Soziale Diagnostik in der Suchthilfe: Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit [1 ed.] 9783666634048, 9783525634042

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Soziale Diagnostik in der Suchthilfe: Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit [1 ed.]
 9783666634048, 9783525634042

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Rita Hansjürgens / Frank Schulte-Derne (Hg.)

Soziale Diagnostik in der Suchthilfe Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit

Rita Hansjürgens/Frank Schulte-Derne (Hg.)

Soziale Diagnostik in der Suchthilfe Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit

Mit 15 Abbildungen und 7 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © irkus/Adobe Stock Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-63404-8

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Soziale Diagnostik in der Suchthilfe – eine geschichtliche und theoretische Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Dieter Röh 2 Zum Verständnis Sozialer Diagnostik in der Suchthilfe . . . . . . . . . . . . . 21 Rita Hansjürgens 3 Black-Box-Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Kitty Lüdtke und Peter Lüdtke 4 Biografische Timelines als kooperatives diagnostisches Instrument41 Peter Pantuček-Eisenbacher 5 Das Modulare ICF-basierte Core Set Sucht (MCSS) . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Angela Buchholz 6 Impact-Techniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Kitty Lüdtke und Peter Lüdtke 7 Soziale Diagnostik in der Früherkennung und Frühintervention am Beispiel des Programms FreD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Frank Schulte-Derne 8 Der Sozialbericht als Instrument Sozialer Diagnostik in der Suchtberatung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Rita Hansjürgens 9 Real-Time Monitoring als Verfahren der Systemisch-biografischen Fallarbeit – ein Gewinn für die Soziale Arbeit in der Suchthilfe . . . . . 107 Raphael Calzaferri 10 Diagnostik in der Drogensuchtbehandlung im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland – ein Überblick . . . . . . . . 125 Maike Klein

Vorwort

Liebe Leser*innen, vielleicht kennen Sie den häufig gesagten Satz: »Theoretisch weiß ich das … Aber praktisch ist es nicht so leicht!« Mit der Sozialen Diagnostik in der Suchthilfe und Suchtprävention verhält es sich anscheinend anders. Hier geschieht im praktischen Handeln oft en passant auch Soziale Diagnostik. Dieses Handeln wird aber von Sozialarbeitenden in der Suchthilfe häufig nicht als solches gesehen, verstanden und eher nicht mit Diagnostik als eigenständiger Funktion in Verbindung gebracht. Ausgehend von dieser These gehört der Einsatz von Instrumenten Sozialer Diagnostik in der Suchthilfe somit einerseits zum Alltag von Sozialarbeitenden in der Praxis der Suchthilfe, andererseits sind sie bisher an wenigen Stellen systematisch beschrieben worden. Der Praxis der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe scheinen ein Rahmen und eine theoretische Begründung für Soziale Diagnostik in diesem Handlungsfeld zu fehlen. Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe und Suchtprävention (DG-SAS) hat dies zum Anlass genommen und ihren fünften Bundeskongress im März 2019 in Magdeburg hierzu ausgerichtet. Die Beiträge der Referent*innen und die Tagungsergebnisse lieferten dabei wichtige Erkenntnisse für diesen noch zu erbringenden theoretischen Rahmen. Als Herausgeber*innen des vorliegenden Buchs dürfen wir uns bei allen beteiligten Autor*innen bedanken, die schnell und unkompliziert ihre Mitarbeit zugesagt haben. Damit ist es gelungen die Tagungsbeiträge zu bündeln und um weitere wichtige Aspekte zu ergänzen. Die Themen der jeweiligen Bundeskongresse, in diesem Fall Soziale Dia­ gnostik, knüpfen dabei auch an das bereits 2016 von der DG-SAS veröffentlichte Kompetenzprofil der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe und Suchtprävention an (www.dg-sas.de/de/kompetenzprofil). Neben einem multiperspektivischen Fallverstehen wird Soziale Diagnostik dort den Analysekompetenzen zugeschrieben, über die Fachkräfte der Sozialen Arbeit in diesem Arbeitsfeld verfügen sollten.

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Dieter Röh problematisiert in seinem Beitrag aber zu Recht, dass die methodische Tiefe und Breite dieser Postulate für Soziale Arbeit in der Suchthilfe bislang nicht ausreichend erfasst und expliziert werden. Warum aber ist die Soziale Diagnostik in der Suchthilfe bisher weitgehend »unsichtbar«? Dieser Frage geht er in dem ersten Beitrag zur geschichtlichen Entwicklung nach. Damit trägt er sowohl zur Schärfung als auch zur Einordnung des Begriffs »Soziale Diagnostik« ins Handlungsfeld Suchthilfe und in einen Gesamtkontext Sozialer Arbeit bei. Nach dieser historischen Einordnung umreißt Rita Hansjürgens einen konzeptionellen Rahmen für Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Sie bezieht sich dabei auf eine integrative Position Sozialer Arbeit und arbeitet spezifische Handlungsprinzipien heraus. Als zentrales Element werden Diagnosen – im Sinne von handlungsleitenden Hypothesen – sowohl in einem partizipativen Verständnis teilweise mit Klient*innen gemeinsam erstellt und explizit berücksichtigt als auch mit bestehenden Diagnoseschemata z. B. der Medizin in einen Zusammenhang gestellt. Mit dem Beitrag wird zugleich ein Standard für die Soziale Diagnostik in der Suchthilfe und Suchtprävention formuliert. Diesen theoriegeleiteten Auseinandersetzungen zur Schärfung der Leitlinien folgt die Darstellung verschiedener Instrumente und Verfahren die in der Suchthilfe zur Anwendung kommen bzw. perspektivisch eingesetzt werden können. Kitty Lüdtke und Peter Lüdtke stellen mit der Black-Box-Diagnostik ein Verfahren vor, in dem deutlich wird, dass die »Besitzrechte« an einer Diagnose bei den Adressat*innen liegen und von ihnen verantwortet werden. Die Entscheidung darüber, ob und welche Anteile einer sogenannten Diagnose in einem Hilfeprozess veröffentlicht werden, liegt bei ihnen. Darüber hinaus geben sie in einem zweiten Beitrag zu Impact-Techniken ganz praktisch einen Einblick, wie Verfahren, die nicht nur auf die »Sprache« abzielen, Beratungs- und Diagnostikprozesse unterstützen können. Mit dem Buch »Soziale Diagnostik – Verfahren für die Praxis Sozialer Arbeit« hat Peter Pantuček-Eisenbacher bereits ein Standardwerk veröffentlicht. Mit der Timeline trägt er ein Verfahren bei, welches für Settings in der Suchthilfe geeignet ist, die nicht nur episodisch stattfinden, sondern von längerer Dauer geprägt sind. Er mahnt an, dass die Anwendung Sozialer Diagnostik gelernt und eingeübt werden muss, um hilfreiche Informationen für die weitere Interventionsplanung zu erhalten. In diesem wie auch in den anderen Beiträgen wird deutlich, dass umfangreiche Kompetenzen der Haltung, des Wissens und des Könnens aufseiten der Sozialarbeitenden notwendig für eine professionelle Soziale Diagnostik sind. Wo diese erworben und trainiert werden können bzw. wer diese Arbeit mit Ressourcen ausstattet, wird in den Beiträgen thematisiert, bleibt aber zu diesem Zeitpunkt eine offene Frage. Eine Aufgabe der Zukunft

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wird so z. B. sein, entsprechende Fortbildungen zu entwickeln und die Verfahren in den Prozessen vor Ort zu integrieren. Einer weiteren Problematik wendet sich der Beitrag von Angela Buchholz zu: Sie beschreibt den Entwicklungsprozess und beispielhaft die Anwendung des Modularen ICF-basierten Core Set Sucht (MCSS). Die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) wird seit Jahren als Möglichkeit einer interprofessionellen Kommunikation gesehen und erfährt durch die paradigmatische Erweiterung der Zielorientierung in der Rehabilitation auf Teilhabe aktuell eine Aufwertung. Mit ihr lassen sich nicht nur Körperstrukturen und ihre Erkrankungen erfassen, sondern auch befähigende oder behindernde Umweltfaktoren. Darüber nicht nur in Narrativen, sondern in geteilten Codes mit anderen Professionen kommunizieren zu können, hat aus der Perspektive der Sozialen Arbeit eine hohe Bedeutung für eine interprofessionelle Zusammenarbeit und Anerkennung ihrer Leistung. Die Anwendung jedoch ist komplex. Die Herausforderung der Entwicklung eines darauf basierenden Diagnostik- und Klassifizierungsinstrumentes (Core Set) bestand darin, aus den ungefähr 1.400 einzelnen Kategorien zur Beschreibung von Umweltfaktoren und Funktionsfähigkeiten innerhalb der ICF die relevanten Items zu identifizieren und in einem MCSS zusammenzustellen. Ein Balanceakt zwischen Universalität und Anwendbarkeit. Am Beispiel des seit Jahrzehnten erprobten und mehrfach evaluierten Programms »Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsument*innen« (FreD) beschreibt Frank Schulte-Derne den sozialdiagnostischen Anteil innerhalb des sehr umfangreichen Methodenfundus. Das am Ende eines mehrstündigen Interventionskurses stehende individuelle Feedback beschreibt er in diesem Kontext als Ergebnis eines sozialdiagnostischen Prozesses, welcher bislang nicht als ein solcher verstanden wird. Ein ebenfalls etabliertes Instrument bzw. Verfahren in der Suchthilfe ist der Sozialbericht. Auch hier weist Rita Hansjürgens daraufhin, dass dieser zwar eine wichtige Stellung einnimmt, von seiner Art und Weise her und in wesentlichen Punkten den Kriterien Sozialer Diagnostik entspricht. Allerdings wird er strukturell eher selten als diagnostisches Instrument wahrgenommen und seine Ergebnisse eher als Zuarbeit zu einer suchtmedizinischen Rehabilitationsdiagnostik verstanden, von denen man nicht genau weiß, welche Relevanz sie für die weiterführende Hilfe der Rehabilitation entfalten. Hansjürgens weist weiter darauf hin, dass eine Nichtbeachtung der Ergebnisse des Sozialberichts ein Problem für den Erfolg einer Rehabilitationsmaßnahme darstellen kann. Raphael Calzaferri geht in seinem Beitrag auf das Real-Time Monitoring (RTM) als einem Verfahren der Systemisch-biografischen Fallarbeit ein. Mit

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dem RTM haben die Adressat*innen die Möglichkeit, ihren Tagesverlauf über ein internetfähiges Endgerät zu protokollieren, welches mit ihnen zusammen ausgewertet wird. Dies dient einerseits einem Monitoring der Entwicklung und andererseits zur Entlastung der Klient*innen, die durch das Ausfüllen des Fragenkatalogs und die Gespräche darüber immer wissen, »da ist noch jemand im Hintergrund und passt auf«, wie ein Klient es einmal ausdrückte. Der diagnostische Effekt liegt darin, durch die sichtbar werdenden Zusammenhänge ein tieferes Verständnis für den Zusammenhang zwischen biopsychischer Befindlichkeit und sozialem Leben in ihrer Dynamik für Klient*innen und Fachkräfte zu ermöglichen, damit besprechbar und so für die Erreichung eines selbstständigeren Lebens nutzbar zu machen. Gleichzeitig wird deutlich, welche Möglichkeiten sich durch die Nutzung digitaler Ressourcen auch für Soziale Diagnostik ergeben. Damit wird bereits ein wertvoller Beitrag im Rahmen einer digitalen Transformation in der Suchthilfe geleistet, wie er in den jüngst veröffentlichten »Essener Leitgedanken« eingefordert wurde. Das Vorgehen wird anhand eines Fallbeispiels in einer schweizerischen Suchthilfeeinrichtung illustriert. Eine internationale Perspektive war zwar nicht das Ziel dieses Buches, umso erfreulicher ist es, dass dies durch die Provenienz der Autor*innen trotzdem möglich wird. Aus diesem Grund verdient insbesondere der Beitrag von Maike Klein Aufmerksamkeit, der sich auch als ein Beispiel dafür lesen lässt, wie staatliche Verhältnisse als sozialer Erbringungskontext Sozialer Arbeit die Möglichkeiten des Umgangs mit Klient*innen beeinflussen und welche Lösungen für den Umgang gefunden werden können und müssen. In einem ersten Schritt beschreibt sie die Struktur des Suchthilfesystems in Großbritannien, welche sich insbesondere durch die stark normative Rolle des Staates und einem entsprechenden Suchtverständnis zeigt. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Ermöglichung der partizipativen Erfassung der Sichtweise von Klient*innen vor besondere Herausforderungen gestellt ist. Trotz dieser aus sozialarbeiterischer Sicht schwierigen Voraussetzungen zeigt sie auf, dass es aber auch unter diesen Bedingungen wichtig ist, diese Perspektive zu erfassen. Der vorgestellte »Substance Use Recovery Evaluator« (SURE) stellt dabei ein probates Instrument dar. Da dieses Buch den Stand der Diskussion auf dem Bundeskongress der DGSAS widerspiegelt, umfassen die hier dargestellten Beiträge selbstverständlich nicht alle Aspekte von Sozialer Diagnostik in der Suchthilfe. Offen, aber wichtig in diesem Zusammenhang wären z. B. die Handlungsfelder der Eingliederungshilfe mit sogenannten »chronifizierten Abhängigen«, der »niedrigschwelligen Hilfen«, bei denen Menschen erstmalig mit Hilfeangeboten Kontakt aufnehmen,

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oder die Sozialdienste der Akut- und Rehakliniken. Hier gilt es in der Zukunft noch genauer hinzuschauen, was Soziale Diagnostik in diesem Bereich ist oder sein könnte bzw. woher die Fachkräfte wissen können, was und warum sie etwas tun. Wir freuen uns über diesbezügliche Hinweise auf Instrumente, Verfahren und strukturelle Herausforderungen. Ganz egal, ob Sie im Studium stecken oder schon in der Suchthilfe tätig sind: Wir hoffen, Ihnen mit diesem Buch Leitlinien für eine Orientierung an die Hand zu geben sowie verschiedene Instrumente und Verfahren vorzustellen, die in Ihrer aktuellen oder zukünftigen Arbeit zur Anwendung kommen. Genauso möchten wir Sie aber auch ermutigen, Ihre eigenen Methoden, Instrumente und Verfahren aus dem Blickwinkel »Soziale Diagnostik« und ihrer Leitlinien zu betrachten, ggf. auch neu zu beschreiben und so einen Mehrwert für Ihre adressat*innenbezogene Arbeit zu generieren. Vielleicht enthüllt sich mit diesem Blick am Ende doch mehr professionelle Soziale Diagnostik in Ihrem Arbeitsalltag, als es auf den ersten Blick erscheint. Wir, die derzeit auch der DG-SAS vorstehen, freuen uns über Rückmeldungen und Beiträge zu diesen Ideen, damit ein lebendiger Dialog zwischen Theorie und Praxis entstehen und sich die fachliche Arbeit mit Klient*innen auf der Ebene Sozialer Diagnostik in der Suchthilfe weiterentwickeln kann. Für den Vorstand der DG-SAS Rita Hansjürgens und Frank Schulte-Derne Berlin und Münster im März 2020

1 Soziale Diagnostik in der Suchthilfe – eine geschichtliche und theoretische Herleitung Dieter Röh

Einleitung Die Soziale Diagnostik hat sich in der wissenschaftlichen Beschäftigung in den letzten zehn Jahren rasant entwickelt, in der Praxis wird sie jedoch deutlich zögerlicher angenommen bzw. entwickelt sich in den verschiedenen Arbeitsfeldern unterschiedlich (Buttner/Gahleitner/Hochuli Freud/Röh 2020). Soziale Diagnostik spielt auch in der Suchthilfe eine entscheidende Rolle, um Menschen in ihren jeweiligen Lebenssituationen zu verstehen und Interventionen zu begründen. Gleichwohl dominiert diesen Bereich die medizinische Diagnostik entlang der ICD bzw. die psychologische Diagnostik (vgl. Hansjürgens 2020). Trotzdem verhält sich die wissenschaftliche Beschäftigung in der Suchthilfe mit der Begründung und Reflexion vorhandener sowie mit der Entwicklung und Evaluation allgemeiner und an das Handlungsfeld angepasster Konzepte und Instrumente bislang eher zurückhaltend. Eine Anfang 2019 durchgeführte systematische Literaturrecherche mit den booleschen Operatoren Diagnos* AND sozial* AND (Reha* AND Sucht*) OR (Sucht* AND Behandlung*) OR (Sucht* AND Therapie*) OR Sucht* in einschlägigen Katalogen (GESIS, WISO, SoLit etc.) sowie eine Handsuche (in Handbüchern der Suchthilfe und Geschichte der Sozialen Arbeit, Monografien, grauer Literatur etc.) ergaben nur drei Treffer. Gefunden wurden häufig verdeckte und vereinzelte Hinweise zur Sozialen Diagnostik. Studien oder Erprobungen oder gar Standards konnten nicht gefunden werden. Es kann daher die These aufgestellt werden, dass Soziale Diagnostik in der Suchthilfe fast unsichtbar ist.

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Suche nach Begründungen – Warum ist die Soziale Diagnostik so unsichtbar oder nicht existent? Obwohl frühe Arbeiten vorliegen, z. B. die Sozioanalyse Stehmanns’ (1968) oder auch die Publikationen von Loviscach (1996) sowie von Küfner (1999), gibt es keine feststellbare, kontinuierliche Entwicklung in der Entwicklung und Anwendung Sozialer Diagnostik. Punktuelle Hinweise auf das Potenzial sozialdiagnostischer Verfahren und Instrumente sind zwar vorhanden (Gahleitner 2008; Glemser 2010; Hansjürgens 2016; Laging 2018; Gastiger/Abstein 2011), viele Publikationen verweisen jedoch eher auf Case Management. Hansjürgens (2020) weist auf vereinzelte sozialdiagnostische Elemente »in einschlägig bekannten Programmen wie MOVE, FRED, SKOLL oder ›Quit the shit‹« hin und erwähnt den Sozialbericht als eine Möglichkeit der Dokumentation sozialdiagnostischer Erkenntnisse. Deloie und Deimel (2017) zeigen exemplarisch die Möglichkeiten Sozialer Diagnostik am Beispiel eines suchtkranken Mannes auf. Das Kompetenzprofil der DG-SAS (2016) enthält zwar Hinweise, dass (psycho-) soziale Diagnostik bzw. eine entsprechende Anamnese dazugehört, expliziert aber deren methodische Breite und Tiefe nicht. Stattdessen erfolgt, ähnlich wie in der Psychiatrie, sehr häufig eine Konzentration auf medizinische oder psychologische Diagnostik (vgl. z. B. Müller 2001; S3-Leitlinien »Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen« und »Methamphetaminbezogene Störungen«), wie oben bereits erwähnt vornehmlich unter Nutzung der ICD bzw. jüngst auch mittels ICF (Borchfeld et al. 2017; Spies/Meyer-Steinkamp/Stracke/Buchholz 2017). Alles in allem finden sich also, bis auf vereinzelte ältere und jüngere Hinweise, wenige Publikationen, die Soziale Diagnostik im Suchtbereich benennen oder sogar begründen. Sucht man nach möglichen Erklärungen hierfür, so ist sicherlich die nahe liegendste, dass es auch in anderen Arbeitsfeldern, gerade auch den gesundheitsbezogenen, ähnlich ist. Auch hier dominieren weiterhin medizinische oder psychologische Diagnoseverfahren. Auch teilt die Soziale Diagnostik das Leid aller Feststellungsverfahren, da sie zu »übler Nachrede« (Hekele 2005, S. 47) führen können, wenn einmal festgestellte »Befunde« nicht im weiteren Verlauf der Hilfe überprüft werden und so im Sinne des »Labeling Approachs« der Person anhaften. Diese grundsätzliche Skepsis gegenüber Diagnosen ist natürlich auch im Suchtbereich vorzufinden, da Diagnosen Sucht- und Drogenkarrieren eher verfestigen würden, jedenfalls selten zu ihrer Auflösung oder Beendigung beitragen (Loviscach 1996; hierzu kritisch: Laging 2018). Man kann hierauf allerdings entgegnen, dass sich diese Kritik häufig auf medizinische Diagnosen bezieht, die Gesundheits- bzw. Krank-

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heitsphänomene auf ein alphanumerisches Zeichen und Ein-Wort-Diagnosen reduziert, statt das komplexe Person-Umwelt-Verhältnis als Modell zu nehmen bzw. die biopsychosoziale Perspektive zu berücksichtigen. Zudem impliziert dies die vereinfachende Zuschreibung eines komplexen Geschehens auf ein Verhalten. Was also fehlt, ist ein integratives oder biopsychosoziales Verständnis, z. B. entlang eben jenes biopsychosozialen Modells, wobei dies parallel zur Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (DIMDI 2005) leicht einzunehmen wäre. Dieses Fehlen ist wiederum auch der geringen Einflussnahme der Sozialen Arbeit auf die Diagnostik geschuldet, weshalb durchaus eine allgemeine Professionalisierungsbedürftigkeit der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe als Klinische Sozialarbeit konstatiert und eine spezifische Steigerung des professionellen Handelns gefordert werden könnte. Wie Hansjürgens (2019) ausführt, spielte und spielt die Soziale Arbeit in der Suchthilfe immer eine wichtige Rolle, wenngleich sie aus verschiedenen Gründen marginalisiert wird. Dass sie dazu auch selbst beiträgt, verdeutlichen verschiedene Diagnosen und Analysen. So stellt Jungblut (2011, S. 284) fest, dass das »Verharren in der Ambivalenz ihrer aktuellen Berufsvollzüge – alltagsorientierter, suchtbegleitender Hilfen im Kontext eines Pathologiekonzepts – […] der Sozialen Arbeit jedoch wenig Möglichkeiten, das Spezifische ihrer Arbeit herauszustellen«, lässt. Dass sie daran auch eine gewisse Mitverantwortung trägt, wird jedoch auch herausgestellt: »[…] die Berufsgruppe der Sozialarbeiter und Sozialpädagogen [versteht es] zudem wesentlich schlechter als andere, ihre Leistungen in der Fachwelt und weiteren Öffentlichkeit entsprechend ihrem Anteil an der Suchtkrankenhilfe gebührend darzustellen.« (Stöver 2012, S. 162) Neben dem spezifischen Problem der vorrangig medizinisch-psychologisch dominierten Behandlungs- und Unterstützungslandschaft ist also auch die Selbstmarginalisierung Sozialer Arbeit ein Grund für ihren bislang geringen Professionalisierungsgrad in der Suchthilfe. Wie für andere Professionen stellt sich diese Professionalität auch über methodisches Handeln her, wozu dann letztlich auch die Kompetenz gehört, sich mittels eines eigenen diagnostischen oder fallverstehenden Blicks über die vorgefundene Lebenslage und den Bedarf der Adressat*innen ein eigenes Urteil zu bilden, das dann im interdisziplinären und interprofessionellen Kontext eingebracht wird. Laging (2018, S. 165) hält hierzu zusammenfassend fest, dass

»ein professioneller und disziplinärer Umgang mit Diagnoseinstrumenten und Diagnoseprozessen möglich und angezeigt ist, da die Adressatinnen

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und Adressaten von Suchtprävention und Suchtarbeit hiervon profitieren können. Zudem kann die Entwicklung eigener diagnostischer Instrumente und Prozesse die Professions- und Disziplinentwicklung vorantreiben und die Soziale Arbeit im multidisziplinären Feld der Suchtkrankenhilfe stärken«. Verstärkt wird die Argumentation für eine konsequente sozialarbeiterische (Selbst-)Beteiligung zudem ganz offensichtlich durch die sozialepidemiologischen Erkenntnisse zum Zusammenhang von Gesundheitsrisiken und sozialer Lage auch für problematischen Konsum von Alkohol, Tabak und anderen Drogen. Ebenso ist evident, dass soziale Beziehungen einen erheblichen Einfluss auf die Gesundheit haben und soziale Integration das Risiko minimiert, suchtkrank zu werden oder zu bleiben. Entgegen dieser Erkenntnis wird Suchtverhalten sowie die Behandlung desselben nach wie vor auf eine individuumszentrierte Behandlung reduziert und soziale Faktoren sowohl bezüglich der Genese als auch des Verlaufs von Suchterkrankungen relativ wenig berücksichtigt. Neben soziostrukturellen Faktoren auf der Makroebene, die durch Soziale Arbeit nur wenig zu beeinflussen sind, sind es aber v. a. die meso- oder auch mikrosozialen Faktoren, die auf das Subjekt und dessen Umfeld (v. a. auf Angehörige) einwirken und die es z. B. durch Soziale Diagnostik zu erkennen und dann zu behandeln gälte. Ebenso sind dies die Auswirkungen auf die Integration suchtkranker Menschen in die verschiedensten Gesellschaftssysteme, also schulische, berufliche Ausbildungsinstitutionen, oder auch in den Arbeitsmarkt. Auch diese müssen mindestens im Sinne einer selektiven Prävention und im rehabilitativen Sinne erkannt und mitberücksichtigt werden.

