stelle keine neuen Aktivitäten im Freizeitbereich treten, wenn mit fortschreitendem Alter und eingeschränkter Mobilität die Wohnung immer seltener verlassen werden kann, dann wird es für viele alleinstehende lesbische Frauen sehr einsam. Familiäre Bande fehlen älteren lesbischen Frauen häufiger als heterosexuellen. Nicht selten gab es in ihren Familien Brüche aufgrund der fehlenden Akzeptanz für ihr LesbischSein. Viele ältere Lesben waren früher verheiratet, viele haben Kinder. Aber die Beziehungen zu den Kindern sind nicht immer unproblematisch, manchmal sind die Kontakte auf ein Minimum reduziert. Wenn auch die Freund*innenNetzwerke, die in der Lesben-Szene geknüpft wurden, nicht mehr funktionieren, weil auch die Freund*innen immer älter und gebrechlicher werden, kann das zur Isolation führen. Die Folgen sind oft psychische Beeinträchtigungen wie Depressionen oder Angstzustände. Ein besonders krisenträchtiges Ereignis ist für ältere lesbische Frauen der Verlust der Lebenspartnerin. Herausforderungen

/ Geschlechtersensible Pflege für lesbische Frauen wichtig

In der vertrauten, lieb gewonnenen Umgebung der eigenen vier Wände alt werden, wollen auch lesbische Frauen. Ein Senioren- oder Pflegeheim weckt große Ängste, nicht nur wegen der befürchteten Einschränkungen einer selbstbestimmten Lebensführung. Lesben haben oft Angst, mit ihrer gleichgeschlechtlichen Identität und ihrer »anderen« Lebensweise diesem fremden Umfeld schutzlos ausgeliefert zu sein. Sie befürchten, dass sie von dem Personal oder den anderen Bewohner*innen abgelehnt und ausgegrenzt werden. Und diese Ängste sind durchaus nicht unbegründet. Insbesondere für lesbische Frauen ist es zum Beispiel wichtig, dass sie von Frauen und nicht von männlichen Personen gepflegt werden. Leider wird darauf viel zu selten Rücksicht genommen. Ein respektierender und sensibler Umgang mit lesbischen Senior*innen bedeutet für die Praxis der ambulanten und stationären Altenpflege vor allem eine adäquate Biografiearbeit, die nicht nur heterosexuelle, sondern auch les-

RuT Berlin – Offene Initiative Lesbischer Frauen e. V.

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bische Lebensweisen berücksichtigt und durch offene, sensible Fragestellungen ein Outing als Lesbe und die Erfassung der daraus resultierenden Bedürfnisse ermöglicht, jedoch auf keinen Fall erzwingt. Es ist wichtig, dass die Zugehörigen im sozialen Umfeld lesbischer Frauen – ihre Freund*innen und Partner*innen – wie Angehörige wahr- und ernstgenommen werden, wenn die Frau es wünscht. Aktuelle Informationen über Einrichtungen und Angebote für lesbische Frauen sollten öffentlich zugänglich sein, auch Identifikationsmöglichkeiten durch Plakate und Bilder. Die Gleichbehandlung lesbischer Paare mit heterosexuellen Paaren sollte in den stationären Einrichtungen auf diese Weise selbstverständlicher werden können. Mit dem folgenden Fallbeispiel aus unserer Arbeit (Name wurde geändert) soll die Perspektive von lesbischen Senior*innen veranschaulicht und für die Beratung und sozialarbeiterische Praxis sensibilisiert werden. Fallbeispiel Beate A., 70 Jahre, hat nach Beendigung ihrer Berufstätigkeit ihren Wohnsitz aus einer Kleinstadt nach Berlin verlegt, um hier das »kulturelle lesbische Leben« endlich offen zu genießen und neue Frauen kennenzulernen. Leider wird sie durch eine fortschreitende Arthrose-Erkrankung in ihrer Mobilität immer mehr eingeschränkt. Längere Wegstrecken wagt sie nicht mehr allein zu bewältigen. Aus diesem Grund wird sie bei ihren Unternehmungen in der Lesbenszene von unserem Besuchsdienst begleitet. Für die selbstständige Erledigung von alltäglichen Besorgungen in ihrem Wohnungsumfeld ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. Ihre kleine Wohnung liegt günstig im Erdgeschoss, vom Hauseingang sind nur sechs Stufen zu überwinden. Mit dem Rollstuhl werden genau diese sechs Stufen zum Problem, das sie jedoch mit Hilfe des bezirklichen Mobilitätshilfedienstes lösen kann: der offizielle Preis für den Einsatz von zwei starken Männern, die den Rollstuhl heruntertragen, beträgt 5,00 Euro. Beate berichtet, dass die Zuverlässigkeit dieser Dienste in ihrer Wahrnehmung von der Zahlung eines »angemessenen« Trinkgeldes abhängt und dass sie die Männer mitunter fordernd und bedrohlich erlebt, wenn die Höhe dieses Trinkgeldes nicht zu ihrer Zufriedenheit ausfällt. Beate gehört zu den alleinstehenden lesbischen Frauen, denen Kontakte zu anderen lesbischen Frauen gerade angesichts der nachlassenden Mobilität sehr wichtig sind. Wie viele andere Lesben muss sie mit einer sehr geringen Rente auskommen und ist von Altersarmut bedroht. Für die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben innerhalb der lesbischen Community ist sie daher auf kostengünstige Angebote angewiesen. Wie viele andere ältere

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/ Einrichtungen des Bezirksamts oft heterosexuell ausgerichtet

Joanna Czapska

Lesben ist es ihr wichtig, an Veranstaltungen teilzunehmen, die exklusiv für Frauen sind. Gleichzeitig ist sie, wie viele andere Senior*innen auch, wegen ihrer Mobilitätseinschränkung auf wohnungsnahe Kommunikations- und Freizeitangebote angewiesen. Als lesbische Frau findet sie sich jedoch in den bezirklichen Angeboten der offenen Senior*innenarbeit nicht willkommen, da diese thematisch von einer heterosexuellen Ausrichtung bestimmt sind. Dazu kommt ihre Befürchtung, dort als lesbische Frau diskriminiert zu werden. In ihrem Angewiesensein auf soziale Hilfsangebote, wie z. B. Mobilitätshilfen, ist sie dort als alleinstehende ältere lesbische Frau zu leicht körperlichen Übergriffen und finanzieller Ausbeutung ausgesetzt.

Schlussfolgerungen

/ Besuchsdienst hilft gegen Isolation – RuT berät Einrichtungen

In dem beschriebenen Praxisbeispiel wurde der RuT-Besuchsdienst »Zeit für Dich« für Beate zu einem wichtigen unterstützenden und stabilisierenden Faktor. Regelmäßig Besuch von einer Frau zu bekommen, die selbst lesbisch und eine verständnisvolle Zuhörer*in und Gesprächspartner*in für angstund vorurteilsfreie Kommunikation ist, und die sie zu Veranstaltungen in der Community begleitet, hilft, aus der Isolation herauszukommen und steigert das psychische Wohlbefinden. Für die Mitarbeiter*innen von RuT ist es wichtig, für Einrichtungen der offenen und stationären Alten- und Behindertenhilfe Unterstützung anbieten zu können, die einen respektvollen und selbstreflektierenden Umgang mit ihren lesbischen Bewohner*innen und Besucher*innen fördert. RuT gibt hierfür sachkundige Informationen und bietet Sensibilisierung und Weiterbildung für Mitarbeitende an. Weiterführende Literatur

8 Weitere Lernmaterialien finden Sie im Downloadbereich zu ­diesem Buch

Brauckmann, S./Schmauch, U. (2007): Lesbische Frauen im Alter – ihre Lebenssituation und ihre spezifischen Bedürfnisse für ein altengerechtes Leben. Forschungsbericht des gFFZ. Frankfurt am Main. Czakert, J. (2016): Zeit für Dich. L-MAG-das Magazin für Lesben. Berlin. RuT, Rad und Tat e. V. (2006): Lesben und Schwule – (k)ein Thema in der Altenpflege? Dokumentation zum Fachtag vom 23. Mai 2006 in Berlin Neukölln. RuT, Rad und Tat e. V. (2008): Dokumentation der Fachtagung Besuchsdienste für Lesben im Alter vom 23./24. Mai 2006 in Berlin. Schröder U. B./Schondelmayer A. C./Scheffler, D. (2012): Gesamtevaluation zur Initiative »Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt«. Ergebnisbericht. In: Landesstelle für Gleichbehandlung gegen Diskriminierung (Hg.) Dokumente lesbischschwuler Emanzipation Nr. 28.

4.1.4 TransInterQueer (TrIQ) e. V. Nora Eckert und Max Roetz

Hintergrund Der Verein TransInterQueer (TrIQ) wurde 2006 von und für trans*- und inter*geschlechtliche sowie queer-lebende Menschen gegründet. Er hat sich seither zu einem sozialen Zentrum der Berliner Community entwickelt, dessen Aktivitäten die Bereiche Politik, Kultur und Forschung einschließt. Darin eingeschrieben sind als wesentliche Ziele: Emanzipation von trans*-, inter*- und queer-lebenden Menschen, mehr Akzeptanz für die sich daraus ergebenden Lebensweisen, Abbau der Tabuisierung, Pathologisierung und Exotisierung aller Menschen, deren Geschlecht oder Geschlechtsausdruck (gender expression) von der Heteronorm als einem strikt binären Modell abweicht sowie Abbau von damit zusammenhängenden Vorurteilen und Diskriminierungen. In praktische Arbeit umgesetzt, bedeutet das eine thematisch breit gefächerte Aufklärung (Öffentlichkeitsarbeit, Präsenz bei Veranstaltungen und Publizistik) und als besonderen Schwerpunkt ein professionelles Beratungsangebot in den Bereichen Trans*, Inter* und Queer. Ein wesentliches Merkmal unserer Beratung wie unserer gesamten Aktivität: Wir sind selbst alle trans*, inter* und queere Menschen. Wir bringen immer auch eigene Alltagserfahrungen in unsere Arbeit ein. Unser Wissen ist ein Wissen aus erster Hand. Zum Angebot von TrIQ gehören außerdem regelmäßige Gruppentreffen, die nicht zuletzt einen Beitrag zum Zusammenhalt sowohl innerhalb des Vereins als auch nach außen in die Community leisten (Stichwort »solidarisches Verhalten«), sodann Fort- und Weiterbildungen, das Transgenderradio, ein Archiv (Bibliothek), Kulturveranstaltungen und das Projekt Trans*Visible. Innerhalb des letztgenannten Projekts, das sich wiederum aus verschiedenen Arbeitsgruppen zusammensetzt (so beispielsweise zum Bereich Sexarbeit), etablierte sich das sogenannte Besuchsprojekt Öfter mal Besuch bekommen, das sich explizit an ältere trans*, inter* und queere Menschen richtet. Begonnen hatte es mit dem TrIQ-Kernprojekt Beratung, Bildung und Gruppenarbeit zu

/ TrIQ setzt sich für Emanzipation, Abbau von Tabuisierung und Vorurteilen ein

/ Projekte für ältere trans*, inter*, queere* Menschen bei TrIQ

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Nora Eckert und Max Roetz

Trans* und Inter*, aus dem zuerst ein Themenabend und eine auf »Alter« thematisch ausgerichtete Gruppe hervorgingen. 2013 gab es noch einmal einen motivierenden Anschub, und zwar durch einen Workshop auf der Berliner Trans*-Tagung, wo ein Vertreter* der Münchner Gruppe rosaAlter die Problematik des Altwerdens und des Altseins angesprochen hatte, eine Problematik, die sich bis dahin wohl auf kaum einer Agenda der trans*-, inter*-, queeren Selbstorganisationen befunden hat und dessen Dringlichkeit jedoch unmittelbar erkannt wurde. Denn absehbar war, das Thema »Alter« würde uns über kurz oder lang eingeholt haben, und zwar schon aus simplen biologischen Gründen. Es galt zu reagieren und sowohl eine Sensibilität für das Thema als auch Strategien für den künftigen Umgang mit dem Thema zu entwickeln. Auf jeden Fall bedeutete es Neuland, zumal das Altwerden und Altsein in einer vor allem jugendbetonten hippen Community eher verdrängt wird, was hier ebenso die Frage nach dem Generationenverhältnis innerhalb der Community aufwirft. Und so kam es, dass bei TrIQ die damals anstehenden Projektplanungen um das Thema »Alter« erweitert wurden. Nachdem finanzielle Mittel für Trans*Visible durch das beim Bundesministerium für Familie angesiedelte Programm »Demokratie leben« bereitgestellt wurden, wenn auch für das Projekt »Alter« in einem äußerst bescheidenen Umfang (mit nur 5 Wochenstunden klar unterfinanziert), begann 2015 die konkrete Arbeit sowohl mit der Einrichtung eines regelmäßigen Gruppentreffens als auch Ende 2018 mit dem Start des Besuchsprojekts. Das Thema »Alter« sollte in den vergangenen Jahren auch durch geeignete Beiträge im Transgenderradio ins Bewusstsein der Community gebracht werden. Festzustellen bleibt eine auffallend zurückhaltende Resonanz im Hinblick auf eine aktive Beteiligung aus den Reihen der Community. Sichtbar wurde aber zugleich der Bedarf und erkennbar wurde ebenso, wie unsichtbar ältere trans*-, inter*- und queer-lebende Personen in der Community sind. Ein unbedingt zu ändernder Umstand. Herausforderungen / Herausforderungen für trans*, inter* und queere* Menschen im Alter

Die Bedarfsfrage beim Thema »Alter« zu stellen, sollte sich eigentlich erübrigen, denn wir Menschen werden alle älter und irgendwann stehen für alle mal mehr, mal weniger spürbar die spezifischen Altersprobleme auf der Tagesordnung, ob wir es wollen oder nicht. Die Stichworte sind hier die all­bekannten gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die Einschränkungen in der Mobilität, die Vereinzelung und in der Folge die Vereinsamung und so das Abgleiten in prekäre Lebenssituationen.

TransInterQueer (TrIQ) e. V.

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Insofern unterscheidet uns das nicht vom Rest der Menschen, aber mit Blick auf Trans*, Inter* und Queer gelangen zusätzlich sehr spezielle Aspekte in den Fokus – so beispielsweise in Fragen der Körperlichkeit, die als besondere Herausforderung im Umgang mit uns zu bewerten sind. Wir besitzen nun einmal von der Heteronorm abweichende Körper, und unsere Genitalien passen nach heteronormativen Vorstellungen in den meisten Fällen nicht zu unseren gelebten Identitäten. Auch der Aspekt der Vereinsamung gewinnt mit Blick auf Trans*-Lebensweisen noch eine Verschärfung, etwa durch die Erfahrung von Ausgrenzung und durch fehlende Akzeptanz und offen gezeigte Ablehnung im sozialen Raum, die ältere Cis-Menschen in dieser Weise nicht erleben. Mit der Einrichtung einer Gruppe für Ältere, die als Diskussionsrunde begann und als Stammtisch fortgesetzt wurde, verbindet sich die Erfahrung eines im Laufe der Zeit leider abnehmenden Interesses. Hier wären neue Konzepte zu überlegen, um mehr Attraktivität zu erreichen. Bei TrIQ führte das zu der Einsicht, die Thematik in der Community mehr als bisher ins Bewusstsein zu rücken. Wir müssen wohl selbst erst ein Bewusstsein schaffen für unumgängliche Zukunftsfragen, was Max Roetz (zuständig für dieses Arbeitsfeld bei TrIQ) in einem Statement so formulierte: »Ich finde es wichtig, dass wir uns ein paar Fragen stellen. Zum Beispiel: Wie wollen wir leben, wenn wir alt sind, was sind unsere Ängste, was unsere Visionen? Was können wir im Vorfeld tun, damit Pflegebedürftigkeit kein Alptraum für uns wird oder wir nicht einsam und alleine, womöglich noch in Armut vor uns hinvegetieren? Aber auch, was macht es so positiv, als trans*, inter* und/oder genderqueere Person alt zu werden oder alt zu sein?«21 An anderer Stelle, nämlich in einem Redebeitrag anlässlich einer von der RosaLuxemburg-Stiftung veranstalteten Podiumsdiskussion, spricht Max Roetz von wichtigen Anliegen älterer trans*, inter*, queerer Menschen: Ȥ »den Kontakt zur Community und anderen Menschen behalten, Ȥ mehr Besuchsprojekte, um Einsamkeit zu entgehen, Ȥ Teilhabe an allen Aktivitäten außerhalb der eigenen vier Wände gewährleisten, Ȥ solidarisch sein und handeln, denn Altersarmut trifft hauptsächlich trans*inter*-Personen, 21 Im Rahmen einer Moderation im Transgenderradio Herbst 2018 geäußert, Datierung nicht mehr rekonstruierbar.

/ Thematik Alter muss in der Community mehr ins Bewusstsein gerückt werden

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Nora Eckert und Max Roetz

Ȥ Pflegeeinrichtungen, Altenheime, Krankenhäuser, Ärzt_innen und Pflegedienste müssen dringend zu trans*inter* sensibilisiert werden, Ȥ Hausprojekte mit Einzelwohnungen und WGs (auch generationenübergreifend) sollte es in großer Zahl geben, denn hierfür bestünde ein großer Bedarf.«22

/ Positive Erfahrungen mit dem Besuchsprojekt Öfter mal Besuch bekommen

Die zuletzt angesprochenen Hausprojekte würden über die eigentliche Arbeit bei TrIQ weit hinausgehen, doch wäre es ohne Frage das Engagement wert, die zur Realisierung einer solchen Vision erforderlichen Institutionen an einen Tisch zu bringen. Mit dem Ende 2018 begonnenen Besuchsprojekt Öfter mal Besuch bekommen verbinden sich mittlerweile positive Erfahrungen. Am Anfang stand die Suche nach Menschen, die besucht werden wollen und solchen, die besuchen. Der nächste Schritt bestand darin, die zueinander passenden Menschen herauszufinden. Das war zunächst über einen Abgleich gemeinsamer Interessen leicht zu bewerkstelligen, aufgeteilt nach Aktivitäten im häuslichen Bereich und nach Begleitungen im Außenbereich (Spaziergänge, Ausflüge, Besuch von Veranstaltungen, Kinobesuche, Café- und Restaurantbesuche). Abgefragt wurden außerdem alle zu beachtenden individuellen Gegebenheiten der zu Besuchenden, ob die Person beispielsweise geoutet ist, ob einschränkende Erkrankungen vorliegen, ob es Hauspflege oder gesetzliche Betreuung gibt. Erarbeitet wurden schließlich eine »Vereinbarung mit dem/ der Besucher*in« und ein »Merkblatt für die besuchte Person«, in denen Grundregeln für die Besuche festgelegt wurden. Welche Inhalte die Besuche dann haben würden, sollte durch die beteiligten Personen unmittelbar entschieden werden. Aufgestellt wurden auch Verhaltens- und Diskretionsregeln. Schlussfolgerungen

/ Mehr Sichtbarkeit für ältere trans*, inter*, queere* Menschen in der ­Gesellschaft

Wir fordern gesellschaftliche Sichtbarkeit von trans*, inter*, queeren Menschen und sollten dabei nicht vergessen, dass es mit dem gleichen Anspruch auf Solidarität um die Sichtbarkeit von Älteren in unserer Community gehen muss. Wir brauchen mehr Vorsorge-Bewusstsein, weshalb »Alter« bei all unseren Projekten mitgedacht werden sollte und nicht nur als ein Sonderproblem zu behandeln ist. Und dies steht klar auf der To-do-Liste von TrIQ. 22 Statement im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema »Recht auf Stadt queer aneignen. Wie können wir uns gegen Gentrifizierung, Verdrängung und Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt organisieren?« im »Aquarium« am Kottbusser Tor, 20.03.2019.

4.1.5 Intersexuelle Menschen e. V., Bundesverband23 Lucie Veith

Könnten Sie uns bitte zunächst den Verband und seine Ziele vorstellen? Lucie Veith: Der Verband Intersexuelle Menschen e. V. wurde 2004 von den Mitgliedern der Selbsthilfegruppe »xy-Frauen« initiiert, die 1997 gegründet worden war. Ein solcher Verband war notwendig geworden, weil es damals keinen rechtlichen Status für intergeschlechtliche Menschen gab, deren Lebensrealität in den Normen einer biologischen Zweigeschlechtlichkeit nicht abgebildet werden kann. Ein solcher rechtlicher Status ist auch erforderlich, um finanzielle Unterstützungsleistungen für die Selbsthilfen in der Gesundheitsversorgung erhalten zu können. Der Verband ist in größtenteils unselbstständige Landesverbände untergliedert, die unter regional höchst unterschiedlichen Bedingungen aktiv sind. Dies wirkt sich auf Engagement und Einfluss der Landesverbände aus. Die Ziele des Bundesverbands sind die Förderung, Finanzierung und Unterstützung der Selbsthilfe. Die Arbeit ist nicht regional begrenzt, sondern erfolgt bundesweit. Die Peer-to-Peer-Beratung erfolgt aufsuchend, d. h., ist immer mit persönlichem Kontakt verbunden. Dabei geht es darum, die vorhandenen Netzwerke zu berücksichtigen, vor allem dann, wenn die Ursprungsfamilien nicht mehr da sind. Innerhalb der letzten 10 Jahre hat sich der Verband immer mehr von der Selbsthilfe auch zum Sprachrohr für intergeschlechtliche Menschen und zum Lobbyverein für ihre Interessen entwickelt. Ein besonders wichtiges Anliegen ist die Verbesserung der Gesundheitsversorgung intergeschlechtlicher Menschen; dabei werden Anliegen und Forderungen stets aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive und deshalb in Vermitt-

23 Das Gespräch wurde telefonisch geführt und verschriftlicht von Regina Brunnett.

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Lucie Veith

lung mit Grund- und Menschenrechten formuliert. Nur so können sie wirksam werden. Es geht aber immer auch darum, dass Gesundheitsversorgung und Pflege bedarfs- und bedürfnisgerecht sein sollen und vorhandene spezielle Leitlinien Anwendung finden und die Teilhabe der zu versorgenden Person ermöglicht wird. Der Aussage stimmen wir in jedem Fall uneingeschränkt zu. Könnten Sie uns berichten, welche besonderen Bedürfnisse und Bedarfe intergeschlechtliche Menschen im Alter haben können? / in der Regel keine Erfahrung unversehrter Körperlichkeit

/ Häufige T­ raumata bei »jungen Alten«

Lucie Veith: Intergeschlechtliche Menschen konnten in der Regel keine unversehrte Körperlichkeit (er-)leben, sondern müssen mit überwiegend in der Kindheit zugefügten Verletzungen der Genitalien leben, welche irreversibel sind und lebenslang bestehen. Daher gibt es viele Sonderbedürfnisse, die in der Altenhilfe, besonders in der Pflege im Alter, zu berücksichtigen sind. Dazu gehören ganz wesentlich die erlebten Traumata, die in der Generation der jetzt »jungen Alten« sehr häufig sind. Vielfach können intergeschlechtliche Menschen aber darüber nicht sprechen. Dabei wirken verschiedene Bedingungen zusammen, die den Umgang dieser Generation mit ihrer Intergeschlechtlichkeit stark geprägt haben: Da sind zunächst sozio-kulturell tradierte Umgangsweisen seit dem Nationalsozialismus – während dieser Zeit war das Verschweigen und Verbergen nicht-normativer Körperlichkeiten überlebensnotwendig. Später hatte die sogenannte »Zeitfenstertheorie« des u. a. auf Geschlechtsidentitätsentwicklung und Intersexualität spezialisierten Arztes John Money (1921–2006) erheblichen Einfluss. Diese besagte, dass die Geschlechtsidentität in einem Zeitfenster von mehreren Monaten bis zu 2 Jahren unbestimmt sei und daher kosmetische geschlechtsvereindeutigende Operationen unproblematisch seien, weil Kinder »einfach« in die zugewiesenen Geschlechtsrollen hineinsozialisiert werden könnten (Intersexuelle Menschen e. V.; xy-Frauen 2010).24 Dies bildete die Grundlage für die Praxis der kosmetischen Operationen im Kindesalter, welche sich in den frühen 1970er-Jahren etablierte. 24 Diese Schlussfolgerung stützte sich auf ein gescheitertes Experiment mit einem Jungen als Teil eines Zwillingspaars, der sich jedoch im Erwachsenenalter suizidierte. Das Scheitern dieses Experiments war jedoch nicht veröffentlicht worden, sodass sich hierauf ein Behandlungsstandard der geschlechtsvereindeutigenden kosmetischen Operationen im Kindesalter stützen konnte (Intersexuelle Menschen e. V., XY-Frauen 2010, S. 15 f.).