Was ist und was kann Soziale Diagnostik in der Suchthilfe? In der professionellen Entwicklung der Sozialen Arbeit hat sich die Soziale Diagnostik stets als wichtiges Element und als Seismograf für die eigene Ansprüche an die Professionalität gezeigt. Die ursprüngliche Bedeutung, die ihr beispielsweise bereits bei Mary E. Richmond zugesprochen wurde, verdeutlicht dies. So schreibt sie bereits 1917 in ihrem Werk »Social Diagnosis«: »Eine soziale Diagnose kann als Versuch beschrieben werden, die exakteste mögliche Definition einer Situation und Persönlichkeit eines Menschen mit bestimmten sozialen Bedürfnissen vorzunehmen, und zwar im Zusammenhang mit anderen Menschen, von denen er in jeder möglichen Hinsicht abhängig ist oder die von ihm abhängen, aber auch im Zusammenhang mit

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den sozialen Institutionen seines Gemeinwesens.« (Richmond 1917, S. 357; eigene Übersetzung) In dieser weitsichtigen Bestimmung des Anspruchs und Inhalts einer sozialen Diagnose zeigt sich programmatisch, worum es geht: Ȥ das Anmahnen einer vorsichtigen Vorgehensweise (»als Versuch«, »exakteste mögliche«), die sich der Vorläufigkeit bzw. des Hypothesenhaften und der »Unschärfe« einer sozialen Diagnose bewusst ist; Ȥ eine psychosoziale Fokussierung der »Situation« und »Persönlichkeit« des »Menschen mit bestimmten sozialen Bedürfnissen«; Ȥ eine interaktionale (»im Zusammenhang mit anderen Menschen«) und sozialräumliche (»sozialen Institutionen seines Gemeinwesens«) Perspektive. Man kann hier durchaus den pionierhaften – wenngleich der zeitgenössischen Sichtweise und Sprache verhafteten – Versuch erkennen, einen professionellen Standard zu definieren, der erst in jüngster Zeit aufgenommen und weiter ausdifferenziert wurde. Hier ist v. a. an die Standards einer Sozialen Diagnostik zu denken, wie sie durch Maja Heiner beschrieben wurden. So ist diese partizipativ, sozialökologisch, mehrperspektivisch und reflexiv zu konzipieren (Heiner 2013). Zudem zeigt sich Professionalität an der professionellen Urteilskraft. Diese wurde schon von Alice Salomon erkannt, wenn sie, gemeinsam mit Siddy Wronksy, bereits 1926 (S. 12) festhält, »dass die Deutung des Materials, dass die Schlussfolgerung und Beurteilung eine selbständige geistige Leistung ist. Das erste Glied dieser Leistung ist immer eine Hypothese, eine Möglichkeit, die sich bei weiterer Prüfung als richtig oder falsch erweisen kann.« Es geht also darum, nach einer möglichst vollständigen Anamnese zu einer Sozialen Diagnose zu kommen, die die Informationen bündelt, im besten Falle aber diese Informationen im Modus einer selbstständigen geistigen Leistung – also professionell – interpretiert. Aus heutiger Sicht würde man sagen, dass diese Interpretation auch theoretisch erklärt, was im vorliegenden Material der Fall ist. So wäre etwa eine netzwerktheoretische Deutung einer Netzwerkkarte (vgl. auch Lüdtke/Lüdtke in Kap. 6) unerlässlich, um zu verstehen, wie sich beispielsweise Netzwerklöcher oder die Stärke schwacher Beziehungen im sozialen Netzwerk Betroffener als bestimmend für die Entwicklung oder Aufrechterhaltung eines Suchtmittelkonsums herausstellen. Ebenso wie bestimmte Milieus verlassen werden müssen, damit das Soziale Netzwerk verändert werden kann.

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Der kurze Ausflug in die frühe Berufs- und Methodengeschichte am Beispiel Richmonds und Salomons hat die frühen Erkenntnisse gezeigt, die dann jedoch lange Zeit zunächst »verdrängt« wurden, v. a. durch die erzwungene Migration der Pioniere, die nationalsozialistische Pervertierung der Wohlfahrtspflege und damit einhergehend auch der Behandlung Suchtkranker. Im Zusammenhang mit eben diesen Entwicklungen und der Beteiligung der Fürsorge an der Identifikation von bestimmten Personen durch »Soziale Dia­gnostik« dauert es lange, bis wieder über eine Reprofessionalisierung nachgedacht werden konnte. Doch auch diese wurde zunächst durch die kritische Auseinandersetzung mit der stigmatisierenden Wirkung von (medizinischen) Diagnosen in den 1960erbis 1980er-Jahren (und zum Teil bis heute) unterbrochen bzw. verlangsamt und gewinnt erst danach bzw. jüngst an Bedeutung. Meilensteine dieser jüngeren Entwicklung sind mit dem Handbuch »Diagnostik und Diagnosen in der Sozialen Arbeit« (Heiner 2004), dem Beginn einer Tagungsreihe zur Sozialen Diagnostik (ab 2005, siehe die Veröffentlichung zur zweiten Tagung Pantuček/Röh 2008), den fortlaufend aktualisierten Werken Pantuček-Eisenbachers, zuletzt 2019, sowie den aktuellen Handbüchern zur Sozialen Diagnostik von Buttner/ Gahleitner/Hochuli Freund/Röh (2018; 2020) zu verzeichnen. Soziale Diagnostik steht nicht zwingend, aber bezüglich der Suchthilfe wohl am besten, in einem direkten Verhältnis zur Klinischen Sozialarbeit. Sie kann in diesem Zusammenhang definiert werden als der Versuch zur Erfassung jener Einflussvariablen auf Gesundheit/Krankheit, die sie im Sinne eines sozio-psycho-somato-kulturellen Behandlungsverständnisses und ihrer daraus resultierenden Behandlungskompetenz im Bereich der Störungen des Passungsverhältnisses zwischen Subjekt und Umwelt für eine erfolgreiche Intervention benötigt. Auf jeden Fall ist festzuhalten, dass es gute Gründe gibt, die Soziale Dia­ gnostik in der Suchthilfe zu entwickeln, wo es sie bereits gibt, zu verstetigen und insgesamt zu konsolidieren.

Fazit Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die professionelle Soziale Arbeit in der Suchthilfe eine, wenn auch an die verschiedenen Arbeitsgebiete angepasste, Methodik Sozialer Diagnostik benötigt, da Ȥ sich Suchtproblematiken immer auch als soziale Probleme darstellen, Ȥ moderne Behandlungs-, Rehabilitations- sowie Teilhabeprogramme nicht mehr nicht biopsychosozial sein können, Ȥ sie es aber immer noch sind,

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Ȥ was auch an der Sozialen Arbeit liegt, da sie ihr Professionalisierungspotenzial noch nicht ausschöpft. Die dominante Krankheits-/Symptomdiagnostik ist, obwohl sie nur den psychosomatischen Bereich von Sucht erklärt, um eine Soziale Diagnostik zu ergänzen, um den sozialepidemiologischen Erkenntnissen gerecht werden zu können und die sozialen Faktoren konsequent einzubeziehen. Dabei stellen sich, wie in vielen anderen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit auch, noch Aufgaben, die es im Sinne einer Professionsentwicklung zu bearbeiten gilt. Hierzu zählt u. a., dass Verfahren und Instrumente für den Suchthilfebereich noch entwickelt, angepasst, erprobt und evaluiert werden müssten – hier besteht noch einiger Forschungsbedarf. Zudem muss Soziale Diagnostik ihre »Praxistauglichkeit« angesichts zumeist extern definierter Aufträge und Ressourcen beweisen, u. a. bezüglich der Fragen, ob sie in jedem oder nur in ausgewählten Fällen durchgeführt werden muss, wie sie mit anderer Diagnostik zusammengebracht und wie sie mit der Behandlungs- bzw. Hilfeplanung verknüpft werden kann. Auch wäre zu prüfen, inwieweit sich sozialdiagnostische Prozesse »beschleunigen« oder »verdichten« ließen, um in bestimmten Kontexten, z. B. der stationären Behandlung, wirken zu können, oder welche Art Sozialer Diagnostik es außerhalb von (hochschwelligen) Behandlungs- und Beratungssettings braucht.

Literatur Borchfeld, K./Spies, M./Meyer-Steinkamp, R./Stracke, R./Rumpf, H.-J./Buchholz, A. (2017): Welche Beeinträchtigungen erleben Patienten mit substanzbezogenen Störungen in ihrem Alltag? SUCHT, 63 (3), 135–144. Buttner, P./Gahleitner, S. B./Hochuli Freund, U./Röh, D. (Hg.) (2018): Handbuch Soziale Diagnos­ t­ik. Perspektiven und Konzepte für die Soziale Arbeit. Freiburg i. Br. Buttner, P./Gahleitner, S. B./Hochuli Freund, U./Röh, D. (Hg.) (2020): Soziale Diagnostik in den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. Handbuch Soziale Diagnostik, Bd. 2. Freiburg i. Br. Deloie, D./Deimel, D. (2017): Lernfall Suchterkrankung. In: J. Bischkopf/D. Deimel/C. Walther/ R.-B. Zimmermann (Hg.): Soziale Arbeit in der Psychiatrie (S. 354–370). Köln. Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe e. V. (DG-SAS) (2016): Kompetenzprofil der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe und Suchtprävention, Münster. https://www.dg-sas.de/ media/filer_public/52/41/524129ce-b5a6-41ed-9f0e-7626e88e4f82/kompetenzprofil_online. pdf (Zugriff am 29.11.2019). Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) (2005): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. http://www. dimdi.de/dynamic/de/klassi/downloadcenter/icf/endfassung (Zugriff am 29.11.2019). Gahleitner, S. B. (2008): Psycho-soziale Diagnostik im Suchtbereich. SuchtMagazin, 4, 15–20. Gastiger, S./Abstein, H.-J. (Hg.) (2011): Methoden der Sozialarbeit in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchthilfe. Freiburg i. Br.

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Autoreninformation Röh, Dieter, Prof. Dr., ist Professor für Wissenschaft der Sozialen Arbeit an der HAW Hamburg; Arbeits- und fachwissenschaftliche Schwerpunkte: Theorien, Konzepte und Methoden Sozialer Arbeit mit den Schwerpunkten Rehabilitation, Klinische Sozialarbeit und Sozialraumorientierung. Kontakt: [email protected]

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Einleitung Ein wichtiger Punkt in der Methodenausbildung von Sozialarbeitenden ist die Frage, wie und woher sie wissen können, was wie zu tun ist. Begreift man professionelles Handeln als prinzipiell rationales, das heißt auf explizierbarem Wissen (das auch reflektierte Erfahrungen einschließt) beruhendes und damit begründbares Handeln, gibt es aus einer professionstheoretischen Sicht darauf eine eindeutige Antwort: Der Handlung gehen Phasen der Beobachtung einer Situation, zu der auch die Verständigung über die Sichtweisen der beteiligten Akteur*innen gehört, der Einordnung dieser Beobachtungen in spezifisches Wissen, der Bildung von handlungsleitenden Hypothesen und die Phase der auf den Einzelfall differenzierenden rationalen Schlussfolgerung auf Basis dieser Hypothesen voraus.

Abb. 1: Phasen einer professionellen Handlung Sozialer Arbeit in Anlehnung an das Phasenmodell nach Abbott (eigene Darstellung)

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Der Professionssoziologe Andrew Abbott spricht in diesem Zusammenhang von der Phase der Diagnose, gefolgt von der Phase der Inferenz, die in die Phase der (Be-)Handlung mündet (Abbott 1988). Damit ist noch nichts darüber ausgesagt, auf welche Weise diese Phasen gestaltet werden und was den beobachtenden »Blick leitet« (Ader 2005), wie diese Beobachtungen gedeutet werden und welche (Be-)Handlungen aus Sicht einer Profession überhaupt infrage kommen bzw. wofür sie sich als zuständig erachtet und wofür sie ausgebildet wurde. Ein Vorschlag aus der Sozialen Arbeit, wie ein solcher professioneller Prozess zu gestalten sei, was den Blick leiten kann und welche konkreten Verfahren in den spezifischen Phasen eingesetzt werden können, findet sich im Modell der »Kooperativen Prozessgestaltung Sozialer Arbeit« (KPG) (Hochuli Freund/Stotz 2017). Dieses unterteilt die Phase, welche bei Abbott »Diagnose« genannt wird, konzeptionell in drei weitere Phasen, welche iterativ (sich durch Wiederholung an einen anderen Zustand annähernd) miteinander verbunden sind. Dieses Phasenmodell beginnt mit einer »Situationsklärung«, führt über die »Analyse« und endet mit einer »Diagnose«.

Abb. 2: Die Phase der Diagnose als iterativer Prozess in Anlehnung an das KPG (eigene Darstellung)

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Konkret wird Diagnose hier verstanden als die Formulierung handlungsleitender Hypothesen auf Grundlage der zuvor erhobenen Daten und deren Auswertung. Die Durchführung dieser Phase der Diagnose (und aller anderen Phasen) dieses Modells geschieht auf der Basis von Abstimmungsprozessen und Kooperation mit Klient*innen und ihren Bezugssystemen genauso wie mit Kolleg*innen innerhalb und außerhalb der eigenen Organisation und Profession. Dieses Vorgehen, explizit über das Geschehen in der Dyade Fachkraft und Klient*in hinausgehend, wird als typisch, notwendig und funktional für den fachlichen Anspruch Sozialer Arbeit benannt (Hochuli Freund/Stotz 2017). Gleichzeitig ist es die Begründung für das Etikett »soziale Diagnose«, welches erstmalig von Mary Richmond und Alice Salomon 1926 Eingang in die Fachterminologie fand (vgl. Röh in Kap. 1). Wie und auf welche Inhalte genau die Situation des*der Klient*in erfasst werden sollte und welche Verfahren dabei sinnvoll sind, ist eine Frage der jeweiligen Perspektive, der Konzeption und des Verfahrens Sozialer Diagnostik. Hier gilt es je nach Handlungsfeld, dem Auftrag Sozialer Arbeit darin und Ausstattung sowie Situation der Klientel auszuwählen (grundsätzlich Buttner/Gahleitner/ Hochuli Freund/Röh, 2018; Pantuček-Eisenbacher 2019). Nicht unerwähnt bleiben soll, dass das Projekt einer Sozialen Diagnostik in Fachkreisen vor allem der Sozialpädagogik umstritten ist1, worauf in diesem Rahmen aber nicht weiter eingegangen werden kann. Zusammengefasst geht es um die Frage, ob es bei Sozialer Diagnostik um eine objektive Bestimmung eines Zustandes geht oder um ein eher einfühlendes Verstehen, welches explizit die Problem- und Lösungskonstruktion von Klient*innen mitberücksichtigt, und ob und inwieweit es möglich ist, diese Positionen in diagnostischen Konzepten und Verfahren zu integrieren (vgl. Schrapper 2015). Eine diese Positionen integrierende Auffassung von Sozialer Diagnostik wurde von Maja Heiner vertreten. Sie entwickelte als Antwort auf diesen Diskurs folgende Postulate (vgl. Heiner 2001, S. 258 ff.): Klient*innen sollen als ebenbürtige Partner*innen begriffen und diagnostische Prozesse partizipativ angelegt werden. Inhaltlich soll ein facettenreiches, ressourcen- und entwicklungsorientiertes Bild von Klient*innen, der Situation und den Aufgaben gezeichnet und nicht auf einen oder wenige Aspekte reduziert werden. Ergebnisse Sozialer Dia­ gnostik sollen explizit hypothetisch und vorläufig formuliert sein, um dauerhafte Selbstzuschreibung und daraus folgende Stigmatisierungen zu vermeiden. Dementsprechend sollen Konzepte der Sozialen Diagnostik den Prinzipien 1 Eine stellvertretende Darstellung der Positionen und ein Dialog zwischen verschiedenen Akteuren hierzu findet sich in Kunstreich (2003).

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mehrdimensional, sozialökologisch, partizipativ und reflexiv entsprechen (ausführlich siehe Merkkasten).

Folgende Kriterien könnten in Anlehnung an diese Prinzipien und darüber hinausgehend als »Checkliste« für die Auswahl eines Verfahrens angelegt werden (vgl. auch Hansjürgens in Kap. 8): Das Verfahren Ȥ erfasst die soziale Ebene eines Menschen in mehr als einer Dimension z. B. Familien, sozialer Nahbereich, Arbeit, Schule, Wohnen, Freizeit etc. (mehrdimensional); Ȥ erfasst Wechselwirkung oder ermöglicht Austausch mit sozialen Netzwerken (sozialökologischer Erfahrungsraum); Ȥ ermöglicht einen Erfahrungsraum, in dem eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung entstehen kann; Ȥ ermöglicht neben der Erfassung von Defiziten auch die Erfassung oder die Aktivierung von Ressourcen; Ȥ erfasst oder berücksichtigt explizit die Sichtweise von Klient*innen in Bezug auf Problemlagen und Ressourcen (reflexiv); Ȥ ermöglicht Kooperation/dialogische Aushandlung auf der Basis der eigenen Einschätzung (partizipativ); Ȥ ist möglichst einfach in der Anwendung, der Situation und den Klient*innen im Handlungsfeld angepasst; Ȥ steht nicht im Widerspruch zu berufsethischen und gesetzlichen Normierungen.

Zusammenfassend kann Soziale Diagnostik zunächst als Phase professionellen Handelns begriffen werden, die die Situation von Klient*innen und ihrer Umwelt sowie darin eingebettete Problemlagen und Ressourcen unter Berücksichtigung der Klient*innen- und Umweltperspektive systematisch erfasst, in spezifisches Wissen einordnet und zu handlungsleitenden Hypothesen in Bezug auf einen vorliegenden Einzelfall verdichtet. Nach kritischer Fachdiskussion bezüglich einer einfachen Übernahme von Konzepten und Verfahren anderer Professionen z. B. von Medizin oder Psychotherapie ist Soziale Arbeit heute in der Lage, die in ihrer Professionalisierungsgeschichte schon früh angelegten Postulate von Richmond und Salomon konzeptionell und mit Verfahrensvorschlägen aus verschiedenen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit zu füllen. Wie

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dies konkret für das Handlungsfeld Sozialer Arbeit in der Suchthilfe aussehen kann und wie sich eine soziale Diagnose von anderen Formen unterscheidet, soll nachfolgend konkretisiert werden.

Diagnostik in der Suchthilfe In wesentlichen Bereichen der Suchthilfe wird Sucht überwiegend als Krankheit aufgefasst, wie eine Untersuchung der Einstellungen bei den im Feld tätigen Professionellen zeigte (Bauer 2013). Dies wird damit erklärt, dass mit der Anerkennung von Sucht als Krankheit 1968 der Weg frei war, um Leistungen zur Behandlung der Krankheit aus den sozialversicherungsfinanzierten Segmenten des SGB V für Akutbehandlung und SGB VI für Rehabilitation zu erhalten und somit Betroffenen diesbezügliche Hilfen zu ermöglichen. Suchthilfe als eigenes System innerhalb medizinischer Hilfen konnte daraufhin ausgebaut werden. Dementsprechend spielt eine Diagnose aus medizinischer Perspektive in der Suchthilfe eine wichtige Rolle, da diese als Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen aus diesem sozialversicherungsfinanzierten System gilt. Eine medizinische Diagnostik unterscheidet sich jedoch konzeptionell und in der Verfahrensweise von einer sozialen Diagnose. Grundsätzlich gestaltet sich eine medizinische Diagnose eher defizitorientiert durch Abgleich des Vorgefundenen an sogenannten Normalitätskriterien und einer Einordnung in ein Klassifikationssystem. Beispiel für ein solches Klassifikationssystem, das international im Bereich der Profession Medizin geteilt wird, ist die sogenannte »International Classification of Diseases and Health related Problems« (ICD), bei der zurzeit die Einführung der 11. Revision in Deutschland in Vorbereitung ist. Diese Zuordnung ermöglicht aus fachlich-inhaltlicher Sicht eine Kommunikation der professionell Helfenden über die mit der jeweiligen Diagnose in Verbindung stehenden, häufig wahrgenommenen Teilaspekte, die sogenannten »Symptome«. Diese aus einer bestimmten Perspektive (z. B. der medizinischen oder psychologischen) zusammengefassten und mit einem Namen versehenen Symptome bilden den Kern eines zuschreibenden Klassifikationssystems. Diese Bündelungen von Symptomen zu Diagnosen erfolgen nicht willkürlich, sondern über die Fundierung durch statistische Daten. Die Interpretation dieser Daten reflektiert aber auch kulturelle Einstellungen und Deutungen (Roelcke 2015, S. 158). Dies betrifft vor allem psychiatrische Diagnosen (Roelcke 2015, S. 158). Zu denken ist hier zum Beispiel an Diagnosen wie »Burnout«, »ADHS« oder aus historischer Perspektive Homosexualität,

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welche bis zum Erscheinen des ICD 10 1992 dort als »neurotische Störung« beschrieben wurde. Zu den sich wandelnd beschriebenen Krankheiten gehört auch die Klassifikation »Psychische und Verhaltensstörungen aufgrund des Konsums psychoaktiver Substanzen« (Überschrift zum Kapitel F 10–19 der ICD 10), die gemeinhin als »Sucht« bezeichnet wird (Wiesemann 2000). Wie oben schon angedeutet, ist eine medizinische Diagnostik nicht nur für eine fachliche Einschätzung, Möglichkeit zur Operationalisierung von komplexen Konstrukten für Forschung und (inter-)professioneller Verständigung von Bedeutung, sondern auch für die Legitimation zur Ermöglichung von Hilfe aus den sozialversicherungsfinanzierten Hilfesektoren der SGB V, VI und auch XII. Diese Funktionen einer medizinischen Diagnose in der beschriebenen Form werden durch ihren objektivierend erfassenden und zuschreibenden Charakter ermöglicht, wovon sich eine soziale Diagnose mit ihrem subjektiv erfassenden, vergleichend aushandelnden Charakter konzeptionell und durch die Verfahren abgrenzt. Aufgrund des durch das Bundesteilhabegesetz politisch gestärkten Paradigmas der »Teilhabeorientierung« für Menschen mit Behinderungen erfährt das von der WHO 2001 eingeführte Klassifikationssystem der International Classification of Functioning (ICF) aktuell in der Suchthilfe zunehmend eine fachlich inhaltliche Bedeutung. Während im biomedizinischen Modell der ICD eine funktionale Beeinträchtigung eher als Folge eines gesundheitlichen Problems der jeweiligen Person aufgefasst wird, zielt die ICF nicht auf ein einheitliches Verständnis von Gesundheitsproblemen, sondern auf ein einheitliches Verständnis der Auswirkungen von Gesundheitsproblemen sowohl für Menschen mit als auch ohne Behinderungen ab (Schuntermann 2018). Menschen mit einer Suchterkrankung sind insofern davon betroffen, als dass Leistungen der Eingliederung (Teilhabe) über das SGB XII organisiert werden. Diese Hilfen finden sich aktuell häufig im sogenannten Betreuten Wohnen. Auf Basis der ICF-Struktur ist zurzeit ein »Modulares Core-Set Sucht« in der Entwicklung und Erprobung (Borchfeld et al. 2017; Spies/Meyer-Steinkamp/ Stracke/Buchholz 2017; Buchholz in Kap. 5). Ein Core-Set operationalisiert die ICF-Struktur für eine bestimmte Krankheit, um auch hier die Möglichkeit einer Vergleichbarkeit und gleichen Sprache zu ermöglichen. Ob es wie das ICD eine sozialadministrative Bedeutung erlangen kann, ist derzeit noch offen (vgl. kritisch hierzu Oberholzer 2013). Aus fachlicher Sicht könnte es eine Umstellung auf ICF als Kommunikationsinstrument zwischen Sozialadministration und professionell Tätigen erfordern, inhaltliche Tools (weiter-) zu entwickeln, um soziale Diagnosen erstellen und

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in einen Gesamthilfeplan integrieren zu können. Diese Adaption würde allerdings bedeuten, sowohl Ressourcen und Räume zur Verfügung zu stellen als auch Möglichkeiten, die Ergebnisse dieser Diagnosen in den angebotenen Hilfen zu berücksichtigen.

Soziale Diagnostik in der Suchthilfe Im Unterschied zu einer medizinischen Diagnostik ist eine explizit Soziale Diagnostik in der Suchthilfe selten anzutreffen. Die Gründe dafür verorte ich auf mindestens zwei Ebenen. Die eine Ebene mag sein, dass Soziale Diagnostik in ihrer expliziten Form, insbesondere für Sucht als »biopsychosoziales Konstrukt« (z. B. Gaßmann/Rummel 2019), zwar unbestritten inhaltlich Sinn macht (Dällenbach-Bechtel/Hollenstein 2019; Solèr/Süsstrunk 2019), ihre Erstellung jedoch im Erwachsenenbereich der Suchthilfe an vielen Stellen weder vorgeschrieben noch mit finanziellen und/oder zeitlichen Ressourcen ausgestattet wird. Eine andere Ebene mag sein, dass in einer engen oder alltagstheoretischen Begriffsverwendung von »Diagnostik«, insbesondere im Feld des Gesundheitswesens, diese mit einer medizinischen Diagnostik assoziiert wird. Sozialarbeitende werden dafür (zu Recht) als nicht zuständig und nicht dafür ausgebildet erachtet. Dies hat zur Folge, dass Sozialarbeitende sich deshalb auch nicht für »Dia­ gnostik« zuständig fühlen, diese sogar ablehnen. Insbesondere dann, wenn für eine explizit soziale Diagnose keine Ressourcen und keine Verbindlichkeit vorgesehen sind oder die Rolle der Sozialarbeit als zu- oder nacharbeitend aus Sicht des Feldes der Suchthilfe begriffen wird, welches Sucht vorrangig als Krankheit begreift (für den Bereich der Suchtberatung ausführlich Hansjürgens 2018a). Da Fachkräfte der Sozialen Arbeit jedoch durchaus professionell in der Praxis der Suchthilfe auf Grundlage ihres eigenen fachlichen Urteils handeln, wird hier davon ausgegangen, dass Soziale Diagnostik zwar nicht explizit so genannt wird, sich jedoch (auch konzeptionell) an verschiedenen Stellen verbirgt und geleistet wird. Diese Überlegungen sollen an zwei Beispielen konkretisiert werden. In einschlägig bekannten Programmen im Rahmen von sekundärer bzw. indizierter Suchtprävention, auch Früherkennung genannt, wie z. B. MOVE, FreD, SKOLL oder »Quit the shit«, finden sich durchaus sozialdiagnostische Elemente. Diese thematisieren die Entstehung des jeweiligen Substanzgebrauchs oder eines entsprechenden Verhaltens vor dem biografischen Hintergrund und der aktuellen Situation bzw. den Wechselwirkungen dieser Kategorien mit den Teilnehmenden reflexiv, prozessorientiert und dialogisch und unter expliziter Einbindung der Sichtweisen der Person also auch partizipativ. In sogenannten

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Outtake-Gesprächen am Ende des Programms wird besprochen, ob und, wenn ja, wie eine Hilfe weitergehen kann oder was aus diesen Erkenntnissen für die Teilnehmenden im Alltag resultiert (vgl. Schulte-Derne in Kap. 7). Dies jedoch mit der Brille einer Sozialen Diagnostik zu betrachten und Prozesse fachlich daraufhin zu optimieren, ist noch relativ neu und kommt erst langsam in den Blick. Programmtreue, um aufgrund der erfolgten Programmevaluationen Refinanzierungen z. B. im Rahmen von Prävention und Gesundheitsförderung nach § 20 SGB V hierfür erhalten zu können, ist aus nachvollziehbaren Gründen der Existenzsicherung dieses Angebots möglicherweise bedeutsamer. Sie verhindert jedoch, Erfahrungen in der An- und Weiterverwendung reflexiver Elemente systematisch in die Weiterentwicklung von Sozialer Diagnostik einzubinden. Dies gilt auch für Zielgruppen, die ein noch nicht ausgeprägtes abhängiges Konsumverhalten zeigen. Mehr noch kann möglicherweise – aufgrund eines Missverständnisses von Diagnostik als alleinig medizinischer Diagnostik – eine diagnostische Tätigkeit in manchen Konzepten auch explizit ausgeschlossen sein (z. B. im Konzept SKOLL). Dies wiederum kann dazu führen, dass Soziale Diagnostik entweder implizit ohne expliziten Bezug auf fachliche Konzepte z. B. im Rahmen von Fallbesprechungen mitgemacht wird. Eine andere Folge könnte sein, dass explizit diagnostische Tätigkeiten an »Expert*innen« anderer Professionen ausgelagert werden und Sozialarbeitende sich eher als »Datenlieferanten«, »Durchgangsstation« oder »nacharbeitend« begreifen und von anderen Professionsgruppen auch als solche begriffen werden. Wertvolle Erfahrungen und auch Daten, die Grundlage einer fachlichen Weiterentwicklung der Programme und Angebote sein könnten (und auch müssten), gehen verloren, weil sie nicht systematisch erfasst und dokumentiert wurden.2 Eine ähnliche Situation findet sich in der Suchtberatung als Funktionsbereich einer Suchtberatungsstelle (zu dieser Unterteilung vgl. Hansjürgens 2019). Im Rahmen einer qualitativen Untersuchung konnte gezeigt werden, dass zum von Sozialarbeitenden selbst definierten Kernbereich eine Tätigkeit gehört, die als »multiperspektivisches Fallverstehen« bezeichnet werden kann und die im engen Zusammenhang mit der Entwicklung einer »vertrauensvollen Arbeitsbeziehung« steht (Hansjürgens 2013, 2018a). Die Fachkräfte selbst hatten dafür keine fachspezifische Bezeichnung. In keinem Fall wurde es in Zusammenhang 2 Darauf einzugehen, inwieweit sich auch in anderen Bereichen Sozialer Arbeit in der Suchthilfe »implizite« Soziale Diagnostik findet z. B. im sog. Betreuten Wohnen oder in der niedrigschwelligen Suchthilfe, würde an dieser Stelle zu weit führen. Außerdem bedarf es hier noch einer genaueren Untersuchung.

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mit einer sozial(pädagogisch) diagnostischen Tätigkeit gebracht, obwohl in der Rekonstruktion eine Nähe zum Konzept der sozialpädagogischen Fallanalyse nach Burkhard Müller (2012) hergestellt werden konnten. Es wird vermutet, dass ein Zusammenhang damit besteht, dass die Arbeit von freiwillig kommunal finanzierten Suchtberatungsstellen aus der Perspektive einer sozialversicherungsfinanzierten Suchtrehabilitation als »Zulieferarbeit« betrachtet und von den Fachkräften dort auch so für sich wahrgenommen wird: In konzeptionellen Beschreibungen ist von »Motivationsarbeit« und »Therapievorbereitung« die Rede (vgl. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen 1999; Fachverband Drogenund Rauschmittel 2005, 2017). Um diese Vermutung konkretisieren zu können, bedarf es jedoch noch weiterer Forschung. Mit Blick auf Verfahren zur Sozialen Diagnostik in Suchtberatungsstellen kommt auch der sogenannte Sozialbericht in den Blick, der ebenfalls als Zuarbeit bzw. Vorbereitung für eine Rehabilitation Sucht gesehen wird. Einerseits erfüllt er wesentliche Kriterien einer sozialen Diagnostik und seine Erstellung ist in den Richtlinien des Leistungsträgers (Deutsche Rentenversicherung Bund 2013) bei der Beantragung von Rehabilitationsleistungen detailgetreu vorgeschrieben. Andererseits ist seine sozialadministrative Bedeutung gering und steht aktuell zur Disposition (vgl. Hansjürgens in Kap. 8). Ob auch bei der Erstellung des Sozialberichts, wenn die Art und Weise den erläuterten Kriterien von sozialer Diagnostik entspricht, beobachtet werden kann, dass dies die Entstehung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung fördert, ist zu vermuten, muss aber weiter erforscht werden. So hätte auch diese Tätigkeit ein weit größeres Potenzial als reine Datenzulieferung für Rehabilitation. Denn auf der Basis einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung wäre eine Koordination der Hilfeleistungen jetzt schon möglich, wie sie fachlich mit dem Konzept von z. B. »motivierendem Case­management« (Schmid/ Schu/Vogt 2012) beschrieben wird und welches im Bundesteilhabegesetz (BTHG) als »Gesamtplanverfahren« administrativ vorgesehen ist. Ob solche Perspektiven jedoch politisch und fachlich in den Blick genommen werden mit dem Ziel, konkrete Lösungen zu finden, wie und von wem diese Leistungen erbracht und finanziert werden sollen, ist bislang offen.

Fazit Der Begriff der »Diagnose« bzw. »Diagnostik« wird im Kontext Sozialer Arbeit und Sucht polysemantisch verwendet. Daher erscheint es sinnvoll, zwischen einer Phase der Diagnose als Teil eines kompletten Fallbearbeitungsprozesses unabhängig von der bearbeitenden Profession, einer medizinischen Diagnostik

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und einer sozialen Diagnostik konzeptionell, in der Verfahrensweise und von der aktuellen sozialadministrativen Funktion her zu unterscheiden. Dies dürfte helfen, für mehr konzeptionelle und bezogen auf die Verfahren, für mehr inhaltliche Klarheit zu sorgen. Konkret wird Soziale Diagnostik als Phase professionellen Handelns begriffen, die die Situation von Klient*innen und ihrer Umwelt sowie darin eingebettete Problemlagen und Ressourcen unter Berücksichtigung der Klient*innen- und Umweltperspektive systematisch erfasst, in spezifisches Wissen einordnet und zu handlungsleitenden Hypothesen in Bezug auf einen vorliegenden Einzelfall verdichtet. In Bezug auf das konkrete Handeln von Sozialarbeitenden im Feld der Suchthilfe wird hier die These vertreten, dass der Bedarf für Soziale Dia­gnostik in der Suchthilfe inhaltlich, aber auch administrativ fordernd gegeben ist. Instrumente stehen bereits jetzt schon sowohl aus der Perspektive Sozialer Arbeit als auch, um Anschlüsse zu Leistungsträgern herstellen zu können, aus dieser Perspektive zur Verfügung (s. Beitrag zum Sozialbericht als diagnostisches Instrument in Kap. 8). Es wird vermutet, dass auch die Diagnostik und nicht erst die Intervention im Zusammenhang mit der Entstehung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung steht. Um funktional mit Blick auf Exploration von Hilfebedarfen und Ressourcen sein zu können, scheint es im diagnostischen Verfahren von Bedeutung zu sein, dass eine Erhebung zieloffen und eher auf der Basis von Verständigung als von Zuschreibung von Klassifikationen erfolgt und sich inhaltlich eher an subjektiv bedeutsamen Bedarfen von Klient*innen ausrichtet. Dies kann auch bedeuten, ICD-basierte ärztliche und/oder psychologischpsychiatrische Diagnosen zur Kenntnis zu nehmen und mit Klient*innen die Auswirkungen auf ihr Leben zu thematisieren und dies in eine soziale Diagnose miteinzubeziehen. Dies gilt insbesondere, wenn es darum geht, Übergänge zwischen verschiedenen Hilfeformen zu gestalten oder Klient*innen bei Möglichkeiten zur Teilhabe oder (Re-)Integration in ein Alltagsleben zu begleiten. Sozialarbeitende an Stellen des Erstkontaktes mit Möglichkeit einer sektorenübergreifenden Prozessbegleitung (z. B. Suchtberatungsstellen, aber auch niedrigschwellige Einrichtungen) sowie an Schnittstellen im Gesundheitswesen (Sozialdienste in Krankenhäusern und Rehabilitationskliniken) oder in der Suchtrehabilitation selbst bzw. im Betreuten Wohnen, aber auch im sekundärpräventiven Segment von Suchtprävention können diese Arbeit leisten. Jedoch müssen diese professionell anspruchsvollen Leistungen sowohl explizit bezahlt werden als auch deren Ergebnisse verbindliche Berücksichtigung in der Gewährung bzw. tatsächlichen Ausgestaltung der Hilfeleistung erfahren. Welcher Leistungsträger dies aus welcher Perspektive übernehmen will oder

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kann bzw. wie für die Verbindlichkeit gesorgt werden kann, um hier regional vergleichbare Standards setzen zu können, bleibt offen. Mehr noch ist dies eine komplexe Herausforderung der Zukunft für die Gestaltung von Hilfeleistungen am Schnittpunkt zwischen Gesundheits- und Sozialwesen (vgl. Luthe 2013), in die durch die politische Orientierung am Paradigma der »Teilhabe« auch für die Suchthilfe möglicherweise aktuell Bewegung zu kommen scheint.

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Autorinneninformation Rita Hansjürgens, Prof. Dr. phil., Sozialarbeiterin, langjährige Tätigkeit in der ambulanten Suchthilfe, ist seit 2018 Professorin für Handlungstheorien und Methoden Sozialer Arbeit und allgemeiner Pädagogik an der Alice Salomon Hochschule in Berlin; Schwerpunkte von Forschung und Lehre: Professiona­ lisierung Sozialer Arbeit, Soziale Diagnostik, Soziale Arbeit in der Suchthilfe und im Gesundheitswesen, klinische Soziale Arbeit, Versorgungsforschung und Performanz Sozialer Arbeit in der Suchthilfe, Umgang mit Wissen in der Sozialen Arbeit. Kontakt: [email protected]

3 Black-Box-Diagnostik Kitty Lüdtke und Peter Lüdtke

Der Begriff der Black-Box-Diagnostik in der Sozialen Arbeit wurde von Peter Pantuček-Eisenbacher eingeführt. Die Klientel wird hierbei als ein »nicht triviales System«, eine sogenannte Black Box, vorgestellt. Der Unterschied zu trivialen Systemen besteht darin, dass es, wenn man beispielsweise bei zehn Personen den gleichen Input gibt, jedes Mal zu einem anderen Ergebnis führen kann. Bei trivialen Systemen würde der gleiche Input zu gleichen Ergebnissen führen. Was Peter Pantuček-Eisenbacher als Black-Box-Diagnostik bezeichnet, sind Verfahren, die nicht darauf abzielen, dass Sozialarbeiter*innen klüger werden, sondern dass Klient*innen ihre Handlungsfähigkeit verbessern. Die Handlungsfähigkeit einer Person wird sich jedoch nur verändern, wenn diese jeweilige Zusammenhänge erkennt und für die eigene Situation adaptieren kann. Unter diesem Aspekt kann die Black-Box-Diagnostik auch als Instrument der Eigendiagnose verstanden werden. Verfahren der Black-Box-Diagnostik sind in dem Sinne diagnostisch, als sie auf die strukturierende Bewertung von Situationen abzielen und unter der Anleitung bzw. Organisation der Sozialarbeiter*innen stattfinden. Ihr BlackBox-Charakter besteht darin, dass die Sozialarbeiter*innen nicht die Kontrolle über den Inhalt des Prozesses haben, in manchen Fällen sogar das Ergebnis nicht erfahren, sondern nur die Schlussfolgerungen daraus (vgl. PantučekEisenbacher 2019). Black-Box-Diagnostik kann sowohl als Teil der Gesprächsführung als auch als Sammlung von Methoden verstanden werden. Als Beispiel für die Gesprächsführung können Aspekte wie der Change-Talk der Motivierenden Gesprächsführung von Miller und Rollnick (2015) angeführt werden, aber auch zirkuläre Fragetechniken, auf die wir im Folgenden näher eingehen. Im Weiteren werden einige Methoden näher beleuchtet und auch das Setting, welches den diagnostischen Prozess begünstigt, sowie das diagnostische Grundverständnis werden eingehend beschrieben.

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Diagnostizierst du schon oder wirst du noch diagnostiziert? Wir interpretieren den Begriff der Diagnose als Entscheidung durch Erkenntnis und wollen, dass Adressat*innen und Fachkräfte Entscheidungen anhand partizipativ gewonnener Erkenntnisse dialogisch treffen. Stellen Sie sich einmal ein Beratungsgespräch vor. Fachkraft und Klient*in sind über einen bestimmten Sachverhalt im Gespräch. Aufseiten der Fachkraft werden sich Fragen zu dem Sachverhalt ergeben, aber auch aufseiten der*des Klient*in werden sich Fragen auftun. Bei der Fachkraft wird im weitesten Sinne ein diagnostischer Prozess ablaufen. Dieser diagnostische Prozess kann als Anamnese bis hin zur Dia­gnose, gefolgt von der Behandlung bezeichnet werden, wenn man sich an einem medizinisch-­diagnostischen Konzept orientiert. Der Einfachheit halber möchten wir nun bei diesem diagnostischen Konstrukt von Anamnese/Dia­ gnose verbleiben, auch wenn es nur bedingt für die Soziale Arbeit anwendbar ist. Wir schieben nun diesen diagnostischen Prozess zwischen Fachkraft und Klient*in. Die Grundidee hinter diesem Setting ist, dass sich zwei Fachkräfte begegnen und an einer gemeinsamen Aufgabe arbeiten. Der*Die Klient*in als Spezialist*in für die eigene Situation und Lebenswelt. Die Fachkraft als Spezialist*in für die zu bearbeitende Aufgabe. Die Aufgabe kann hier die verschiedensten Formen annehmen. Meist sind es diagnostische Prozesse, welche in einem solchen Setting mithilfe von Tools bearbeitet werden. Wird der diagnostische Prozess gemeinsam von den beiden Akteur*innen auf diese Weise bearbeitet, sprechen wir von partizipativer sozialer Diagnostik. Die partizipative Diagnostik dient dem Erkenntnisgewinn, der entsprechend dem sozialen Konstruktivismus im sozialen Miteinander entsteht. Gerade bei jüngerem Klientel hat sich das computergestützte Arbeiten bewährt. So können dia­gnostische Instrumente wie »Easy Biograph«, das »Inklusionschart« oder die »Systemische Denkfigur« am Computer erarbeitet werden. Ein besonderes Highlight stellt hier die Erstellung der Netzwerkkarte mithilfe der Software »easyNWK« (www.easynwk.com) dar. Dieses Setting hat sich auch bei der Bearbeitung von Anträgen auf Sozialhilfe, Arbeitslosengeld II und von diversen Reha-Anträgen bewährt. In diesen Anträgen werden oft sehr persönliche Fragen gestellt, die nicht jeder gern beantworten möchte. Es hat sich hier als positiv herausgestellt, dass in diesem Setting die unangenehmen Fragen durch das Formular gestellt werden und nicht per se durch die Fachkraft. Dadurch werden Klient*in und Fachkraft zu einer Einheit, was sich förderlich auf die Arbeitsbeziehung auswirkt und somit das Beziehungskonto positiv füllt.

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Verschiebt man nun diesen diagnostischen Prozess auf die Seite der Klient*in spricht man von Black-Box-Diagnostik. Die Black-Box-Diagnostik kann, wie schon erwähnt, Teil des Gesprächsstils sein oder aber durch Einsatz von bestimmten Methoden aktiv gefördert werden. Einige Methoden wurden von uns in einem Projekt entwickelt und erprobt. Da wir in den weiteren Ausführungen immer wieder den Bezug zu diesem Projekt herstellen, stellen wir an dieser Stelle eine kurze Projektskizze voran.

Projekt: Angebot einer individuellen biopsychosozialen Beratung und Begleitung für Drehtürpatient*innen. Das Projekt hatte eine Laufzeit von 18 Monaten. Die Grundidee des Pilotprojektes war es, ein individuelles Angebot einer biopsychosozialen Beratung und Begleitung für Menschen mit chronifizierten Suchterkrankungen anzubieten. Ziel sollte eine individuelle Stabilisierung der Adressaten*innen durch Aktivierung der klient*inneneigenen Ressourcen sein sowie eine Reduzierung der Krankenhausaufenthalte zu erreichen. Interventionen sollten sozialdia­ gnostisch begründet sein und von den Adressaten*innen mitgetragen werden. Den passenden Rahmen für dieses Projekt eröffnete die Psychosoziale Beratungsstelle der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin (KHSB). Zur Strukturierung möglicher Interventionen bedienten wir uns speziell ausgewählter Verfahren der Sozialen Diagnostik, wobei zum Teil einzelne Verfahren von uns modifiziert und an die heterogene Zielgruppe angepasst wurden.

Methoden der Black-Box-Diagnostik a) Klienten*innenhandbuch/Workbook In der Durchführung hat es sich bewährt, dass die Klient*innen buchstäblich etwas »in die Hand bekommen« und »mit nach Hause« nehmen können. Beim genannten Pilotprojekt »Drehtürpatient*innen« hat sich der positive Nutzen eines Klient*innenhandbuchs deutlich gezeigt und bei der Begleitung bewährt. Das individuell erstellte Handbuch ermöglicht es den Klient*innen, Ergebnisse aus der partizipativen sozialen Diagnostik, Black-Box-Diagnostik, Materialien zur Psychoedukation, Informationen über Einrichtungen sowie Kontaktdaten oder persönliche Eindrücke in einem Hefter zu sammeln. Weiterhin bietet es die Möglichkeit, das Handbuch zu Arztterminen, Entgiftungen etc. mitzu-

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nehmen. Dies kann Klient*innen bei schwierigen Gesprächen Sicherheit geben, wenn die Anwesenheit der Berater*innen nicht gewünscht wird, oder auch als Erinnerungsstütze bei der Führung eines Konsum- oder Stimmungstagebuchs dienen. Der*Die Klient*in entscheidet unabhängig vom Berater*innenteam, ob sie*er ein solches Klient*innenhandbuch wünscht und, wenn ja, wie es inhaltlich aufgebaut sein soll. b) Spiegeln Die Klient*innen weisen oft Verhaltensweisen auf, die von anderen in ihrer (sozialen) Umwelt als eigentümlich wahrgenommen werden. Wir gehen also mit ihnen in die Umwelt, in Cafés und Ämter usw. Wir spiegeln ihnen ihr eigenes Verhalten und besprechen es mit ihnen. Es geht darum, den Klient*innen auf anschauliche Weise zu verdeutlichen, wie ihre Verhaltensweisen von der Umwelt wahrgenommen werden, aber auch, wie sie die Verhaltensweisen ihrer Umwelt wahrnehmen. Durch das Spiegeln der Verhaltensweisen können sie sozusagen am eigenen Leib erfahren, wie sie auf andere Personen oder ihre Umwelt wirken. Ein ähnliches Ergebnis kann auch erzielt werden, wenn Gespräche auf Video aufgezeichnet werden. Diese Methode kann z. B. auch im Rollenspiel eingesetzt werden. c) Rankings/Skalierungen Rankings benutzen wir sehr oft und in vielen Variationen. Ein Beispiel: Ein Klient mit etwa 100 stationären Entgiftungen gab während der Entgiftungen und auch in unseren Gesprächen immer wieder an, was er noch alles erledigen wolle. Es handelte sich um technische »Spielereien«, die der ehemalige Ingenieur noch verwirklichen wollte. Wir erörterten mit ihm zusammen die einzelnen Vorhaben und visualisierten die einzelnen Punkte in Stichwörtern auf einem Flipchart. Anschließend nahm der Klient eine Wertung von 0 (nicht wichtig) bis 10 (ex­trem wichtig) vor. Er wertete keinen einzigen Punkt höher als 4. Weder wir noch der Klient hatten mit diesem Ergebnis gerechnet, aber es war allen im Raum auf einmal klar, warum er die Vorhaben seit Jahren nicht umsetzte. In der Nachbesprechung mit dem Klienten gab dieser an, ihm sei dadurch bewusst geworden, dass er jahrelang gelernte Phrasen verwendete, welche bei Ärzt*innen, Therapeut*innen u. a. einen guten Eindruck machten, dass diese allerdings in der Realität von ihm schon lange keine Geltung bzw. Priorität mehr hätten. Er verwendete sie nur noch, weil er so bei den Professionellen positive Reaktionen erzeugte.