Intersexuelle Menschen e. V., Bundesverband

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Schließlich verhinderten viele Familien intergeschlechtlicher Jugendlicher und Erwachsener, sofern diese überhaupt über ihre Intergeschlechtlichkeit Bescheid wussten/wissen, mit anderen darüber zu sprechen. Daher ist die eigene Intergeschlechtlichkeit bis ins Alter häufig schambesetzt – dies dürfte für all diejenigen, die vor 1990 geboren sind, die Regel sein. Daher hat sich häufig Sprachlosigkeit manifestiert, die das Verhältnis zur eigenen Identität und zum eigenen Selbstverhältnis massiv erschwert. Alte Inter*-Menschen sind sich ihrer Intergeschlechtlichkeit häufig nicht bewusst und es fällt ihnen, auch wenn sie ihnen bewusst ist, nicht selten schwer, diese im Kontakt mit anderen zur Sprache kommen zu lassen. Nicht wenige intergeschlechtliche Menschen tragen eine tiefe Trauer in sich, die einer Würdigung und guten Begleitung bedarf. Frühe Gewalterfahrungen in der medizinischen Versorgung im Genitalbereich führen sehr häufig zu lebenslang wirksamen Traumata. Die Betroffenen sind durch die Operationen häufig ungewollt unfruchtbar, partnerschaftliche Sexualität war häufig lebenslang erschwert. Vielfach fühlen die Betroffenen als Folge der Operationen Taubheit im Bereich der Genitalien oder sind hoch empfindlich. Nicht wenige sind so traumatisiert, dass sie den Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen im Laufe ihres Lebens verloren haben, und sich daher nicht angemessen selbst versorgen können. Solche Erfahrungen wirken sich unmittelbar auf die pflegerische und medizinische Versorgung aus. Werden sie im Rahmen von Pflege nicht angemessen berücksichtigt, so ist eine Re-Traumatisierung möglich, die potenziell durch jede pflegerische Handlung erfolgen kann. Die meisten intergeschlechtlichen Menschen fürchten sich daher massiv vor Pflegebedürftigkeit und vor Einrichtungen der stationären Langzeitpflege, besonders vor Mehrbett-Zimmern. Viele alte Inter*-Menschen weigern sich in Pflegeeinrichtungen einzuziehen. Aufgrund von Diskriminierungserfahrungen haben nicht wenige den Zugang zur medizinischen Versorgung längst verloren. Daraus kann gravierende medizinische und pflegerische Unterversorgung resultieren, mit allen Konsequenzen.

/ Häufig Sprachlosigkeit

/ Nicht selten tiefe Trauer

/ Re-Traumatisierung möglich / Inter*Menschen haben häufig große Angst vor Pflegeeinrichtungen

Was können Einrichtungen der stationären Langzeitversorgung tun, um den Bedürfnissen und Bedarfen von Inter*-Menschen gerecht werden zu können? Lucie Veith: Zeigen Pflegekräfte eine ablehnende Haltung in Einrichtungen der Pflege und Gesundheitsversorgung gegenüber intergeschlechtlichen Menschen, so führt dies leicht zu Re-Traumatisierungen. Für Pflegeeinrichtungen ist es daher besonders wichtig, sich Fachkenntnisse anzueignen,

/ Bedürfnisse intergeschlechtlicher Menschen kennen und sie diskriminierungsfrei versorgen können

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Lucie Veith

in den Organisationen strukturell zu verankern und sicherzustellen, dass Fachkräfte sensibilisiert und gut informiert sind. Über folgende Kompetenzen sollten pflegende und betreuende Fachkräfte idealerweise verfügen:

/ Direkt nach gewünschter Anrede fragen

/ Wissen über Intergeschlechtlichkeit und ­medizinische Diagnosen

/ Wissen über körperliche Besonderheiten und Bedarfe

… in Bezug auf intergeschlechtliche (Geschlechts-)Identitäten Vielen älteren und alten Menschen ist ihre Intergeschlechtlichkeit selbst nicht bewusst oder/und sie können sie nur schwer zur Sprache bringen. In der Regel verstehen sich gerade die älteren Inter*-Personen nicht als »divers« oder als »queer«, sondern sind fest in ihren Geschlechtsidentitäten und selbst gewählten Geschlechterrollen verwurzelt, auch wenn ihr Körperbild davon abweicht. Daher ist es wichtig, dass Fachkräfte in der Pflege und in der Betreuung diese in der Anrede adressieren. Es gilt: ggf. direkt nach der gewünschten Anrede fragen. Die Frage »Wie darf ich Sie ansprechen?« ist dabei hilfreich. … in Bezug auf intergeschlechtliche Körperlichkeit(en) Hier geht es um Wissen über verschiedene Formen von (Inter*-)Geschlechtlichkeit sowie eventuelle Diagnoseschlüssel (ICD), wie sie in Kranken- und Pflegeakten auftauchen können. Mit der Beachtung von Diagnoseschlüsseln und Behandlungen im Lebensverlauf wird die Aufmerksamkeit auf (mögliche) besondere körperliche Situationen und körperliche Bedarfe intergeschlechtlicher Menschen gelenkt. Damit übernehmen Pflegefachkräfte die Verantwortung für die angemessene Pflege und müssen sich nicht darauf verlassen, dass intergeschlechtliche Menschen ihnen dies mitteilen können. Dabei ist zu beachten, dass Diagnoseschlüssel einem zeitlichen Wandel unterliegen, aber dass die Pathologisierung sich nicht verändert hat. In der Hamburger und Lübecker Studie wurde etwa deutlich, dass 96 % der Menschen behandelt wurden, d. h., dass (fast) jede Abweichung in der Praxis eine Indikation zur Behandlung darstellt (zit. nach Deutscher Ethikrat 2012, S. 66). Vielfach wird eine Gonadektomie durchgeführt; dabei ist die hormonelle Versorgung häufig schlecht, was sich im Laufe des Lebens auf die inneren Organe auswirkt. Wurde Inter*-Menschen etwa in der frühen Kindheit operativ die Harnröhre verlegt, so ist es möglich, dass sie Verwachsungen haben, die das Legen eines Blasenkatheters erschweren. Des Weiteren können Inter*Menschen im Alter körperliche Empfindungs-Probleme aufweisen, die von Hyperempfindlichkeit bis zur Taubheit reichen, Form und Funktionen der Genitalien haben sich nach den Operationen vielfach verändert.

Intersexuelle Menschen e. V., Bundesverband

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Dies bedarf einer besonders behutsamen körperlichen Pflege. Schließlich ist zu beachten, dass die körperlichen Anlagen (und nicht der Personenstand) bestimmen, welche Früherkennungs-Untersuchungen notwendig sind, sonst kann z. B. eine bösartige Wucherung im Hoden einer Person mit einem weiblichen Erscheinungsbild übersehen werden. Nicht zuletzt sollte der hormonellen Versorgung von intergeschlechtlichen älteren Menschen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil diese körperlichen Erkrankungen und Funktionsbeeinträchtigungen ursächlich zugrunde liegen kann. Schließlich ist – was sozialrechtlich bedeutsam ist – zu beachten, dass inter*geschlechtliche Menschen häufig mit Folgeschäden durch die kosmetischen Operationen leben, die bei der Beantragung der Einstufung in Pflegegrade zu berücksichtigen sind. Hier ist eine weitergehende Beratung der Einrichtungen der stationären Langzeitversorgung durch die Selbstvertretungen zu empfehlen. … in Bezug auf professionelles Handeln in der Versorgung Respekt vor Körperlichkeiten und Identitäten intergeschlechtlicher Personen und bedürfnis- und bedarfsorientierte, besonders behutsame körperliche Pflege können als professionelle Standards entwickelt und umgesetzt werden, wenn sie mit einer guten Biografiearbeit verknüpft sind. Diese eröffnet intergeschlechtlichen Personen den Raum, über sich zu sprechen. Respektvolles Sprechen, zu dem u. a. eine korrekte Anrede gehört, ist dabei von besonderer Bedeutung. Könnten Sie uns ein Fallbeispiel zur Veranschaulichung geben? Lucie Veith: Eine Person, nennen wir sie Malon P., konnte in ihrer Kindheit ihr Potenzial zu vermännlichen, nicht entwickeln; vielmehr beschlossen die Eltern und Ärzt*innen aus Malon P. eine weibliche Person zu machen. Malon P. übte einen theologischen Beruf in der weiblichen Rolle aus. Im Alter jedoch wurde der Wunsch, sich selbst in der Intergeschlechtlichkeit nahe zu kommen, so groß, dass Malon P. in eine Art Re-Transition ging und sich hormonell behandeln ließ. Jedoch entwickelte Malon P. starke Stoffwechselstörungen durch die Hormoneinnahme, welche heftige körperliche Auswirkungen hatten, durch die Malon P. schwer krank und schließlich zum Pflegefall wurde. Malon P. wurde durch einen ambulanten Pflegedienst zu Hause gepflegt, unterstützt durch eine*n Bekannte*n. Malon P.’s Körper veränderte sich stark und Malon P. hatte sehr

/ Beratung durch die Selbstvertretungen

/ Gute Biografiearbeit

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Lucie Veith

starke Schmerzen; der Penis, der operativ als Klitoris gestaltet worden war, begann wieder zu wachsen. Möglicherweise wurde durch die körperlichen Veränderungen Druck auf die alten OP-Nähte ausgeübt. Niemand begleitete und kontrollierte die hormonelle Behandlung, sodass sich ein hormonabhängiger Tumor entwickeln konnte, der übersehen wurde und schließlich zum Tode führte.

In Bezug auf das Beispiel der Geschichte von Malon P. könnte Folgendes überlegt werden: (A) Welche Berufsgruppe ist dafür zuständig, dass Malon P.’s hormonelle Versorgung bedacht und begleitet wird? Bitte begründen Sie Ihre Aussagen. (B) Wie könnte es (praktisch) gelingen, dass dies in der Altenpflege und in der Betreuung alter Menschen gewährleistet wird? (C) Wie hätten Mitarbeiter*innen des ambulanten Pflegedienstes darauf kommen können, die lange zurückliegenden Operationen für die aktuelle pflegerische Situation bei Malon P. mit zu bedenken?

Welche Schlussfolgerungen würden Sie abschließend mit Blick auf die Betreuung und Pflege alter Inter*-Menschen ziehen?

/ Medizinische Dokumentation ist wichtig

/ Inter*-Personen sollten sich informiert entscheiden können

Lucie Veith: Solch gravierende pflegerische und medizinisch-diagnostische Behandlungsfehler sind dadurch mitbedingt, dass Informationen aus medizinischen Dokumentationen nicht vorliegen oder im hektischen Berufsalltag übersehen werden, spezialisierte Ansprechpersonen auf ärztlicher Seite fehlen. Es gibt noch keine interdisziplinären, auf die Behandlung erwachsener intergeschlechtlicher Personen spezialisierten Behandlungszentren. Vielmehr werden solche Behandlungen vielfach von Internist*innen durchgeführt, welche aber die lange Jahre bestehenden körperlichen Behandlungen möglicherweise übersehen können. Es bedarf daher interdisziplinärer und spezialisierter medizinischer Behandlungsmöglichkeiten für intergeschlechtliche Menschen. Den geschilderten besonderen Bedarfen von alten intergeschlechtlichen Menschen können Einrichtungen am besten gerecht werden, wenn sie informiert, reflektiert und systematisch handeln können. Hilfe und Beratung können Einrichtungen von den Selbstvertretungen, z. B. »Intersexuelle Menschen e. V., Bundesverband«, erhalten. Körperliche Unver-

Intersexuelle Menschen e. V., Bundesverband

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sehrtheit, Schutz vor Verletzung und freie, informierte Entscheidungen der Betroffenen in Bezug auf medizinische Behandlungen und pflegerische Versorgung im Alter sind unbedingt zu gewährleisten. Eine offene und »gleichwürdige« Haltung aller in der Pflege beschäftigter Menschen erleichtert die Versorgung nicht nur der intergeschlechtlich geborenen Menschen. Vielen Dank für das Gespräch! Literatur Deutscher Ethikrat (2012): Intersexualität. Stellungnahme. https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/DER_StnIntersex_Deu_Online.pdf (Zugriff am 02.12.2019). Intersexuelle Menschen e. V., xy-Frauen (2010): Parallelbericht zum 5. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zum Internationalen Pakt der Vereinten Nationen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR). http://www.im-ev.de/pdf/Parallelbericht_ Sozialpakt_deutsche_Fassung.pdf (Zugriff am 13.11.2019).

4.1.6 BiBerlin e. V.25 Paula Balov (P. B.), Madeline Seel (M. S.) und Thilo Wetzel (T. W.)

In Eurem Flyer steht, dass Ihr Euch als Verein für nicht monosexuelle Menschen versteht. Könnt Ihr uns das einmal erklären? P. B., M. S., T. W.: Mit unserem Verein möchten wir alle »nicht-monosexuellen« oder kurz »nicht-mono« Menschen ansprechen. Nicht-Monosexualität als Begehren ist ein Überbegriff für alle Menschen, die sich zu mehr als einem Geschlecht hingezogen fühlen, er schließt also auch solche Begriffe wie bisexuell (das Begehren von mindestens zwei Geschlechtern), pansexuell (das Begehren aller Geschlechter oder unabhängig von Geschlecht), polysexuell oder omnisexuell ein. Außerdem überwindet er das Denken im binären Zweigeschlechtersystem, wie es beim klassischen Begriff der »Bisexualität« assoziiert wird, da dieser aus der Biologie kommt und dort die zweigeschlechtliche Anlage bezeichnet, z. B. bei »bisexuellen Blüten«. Der Begriff Bisexualität wird von Aktivist*innen seit den 1990er-Jahren, trotz seiner binären Konnotation, nicht ausschließlich als das Begehren von Männern und Frauen verstanden, sondern schließt auch weitere Geschlechter mit ein (The Bisexual Manifesto, zit. nach Holthaus 2015, S. 22). Dieses Verständnis von Bisexualität teilen wir. Damit schließt Bisexualität genauso wie der Begriff »nicht-monosexuell« an neuere Konzepte von Queer Theory (siehe Beitrag Zeyen i. d. B.) an. Wie lange gibt es BiBerlin e. V. schon und welche Ziele verfolgt der Verein? T. W., P. B., M. S.: Der Verein BiBerlin e. V. hat sich 2018 aus einem Stammtisch im Sonntagsclub e. V. heraus gegründet, den es schon seit 2009 gibt. Teilweise gibt es Überschneidungen mit BiNe (Bisexuelles Netzwerk) e. V., die 25 Das Gespräch wurde von Regina Brunnett verschriftlicht.

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Paula Balov (P. B.), Madeline Seel (M. S.) und Thilo Wetzel (T. W.)

aber im Gegensatz zu uns bundesweit organisiert sind. Die Leute, die am Stammtisch teilgenommen haben, sind schon seit langem aktiv, z. B. als Fußgruppe beim CSD oder mit verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Aktionen zur Sichtbarkeit von Bisexuellen. So haben wir z. B. beim Berliner CSD 2019 ein Transparent mit dem Namen der in Deutschland nicht so bekannten bisexuellen LGBTIQ*-Aktivistin Brenda Howard (Voß 2019) getragen oder vor zwei Jahren auf einem Straßenfest einen Test mit 10 Fragen herausgegeben, mit dem sich Menschen als mono- oder nichtmonosexuell einstufen konnten. Es hat Schwule und Lesben schon etwas irritiert, dass sie sich dann mit Heterosexuellen in einer Kategorie wiedergefunden haben. (lachen) Die Formalisierung und Institutionalisierung als Verein bietet uns die Möglichkeit, Kooperationen aufzubauen, uns an Ausschreibungen zu beteiligen und besser politischen Einfluss nehmen zu können. Wir möchten als relevante Gruppe in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden und so die Sichtbarkeit von Bisexuellen steigern. Bisexuelle werden in der Regel nicht genannt, oder mitgenannt, unsere Belange fallen dabei in aller Regel unter den Tisch. Als Verein können wir auch besser auf Beiträge und Stellungnahmen angesprochen werden. Dies passiert uns durchaus inzwischen häufiger. Madeline wurde z. B. bezüglich einer großen Anfrage an die Bundesregierung zum Thema »Gesundheitliche und soziale Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans*- und inter*-geschlechtlichen Menschen (LSBTI)« angesprochen und gebeten zu überprüfen, ob die Belange von bisexuellen Menschen ausreichend vertreten sind. Es geht uns auch darum, Bi-Feindlichkeit als eigenständige Diskriminierungskategorie sichtbar zu machen, die keineswegs als »Homophobie light« verharmlost werden kann. Der Verein ist dabei den übergeordneten gesellschaftlichen Zielen der Vielfalt und Solidarität verpflichtet und deshalb solidarisch mit anderen LSBTIQ*-Gruppen. Was zeichnet die Lebenslagen bisexueller bzw. nicht-monosexueller Menschen aus? P. B., M. S., T. W.: Da gibt es zunächst viele Vorurteile, die uns von Heterosexuellen, aber auch von Lesben und Schwulen entgegengebracht werden. So gelten insbesondere bisexuelle Frauen als »unentschlossen«, sie seien »nur zu ängstlich, um sich zu outen«. Insbesondere den Frauen wird sehr häufig unterstellt, sie seien »eigentlich heterosexuell«, vermutlich, weil

BiBerlin e. V.

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Beziehungen und Sex mit Männern gesellschaftlich immer noch höher gewertet werden als die mit Frauen. Von Seiten der queeren Community wird nicht-monosexuellen Menschen häufig unterstellt, sie könnten »auch hetero leben, wenn sie wollten« und würden daher »alle Privilegien, die auch die heterosexuelle Mehrheitsbevölkerung hätte«, genießen. Ihre nicht-heterosexuellen Beziehungen werden nicht ernst genommen und Diskriminierungen heruntergespielt. Weil die sexuelle Identität von nicht-monosexuellen Menschen über das Geschlecht des/der Partner*in definiert wird, wird sie nicht ernst genommen. Lebt ein Mann* in einer Beziehung mit einer Frau*, ist er nach diesem Verständnis hetero*, in einer Beziehung zu einem Mann schwul*. Bisexuelle Identität wird unsichtbar gemacht, oder graduell zu bestimmen versucht, nicht selten, um sie dann »wegzudefinieren«. »Mach doch nicht so ein Ding draus, wir sind doch alle ein bisschen bi«, heißt es. Eine Bezeichnung sexueller Praxis und der Verzicht auf identitätsstiftende Kategorien, wie der Begriff MSM (Männer, die Sex mit Männern haben), der im Rahmen der Aids-Krise eingeführt wurde, konnten sich nicht durchsetzen. Nicht-monosexuelle Frauen müssen sich daher in Dating-Szenarien immer outen, um sich vor Biphobie zu schützen. Bei Schwulen ist dies, soweit uns bekannt, eher unwichtig, da steht häufiger Rassismus und Ablehnung nicht-normativer Körper im Vordergrund. Bei Lesben ist das abhängig von der jeweiligen Szene, da haben wir unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Der Mainstream der Lesben, die in Dating-Portalen inserieren, schreibt immer noch häufig »no bi« in die Kontaktanzeigen; hier ist die Angst groß, dass eine nicht-monosexuelle Frau sie für einen Mann verlässt. Dadurch bekommen nicht-monosexuelle Frauen häufig das Gefühl, sich permanent für ihre sexuelle Identität entschuldigen zu müssen. Nicht-Monosexuelle sind für Heterosexuelle wie auch für Lesben und Schwule häufig eine starke Projektionsfläche für Sexualität und sexuelle Phantasien – ihnen wird häufig »Promiskuität«, »Geilheit« und »das Übertragen von Geschlechtskrankheiten« in die sogenannte »Allgemeinbevölkerung« unterstellt, wie in der Aids-Krise der 1980er-/1990er-Jahre vor allem den nicht-monosexuellen Männern. Nicht-monosexuelle Frauen werden häufig hypersexualisiert; einer Umfrage in den USA zufolge erleben sie deutlich häufiger als die heterosexuelle Mehrheitsbevölkerung und als Lesben sexualisierte Gewalt (CDC. Division of Violence Prevention 2010).

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Paula Balov (P. B.), Madeline Seel (M. S.) und Thilo Wetzel (T. W.)

Besonders ältere Lesben und Schwule bringen uns häufig eine Haltung »wir haben gekämpft, ihr macht euch das so einfach«, entgegen. Uns wird nicht selten unterstellt, wir wollten die Community »klauen« oder »spalten«. Nicht-monosexuelle Menschen werden so immer von allen Seiten belächelt, wenn nicht, wie häufig, abgelehnt – dies aber treibt nicht wenige Menschen in die soziale Isolation. Es wundert nach alldem daher nicht, dass bisexuelle Menschen deutlich häufiger als die heterosexuelle Mehrheitsbevölkerung und als Lesben und Schwule an psychischen Erkrankungen (Angststörungen, depressive Verstimmungen, Suizidgedanken) leiden (Katz-Wise/Mereish/Woulfe 2017). Welche Lebenslagen und Bedarfe haben ältere bisexuelle Menschen Eurer Erfahrung nach? T. W., P. B., M. S.: Manchmal kommen ältere Menschen, die bisexuell sind, zu unserem Stammtisch. Viele sind oder waren verheiratet, häufig war ihre Bisexualität in der Ehe kein Thema oder sie waren vielleicht in einer monogamen Beziehung glücklich. Nicht selten entsteht im höheren Alter, nach Scheidung oder Verwitwung, noch einmal der Wunsch, »die nicht oder weniger gelebten Seiten in sich« zu erkunden oder auszuleben. Fallbeispiel Eine Lesbe, 75 Jahre alt, nennen wir sie Anastasia W., hatte sich nach einem langen Leben in verschiedenen Beziehungen mit Frauen in höherem Alter in einen Mann verliebt. Sie war schwer erkrankt, fühlte sich in der Beziehung so sehr mit ihm verbunden, geliebt und unterstützt, dass sie ihn geheiratet hat. Damit hat sie aber ihre Glaubwürdigkeit in der Lesbenszene verloren – es haben sich nach und nach alle Freund*innen, auch langjährige, von ihr zurückgezogen, sodass sie im hohen Alter sozial völlig isoliert war.

Folgende Fragen könnten hierzu gestellt werden: (A) Wie würden Sie die sexuelle Identität von Anastasia W. bezeichnen?; Wie würden Sie diese erfragen, wenn Sie sich nicht sicher sind? Bitte lesen Sie den gesamten Text vor Beantwortung dieser Fragen noch einmal genau durch.

BiBerlin e. V.

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(B) Wenn Anastasia W. an einem Angebot der Freizeitgestaltung für Senior*innen teilnehmen würde, was könnte Anastasia W. benötigen, um sich wohlzufühlen? (C) Welche Methoden könnten Sozialarbeiter*innen in der Arbeit mit Anastasia W. am besten verwenden, um ihr gerecht zu werden? Welche Schlussfolgerungen zieht Ihr aus Euren bisherigen Ausführungen im Hinblick auf die Versorgung alter Menschen? P. B., M. S., T. W.: In Bezug auf Altenhilfe, besonders in Bezug auf Pflege, ist uns nichts bekannt. Wir wissen nicht, was nicht-monosexuelle ältere Menschen brauchen und wie sie durch Professionelle im Alter hierin unterstützt werden können. In den gängigen Broschüren über die Pflege von Lesben und Schwulen werden Bisexuelle meist einfach mitgenannt, ohne dass ihre besonderen Lebenslagen und Bedürfnisse Beachtung finden. Die »doppelte Unsichtbarkeit« nicht-monosexueller Menschen zieht sich also bis ins höhere Alter. Es ist sehr wichtig, dass künftig in der Altenhilfe die Selbst-Identifikationen der Menschen wahrgenommen werden und bi- und nicht-monosexuelle Menschen stärker sichtbar werden. Unsere Community muss auch im Rahmen der Altenhilfe mitgedacht werden! Vielen Dank für das Gespräch! Literatur CDC. National Center for Injury Prevention and Control (2010): The National Intimate Partner and Sexual Violence Survey. 2010 Findings on Victimaziation by sexual orientation. Atlanta Georgia. Holthaus, C. (2015): The Future of Bisexual Activism. QED: A Journal in GLBTQ Worldmaking, 1 (2), 22–36. Katz-Wise, S. L./Mereish, E. H./Woulfe, J. (2017): Associations of bisexual-specific minority stress and health among cisgender and transgender adults with bisexual orientation. Journal of Sex Research, 54, 899–910. https://doi.org/10.1080/00224499.2016.1236181. Ritter, K./Voß, H.-J. (2019) (Hg.): Being Bi. Bisexualität zwischen Unsichtbarkeit und Chic. Göttingen. Voß, H.-J. (2019): Bisexualität aus historischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive – einige Schlaglichter. In: K. Ritter/H.-J. Voß (Hg.): Being Bi. Bisexualität zwischen Unsichtbarkeit und Chic (S. 15–35). Göttingen.