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Unsere Klient*innen im genannten Projekt hatten oft viele Baustellen, an denen gearbeitet werden musste. Um hier für die Klient*innen eine individuelle Reihenfolge zu erarbeiten, welche zeitpunkt- und ressourcengerecht ist, bedienten wir uns häufig der Skalierungen in ganz unterschiedlicher Art (weitere Anwendungsbeispiele Schulte-Derne in Kap. 7). d) Splittern Unter »Splittern« verstehen wir das Zerlegen von komplexen Sachverhalten in kleine überschaubare Einzelsegmente. Wir wenden es nicht nur bei Problemlagen, sondern auch bei Zielen an. Es geht darum, dass Klient*innen die einzelnen Schritte erkennen, aus denen sich ein Sachverhalt zusammensetzt, und sie erfassen, warum manche Vorhaben immer wieder scheitern oder wie komplex manche einfach erscheinenden Sachverhalte sind. Ist so ein Sachverhalt dann gemeinsam in einzelne Teilbereiche zerlegt, können Klient*innen leichter erkennen, bei welchen Schritten sie Schwierigkeiten haben, aber auch in welchen Punkten sie ihre Ressourcen und Stärken sehen. Wir erörtern gemeinsam mit den Klient*innen kleinschrittig die Sachverhalte und greifen die Themen dann erst wieder in der nächsten Sitzung auf, um ihnen Zeit zu geben, sich mit den Dingen auseinanderzusetzen. Dies ist für den dia­ gnostischen Black-Box-Prozess von Vorteil, damit die Klient*innen Zeit haben sich mit den Punkten auseinanderzusetzen. Aus diesem Grund werden die einzelnen Bereiche dann auch in das Klient*innenhandbuch/Workbook übertragen. Die Klient*innen lenken das Gespräch meist von selbst auf die heiklen Punkte, aber eben auch auf ihre Stärken. Im Anschluss daran legen wir dann eine eventuelle Reihenfolge fest, welche auch mithilfe eines Rankings vorgenommen werden kann. e)  Zirkuläre Ansätze Bei den zirkulären Fragen bedienten wir uns im Projekt anfänglich der soge­ nannten Perspektivdrehung. Hierbei fragen wir bei den Klient*innen nach, wie sie das Symptom, das sie stört, herbeiführen bzw. wie sie es verschlimmern könnten. »Die Botschaft, welche implizit gegeben werden soll, lautet: Auch selbstzerstörerische Verhaltensweisen lassen sich als Resultat von Entscheidungen verstehen.« (Simon/Rech-Simon 2009, S. 55) Hierbei fragen wir unsere Klient*innen z. B., was sie tun müssen, um in einer abstinenten Phase wieder mit dem Trinken zu beginnen. Diese Perspektivdrehung kann anfänglich auf Klienten*innen ver-

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wirrend wirken, was im Sinne von »Interesse wecken« (siehe Impact-­Techniken in Kap. 6) verwendet werden kann. Die meisten können sich nach der ersten Verwirrung schnell auf den Perspektivwechsel einlassen. Nach Aussagen der Klient*innen half ihnen diese Perspektivdrehung, die einzelnen Entscheidungen genauer zu differenzieren und so z. B. Trinkphasen wie auch andere kritische Ereignisse, wie z. B. Suizidversuche, früher zu lokalisieren und somit auch entsprechend zu reagieren. Dies führte zu einer Stärkung der Abstinenz und Reduzierung von Krisen. f)  Die Wunderfrage Die Wunderfrage ist aus der lösungsfokussierten Kurztherapie von Steve de Shazer bekannt und beruft sich auf die Kristallkugeltechnik von Milton H. Erickson. Angewandt kann sie wie folgt lauten: »Eine Fee hat Sie in der Nacht besucht und all Ihre Probleme von Ihnen genommen. Woran merken Sie das?« Die Wunderfrage löste bei unseren Klient*innen, wenn sie zu früh gestellt wurde, Widerstand aus. Durch die zahlreichen Erfahrungen unserer Klient*innen im Hilfesystem war sie, vermutlich da sie häufiger von Professionellen benutzt wurde, negativ assoziiert. Im Laufe der Beziehungsarbeit war es allerdings auch möglich, sie zu einem späteren Zeitpunkt zu stellen, wenn die Beziehung stabiler war. Sie diente dann dazu, die Ziele der Klient*innen zu spezifizieren, verborgene Ressourcen aufzudecken sowie ein positives Gefühl zu implizieren, was gerade am Ende eines Gesprächstermins von Vorteil war. Neben der Perspektivdrehung und der Wunderfrage finden auch klassische zirkuläre Fragetechniken ihre Anwendung, wie zum Beispiel: »Was glauben Sie, denkt Ihre Mutter, wenn sie Ihren Vater so sieht?« Diese Fragetechnik kann noch mit entsprechender Stuhltechnik erweitert bzw. intensiviert werden. Das entsprechende System wird mit Stühlen aufgestellt und der*die Klient*in soll sich, wie im obigen Beispiel auf den Stuhl, der die Mutter repräsentiert, setzen und aus dieser Sichtweise die Fragen beantworten. Dieses Setting verstärkt die Möglichkeit, sich in die Gefühle und Emotionen anderer Personen zu versetzen. g) Vier-Felder-Matrix Die Vier-Felder-Matrix ist eine Methode aus der Motivierenden Gesprächsführung. Sie dient dort zur neutralen Unterstützung in einem Entscheidungsprozess und wird zur Präzisierung der Vor- und Nachteile für oder gegen eine Veränderung eingesetzt.

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Black-Box-Diagnostik

Tab. 1: Vier-Felder-Matrix – Motivierende Gesprächsführung Nachteile

Vorteile

Ich verändere mein Verhalten (z. B. Sport). Ich verändere mein Verhalten nicht.

Die Vier-Felder-Matrix ist prädestiniert, ein bestimmtes Konsumverhalten auf seine Vor- und Nachteile in Bezug auf eine mögliche Veränderung hin zu untersuchen. Diese Methode kann jedoch bei fast allen Entscheidungsprozessen angewendet werden. Wir verwenden diese Methode ebenso unter dem Aspekt der Eigendiagnose. So können Klient*innen selbst untersuchen, warum manche Entscheidungen nicht umgesetzt werden oder warum sie so schwerfallen. Es muss also nicht immer ein suchtbezogenes Thema sein. In der Vorgehensweise gibt es hierbei verschiedene Ansätze. Peter PantučekEisenbacher empfiehlt, den Klient*innen das Blatt mitzugeben mit der Bitte, es in aller Ruhe zu Hause ausfüllen. In der Nachbesprechung sollen alle Aspekte gleichrangig bewertet werden, um die Entscheidung nicht zu beeinflussen. Wir besprechen und erklären die Matrix der Klient*innen und füllen das Formular gemeinsam dialogisch aus. Im Anschluss geben wir das Formular mit nach Hause. Es kann dann noch weiter bearbeitet werden, dient aber auch als Anker und zur Reflexion der einzelnen Aspekte. Die ausgefüllte Vier-Felder-Matrix wird in einem Folgetermin gemeinsam besprochen und ausgewertet.

Wenn keine Antwort kommt?! Bei allen Methoden, Techniken, Fragen etc. bestehen wir selten auf Antworten. Wir kommunizieren den Klient*innen, dass es für uns nicht wichtig ist, dass sie ihre Antworten oder Gedanken aussprechen, sondern dass es viel wichtiger ist, dass sie gewisse Dinge für sich beantworten. Diese Einstellung wird von den Klient*innen sehr begrüßt und führt dadurch nicht selten erst zu einer offenen gedanklichen Beschäftigung mit einigen Themen. Diese Offenheit versteckte sich zuvor hinter Antworten, mit denen man die Professionellen »zufriedenstellen« wollte. Dies zeigte sich auch bei der vorgestellten Methode des Rankings. Wenn Sie einen Kredit beantragen wollen, werden Sie wohl kaum in Ihrer Jogginghose in die Bank gehen. Sie werden sich

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äußerlich (Kleidung, Rhetorik etc.) anpassen, um das für Sie positivste Ergebnis zu erreichen. Diese Anpassung haben unsere Klient*innen im jahrelangen Kontakt mit dem Hilfesystem von Einrichtung zu Einrichtung, von Professionellen zu Professionellen stellenweise perfektioniert. Hier bedienen wir uns der verschiedenen beschriebenen Methoden und Techniken, um diese Anpassung wieder aufzubrechen. Jede partizipativ erstellte Diagnostik hat einen Anteil von Black-Box-Diagnostik. Hier ist es nicht immer wichtig, diesen bis auf den Grund zu analysieren, jedoch sollte man wissen, dass so ein Anteil existiert. Dieses Wissen kann in der Praxis vieles erklären und viele Brücken schlagen.

Literatur Farnbacher, G./Brückner, E./Haasen, C. (Hg.) (2008): Manual zur Psychoedukation opiatabhängiger Menschen. Freiburg i. Br., S. 20. Gergen, K. (2002): Konstruierte Wirklichkeiten. Eine Hinführung zum sozialen Konstruktivismus. Stuttgart. Lüdtke, K./Lüdtke, P. (2014): Selbstbestimmt trotz Sucht. Ein partizipatives Projekt für angeblich austherapierte Suchtkranke. Partizipation Kompakt. Weinheim. Lüdtke, K./Lüdtke, P. (2020): Black-Box-Diagnostik, Inklusionsdiagnostik, Visualisierung IC3. www.pklüdtke.de (Zugriff am 01.03.2020). Miller, W. R./Rollnick, S. (2015): Motivierende Gesprächsführung. Motivational Interviewing. Freiburg i. Br., S. 65. Pantuček-Eisenbacher, P. (2019): Soziale Diagnostik. Verfahren für die Praxis Sozialer Arbeit (4. Aufl.). Göttingen. Shazer de, S./Dolan, Y. (2018): Mehr als ein Wunder. Lösungsfokussierte Kurztherapie heute. Heidelberg. Simon, F. B./Rech-Simon, C. (2009): Zirkuläres Fragen. Systemische Therapie in Fallbeispielen. Ein Lehrbuch (8. Aufl.). Heidelberg, S. 55.

Autor*inneninformation Kitty Lüdtke, Sozialarbeiterin/-pädagogin M. A., ist Suchttherapeutin VT; Tätigkeitsfelder: Suchtberatungsstelle und Betreutes Wohnen, Lehrbeauftragte. Kontakt: [email protected], www.pklüdtke.de Peter Lüdtke, Sozialarbeiter M. A., ist Suchttherapeut VT; Tätigkeitsfelder: psychiatrische Grundversorgung, Lehrbeauftragter. Kontakt: [email protected], www.pklüdtke.de

4 Biografische Timelines als kooperatives diagnostisches Instrument Peter Pantuček-Eisenbacher

An die gegenwärtige Situation anzuknüpfen, die aktuellen Gefahren und Potenziale zu erkennen, das ist in der Regel der Ansatz der Sozialarbeit. Sie befasst sich nicht in erster Linie mit der Suche nach »Ursachen«, sondern pragmatischer mit den aktuellen Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. Diese sind jedoch unter anderem vorgeformt durch die bisherigen Erfahrungen der Klient*innen, so wie auch deren Handlungsstrategien von biografischen Erfahrungen geprägt sind. Bei aktuellen Unterstützungsbeziehungen ist die Frage, in welchem Ausmaß und in welcher Form man die Vorgeschichte als Thema in den Beratungsprozess hereinholt, ohne den Fokus auf die aktuell zu bewältigenden Probleme und Herausforderungen zu verlieren – oder auch ohne dabei psychotherapeutisch zu dilettieren und die spezifischen Stärken der Sozialarbeit zu vernachlässigen. Eine Datengrundlage für die Beschäftigung mit der institutionellen und individualbiografischen Vorgeschichte ist – je nach Einrichtung – durch Vorakte oder durch beim Intake erhobene anamnestische Daten gelegt. Offen bleibt, ob auf sie in der Beratung überhaupt oder nur episodisch eingegangen wird. Für die Zwecke der Sozialarbeit, genauer der Individualhilfe, sind Instrumente geeignet, die eine auch datenmäßig genaue Rekonstruktion der Vorgeschichte mit einer Visualisierung verbinden, die sie einer Diskussion und kooperativen Bewertung zugänglich machen. Eine erprobte Form ist der »Biografische Zeitbalken«, der hier vorgestellt werden soll.

Erzählung oder Daten? In der sozialpädagogischen Literatur wird zumeist der Zugang zur Biografie der Klient*innen über deren biografische Erzählungen bevorzugt. Das Mittel der Wahl zur Datenerhebung ist folgerichtig das narrative biografische Interview. Diese qualitative sozialwissenschaftliche Methode ist gut beschrieben, hat Tradition und ist in Forschungszusammenhängen gut eingeführt. Ihre in der

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Regel hermeneutische Interpretation erfordert beachtliches Training. Sie verspricht der Fachkraft ein vertieftes Verstehen der Lebensthemen der Klient*innen. Wenig ausgearbeitet ist dabei allerdings, welche Erkenntnisgewinne der*die Klient*in daraus ziehen kann bzw. wie die so gewonnene biografische Diagnose in den Unterstützungsprozess eingespielt werden kann. Wollte man polemisch sein, so könnte man die Kombination aus narrativem biografischem Interview und hermeneutisch orientierter Auswertung als expertokratische Praxis bezeichnen: Sie hat zum Ziel, dass der*die Expert*in den*die Klient*in besser versteht als er sich selbst. Es ist aber zu bezweifeln, dass diese Form der Annäherung an die Biografie von Klient*innen in der sozialarbeiterischen Praxis häufig eingesetzt wird. Sie ist aufwendig und für eine solide Interpretation bedarf es eines Interpretationsteams, das kaum jemals im erforderlichen Zeitausmaß zur Verfügung steht. Gebräuchlicher ist wohl, dass biografische Elemente in Form von episodischen Erzählungen der Klient*innen im Beratungsprozess zum Thema werden, sich dadurch ein lückenhaftes Bild ergibt, das stark davon abhängt, welche Aspekte ihrer Biografie den Klient*innen präsent sind und sie ohnehin gewohnt sind, als Erklärung für ihre Handlungen zu präsentieren. Im Unterschied zu bloß beratenden und/oder psychotherapeutischen Zugängen interessieren in der Sozialarbeit nicht nur die Erzählungen, sondern auch die Realdaten. Sie sind zur Einschätzung bisheriger (institutioneller) Interventionen ebenso nötig wie für die Prüfung von Anspruchsvoraussetzungen. Der Versuch der Rekonstruktion des ganzen biografischen Bogens von der Geburt bis zur aktuellen Lebenssituation inklusive einer genaueren, auch zeitlichen Verortung von Ereignissen und Etappen bringt einige Vorteile: Es werden vorerst alle Lebensetappen dargestellt, es entsteht ein breites Spektrum an Anschlussmöglichkeiten für kooperative Interpretationen mit den Klient*innen. Nicht zu unterschätzen ist, dass Klient*innen eine solche gemeinsame und genaue Rekonstruktion als Ausdruck von Respekt empfinden. Sie beteiligen sich nach einer kurzen Anlaufzeit zumeist engagiert daran und sind bemüht, Lücken zu füllen und sich gegebenenfalls auch an der Beschaffung von fehlenden Daten zu beteiligen.

Timelines Die gebräuchlichste Form der Visualisierung von historischen Abläufen sind Timelines. Ihr Prinzip ist, dass auf einer (in der Regel horizontalen, von links nach rechts verlaufenden) Zeitachse Ereignisse angeordnet und eingezeichnet wer-

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den. Dadurch werden Abfolgen anschaulich gemacht; bei einer gleichmäßigen Skalierung (Jahresabstände werden immer mit gleicher Länge abgebildet) wird für die Betrachter*innen auch die Dauer von Perioden gut einschätzbar und die Dynamik von Umbruchzeiten durch dichtgesetzte Ereignismarker sichtbar. Die Gebräuchlichkeit dieser Darstellungsform hat die wünschenswerte Folge, dass sie für nahezu alle Klient*innen intuitiv erfassbar ist. Ihr Prinzip bedarf keiner Erklärung, man kann unmittelbar in und mit dem Bild arbeiten. Die Darstellungsform wirkt damit »natürlich«, bedarf keiner besonderen Rechtfertigung und keiner theoretischen Erläuterungen. Der Nachteil einfacher Timelines, für die auch zahlreiche Tools zum Download angeboten werden, ist ihre Eindimensionalität. Ein mehrdimensionales und komplexes Geschehen, wie es eine menschliche Biografie ist, kann durch sie nicht adäquat erfasst und dargestellt werden. Ein Verzicht auf Timelines bei der sozialarbeiterischen Bearbeitung von Vorgeschichten und Biografien würde jedoch einen Verlust an Anschaulichkeit bedeuten. Listen und verstreute biografische Daten in Akten sind nur schwer und mit beträchtlichem Such- und Interpretationsaufwand zu verarbeiten und insbesondere erschweren sie die Einbeziehung der Klient*innen und institutionellen Fallbeteiligten bei der Interpretation. Vor allem bei Klient*innen, die bereits eine umfangreiche Behandlungsgeschichte hinter sich haben, überblicken die beteiligten Fachkräfte kaum mehr die Vorgeschichte und können daraus deshalb auch keine begründeten Schlussfolgerungen ziehen.

Der Biografische Zeitbalken Der Biografische Zeitbalken (Pantuček-Eisenbacher 2019, S. 231 ff.) verwendet die Timeline-Form der Visualisierung, erweitert sie jedoch durch sechs parallel angeordnete und vordefinierte Dimensionen, wobei zwei weitere Dimensionen hinzugefügt werden können. So erhält man 6 bis 8 parallele Timelines, jede einem bestimmten Aspekt der Biografie gewidmet: Ȥ Dimension Familie Hier werden alle Ereignisse eingetragen, die das familiäre Setting verändern: Geburt und Tod wichtiger Bezugspersonen, Partnerschaften, Heirat und Trennung der Eltern etc. Ȥ Dimension Wohnen Hier werden Änderungen im Wohnsetting erfasst. Das Setting ändert sich nicht nur durch Umzug, sondern auch dadurch, dass Personen den Haushalt verlassen (z. B. Auszug von Geschwistern oder eines Elternteils) oder

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neu dazukommen (z. B. Geburt von Geschwistern). Einzutragen sind also nicht nur der Wohnort, sondern auch die weiteren Personen im Haushalt. Dimension Bildung Hier werden vom Kindergarten über die Schulausbildung bis zu Studium oder Berufsausbildungen alle Bildungsaktivitäten erfasst. Dimension Arbeit Die Arbeitskarriere umfasst alle bezahlten Tätigkeiten und Arbeitsplatzwechsel, auch jene innerhalb der Firma. Dimension Gesundheit Hier werden (auch vorübergehende) Krankheiten bzw. Beeinträchtigungen der physischen und psychischen Funktionsfähigkeit dargestellt. Dimension Behandlung/Hilfe Die Dimension dient der Darstellung nennenswerter medizinischer, sozialarbeiterischer, psychotherapeutischer und ähnlicher Hilfen. Längere stationäre Aufenthalte erscheinen auch in der Dimension »Wohnen«. Dimension »Sonstiges« und unbenannte Zeile Neben den sechs obligatorischen Zeilen können dem Kontext entsprechend noch ein bis zwei weitere Zeilen hinzugefügt werden. Die Zeile »Sonstiges« dient vorerst dazu, biografisch wichtige Ereignisse, zum Beispiel dramatische gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen (z. B. Kriege, Umbrüche), aufzunehmen, die nicht in die obligatorischen Zeilen passen.

Abb. 1: Formular des Biografischen Zeitbalkens (Ausschnitt)

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Die Paralleldarstellung ermöglicht eine Übersicht über komplexe Vorgänge, lässt zeitliche Koinzidenzen erkennen und produziert ein diskutier- und interpretierbares Bild. Wie auch andere grafische Darstellungen, an deren Produktion man selbst arbeiten kann, regen sie zur Vervollständigung des Bildes an und erzeugen eine intrinsische Motivation der Interviewpartner*innen1 im Laufe des Interviews – Voraussetzung dafür ist, dass die Grafik einsehbar vorliegt und während des Interviews mit Daten gefüllt wird. Die Besonderheiten der Erfassung und Thematisierung der Biografie anhand des Biografischen Zeitbalkens sind: Ȥ Die Biografie wird als mehrdimensionales Geschehen aufgefasst und auch so abgebildet. Ȥ Die Darstellung auf der Timeline erfordert die Erschließung von biografischen Fakten und Daten, die nicht alle in der Erinnerung der Interviewten präsent sind. Damit verbindet das Verfahren Elemente einer aktengestützten Anamnese mit den Narrationen der Person. Die Daten kommentieren die Narration, die Narration kommentiert die Daten. Ȥ Den Narrationen wird mit der Timeline eine grafische Darstellung hinzugefügt, die neue Blicke auf die Biografie ermöglicht. Für das Formular kann entweder eine Vorlage im Word-Format, eine eigene Vorlagenzeichnung erstellt oder am einfachsten die Software »easybiograph« (www.easybiograph.com) verwendet werden.

Interviewvorbereitung Der erwartbare Zeitbedarf für ein Interview anhand des Biografischen Zeitbalkens variiert je nach Alter der Person. Für ein erstes Interview sollte bei Erwachsenen mittleren Alters mindestens eine Stunde eingeplant werden. Möglicherweise ist auch ein zweiter Termin erforderlich – vor allem dann, wenn die interviewten Personen selbst noch Recherchen machen bzw. Dokumente beschaffen wollen. Für die Dauer des Gesprächs ist außerdem maßgeblich, inwieweit man begleitenden Erzählungen Raum gibt oder stringenter die Fertigstellung der Grafik fokussiert. Je mehr man Erzählungen ermutigt, umso schwieriger und langwieriger werden die Vervollständigung der Grafik 1

Ich verwende hier den Terminus »Interviewpartner*in«, da die Erstellung eines biografischen Biografischen Zeitbalkens nicht nur für Klient*innen, sondern auch für andere Personen interessant ist.