4.1.7 Lebensstile, Sexualität und Umgang mit HIV/Aids im Alter aus der ländlichen Perspektive – Beispiele aus der Arbeit der Aidshilfe Holger Kleinert

Hintergrund Als Mitarbeiter einer Aidshilfe gehört insbesondere die zielgruppenspezifische Prävention für Schwule und andere Männer*, die Sex mit Männern* (MSM)26 haben zu meinem Aufgabengebiet. Aidshilfe27 arbeitet vom Selbstverständnis her vorwiegend strukturell präventiv. Das umfasst die gesamten Lebenssituationen von Personen, die besonders vulnerabel für eine HIV-Infektion sind, weil sie aus unterschiedlichen Gründen, z. B. als substanzkonsumierende oder homosexuelle Person, einer besonderen Stigmatisierung ausgesetzt sind. Das Konzept der »Strukturellen Prävention« nimmt die Ursachen von Stigmatisierung ins Visier und arbeitet gegen Diskriminierung mit dem Ziel, dass diese Menschen, zum Beispiel durch erhöhtes Selbstwertgefühl, sich und ihre Gesundheit als schützenswert betrachten. Ursprünglich wurde dieser Begriff von Hans Peter Hauschild geprägt (Drewes/Sweers 2010). Personen der Nachkriegsgenerationen haben inzwischen das Senior*innenalter erreicht. Die Biografien dieser Menschen sind geprägt von Verfolgung und Diskriminierungserfahrungen. Der § 175 des StGB, der männliche Homosexualität unter Strafe stellte, wirkte in beiden deutschen Staaten beispielsweise über Anträge auf Rehabilitation bis in die jüngere Vergangenheit (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz 2019). Schwule Männer* erzählten mir, dass sie ihre sexuelle Orientierung über viele Jahre versteckt haben und lebten ihre Sexualität häufig nur im Verborgenen aus (Lautmann 2011). Oftmals immer mit der Angst, dass man an 26 Hier beziehe ich mich auch auf Trans*-Männer. Der Begriff MSM bezieht Männer mit ein, die zwar Sex mit Männern haben, aber sich selbst nicht unbedingt schwul, homo- oder bisexuell identifizieren. 27 Aidshilfe wird hier beabsichtigt nicht mit einem Artikel dargestellt, da es unterschiedliche Arbeitsweisen in unterschiedlichen Aidshilfen gibt und somit auch nicht »die eine Aidshilfe«.

/ Arbeit in der Aidshilfe und der Blick auf das Klientel

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/ Historische Einflussfaktoren: § 175 StGB

Holger Kleinert

jemanden geraten könnte, der als Spitzel arbeitet oder der dazu gebracht wird andere zu denunzieren – wie ein ehemaliger Richter in einem Interview mit der Zeitung »Zeit« angibt (Federl 2017). Besonders im ländlichen Raum unterliegen Angehörige sexueller Minderheiten aufgrund fehlender Anonymität in stärkerem Maβe einer sozialen Kontrolle. Das bewog viele schwule Männer* dazu, in Städte oder Metropolen zu ziehen. Im städtischen Umfeld war es somit leichter, andere Schwule* zu treffen oder anonymen Sex zu haben. Im Jahr der Stonewall-Aufstände 1969 wurde der § 175 StGB reformiert, was dazu führte, dass Homosexualität unter Erwachsenen (ab 21 Jahren) nicht mehr strafbar war. Es entstanden infolgedessen wieder verstärkt Schwulenbars und Tanzcafés. Rosa von Praunheims Film »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt« von 1971 gilt als Initialzündung für die moderne Schwulenbewegung in der BRD (von Kowalski 1987). 1994 fiel der § 175 StGB endgültig (in der DDR wurde auch weibliche Homosexualität kriminalisiert, jedoch wurde es hier auch schon im Jahre 1989 liberalisiert) und bis zur Einführung der »Eingetragenen Lebenspartnerschaft« bis zur Eheöffnung vergingen noch einige Jahre (Steinke 2005). Diejenigen, die im ländlichen Bereich blieben, lebten auch weiterhin zum großen Teil ihre sexuelle Orientierung im Verborgenen oder an Wochenenden in den Städten oder gar nicht aus. In zahlreichen Gesprächen bei der VorOrt-Arbeit an Cruisingplätzen, Stammtischen und in der HIV-Test-Beratung erzählten mir die Männer, wie unterschiedlich ältere Männer*, die Sex mit Männern* haben (oder gern hätten) im ländlichen Raum lebten und leben. Es wird an diesen Schilderungen deutlich, wie sehr die Ängste vor einem Outing und vor Strafverfolgung ihr Leben und ihre Lebensweise geprägt haben (siehe z. B. die Studie 50PlusHIV der Deutschen Aidshilfe). Herausforderungen: Schwule Senioren auf dem Lande

/ Herausfor­de­ rungen im ländlichen Kontext

Schwule Männer* im Seniorenalter, die heute auf dem Land leben, können in ihren Biografien sehr unterschiedliche Gründe dafür haben, warum sie dort leben. Jedoch konnte ich durch meine Arbeit Ähnlichkeiten in den Umständen dazu erkennen, die hier kurz dargestellt werden sollen. Besonders augenscheinlich ist im ländlichen Raum die zuvor genannte soziale Kontrolle. Der Nachbarschaft entgeht selten, wann wer von wem Besuch bekommt oder wer wann wie lange abwesend ist. Insbesondere »ungewöhnliche Besucher*innen« (z. B. Trans*, Drag*, Personen aus der Lederszene) werden wahrgenommen und können zum Dorfklatsch werden. Da versteckt lebende schwule Män-

Lebensstile, Sexualität und Umgang mit HIV/Aids im Alter

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ner sich und ihre Angehörigen möglichst nicht dem Gerede aussetzen wollen, verhalten sich viele möglichst unauffällig und meiden Kontakte zu offensichtlichen LSBTIQ*-Personen. Einige erzählten, dass sie soziale Ausgrenzung sowohl für sich selbst, als auch für die Angehörigen befürchteten. So sprach ich mit Schwulen*, die immer auf dem Land geblieben sind und ihr Comingout erst im hohen Alter erlebten. Oftmals war der Tod der Eltern Anlass für ein spätes Coming-out, da sie ihre sexuelle Orientierung vor ihnen bis zuletzt zu verheimlichen suchten. Hier wird das späte Coming-Out mitunter besonders tragisch, wenn es ihnen erst dann bewusst wird, dass wesentliche Eigenschaften der Persönlichkeit nicht ausgelebt wurden und vieles nicht mehr nachgeholt werden kann. Andere Männer erzählten, dass sie ihr Elternhaus niemals verlassen und niemals eine Liebesbeziehung geführt haben. Nicht wenige schwule Männer haben ihre sexuelle Orientierung durch heterosexuelle Ehen getarnt. Anlässe für spätes Coming-out sind in diesem Personenkreis entweder, dass die Kinder erwachsen geworden sind und nicht mehr zu Hause wohnen oder dass die Ehefrau, die – nicht minder tragisch – häufig nicht wusste, dass sie mit einem schwulen Mann oder einer Transfrau verheiratet war, gestorben ist. Besonders tragisch können Biografien von schwulen Männern sein, die den Absprung in die Stadt geschafft haben und dort ein unbekümmertes offenes schwules Leben führen konnten, die aber aus unterschiedlichen Gründen wieder zurück aufs Dorf mussten. Dabei kann es sich beispielsweise entweder um die Pflegebedürftigkeit von Angehörigen gehandelt haben oder die Übernahme von Familienbetrieben oder sonstige Erbangelegenheiten, sodass Personen sich wieder auf dem Lande eingerichtet haben. Es konnte sich aber auch um die eigene Pflegebedürftigkeit handeln: Gerade in Zeiten, als eine HIV-Infektion nicht behandelbar war, führte sie früher oder später zum Stadium Aids und dann zum Tode. Es gab Angehörige, die ihre schwulen Söhne zum Sterben nach Hause geholt haben, was für viele Erkrankte ein Rückschritt in eine Vor-Coming-out-Zeit bedeuten konnte. Wegen des Stigmas war es Angehörigen – immer noch – wichtig, die Homosexualität des Sohnes, und erst recht die Aids-Erkrankung zu verheimlichen. Nicht nur, dass auf Pflegedienste verzichtet wurde, es wurden auch die verbliebenen Sozialkontakte, die zu den schwulen Communitys bestanden haben, unterbunden. Als sich Mitte der 1990er-Jahre durch die Antiretrovirale Therapie (ART) die Behandlung von HIV geradezu revolutionierte, konnten viele Patienten, die sich schon dem Tode geweiht sahen, soweit davon profitieren, dass sie wieder mehr oder weniger stark am Leben teilhaben konnten.

/ Gründe für ein spätes Coming-Out

/ HIV-Infektion und Aids

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/ Umgang mit HIV/Aids im Gesundheitssystem

Holger Kleinert

Viele sahen sich aber von den Communitys abgehängt, waren durch Frühverrentung bzw. Sozialhilfebezug verarmt und hatten Freunde und Partner in den Schwulenmetropolen durch Aids verloren. So sind einige wieder im Dorf gestrandet, wo sie eigentlich nicht (mehr) leben wollten. Da das Stigma »HIV/Aids« vielfach mit dem Stigma »schwul« verknüpft wird, scheint es für einige Schwule, die schon offen gelebt haben, unumgänglich gewesen zu sein, Emanzipationsschritte zurück »in den Schrank« zu gehen. Als Mitarbeiter einer Aidshilfe, die in den ländlichen Raum hineinwirkt, hatte und habe ich viele Begegnungen dieser Art. Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass auf dem Lande nur versteckt lebende Schwule leben und dass alle Landbewohner*innen LSBTIQ*-feindlich seien. Ein wesentlicher Punkt ist jedoch, dass vermutete oder erlebte Diskriminierung bzw. Ablehnung sich negativ auf das eigene Gesundheitsverhalten auswirken kann. Seit spätestens 2008 ist bekannt, dass HIV-Infektionen, wenn sie frühzeitig medikamentös behandelt werden, dauerhaft eine Aids-Erkrankung verhindern können. Doch gerade Personen aus Gruppen, die besonders von HIV betroffen sind, lassen sich häufig nicht testen (Deutsche Aidshilfe 2019). Aus Gesprächen mit schwulen Männern, die in den letzten Jahren mit Vollbild Aids spätdiagnostiziert wurden, konnten wir erfahren, dass aus Angst vor den Stigmata »schwul« und »Aids« die Infektions-Risiken verdrängt wurden.28 Nach allem, was HIV-Patient*innen berichten, scheint in vielen Praxen und Pflegeeinrichtungen kein Klima vorzuherrschen, das einen offenen Umgang mit sexueller Orientierung oder Identität zu ermöglichen scheint. Viele Behandlungs- und Diagnosemöglichkeiten sind dadurch gerade in der Früherkennung erschwert. Patienten berichteten, dass sie ein positives und/oder schwules Outing vor dem Praxispersonal fürchteten, weil diese häufig aus demselben Ort kämen und man grundsätzlich bezweifle, dass man sich bei »delikaten Themen« tatsächlich an die Schweigepflicht halten würde. Bei diversen Mediationen und Schulungen für Praxispersonal, Ärzt*innen und HIV-Patient*innen mussten meine Kolleg*innen und ich feststellen, dass Ärzt*innen und Praxispersonal auch im Jahre 2019 zu wenig und teilweise falsche Informationen über HIV und diesbezüglicher Infektiosität und Hygiene haben. Vielen war nicht bekannt, dass im Praxisalltag bei Einhaltung der einfachen Hygiene-Regeln praktisch kein HIV-Ansteckungsrisiko besteht. Vielfach wird fälschlicherweise davon ausgegangen, dass es bei HIV-Patient*innen besonderer Hygieneanwendungen 28 Für Informationen zu HIV-Infektionen und AIDS siehe auch den Ratgeber des Robert Koch Instituts. Dieser ist verfügbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/ Merkblaetter/Ratgeber_HIV_AIDS.html (Zugriff am 29.11.2019).

Lebensstile, Sexualität und Umgang mit HIV/Aids im Alter

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bedarf. Es ist immer noch vielen nicht bekannt, dass optimal therapierte HIVPatienten sogar bei kondomlosen Sex nicht mehr ansteckend sind. Jahrelange Erfahrung durch falschen Umgang mit ihnen als HIV-Patient*innen hat dazu geführt, dass sie ihre Infektion nicht mehr offenbaren, was durchaus auch nachteilig sein kann. Insbesondere mit zunehmendem Alter nehmen die Anzahl der geriatrischen Erkrankungen und damit auch die Anzahl der Medikamente zu. Das kann riskant sein, wenn mögliche Wechselwirkungen mit den HIV-Medikamenten nicht berücksichtigt werden können, wenn Fachärzt*innen aus anderen Disziplinen nicht wissen, dass diese in Therapie­ regimen enthalten sind (Bogner 2017). Ärzt*innen des Vertrauens, die HIV-Patient*innen jahrelang begleitet haben, gehen in Rente und vielen Patient*innen fällt es schwer, Vertrauen zu neuen Ärzt*innen aufzubauen. Im ländlichen Bereich hat man häufig nicht die Wahl, die wir in Städten vorfinden. Fallbeispiel Henri P., Jahrgang 1961, war ein sehr hilfsbereiter Mensch. Wo es etwas zu tun gab, war er stets bereit zu helfen. Henri P. war immer ein überzeugter Landbewohner* und hatte eine abgeschlossene Ausbildung in einem Handwerksberuf. Er war zweimal mit Frauen verheiratet und bis zu seiner Scheidung von der letzten Frau lebte er seine homosexuelle Seite nur heimlich aus. Im Trennungsjahr suchte er sich eine eigene Wohnung und knüpfte verstärkt freundschaftliche Kontakte in die schwule Cruising-Szene. Er fand dadurch zu seinem schwulen Coming-out. Seine Herkunftsfamilie wandte sich von ihm ab. Er fand Gefallen an BDSM-Praktiken und suchte seine Kontakte auch in sozialen Netzwerken für Schwule. Henri P. war sehr viel unterwegs, um Gleichgesinnte zu treffen. Er lebte sogar zeitweilig in einer offenen polyamoren Beziehung mit zwei Männern. Sein überaus offener Umgang mit seiner HIV-Infektion schien bei seiner Suche nach Sexualpartnern kein Hindernis zu sein. Es waren eher andere Männer mit HIV, die ihm auswichen, weil sie fürchteten, dass sie in seiner Gegenwart als HIV-positiv wahrgenommen werden könnten. Henri P. versicherte immer wieder, dass er sexuell einigermaßen auf seine Kosten gekommen sei, aber dass es ihm mit zunehmendem Alter immer schwerer fiel, Freunde oder einen festen Partner zu finden. Er lebte zuletzt etwa 50 km von Frankfurt am Main entfernt, aber den »Verhaltensregeln« der Stadt-Communitys konnte und wollte er sich nicht anpassen. Er besuchte regelmäßig Angebote für schwule Männer, zog sich aber krankheitsbedingt zunehmend

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Holger Kleinert

zurück. Er hatte viele Bekannte, aber nur wenige Freunde. Er starb einsam an einem Tumor und wurde erst nach Tagen in seiner Wohnung gefunden.

Fragen (A) Welche Faktoren haben bei Henri P. zur Vereinsamung geführt? Welche Berufsgruppen hätten beteiligt werden können, um dem entgegenzuwirken, was hätte Henri P. selbst tun können? (B) Bitte erörtern Sie die Bedeutung der HIV-Infektion für die Lebensgestaltung auf dem Land und für die gelebte Sexualität von Henri P. (C) Wie hätten die Bedürfnisse und der Bedarf in der Betreuung von Henri P. in Pflege- und Beratungssituationen der Altenhilfe berücksichtigt werden können, damit Henri P. weniger einsam hätte leben und sterben müssen? Hintergründe zur Lösung / Einflussfaktoren auf die Biografie

Mit zunehmendem Alter wurde Henri P. immer einsamer. Henri B. war in seinem Wohnumfeld respektiert und akzeptiert. Für engere freundschaftliche Bindungen war das offensichtlich nicht ausreichend. Für Kontakte zu Sexualpartnern* und Freunden musste er weite Strecken in Kauf nehmen. Vielen älteren Schwulen auf dem Lande ist gemein, dass sie über lange Zeiträume ihre Sexualität anonym und im Verborgenen ausleben mussten. Mit der Liberalisierung der Paragraphen, unter denen Homosexualität unter Strafe stand, wagten zwar immer mehr Männer offener mit ihrer Homosexualität umzugehen. Es gibt sehr gute Beispiele, wo selbstbewusste ausgefüllte Biografien von queeren Persönlichkeiten gelungen sind. Vielen war dies allerdings nicht möglich, weil die Furcht vor Ausgrenzung und Diskriminierung viel zu groß war und immer noch ist. Diejenigen, die ihr Leben mit Frau und Familie eingerichtet haben, haben außerdem mit Kontaktabbrüchen durch die Familie und mit wirtschaftlichem Ruin zu rechnen. Obwohl einige ihren alten Freundeskreis verloren hatten, gaben sie an, dass dieser Schritt trotzdem eine Erleichterung für sie war. Doch hatte ich auch Gespräche mit Männern, die erst jenseits von 50 Jahren ihr Coming-out hatten und weder den erhofften Partner* noch einen Zugang zu den Communitys gefunden haben. Nach ihrem Bekunden leiden sie sehr häufig unter Einsamkeit und sind somit besonders vulnerabel für ein frühes Einsetzen von sozialem Sterben, was im Krankheitsfalle dem physischen Tod schleichend vorausgehen kann (Tillmann 2017), welches bei Henri P. eintraf. Bei psychischen Erkrankungen ziehen

Lebensstile, Sexualität und Umgang mit HIV/Aids im Alter

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sich viele Freund*innen und Bekannte zurück, weil sie auch mit temporären Persönlichkeitsveränderungen nur schwer umgehen können. Außerdem verhalten sich die Betroffenen bei einigen psychiatrischen Erkrankungen sehr abweisend, was es den Freund*innen und Bekannten häufig schwer macht den Kontakt aufrechtzuerhalten. Auch »Minoritätenstress« (Meyer 2003) mag hier eine Rolle spielen.

/ Soziales Sterben und Minoritätenstress

Schlussfolgerungen Die in Sanders (2016) Beitrag zitierten Studien beziehen sich auch auf junge Menschen, die letztendlich die Alten von morgen sind. Minderheitenstress von LSBTIQ* bezieht sich nicht nur auf die frühe Geschichte der BRD und DDR, sondern auch auf die Gegenwart. Sensibilisierung von Senior*innenEinrichtungen für die Geschichte und Bedürfnisse von heutigen LSBTIQ*Senior*innen im ländlichen Raum sind ein sehr wichtiger Schritt. Zertifizierungsangebote wie »Praxis Vielfalt« von der Deutschen Aidshilfe, »Regenbogenschlüssel« der Initiative Regenbogenschlüssel oder »Lebensort Vielfalt« der Schwulenberatung Berlin sind hier von großer Relevanz siehe Beitrag Lottmann i. d. B.). Daneben muss es auch entsprechende Beratungsangebote und Anlaufstellen für LSBTIQ* geben, die dazu beitragen können, Minderheitenstress abzubauen und zu unterbinden, um auch künftigen Generationen ein selbstbestimmtes und selbstbewusstes Leben in jeglicher sexuellen Orientierung und Identität zu ermöglichen. Gerade in Bezug auf HIV und Aids ist es wichtig, hier Beratungs- und Aufklärungsangebote für Betroffene sowie Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens und der Sozialen Arbeit anzubieten. Literatur Bogner, J. (2017): HIV und Alter. HIV & More, o. J. (4), 16–17. 8 Weitere Bundesministerium für Justiz und für Verbraucherschutz (2019): Informationspapier zu den Lernmaterialien Entschädigungszahlungen für Betroffene des strafrechtlichen Verbots einvernehmlicher finden Sie im Downloadhomosexueller Handlungen aus dem Bundeshaushalt. https://www.bmjv.de/SharedDocs/ bereich zu Downloads/DE/Themen/FamilieUndPartnerschaft/Infoblatt_Entschaedigung_175.pdf?__ ­diesem Buch blob=publicationFile&v=4 (Zugriff am 21.08.2019). Deutsche Aidshilfe (2019): HIV Report 02/2019. N = N. Nicht Nachweisbar = Nicht übertragbar. https://www.hivreport.de/sites/default/files/documents/2019_02_hivreport_nn_neu_71019. pdf (Zugriff am 08.11.2019). Drewes, J./Sweers, H. (2010): Strukturelle Prävention und Gesundheitsförderung im Kontext von HIV, Deutsche Aidshilfe. Berlin. Federl, F. (2017): Tagesgeschäft Schwulenverfolgung. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-07/homosexualitaet-paragraf-175-schwulenverfolgung-richter-klaus-beer/ komplettansicht (Zugriff am 15.08.2019).

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Holger Kleinert

Gerlach, H./Schupp, M. (2016): Lebenslagen, Partizipation und gesundheitlich-/pflegerische Versorgung älterer Lesben und Schwuler in Deutschland: Expertise zum Siebten Altenbericht der Bundesregierung. http://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/49927/ ssoar-2016-gerlach_et_al-Lebenslagen_Partizipation_und_gesundheitlich-pflegerische_ Versorgung.pdf?sequence=1 (Zugriff am 26.08.2019). von Kowalski, G. (1987): Homosexualität in der DDR. Ein historischer Abriß. Schriftenreihe für Sozialgeschichte und Arbeiterbewegung, 66 (o. A.). Marburg. Lautmann, R. (2011): Abolition der Vergangenheit. Lässt sich rechtsstaatliches Strafrecht rückwirkend aufheben? Kriminologisches Journal, 43, 268–287. Meyer, I. H. (2003): Prejudice, social stress, and mental health in lesbian, gay, and bisexual populations: conceptual issues and research evidence. Psychological bulletin, 129 (5), 674. Sander, D.(2016): Ausgrenzung kann krank machen – Wie Diskriminierung die Gesundheitschancen sexueller Minderheiten beeinflusst https://www.aidshilfe.de/sites/default/files/ documents/2016-05-17_wisschaftlicher_background_-_homophobie_macht_krank_0.pdf (Zugriff am 26.08.2019). Steinke, R. (2005): Ein Mann, der mit einem anderen Mann … – Eine kurze Geschichte des § 175 in der BRD. Forum Recht, 175 (2), 60–63.

Zertifizierungen www.praxis-vielfalt.de www.qualitaetssiegel-lebensort-vielfalt.de www.rozezorg.nl

Weiterführende Literatur Rahmsdorf, I. (2011): Homosexualität auf dem Land. Alles andere als normal. https://www.sueddeutsche.de/leben/homosexualitaet-auf-dem-land-alles-andere-als-normal-1.1107304-0 (Zugriff am 26.08.2019). Schweppe, C. (2013): Biographie und Alter (n) auf dem Land: Lebenssituation und Lebensentwürfe. Wiesbaden.

4.1.8 Herausforderungen christlicher Pflegeeinrichtungen Barbara Weigl

Hintergrund Kirchlichen Trägern geht es »darum, ihm [dem/der Patient*in oder Bewohner*in, B. W.] gut zu tun und gerecht zu werden« (Jünemann/Schuster 2004, S. 12). Wie halten es nun die kirchlichen Einrichtungen, deren Wohlfahrtsverbände einen großen Teil der pflegerischen Versorgung in Deutschland abdecken, mit der »guten Pflege« von LSBTIQ*-Personen und welche Angebote bieten die kirchlichen Träger der ambulanten wie stationären Altenhilfe konkret in Deutschland? Da die empirische Befundlage zu diesem Thema dürftig ist, werden anhand eines in Deutschland einmaligen Good Practice-Beispiels diese Fragen aufgegriffen und für die Lehre bearbeitet. Auch andere religiöse Glaubensgemeinschaften greifen die Thematik der sexuellen geschlechtlichen Vielfalt mittlerweile auf. Dieser Beitrag kann nur einen ersten Baustein für diese Diskussion darstellen, fokussiert beispielhaft christliche Pflegeheime und bleibt mit einem Fokus auf LSB-Senior*innen auf sexuelle Vielfalt beschränkt. Auch lesbisch, schwul lebende, bisexuelle, trans*- und inter*-geschlechtliche sowie queere (LSBTIQ*-)Personen kommen in die Jahre und damit einher geht häufig ein zunehmendes Bedürfnis, sich angesichts von Verlusterfahrungen mit existenziellen Fragen des Lebens sowie Ängsten vor Krankheiten und Autonomieverlust zu befassen (Backes/Clemens 2003; Erikson 1959). Für christliche Religionsgemeinschaften ist die Vorstellung, lesbisch, schwul, bisexuell und gleichzeitig gläubig zu sein, immer noch schwer vereinbar. Weil einige christliche Einrichtungen sich ausgrenzend gegenüber sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten verhalten, empfinden Betroffene oft einen inneren Zwiespalt und meinen, sich zwischen ihrer Religion und ihrer sexuellen Orientierung entscheiden zu müssen. Bei einem Pflegeereignis kommt für sie mitunter diese Frage auf: Wohin kann ich gehen, wenn ich Pflege brauche? Wie steht die christliche Einrichtung zu meiner sexuellen oder geschlechtlichen Identität?

/ Wie können christliche Einrichtungen LSBTIQ*-­ Senior*innen gerecht werden?

/ Wie ­stehen christliche Pflege­einrich­ tungen zu ­sexueller ­Vielfalt?

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Barbara Weigl

Sowohl LSB*-Senior*innen mit einer starken christlichen Orientierung und kirchlichen Verbundenheit als auch ältere gläubige Menschen der LSBTIQ*-Community ohne Anbindung an eine christliche Gemeinschaft fühlen sich verunsichert aufgrund von Diskriminierungsängsten bei der Suche nach einer passenden Adresse, zu der sie Vertrauen haben und bei der sie sich bei existenziellen Fragen des Lebens, wie der Pflege im Alter, aufgehoben fühlen. Nachfolgend soll der praxisorientierten Frage nachgegangen werden, worin der Mehrwert einer Öffnung der Altenhilfe für LSBTIQ*-Personen für einen religiösen Anbieter liegt. Denn auch wenn davon auszugehen ist, dass andere Träger für pflegebedürftige LSBTIQ*-Senior*innen mit Blick auf Heteronormativität ähnliche Herausforderungen haben (siehe Beitrag Lottmann i. d. B.), so sitzen die Ängste vor Diskriminierungserfahrungen und Ausgrenzung gegenüber den religiösen Angeboten zum Teil besonders tief (Steffens 2010). Herausforderungen

/ Gelebte Umsetzung von ­offenen Leitbildern wichtig

Zahlreiche Pflegeeinrichtungen unterschiedlicher Träger in Deutschland haben sich auf den Weg gemacht, kultursensibel zu pflegen oder ein DiversityManagement mit dem entsprechend geschulten Pflegepersonal aufzubauen (Schöffler 2017, 82 ff.). In dieser Ausrichtung liegt die spezifische Kompetenz, eine Pflegehaltung zu entwickeln, die lesbisch, schwul lebende und bisexuelle Personen einschließt. Entscheidend ist die gelebte Umsetzung des Leitbilds der Einrichtung, sich für diesen Prozess zu öffnen (Kenel/Gather/Lottmann 2019). Wie kann die Berücksichtigung von LSBTIQ*-Personen in der Praxis gelingen? Welche Rolle spielt die Religiosität für christliche Pflegeanbieter und das Personal eigentlich? Müssen sie selbst LSBTIQ* sein, um die Bevölkerungsgruppe mit ihrer Lebenswelt erreichen zu können? Bei der Recherche zu diesem Thema stellte sich zunächst ein zu erwartendes Desiderat dar, das durch ein »Leuchtturmprojekt« erhellt wird. Wobei angemerkt werden muss, dass Einzelprojekte nicht bereits eine erforderliche Pluralität oder einem kritischen Verständnis von Diversität in Altenhilfeeinrichtungen Rechnung tragen (siehe etwa Castro Varela/Lottmann 2018). So gibt es auch einen erheblichen Forschungsbedarf dazu, welche Erwartungen und Wünsche LSBTIQ*-Menschen an Einrichtungen der Altenhilfe haben und was den Zugang zu entsprechenden Einrichtungen für diese Zielgruppe erleichtern kann (Linschoten/Lottmann/Lauscher 2016; Schröder/Scheffler 2016; Kenel et al. 2018).

Herausforderungen christlicher Pflegeeinrichtungen

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Good Practice-Beispiel Bislang gibt es nach eigenen Recherchen in Deutschland nur eine Pflegeinrichtung eines kirchlichen Trägers, die sich eine entsprechende LSBTIQ*Leitlinie und Kundenorientierung zu eigen gemacht hat. Nach Begutachtung durch die Schwulenberatung Berlin erhielt das Immanuel Seniorenzentrum in Berlin-Schöneberg, eine Einrichtung der Immanuel Albertinen Diakonie gGmbH, im November 2018 das Qualitätssiegel »Lebensort Vielfalt« der Berliner Schwulenberatung. Es ist angelehnt an den niederländischen Vorläufer Roze Loper oder Pink Passkey (siehe Linschoten et al. 2016). Die Einrichtung verweist in Pressemeldungen auf Ziele, die die Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse der vielfältigen Bewohner*innenschaft hätten: »Als Einrichtung mitten im Schöneberger Kiez mit seiner großen LSBTIQ*Community liegt uns der sensible und geschulte Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt besonders am Herzen. Das gilt für unsere Bewohner und Bewohnerinnen genauso wie für unsere Mitarbeitenden und schließt den Schutz vor sexuellen Übergriffen, wie ihn der Kriterienkatalog des Qualitätssiegels fordert, selbstverständlich mit ein.« (Schäfer 2019, S. 1) Nach Aussagen des Heimleiters (in einem Interview mit B.W.) gäbe es durch die positive Resonanz auf das LSBTIQ*-freundliche Angebot mittlerweile grünes Licht der Unternehmensleitung, alle Einrichtungen der Immanuel Albertinen Diakonie für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt zu öffnen und entsprechende Mitarbeiter*innenschulungen anzubieten. Fragen (A) Welche Vorbehalte haben LSBTIQ*-Personen gegenüber religiösen Pflegeeinrichtungen? (B) Wie kann Diversity-Management Mitarbeiter*innen in christlichen Pflegeeinrichtungen für eine LSTBIQ*-freundliche Pflegekultur sensibilisieren? (C) Was können Ziele sowohl christlicher als auch LSBTIQ*-freundlicher Leitlinien in der stationären und ambulanten Pflege sein?

/ Berliner Beispiel: Sensibler und geschulter Umgang und Schutz vor ­Übergriffen

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Barbara Weigl

Schlussfolgerungen

/ Öffnung für LSBTIQ* Chance auch für ­christliche ­Einrichtungen

Auch wenn sich aktuell bei einzelnen religiösen Alten- und Pflegeeinrichtungen LSBTIQ*-freundliche Tendenzen abzeichnen, bleiben konfessionell gebundene Anbieter*innen bislang weitgehend zurückhaltend und erleben mit Blick auf die Relevanz sowohl von sichtbarer Religiösität als auch von geoutetem LSBTIQ*-Personal Herausforderungen in der Praxis in der Altenhilfe (Jünemann/Schuster 2004; Küpper/Klocke/Hoffmann 2017). Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die gelebte Praxis vor Ort sich divers darstellt und auch zwischen katholischen und evangelischen Einrichtungen Unterschiede bestehen. Für Pflegeanbieter in konfessioneller Trägerschaft stellt die Öffnung für LSBTIQ*Senior*innen eine Chance dar, tatsächlich inklusive Altenhilfeeinrichtungen zu schaffen, die mit einer religiösen bzw. spirituellen Ausrichtung auch lesbische, schwule, bisexuelle sowie trans*- und inter*-geschlechtliche Senior*innen erreichen (Kenel et al. 2018). Es wird eine Herausforderung sein, ein flächendeckendes Angebot bereitzustellen, aber insbesondere in Städten mit größeren LSBTIQ*-Communitys kann ein aktiver Einbezug von Peergroups und Organisationen LSBTIQ*-freundliche Pflegeeinrichtungen unterstützen. In gleicher Weise fördert eine Qualifizierungsoffensive in den Pflegeeinrichtungen, Mitarbeiter*innen für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt zu sensibilisieren. Dabei weisen Qualitätsstandards, wie es z. B. das Qualitätssiegel »Lebensort Vielfalt« vorsieht, einen Weg, der jedoch kritisch hinterfragt werden sollte (Castro Varela/Lottmann 2018). Dies scheint sich nicht nur auf christliche Pflegeinrichtungen zu reduzieren. Eine weitere Beschäftigung des Themas von Seiten aller religiösen Glaubensgemeinschaften erscheint sinnvoll und auch ein interreligiöser Diskurs hierzu (siehe auch Kramer/Miyanyedi/Uslu/Wagner/Wolz/Kiegelmann 2019). Glaubensgemeinschaften sollten motiviert werden, die Diversitätsorientierung in ihrem Leitbild auf LSBTIQ*-Kund*innen und Mitarbeiter*innen auszurichten und damit Voraussetzungen zu schaffen, sexuelle und geschlechtliche Minderheiten zu integrieren. Literatur Backes, G. M./Clemens, W. (2003): Lebensphase Alter: Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsfoschung. Weinheim. Castro Varela, M. d. M./Lottmann, R. (2018): Altenpflege – die letzte weiße deutsche heterosexuelle Bastion? Eine Vielfaltskritik. In: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. (Hg.): Vielfalt und Zusammenhalt: zwei Konzepte auf dem Prüfstand. Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit (2. Aufl., S. 80–89). Freiburg im Breisgau. Erikson, E. H. (1959): Identity and the Life Cycle. New York.

179

Herausforderungen christlicher Pflegeeinrichtungen

Hamm, C. (2010): Village-Pflegeetage in Berlin – Europas erste lesbisch-schwule Pflegeeinrichtung. In: E. Reitinger/S. Beyer (Hg.): Gender-Care: verschiedene Sichtweisen für eine gelingende Integration. Frankfurt am Main. Kenel, P./Gather, C./Lottmann, R. (2018): »Das war noch nie Thema hier, noch nie!« Sexuelle Vielfalt in der Altenpflege – Perspektiven für ein Diversity Management. Pflege & Gesellschaft, 23(3), 211–227. Khan-Zvornicanin, M. (2016): Kultursensible Altenhilfe? Neue Perspektiven auf Programmatik und Praxis gesundheitlicher Versorgung im Alter. Bielefeld. Kramer, J./Miyanyedi, O./Uslu, Ö./Wagner, J./Wolz, Y./Kiegelmann, M. (2019): Andrej ist anders und Selma liebt Sandra. Abschlussbericht. Türkische Gemeinde in Baden-Württemberg e. V. (Hg.). Stuttgart. Köller, T. (2010): Bemerkenswerte Vielfalt: Homosexualität und Diversity Management  – Betriebswirtschaftliche und sozialpsychologische Aspekte der Diversity-Dimension »sexuelle Orientierung«. München. Küpper, B./Klocke, U./Hoffmann, L. C. (2017): Einstellungen gegenüber lesbischen, schwulen und bisexuellen Menschen in Deutschland. Ergebnisse einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage. Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.). Baden-Baden. Jünemann, E./Schuster, N. (2004): Was ist ein kirchliches Krankenhaus? In: RENOVATIO. http:// elisabeth-juenemann.de/ordner/Organisationsethisches/Was_ist_ein_kirchliches_Krankenhaus.pdf (Zugriff am 18.12.2019). Linschoten, M./Lottmann, R./Lauscher, F. (2016): »The Pink Passkey « – ein Zertifikat für die Verbesserung der Akzeptanz von LSBT*I-Pflegebedürftigen in Pflegeeinrichtungen. In: R. Lottmann/R. Lautmann/M. d. M. Castro Varela (Hg.): Homosexualität_en und Alter(n) (S. 233–241). Wiesbaden. Rommelspacher, B. (2016): Pflege in einem Multikulturellen Umfeld. In: B. Rommelspacher/ I. Kollak (Hg.): Interkulturelle Perspektiven für das Sozial- und Gesundheitswesen (S. 197– 216). Frankfurt am Main. Rubicon e. V. (Hg.) (2014): Kultursensible Pflege für Lesben und Schwule: Informationen für die professionelle Altenpflege. https://www.rubicon-koeln.de/fileadmin/user_ uplo-ad/ Kultursensible_Pflege_fuer_Lesben_und_Schwule._Informationen_fuer_die_Professionelle_Altenpflege.pdf (Zugriff am 27.4.2019). Schäfer, R. (2019): Über uns – Das Immanuel Seniorenzentrum Schöneberg ist Modellprojekt für LSBTI-sensible Pflege, Immanuel Albertinen Diakonie gGmbH. https://schoeneberg. immanuel.de/qualitaetssiegel-lebensort-vielfalt/qualitaetssiegel-lebensort-vielfalt (Zugriff am 22.11.2019). Schöffler, M. (2017): Diversity Management als Wettbewerbsfaktor. Altenheim-Lösungen für das Management, 56 (4), 82 ff. Schröder, U. B./Scheffler, D. (2016): »Bei uns gibt es dieses Problem nicht« – Die gesellschaftliche Wahrnehmung von lesbischen, schwulen, bi* und trans* Senior_innen. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hg.): informationsdienst altersfragen. Bd. 43 (1), 3–11. Steffens, M. C. (2010): Diskriminierung von Homo- und Bisexuellen. APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte, (15–16), 14–20.

®

180

Barbara Weigl

Weiterführende Literatur Brooten, B. J. (1996): Love between women: Early Christian responses to female homoeroticism. Chicago. Martin, J./zu Eltz, J. (2018): Eine Brücke bauen: Wie die katholische Kirche und schwule, lesbische, bisexuelle und trans* Menschen eine wertschätzende Beziehung finden. Mannheim. Tonstad, L. M. (2018): Queer Theology: Beyond Apologetics. Eugene.

4.2 Wohn- und Pflegeprojekte von und für LSBTIQ*-Senior*innen im internationalen Vergleich Ralf Lottmann

Hintergrund29 »Lesbisch.schwul.älter« heißt ein Kurzfilm, der die sogenannten Generationen »Lesbenfrühling« und »Stonewall« porträtiert.30 Homosexuelle Frauen und Männer zwischen 60 und 84 Jahren erzählen darin von ihren Erfahrungen, Wünschen und Hoffnungen. Die Äußerungen der Interviewten in dem Film bestätigen zentrale Erkenntnisse unserer Forschungsprojekte zu LSBTIQ*Senior*innen an der Alice Salomon Hochschule Berlin: Die Bedeutung der Sichtbarkeit von LSBTIQ*-Senior*innen in der entsprechenden Community, aber auch in Pflegeeinrichtungen sowie in der Gesellschaft generell (für weitere Details zur Studie siehe Lottmann/Castro Varela 2016). Bei der Studie zum Berliner Wohnprojekt »Lebensort Vielfalt« (LoV), in dem mehrheitlich schwule ältere Männer leben, haben wir einige Aspekte herausarbeiten können, die typisch für Initiativen von und für LSBTIQ*-Senior*innen sind (siehe auch Zusammenfassung im Kasten unten). Sie werden nachfolgend kurz mit empirischen Daten aus dem Projekt illustriert und für die Lernaufgaben herangezogen. Für diesen Beitrag dienen diese Aspekte gewissermaßen als Vergleichsfolie für den Blick über den Tellerrand, der internationale Initiativen vorstellt, wobei für Senior*innen Initiativen aus den USA und Westeuropa herangezogen werden.31 29 Der Beitrag basiert auf einem Artikel des Autors in Ko-Autor*innenschaft mit María do Mar Castro Varela (Lottmann/Castro Varela 2016). 30 Der Kurzfilm »Lesbisch.schwul.älter« ist ein Projekt der Landeskoordination für ältere Lesben und Schwule in NRW/RUBICON e. V. in Kooperation mit der ARCUS Stiftung: https:// www.youtube.com/watch?v=o9rVrp_P-Ko (Zugriff am 08.04.2019). 31 Initiativen und Projekte, die sich insbesondere an LSBTIQ-Senior*innen richten, sind uns vor allem aus den USA und Westeuropa bekannt. Das schließt nicht aus, dass es auch in anderen Ländern vergleichbare Projekte gibt und die in diesem Beitrag erwähnten Projekte möglicherweise aufgrund einer »zu westlichen Konzeption« nur eingeschränkt auf andere Länder übertragbar sind.

/ Forschungsprojekt GLESA zu Wohnprojekt »Lebensort Vielfalt«

182 / Sichtbarkeit von LSBTIQ*Senior*innen über gesamten Lebensverlauf wichtig

Ralf Lottmann

Die Relevanz der Sichtbarkeit von älteren LSB-Personen wird aus verschiedener Perspektive erkennbar. Sie ist für die von uns befragten schwulen und lesbischen Bewohner*innen des Pflege- und Wohnprojekts »Lebensort Vielfalt« in Berlin verknüpft mit ihren Biografien und ihrer sozialen Lebenssituation, auf die nachfolgend eingegangen werden (siehe auch Beitrag Riegel i. d. B.). Die im früheren Lebensverlauf gemachten Erfahrungen werden bei den befragten Bewohner*innen relevant, wenn sie auch im Alter ihre gelebte sexuelle Identität aufrechterhalten und darauf nicht verzichten wollen (siehe dazu Bochow 2005). So war beispielsweise die sexuelle Identität für eine lesbische Bewohnerin des LoV bei der Suche nach einem geeigneten Wohnprojekt für das Alter von Relevanz: »Naja, ich bin lesbisch und ich hab schon so vieles also versucht in manche Projekte reinzukommen, aber das ist dann doch nicht so in meinem Sinne gewesen, die lesbischen Frauen wohnen da immer nicht … also zum Beispiel XY, wurde da nicht gesehen, und ja, und da habe ich gesagt, na, das könnte das sein, und somit also hab ich dann die Leute alle kennengelernt, die also auch hier anstrebten, zusammenzuziehen. […]Und, also hm, wie soll ich das jetzt benennen als Lesbe? Also ich werde akzeptiert. Das ist also auch … find ich also auch ganz toll.« (Bewohnerin, 68 Jahre) Ein 70-jähriger, pflegebedürftiger Bewohner des LoV, formuliert den Wunsch nach schwulem Leben auch im Alter folgendermaßen: »[I]ch habe eigentlich mein Leben lang immer in einer schwulen WG irgendeiner Art gewohnt. Und ich sehe nicht ein, dass man die Lebensgewohnheiten einfach sofort aufgeben muss, nur weil man plötzlich 65 oder 70 ist.«

/ Erlebte Repressionen und Diskriminierungen beeinflussen Lebensphase Alter

Vor allem die männlichen älteren Interviewten erlebten den LoV als einen Ort, der das Austauschen über (gemeinsam) erlebte Diskriminierungserfahrungen erlaubt. Damit sind Diskriminierungserfahrungen und Repressionen im Alltag und über den Lebensverlauf gemeint, die aufgrund der Kriminalisierung von Homosexualität die älteren Generationen von Homosexuellen in besonderem Maße geprägt haben (Lautmann 2012): »Ja, man kann eben über Dinge sprechen, die sonst in der Familie und in der Öffentlichkeit tabu waren in meinem Leben. Hier im Hause braucht

Wohn- und Pflegeprojekte von und für LSBTIQ*-Senior*innen

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man so jetzt nicht mehr Angst zu haben, irgendeiner wirft einem das Schwulsein vor. Macht einem das Leben schwer deshalb. Dass, bin ich, hoffe ich, keinen Anfeindungen ausgesetzt.« (Bewohner, 76 Jahre) Insbesondere die Kriminalisierung bis 1969 lassen den Wunsch nach Sichtbarkeit der sogenannten »gay-liberation-Generation« verstehen, die sich nicht mehr verstecken will – auch nicht im Alter (Parks 1999). Der LoV wird in Bezug auf die erlebten Diskriminierungen über den Lebensverlauf als geschützter Ort empfunden. Ein ergänzender Aspekt in diesem Zusammenhang ist die vielfältig zum Ausdruck gebrachte Vorstellung, der LoV sei ein Ort von Akzeptanz/Anerkennung und Offenheit. Darunter verstehen die Befragten eine offene und akzeptierende Herangehensweise gegenüber möglicherweise tabuisierten Phänomenen, abweichenden Sexualpraktiken, dem Verbalisieren von Sexualität und sexuellen Praktiken sowie kultureller Diversität. Für diese Offenheit erscheint die Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse zwischen Hetero- und Homosexuellen für die Bewohner*innen von grundlegender Bedeutung – sie wird als Erleichterung und Befreiung empfunden. Doch werden sowohl von den männlichen wie weiblichen Interviewten sehr deutlich auch Spannungen und Ausschlüsse aufgrund der Geschlechter­verteilung beschrieben (Zeyen/Lottmann 2019). Die Vorteile eines geschützten wie akzeptierenden Raumes treten jedoch bei weiblichen wie männlichen Interviewten hervor, wenn Bewohner*innen erklären, dass die sexuelle Orientierung im LoV »kein Thema« sei:

/ Ort der Akzeptanz

»[D]as ist halt dann hier ’n gutes Beispiel, dass ich in einem Umfeld alt werden kann, []wo ich mich, sagen wir mal, nicht in diesem Sinne verstellen muss, so wie ich das vielleicht in jüngeren Jahren hab tun müssen, ja? Ich muss auch nicht drüber reden, ich muss es auch nicht thematisieren.« (Bewohner, 49 Jahre) Die beschriebenen »Zugehörigkeitsgefühle« werden mitunter mit Abgrenzungen zur Mehrheitsgesellschaft illustriert. Gleichzeitig wird offenkundig, dass dieser hohe Grad an Akzeptanz und der geschützte Raum sie freier sein lässt und Momente des Empowerments (Ermächtigung) der Bewohner*innen beobachtet werden können – sie setzen Energien frei und schaffen Anreize für Aktivitäten – auch im höheren Alter.

/ Akzeptanz und Zugehörigkeit schafft Empower­ment

184

Ralf Lottmann

Internationale Perspektiven Bei allen Schwierigkeiten beim direkten Vergleich von Wohnprojekten aufgrund beispielsweise unterschiedlicher sozialpolitischer Rahmenbedingungen, zeigen nachfolgend ausgewählte Initiativen Parallelen zu den vier genannten Aspekten (siehe Kasten), die auch im Sinne eines möglichen Transfers von Ideen diskutiert werden sollen.

– Sichtbarkeit in der LSBTIQ*-Community und in der Gesellschaft – Der Wunsch, auch im Alter den Lebensstil leben zu können (kein Verstecken nötig) – Diskriminierungsfreier Ort von Akzeptanz und Offenheit – Empowerment: Selbstwirksamkeit und Förderung eines Zugehörigkeitsgefühls

/ Wohnprojekt in USA erstes Wohnprojekt für LSBTIQ* mit Fokus auf bezahl­barem Wohnen

/ US-amerikanische Initiativen kooperieren vielfältig und niedrigschwellig

Der Triangle Square in Los Angeles, USA, ist das erste LSBTIQ*-Wohnprojekt für ältere LSBT-Senior*innen weltweit (eröffnet in 2007). Mit 104 Einheiten wurde es ursprünglich von der Initiative Gay and Lesbian Elder Housing geplant und gegründet und ist nun Teil des Seniorenprogramms des weltgrößten LSBT-Zentrums in Los Angeles.32 Ähnlich wie der LoV in Berlin verweist das Zentrum auf die hohe Anzahl von LSBTIQ*-Senior*innen in Los Angeles (geschätzte 65.000 Personen im Alter von 65+) und deren soziodemografischen Besonderheiten wie die höhere Wahrscheinlichkeit des Alleinlebens und der Kinderlosigkeit im Alter (Wallace/Cochran/Durazo/Ford 2011; Brennan-Ing et al. 2014). Aus diesen Gründen sind LSBTIQ*-Senior*innen stärker auf freundschaftliche Netzwerke und Altenhilfeangebote wie diese angewiesen. Wohn- und Pflegeprojekte wie das in L. A. entstanden in den USA in Phi­ la­del­phia und Chicago33. Über einen sehr langen Zeitraum, der für Planungen mit der Gemeinde und zur Finanzierung notwendig wurde, wird seit Ende 2014 das Openhouse in San Francisco34, einer Stadt mit bekanntlich größter Offenheit in LSBTIQ*-Angelegenheiten, gebaut (Lautmann 2016, S. 28) und Wohnungen – erneut im Lotterieverfahren35 – vergeben. 32 33 34 35

https://lalgbtcenter.org/about-the-center (Zugriff am 17.04.2019). http://www.centeronhalsted.org/senior.html (Zugriff am 17.04.2019). http://openhouse-sf.org/ (Zugriff am 20.04.2019). Lotterieverfahren werden unterschiedlich gestaltet. Sie sind gekennzeichnet davon, dass Interessierte sich für ein Wohnprojekt bewerben können. Aufgrund der i. d. R. hohen Nach-

Wohn- und Pflegeprojekte von und für LSBTIQ*-Senior*innen

185

Die US-Einrichtungen erzielen eine beachtliche Diversität bei den Bewohner*innen und der Nutzer*innen ihrer Angebote – meist über eine höhere Vielfalt altersbezogener Programme und Angebote (etwa multikulturell und bilingual) für ältere LSBTIQ*-Personen. Auch in Europa gibt es – neben dem Berliner LoV – mittlerweile mehrere Wohn- und Pflegeprojekte für LSBTIQ*-Senior*innen – gleichwohl mit unterschiedlichen Schwerpunkten. In Stockholm, Schweden, konnte die Kommune zur Organisation eines Wohnprojekts für LSBTIQ*-Senior*innen mit dem Namen Regnbågen überzeugt werden, das auf drei Stockwerken 28 Apartments und Gemeinschaftsräume umfasst.36 Es ähnelt hinsichtlich der Motive und Ausrichtung dem LoV in Berlin. Im Bezirk Villaverde der Stadt ­Madrid, Spanien, wird in Kooperation der LSBTIQ*-Organisation Fundación 26 de Diciembre ein Hausprojekt für LSBTIQ*-Senior*innen mit und ohne HIV/ Aids und einer Tagespflegeeinrichtung mit 30 Plätzen geplant. Es wird von der Regionalregierung öffentlich finanziert.37 Laut den Organisator*innen soll das Projekt die Bewohner*innen davor bewahren, im Alter bzw. bei Pflegebedarf (wieder) ihre sexuelle oder geschlechtliche Identität zu verstecken. In den Niederlanden gibt es mehrere vergleichbare Wohn- und Pflegeprojekte für LSBTIQ*-Senior*innen, die auch von der Kommune gefördert werden. Ein neues Wohnprojekt im Zentrum Amsterdams ist De Roze Hallen, ein 2018 eröffnetes Haus mit 19 LSBT-Senior*innen im Alter von 55 Jahren und älter, die dort allein oder mit Partner*innen leben.38 Neben Wohnprojekten gibt es insbesondere in den USA Beratungsstellen, die sich an LSBTIQ*-Senior*innen richten. Services & Advocacy for LGBT Elders (SAGE) ist die älteste und größte Non-Profit-Organisation mit Sitz in New York, USA, die sich zur Aufgabe gemacht hat, über Service-Angebote und Beratung die Lebensqualität von LSBTIQ*-Senior*innen zu erhöhen. Dabei werden die zuvor genannten Aspekte auf ihrer Website und in ihren Publikationen durch die Förderung eines größeren Verständnisses von LSBTIQ*-Senior*innen in der Altenhilfe und innerhalb der Community erkennbar.39 SAGE ist als Beratungsinstitution anerkannt und vertritt LSBTIQ*-Senior*innen auf kommunaler und nationaler Ebene und bietet eine Vielzahl von Aktivifrage werden die Bewerber*innen nach spezifischen Kriterien wie Einkommen ausgesucht. 36 https://www.regnbagen.net/english/ (Zugriff am 17.04.2019). 37 http://www.fundacion26d.org; https://attitude.co.uk/article/madrid-to-open-lgbt-friendlyretirement-home/18903/ (Zugriff am 17.04.2019). 38 www.rozehallen.nl sowie www.outforever.nl (Zugriff am 01.05.2019). 39 https://www.sageusa.org/what-we-do/ (Zugriff am 17.04.2019).