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und die Gewinnung eines Gesamtüberblicks. Es ist daher zu empfehlen, im Interview den Fokus zu bewahren. Die einmal fertiggestellte Grafik ist dann eine ausgezeichnete Grundlage, um Aspekte der Biografie oder biografische Episoden zu besprechen – in diesem Rahmen haben dann noch viele Erzählungen Platz. Entscheidet man sich dafür, mit einer Person ein Interview anhand des Biografischen Zeitbalkens zu führen, sollte das in jedem Fall vorher angekündigt und ihr Einverständnis eingeholt werden. Für die Vorbereitung des Interviews gibt es zumindest zwei Möglichkeiten: Das Interview beginnt mit einem leeren Blatt. Das Thema des Interviews wird dem*der Interviewpartner*in angekündigt, und es wird ein Termin vereinbart. Dafür ist mindestens eine Stunde zu reservieren und die Möglichkeit eines zweiten Termins anzukündigen. Es wird gebeten, ggf. Unterlagen mitzubringen, die die Rekonstruktion der Biografie erleichtern können, z. B. Dokumentenmappen, Fotoalben etc. Der*Die Interviewer*in sollte ebenfalls alle Unterlagen bereitstellen, in denen Daten für die Biografie nachgeschlagen werden können. Das Interview beginnt dann in der Regel mit den ersten Lebensjahren: Wann und wo geboren? Mit wem in dieser Zeit zusammengewohnt? usw. Vor dem Interview werden von der Fachkraft bereits die aus den Akten ersichtlichen Daten eingetragen. Peter und Kitty Lüdtke haben diese Variante bei einem Projekt in Berlin erfolgreich erprobt (vgl. Kap. 3): Vor dem Gespräch erstellten sie auf Basis eines ausführlichen und genauen Studiums der Akten einen vorläufigen Zeitbalken. Dieser wird dann den Interviewpartner*innen vorgelegt. Die Interviewpartner*innen ergänzen, kommentieren und korrigieren die Eintragungen. Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass die Sozialarbeiter*innen sich im Vorfeld bereits mit der Vorgeschichte (ihren Lücken, ihrem organisationsbedingten Bias) beschäftigen und gegenüber den Klient*innen das Bild offenlegen, das die Organisationen von ihnen produziert haben. Diese Inszenierung entspricht den Kriterien eines offenen und respektvollen Vorgehens, da die Sozialarbeiter*innen nicht so tun, als hätten sie (und die Organisation) kein Vorwissen. Ein weiterer Vorzug ist die Abkürzung des Verfahrens im Klient*innenkontakt und die Möglichkeit, schneller auf Wesentliches einzugehen. Diese Vorgehensweise ist vor allem dann anzuraten, wenn eine umfangreich dokumentierte Vorgeschichte vorliegt, so zum Beispiel bei sogenannten Drehtürpatient*innen, die eine lange Behandlungsgeschichte aufweisen. In sol-

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chen Fällen haben oft auch die beteiligten Profis und Organisationen längst den Überblick verloren, welche Interventionen bereits mehr oder weniger erfolgreich versucht wurden. Mit deren Sammlung und Darstellung auf der Timeline leistet man einen Beitrag zu informierten weiteren Entscheidungen.

Das Interview Das eigentliche Interview ist an der Timeline orientiert, die stets im Blick der Interviewten sein sollte. Die Skala beginnt mit Null beziehungsweise mit dem Geburtsjahr und ist sowohl mit den Jahreszahlen als auch mit dem jeweiligen Alter beschriftet. Neue Daten werden sofort eingetragen – die Frage, wann genau etwas Erzähltes sich ereignet hat, ist daher obligatorisch. Jedes Ereignis wird sofort in einen zeitlichen Zusammenhang gestellt. Ereignisse werden mit einer senkrechten Linie markiert, Zeiträume mit einem Balken. Das Ziel des Interviews ist die Erstellung eines möglichst vollständigen biografischen Zeitbalkens. Während des Interviews werden von den Interviewten in der Regel Erzählungen mitgeliefert. Diese Narrative sind interessant und werfen Themen auf, die allerdings nicht im Rahmen des biografischen Interviews ausführlich behandelt werden sollten. Es empfiehlt sich, dafür Interesse zu zeigen, dann aber bald wieder auf das Instrument zu fokussieren. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Faktenfokussierung unterlaufen wird und ein Abschluss der Zeitbalkenerstellung in weite Ferne rückt. Soweit nur irgend möglich sollte die Terminierung der biografischen Ereignisse präzise erfolgen. In der Regel reicht dafür die Erinnerung der interviewten Personen nicht aus, sondern es müssen Recherchen erfolgen bzw. Dokumente herangezogen werden. Die Genauigkeit der Darstellung hat Vorrang vor einem raschen Abschluss des Verfahrens. Gegebenenfalls ist daher ein zweiter Interviewtermin anzusetzen. Zwischen dem ersten und dem zweiten Termin können die Erzähler*innen recherchieren und Dokumente zurate ziehen. Manchmal ergeben sich so wesentliche Ergänzungen und Korrekturen zur erinnerten Geschichte. Wie auch in anderen Gesprächssituationen wird das Interesse am realen Ablauf von den Interviewten kaum als mangelnder Respekt empfunden, sondern vielmehr als Ausdruck von Anerkennung und ehrlichem Interesse. In den Kommentaren sollte die gesprächsführende Person dosiert Anteilnahme ausdrücken (»Das muss eine sehr schwierige Zeit für Sie gewesen sein.«), dann aber immer wieder loben bzw. Anerkennung aussprechen (»Trotz der Trennung der Eltern ist es Ihnen gelungen, die Schule ohne Verzögerung abzu-

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schließen! Wie haben Sie das geschafft?« – »In dieser Lebensphase hatten Sie ja viele Schicksalsschläge auszuhalten! Wie ist Ihnen das gelungen?«). Das Interview mit dem Biografischen Zeitbalken gibt viele Möglichkeiten, Lob und Anerkennung auszusprechen. Schließlich sitzt die Person, die all diese schwierigen Lebensphasen durchgestanden hat, neben uns. Es ist ihr gelungen, diese auszuhalten, in irgendeiner Form zu bewältigen – eine Leistung, die gewürdigt werden kann und gewürdigt werden sollte. Während des Interviews ist nicht der richtige Zeitpunkt, um auf die be­­glei­ tenden Erzählungen und Bewertungen genauer einzugehen. Man registriert sie, gibt zu erkennen, dass man sie wahrgenommen hat und respektiert, verzichtet aber auf eine sofortige ausführlichere Besprechung. Wie auch bei anderen sozialdiagnostischen Verfahren, die vor allem das Schaffen eines Überblicks zum Ziel haben, ist eine der Stärken des biografischen Interviews anhand des Zeitbalkens, dass in verhältnismäßig kurzer Zeit zahlreiche Themen kurz zur Sprache kommen können. Damit wird ein Themenspeicher geschaffen, auf den bei der Nachbesprechung oder zu späteren Zeitpunkten des Unterstützungsprozesses umstandslos zurückgekommen werden kann.

Die Interpretation Ist die Grafik vollständig erstellt, sollte sie ausgedruckt bzw. kopiert und ein Exemplar dem*der Interviewten überreicht werden. In einem weiteren Schritt kann ein Blatt Papier unter die Grafik gelegt werden, verbunden mit der Aufforderung, nun eine »Bilanzkurve« zu zeichnen: Was waren die guten, was die schwierigen Zeiten des Lebens? Damit wird eine zusätzliche bewertende Ebene eingezogen, die ein sehr guter Ausgangspunkt für die Nachbesprechung ist. Wie bei allen »bildgebenden Verfahren« der Diagnostik lohnt sich die Mühe der Grafikerstellung nur dann, wenn man sich in der Interpretation auf die Grafik einlässt, auf ihre Darstellungslogik, ihre Anordnung der Fakten, ihre Möglichkeiten des Sichtbarmachens von Zusammenhängen bei gleichzeitigem Ausblenden anderer möglicher Zusammenhänge. Die erste Interpretation sollte von dem*der Klient*in kommen; sie kann durch offene Fragen stimuliert werden: Was waren entscheidende Phasen? Welche waren schwierig? Welche erfolgreich? An welche früheren Phasen erinnert die jetzige Situation? Was könnte jetzt anstehen? etc. In einem zweiten Schritt können Beobachtungen der Fachkraft geäußert werden, wobei die grundsätzlich positive und lobende Haltung beibehalten werden sollte.

Biografische Timelines als kooperatives diagnostisches Instrument

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Können aus der Biografie Lehren gezogen werden? Die Klient*innen werden das für sich selbst entscheiden und möglicherweise bereits bei der ersten Interpretation Schlussfolgerungen nennen, die sie aus der Betrachtung ziehen. Für sie ist es zumeist die erste gründliche und vor allem systematische Beschäftigung mit ihrem Lebenslauf und kann bisherige Bewertungen wesentlich ändern. Für die Fachkräfte ist vor allem die Behandlungs- und Interventionsgeschichte und deren Zusammenspiel mit den anderen biografischen Dimen­ sionen interessant. Die kooperative Analyse der Biografie hilft jedenfalls dabei, im Unterstützungsprozess realistischere Ziele anzupeilen und diese mit den lebensgeschichtlich logischen und möglichen Zielen der Klient*innen zu akkordieren. Eine erwünschte Nebenwirkung biografischer Interviews anhand des Zeitbalkens ist die Intensivierung und Vertiefung der Sozialarbeiter*in-Klient*inBeziehung. Die ausführliche und genaue Beschäftigung mit der Biografie ist eine Respekterweisung – und sie bringt in relativ kurzer Zeit zahlreiche Themen neu in den Beratungsprozess ein, auf die in der Folge gegebenenfalls zurückgekommen werden kann.

Zusammenfassung Erstellung und Interpretation des Biografischen Zeitbalkens müssen gelernt und geübt werden, dann kann er zu einem Instrument werden, das wertvolle Hinweise für die Interventionsplanung gibt und dem weiteren Beratungsprozess inhaltliche Tiefe verleiht. Dies gilt vor allem in Kombination mit der Netzwerkkarte (Pantuček-Eisenbacher 2019). In der Arbeit mit beiden Instrumenten zeigte sich, dass in manchen Fällen der Zeitbalken, in anderen die Netzwerkkarte entscheidende Hinweise für die Interventionsplanung bzw. das Verständnis für die Situation der Klient*innen gab und dass vor Anwendung der Instrumente nicht vorauszusagen war, welches produktiver sein würde. Dies ist auch ein Beleg dafür, dass beide Instrumente nicht nur bereits Bekanntes neu oder anders darstellen, sondern wirklich zu neuen Erkenntnissen über den Fall führen können. Da der Zeitaufwand für die Erstellung des Biografischen Zeitbalkens die üblicherweise für Beratungssitzungen mit den Klient*innen verfügbare Zeit überschreitet, muss der Einsatz geplant sein und es benötigt dafür eine Indikation. Er wird dort angezeigt sein, wo Beratungsprozesse nicht nur episodisch sind, sondern von längerer Dauer oder zur Vorbereitung von Richtungsentscheidungen mit höherer Intensität geführt werden (sollen).

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Peter Pantuček-Eisenbacher

Literatur Pantuček-Eisenbacher, P. (2019): Soziale Diagnostik. Verfahren für die Praxis Sozialer Arbeit (4. Aufl.). Göttingen.

Autoreninformation Peter Pantuček-Eisenbacher, Prof. Dr., Sozialarbeiter, Soziologe und Supervisor, ist Rektor und Geschäftsführer der Bertha von Suttner Privatuniversität St. Pölten (A). Publikationen zu Sozialer Diagnostik, Theorie und Methodik der Sozialen Arbeit. Kontakt: [email protected]

5 Das Modulare ICF-basierte Core Set Sucht (MCSS) Angela Buchholz

Betroffene von substanzbezogenen Störungen erleben oft erhebliche Einschrän­ kungen in verschiedenen Lebensbereichen (Levola et al. 2014). Eine biopsychosoziale Perspektive ist daher in der Beratung, Begleitung und Versorgung von Menschen mit substanzbezogenen Problemen zentral und gerade in der Sozialen Arbeit in Deutschland schon lange etabliert. Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) (DIMDI/WHO 2005) bietet daher eine gute Grundlage für eine teilhabe- und ressourcenorientierte Versorgungsgestaltung. Dass MCSS hilft dabei, Informationen auch über die soziale Situation von Adressat*innen zu erhalten, und versucht gleichzeitig, Komplexität zu verringern. Mit Blick auf die Soziale Diagnostik unterstützt es die Einschätzung der Notwendigkeit, der Dringlichkeit und der Intensität sozialarbeiterischer Interventionen. Zur Vereinfachung einer praktischen Anwendung der ICF in der Suchthilfe wurde in den letzten Jahren das Modulare ICF-basierte Core Set Sucht (MCSS) entwickelt. In diesem Kapitel werden nach einer kurzen Einführung die Entwicklung und die Anwendung des MCSS dargestellt.

Das biopsychosoziale Modell und die ICF Das biopsychosoziale Modell der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bildet die konzeptionelle Grundlage für das Klassifikationssystem ICF. Hierbei wird Funktionsfähigkeit oder funktionale Gesundheit definiert als eine Wechselwirkung zwischen einem Gesundheitsproblem und sogenannten Kontextfaktoren. Beschrieben wird Funktionsfähigkeit mithilfe der Komponenten Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten und Teilhabe. Während das Gesundheitsproblem selbst nicht in der ICF, sondern in der ergänzend einzusetzenden Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) (WHO 2016) genauer definiert werden kann, umfassen die Kontextfaktoren sowohl Umwelt- als auch personenbezogene Faktoren. Insgesamt enthält die ICF über

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1.400 einzelne Kategorien zur Beschreibung von Umweltfaktoren und Funktionsfähigkeiten. Zur Einschätzung des Ausmaßes möglicher Einschränkungen oder Ressourcen stellt die ICF sogenannte Beurteilungsmerkmale zur Verfügung. Personenbezogene Faktoren sind zwar ein bedeutsamer Teil des biopsychosozialen Modells, jedoch sind sie in der aktuellen Fassung der ICF nicht enthalten (DIMDI/WHO 2005).

Warum ein ICF-basiertes Core Set? Die ICF möchte dem Anspruch der Universalität gerecht werden, sodass funktionale Gesundheit unabhängig von der zugrunde liegenden Erkrankung und den Gegebenheiten im Umfeld weltweit vollständig beschrieben werden kann. Zwangsläufig geht damit einher, dass die ICF sehr umfangreich ist und Kategorien enthält, die entweder im jeweiligen Kulturkreis oder aber für ein bestimmtes Erkrankungsbild nicht relevant sind. Häufig benannte Barrieren und Grenzen der ICF betreffen demzufolge vor allem Umfang und Komplexität sowie die Unschärfe der enthaltenen Definitionen und Beschreibungen. Den einzelnen Anwender*innen bleiben viele Entscheidungen überlassen, z. B. die Auswahl und konkrete Beurteilung beeinträchtigter Bereiche. Eine Umsetzung der ICF erfordert zunächst einen höheren Zeit- und Schulungsaufwand für Einrichtungen der Suchthilfe (Spies/Brütt/Freitag/Buchholz 2015). Betrachtet man die wissenschaftliche Literatur seit Veröffentlichung der ICF, bilden theoretische und konzeptionelle Arbeiten einen Schwerpunkt, aber auch Anwendungsbeispiele oder -hilfen wurden publiziert (Cerniauskaite et al. 2011). In Deutschland sind verschiedene Arbeitshilfen für die Praxis entstanden, die die wesentlichen Konstrukte und Begrifflichkeiten anhand von Praxisbeispielen erläutern und zum Teil auch Fallbeispiele zur Behandlung substanzbezogener Störungen enthalten (Aubke et al. 2008, 2010). Durch die Erstellung neuer Leitfäden durch die Deutsche Rentenversicherung z. B. für den Reha-Entlassbericht (Deutsche Rentenversicherung Bund 2015) sowie nicht zuletzt durch die Verabschiedung des Bundesteilhabegesetztes (BMAS 2018) ist davon auszugehen, dass die Umsetzung der ICF mittlerweile weiter vorangeschritten ist und zukünftig noch weiter an Bedeutung gewinnen wird. Die Weltgesundheitsorganisation hat zur Unterstützung der Umsetzung einer ICF-orientierten Versorgungsgestaltung drei verschiedene Optionen vorgeschlagen. Basierend auf dem Kategoriensystem der ICF sollen neue Instrumente für die Praxis entwickelt werden, die eine Erfassung von Teilhabeeinschränkungen und relevanten Kontextfaktoren auf Grundlage des bio-

Das Modulare ICF-basierte Core Set Sucht (MCSS)

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psychosozialen Modells erlauben. Da in vielen Bereichen bereits reliable und valide Messverfahren vorliegen, wird als zweite Option empfohlen, bereits existierende und gut etablierte Verfahren mit den Inhalten der ICF in Verbindung zu bringen (sog. Linking, z. B. Cieza/Fayed/Bickenbach/Prodinger 2016). Eine dritte Möglichkeit bietet die Entwicklung sogenannter ICF Core Sets. Diese beinhalten eine Auswahl an ICF-Kategorien, die bezogen auf eine bestimmte Erkrankung und/oder in einem bestimmten Versorgungsbereich besonders relevant sind (Bickenbach 2012).

Entwicklung des MCSS Da für substanzbezogene Störungen kein ICF Core Set zur Verfügung stand, wurde bereits vor einigen Jahren durch den »Fachverband Sucht« (FVS) und den »Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe« (buss) eine ICF-Arbeitsgemeinschaft gegründet und mit der Entwicklung eines deutschsprachigen ICF Core Sets »Sucht« beauftragt (Amann/Stracke/Veltrup/Küfner/Roeb-Rienas 2011). Im Rahmen zweier vom »Verein zur Förderung der Rehabilitationsforschung in Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein« (vffr) und der »Deutschen Rentenversicherung Nord« geförderten Forschungsprojekte wurden die Vorarbeiten der Arbeitsgemeinschaft in den letzten Jahren weitergeführt und finalisiert. Ziel beider Projekte war es, ein ICF-basiertes Core Set zu erstellen, welches so kurz wie möglich und so umfangreich wie nötig ist und die Versorgungsstruktur der deutschen Suchthilfe berücksichtigen sollte. Die Hypothese war dabei, dass aufgrund unterschiedlicher Zielsetzungen und Behandlungsdauern nicht in jedem Versorgungsbereich der Suchthilfe dieselben Inhalte und dieselbe Anzahl an Kategorien relevant seien und eine modulare Struktur eine praxisorientierte Anwendung erlaube. Bei der Entwicklung des MCSS wurden zum einen, soweit möglich, internationale Standards eingehalten (Selb et al. 2015), zum anderen sollte auf eine größtmögliche Passung zum deutschen Suchthilfesystem geachtet werden. Zunächst wurden mithilfe einer Literaturrecherche alle relevanten Vorarbeiten (bestehende Core Sets oder Messinstrumente, die sich auf substanzbezogene Störungen beziehen) identifiziert und die enthaltenen ICF-Kategorien zusammengefasst (Spies/Maschler/Buchholz 2016). Um die Betroffenenperspektive zu berücksichtigen, wurden in drei Fokusgruppen Betroffene gefragt, welche Einschränkungen im Lebensalltag, Barrieren und Förderfaktoren sie besonders bedeutsam finden. Die Inhalte der Fokusgruppen wurden anschließend Kategorien der ICF zugeordnet (Borchfeld et al. 2017). Die so entstandene Liste von 344 ICF-Kategorien wurde wiederum Expert*innen sowie auch Betroffenen vor-

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Angela Buchholz

gelegt, um die bedeutsamsten Kategorien auszuwählen. In Expert*innenworkshops wurden anhand der Vorergebnisse anschließend für die Versorgungsbereiche Beratung, qualifizierter Entzug, Eingliederungshilfe I, Medizinische Reha (Entwöhnung und Adaption) sowie Eingliederungshilfe II (soziale Reha) separat Kategorien nach ihrer Wichtigkeit für die Behandlungsplanung im jeweiligen Versorgungsbereich beurteilt. Als Expert*innen wurden v. a. Personen mit berufspraktischer Erfahrung in den jeweiligen Versorgungsbereichen eingeladen. Abschließend wurde im Rahmen einer Konsensuskonferenz mit Mitgliedern des FVS, des buss, einem Teil der zuvor beteiligten Expert*innen, Wissenschaftler*innen sowie Kostenträgern eine vorläufige Version des MCSS verabschiedet. Die zuvor angedachte modulare Struktur wurde im Rahmen dieser Vorarbeiten bestätigt. So entstanden ein Basismodul und fünf bereichsspezifische Module. Das Basismodul enthält dabei Kategorien, die in jedem der fünf Versorgungsbereiche relevant sind, während die bereichsspezifischen Module zusätzliche Kategorien enthalten, die spezifisch für den jeweiligen Versorgungsbereich sind. Im Anschlussprojekt wurde die Auswahl der Kategorien bundesweit empirisch überprüft. Zudem wurde untersucht, ob das MCSS unabhängig von Geschlecht und komorbiden psychischen Erkrankungen für alle Betroffenen anwendbar ist. Zur Gewährleistung eines sinnvollen Einsatzes im Versorgungsalltag wurde zudem die Übereinstimmung des MCSS mit Behandlungszielen überprüft. Bundesweit nahmen 59 Behandler*innen und 280 Betroffene aus 13 Einrichtungen an dem Projekt teil. Zusätzlich wurde ein wissenschaftlicher Beirat eingerichtet, der das Projekt begleitete. Für jeden eingeschlossenen Betroffenen füllten Behandler*innen das MCSS sowie einen Bogen mit Behandlungszielen aus und gaben für jede enthaltene Kategorie an, ob sie aus ihrer Sicht relevant für die Behandlungsplanung ist. Betroffene füllten lediglich einen Bogen mit Behandlungszielen aus. Insgesamt konnte die Zusammenstellung des MCSS in dieser Folgestudie weitestgehend bestätigt werden. Fast alle Kategorien erhielten eine ausreichende Zustimmung. Es wurden explizit keine fehlenden Kategorien benannt, die aufgenommen werden sollten. Zwar gab es zum Teil Unterschiede in der Beurteilung des Ausmaßes vorhandener Teilhabeeinschränkungen zwischen Männern und Frauen und auch zwischen Personen mit und ohne komorbide psychische Erkrankungen, aber es gab keine Unterschiede in der Bewertung der Relevanz einzelner Kategorien. Insgesamt korrespondierten die Kategorien des MCSS gut mit den von Behandler*innen und Betroffenen benannten Behandlungszielen. In einer Projektabschlussveranstaltung mit dem wissenschaftlichen Beirat wurden die Projektergebnisse ausführlich diskutiert und auf dieser Basis noch einige Änderungen in der Zusammenstellung der Kategorien der einzel-

Das Modulare ICF-basierte Core Set Sucht (MCSS)

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nen Module beschlossen, sodass das finalisierte MCSS eine leicht veränderte Auswahl an ICF-Kategorien enthält.

Die Module des MCSS und ihre Anwendung Allgemeine Hinweise zur Anwendung des MCSS Die verschiedenen Module des MCSS bestehen jeweils aus einer Liste von ICFKategorien aus den Komponenten Körperfunktionen, Aktivitäten und Partizipation und Umweltfaktoren. Zu jedem Modul gibt es einen Erhebungs- und einen Auswertungsbogen. Da personenbezogene Faktoren auch in der ICF nicht enthalten sind, konnten sie im Entwicklungsprozess des MCSS zunächst nicht berücksichtigt werden. Es gibt jedoch die Möglichkeit, auf dem Erhebungs- und Auswertungsbogen relevante personenbezogene Faktoren per Hand zu dokumentieren. Das Ausmaß einer vorliegenden Einschränkung, einer Barriere oder eines Förderfaktors kann mithilfe einer Prozentskala von 0–100 beurteilt werden. Für jede Kategorie gibt es die Möglichkeit einer genaueren Beschreibung. Es müssen nicht alle Kategorien bearbeitet werden. Wenn Lebensbereiche nicht relevant sind, kann dies auf dem Bogen kenntlich gemacht werden. In Abbildung 1 ist beispielhaft eine Kategorie dargestellt.