/ Weitere Wohnprojekte für LSBTIQ* in Stockholm und Madrid

/ US-Initiative SAGE ­zeichnet sich durch ­vielfältige Materialien und ­Websites aus

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Ralf Lottmann

täten, Zentren, Gruppen und Programmen an. SAGE zeichnet sich durch umfangreiche und niedrigschwellige Hilfe- und Informationsmaterialien für Betroffene und Multiplikator*innen aus. Darunter befinden sich spezifische Materialien wie zu LSBT und Demenz40. Integriert in SAGE ist u. a. das N ­ ational Resource Center on LGBT Aging, das zahlreiche Materialien und Trainings anbietet. Darunter Materialien Ȥ zum Coming-out im Alter Ȥ zu inklusiven Service-Angeboten wie Handlungsleitfäden oder Ȥ Aging Pozitively (zu LSBT-Senior*innen mit HIV/Aids).41 Auch das National LGBT Health and Education Center des Fenway Institute in Boston, USA, bietet hilfreiche Leitfäden für ein inklusives Umfeld für LSBTPatient*innen und -Kund*innen (u. a. zu Terminologie und Abbildungen)42; ähnlich das dortige Bisexual Resource Center (www.biresource.org). Neben den zuvor genannten Aspekten sind Weiterbildungen und Kenntnisse zur Lebenswelt von LSBTIQ*-Personen Inhalte dieser Initiativen. / In Europa gibt es verschiedene ­Initiativen für bessere Pflege wie Pink ­Passkey® (NLD) oder Pride in Care (GBR)

Im Bereich Pflege von LSBTIQ* sind europäische Initiativen Vorreiter. Der Pink Passkey® (auch Roze Loper) ist das weltweit erste Zertifizierungsverfahren für eine LSBT*-freundliche Pflege, welches in Europa, genauer gesagt in den Niederlanden von der LSBT-Organisation COC Nederland und der Seniorenorganisation ANBO entwickelt wurde. Bereits in mehr als 100 Pflegeheimen in den Niederlanden ist das Auditverfahren angewandt worden, das u. a. einen Toleranzscan und Trainings für das Pflegepersonal beinhaltet (Linschoten et al. 2016). Der Pink Passkey® greift sehr gezielt die zuvor genannten Aspekte auf und konkretisiert sie für den pflegerischen Bereich. So werden Respekt und Offenheit gegenüber LSBT-Senior*innen, die Garantie der Privatsphäre hinsichtlich des Aspektes eines geschützten Raumes und Trainings für das Pflegepersonal in Bezug auf Lebensweltkenntnisse zu und Akzeptanz von LSBT genannt.43 In Deutschland haben zwei Pflegeheime des Frankfurter Verbands für Alten- und Behindertenhilfe e. V. dieses Zertifikat, das in Regenbogenschlüssel umbenannt wurde. Die Schwulenberatung Berlin hat mit dem 40 https://www.sageusa.org/resource-posts/issues-brief-lgbt-and-dementia (Zugriff am 17.04.2019). 41 https://www.lgbtagingcenter.org/resources/resources.cfm?s=35 (Zugriff am 18.04.2019). 42 https://www.lgbthealtheducation.org/wp-content/uploads/2018/10/Implicit-Bias-Guide-2018_Final.pdf (Zugriff am 17.04.2019). 43 htps://www.roze50plus.nl/assets/uploads/docs/knowledgebase/340.2d9a6dd520a64a723cd74fc727679a02.pdf (Zugriff am 17.04.2019).

Wohn- und Pflegeprojekte von und für LSBTIQ*-Senior*innen

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Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt eine kostenlose Variante für Deutschland entwickelt, das vom Bundesministerium Familie, Senioren, Frauen und Jugend unterstützt wird. Der Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V. (AWO) führt bis Ende 2020 ein bundesweites Modellprojekt zur Öffnung der Altenhilfeeinrichtungen der AWO für die Zielgruppe LSBTIQ* durch, das auch anderen Wohlfahrtsverbänden als Instrument zur Verfügung gestellt werden soll. Stonewall Housing in London, GBR, bietet Beratungsdienstleistungen zu und für LSBTIQ*-Personen mit dem Schwerpunkt Wohnen an.44 Das Angebot beinhaltet neben Fragen zu Wohnen, Forschung und Lobbying zu den Themen LSBTIQ* und Wohnen im Alter auch ein Auditverfahren für Pflege- und Wohnunternehmen (inkl. Trainings) im Rahmen des Projekts Older LGBT Housing Network. Mit Interesse wird zu verfolgen sein, ob die LSBTIQ*-Organisation Opening Doors London, GBR, mit der Initiative Pride in Care einen Qualitätsstandard für die Pflege implementieren wird.45 Ein interessantes Projekt zur Situation von Trans*-Senior*innen in UK ist zudem in Zusammenarbeit mit der University of Bristol entstanden: TrAC project: Trans Ageing and Care46 (siehe auch Beitrag Sauer i. d. B.). Schlussfolgerungen In den letzten zwei Jahrzehnten hat es zahlreiche Bemühungen für und von LSBTIQ*-Senior*innen gegeben, Wohn- und Pflegeprojekte sowie Beratungsorganisationen für die Lebenshase Alter zu initiieren. Diese Initiativen ähneln sich hinsichtlich der Ziele der Organisationen, die u. a. die Sichtbarkeit von LSBTIQ*-Senior*innen betreffen sowie die Sorge vor Isolation und Diskriminierung aufgrund von Abhängigkeiten von z. B. Pflegepersonal im (hohen) Alter. Mitunter kommt es mittlerweile zu konkurrierenden Instrumenten, die durch Interessenlagen der Organisationen in ihrem Bemühen um Fördermittel entstehen – das gilt vor allem im Bereich Pflege. Unklar bleibt oft, wie erfolgreich die jeweiligen Initiativen tatsächlich beim Verfolgen ihrer Ziele sind, wenn sie insbesondere vulnerable Personen unter den LSBTIQ*Senior*innen erreichen wollen. Hierbei sei daher auf Besonderheiten des Wohnprojekts in Los Angeles hingewiesen, das – wie bei Projekten in Chicago, Philadelphia und San Francisco – einen Fokus auf finanzierbares Woh44 http://www.stonewallhousing.org/projects.html (Zugriff am 31.08.2016). 45 http://www.lgbtconsortium.org.uk/event/pride-care-opening-doors-london-national-conference-2018 (Zugriff am 18.04.2019). 46 http://trans-ageing.swan.ac.uk/ (Zugriff am 13.05.2019).

/ Zahlreiche ­Initiativen in den letzten zwei ­Jahrzehnten

188 / Vielfältige Kooperationen unterstützen ­Diversität in ­Einrichtungen der Altenhilfe

Ralf Lottmann

nen (affordable Housing) aufweist. Diese Projekte bieten oftmals zusätzliche Angebote wie Essensküchen, Pflegeberatung, soziale Aktivitäten und Gesundheitsangebote für LSBTIQ*-Senior*innen an. Hierbei werden Kooperationen mit Firmen wie Supermärkten, Krankenkassen, kirchlichen Einrichtungen oder Sozialeinrichtungen verfolgt und auf eine erhöhte Vulnerabilität älterer LSBTIQ*-Personen verwiesen (Adelman 2010). Für den Transfer nach Europa und Deutschland können diese US-Initiativen in der Altenhilfe mit ihren niedrigschwelligen Angeboten durchaus Vorbild sein. Vor allem die Kooperationen mit Organisationen, Selbsthilfegruppen, Verbänden etc. können dabei als Schlüssel für mehr Diversität in Altenhilfeeinrichtungen dienen. Fragen (A) Worin unterscheiden sich die genannten Wohn- und Pflegeprojekte in den USA von denen in Europa? (B) Einer der vier Aspekte benennt das Bedürfnis nach geschützten Räumen im Alter. Welche Ängste und Sorgen formulieren die Interviewten des Lebensorts Vielfalt in Bezug auf ihr Altern und ihre sexuelle Identität? (C) Nennen Sie mindestens zwei europäische Initiativen. Literatur

8 Weitere Lernmaterialien finden Sie im Downloadbereich zu ­diesem Buch

Adelmann, M. (2010): »Groundbreaking Study on LGBT Aging: Need for Housing, Services and Support«. http://openhouse-sf.org/wp-content/uploads/2010/01/Revised-GroundbreakingStudy-on-LGBT-Aging.pdf (Zugriff am 31.03.2019). Bochow, M. (2005): Ich bin doch schwul und will das immer bleiben. Hamburg. Brennan-Ing, M./Seidel, L./Larson, B./Karpiak, S. E. (2014): Social Care Networks and Older LGBT Adults: Challenges for the Future. Journal of Homosexuality, 61 (1), 21–52. Gardner, A. T./de Vries, B./Mockus, D. S. (2013): Aging Out in the Desert: Disclosure, Acceptance, and Service Use Among Midlife and Older Lesbians and Gay Men. Journal of Homosexuality 61 (19), 129–144. Lautmann, R. (2016): Die soziokulturelle Lebensqualität von Lesben und Schwulen im Alter. In: R. Lottmann/R. Lautmann/M. d. M. Castro Varela (Hg.): Homosexualität_en und Alter(n) (S. 15–50). Wiesbaden. Linschoten, M./Lottmann, R./Lauscher, F. (2016): »The Pink Passkey « – ein Zertifikat für die Verbesserung der Akzeptanz von LSBT*I-Pflegebedürftigen in Pflegeeinrichtungen. In: R. Lottmann/R. Lautmann/M. d. M. Castro Varela (Hg.): Homosexualität_en und Alter(n) (S. 233–241). Wiesbaden. Lottmann, R./Castro Varela, M. d. M. (2016): LSBT*I (k)ein Thema für die Altersforschung – Ausgewählte Befunde eines Forschungsprojekts. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hg.): informationsdienst altersfragen. Bd. 43 (1), 12–20. Parks, C. A. (1999): Lesbian Identity Development: An Examination of Differences Across Generations. American Journal of Orthopsychiatry, 69 (3), S. 347–361.

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Wohn- und Pflegeprojekte von und für LSBTIQ*-Senior*innen

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Wallace, S. P./Cochran, S. D./Durazo, E. M./Ford, C. L. (2011): The Health of Aging Lesbian, Gay and Bisexual Adults in California. Los Angeles. Zeyen, T.-L./Lottmann, R. (2019): Ein schwul (-lesbisches) Wohnprojekt für Ältere: Freizeit, Kommunikation und Teilhabe homosexueller Senior*innen. In: S. Timmermanns/M. Böhm (Hg.): Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Interdisziplinäre Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis (S. 211–227). Weinheim.

Weiterführende Literatur Fredriksen-Goldsen, K. I./Kim, H.-J/Barkan, S. E./Muraco, A./Hoy-Ellis, C. P. (2013): Health Disparities Among Lesbian, Gay, and Bisexual Oder Adults: Results from a Population-Based Study. American Journal of Public Health, 103 (10), 1802–1809. Mesquida González, J. M./Quiroga Raimúndez, V./Boixadós Porquet, A. (2014): »Trabajo Social, diversidad sexual y envejecimiento. Una investigación a través de una experiencia de aprendizaje-servicio«. Alternativas. Cuadernos de Trabajo Social, 21, 177–192. Sullivan, K. M. (2016): Akzeptanz in häuslicher Umgebung. Erfahrungen mit Wohnanlagen für LSBT-Ältere in den USA. Erfahrungen mit Wohnanlagen für LSBT-Ältere in den USA. In: R. Lottmann/R. Lautmann/M. d. M. Castro Varela (Hg.): Homosexualität_en und Alter(n). (S. 213–226). Wiesbaden. Westwood, S. (2016): »We see it as being heterosexualised, being put into a care home«: gender, sexuality and housing/care preferences among older LGB individuals in the UK. Health Soc Care Community, 24, 155–163. doi:10.1111/hsc.1226.

Wissen über Problemlagen von LSBTIQ*-Senior*innen für die Pflege und Soziale Arbeit Regina Brunnett, Tamara-Louise Zeyen, Ralf Lottmann und Mechthild Kiegelmann

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Regina Brunnett, Tamara-Louise Zeyen, Ralf Lottmann und Mechthild Kiegelmann

Die Beiträge des Lehrbuchs LSBTIQ* und Alter(n) umfassen ein breites Spektrum an theoretischen Blickwinkeln und intersektionalen Perspektiven in Bezug auf Alter(n) und LSBTIQ* Communitys sowie Praxisbeispiele aus verschiedensten Perspektiven, etwa von Aktivist*innen oder Sozialarbeiter*innen. Mit besonderer analytischer Schärfe beschreiben Mitglieder verschiedener Communitys Lebenslagen und Bedarfe der unterschiedlichen älteren LSBTIQ*-Gruppen, stellen Initiativen für ältere und alte LSBTIQ* vor sowie gesellschaftliche Forderungen auf. In der Zusammenschau aller Beiträge stellen sich Lebenslagen und psychosoziale Situationen der verschiedenen LSBTIQ*-Gruppen verdichtet dar und spiegeln zugleich gesellschaftliche Bedingungen wider, in denen sie geprägt werden. In den einzelnen Beiträgen werden Ansatzpunkte aufzeigt, wie dieses Fachwissen in der praktischen Arbeit mit den verschiedenen LSBTIQ*Gruppen im Alter nutzbar gemacht werden kann. Unsichtbarkeit, Einsamkeit und Diskriminierung / Unsichtbarkeit von LSB*Senior*innen in der Altenhilfe

/ Einsamkeit vieler LSB*Senior*innen

/ Einsamkeit von Inter*und Trans*Senior*innen noch größeres Problem

Lottmann/Zeyen und Schupp/Gerlach arbeiten heraus, wie in Einrichtungen der Altenhilfe und -pflege sowie in pflegerischen Situationen Heteronormativität und ein binäres Geschlechterverständnis dazu beitragen, dass LSB* unsichtbar gemacht werden. Betreuende Fachpersonen in der Sozialen Arbeit und in der Pflege unterstellen vielfach Heterosexualität und übergehen damit unbeabsichtigt die Bedürfnisse von lesbischen, schwulen und bisexuellen älteren und alten Menschen, etwa nach Sichtbarkeit, Angehörigenarbeit, Körperpflege durch gleichgeschlechtliche Pflegende oder sozialen Kontakten in die Communitys. Dabei ist die Gruppe der älteren LSB*-Senior*innen höchst heterogen. Gerade ältere und hochaltrige schwule und lesbische Senior*innen, welche in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind und Erfahrungen der Diskriminierung gemacht haben, sind vielfach nicht geoutet, mitunter im Alter isoliert und einsam (siehe Beiträge von Gerlach/Schupp, Kleinert und Czapska, anders Krell i. d. B.). Besonders die Angst vor Verfolgung in Verbindung mit § 175 StGB bis in die 1990er-Jahre spiegelt sich, so Kleinert, in den biografischen Verläufen alter schwuler Männer wider. Einsamkeit und Isolation sind, wie Sauer und Veith in ihren Beiträgen aufzeigen, bei inter*- und trans*-geschlechtlichen Senior*innen ein noch größeres Problem als bei den anderen LSBTIQ*-Gruppen, da Familienangehörige häufig den Kontakt abbrechen. Obgleich es bislang vor allem im deutschsprachigem Raum an Studien mangelt, die Diskriminierung von lesbischen, schwulen, bisexuellen, inter*-

Wissen über Problemlagen von LSBTIQ*-Senior*innen für die Pflege

193

und trans*-geschlechtlichen Menschen und ihre Auswirkungen auf Lebenssituationen und Biografien erforschen47, können Ergebnisse aus der sozialpsychologischen Diskriminierungsforschung zum Verständnis der Lebenslagen alter LSBTIQ*-Menschen herangezogen werden. Demnach nehmen erlebte gesellschaftliche Benachteiligungen und Diskriminierung mit zunehmender Häufigkeit und Dauer immer mehr Bewältigungsressourcen in Anspruch und übersteigen so mittelfristig die Selbstregulationsfähigkeit der betroffenen Personen (Ziegler/Beelmann 2009). Dies ist Folge von »Minoritätenstress« (Meyer 2003) – ein Konzept, das in den wissenschaftlichen und professionellen Sprachgebrauch zur Bezeichnung der Auswirkungen von Marginalisierungs- und Diskriminierungserfahrungen Eingang gefunden hat. Er kann dazu führen, dass sich Menschen nach einer Vielzahl von Diskriminierungsund Ausgrenzungserfahrungen von ihren Mitmenschen zurückziehen. Die Beiträge von Brauckmann, Czapska, Gerlach/Schupp, Krell und ­Müller heben hervor, dass Lesben und Schwule in Einrichtungen der Altenhilfe Diskriminierung erfahren haben oder dies befürchten. Daher bestehen bei vielen alten Lesben und Schwulen große Ängste, auf Versorgung im Pflegeheim angewiesen zu sein und im Alter zurück »in den Schrank zu müssen«48. Czapska weist darauf hin, dass viele lesbische Frauen im Alter von Frauen gepflegt werden möchten und befürchten, dass dies in Pflegeheimen nicht garantiert sei. Müller verdeutlicht die Bedeutung der Biografie und die im Laufe des Lebens entwickelten Strategien im Umgang mit Diskriminierung und Repression. Der Beitrag von Jones/Lottmann thematisiert das »stille B«, die bisexuellen Senior*innen, die auch innerhalb der LSBTIQ*-Community Unsichtbarkeit erfahren. Anhand der Biografien von bisexuellen Menschen zeigt sich, wie wichtig es ist, für Unterschiede zwischen Begriffen wie Identifikation, sexuelles Begehren, Wünsche und Phantasien in der Praxis zu sensibilisieren.

47 Innovative Ergebnisse sind von der CILIA LGBTIQ+ Studie zu erwarten. Dabei handelt es sich um eine internationale Vergleichsstudie zu Ungleichheitserfahrungen im Lebensverlauf von LSBTIQ+ Personen, die, finanziert von der DFG und Norface – New Opportunities for Research Funding Agency Cooperation in Europe, in Kooperation der ASH unter der Leitung von Prof. Castro Varela mit den Universitäten Surrey (England), Strathclyde (Schottland) und Coimbra (Portugal) durchgeführt wird. https://www.cilia-lgbtiq.de (Zugriff am 04.10.2019). 48 »Coming-out« hat sich als Begriff etabliert, um das Hervorkommen aus dem Verstecken und Verschweigen zu benennen. Es ist eine Kurzform der englischsprachigen Redewendung »coming out of the closet« – also »aus dem Kleiderschrank herauskommen«.

/ Diskrimi­ nierung von Lesben und Schwulen im Alter

/ Diskrimi­ nierung von Bisexuellen

194 / Diskriminie­ rung von Inter*und Trans*-­ Senior*innen auch in Gesundheitsversorgung und Pflege

Regina Brunnett, Tamara-Louise Zeyen, Ralf Lottmann und Mechthild Kiegelmann

Inter*- und trans*-geschlechtliche Menschen erfahren noch häufiger als Lesben, Schwule und Bisexuelle auch in Einrichtungen der Gesundheitsversorgung Diskriminierung und Herabwürdigung (siehe Beiträge Sauer, R ­ euter/ Brunnett und Veith i. d. B.). Es kann davon ausgegangen werden, dass sich dies in Einrichtungen der Altenhilfe bzw. -pflege fortsetzt. Fachpersonen in der Gesundheitsversorgung, Altenhilfe und -pflege mangelt es, so Sauer und Veith, häufig an »Gender-Identitäts-Wissen«; daher würden grundlegende Bedürfnisse inter*- und trans*-geschlechtlicher älterer Menschen, z. B. korrekte Ansprache oder respektvoller Umgang mit individueller, nicht-normativer Körperlichkeit in der Pflege häufig nicht berücksichtigt. Inter*- und trans*-geschlechtliche Senior*innen erfahren daher überproportional häufig im Umgang mit verschiedenen Fachkräften in der Versorgung und Pflege Respektlosigkeit (siehe Beiträge Sauer, Reuter/Brunnett und Veith i. d. B.); sie werden dabei vielfach verletzt und in ihrer Selbstbestimmung beschnitten. Erfahrungen von Diskriminierung in der Altenhilfe und -pflege können also, entgegen des gesellschaftlichen Auftrages der Altenhilfe, Rückzug und Isolation im Alter noch verstärken. Eingeschränkte soziale Teilhabe

/ Einge­ schränkte soziale Teilhabe von LSBTIQ* im Alter

Die soziale Teilhabe von inter*- und trans*-geschlechtlichen Senior*innen wie auch von LSB*-Gruppen ist im Alter und in der Altenhilfe durch Unsichtbar-Machen, soziale Isolation und Angst vor Diskriminierung in- und außerhalb von Institutionen vielfach eingeschränkt. Kleinert beschreibt aus seiner beruflichen Arbeit mit schwulen alten Männern in ländlichen Räumen, wie sich Isolation in vielen Jahren des Versteckt-Lebens manifestiert und Einsamkeit chronifiziert. Lottmann/Zeyen verdeutlichen hierbei, wie das Berücksichtigen von Biografien und sozialen Netzwerken in der Sozialen Arbeit dazu beitragen kann, den Bedürfnissen und Bedarfen von LSBTIQ*-Senior*innen besser gerecht zu werden. Wie einige Beiträge beschreiben, können in belastenden psychosozialen Lebenslagen, insbesondere wenn sie verfestigt sind, Beschädigungen der eigenen Identität und der Integrität (siehe Beitrag von Gerlach/Schupp i. d. B.) oder/und Depressionen und Angstzustände (siehe Beiträge Brauckmann, Kleinert, Veith i. d. B.) gehäuft auftreten. Mitunter tragen diese dazu bei, dass soziale Netzwerke weiter geschwächt werden, da sich Freund*innen zurückziehen. Zudem tragen Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt mutmaßlich dazu bei, dass LSBTIQ*-Senior*innen, insbesondere trans*- und inter*-geschlechtliche

Wissen über Problemlagen von LSBTIQ*-Senior*innen für die Pflege

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Senior*innen sowie prinzipiell auch Lesben, überproportional häufiger von Altersarmut und prekären Lebenssituationen im Alter betroffen sind (siehe Beiträge Krell, Reuter/Brunnett, Sauer und Veith i. d. B). Eingeschränkte Lebenschancen auf ein würdevolles Leben im Alter Die Chancen, ein selbstbestimmtes und würdevolles Leben im Alter führen zu können, zu dem auch gute Pflege und Versorgung bei Pflegebedürftigkeit gehören, sind selbst unter LSBTIQ*-Senior*innen als gesellschaftliche Minoritäten nicht gleich verteilt. Während sich im Zuge des sozio-kulturellen Wandels seit den 1980erJahren besonders in urbanen Räumen die Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben und im Vergleich zum heterosexuellen Mainstream gleichberechtigte(re) Lebenslagen für Lesben, Schwule und Bisexuelle verbessert haben (z. B. Lautmann 2016), trägt der seit den 1990er-Jahren einsetzende soziale Veränderungsprozess in Bezug auf das Verständnis von Geschlecht und von Trans*- sowie von Inter*-Geschlechtlichkeit trotz anhaltender nationaler und internationaler Forderungen nur langsam Früchte (Hamm/Sauer 2014).

/ Ungleiche Verteilung der Chancen auf ein würdevolles Leben im Alter unter LSBTIQ*

Intersektionale Analysen zeigen Vielfalt von Lebenslagen in LSBTIQ*-Gruppen Die Vielfältigkeit der Lebenserfahrungen in den LSBTIQ*-Gruppen verweist darauf, dass es intersektionaler Analysen und Handlungskonzepte für Fachkräfte bedarf, um für alle LSBTIQ*-Gruppen »menschenrechts- und bedürfnisorientierte« (Hamm/Sauer 2014, S. 4) Versorgung im Alter entwickeln zu können (siehe Beiträge Riegel, Zeyen, Castro Varela i. d. B.) So sind Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht allein nach sexueller Orientierung/Praxis organisiert, sondern sie sind vielfach verschränkt etwa mit Geschlechterverhältnissen (siehe Beiträge Krell, Czapka, B ­ runnett, Kiegelmann und Riegel i. d. B.), Rassismen (siehe Beitrag Castro Varela i. d. B.), körperlichen (ableistischen) Normen (siehe Beitrag Raab i. d. B.) und Klassenverhältnissen. Durch intersektionale Erfahrungen geprägte Lebenslagen können »Minoritätenstress im Alter« (nach Meyer 2003) vervielfachen und so eventuell auftretende psychosoziale Probleme verstärken. Mit Castro Varela und Raab (i. d. B.) ist dafür zu plädieren, dass intersektionale Analysen herangezogen werden, um auch die Bedarfe und besondere Verletzlichkeit von in verschiedenen Dimensionen benachteiligten LSBTIQ*-Senior*innen berücksichtigen zu können.

/ Intersektionale Analysen etablieren

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Regina Brunnett, Tamara-Louise Zeyen, Ralf Lottmann und Mechthild Kiegelmann

Veränderung sozialer Ordnungen und Machtregimes / Gesellschaft und Machtregimes verändern

/ Wissens­ bestände für Pflege und Soziale Arbeit erweitern

/ Pflegerische und gesundheitliche Versorgung verbessern

/ Soziale und politische Rechte für LSBTIQ* verwirklichen

Riegel (i. d. B.) weist in ihrem Beitrag darauf hin, dass es über das Erkennen und Verständnis der vielfältigen und multidimensionalen Lebenslagen und Erfahrungen von alten LSBTIQ* hinausgehend darauf ankomme, die sozialen Ordnungen und gesellschaftlichen Machtregimes zu reflektieren und zu verändern, in denen die Erfahrungen gemacht werden und in denen Altenhilfe und -pflege als soziale Akteur*in agieren. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Veränderung ist es, die gerontologischen, pflege-, sozial- und gesundheitswissenschaftlichen Wissensbestände über Senior*innen auf Bias zu überprüfen, zu erweitern und zu differenzieren (siehe Beiträge Krell, Gerlach/ Schupp i. d. B.). Die Beiträge des Lehrbuchs sind hier (nur) ein erster Schritt: Sie zeigen den Wissens- und Entwicklungsstand in Forschung, Praxis und alters- und pflegebezogenen Angeboten für verschiedene LSBTIQ*-Senior*innen-Gruppen überwiegend in Deutschland auf. Dabei sind sowohl die beschriebenen Gemeinsamkeiten als auch die Heterogenitäten unter den LSBTIQ*-Gruppen für die Arbeit der Fachkräfte in der Altenhilfe und -pflege hoch bedeutsam. Denn erst auf Grundlage von Wissensbeständen können sich pflegerische und gesundheitliche Versorgung verbessern. Es geht darum, diversitätssensible professionelle Handlungskonzepte, professionelle Haltungen und Organisationsstrukturen in Altenpflege und -hilfe zu entwickeln, welche den Erfahrungen und Bedürfnissen der unterschiedlichen LSBTIQ*-Gruppen im Alter nach Pflege, Begleitung, Kontakt, Freizeit und Bildung gerecht werden können. Generell zeigt sich insbesondere in den Berichten aus der Praxis, wie wichtig Weiterbildungen und Qualifizierungen von Fachkräften sind und wie diese durch die Entwicklung von Wissen und Sensibilität hinsichtlich der Betreuung und Pflege von LSB*-Senior*innen und auf Trans* und Inter* erweiterten Genderkompetenzen die Versorgung, Betreuung und Pflege von LSBTIQ*-Senior*innen verbessern können. Nicht zuletzt bedarf es eines gesellschaftlichen Diskurses, damit soziale und politische Rechte von LSBTIQ*-Gruppen eingelöst werden können. Die Forderung nach Verbesserung der Versorgung der LSBTIQ*-Gruppen im Alter und in der Pflege ist, wie die Beiträge des Bandes deutlich gemacht haben, eng verknüpft mit rechtlicher und sozialer Gleichstellung, diversitätssensiblen Curricula in der Aus-, Fort- und Weiterbildung, Antidiskriminierungsmaßnahmen und nicht zuletzt dem gesellschaftlichen Klima. Es ist unerlässlich, soziale und gesundheitliche Menschenrechte und eine bedarfsgerechte Versorgung für alle zu gewährleisten.

Wissen über Problemlagen von LSBTIQ*-Senior*innen für die Pflege

197

Dazu gehört, dass in Einrichtungen des Gesundheitswesens und der Altenhilfe nicht diskriminiert werden darf, dass Autonomie und Selbstbestimmung trans*- und inter*-geschlechtlicher Menschen in allen Lebensbereichen handlungsleitend sein müssen, und dass alle Menschen auch tatsächlich gleichberechtigten und allgemeinen Zugang zu einer fachgerechten Gesundheitsversorgung haben. Den verschiedenen Communitys der LSBTIQ*-Gruppen kommt dabei / Prozesse eine maßgebliche Rolle zu, die Qualität der Versorgung der jeweiligen Grup- partizipativ gestalten pen in der Gesundheitsversorgung, Altenhilfe und -pflege partizipativ weiterzuentwickeln. Dieser Band ist als Beitrag dazu gedacht, das Fachwissen aus den unterschiedlichen LSBTIQ*-Communitys in die Lehre und Ausbildung von Fachpersonen in der Altenhilfe einfließen zu lassen und mit ihnen die Weiterentwicklung der Versorgung und Betreuung – nicht nur – von LSBTIQ*-­ Senior*innen zu verbessern. Literatur Appenroth, M. N./Lottmann, R. (2019): Altern trans anders? Empirische Befunde internationaler Untersuchungen zu transidentität, Gesundheit und Alter(n). In: M. N. Appenroth/M. d. M. Castro Varela (Hg.): Trans & Care. Trans Personen zwischen Selbstsorge, Fürsorge und Versorgung (S. 287–302). Bielefeld. Hamm, J. A./Sauer, A. T. (2014): Perspektivenwechsel: Vorschläge für eine menschenrechtsund bedürfnisorientierte Trans*-Gesundheitsversorgung. Zeitschrift für Sexualforschung, 27, 4–30. Lautmann, R. (2016): Die soziokulturelle Lebensqualität von Lesben und Schwulen im Alter. In: R. Lottmann/R. Lautmann/M. d. M. Castro Varela (Hg.): Homosexualität_en und Alter(n) (S. 15–50). Wiesbaden. Meyer, I. H. (2003): Prejudice, social stress, and mental health in lesbian, gay, and bisexual populations: conceptual issues and research evidence. Psychological bulletin, 129 (5), 674. Ziegler, P./Beelmann, A. (2009): Diskriminierung und Gesundheit. In: A. Beelmann/K. J. Jonas (Hg.): Diskriminierung und Toleranz. Psychologische Grundlagen und Anwendungsperspektiven (S. 357–378). Wiesbaden.

Anhang

Lösungen zu den Fallbeispielen Bei den hier angegebenen Lösungen zu den Fragen der Fallbeispiele handelt es sich um mögliche Lösungsansätze für die genannten Fragestellungen. ­Darüber hinaus können weitere Aspekte und Ideen genannt werden. Zu Kapitel 2.1 LSBTIQ* und Altern aus psychologischer Sicht (Kranz) (A) Wie reagieren Sie persönlich auf den Wunsch von Karla D., in Ihre Einrichtung zu ziehen? Mögliche Antwort: Verunsicherung durch mangelnde Erfahrung mit geschlechtlichen Minderheiten, diese zu unterscheiden von Ablehnung geschlechtlicher Minderheiten; Sicherheit im Umgang mit Frau D. durch Offenheit und Kontakt leicht möglich; Ablehnung von Frau D. aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität mit ethischen Grundsätzen von helfenden Berufen unvereinbar (z. B. Ethikkodex des International Council of Nurses oder International Federation of Social Workers). (B) Welche Aspekte könnten im Hinblick auf die Aufnahme der neuen Mitbewohnerin wichtig sein? Mögliche Antwort: Respekt und Akzeptanz im Umgang mit der neuen Mitbewohnerin selbstverständlich; darüber hinaus Wissen über Transidentität (Identifikation mit einem anderen Geschlecht) notwendig; Ansprache von Frau D. mit weiblichem Namen und weiblichen Pronomina; Vorsicht bei der Formulierung »transsexuelle Seniorin« (beinhaltet meist medizinische Geschlechtsangleichung); Frau D. bestimmt selbst, was sie wann und wem gegenüber über ihre Transidentität preisgibt (z. B. zu Zwecken der Körperhygiene); Privatsphäre und Diskretion wahren und Schweigepflichtregeln einhalten; keine despektierliche Rede über Frau D. dulden, erst recht keine körperlichen Übergriffe. (C) Wie könnten Sie sich auf den Erstkontakt mit Karla D. vorbereiten? Mögliche Antwort: Bemühen um freundlichen, professionellen und unaufgeregten Erstkontakt; Sensationslust durch indiskrete Fragen, aber auch unan-

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gemessene Körpersprache vermeiden; Frau D.’s Transidentität zunächst nicht relevant (es sei denn, sie thematisiert sie); eventuell allgemeiner Hinweis, dass in der Einrichtung Offenheit und Vielfalt wertgeschätzt werden; Weiterbildung zu Transidentität sicherlich hilfreich, z. B. in Zusammenarbeit mit LSBTIQ*Zentrum vor Ort oder Bundesverband Trans*. Zu Kapitel 2.2 LSBTIQ* und Alter(n) aus pflegewissenschaftlicher Sicht (Gerlach/Schupp) (A) Welche förderlichen oder hemmenden Faktoren erkennen Sie im Fallbeispiel, die darauf Einfluss nehmen (können), ob und wie sich Pauline B. als Lesbe zu erkennen gibt? Mögliche Antwort: Hemmend: schon vor Einzug ins Pflegeheim Einzelgängerin und nur im engsten Freund*innenkreis geoutet; Angst vor Diskriminierung, sieht sich als einzige Lesbe im Pflegeheim; fehlende konzeptionelle Willkommenskultur für LSBTIQ*-Pflegebedürftige Fördernd: offen schwuler Pflegeschüler im Pflegeheim, guter Kontakt zu Pflegenden, der Vertrauen und Rückversicherung ermöglicht, Akzeptanz seitens der Pflegenden; Mut und Selbstvertrauen der Pflegebedürftigen (B) Wie könnte das Bedürfnis von Pauline B. nach lesbischen sozialen Kontakten und sozialer Teilhabe im Pflegeheim unterstützt werden? Welche Berufsgruppen wären hierfür zuständig? Mögliche Antwort: Angebote für lesbische Senior*innen aufsuchen oder im Pflegeheim initiieren (Pflegefachperson, Mobilitätshilfe, Alltagsbegleiter*in oder Sozialarbeiter*in der sozialen Betreuung); Kontakt zu einem Besuchsnetzwerk für ältere Lesben oder zu einer Selbstvertretung herstellen (Pflegefachperson, Sozialarbeiter*in der sozialen Betreuung); Zugang zu WLAN ermöglichen, um soziale Netzwerke nutzen zu können (Heimleitung); ggf. Schulungsangebot für den Umgang mit WLAN (soziale Betreuung, Ehrenamtler*in); CSD im Pflegeheim feiern und dazu einladen (Heimbeirat, soziale Betreuung, Angehörige) (C) Wie könnte pflegerisches Handeln aussehen, sodass die individuelle Bedürfnislage von Pauline B. für das Personal besser in Hinsicht auf ihre

Lösungen zu den Fallbeispielen

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sexuelle und geschlechtliche Identität erkennbar wird und welche Unterstützung benötigen Sie für Ihr professionelles Berufshandeln? Mögliche Antwort: Subjektorientiert pflegen; sich über spezifische Lebenswelten informieren; individuelle Bedürfnisse wahrnehmen; Biografiearbeit inklusive Ressourcenerhebung; Anderssein anerkennen; Erkennen und Entgegenwirken von möglichen Diskriminierungen; eigene Haltung und eigenes Handeln reflektieren; Vorurteile reflektieren; gendersensibel kommunizieren Unterstützungen: konzeptionelle Verankerung der Berücksichtigung der Lebenswelten von LSBTIQ*-Senior*innen und deren organisationale Sichtbarkeit (Gütesiegel): Berücksichtigung im Qualitätsmanagement und Leitbild (Heimleitung, PDL), in Pflegeplanungen (PDL, Pflegefachpersonen) Schaffen einer Kultur der Anerkennung; subjektorientierte Pflege (Pflegepersonal); Vermittlung von Wissen über die Biografien und Lebensweisen von LSBTIQ* in der Aus-, Fort- und Weiterbildung; Supervision; Rückhalt im Team; betriebliches Antidiskriminierungsmanagement; Vernetzung und Kooperation mit den LSBTIQ*-Communitys Zu Kapitel 2.3 LSBTIQ* und Alter(n) aus soziologischer Sicht (Schütze) (A) Beschreiben Sie, inwiefern die gesellschaftliche Bewertung von Homosexualität für Werner S.’ Selbstbeschreibung im Alter eine Rolle spielt. Mögliche Antwort: Werner S. hat schon früh erfahren, dass Schwule in der Kirche diskriminiert werden; Prägung der beruflichen Biografie wie auch seinen Umgang mit der eigenen Homosexualität; kein Outing in der Öffentlichkeit (Arbeitsplatz, Freund*innenkreis, Familie, Bekannte); frei wählbarer ambulanter Pflegedienst bei Pflegebedürftigkeit (B) Für den Fall, dass Werner S. nicht zu Hause gepflegt werden könnte. Welchen Umgang könnte er sich in einem Pflegeheim wünschen? Mögliche Antwort: Kontakt zu einem schwulen Besuchsdienst und zu seinen Freunden könnten seinen Wunsch nach Szene unterstützen, ohne dass er sich hierfür outen müsste; Pflegeheim entlang von LSBTIQ*-freundlichen Kriterien zertifiziert, diskriminierungsfreie Umgebung würde es ggf. ermöglichen, sich zu outen; Möglichkeit sich nicht outen zu müssen ist für ihn wesentlich; reines LSBTIQ-Wohnheim für ihn nicht Mittel der Wahl;

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lebt als Schwuler, möchte aber auch im Alter seine Privatsphäre schützen, inklusive Outing (C) Bitte erläutern Sie konkret am Beispiel von Werner S. die häufig unhinterfragte Gleichsetzung von Männlichkeit mit heterosexueller Männlichkeit. Welche Folgen kann Alter(n) und Homosexualität für das Verständnis der Männlichkeit schwuler Männer haben? Mögliche Antwort: Bezug auf hegemoniale Konzepte von Männlichkeit (historischer Kontext), aber zugleich auch Distanzierung von ihnen; berufliche Tätigkeit, sexuelle Aktivität und körperliche Unversehrtheit sind Hauptbezugspunkte der Männlichkeitskonstruktion; gleichzeitig Wunsch nach authentischen Ausdrucks- und Lebensformen abseits heterokonformer Männlichkeitsvorstellungen; starker Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung des eigenen, individuellen Bezugs zu Männlichkeit und Sexualität Zu Kapitel 2.4 LSBTIQ* und Alter(n) aus sozialarbeiterischer Sicht (Lottmann/Zeyen) (A) Wie werden biografische Informationen üblicherweise erhoben und worauf ist bei LSBTIQ*-Senior*innen zu achten? Mögliche Antwort: Biografiebögen oder Dokumentationen zu biografischen Daten (Angaben zu Familie, Hobbies, Beruf und Familienstand): ggf. »Single« für Nichtverheiratete möglich; Familienstand spiegelt nur bedingt Leben von LSBTIQ*-Senior*innen wider (wenn diese z. B. vor 2018 nicht heiraten konnten); »verwitwet« nicht möglich, da noch kein Recht auf Ehestand oder Verpartnerung für Homosexuelle bestand;. alternative Lebenswege, Lebenspartner*innenschaften und Relevanz freundschaftlicher Netzwerke sollten aufgenommen werden (B) Welche Maßnahmen in Altenhilfe und -pflege sind am besten dazu geeignet, die biografischen Informationen von Anton G. zu ermitteln? Mögliche Antwort: Biografisch angelegtes Aufnahmegespräch (unterstützt durch einen biografisch geprägten Biografiebogen), in dem auch der (schwullesbische oder queere) Freund*innenkreis der Bewohner*innen berücksichtigt wird; Biografie- und Angehörigenarbeit, die behutsam die Biografie

Lösungen zu den Fallbeispielen

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und Besonderheiten von Anton G. für die Mitarbeitenden der Einrichtung erkennen lässt – Förderung biografiesensibler Pflege von LSBTIQ*-Senior*innen (C) Welche Besonderheiten beobachten Sie im Fall von Anton G.? Wie könnte ein biografischer Ansatz bzw. »lebensweltorientierte Arbeit« dazu beitragen, das Wohlbefinden von Herrn G. zu stärken? Bitte beschreiben Sie konkrete Beispiele. Mögliche Antwort: [enthält Aspekt Lebensweltorientierung] Anton G. hat nur noch wenige Freund*innen, die ihm das Leben im Heim ggf. erleichtern und für soziale Teilhabe in seinem Leben sorgen könnten. Ggf. können frühere Freund*innen über Biografie- und Angehörigenarbeit erinnert und angefragt werden; obwohl Anton G. verlangt, dass man sein Schwulsein erkennt, benutzt er z. B. nicht das Wort »schwul« und auch »homosexuell« wird ihm aktiv kaum über die Lippen kommen; Mitarbeitende könnten über Erlebnisse vergangener Tage zu diesem Themenbereich ins Gespräch kommen: Wie hat er seinen Lebenspartner kennengelernt? Welche Erlebnisse mit Partnern erinnert er? (Falls eine Person keine Lebenspartner*innen hatte: Was waren für Sie wichtige Personen in Ihrem Leben etc.) Über Fragen zu früheren Hobbies, beste Freund*innen und Leidenschaften werden entsprechende Erinnerungen wach, die in dem Alltag ggf. wieder eine Rolle spielen könnten (z. B. Lieblingsbild, das in einem Umzugskarton verstaut ist; Wunsch nach einem Besuch im Lieblingsmuseum, Lieblingstheater). Zu Kapitel 2.5.1 Intersektionalität, LSBTIQ* und Alter(n) (Riegel) (A) Welche Macht- und Ungleichheitsverhältnisse überlagern sich in dieser Situation? In welcher Weise werden diese wirksam, mit welchen Folgen? Mögliche Antwort: Alle gesellschaftlich relevanten Macht- und Herrschaftsverhältnisse in globalisierten Ungleichheitsverhältnissen, auch unbenannte, nicht offensichtliche; hier zeigen sich patriarchale Geschlechterverhältnisse, Arbeitsteilung bzgl. Produktion und Reproduktion; kulturelle und strukturelle Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit; Heteronormativität und asymmetrische Geschlechterverhältnisse überlagern sich mit Klassenverhältnissen (u. a. bzgl. unterschiedlichen materiellen, finanziellen Ressourcen sowie sozialem u. kulturellem Kapital) sowie Generationen- und Körperver-

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hältnissen (Able Bodiedness u. Ableism); die kapitalistisch ausgerichtete Organisation von Care und Pflege ist wiederum im Rahmen globaler Ungleichheitsverhältnisse organisiert und situiert, in der sich Migrationsverhältnisse und internationale Zentrum-Peripherie-Verhältnisse mit der vergeschlechtlichten Organisation von Reproduktions- und Care Arbeit verschränken, wodurch sich diese Verhältnisse z. T. auch neu ordnen und verschieben; die in der Situation Beteiligten sind in dieser Gemengelage verschieden positioniert, ihr Leben und ihre Erfahrungen sind von diesen Verhältnissen durchdrungen, sie sind vor diesem Hintergrund unterschiedlich verletzbar bzw. verfügen über Handlungsmacht. (B) Welche Zuschreibungen stehen hier im Raum? Was hat dies mit den bestehenden Machtverhältnissen und sozialen Positionierungen der Beteiligten zu tun? Mögliche Antwort: Heteronormativität: Liebes- und Partnerschaftsbeziehungen werden heterosexuell gedacht und vor diesem Hintergrund H. M. und J. H. von der Betreuerin E. P. nicht als schwules Paar identifiziert/gelesen; die Betreuerin deutet – vor dem Hintergrund bereits gemachter Erfahrungen von Gewalt durch Männer in einer Arbeits- und Abhängigkeitsbeziehung und den bestehenden Asymmetrien in diesen überindividuellen Verhältnissen – die beiden pauschalisierend als Männer, die eine potenzielle Gefahr darstellen; auf der anderen Seite unterstellen H. M. und J. H. Homophobie angesichts der ihnen nicht verständlichen Verhaltens von E. P; möglicherweise spielen noch rassistische Denkfiguren hinein angesichts dominanter Diskurse, die Migrant*innen als weniger tolerant gegenüber Homosexualität darstellen, als dies vom national verstandenen »Wir« der Gesellschaft angenommen wird. (C) Was muss von Vermittlungsagenturen von 24-Stunden-Pflegekräften getan werden, um solche Situationen zu vermeiden? Was resultiert daraus für die Altenhilfe? Mögliche Antwort: Meldungen von gewaltförmigen Übergriffen sowie von (hetero-)sexistischer, trans*-feindlicher, rassistischer Gewalt in Pflegeverhältnissen (gleich von welcher Seite) ernstnehmen und reagieren; Maßnahmen treffen, sodass Pflegende und Pflegebedürftige geschützt sind und solche diskriminierenden Vorkommnisse sanktioniert werden; strukturell, in der Organisation den diversen Lebenslagen und Bedarfe der Nutzer*innen gerecht werden und inklusive und gerechte Arbeitsverhältnisse und Entlohnung bieten;

Lösungen zu den Fallbeispielen

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die konkrete Vermittlung und das Zusammenführen von Pflegepersonal und Pflegebedürftigen bzw. Angehörigen diversitätsbewusst, diskriminierungskritisch und sensibel gegenüber vielfältigen Lebensformen gestalten, zugleich die individuellen und subjektiven Bedürfnisse berücksichtigen und diese in Absprachen jeweils transparent zu machen, ohne jemanden vorzuführen oder auf bestimmte Merkmale festzuschreiben. Zu Kapitel 2.5.2 Migration und LSBTIQ* in der Altenhilfe (Castro Varela) (A) Sollte Karima M. pflege- oder betreuungsbedürftig werden, was wäre zu beachten? Welche biografischen Stationen wären im Falle einer Pflegesituation zu berücksichtigen? Mögliche Antwort: mögliche Re-Traumatisierungsgefahren aufgrund ihrer Fluchterfahrungen; dass Karima M. nicht in Einrichtungen der Altenhilfe als Lesbe (erneut) unsichtbar gemacht wird; ihre lesbische Lebensweise kann z. B. in Biografiearbeit, in Angehörigenarbeit oder bei sozialen Aktivitäten Berücksichtigung finden; dass ihre Ängste gegenüber Pflegeinrichtungen ernst genommen werden (Fachpersonal interessiert für biografische Ereignisse in ihrem früheren Leben, durch empathische und personenzentrierte Pflege und Betreuung) (B) Welche Maßnahmen in Altenhilfe und -pflege sind am besten dazu geeignet, die biografischen Informationen von Karima M. zu ermitteln? Mögliche Antwort: Aufgrund Karimas M. Interesse für politische Zusammenhänge gemeinsam mit ihr Zeitung lesen und so Informationen zu ihrer Biografie erhalten (Fachpersonen, z. B. Betreuungskräfte); sich selber ein Bild von den politischen Entwicklungen von Karimas Herkunftsland machen; Kontakte zu politischen Institutionen aufbauen (Fachpersonen, z. B. Betreuungskräfte) (C) Welche Besonderheiten beobachten Sie im Fall von Karima M.? Wie könnten intersektionelle Perspektiven dazu beitragen, die Bedarfe von Karima M. zu erfassen? Mögliche Antwort: Karima ist nicht nur lesbisch, sondern hat auch Fluchterfahrungen und ist politisch aktiv; intersektioneller Blick ermöglicht die

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spezifischen Erfahrungen genauer zu betrachten, den oft sehr eingeschränkten Blick zu überwinden; siehe auch Antworten auf die Fragen A und B; anzunehmen, dass sie in Diversity geschult ist, könnte auch als Beraterin innerhalb einer Institution der Altenhilfe tätig werden (Ressourcenorientierung) Zu Kapitel 2.5.3 Behinderung, LSBTIQ* und Alter(n) (Raab) (A) Was denken Sie, ist die Hauptaussage in dem Fallbeispiel? Was ist in den Augen der Pflegebedürftigen beachtenswert bei der Pflege von LSBTIQ*? Mögliche Antwort: Dass behinderte LSBTIQ* im Alter wie alle anderen Pflegebedürftigen als Menschen behandelt und gepflegt werden; nicht als ein zu pflegendes Objekt (»wie eine Schüssel«). Weiterhin verweist die Befragte auf die Lebenswelt lesbischer Frauen und deren Lebensstile (B) Wie könnte ein Diversity-Training für das Pflegepersonal sowie eine »lebensweltorientierte Arbeit« dazu beitragen, die Pflegequalität bei dieser Frau zu stärken bzw. zu gewährleisten? Mögliche Antwort: Lebensweltorientierter Ansatz in Kombination mit Diversity-Training z. B. subkulturelle Netzwerke und Ressourcen berücksichtigen; im Gespräch während der Pflege sollte offen über die jeweilige sexuelle und geschlechtliche Identität erzählt werden (dürfen); Biografiearbeit, Maßnahmen zum Erkennen und Fördern von Ressourcen (C) Was könnte die Frau im Fallbeispiel meinen, wenn sie sagt »n bisschen anders leben’wer ja dann doch«? Was fällt Ihnen dazu ein und inwiefern kann dies für den Alltag von LSBTIQ*-Senior*innen bzw. -Pflegebedürftigen für die Betroffenen und das Personal relevant sein/werden? Mögliche Antwort: Meistens haben ältere, behinderte LSBTIQ-Senior*innen gute Kontakte zur LSBTIQ*-Subkultur/Selbsthilfe; eigene Lebensform ist mitunter geprägt und alltäglich wahrnehmbar – in Hinsicht auf mehrere Differenzierungsmerkmale; Textbeispiel deutet auf Relevanz der Lebenswelt lesbischer Frauen und des jeweiligen Lebensstils hin (z. B. Angehörigenarbeit Freund*innen und Partner*innen, die gezielt einbezogen werden sollten)