Abb. 1: Beispielhafte Darstellung einer Kategorie aus dem MCSS-Basismodul

Das MCSS eignet sich vor allem als Grundlage für eine teilhabeorientierte Behandlungsplanung, für das Verfassen von Therapieanträgen, Verlaufs- oder Entlassberichten und soll die Kommunikation vor allem teilhabeorientierter Behandlungsziele bzw. -erfolge innerhalb und zwischen Versorgungsbereichen erleichtern. Es kann daher zu unterschiedlichen Zeitpunkten während einer Behandlung sinnvoll sein, das MCSS einzusetzen. Von den Autor*innen ist nicht

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Angela Buchholz

vorgeschrieben, wie das MCSS zu bearbeiten ist. Grundlage für die Beurteilung können unterschiedliche Quellen sein – z. B. ein ausführliches Gespräch mit dem*der Betroffenen, ein etabliertes Testverfahren oder andere diagnostische Hilfsmittel. Das MCSS ist frei verfügbar und kann von mir als PDF-Datei angefordert werden. In den folgenden Abschnitten werden die einzelnen MCSSModule genauer beschrieben. Das Basismodul Das Basismodul des MCSS enthält 25 Kategorien und ist in allen bereichsspezifischen Modulen enthalten. Zudem kann das Basismodul als Kurzversion des MCSS separat verwendet werden. In Tabelle 1 sind die Kategorien des Basismoduls dargestellt. Tab. 1: Kategorien des Basismoduls Körperfunktionen – b1266 Selbstvertrauen – b130 Funktionen der psychischen Energie und des Antriebs (inkl. Drang nach Suchtmitteln) – b152 Emotionale Funktionen – b1644 Das Einsichtsvermögen betreffende Funktionen Aktivitäten und Teilhabe – d175 Probleme lösen – d177 Entscheidungen treffen – d230 Die tägliche Routine durchführen – d310 Kommunizieren – d570 Auf seine Gesundheit achten – d610 Wohnraum beschaffen – d640 Hausarbeiten erledigen – d710 Elementare interpersonelle Aktivitäten (inkl. Kritik in Beziehungen) – d720 Komplexe interpersonelle Aktivitäten – d740 Formelle Beziehungen (inkl. Mit Autoritätspersonen umgehen) – d750 Informelle soziale Beziehungen – d760 Familienbeziehungen – d770 Intime Beziehungen – d845 Eine Arbeit erhalten, behalten und beenden – d850 Bezahlte Tätigkeit – d870 Wirtschaftliche Eigenständigkeit – d910 Gemeinschaftsleben – d920 Erholung und Freizeit Umweltfaktoren – e3 Unterstützung und Beziehungen – e4 Einstellungen – e5800 Dienste des Gesundheitswesens

Das Modulare ICF-basierte Core Set Sucht (MCSS)

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Beratung Zusätzlich zum Basismodul enthält das Beratungsmodul 8 weitere Kategorien (Tab. 2), also insgesamt 33. Empfohlen wird eine Anwendung zwischen dem 2. und 5. Beratungsgespräch, z. B. zur Vorbereitung eines Sozialberichts im Rahmen eines Antrags auf eine Rehabilitationsbehandlung. Tab. 2: Zusätzliche Kategorien des Beratungsmoduls Körperfunktionen – b110 Funktionen des Bewusstseins (inkl. Delir, Bewusstseinsverlust) – b1263 Psychische Stabilität – b1303 Drang nach Suchtmitteln – b156 Funktionen der Wahrnehmung (inkl. Halluzinationen) – b160 Funktionen des Denkens (inkl. Wahn) Aktivitäten und Teilhabe – d240 Mit Stress und anderen psychischen Anforderungen umgehen Umweltfaktoren – e310 Engster Familienkreis – e420 Individuelle Einstellungen von Freunden

Qualifizierter Entzug Mit 6 zusätzlichen Kategorien enthält das Modul für den qualifizierten Entzug insgesamt 31 Kategorien. Der Einsatz des Moduls wird möglichst früh im Behandlungsverlauf, jedoch nach Abklingen körperlicher Entzugsbeschwerden empfohlen, um eine Weiterbehandlung nach dem qualifizierten Entzug zu planen. In Tabelle 3 sind die zusätzlichen Kategorien dieses Moduls dargestellt. Tab. 3: Zusätzliche Kategorien des Moduls Qualifizierter Entzug Aktivitäten und Teilhabe – d155 Sich Fertigkeiten aneignen – d4751 Ein motorisiertes Fahrzeug fahren Umweltfaktoren – e525 Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Wohnungswesens – e5550 Dienste von Vereinigungen und Organisationen – e575 Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der allgemeinen sozialen Unterstützung – e590 Dienste des Arbeits- und Beschäftigungswesens

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Eingliederungshilfe I Das Modul zur Eingliederungshilfe I kann innerhalb der ersten drei Behandlungswochen bearbeitet werden und enthält 7 zusätzliche, also insgesamt 31 Kategorien (Tab. 4). Tab. 4: Zusätzliche Kategorien des Moduls Eingliederungshilfe I Körperfunktionen – b1303 Drang nach Suchtmitteln – b1304 Impulskontrolle – b134 Funktionen des Schlafes – b144 Funktionen des Gedächtnisses Aktivitäten und Teilhabe – d520 Seine Körperteile pflegen – d855 Unbezahlte Tätigkeit – d870 Wirtschaftliche Eigenständigkeit

Medizinische Rehabilitation Das Modul zur Medizinische Rehabilitation ist mit 32 zusätzlichen und mit insgesamt 57 Kategorien das umfangreichste. Empfohlen wird die Anwendung zur Zieldefinition und zur Behandlungsplanung innerhalb der ersten drei Wochen sowie ggf. zusätzliche Messungen zur Erfolgskontrolle während der Behandlung und abschließend zur Evaluation. Tab. 5: Zusätzliche Kategorien des Moduls Medizinische Rehabilitation Aktivitäten und Teilhabe – d155 Sich Fertigkeiten aneignen – d160 Aufmerksamkeit fokussieren – d166 Lesen – d2400 Mit Verantwortung umgehen – d2401 Mit Stress umgehen – d350 Konversation – d360 Kommunikationsgeräte und -techniken benutzen – d450 Gehen – d470 Transportmittel benutzen – d4751 Ein motorisiertes Fahrzeug fahren – d510 Sich waschen – d5701 Ernährung und Fitness handhaben – d5702 Seine Gesundheit erhalten – d620 Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs beschaffen

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– d630 Mahlzeiten vorbereiten – d650 Haushaltgegenstände pflegen – d7100 Respekt und Wärme in Beziehungen – d7102 Toleranz in Beziehungen – d7103 Kritik in Beziehungen – d7104 Soziale Zeichen in Beziehungen – d7200 Beziehungen eingehen – d7201 Beziehungen beenden – d7202 Verhalten in Beziehungen regulieren – d7203 Sozialen Regeln gemäß interagieren – d7204 Sozialen Abstand wahren – d730 Mit Fremden umgehen – d9201 Sport – d9204 Hobbys – d9205 Geselligkeit Umweltfaktoren – e310 Engster Familienkreis – e330 Autoritätspersonen – e5550 Dienste von Vereinigungen und Organisationen

Eingliederungshilfe II Das Modul Eingliederungshilfe II (soziale Rehabilitation) enthält 10 zusätzliche Kategorien (insgesamt 35) und kann zwischen der ersten und der dritten Woche für eine initiale Messung sowie zur Verlaufs- und Evaluationsmessung eingesetzt werden. Tab. 6: Zusätzliche Kategorien des Moduls Eingliederungshilfe II (Soziale Reha) Körperfunktionen – b1303 Drang nach Suchtmitteln – b1521 Affektkontrolle Aktivitäten und Teilhabe – d240 Mit Stress und anderen psychischen Anforderungen umgehen – d7103 Kritik in Beziehungen – d7400 Mit Autoritätspersonen umgehen – d825 (Theoretische) Berufsausbildung – d855 Unbezahlte Tätigkeit Umweltfaktoren – e5550 Dienste von Vereinigungen und Organisationen – e5750 Dienste der allgemeinen sozialen Unterstützung – e5900 Dienste des Arbeits- und Beschäftigungswesens

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Fazit und Ausblick Mit dem MCSS liegt ein konsentiertes ICF-basiertes Core Set vor, welches die spezifischen Anforderungen der deutschen Suchthilfe zu berücksichtigen versucht. Kritisch ist anzumerken, dass im Entwicklungsprozess nicht stoffgebundene Abhängigkeitserkrankungen nicht berücksichtigt werden konnten, sodass eine Erprobung hier noch aussteht. Inwieweit die Anwendung des MCSS auch zu einer Behandlungsgestaltung führen kann, die teilhabeorientierter ist, sollte Gegenstand weiterer Studien sein.

Literatur Amann, K./Stracke, R./Veltrup, C./Küfner, R./Roeb-Rienas, W. (2011): Auf dem Weg zu einem Konsensusverfahren »ICF-Core Set Alkohol- und Drogen-Abhängigkeit«. Ein Pilotprojekt mit 20 Suchtexperten TT. Towards a Consent on Developing an ICF-Core Set Alcohol and Drug Dependence – A Pilot Study with 20 Experts on Addiction. Suchttherapie, 12 (1). Aubke, W./Bühler, S./Cibis, W./Ewert, T./Franke, M./Frommelt, P./Jacobi, E./Gronemeyer, S./ Grötzbach, H./Grotkamp, S./Heipertz, W./Hüller, E./Kähler, S./Klein, G./Korsukéwitz, C./ Petri, B./Pott, C./Rentsch, H. P./Rohwetter, M./Schian, H.-M./Schubmann, R./Schuntermann, M. F./Steinke, B./Ueberle, M./Wallrabenstein, H./Zelfel, R.-C. (2008): ICF-Praxisleitfaden 2. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR). Frankfurt a. M. Aubke, W./Cibis, W./Christen, H.-J./Gronemeyer, S./Grotkamp, S./Hager, K./Krumwiede, U./ Kurmeier, B./Küper, F./Laux, G./Lill, H./Pape, J./Petri, B./Reinfeld, E./Rohwetter, M./Schian, M./Schnittger, C./Winkelhake, M./Zellerhoff, C./Zielmann, M. (2010): ICF-Praxisleitfaden 3. Trägerübergreifende Informationen und Anregungen für die praktische Nutzung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) für das Krankenhausteam. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR). Frankfurt a. M. Bickenbach, J. (2012): Die ICF-Core-Sets. Manual für die klinische Anwendung. Bern. Borchfeld, K./Spies, M./Meyer-Steinkamp, R./Stracke, R./Rumpf, H.-J./Buchholz, A. (2017): Impairments of patients with substance-related disorders in everyday lives. Sucht, 63 (3). Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2018): Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG). Cerniauskaite M./Quintas, R./Boldt, C./Raggi, A./Cieza, A./Bickenbach, J. E./Leonardi, M. (2011): Systematic literature review on ICF from 2001 to 2009: its use, implementation and operationalisation. Disability & Rehabilitation, 33 (4), 281–309. Cieza, A./Fayed, N./Bickenbach, J./Prodinger, B. (2016): Refinements of the ICF Linking Rules to strengthen their potential for establishing comparability of health information. Disability and Rehabilitation, 1–10. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI)/World Health Organization (WHO) (Hg.) (2005): ICF. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Neu-Isenburg. Deutsche Rentenversicherung Bund (2015): Der ärztliche Reha-Entlassungsbericht. Leitfaden zum einheitlichen Entlassungsbericht in der medizinischen Rehabilitation der gesetzlichen Rentenversicherung. Berlin.

Das Modulare ICF-basierte Core Set Sucht (MCSS)

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Levola, J./Kaskela, T./Holopainen, A./Sabariego, C./Tourunen, J./Cieza, A./Pitkänen, T. (2014): Psychosocial difficulties in alcohol dependence. A systematic review of activity limitations and participation restrictions. Disability and Rehabilitation, 15, 1227–1239. Selb, M./Escorpizo, R./Kostanjsek, N./Stucki, G./Ustun, T. B./Cieza, A. (2015): A guide on how to develop an International Classification of Functioning, Disability and Health Core Set. European Journal of Physical and Rehabilitation Medicine, 51 (1), 105–117. Spies, M./Brütt, A. L./Freitag, M./Buchholz, A. (2015): Anwendung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) in der psychosomatischen Rehabilitation und Suchtrehabilitation in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme. Die Rehabilitation, 54 (5). Spies, M./Maschler, C./Buchholz, A. (2016): Teilhabeeinschränkungen bei Suchterkrankungen. Bundesgesundheitsblatt, 59 (9), 1154–1161. World Health Organization (WHO) (2016): Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme 10. Revision. Genf.

Autorinneninformation Angela Buchholz, PD Dr., Diplom-Psychologin, ist Psychologische Psychotherapeutin, Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Kontakt: [email protected]

6 Impact-Techniken Kitty Lüdtke und Peter Lüdtke

Wenn wir in Workshops oder Seminaren zu den Impact-Techniken kommen, stehen in den Gesichtern der Teilnehmer*innen viele Fragezeichen. ImpactTechniken – was ist das, was bedeutet das? Übersetzt bedeutet »impact« so viel wie Einschlag, Wirkung, Aufprall. Daher könnte man sagen, dass es sich um Einschlag-Techniken mit aufprallender Wirkung handelt. Und diese Wirkung sehen wir in den Gesichtern der Teilnehmer*innen spätestens, wenn wir einige praktische Techniken vorführen. Es ist oft eine Mischung aus Erstaunen und Erkenntnis, welche sich in den Gesichtern spiegelt. Einen ähnlichen Ausdruck sehen wir dann oft auch bei unseren Klient*innen. Impact-Techniken sind für uns eine tolle Möglichkeit, Widerstände zu umgehen und Erkenntnisse bei unseren Klient*innen zu fördern. Wie auch bei einigen anderen Methoden verlassen wir auch hier das gewählte, standardmäßige Setting von zwei gegenübersitzenden Parteien und wählen das »nebeneinander sitzende« Setting wie im Artikel zur Black-Box-Diagnostik (Lüdtke/Lüdtke in Kap. 3) beschrieben. Lassen Sie uns ein Gedankenexperiment machen. Stellen Sie sich vor, Sie müssen ein Seminar vorbereiten. Sie werden sich also Gedanken machen: Was möchte ich vermitteln? Wie möchte ich es vermitteln? Was haben meine Teilnehmer*innen für Vorerfahrungen? … Sie wissen aus Ihrem Studium, dass der Mensch am besten unter Einbeziehung all seiner Sinne lernt. Von daher werden Sie eine PowerPoint-Präsentation vorbereiten oder sich etwas am Flipchart überlegen. Auch werden Sie sich spannende Gruppenarbeiten ausdenken – alles, um dem multisensorischen Lernen gerecht zu werden. Inhaltlich werden Sie von sich selbst wissen, dass Sie sich abstrakte und komplexe Sachverhalte viel leichter einprägen, wenn diese einfach dargestellt werden. Und da Sie wollen, dass Ihre Teilnehmer*innen so viel wie möglich von Ihrem Seminar profitieren, werden Sie sich auch dieses Prinzip zunutze machen. Überlegen wir weiter: Was ist zu Beginn extrem wichtig? Wissen Sie, welche Augenfarbe Ihr*e Chef*in hat? Sie begegnen ihr*ihm meist täglich und

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Kitty Lüdtke und Peter Lüdtke

sehen ihm*ihr hoffentlich beim Gespräch auch in die Augen – und trotzdem hat Ihr Gehirn es nicht gespeichert. Dies hat den einfachen Grund, dass es nicht wichtig für Sie war. Anhand dieses Beispiels sehen Sie, wie es unseren Klient*innen oft geht. Daher ist es extrem wichtig, dass Sie das Interesse Ihrer Klient*innen wecken, damit sich das Klient*innengehirn denkt: »Oh, das werde ich mir merken.« Danie Beaulieu (2010, 2014), Begründerin der Impact-Techniken, hat diese Prinzipien wie folgt zusammengefasst: Multisensorisches Lernen

Dies bedeutet, dass der Mensch am besten unter Einbeziehung all seiner Sinne lernt. Dieses Prinzip wird in der Praxis, sei es in Beratung, Therapie oder im Betreuten Wohnen, oft stiefmütterlich behandelt. Hier ist leider das Gehör der bevorzugte Kanal. Abstrakte Konzepte konkret machen

Die Werbung macht es uns vor. Sie verwendet konkrete Symbole, um uns abstrakte Konzepte nahezubringen. Um zum Beispiel eine schnelle und zuverlässige Einschätzung über die Funktion einzelner Mitglieder in einer Gruppe zu erhalten, kann man sich dieses Prinzip zunutze machen. Beaulieu verwendet hierfür ein Puzzlespiel. Jedes Gruppenmitglied erhält ein Puzzleteil und wird aufgefordert, es an der richtigen Stelle einzusetzen. Bei der Beobachtung wird sehr deutlich, welche Teilnehmer*innen in den Mittelpunkt gehören, welche »Randstücke« eher im Hintergrund bleiben. Nutzen der bereits bekannten Informationen

Beaulieu erklärt es so: Für Ärzt*innen ist es leichter als für Fotograf*innen, den Apotheker*innenberuf zu erlernen. Durch das vorhandene Wissen haben sie Vorteile. Aus diesem Grund sollten auch wir uns die »Datenbank« unserer Klienten*innen nutzbar machen. Milton H. Erickson greift dieses Prinzip in seinem Konzept der »Utilisierung« auf. Er benutzte das Alltagsgeschehen seiner Klient*innen, betrachtete alles auf eine neue Weise, erleichterte dadurch die Beziehung, verringerte den Widerstand und gab so wichtige Impulse für den Prozess. Daher werden bei Impact-Techniken oft Alltagsgegenstände wie Becher o. Ä. mit dem gleichen Ziel verwendet. So wie Milton H. Ericson das Alltagsgeschehen nutzte, so kann auch die Biografie als Datenmatrix genutzt werden. An die in der gesamten Biografie enthaltenen und bekannten Informationen kann im Hier und Jetzt angeknüpft werden.

Impact-Techniken

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Emotionen auslösen

Das Gedächtnis ist direkt mit den Gefühlen verbunden. Es geht darum, ein bekanntes und für die Klient*innen emotional bedeutsames Objekt zu verwenden. Dadurch erfolgt eine Beschleunigung des Prozesses, wenn sie z. B. einen Kasten Bier auf einen Stuhl stellen, um den Alkoholismus eines Elternteils zu verdeutlichen. Eine weitere Möglichkeit, Gefühle anzusprechen, ist z. B., wenn Ihr*e Klient*in sich sehr von ihrer*seiner Droge eingenommen fühlt (oder von einem anderen Thema), dann schreiben Sie den Begriff auf die hintere Seite eines Briefblocks, Kartons o. Ä. Nun soll der Karton so nah an das Gesicht gehalten werden, dass man nichts anderes lesen kann als das Wort. Während der Karton nahe vor dem Gesicht gehalten wird, versuchen Sie, den Klient*innen andere Gegenstände zu zeigen, die sie natürlich nicht sehen können. Sehr schnell wird hier Frust entstehen, da sie die anderen Gegenstände nicht sehen können, weil sie den Karton vor Augen haben. Die Lernerfahrung, welche die Klient*innen hier machen, ist: Je mehr Distanz zum Karton, also zum Problem aufgebaut wird, umso mehr werden sie sich entlastet fühlen, weil der Blick nicht mehr durch die räumliche Beengtheit eingeschränkt ist. Interesse wecken

Wie lautet das Nummernschild der Nachbar*innen? Ihre Augen haben es tausendmal gesehen, aber Ihr Gedächtnis hat es nicht gespeichert, weil es für Sie nicht von Interesse war. In der Beratungsstellenarbeit kommt es oft vor, dass Jugendliche z. B. von Gerichten oder von Eltern zu Ihnen geschickt werden, weil z. B. Drogen bei ihnen gefunden wurden. Ein Beispiel: Eine Jugendliche kommt uninteressiert, vielleicht sogar abweisend zu Ihnen. Bieten Sie ihr ein Geldstück an, denn damit lösen Sie starke neurologische Vernetzungen aus. Denn jeder ist an Geld interessiert, und gleichzeitig ist es eine Überraschung, welche mehrere Sinne anspricht. Wenn sie nun das Geldstück nehmen will, sagen Sie zu ihr: »Nein, nimm nur die Zahl und nicht die Münze.« Und wieder haben Sie eine Überraschung, etwas Unerwartetes. Dann können Sie ihr die Botschaft vermitteln: »Sieh mal, jede Medaille hat zwei Seiten, so ist das auch mit den Drogen, man kann nicht nur den Genuss haben, sondern man nimmt auch alles, was dazugehört: Geldprobleme, Elternsorgen, Schulschwierigkeiten etc. Immer, wenn du jetzt ein Geldstück siehst, wirst du dich daran erinnern.« Auch wenn sie intellektuell Ihre Intervention ins Lächerliche zieht, haben ihre Augen und ihr Körper die Botschaft aufgenommen, auf bewusster und auf unbewusster Ebene. Sie kennen vielleicht die Geschichte von Milton H. Ericksons »Zimtgesicht«. Eine Mutter brachte ihre Tochter zu ihm, welche aufgrund ihrer Sommersprossen alles und jeden hasste. Als das Mädchen durch die Tür kam, beschimpfte Erickson sie als Diebin. Er wusste durch die Erzählung der Mutter, dass der Widerstand

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Kitty Lüdtke und Peter Lüdtke

bei der Tochter sehr groß war und lenkte ab. Er schuf eine unerwartete Situation und weckte so das Interesse des Mädchens, welche sich auf einmal gegen Anschuldigungen verteidigen musste. Die Wut, welche das Mädchen wegen ihrer Sommersprossen empfand, veränderte sich durch die große Empörung über die Anschuldigung. Erickson verwendete diese mnemotechnischen Gesetze spontan: Seine Interventionen lösten Interesse und intensive Gefühle aus, sprachen das Visuelle und den Körper auf konkrete Weise an und machten vorhandene Informationen nutzbar. Lust und Spaß an der Therapie/Beratung entwickeln

Humor heißt das Zauberwort. Stellen Sie sich vor, dass es in Ihrem Umfeld Personen gibt, mit denen Sie lachen können, und dann gibt es Personen, bei denen immer wieder gejammert wird. Wen werden Sie zum Geburtstag einladen? Wir sollten uns viel öfter fragen, was Lust und Spaß bereitet, und diesen Weg einschlagen. Verwendung einfacher Sprache – einfach ist einfacher

»Einfachheit ist unübertreffliche Klugheit.« Welche Sätze würden Sie bevorzugen? »Sichtbare Dämpfe entwickelten sich aus brennbarem Material und ließen vermuten, dass ein explosionsartiges Verbrennen nicht auszuschließen wäre.« Oder: »Kein Rauch ohne Feuer.« »Wir bevorzugen in unserer Firma den Einsatz und das Zusammenwirken interdisziplinärer Erfahrungen.« Oder: »Die Mitarbeiter der Abteilungen sprechen miteinander.« »Keine Beeinträchtigung der Lohnrahmenrichtlinien für unser Mitarbeiter!« Oder: »Hände weg vom Lohn!« Diese Aussagen können sie im Buch von Jack Trout und Steve Rivkin »Die Macht des Einfachen« (1999, S. 31 ff.) nachlesen. Die Autoren stellen in ihrem Buch die Kraft des Einfachen dar und nutzen dabei die Tatsache, dass Menschen einfache Informationen leichter aufnehmen. Wiederholen, wiederholen … doch ohne Zwang

Die meisten Lernvorgänge erfolgen durch Wiederholungen und unter Einsatz aller Sinnesorgane, außer es ist eine intensive Gefühlsregung damit verbunden. Wenn sie sich z. B. beim Kochen am Herd verbrennen, dann müssen sie dies

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nicht erneut wiederholen, um zu begreifen, welche Gefahr mit Hitze verbunden ist. Demgegenüber ist es so gut wie unmöglich, eine Fremdsprache in einem einmaligen Versuch zu lernen. Hier ist wiederholtes Üben unerlässlich, was auch zutrifft, wenn nach vielen Jahren ein bestimmtes Verhalten verändert werden soll. Meist sehen wir Klienten*innen einmal pro Woche für 50 bis 60 Minuten, im Betreuten Wohnen vielleicht auch zweimal. Es ist im Verhältnis eine kurze Zeit, um Einfluss auf ihr Denken und ihr Verhalten zu nehmen. Daher ist es wichtig, Anker zu setzen, eine Verbindung herzustellen zwischen der Botschaft und einem vertrauten Objekt. So können jedes Mal, wenn die Klient*innen damit in Berührung kommen, die besprochenen Inhalte wiederholt werden, was die Wirkung wiederholt. Haben Sie schon einmal in Ihrem Leben Gegenstände aufbewahrt, die keinerlei materiellen Wert haben (einen Stein, eine Postkarte …), nur weil sie eine Art »Rückfahrschein« zu den Emotionen sein können, die Sie bei dieser Gelegenheit empfunden haben? Viele nehmen aus ihrem Urlaub solche Emotionsanker mit. Wenn Sie Ihren Klienten*innen passende Objekte mitgeben, dann wird der Inhalt der Stunde weitergetragen und die Beziehung zu Ihnen gefestigt. Auch ein Grund, warum wir unseren Klient*innen Ausdrucke von z. B. der Netzwerkkarte mitgeben und daraus das Klient*innenhandbuch entsteht.