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Zu Kapitel 2.5.4 Altersarmut bei LSBTIQ* (Brunnett) (A) Welche Informationen über Biografie und soziale Lebenslage finden Sie im Fallbeispiel? Wo werden solche Informationen üblicherweise in der Pflege erfasst? Mögliche Antwort:  Teil 1: Alleine lebend, Rente und Wohngeld (gering; materielleUnterversorgung?), kleine Wohnung, Stadtrand, Depressionen und eingeschränkte Mobilität, wenige soziale Kontakte/chronischer sozialer Rückzug, Einsamkeit, Anzeichen für Fehl- bzw. Unterernährung Teil 2: Sozialanamnese, Biografiearbeit (B) Welche Handlungsstrategien im Umgang mit Armut hat Leon L. entwickelt? Mögliche Antwort: Sparsamkeit und Kompetenz, günstige Ressourcen für Kleidung zu finden und zu nutzen; individualisierte Strategien, um die materiellen Notlagen zu kompensieren; Rückzug, vermutlich aus Angst vor sozialer Stigmatisierung bzw. sozialer Ablehnung (C) Wie könnte Leon L. darin unterstützt werden, wieder stärker am sozialen Leben teilzuhaben? Welche Berufsgruppen wären am besten zu beteiligen? Mögliche Antwort: Teil 1: Besuchsdienst für Trans*- und Inter*-Menschen im Alter (Hintergrund für die Bezeichnung er*sie) – Gespräche, die die Möglichkeit eröffnen, Lebenserfahrungen mit anderen Menschen zu teilen; Kontakte vermitteln zu Personen, die seine Berufs und Lebenserfahrungen wertschätzen und von seiner Beratung profitieren könnten (auch: Webdesign, Insolvenz, Single-Leben im Alter, Einsamkeit, schlechte Wohnlage, Depressionen); im weiteren Verlauf ggf. zwanglose soziale Kontakte durch Besuch von Mehrgenerationeneinrichtungen, Cafés in Trans*- und Inter*-Räumen o. ä., angepasste Hilfsmittel fürs Gehen/Mobilitätsdienst, Pflegedienst mit Trans*- bzw. Inter*-Mitarbeiter*innen oder Schulung, Bezug von Lebensmitteln durch Tafel (z. T. Fahrdienst möglich), ggf. Schwerbehindertenausweis beantragen und beim Sozialamt prüfen lassen, ob Bezugsberechtigung für Kosten für Mehrbedarf oder Kosten für Kleidung, Sozialticket o. ä. vorliegt Teil 2: Fachstelle für Trans*- oder Inter*-Menschen (ehrenamtliche Unterstützung), ggf. Pflegestützpunkt, Leitung und Mitarbeiter*innen Pflegedienst,

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Hausärzt*in/Fachärzt*in, Tafel, Mobilitätshilfen, ggf. Versorgungsamt/Amt für soziale Angelegenheiten, ggf. Sozialamt, ggf. Case Manager*in Zu Kapitel 2.5.5 Gender und Generationen (Kiegelmann) (A) Wie kann eine junge pädagogische Fachkraft die unterschiedlichen Sichtweisen auf die 1968er-Erinnerungen der hier streitenden Personen anerkennen, und dabei alle Personen mit ihren je eigenen Perspektiven mit einbeziehen? Mögliche Antwort: Ansprechen von Generationenunterschieden zwischen der Fachkraft und den älteren Menschen; Interesse an den je einzelnen Erfahrungen, ohne einzelne Deutungen der politischen Bedeutungen zu bewerten; Gesprächsmoderation mit Blick darauf, dass jede Person, die sprechen möchte, ungefähr gleich viel Zeit dafür bekommt. Ausdrücklich wertschätzendes Interesse an den Erfahrungen des Transmanns ausdrücken und von allen Teilnehmenden erwarten; Arbeiter*innenmilieus und akademische Milieus ansprechen, einschließlich Unterschiede in der Wahrnehmung der 1968er-Zeit (B) Reflektieren Sie die Bedeutung von Elternschaft in den jeweiligen historischen Kontexten und Lebenslagen der Streitenden. Mögliche Antwort: Traditionelle Rollenbilder für Mütter und Väter, die Hindernis für Elternschaft eines Transmanns darstellen; Vereinbarkeit von Elternschaft und Berufsarbeit von Müttern und Vätern; Unterschiede in den Rollen von Kindern und Enkeln zwischen den Generationen; Historischer Wandel in den Möglichkeiten von Elternschaft für LSBTIQ*-Personen, Regenbogenfamilien, die heute möglich sind, war früher schwer umzusetzen; Entscheidungsmöglichkeiten von allen Menschen einschließlich LGBTIQ*-Personen für oder gegen Elternschaft ausdrücklich ansprechen, auf Geschlechterunterschiede dabei eingehen (C) Im Fallbeispiel werden verschiedene Bildungswege der alten Menschen angedeutet. Mit welcher Themenvorgabe könnte bei einer späteren Geschichtswerkstatt die Vielfalt von Bildungschancen und Bildungshindernissen einbezogen werden?

Lösungen zu den Fallbeispielen

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Mögliche Antwort: Themenvorgaben, die Geschlechtsunterschiede in Berufswahlmöglichkeiten und Bezahlung ansprechen; Themen mit Bezug zu Berufsverboten und Diskriminierungen, z. B. über die Unmöglichkeit als LSBTIQ* eine Stelle als Lehrer*in bekommen zu haben; Gesprächsanreize über Handwerk ebenso wie über akademische Berufe oder Familienarbeitskarrieren Beisp piele für möggliche Themenformulierunggen: Waschmaschine und Co: Wie Haushaltsgroßgeräte den Alltag verändert haben; Handwerk im Wandel der Zeiten; Was ist aus meinen Geschwistern und mir geworden? Spielten Geschlecht und Herkunft eine Rolle? Wegbegleiter*innen und ungeahnte Förderer*innen: Geschichten über Menschen, die uns gefördert haben Zu Kapitel 2.6 Altersbilder (Krell) (A) Wie lassen sich Altersselbstbild, Altersfremdbild und LSBTIQ*-bezogenes Altersbild von Albert Z. beschreiben? Mögliche Antwort: Altersselbstbild von Albert Z. ist positiv, altersbedingte Veränderungen sieht er als Gewinne, kompensiert sie auf Grundlage einer hohen Anpassungsbereitschaft; Albert Z. ist sozial eingebunden und aktiv; andere, von ihm als »alt« bezeichnete Menschen werden eher abgewertet, was auf ein negatives Altersfremdbild schließen lässt; LSBTIQ*-bezogen: Befürwortung von spezifischen LSBTIQ*-Angeboten, daher eher positiv (B) Wie könnten Lebenslage und Lebensführung von Albert Z. die Altersselbstbilder von Herrn Z. beeinflusst haben? Mögliche Antwort: Ein positives Altersbild fördernde Einflüsse durch die soziale Einbindung in Partnerschaft und die Gründungsfamilie, ein hohes Maß an Aktivität durch ehrenamtliches Engagement und sportliche Betätigung. Dadurch auch: Kompensation körperlicher Abbauprozesse; unterstützend: (finanzielle) Unabhängigkeit und das gegenüber LSBTIQ*-Lebensweisen offenere gesellschaftliche Klima (C) Beschreiben Sie Maßnahmen der Altenhilfe, die den Bedürfnissen von Albert Z. entsprechen würden. Mögliche Antwort: Maßnahmen der Altenhilfe für Albert Z. müssten berücksichtigen, dass er sowohl in einer schwulen Partnerschaft lebt als auch engen Kontakt zu seiner Gründungsfamilie hat; Offenheit für unterschiedliche

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Standpunkte, Flexibilität und Veränderungsbereitschaft; Maßnahmen sollten Albert Z. ermöglichen, sein Aktivitätsniveau aufrechtzuerhalten. LSBTIQ*bezogene Angebote (Wohnformen und Freizeitgestaltung) Zu Kapitel 3.1 Lesbisch und Alter(n) (Krell) (A) Wie könnten pflegebedürftige lesbische Frauen wie Hedwig S. unterstützt werden, insbesondere, wenn ambulante Pflege nicht (mehr) umsetzbar ist? Mögliche Antwort: (Potenzielle) Bewohner*innen nicht automatisch für heterosexuell und/oder cis halten; ausdrücklich auch LSBTIQ*-Lebenswelten als möglichen sozialen Kontext annehmen; für Wünsche nach dem Geschlecht der Pflegepersonen offen sein und nach Möglichkeit entgegenkommen (beispielsweise den Wunsch von Hedwig S. der Betreuung durch weibliches Pflegepersonal ernst nehmen); Möglichkeiten fördern/unterstützen, Kontakte ins gewohnte soziale Umfeld weiterhin zu pflegen, hier z. B. zu lesbisch-politischen Initiativen (B) Welche Ressourcen könnte Hedwig S. durch ihr Engagement in der Frauenbewegung erworben haben, die ihr in der aktuellen Lebenssituation im Alter nutzen könnten? Mögliche Antwort: Engagement von Hedwig S. in der Frauenbewegung ging mit alternativen Wohn- und Erwerbsformen einher; Hedwig S. kann auf erworbene Ressourcen wie Kreativität, Organisationstalent, Partizipation und aktivistische Erfahrungen zurückgreifen, die ihr in der aktuellen Lebenssituation weiterhelfen können; z. B. in Diskussionen und Planungen von Mehrgenerationenhäusern und alternativen Pflegeorganisationen könnten die Erfahrungen von Hedwig S. einfließen. (C) Worin könnten Hedwig S.’ Befürchtungen, dass in Pflegeeinrichtungen wenig Verständnis für ihre lesbische Lebensweise besteht, begründet sein? Mögliche Antwort: Allgemeine Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen im Lebenslauf, die sie auf den mutmaßlichen Alltag in Pflegeeinrichtungen überträgt.

Lösungen zu den Fallbeispielen

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Zu Kapitel 3.2 Schwul und Alter(n) (Müller) (A) Welche Lebensereignisse haben Egon K. in welcher Art und Weise nachhaltig geprägt? Mögliche Antwort: Geboren während des Faschismus in Deutschland und im Krieg = Einfluss auf gesellschaftliches Klima; Verfolgung und Inhaftierung von schwulen Männern (§ 175 StGB); Kleinstadt = hohe soziale Kontrolle; mangelnder Rückhalt in der Familie; Ablehnung durch die Eltern; Erfahrungen von Gewalt, Diskriminierung und Ausgrenzung. Dadurch: empfindet Schwulsein als Makel, Angst vor Diskriminierung und Gewalt, lebt bis ins höhere Alter Schwulsein im Verborgenen (B) Wie geht Egon K. mit seiner sexuellen Identität um? Mögliche Antwort: Akzeptiert sie so weit, dass er Coming-out hat, evtl. seine Sexualität lebt und sich in der Schwulenszene bewegt; empfindet sie jedoch als Makel (internalisierte Homophobie), weshalb er sich u. a. entscheidet, im Pflegeheim seine sexuelle Identität zu verschweigen; Angst vor Diskriminierung und Stigmatisierung (C) Was hat sich für Egon K. durch den Einzug in eine Pflegeeinrichtung verändert? Mögliche Antwort: Erfahrungen bis ins Erwachsenenalter bleiben relevant, fremde Menschen erhalten Einblick in sein Privatleben; Offenheit fällt ihm schwer, Angst vor Diskriminierung und Gewalt beeinflussen sein Verhalten, möchte sich nicht outen. Fühlt sich nicht (mehr) sicher in der Pflegeeinrichtung, u. a. weil abhängig von Dritten; wird erneut mit Vorurteilen konfrontiert Zu Kapitel 3.3 Bisexuell und Alter(n) (Jones/Lottmann) Lesen Sie das Fallbeispiel und denken Sie anschlieβend über diese Fragen nach. Es kann hilfreich sein, diese mit einer*m Kolleg*in zu besprechen. (A) Wenn Sie eine Pflegefachkraft wären, die Muriel jetzt trifft, halten Sie es für richtig, sie als bisexuell zu bezeichnen?

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Mögliche Antwort: Wahrscheinlich nicht, es sei denn, sie hat angegeben, dass dies der Begriff ist, den sie jetzt für sich selbst verwendet; wichtig, die Begriffe zu verwenden, die Menschen für sich selbst verwenden (keine Etiketten oder Begriffe aufzwingen) (B) Was könnte der von ihr eingesetzte ambulante Pflegedienst tun, um ein besseres Ergebnis bzw. eine gute Pflegequalität für und Beziehungen zu bisexuelle*n Senior*innen zu erzielen? Mögliche Antwort: Trauerselbsthilfegruppe hätte Namen und Dienste um bisexuelle Menschen explizit erweitern können, damit diese einbezogen werden (und möglicherweise genauso z. B. auch für trans*); Die Pflegeeinrichtung: Mitarbeitende schulen und unterstützen, um mehr über Bisexualität sowie über Vertraulichkeit und Privatsphäre zu erfahren (C) Haben Sie jemals jemanden wie Muriel T. getroffen? Gibt es Möglichkeiten, wie Sie helfen könnten, das Verhältnis zwischen einem ambulanten Pflegedienst und seiner Kundin zu verbessern, auch wenn Sie das nächste Mal jemanden in so einer Situation treffen? Mögliche Antwort: Ihre Antwort ist abhängig von Ihren persönlichen Erfahrungen und daher individuell verschieden Zu Kapitel 3.4 Trans*und Alter(n) (Sauer)

Zu Kapitel 3.4 Trans* und Alter(n) (Sauer) (A) Bitte entwickeln Sie drei verschiedene und angemessene Möglichkeiten für eine Begrüßung von Frau K. durch den Arzt. Mögliche Antwort: 1) Arzt spricht Frau K. an: »Guten Tag Frau K., mein Name ist xy. Unser Gespräch heute ist Grundlage für ein Gutachten zur Kostenübernahme der GaOP, es wird ca. xy Zeit in Anspruch nehmen.« 2) Arzt reicht Frau K. die Hand und stellt sich kurz vor: »Guten Tag, mein Name ist xy; ich bin vom MDK beauftragt, ein Gutachten zur Kostenübernahme der GaOP zu erstellen.« 3) Arzt spricht Frau K. an: »Guten Tag Frau K., mein Name ist xy, was kann ich für Sie tun?«

Lösungen zu den Fallbeispielen

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(B) Auf welche Weise reproduziert das Verhalten des Arztes Heteronormativität und das Aufrechterhalten der Zweigeschlechterordnung? Bitte begründen Sie Ihre Position. Mögliche Antwort: Verhalten des Arztes ist übergriffig und grenzüberschreitend, soziale Regeln der Höflichkeit werden nicht eingehalten; Körper von Frau K. wird unerwünscht berührt, als intime Körperregion (muss üblicherweise legitimiert werden); Verhalten setzt ein vermeintliches soziokulturelles Wissen über die Zuordnung von (angemessener) Hüftbreite zum männlichen bzw. weiblichen Geschlecht voraus (»zu breit«, »zu schmal«); Aussage des Arztes bezieht sich auf den »Körperbau«, also auf das biologische Geschlecht, und unterstellt, dass dieses bereits (ohne seine Zustimmung als Experte und autorisierter »gate keeper« für diesen Prozess) verändert worden sei. (C) Wie hätten Frau K. und der MDK im Vorfeld mit Blick auf die Begutachtungssituation unterstützt werden können? Mögliche Antwort: Schulung der MDK-Mitarbeiter*innen in Bezug auf (Trans*-)Gender- und Gesprächskompetenzen, dabei Vermittlung von Wissen; Reflexion von eigenen Haltungen und Tätigkeiten, auch in Bezug auf die ärztliche Rolle; Einübung von diskriminierungsfreier Gestaltung von Gesprächen; individuelle Stützung von Frau K. durch Aufklärung über ihre Rechte in Begutachtungssituationen, Mitnahme einer Begleitperson zur Begutachtung sowie durch Vorbereitung auf möglicherweise diskriminierende Erfahrungen und Erarbeitung von Strategien im Umgang damit Zu Kapitel 3.5 Inter* und Alter(n) (Reuter/Brunnett) (A) Wo finden sich im Kontext der Altenhilfe Personen, denen sich Erika A. anvertrauen kann, ohne Irritation, Ablehnung und Ausgrenzung fürchten zu müssen? Wie könnten sich positive, ermutigende Reaktionen gestalten? Mögliche Antwort: Besuchsdienst für Inter*-Menschen im Alter, Pflegedienst mit Inter*-Mitarbeiter*innen; Selbstvertretungen, Beratungsstellen für/ mit Inter*-Personen; sensibilisiertes ärztliches Personal und Pflegepersonal (z. B. durch Schulung)

Zu Kapitel 3.5 Inter*und Alter(n) (Reuter/ Brunnett)

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Mögliche Antwort: Offenes Sprechen über Inter* (Enttabuisierung), Nachfragen nach geschlechtlicher Selbstverortung und gewünschter Anrede, Respektieren entsprechender Wünsche; Informiertheit bei den Gesprächspartner*innen (B) Welche Möglichkeiten können geschaffen werden, um Erika A. den Kontakt mit anderen intersexuellen Menschen zu ermöglichen, falls sie dies wünscht? Mögliche Antwort: Kontaktaufnahme mit Selbsthilfegruppen und Selbstvertretungen, z. B. über deren Internetauftritte, Kontaktaufnahme mit Inter*Fachstellen (C) Welche Anforderungen ergeben sich aus den möglichen Anliegen und Bedürfnissen Erika A.’ s für die Soziale Arbeit und Pflegeberufe? Mögliche Antwort: Schulungen zu Inter* für alle beteiligten Berufsgruppen zu spezifischen Aspekten; Aufnahme von Inter*-Aspekten in Ausbildungsstandards; Reflexion der eigenen Geschlechtsidentität Zu Kapitel 3.6 Queer und Alter(n) (Zeyen) (A) Wie könnten Erfahrungen von Diskriminierungen und sozialer Ausgrenzung aber auch von Anerkennungen und sozialen Kontakten in der Biografie von Marion C. in ihrer derzeitigen Situation nachwirken? Mögliche Antwort: Internalisierte Abwertungen aufgrund von Diskriminierungserfahrungen innerhalb der Mehrheitskultur aufgrund ihres maskulinen Aussehens und innerhalb der LSBTIQ*-Community aufgrund ihrer gelebten Butch-femme-Beziehung; Ermutigung des Paares, aktuelle Rollen zu thematisieren und aktiv zu gestalten und anzunehmen; Wertschätzung der Leistungen des (ehemaligen) politischen Engagements (B) Im Beispiel wird der Verdacht auf eine psychische Störung bei Marion C. und eine Belastungssituation bei Jeanette D. angesprochen. Welche Lösungsansätze könnten greifen und warum? Mögliche Antwort: Ansprechen, Ressourcen für Psychotherapie zusammenstellen, insbesondere LSBTIQ*-geschulte Therapeut*innen; Zugang zu

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Therapieangeboten unterstützen; Wartegruppen-Selbsthilfe-Arrangement finden oder schaffen, um Menschen mit Depressionen diese als Kontaktmöglichkeit anbieten zu können; genaues Vorgehen und das weitere Verfahren sollten mit Ärzt*innen bzw. Vorgesetzten besprochen werden (C) Warum glauben Sie, dass die Beziehung von Marion C. und ihre Partnerin in der Lesbenszene oftmals nicht verstanden wird? Mögliche Antwort: Die butch-femme-Beziehung von Marion C. und Jeanette D. wird von Personen aus der Lesbenszene häufig als Nachstellen einer heterosexuellen Beziehungen missverstanden. Femmes werden im Kontext einer Lesbenszene, die ihre eigenen Normen hervorgebracht hat, häufig als heterosexuell, Butches häufig als »Mannweiber« fehlinterpretiert. Zu Kapitel 4.1.5 Intersexuelle Menschen e. V., Bundesverband (Veith) (A) Welche Berufsgruppe ist dafür zuständig, dass Malon P.’s hormonelle Versorgung bedacht und begleitet wird? Bitte begründen Sie Ihre Aussagen. Mögliche Antwort: Betreuende Ärzt*in, in diesem Fall Endokrinolog*in (verantwortlich), Angehörige (Initiierung und Koordinierung von Ärzt*innenkontakten) Fachpersonen im ambulanten Pflegedienst (ausführend, ggf. Initiierung und Koordination von Ärzt*innenkontakten) (B) Wie könnte es (praktisch) gelingen, dass dies in der Altenpflege und in der Betreuung alter Menschen gewährleistet wird? Mögliche Antwort: Schulung und Information von Leitungspersonen und Mitarbeiter*innen in Einrichtungen; Schulung von Ärzt*innen; Lobbyarbeit für interdisziplinäre Behandlungsmöglichkeiten; Informationsmaterial bereitstellen; Kontakt zu Selbstvertretungen herstellen (C) Wie hätten Mitarbeiter*innen des ambulanten Pflegedienstes darauf kommen können, die lange zurückliegenden Operationen für die aktuelle pflegerische Situation bei Malon P. mit zu bedenken? Mögliche Antwort: Da keine Dokumentation vorliegt – Zurückgreifen auf Wissen (daher: Information und Schulung); gründliche Diagnostik initiieren;

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Kontakt zu Fachärzt*innen herstellen; Kontakt zu Angehörigen herstellen (in beiden Fällen Information erfragen) Zu Kapitel 4.1.6 BiBerlin e. V. (Balov/Seel/Wetzel) (A) Wie würden Sie die sexuelle Identität von Anastasia W. bezeichnen?; Wie würden Sie diese erfragen, wenn Sie sich nicht sicher sind? Bitte lesen Sie den gesamten Text vor Beantwortung dieser Fragen noch einmal genau durch. Mögliche Antwort: Bedeutsamkeit? Wenn passend: fragen, was ihr wichtig ist und wie sie sich selbst versteht (B) Wenn Anastasia W. an einem Angebot der Freizeitgestaltung für Senior*innen teilnehmen würde, was könnte Anastasia W. benötigen, um sich wohlzufühlen? Mögliche Antwort: Möglichkeit, von ihrer Biografie und ihrer Lebenssituation zu erzählen; Möglichkeit nicht von ihrer Biografie und Lebenssituation zu erzählen; Offenheit für diverse Lebensentwürfe in der Gruppe; nicht-monosexuelle Senior*innengruppe (C) Welche Methoden könnten Sozialarbeiter*innen in der Arbeit mit Anastasia W. am besten verwenden, um ihr gerecht zu werden? Mögliche Antwort: Biografiearbeit; Erzählcafés Zu Kapitel 4.1.7 Lebensstile, Sexualität und Umgang mit HIV/Aids im Alter aus der ländlichen Perspektive – Beispiele aus der Arbeit der Aidshilfe (Kleinert) (A) Welche Faktoren haben bei Henri P. zur Vereinsamung geführt? Welche Berufsgruppen hätten beteiligt werden können, um dem entgegenzuwirken, was hätte Henri P. selbst tun können?

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Mögliche Antwort: Teil 1: Einschränkungen durch altersbedingte Erkrankungen; Verlust an Mobilität; starker sozialer Rückzug; es gelingt nicht, an moderne Kommunikationsmittel Anschluss zu finden; aus sozialen Aktivitäten in schwulen Gruppen hätten ggf. soziale Beziehungen entstehen können; insgesamt zu wenige stabile Freundschaften im Alter; unklare Rolle bei der Herkunftsfamilie und Freund*innen in unmittelbarer Umgebung; Teil 2.: Sozialarbeiter*innen in Aids-Hilfen im ländlichen Raum; Ärzt*innen (ggf. Verweis an soziale Unterstützungsmöglichkeiten); Angebote für Senior*innen in nächstgrößeren Orten (Computerkurse); Fahrdienste in nähere Kleinstädte nutzen; er selbst: Bedeutung stabiler Freundschaften ernster nehmen; Möglichkeiten alter(n)sgerechter Lebensgestaltung auf dem Land für sich selbst im mittleren Lebensalter überprüfen (B) Bitte erörtern Sie die Bedeutung der HIV-Infektion für die Lebensgestaltung auf dem Land und für die gelebte Sexualität von Henri P. Mögliche Antwort: Angst über HIV-Infektion zu berichten aus Angst vor Diskriminierung; verstärkt Probleme in der ländlichen Umgebung Sexualpartner zu finden bzw. im Fall von Henri P. sogar von selbst HIV-Positiven aufgrund der sozialen Kontrolle auf dem Land; kann Suche nach geeignetem ambulanten Pflegedienst oder einer stationären Pflegeeinrichtung in der Umgebung erschweren (ggf. mangelnde Kenntnisse von Ärzt*innen und Pflegepersonen über Übertragungswege etc.) (C) Wie hätten die Bedürfnisse und der Bedarf in der Betreuung von Henri P. in Pflege- und Beratungssituationen der Altenhilfe berücksichtigt werden können, damit Henri P. weniger einsam hätte leben und sterben müssen? Mögliche Antwort: Gute Kenntnisse über die Grundlagen einer HIVInfektion (Übertragungswege, Schutzmöglichkeiten, Medikamente, Nebenwirkungen); gutes Medikamentenmanagement; gute Kommunikation mit Henri P. über seine Wünsche; Offenheit und Akzeptanz für schwule Männer im Alter (Gütesiegel, Schulung von Mitarbeiter*innen, schwule Mitarbeiter); ggf. Kontakt zu Besuchsdienst oder Aids-Hilfe herstellen; prinzipiell im noch möglichen Rahmen Gelegenheit zum Austausch schaffen (Gesprächsgruppen, Freizeitgestaltung, Ausflüge)

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Zu Kapitel 4.1.8 Herausforderungen christlicher Pflegeeinrichtungen (Weigl) (A) Welche Vorbehalte haben LSBTIQ*-Personen gegenüber religiösen Pflegeeinrichtungen? Mögliche Antwort: Angst vor Diskriminierung, Ausgrenzung und Ablehnung aufgrund sexueller (und geschlechtlicher) Identität; Angst davor, sich in existenziellen Fragen nicht gut aufgehoben zu fühlen; Angst sich zu outen (B) Wie kann Diversity-Management Mitarbeiter*innen in christlichen Pflegeeinrichtungen für eine LSTBIQ*-freundliche Pflegekultur sensibilisieren? Mögliche Antwort: Diversitätsorientierte Pflegehaltung entwickeln (durch Wissen und Reflexion); Wissen über geschlechtliche und sexuelle Vielfalt; lesbische, schwule, bisexuelle Mitarbeiter*innen einstellen; entscheidend: Leben des Leitbildes in den Einrichtungen (C) Was können Ziele sowohl christlicher als auch LSBTIQ*-freundlicher Leitlinien in der stationären und ambulanten Pflege sein? Mögliche Antwort: Bewohner*innen mit ihren Bedürfnissen und Bedarfen gerecht werden; Vielfalt der Lebenswelten anerkennen; Schutz vor Übergriffen; Anerkennung menschlicher Vielfalt in all ihren Dimensionen; Begleitung in existenziellen Problemen im Alter. Willkommen-Sein in pflegerischer Einrichtung und z. B. das Einbeziehen von LSBTIQ*-Organisationen Zu Kapitel 4.2 Wohn- und Pflegeprojekte von und für LSBTIQ*-Senior*innen im internationalen Vergleich (Lottmann) (A) Worin unterscheiden sich die genannten Wohn- und Pflegeprojekte in den USA von den in Europa? Mögliche Antwort: USA: Wohnprojekte oftmals verknüpft mit Merkmal des »affordable Housing« (finanzierbares Wohnen) oder mit Seniorenprogrammen, die beispielsweise Essensküchen oder Kooperationen mit Krankenkassen oder kirchlichen Einrichtungen beinhalten; Initiativen wie SAGE vielfältigen Materialien und Handlungsleitfäden für die Praxis aus, um

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für die Situation von LSBTIQ*-Senior*innen zu sensibilisieren; es gibt mittlerweile diverse europäische Projekte zur Pflege von LSBTIQ*-Senior*innen (B) Einer der vier Aspekte benennt das Bedürfnis nach geschützten Räumen im Alter. Welche Ängste und Sorgen formulieren die Interviewten des Lebensorts Vielfalt in Bezug auf ihr Altern und ihre sexuelle Identität? Mögliche Antwort: Ein Bewohner des Lebensort Vielfalt benennt z. B. Familie, in der seine sexuelle Orientierung tabu war; er hat Angst, »irgendeiner wirft [ihm sein] Schwulsein vor«; LSBTIQ*-Senior*innen haben z. B. die Sorge, Diskriminierungserfahrungen zu machen und sich (wieder) verstecken zu müssen, wenn sie älter werden; Angst ist oftmals verknüpft mit Abhängigkeit im Alter von Dritten und verringerter Kraft sich ggf. gegen Diskriminierung wehren zu können (C) Nennen Sie mindestens zwei europäische Initiativen. Mögliche Antwort: Pink Passkey® (auch Roze Loper) aus den Niederlanden; Stonewall Housing in London, Großbritannien, Auditverfahren für Pflege- und Wohnunternehmen; Opening Doors London, UK, mit Initiative »Pride in Care«; Regnbågen, Wohnprojekt für LSBT-Senior*innen in Stockholm, Schweden; Hausprojekt De Roze Hallen in Amsterdam, Niederlande; Modellprojekt zur Öffnung der Altenhilfeeinrichtungen des AWO Bundesverband e. V.

Glossar49

Ableism Mit dem Begriff Ableism wird auf die systematische Diskriminierung von Menschen mit Einschränkungen/Behinderungen hingewiesen. Während Menschen, die als »könnend« (engl. »able«) verstanden werden und bevorzugt oder ausschließlich beachtet werden, werden Menschen, die Einschränkungen erleben (engl. »disabled«), übersehen, benachteiligt und/oder unterdrückt. Ageism Ageism bezeichnet die systematische Benachteiligung und Diskriminierung von Personen aufgrund des Alters. Bisexuell Als bisexuell werden Männer und Frauen bezeichnet, die sich emotional und/ oder sexuell zu mindestens zwei Geschlechtern, z. B. Cis-Männern oder CisFrauen, hingezogen fühlen (bi = doppelt, beide). Mit dem Begriff wird die sexuelle Orientierung bzw. Identität benannt. Cisgender Cisgender bezieht sich auf das lateinische Wort »cis« für »diesseits« im Kontrast »trans« (lat.), womit »jenseits« oder »über hinaus« gemeint ist. Cisgender bezeichnet Menschen, die sich mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei Geburt zugewiesen wurde. Cis-Normativität Cis-normativ handelt eine Institution oder Person, wenn alle Menschen als cisgender gesehen werden, also trans* oder inter* nicht als Möglichkeit (mit-) gedacht werden. 49 Das Glossar ist mit Unterstützung von Begriffsklärungen u. a. von der Magnus-HirschfeldStiftung und Dr. Arn Sauer entstanden. Bei der Magnus-Hirschfeld-Stiftung (http://hirschfeld-kongress.de/blog/glossar.html) und im Glossar »Rassismus im Zweigeschlechtersystem« (Sauer o. J.; https://transintersektionalitaet.org/?page_id=36) sind Erläuterungen weiterer Begrifflichkeiten bzw. weitere Glossare zu finden.

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Coming-out Wenn eine lesbische, schwule oder bisexuelle, trans*-geschlechtliche oder inter*-geschlechtliche Person sich dazu entschließt, ihre sexuelle oder geschlechtliche Identität nicht mehr zu verheimlichen, sondern darüber zu sprechen, wird dieser Schritt als Coming-out bezeichnet. Es wird mitunter unterschieden zwischen innerem Coming-out, in dem die eigenen Gefühle und Wünsche wahrgenommen und auch anerkannt werden, und äußerem Coming-out, in dem zunächst Freund*innen und dann weiteren Menschen das Lesbisch-, Schwul- oder Trans*-Sein mitgeteilt wird. Coming-out ist ein lebenslanger Prozess, weil mit jeder neuen Begegnung eines Menschen erneut die Entscheidung zu treffen ist, ob und wenn ja, wie die eigene sexuelle oder geschlechtliche Identität bekannt gemacht oder erklärt wird. Diversity Der englische Begriff bedeutet Vielfalt, Vielfältigkeit, Verschiedenheit. Im Zusammenhang mit Antidiskriminierungsmaßnahmen bezeichnet Diversity ein Konzept, das Vielfalt als Potenzial begreift: Es setzt auf die Verschiedenheit und Individualität der Menschen und steht zudem für einen respektvollen und wertschätzenden Umgang untereinander. Diversity-Management, das in der Wirtschaft weite Verbreitung erfuhr, bringt Vielfalt mit Unternehmenserfolg in Verbindung und fokussiert den Vorteil gemischter Teams und die Verbesserung von Chancengleichheit. Als Differenzierungsmerkmale werden häufig Geschlecht und Ethnie verwandt und bislang eher selten andere Kategorien, wie sexuelle Orientierung/Identität, Alter, Behinderung oder Religion. Geschlechtsidentität Unter Geschlechtsidentität versteht man das tief empfundene innere und persönliche Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, das mit dem Geschlecht, das einem Menschen bei seiner Geburt zugewiesen wurde, übereinstimmen kann. Es muss jedoch nicht übereinstimmen oder nicht zeitlich stringent erfahren werden. Geschlechtsidentität manifestiert sich u. a. in der Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner Repräsentanz nach außen. Gonadektomie Unter einer Gonadektomie wird die operative Entfernung von Keimdrüsen verstanden, durch die Menschen unfruchtbar werden. Sie kann Hoden und Eierstöcke betreffen.

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Heteronormativität Heteronormativität besteht dann, wenn eine Institution oder eine Person so handelt, als wären alle Menschen heterosexuell. Es werden dabei Zuschreibungen vorgenommen, die der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft vorherrschen. Der Begriff beschreibt und kritisiert die Zwei-Geschlechter-Ordnung und deren Normierungen von Geschlecht und Sexualität. Inter* Inter* ist ein Begriff, der als ein emanzipatorischer und identitärer Überbegriff die Vielfalt intergeschlechtlicher Realitäten und Körperlichkeiten bezeichnet. Inter* fungiert damit vermehrt als deutscher Oberbegriff für Intersexuelle, Intersex, Hermaphroditen, Zwitter, Intergender sowie inter*- oder zwischengeschlechtliche Menschen, die mit einem Körper geboren sind, der den typischen geschlechtlichen Standards und Normen von Mann und Frau nicht entspricht. Intersexualität wird als pathologisierende Diagnose auf diese Personen verwandt, weil deren körperlichen Merkmale medizinisch nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet werden können. Viele Inter* lehnen sie daher als Selbstbezeichnung ab. Inter* kann eine Geschlechtsidentität im Sinne der Selbstdefinition als Zwitter, Hermaphrodit, Intergender etc. sein. Inter*-Menschen können sich aber auch als Männer, Frauen oder je nach Kontext anders definieren. Klassismus (klassistisch) Bezeichnung für systematische Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer unteren sozialen Klasse. Lesbisch Als lesbisch bezeichnen sich Frauen, die Frauen lieben und/oder begehren. Lesbisch ist eine Selbstbeschreibung der eigenen sexuellen Orientierung bzw. Identität. Der Begriff »Lesbe« wurde früher oft als Schimpfwort oder in herabwürdigender Weise verwendet und wird auch noch bis heute als Schimpfwort verwendet. Inzwischen wird der Begriff von lesbischen Frauen selbstbewusst als Selbstbezeichnung genutzt. Minoritätenstress Die Basis für diesen Begriff bietet das Minoritätenstressmodell von Ilan H. Meyer, wonach Minoritätenstress als der vermehrte Stress identifiziert wird, dem Angehörige von stigmatisierten sozialen Gruppen auf Grund ihrer Minderheitenposition ausgesetzt sind. Minoritätenstress speist sich

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aus gesellschaftlicher Stigmatisierung, Erfahrungen von Diskriminierung und Gewalt sowie verinnerlichten negativen Einstellungen gegenüber der eigenen sozialen Gruppe50. Nicht-binär Als nicht-binär bezeichnen sich Menschen, die sich jenseits der binären Geschlechternorm verorten, die sich nicht eindeutig im männlichen oder weiblichen Geschlecht verorten oder hierzu in einem Findungsprozess sind. Nicht-Monosexualität (oder nicht-monosexuell) Nicht-Monosexualität ist ein Überbegriff für alle Menschen, die sich zu mehr als einem Geschlecht hingezogen fühlen. Er schließt weitere Begriffe wie bisexuell (das Begehren von mindestens zwei Geschlechtern), pansexuell oder omnisexuell (das Begehren aller Geschlechter oder ohne Vorauswahl nach Geschlecht bzw. Geschlechtsidentität) ein. Pansexuell (omnisexuell) Pansexuell bezeichnen sich Menschen, die in ihrem Begehren keine Vorauswahl nach Geschlecht bzw. Geschlechtsidentität treffen. Der Begriff Pansexualität leitet sich von der griechischen Vorsilbe pan (gesamt, umfassend, alles) ab. Queer Queer bedeutete ursprünglich »seltsam« oder »komisch«. Als queer bezeichnen sich Personen, die ihre sexuelle Orientierung und/oder ihre Geschlechtsidentität als quer zur vorherrschenden Norm beschreiben. Seit einigen Jahrzehnten wird der Begriff als Selbstbezeichnung verwendet, der Identitätskonzepte hinterfragt. Es ist ein dynamischer Begriff und kann als Haltung verstanden werden. Für viele ist Queer ein Oberbegriff für nicht-hetero und nicht-binäre sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität. Queer umfasst auch nichtbinäre, pan- und asexuelle Lebensweisen.

50 Die Erklärung ist dem Beitrag von Melanie Caroline Steffens »Diskriminierung von Homound Bisexuellen« in der Onlineversion der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 15-16/2010 entnommen.

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Schwul Als schwul bezeichnen sich Männer, die Männer lieben und/oder begehren. Schwul ist eine Selbstbeschreibung der eigenen sexuellen Orientierung bzw. Identität. Der Begriff »schwul« oder »Schwuler« wurde früher als Beleidigung oder in herabwürdigender Weise benutzt und wird auch noch bis heute als Schimpfwort verwendet. Inzwischen wird der Begriff von schwulen Männern selbstbewusst als Selbstbezeichnung genutzt. Trans* (transgender, transident, transsexuell) Als trans* bezeichnen sich Menschen, wenn deren Geschlechtsidentität von dem Geschlecht abweicht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Das Sternchen (*) steht dafür, sämtliche Identitätsformen, Selbstbezeichnungen und Lebensweisen einzubeziehen. Trans* ist ebenso ein Oberbegriff für mehrere Trans*-Identitäten und Lebensweisen (transgender, transgeschlechtlich, transsexuell etc.). Darunter werden auch solche Menschen gezählt, die sich jenseits der klassischen Geschlechterrollen einordnen, z. B. als nicht-binär. Der Begriff Transsexualität (auch Transsexualismus) stammt aus dem Bereich der Medizin. Um zu verdeutlichen, dass es nicht allein um Sexualität, sondern um identitätsbezogene Aspekte geht, wurde der Begriff transident geprägt. Als Transgender bezeichnen sich Personen, die ihre Geschlechtsidentität jenseits der Zwei-Geschlechter-Ordnung leben. Transsexualität ist keine sexuelle Orientierung: Transmänner und Transfrauen leben und lieben heterosexuell, lesbisch, schwul oder bisexuell. Transition Der Begriff Transition bezieht sich auf den Prozess der Geschlechtsangleichung. Dabei handelt es sich um medizinische Maßnahmen, die dazu dienen, primäre oder sekundäre Geschlechtsmerkmale an eine Norm anzugleichen. Wahlfamilie Mit Wahlfamilie sind freundschaftliche Netzwerke bei LSBTIQ*-Personen gemeint, die eine große Bedeutung für die soziale Unterstützung im Alter haben. Mittels der Beziehungen zu Freund*innen und (früheren) Partner*innen gestalten LSBTIQ* ihre »Wahlfamilie« – ein Begriff, der in Abgrenzung von der biologischen Familie, »Herkunftsfamilie« oder »Kernfamilie« zu verstehen ist.

Autor*innenverzeichnis

Balov, Paula Vereinsmitglied seit September 2019 und Sympathisantin von BiBerlin seit 2014. Sie ist freie Journalistin und schreibt hauptsächlich über LSBTIQ*Themen, Feminismus und Südosteuropa. Aktuell pflegt sie die Twitter-Präsenz des Vereins. Brauckmann, Carolina ist seit 2003 Mitarbeiterin im rubicon e. V. mit Schwerpunkt gleichgeschlechtliche Lebensweisen im Alter. Politisch aktiv als sachverständige Einwohnerin im Ausschuss Soziales und Senioren der Stadt Köln, Vorsitzende des Stiftungsrates der ARCUS-Stiftung für die lesbische und schwule Selbsthilfe in NRW und Vorstandsfrau im Dachverband Lesben und Alter e. V. Brunnett, Regina Dipl.-Soz., Dr. phil, Professur Gesundheitswissenschaften an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen. Arbeitsschwerpunkte: Diversität und Gesundheit, gesundheitliche Ungleichheit, Gesundheitsförderung und Prävention. U. a. Mit-Initiatorin des Netzwerks »Sexuelle und geschlechtliche Diversität in Gesundheitsforschung und -versorgung«, Redakteurin und Mitherausgeberin des JKMG. Castro Varela, María do Mar Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Diplom-Psychologin und Diplom-Pädagogin, Promotion an der Universität Gießen in Politikwissenschaften. 2015/16 Senior Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Forschungsschwerpunkte: Gender, Queer und Trans Studies, Kritische Migrationsforschung, Trauma Studien, Postkoloniale Theorie. Czapska, Johanna Jg. 1955, studierte Soziologie an der Freien Universität Berlin. Seit 2013 ist sie hauptamtliche Mitarbeiterin im RuT – Rad und Tat e. V. in Berlin. Ihre

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Arbeitsschwerpunkte sind Koordination des Besuchsdienstes »Zeit für Dich«, Entwicklung von Angeboten für lesbische Seniorinnen sowie Fortbildungen im Bereich lesbensensible Pflege. Eckert, Nora Publizistin und Trans*-Aktivistin, seit Anfang 2019 aktives Mitglied bei TransInterQueer e. V. Berlin und seit Januar 2020 im Vorstand. Gerlach, Heiko Jg. 1973, Dr. phil., Altenpfleger, Diplom-Pflegewirt, Promotion zu »Theorie der Anerkennung von Homosexualitäten in der Langzeitpflege« am Institut für Pflegeforschung und Public Health (IPP) der Universität Bremen. Langjährige Leitungskraft in der ambulanten Pflege, heute als freier Forschender und Referent zu »LSBTIQ*, Alter und Pflege« sowie als systemischer Therapeut und Berater (SG) in Hamburg tätig. Jones, Rebecca L. Senior Lecturer für Gesundheit an der Open University, Großbritannien. Studium der Geschichte an der University of York, Women’s Studies an der University of Lancaster, Promotion an der Open University. Forschung zu Altern und Sexualitäten im Laufe des Lebens mit einem Fokus auf älteren LSBTIQ*Menschen. Gründungsmitglied von BiUK (www.biuk.org). Kiegelmann, Mechthild Studium Psychologie an der Universität Tübingen, Promotion Entwicklungspsychologie an der Harvard Universität, Habilitation Pädagogische Psychologie an der Universität Tübingen, Professur »Sozialpsychologie und Sozialpädagogik«, Institut für Psychologie der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. U. a. Studiengangleitung M. A. Geragogik, Beratung zu LSBTIQ*-Themen, Weiterbildung von Berater*innen zu LSBTIQ*. Kleinert, Holger studierte vergleichende Religionswissenschaften. Seit Mitte der 1980er-Jahre in der Schwulen Bewegung aktiv, hauptamtlich in den Aidshilfen Marburg und Gießen. Mitarbeit beim Hessischen Landesverband der Aidshilfen im Bereich MSM und beim Facharbeitskreis MSM der Deutschen Aidshilfe. Gründungsmitglied des Aktivist*innennetzwerkes von Menschen mit HIV »Pro+ Hessen« sowie des Initiativkreises Queer Altern Mittelhessen.

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Kranz, Dirk ist Akademischer Oberrat im Fach Psychologie der Universität Trier. Studium und Promotion ebendort. Forscht momentan u. a. zu non-heteronormativer Elternschaft und Identitätsentwicklung im Erwachsenenalter. Krell, Claudia Dr. phil, ist Diplom-Soziologin und hat ihre Dissertation zum Thema Alter(n) und Homosexualität verfasst. Sie ist Leiterin des Referats Diversity und Gleichstellung an der Universität Passau. Lottmann, Ralf Jg. 1971, Dr. phil., studierte Soziologie in Berlin und Gerontologie in Amsterdam. Promotion an der Technischen Universität Dresden. Von 2004 bis 2015 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag. Er arbeitete an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin zu den Themen LSBTI* und Pflege und als Marie Skłodowska-Curie Fellow am Centre for Research on Ageing and Gender der University of Surrey, UK. Müller, Klaus Jg. 1966, Dr. phil., Professur Pädagogische Aufgaben in der Pflege an der Frankfurt University of Applied Sciences. Krankenpfleger, Berufspädagoge und Gesundheitswissenschaftler. Arbeitsschwerpunkte: Gestaltung von Lern- und Beratungsprozessen, Strategien professioneller Sorge sowie Konzepte personenzentrierter Pflege/Diversity Care. Er ist Vorstandsmitglied der Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS) e. V. Raab, Heike Dr. phil., hat Politik, Pädagogik, Soziologie, Geschichte in Gießen und Frankfurt studiert. Promotion zu Queer-Theorie und Staat an der Universität Wien. Onlineredakteurin im behindertenpolitischen Bereich, Universitätsassistentin am Institut für Erziehungswissenschaft Innsbruck, z. Zt. Dozentin an der Hochschule Fresenius, Köln. Forschungsschwerpunkte: Disability und Queer Studies, soziale Bewegungen, Policy-Analysen und Inklusion. Reuter, Friederike Bildungswissenschaftlerin M. A., ist akademische Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und freie Referentin bei verschiedenen Trägern, u. a. zu Themen gendersensibler Pädagogik. 2016 ausgezeichnet mit dem Karlsruher Hochschulpreis für die Bachelorarbeit »Kindheitspädagogik und Gender«.

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Riegel, Christine Dr. phil. habil, Professur für Sozialpädagogik der Pädagogischen Hoch­schu­le Freiburg und der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Migrations-, ­Jugend-, Familien- und Intersektionalitätsforschung sowie Auseinandersetzung mit Normativität, Diversität und sozialer Ungleichheit in Bildung und Sozialer Arbeit. Roetz, Max ist seit 2010 im Vorstand des TransInterQueer e. V., arbeitet seit 2013 dort u. a. zum Thema Alter und hat in diesem Rahmen ein Besuchsprojekt für mobilitätseingeschränkte Trans*Inter*Queers ins Leben gerufen. M A X Roetz ist außerdem seit 2004 Teil des Transgenderradios Berlin, das Radiomagazin rund um trans*, inter* und queere Themen und ist seit 2008 Moderator*in dieses Radiomagazins. Sauer, Arn Dr. phil., Geschichts- und Politikwissenschaftler, der in den Transdisziplinären Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert hat. Er ist Mitglied im Fachbeirat der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld und der Stipendiat*innen-Auswahlkommission der Heinrich-Böll-Stiftung. Er engagiert sich ehrenamtlich für den Bundesverband Trans* e. V. und für TransInterQueer e. V. Schütze, Lea Dr. phil., hat an der LMU München Soziologie, Psychologie und Kommunikationswissenschaft studiert. Mit der Arbeit »Schwul Sein und Älter Werden. Selbstbeschreibungen älterer schwuler Männer« wurde sie 2017 dort promoviert. Sie leitet die Transferagentur Bayern für kommunales Bildungs­ management am Deutschen Jugendinstitut und ist Lehrbeauftragte für Gender ­Studies an der KSH München. Schupp, Markus Dr. phil., ist Kranken- und Fachkrankenpfleger für Intensivpflege, DiplomSozialwissenschaftler und wurde promoviert am Institut für Pflegeforschung und Public Health (IPP) der Universität Bremen. Thema: »Eine Theorie der Anerkennung von Homosexualitäten in der Langzeitpflege«. Er war Koordinator für Schwule Seniorenarbeit der Stadt Köln und ist heute als Referatsleiter in der Studienförderung der Hans-Böckler-Stiftung tätig.

Autor*innenverzeichnis

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Seel, Madeline ist seit 2016 bei BiBerlin aktiv, Vorständin BiBerlin e. V. und queere Aktivistin. Veith, Lucie ist u. a. Sprecherin des Bundesverbands Intersexuelle Menschen e. V. und leitet das Kompetenzzentrum für Inter* in Niedersachsen. Sie engagiert sich auf nationaler und internationaler Ebene für Anerkennung und Rechte von Inter*-Menschen und für den Schutz vor jeder Art von medizinischen Eingriffen ohne freie informierte Einwilligung der betroffenen Person selbst. Weigl, Barbara Dr. phil., studierte Soziale Arbeit, Sozial- und Erziehungswissenschaften, Gerontologie und Public Health in Frankfurt am Main, Heidelberg und Bremen. 2010–2013 Mitarbeiterin am WZB in EU-Forschungsgruppe zu Themen der Versorgungssicherheit pflegebedürftiger Menschen, Tätigkeiten als Referentin im Deutschen Bundestag und Berliner Abgeordnetenhaus. Aktuell ist sie Gastprofessorin an der KHSB im Studiengang Soziale Gerontologie. Wetzel, Thilo Queerer Aktivist seit 2 Jahrzehnten und Vorstand bei BiBerlin e. V. Zeyen, Tamara-Louise studierte Erziehungs- und Bildungswissenschaften. Sie ist seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Philipps-Universität Marburg am Institut für Erziehungswissenschaft im Arbeitsbereich Sozial- und Rehabilitationspädagogik. Sie promoviert zu dem Thema »Wohnprojekte für gleichgeschlechtlich l(i)ebende Personen im Alter« (Arbeitstitel).

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