Was hat dies mit Impact-Techniken und Sozialer Diagnostik zu tun? Impact-Techniken sind mit Danie Beaulieu (2010, 2014) verbunden, die Interventionen, die mehr als nur Sprache beinhalten, seit Jahren in ihrer therapeutischen und beraterischen Tätigkeit einsetzt. Impact-Techniken umfassen ein multisensorisches Arbeiten in Verbindung mit Elementen aus der Arbeit von Milton H. Erickson, Techniken aus der Gestalttherapie, dem neurolinguistischen Programmieren (NLP), der Transaktionsanalyse, dem lösungsorientierten Ansatz von Steve de Shazer sowie der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie von Albert Ellis und Elemente aus der Ego-State-Therapie machen Impact-Techniken zu dem, was sie sind. Die Zusammenführung von Sozialer Diagnostik und den Impact-Techniken kann zu einer höheren Akzeptanz führen und die oft erlebte »Schwere« von Diagnostik erleichtern. Einsteins (angebliche) Definition von Wahnsinn: Jeden Tag das Gleiche tun und ein anderes Ergebnis erwarten. Oder anders ausgedrückt: Wer immer wieder dasselbe tut, kommt immer zum gleichen Ergebnis. Wer etwas verändern will, muss anders handeln. Die Klient*innen kommen zu uns, weil sie etwas

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ändern wollen. Gerade im Suchtbereich kommt es allerdings häufig zu Widerständen. Hier können Impact-Techniken helfen, den Widerstand zu verringern, weil die Problematik indirekt bearbeitet, aber dennoch durch die Dramaturgie direkt in Szene gesetzt wird. Durch das metaphorische und spielerische Handeln und Beobachten können Ja-Aber-Widerstände von Klient*innen elegant umschifft werden. Der Bezug zum eigenen Problemfeld wird oftmals erst im Nachhinein klar. Auch ist es ein partizipativer Augenblick, beide Parteien werden zu Beobachter*innen.

Genug der Theorie – rein in die Praxis Neben der bereits erwähnten Eineuro- bzw. Münz-Technik ist die Geldscheintechnik eine weitere sehr hilfreiche Übung. Beaulieu (2010, S. 52) hat sie in ihrem Buch »Selbstrespekt bei Inzest« genannt. Wir verwenden sie in der Praxis bei jeglicher Art von Selbstwertproblematik, da mit ihr eine intensive und nahezu permanente Wirkung erzielt werden kann. Wir lassen uns von der*dem Klient*in einen Geldschein geben, hat diese*r keinen, nehmen wir einen von uns und fragen den*die Klient*in, was der Wert dieses Scheines ist. Je nachdem, was wir für einen Schein gewählt haben, wird er*sie antworten: 5 Euro, 10 Euro usw. Nun zerknittern wir diesen Schein, zerknüllen ihn, werfen ihn auf den Boden und trampeln darauf herum. Dann nehmen wir den Geldschein wieder in die Hand und fragen den*die Klient*in, wie viel dieser Schein jetzt Wert sei. Die Antwort wird dieselbe sein, es hat sich nichts am Wert des Scheines geändert. Auch Autor und Mentaltrainer Lars Amend verwendet bei seinen Auftritten diese Technik in etwas abgewandelter Form und mit einem Hunderteuroschein. Er fragt sein Publikum, wer diesen Hunderteuroschein haben wolle. Dann zerknüllt er ihn, spuckt darauf und zerknüllt ihn erneut und fragt sein Publikum, wer diesen Schein jetzt noch haben wolle. Dann wirft er ihn auf den Boden und trampelt drauf herum und hebt ihn vorsichtig mit zwei Fingern auf. Jetzt erklärt er seinem Publikum, dass sie gerade eine wertvolle Lektion gelernt hätten. Denn trotz der Dinge, welche er mit dem Geldschein getan habe, wollten sie ihn immer noch haben, egal wie sein äußerer Zustand sei, weil sein wahrer Wert nie infrage gestellt worden wäre. Der Hunderteuroschein hat weiterhin den gleichen Wert. Er stellt dann eine weitere Verbindung her, dass jede*r dieser Geldschein sei und dass auf jede*n im Leben einmal herumgetrampelt würde usw. Es sei aber egal, was in der Vergangenheit geschehen sei oder in der Zukunft noch geschehe. Seinen wahren Wert verliere man nicht. In seinem Buch geht er noch weiter und empfiehlt, sich mit einem Hunderteuroschein

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einen Talisman in sein Portemonnaie zu legen. Dies wird bei den meisten der Klient*innen aufgrund zu geringer Einkommen nicht möglich sein. Trotzdem haben wir mit der Geldschein-Technik einen Anker gesetzt, welcher noch nachhallen wird, bewusst wie unbewusst. In der Arbeit mit Abhängigkeitskranken werden Sozialarbeitende oft mit Ungeduld konfrontiert. Unsere Klient*innen sind es gewohnt, sich mit einer Pille, einer Linie Koks, einer Flasche Wodka in die bevorzugte Gefühlslage zu beamen, Unangenehmes auszublenden. Das cleane, trockene Leben erfordert allerdings Durchhaltevermögen. Hier kann die Rechenaufgabe eine gute Motivation sein. Bei dieser Methode ist es wichtig, dass Sie darauf achten, dass Ihre Klient*innen die Grundzüge des Einmaleins beherrschen. Sie fragen Ihre*n Klient*in, was 5 mal 0 ist, dann was 100 mal 0 ist und was 1000 mal 0 ist. Die Antwort wird immer 0 sein. Und nun bestärken Sie sie*ihn: »Das ist super Frau/ Herr X und Sie haben recht, alles, was Sie mit 0 multiplizieren, ist gleich 0. Ich finde es fantastisch, dass sie das wissen, weil es bedeutet: Sie wissen, dass egal, ob sie 5 oder 1000 tolle Pläne oder Ziele haben, wenn Sie keine Anstrengungen unternehmen, bekommen Sie keine Ergebnisse.« Auch hier ist es sinnvoll, dies mit einem Anker zu verknüpfen. Da im Alltag die Anstrengung oft zu stark wird und die Abhängigkeit gewinnt, kann hier der Anker helfen, sich anders zu entscheiden. Im Suchtbereich arbeiten wir oft mit Vor- und Nachteilen. Meist tun wir das auf Papier, im Gespräch oder auf dem Flipchart. Dies kann man allerdings auch sehr gut mit Stühlen machen. Diese Übung wird meist Engelchen/Teufelchen oder Vorteils-/Nachteilsübung genannt. Die Praxis zeigt, dass es bei einigen Klient*innen günstiger ist, auf eine wertende Bezeichnung zu verzichten, um den Widerstand gering zu halten bzw. ihn gar nicht erst aufkommen zu lassen. Fragen Sie den*die Klient*in, ob er*sie bereit sei, sich auf ein Experiment einzulassen, in dem Sie verschiedene Anteile näher beleuchten können. Dann stellen Sie drei Stühle auf, der*die Klient*in soll sich nun auf den mittleren setzen. Hier ist er*sie ganzheitlich, d. h. sein*ihr aktuelles Selbst mit allen Anteilen. Dann lassen Sie sie*ihn auf dem linken Stuhl sitzen. Hier kommt der Anteil zu Wort, welcher nur das Positive am Konsum der Droge sieht, z. B. »Einmal ist keinmal«. Fragen Sie auch nach den Emotionen, welche auf diesem Stuhl hervortreten. Nun bitten Sie den*die Klient*in, auf dem rechten Stuhl Platz zu nehmen. Hier treten die negativen Seiten hervor, z. B. »Sucht ist Freiheitsberaubung«. Notieren Sie während dieser Übung die wichtigen Argumente. Zum Ende bitten Sie den*die Klient*in, sich wieder in die Mitte zu setzten und die Erlebnisse kurz nachwirken zu lassen. Je nach Auftragsstellung können nun z. B. die emotional wirksamsten Argumente für eine Abstinenz auf Karteikarten geschrieben wer-

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den, welche der*die Klient*in in ihrer*seiner Wohnung als Ankerpunkte verteilen könnte. Diese Übung kann man auch gut zur Entscheidungsfindung bei anderen Fragestellungen verwenden: Ein Stuhl spricht dafür, ein Stuhl dagegen und in der Mitte bleibt alles wie gehabt. Stuhldialoge sind eine mächtige und abwechslungsreiche Technik, welche in vielen Kontexten eingesetzt werden kann. So ist eine einfache Übung, um z. B. die Motivation für eine Veränderung zu festigen oder einen Zielplanungsweg zu erstellen, als Stuhlübung wesentlich nachhaltiger. Z. B. ist eine Möglichkeit, einen Stuhl in eine Ecke des Raumes zu stellen. Dieser symbolisiert das Jetzt. Am anderen Ende stellt man einen weiteren Stuhl auf, welcher das (zukünftige) Ziel symbolisiert. Nun kann man den*die Klient*in auf den Jetzt-Stuhl setzen und fragen, wie sich das anfühlt, was sie*er vermisst, welche Ängste mit der Veränderung einhergehen. Wenn sie*er zu dem anderen Stuhl in der gegenüberliegenden Ecke geht, kann hier gefragt werden, wie sich der Weg anfühlt, ob es Zwischenschritte/Pausen bedarf? Um solche Zwischenschritte zu verdeutlichen, können weitere Stühle hinzugenommen werden. Am Zielstuhl soll wieder reflektiert werden: Wie geht es Ihnen? Wie fühlt es sich an? Ist es gut, dass Sie den Weg gegangen sind und, wenn nicht, was fehlt? Auch kann man Stuhlübungen für einen Perspektivwechsel nutzen. Hier nennt Christian Schwegler (2014) eine einfache Übung. Es werden zwei Stühle so aufgestellt, dass sie sich gegenüberstehen, sodass ein gutes Gespräch möglich ist. Die*Der Klient*in setzt sich auf einen Stuhl, der andere Stuhl bleibt frei. Nun wird der*die Klient*in zu einer Situation geführt, in welcher er*sie ein negatives Erlebnis mit einer Person, bei der sich in der Interaktion ein Problem ergeben hat oder immer wieder ergibt, oder auch z. B. mit Alkohol, Drogen etc. hatte. Wenn der*die Klient*in diese Situation vor Augen hat und die Emotionen und Körperwahrnehmungen gut spürt, wird er*sie gebeten, sich vorzustellen, dass seine*ihre Probleme auf dem anderen Stuhl sitzen, und er*sie soll ihnen jetzt ganz offen sagen, was er*sie von ihnen denkt, was er*sie von ihnen hält. Alles kann ausgesprochen werden. Hat der*die Klient*in seinem Ärger Luft gemacht, wird er*sie gebeten, sich auf den anderen Stuhl zu setzen. Nun soll er*sie sich ganz in die andere Person bzw. in das Problem hineinversetzen. Sie*Er soll spüren, wie sich die Beziehung von der anderen Seite anfühlt und was für Emotionen die*der Klient*in in ihrem*seinem Gegenüber auslöst. Nachdem sich der*die Klient*in mit der Person bzw. dem Problem identifiziert hat, wird er*sie gebeten, sich vorzustellen, dass alle Dinge, die er*sie vorher in der Patient*innenrolle gesagt hat, vorgehalten werden. Sie*Er soll sich dies anhören und spüren, wie es ihr*ihm dabei geht, was sich in ihr*ihm verändert, wo sie*er sich missverstanden fühlt, sie*er vielleicht sogar wütend wird. Sobald sie*er dies

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wahrgenommen hat, darf sie*er dem Ärger Luft machen und jetzt dem leeren Stuhl antworten. Anschließend setzt sich der*die Klient*in wieder auf den ersten Stuhl. Hier darf sie*er die Antworten ihres*seines Problems reflektieren und Stellung dazu nehmen. Oft bedarf es mehrerer Perspektivwechsel, bis der*die Klient*in ausreichend viele Informationen aufgenommen hat, um einen guten Veränderungsimpuls zu erzeugen. Zum Schluss sollte man zusammenfassen, was sich durch das neue Wissen verändern könnte und wie sich das dann auf sein*ihr Problem auswirken würde. Im Suchtbereich sind schriftliche Protokolle zur Beobachtung eine bewährte Methode, um Automatismen zu erkennen. Die folgende Übung aus dem Therapiekartenset (Kowarowsky/Puttkamer 2018, S. 28) setzt hier spielerisch an, um eingefahrene Gewohnheiten bewusst zu machen und durch achtsame Alternativen ersetzen zu können. Erklären Sie Ihrem*Ihrer Klient*in, dass Sie jetzt für einen Tag ihre*seine Urlaubsvertretung sind. Um diese Rolle gut bestreiten zu können, ist es allerdings sehr wichtig, dass Sie genau wissen, was Sie zu tun haben. Daher bitten Sie um eine detaillierte Schilderung eines typischen Tagesablaufs. Es sollen nicht nur das Problemverhalten, sondern auch begleitende Gedanken und Gefühle zur Schilderung dazugehören. Sie machen sich Notizen, um anschließend die Schilderung zu wiederholen, ob Sie alles richtig verstanden haben und nichts vergessen wurde. Allein das Anhören ist hier ein starker Impact. Im Anschluss kann dann herausgearbeitet werden, welche Gedanken, Situationen, Handlungsketten das Problemverhalten begünstigen und welche konstruktiven Alternativen es gibt. Wenn Klient*innen alles persönlich nehmen, sich nur an das Negative erinnern, können sie ein Blatt nehmen und den*die Klient*in bitten, dieses zu bekritzeln, bis das ganze Blatt voll ist. Dann können Sie ihm*ihr erklären, dass er*sie einen »geistigen Radiergummi« benötigt. Denn so, wie das Blatt aussieht, sieht es auch in seinem*ihrem Kopf aus und es bleibt kein Platz mehr für andere Gedanken und positive Erlebnisse, weil alles voll ist mit Fehlern, Verletzungen und Enttäuschungen. Um den Kopf zu entlasten und wieder Energie zu gewinnen, bedarf es eines Radiergummis. Eine etwas andere Technik mit gleicher Intention funktioniert mit einem Müllsack. Nehmen Sie einen Müllsack und werfen Sie alle negativen Erinnerungen, Verletzung z. B. in Form von Büchern oder Zeitungen hinein. Nun bitten Sie den*die Klient*in diesen Müllsack zu tragen. Vielleicht machen Sie einen Spaziergang oder lassen Sie sie*ihn im Büro auf- und abgehen. Helfen Sie dem*der Klient*in wieder, indem Sie sie*ihn darauf aufmerksam machen, wie der Müllsack immer schwerer wird und auch sein*ihr Fokus immer mehr zum Müll wandert. Er*Sie benötigt immer mehr Kraft, um den ganzen Müll

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mit sich herumzutragen. Wäre es hier nicht einfacher, den Müllsack regelmäßig zu entleeren? Dies ist auch eine gute Technik, um das Loslassen zu vertiefen. Gleichzeitig setzt man mit dem Müllsack einen guten Anker, der im Alltag allgegenwärtig ist. Eine sehr schnelle und bewährte Technik, wenn es darum geht, dass Klient*innen ständig versuchen, versuchen, versuchen, ist sie zu bitten, sich auf einen Stuhl zu setzen. Kurz bevor sie sitzen, also der Po auf dem Stuhl landet, sagen sie Stopp. Diese Position sollen sie halten. Je nach Trainingsstand der Klient*innen wird die Position schwierig zu halten sein. Dann können Sie z. B. fragen: »Ständig versuchen Sie, sich im Alltag mehr Auszeiten zu nehmen. Warum tun Sie es nicht einfach? Es ist wie bei der Übung: Nur zu versuchen, sich hinzusetzen, ist auf Dauer sehr viel anstrengender, als es einfach zu tun.«

Fazit und Ausblick Die Impact-Techniken lassen sich methodisch dem Bereich der Black-Box-­ Diagnostik zuordnen. Black-Box-Diagnostik findet in jedem Gespräch statt, dessen müssen sich Professionelle gewahr werden. Umso wichtiger ist es, diese mit differenten Methoden gezielt zu fördern, um so Erkenntnisse bei unserem Gegenüber gedeihen zu lassen. Die Prinzipien des multisensorischen Lernens zeigen uns deutlich, dass wir verschiedene Kanäle nutzen sollten und unseren Methodenkoffer diesbezüglich erweitern müssen.

Literatur Amend, L. (2017): Why Not? Inspirationen für ein Leben ohne Wenn und Aber. München. Beaulieu, D. (2010): Impact-Techniken für die Psychotherapie (4. Aufl.). Heidelberg. Beaulieu, D. (2014): Klimazone Klassenzimmer. 88 originelle Techniken für eine bessere Lern­ atmos­phäre (3. Aufl.). Heidelberg. Faßbinder, E./Jacob, G. (2014): Stuhldialoge in der Psychotherapie. Weinheim. Kowarowsky, G./von Puttkamer, C. (2018): Impact-Techniken. 75 Therapiekarten. Weinheim. Rosen, S. (2018): Die Lehrgeschichten von Milton H. Erickson (12. Aufl.). Salzhausen. Schwegler C. (2014): Der Hypnotherapeutische Werkzeugkasten (2. Aufl.). Bruderholz/Bottmingen. Trout, J./Rivkin, S. (1999): Die Macht des Einfachen. Warum komplexe Konzepte scheitern und einfache Ideen überzeugen. Berlin.

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Autor*inneninformation Kitty Lüdtke, Sozialarbeiterin/-pädagogin M. A., ist Suchttherapeutin VT; Tätigkeitsfelder: Suchtberatungsstelle und Betreutes Wohnen, Lehrbeauftragte. Kontakt: [email protected], www.pklüdtke.de Peter Lüdtke, Sozialarbeiter M. A., ist Suchttherapeut VT; Tätigkeitsfelder: psychiatrische Grundversorgung, Lehrbeauftragter. Kontakt: [email protected], www.pklüdtke.de

7 Soziale Diagnostik in der Früherkennung und Frühintervention am Beispiel des Programms FreD Frank Schulte-Derne

Junge Menschen mit einem problematischen Konsum psychoaktiver Substanzen früh zu erreichen und ihnen passgenaue Angebote zu machen, damit sie ihren als problematisch beurteilten Substanzkonsum reflektieren können, ist ein Ziel einer zeitgemäßen (selektiven) Suchtprävention. Das Programm »Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsument*innen in verschiedenen Settings« (FreD) ist ein gutes Beispiel, wie dies gelingen kann. Im Rahmen des Programms werden in relativ kurzer Zeit viele sozialdiagnostische Informationen zusammengetragen, aufgrund derer die Teilnehmenden eine abschließende Rückmeldung erhalten. Allerdings werden die dafür angewandten Instrumente bislang als »Methoden« und »Übungen« vermittelt, ohne einen Bezug zu der eigentlichen Funktion Sozialer Diagnostik herzustellen. Anhand konkreter Beispiele aus der Praxis wird die Anwendung dieser Übungen illustriert und in Beziehung zu Sozialer Dia­gnostik gesetzt. Damit ist zugleich eine Anregung zur Weiterentwicklung des FreD-Programms geleistet.

Das FreD-Programm FreD steht für Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsument*innen. Jugendliche und junge Erwachsene, die mit einem (riskanten) Substanzkonsum (strafrechtlich) aufgefallen sind, werden dem Programm zugewiesen oder ihnen wird nahegelegt, dieses Programm zu absolvieren. Das Gespräch umfasst ein sogenanntes Intake-Gespräch und einen anschließenden achtstündigem Interventionskurs. FreD kommt insbesondere dort zum Einsatz, wo ein folgenloses Hinnehmen der Auffälligkeit oder eine Einstellung aus rechtlichen oder erzieherischen Gründen für nicht sinnvoll gehalten wird. Dies geschieht sehr oft im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, aber auch in der Schule, in Wohngruppen oder am Arbeitsplatz. FreD zielt darauf

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ab, Jugendliche zu erreichen, bevor riskante Konsummuster zur Gewohnheit werden und das Gegensteuern schwieriger wird. Ziel ist, einer weiteren Eskalation der psychosozialen Gesamtsituation und einer Abhängigkeitsentwicklung vorzubeugen. Das Programm schafft Raum, um das eigene Konsumverhalten zu reflektieren und die Auseinandersetzung mit anderen Betroffenen (Peers) damit zu fördern. Es soll ein Bewusstsein für die Ambivalenz beim Substanzkonsum zwischen positiven und negativen Effekten, der Konsummotivation und Handlungsalternativen geschaffen werden, um so einen selbstverantwortlichen Umgang mit Rauschmitteln zu fördern. Durch die Teilnahme am FreDProgramm schaffen die Betroffenen es in der Regel, die entstandene, bereits eskalierte Situation positiv zu beeinflussen. Dadurch wird ein wesentlicher Beitrag zur Entkriminalisierung geleistet. Erlebte biografische Brüche können im Zusammenhang mit dem Substanzkonsum von den Jugendlichen reflektiert werden. Dies versetzt die jungen Menschen auch nach dem Ende des Programms in die Lage, weitere Unterstützung z. B. bei der Aufarbeitung dieser Brüche oder der weiteren Stabilisierung ihrer psychosozialen Situation in Anspruch zu nehmen. Die LWL-Koordinationsstelle Sucht in Münster hat diesen Interventionsansatz schon Anfang der 2000er entwickelt und bundesweit erfolgreich erprobt; drei nationale wie internationale Evaluationen bestätigen den Erfolg dieser Strategie.1

Bisherige Bezüge zwischen dem Programm FreD und (Sozialer) Diagnostik Allein in Deutschland wird das FreD-Programm von mehr als 400 zertifizierten Trainer*innen an über 210 Standorten umgesetzt (Stand: August 2019). Die meisten der Trainer*innen sind Sozialarbeiter*innen bzw. Sozialpädagog*innen. Für die Zertifizierung ist eine 40-stündige Zertifikatschulung notwendig. Die Zertifizierung orientiert sich dabei an dem FreD-Manual, welches die Trainer*innen dafür exklusiv erhalten. Im Manual und damit auch im Rahmen der Zertifikatsschulung wird lediglich auf die Diagnoseverfahren im Zusammenhang mit den Abhängigkeitskriterien der Internationalen Klassifikation der Abhängigkeitserkrankungen und dem in diesem Zusammenhang zu verwendenden CAGEFragebogen hingewiesen (LWL 2017). Ergänzend werden soziodemografische

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Siehe auch die Datenbank für empfohlene (evidenzbasierte) Präventionsprogramme: https:// www.gruene-liste-praevention.de/nano.cms/datenbank/programm/86

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Daten in vorliegenden Erstgesprächsbögen erfasst. In der Regel findet diese eher medizinisch orientierte Diagnostik im Intake-Gespräch statt und dient vor allem dem Ausschluss einer bereits bestehenden manifesten Abhängigkeitserkrankung, da diese meist ein Ausschlusskriterium für die Teilnahme am FreD-Programm darstellt. Es ist nicht auszuschließen, dass an FreD-Standorten weitere diagnostische Instrumente der jeweiligen Einrichtungen angewandt werden. Im Manual wird lediglich ein Standard definiert, dessen Umsetzung in der Form evaluiert wurde. Als ein zentraler Bestandteil des FreD-Programms wird im Kursverlauf mittels verschiedener Methoden und Übungen die Entstehung des jeweiligen Substanzgebrauchs oder eines entsprechenden Verhaltens vor dem biografischen Hintergrund und der aktuellen Situation bzw. den Wechselwirkungen dieser Kategorien mit den Teilnehmenden thematisiert. Dies geschieht reflexiv, prozessorientiert und dialogisch sowie unter expliziter Einbindung der Sichtweisen der Person also auch partizipativ. Damit sind wesentliche Rahmenbedingungen erfüllt, die für eine Soziale Diagnostik als notwendig angesehen werden (Hansjürgens in Kap. 2). Dies legt die Einschätzung nahe, dass in FreD sozialdiagnostische Elemente enthalten sind. Allerdings wurden diese (bislang) nicht aus der Brille einer sozialen Diagnostik betrachtet und dementsprechend nie als solche benannt und verstanden. Dieser Hypothese soll mit dem vorliegenden Beitrag nachgegangen werden, eröffnet diese Perspektive doch weitere Potenziale Sozialer Arbeit, die bisher unbeachtet blieben.

Ablauf des Kursprogramms mit den Teilnehmenden Für diesen Beitrag werden die Bedingungen der Zuweisungen zum FreD-Programm, die notwendigen strukturellen Voraussetzungen und die erforderlichen Netzwerk- und Kooperationsstrukturen nicht näher beleuchtet. Obwohl diese Aspekte unabdingbar zum Gelingen des FreD-Programms dazugehören, liegt der Fokus hier auf den drei praktischen Bausteinen, in denen die »direkte« Arbeit mit den Betroffenen und damit auch die Anteile der Sozialen Diagnostik verortet sind. Dabei handelt es sich um 1. das Intake-Gespräch, 2. die achtstündige Kursdurchführung und 3. die Gestaltung des Abschlusses.

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Abb. 1: Schematischer Ablauf des FreD-Kurses (LWL 2017, S. 31)

Das Intake-Gespräch Das Intake-Gespräch erfüllt eine »Brücken- und Gatekeepingfunktion« (vgl. Hansjürgens 2018; LWL 2017) zwischen der Zuweisung zum FreD-Programm und der daraus resultierenden Kursteilnahme. Die FreD-Trainer*innen sollen in dem maximal einstündigen Gespräch einen vertrauensvollen Kontakt zum Betroffenen herstellen und überprüfen, ob das Kursangebot das geeignete Angebot für diese Person darstellt. Falls dies nicht der Fall ist, sollen alternative Hilfen angeboten bzw. vermittelt werden. Folgende Aspekte sollen dabei angesprochen werden: Ȥ gegenseitige persönliche Vorstellung, Ȥ Konsummuster, Ȥ rechtliche und disziplinarische Sachverhalte (z. B. Auflagen), Ȥ allgemeine Informationen zu FreD und dem Kursablauf, Ȥ individuelle Fragen zum Kursgeschehen, Ȥ Erwartungen etc. Betrachtet man die Fülle der Themen in Anbetracht der für das Intake-Gespräch vorgesehenen Zeit, ist es selbstverständlich, dass die diagnostische Erhebung auf den Ausschluss einer manifesten Abhängigkeit reduziert sein muss (vgl. den zweiten Abschnitt in diesem Beitrag).

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FreD-Trainer*innen geben oft an, dass der weitere Kursverlauf maßgeblich vom »Gelingen« dieser Gespräche abhängt. Das »Gelingen« wird dabei immer wieder in Bezug zum vertrauensvollen Kontakt gesetzt. Nach meiner Auffassung ist dies auch die Grundlage für einen gelingenden partizipativen Einsatz sozialdiagnostischer Instrumente im weiteren Verlauf von FreD. Hier liegt die Nähe zum Konzept der »Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung« (Hansjürgens 2018). Es erscheint sinnvoll, diese »Brückenfunktion« im Sinne des FreDAnsatzes zukünftig genauer zu analysieren, zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Neben dem vorgenannten Konzept ist auch das Konzept der »Schlüsselsituationen in der Sozialen Arbeit« mit großer Wahrscheinlichkeit hilfreich (vgl. Tov 2013). Diese Analyse soll aber in diesem Beitrag nicht geleistet werden.

Kursdurchführung Der FreD-Kurs umfasst in der Regel acht Zeitstunden, wobei die Durchführung variieren kann. In der Regel gibt es zwischen vier und zwölf Teilnehmende pro Kurs. Die zumeist gewählten Kursformen sind 2 mal 4 Stunden oder 4 mal 2 Stunden. Selten werden die gesamten acht Stunden als Block angeboten. Dies wird damit begründet, dass die Zeit zwischen den Kursabschnitten, in der die Teilnehmenden das Erfahrene reflexiv verarbeiten (können), als wertvoll für das weitere Kursgeschehen erlebt wird. Zu Beginn knüpft die Kursleitung (in der Regel ein Tandem aus zwei Personen, die den Kurs die ganze Zeit begleiten) an die vorhergehenden Intake-Gespräche an. Die begonnene »vertrauensvolle Arbeitsbeziehung« mit allen Einzelnen muss nun in der Gesamtgruppe zusammengeführt werden und weiter vertieft werden. Daran anschließend finden die Themen Wissen (Konsum und Recht), Selbst- und Fremdwahrnehmung, eigene Konsummuster, Vereinbarung persönlicher Ziele und mögliche Unterstützung durch das (regionale) Hilfesystem ihren Platz. Die Methoden, die im Kurs angewendet werden, folgen immer dem Dreischritt Instruktion – Aktion – Reflexion (was hat das Erlebte und Erfahrene mit meiner persönlichen Situation zu tun und was nehme ich möglicherweise mit?). Obwohl eine Vielzahl der zur Verfügung stehenden Methoden auch als Instrument der Sozialen Diagnostik verstanden werden könnte, wird dies in keiner Methodenbeschreibung erwähnt. Es ist also davon auszugehen, dass die FreDTrainer*innen Soziale Diagnostik durchführen, ohne diese so zu benennen. Hier liegt bisher ungehobenes Potenzial im Umgang mit den jungen Menschen: Sie könnten auf der Basis dieser Erkenntnisse weitere Hilfe in Anspruch nehmen. Die durch das Kursgeschehen in der Regel entstandene vertrauensvolle Arbeitsbeziehung würde es darüber hinaus ermöglichen, einen integrierten Prozess-

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bogen zu gestalten, an den bei Bedarf immer wieder angeknüpft werden kann. Dies scheint insbesondere mit sogenannten »schwer erreichbaren« Jugendlichen und späteren Erwachsenen von Bedeutung zu sein. Gestaltung des Abschlusses Zum Kursbeginn wird den Teilnehmenden angeboten, dass sie, wenn sie es wünschen, zum Ende des Kursgeschehens ein individuelles Feedback durch die Kursleitung erhalten können. Dies kann je nach Vereinbarung in der Gruppe und/oder in einem sogenannten Outtake-Gespräch mit der Kursleitung allein erfolgen. Aus Ressourcegründen findet meist kein regelhaftes Outtake-Gespräch statt und es bleibt ausschließlich die Möglichkeit des Feedbacks am Kursende. In den Qualitätskriterien zum FreD-Programm ist das Outtake-Gespräch zudem optional benannt, da dieses bislang nie Gegenstand der Evaluation war. In vielen Fällen wird das Feedback der FreD-Trainer*innen durch ein angeleitetes und ebenfalls wertschätzendes Feedback der Teilnehmenden untereinander gestützt. Unabhängig davon, wie der Abschluss gestaltet wird, ist festzuhalten, dass das Feedback der Kursleitung auf dem Erfahrenen und Erlebten beruht, ohne genauer zu beschreiben, wie sich diese Wahrnehmung sättigt. Von FreDTrainer*innen wird berichtet, dass es oft notwendig sei, wichtige Inhalte der Kursabschnitte festzuhalten. Am ehesten geschieht dies durch schriftliche Notizen. Von einer regelhaften Dokumentation der (auch sozialdiagnostischen) Erkenntnisse ist nicht per se auszugehen. In Anbetracht des oben formulierten Potenzials dieser Arbeit aus diagnostischer Sicht und mit Blick auf eine (auch zu einem späteren Zeitpunkt) gewünschte oder notwendig erscheinende Fortsetzung eines integrierten Prozessbogens erscheint es wesentlich, erhobene Daten angemessen zu dokumentieren. Allerdings müssten hierzu noch entsprechende Instrumente entwickelt werden.

Der Anteil Sozialer Diagnostik in den Übungen und Methoden von FreD Die praktische Durchführung des FreD-Kurses orientiert sich an dem Trainer*innen-Manual. Es enthält mehr als dreißig verschiedenen Übungen und Methoden, die zudem noch in verschiedenen Variationen existieren und angewandt werden können. Die Auswahl der passenden Methoden setzt fachliche Anforderungen und eine gute Methodenkenntnis der Trainer*innen voraus. Das Manual muss entsprechend der teils wechselnden Rahmenbedingungen

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und der vorhandenen Interessen, Fähigkeiten und Einlassungsbereitschaft der Teilnehmenden flexibel angewandt werden. Dies stellt einen hohen Anspruch an die Handlungssicherheit der Kursleitungen bei den Methoden. Im Folgenden werden ausschließlich die Methoden aus dem FreD-Manual beschrieben, die meiner Auffassung nach auch als Instrument der Sozialen Diagnostik verstanden werden können. Die Darstellung erfolgt dem in der Regel chronologischen Einsatz im Kursverlauf. Skalierungen Skalierungsfragen, deren Beantwortung durch Visualisierungen (Markierungen, Klebepunkte etc.) oder durch Aufstellungen im Raum verdeutlicht werden, werden im Kursverlauf gegebenenfalls mehrfach angewendet. Zu Beginn dienen die Fragen einer ersten Einschätzung der persönlichen Motivation für die Kursteilnahme, dem eigenen Konsummuster bzw. Verhalten im Zusammenhang mit Konsumsituationen und persönlichen Haltungen hierzu. Beispielhaft wird die Frage nach der Motivation zur Kursteilnahme mit folgender Skala erfragt: 1 bedeutet: »Ich bin mehr oder weniger an den Haaren hergeschleift worden.« 10 bedeutet: »Ich bin sehr gespannt auf den Kurs und das, was die anderen Teilnehmenden zum Thema Drogen zu sagen haben.«

Die Kursleitung und die anderen Teilnehmenden erfahren so die jeweils subjektiv empfundene Motivation und erhalten oftmals durch Nachfragen und eigene Erläuterungen bereits weitere Informationen zur individuellen Situation, die zur Teilnahme am Kurs geführt hat. Die Skalierungsfragen lassen sich bereits zu diesem Zeitpunkt so erweitern, dass man ausführlichere Kenntnisse von unterstützenden und/oder hemmenden sozialen Netzwerken erhält. Eine mögliche Frage, um die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken, wäre die nach der Unterstützung durch den Freundeskreis: Was halten deine Freunde davon, dass du am FreD-Kurs teilnimmst? 1 bedeutet: »Meine Freunde finden es vollkommen sinnlos, an dem Kurs teilzunehmen.« 10 bedeutet: »Meine Freunde finden es richtig und wichtig, dass ich dabei bin. (Der Kurs wurde mir bereits von meinen Freunden empfohlen.)«

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Den Teilnehmenden soll zu Beginn vor allem vermittelt werden, dass im Kurs eine (ziel-)offene Gesprächskultur existiert und jeder unabhängig von seiner Motivation und seiner Veränderungsabsicht akzeptiert wird. Trotz dieser beabsichtigten Zielsetzung wird durch die beiden Beispielfragen deutlich, worin der sozialdiagnostische Erkenntnisgewinn bestehen kann. Lizenz zur Neugierde Alternativ und/oder ergänzend zu den genannten Skalierungen können im Raum zwei Pole mit JA und NEIN markiert werden. Es werden Aussagen vorgelesen mit der Bitte, sich entsprechend der Zustimmung bzw. Ablehnung zu positionieren. Beispielhafte Aussagen sind: Ich gehe gern zur Schule/zur Arbeit. Ich höre gern elektronische Musik. Ich koche gern. Ich mache gern Sport. Ich bin zu Hause mit Geschwistern aufgewachsen. Ich lebe allein.

Die Kursleitungen beteiligen sich an den Übungen und motivieren die Kursteilnehmenden auch, selbst »neugierig« zu sein und eigene Aussagen zu erfragen. Hier ist die Dimension der Erkundung des Freizeitverhaltens angesprochen. Es kann z. B. auch deutlich werden, dass eine Teilnehmende nur sehr wenig Interessen oder Möglichkeiten hat, diese zu verfolgen. Die Kursleitung kann so weitere Informationen erhalten, die am Ende des Kurses in das abschließende Feedback (und eine mögliche Empfehlung für weitere Hilfen) einfließen, um eine erneute Eskalation im Zusammenhang mit Suchtmittelkonsum nachhaltig verändern zu können. Klaviermodell Das in der Suchtprävention bekannte Klaviermodell (Koller 2002) bedient sich einer vereinfachten Erklärungsform einer Suchtentstehung: Klaviertasten stellen die jeweils individuellen Ressourcen dar, auf die ein Mensch zurückgreifen kann, wenn er sich in Konflikt- oder Krisensituationen befindet. In der Regel stellt auch der Substanzkonsum eine solche Taste dar, was dann zum Problem werden kann, wenn keine anderen Klaviertasten belegt sind. Die Teilnehmenden werden daher aufgefordert, ihre persönliche »Klaviatur« zu beschreiben und mit Inhalt zu füllen.

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Was tue ich, um mich (auch ohne Substanzen) zu berauschen? Was und wie genieße ich? Was tue ich, wenn es mir schlecht geht?   …

Im Vergleich zu den zuvor genannten Übungen wird hier der Fokus auf konkrete durchgeführte Handlungen und damit verbundene Ressourcen zur Konfliktbewältigung gelegt. Sollten einzelnen Teilnehmenden keine oder kaum Ressourcen und Alternativen zur Verfügung stehen, ist dies zum einen eine wichtige Information im sozialdiagnostischen Sinne und zum anderen besteht die Möglichkeit, von den Nennungen der anderen Teilnehmenden zu »profitieren«. Eigenes Risikoprofil In den meisten Fällen haben riskante Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Suchtmittelkonsum zur Teilnahme am FreD-Kurs geführt. Daher ist die Beschäftigung mit dem eigenen Risikoprofil im Kursverlauf zentral. Diverse Übungen hierzu orientieren sich an dem suchtpräventiven Ansatz »risflecting« (Koller 2002). Um seine eigenen Strategien im Umgang mit Risiken zu verstehen, bedarf es zuerst der Differenzierung der Begriffe »Gefahr«, »Unsicherheit«, »Kick« und »Herausforderung«.

Abb. 2: Differenzierung des Risikobegriffs (LWL 2017, S. 141)

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Anhand einer Aufstellung in diesen Bereichen spüren die Teilnehmenden zuerst der eigenen Einstellung zum Begriff »Risiko« nach und können durch Leitfragen ihrem eigenen Risikoprofil einen Schritt näherkommen. Was bedeutet Risiko für mich? Wie habe ich riskante Situationen bewältigt? Habe ich schon Gefahrensituationen erlebt?   …

Den Teilnehmenden wird dabei durchgängig vermittelt, dass es nicht um eine Vermeidung von Risiko geht, sondern vielmehr um eine Risikooptimierung. Die Beschäftigung mit dem eigenen Risikoprofil ist dabei an die Life-CheckMethode angelehnt (Guzei 2002), bei der es unter anderem darum geht, die angewandten Risikostrategien in Beziehung zum jeweiligen sozialen Umfeld zu setzen. Diese Methode fragt also nach der Dynamik des Suchtmittelgebrauchs im Zusammenhang mit dem sozialen Umfeld. Auch dies liefert wertvolle Hinweise darauf, wie unter Umständen weiterführende Hilfen gestaltet sein müssen, um die Eigenreflexion nachhaltig zu unterstützen. Check Dich – selbstreflexives (Kommunikations-)Angebot Der vom Therapieladen Berlin entwickelte Test »Check Dich« wird in der Regel als Paper-Pencil-Version im Kurs an alle Teilnehmenden ausgeteilt. Die Bearbeitung dieses Tests dauert ca. 20 Minuten. Je nach Gruppenzusammensetzung und dem damit verbundenen Aufmerksamkeitsniveau kann diese Übung allerdings nur in Varianten oder auch gar nicht eingesetzt werden. Die Auswertung des Tests kann von den Teilnehmenden selbst vorgenommen werden und die Entscheidung, diese oder Teile daraus im Gruppengespräch zu veröffentlichen, liegt bei ihnen selbst. Die Botschaften, die während bzw. durch die Bearbeitung vermittelt werden, sind unter anderem: Informiere dich vielseitig und mach dir ein eigenes Bild! Du trägst die Verantwortung für deine Entscheidung! Es gibt keinen risikolosen Konsum. Es gibt Regeln für einen genussorientierten, weniger riskanten Konsum. Finde dein eigenes Maß für deinen Konsum. Sei dir bewusst, was deine persönlichen Motive des Konsums sind. Finde heraus, ob persönliche Unzufriedenheit dabei auf Dauer eine Rolle spielt.

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Insbesondere der Test-Abschnitt, der sich mit den persönlichen Motiven beschäftigt, kann zahlreiche sozialdiagnostische Erkenntnisse liefern, da die Selbstreflexion zu folgenden Bereichen angeregt wird: – – – – – – – – – – – – –

persönliche Stärken und Schwächen, Kontaktfreude, Gefühle wahrnehmen und zeigen, Krisenbewältigung, Familie, Freundschaft, Beziehungen, subjektives Gesundheitserleben, Genuss- und Entspannungsfähigkeit, Körperlichkeit und Sexualität, Schule, Beruf, Freizeit.

Lebenslinie – Konsumdiagramm Die Lebenslinie bzw. das Konsumdiagramm wird im Kursgeschehen immer wieder als eine wichtige, wenn nicht sogar als die zentrale Methode beschrieben. Dies gilt aus Sicht der Kursleitenden ebenso wie aus der Perspektive der Teilnehmenden. In einem Diagramm werden das Konsumverhalten und das Lebensalter auf zwei Achsen miteinander in Beziehung gesetzt. Die Auswertung bzw. die Reflexion darüber geschieht im Austausch mit der Gruppe. Auch hier – wie bei allen anderen Methoden auch – entscheiden die Teilnehmenden über das Einbringen oder auch das Zurückhalten von Informationen in die Gruppe. Die Erfahrung zeigt aber immer wieder, dass die gemeinsame Reflexion positiv bewertet wird und die Beteiligung daran sehr hoch ist. Auswertungsfragen, die variieren können, liefern Hinweise auf kritische und/oder positive Lebensereignisse und die jeweiligen Bewältigungsstrategien: – Gab es kritische Ereignisse im Leben und, wenn ja, welche? – Wie wurden diese gemeistert? – Ist zu erwarten, dass diese oder ähnliche Lebensereignisse wieder auftreten werden? (In der Regel verbunden mit Hochkonsumzeiten.)

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Aber auch: – Was waren die auslösenden Ereignisse dafür, dass die Lebenssituationen sich verbessert haben? – Was hat dazu beigetragen, dass es auch lange »angenehme« Phasen gab? (Oft in Phasen des risikoärmeren Konsums beschrieben.)

An dieser Methode wird gut deutlich, wie durch die Fragetechnik beeinflusst werden kann, welche Bereiche fokussiert werden, z. B. Ressourcen oder Belastungen, und welche »blinden Flecken« man betrachten möchte, z. B. Unterstützung oder Belastungen durch Familie, Selbstwert in Schule oder Ausbildung, Einbindung sozialer Netzwerke etc. Daher erfordert diese Methode entsprechende Erfahrung.

Abb. 3: Beispiel für ein Konsumdiagramm bzw. eine Lebenslinie (LWL 2017, S. 147; nach Krisenhilfe e. V. Bochum in Echtzeit)

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Veränderung des Konsums Generell versteht sich das FreD-Programm als ein zieloffenes Angebot in Bezug auf den Substanzkonsum. Dies bedeutet, die Entscheidung, ob jemand seinen Konsum verändern möchte oder nicht, und auch die Intensität einer möglichen Veränderung (von Beibehaltung über Reduktion bis hin zur Abstinenz) liegt bei den Teilnehmenden. Dabei kommt es aber oft vor, dass die Teilnehmenden bereits über Erfahrungen einer Konsumveränderung verfügen und sie erfolgreiche und weniger erfolgreiche Strategien diesbezüglich kennengelernt und ausprobiert haben. Anhand typischer Risiko- bzw. Belastungssituationen werden Strategien gesammelt und schriftlich strukturiert dokumentiert. Diese Sammlung wird allen Teilnehmenden am Ende des Kurses ausgehändigt und sie können diese nach Bedarf nutzen. Es verhält sich dabei wie mit einem Kleiderschrank – was mir gefällt und passt, nehme ich mir heraus, die anderen »Ratschläge« lasse ich hängen. Die Reflexion beschriebener Belastungssituationen lässt in der Reflexion bzw. in der Strategiesammlung weitere Schlussfolgerungen über die Lebenssituationen der Teilnehmenden zu. Daher können diese Ergebnisse so zu einer Sozialen Diagnostik beitragen: – – – – – –

Ein- bzw. Durchschlafstörungen, Umgang mit Substanzangeboten, Umgang mit Langeweile, depressive Episoden, Gereiztheit und Aggressionen, eigener Anspruch und Leistungsempfinden usw.

Lebenstank Wird die Methode des Lebenstanks (Lagemann 1992) in der Kursdurchführung ausgewählt, bietet man den Teilnehmenden die Möglichkeit, ihre persönlichen »(Lebens-)Tankstellen« zu beschreiben. Um sich diesen positiven Tankstellen zu nähern, erhalten die Teilnehmenden ein Arbeitsblatt mit einem Tankstellenmodell und die Fragestellungen: – Was oder wer sind deine Tankstellen? – Wo finde ich diese Tankstellen? – Wie kann ich dort auftanken?

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In der Reflexion kann sich zeigen, dass manche Tanks sehr gut gefüllt sind bzw. sich gut betanken lassen, andere wiederum nicht. Manchmal werden »Spritquellen« auch als versiegt beschrieben, obwohl man weiterhin dort auftanken möchte. Es kann auch sein, dass hier Aspekte erstmals benannt werden, die bislang nicht zur Sprache kamen, z. B. die eigene Spiritualität. Da das Lebenstankmodell sehr vielschichtige Dimensionen beleuchtet, wird es teilweise auch schon früh in den Kurs eingebaut, da die Erkenntnisse gute Anknüpfungspunkte für die Kursleitung und den weiteren Kursverlauf bieten. In Bezug auf Soziale Diagnostik können hier wertvolle Hinweise auf Ressourcen der Teilnehmenden gewonnen werden, die für sich allein stehen, aber auch zur Bewältigung von schwierigen Lebenssituationen eingesetzt werden können. Auch können solche Ressourcen den Teilnehmenden erst in der Reflexion deutlich werden und so kann die Exploration auch bereits eine Intervention sein. Risikowege Ähnlich wie die Methode »Risikoprofil« (siehe S. 83 f.) baut auch diese Übung auf dem Life-Check-Modell nach Michael Guzei (2007) auf. Die Teilnehmenden sollen dabei verschiedenen Risikozitaten nach ihrem Empfinden sechs verschiedenen Risikostrategien zuordnen. Die sechs Strategien bilden dabei eine Skala von Abstinenz, Minimierung, unüberlegtem Risiko, Flow, Kick und Missbrauch. Nach einer ausführlichen Diskussion darüber werden die Teilnehmenden aufgefordert, sich selbst einer Risikostrategie zuzuordnen, derer sie sich am nächsten sehen. Die anschließende Reflexion kann dabei z. B. Fragen aufwerfen: – Ob und wie ändert sich persönliches Verhalten (Risikostrategien) in Abhängigkeit zur eigenen Stimmungslage? – Wie ist das Eingehen von Risiken oder auch das Vermeiden durch Freundeskreise beeinflusst?

Das Potenzial Sozialer Diagnostik liegt auch hier in der Möglichkeit der Explo­ ration von Zusammenhängen zwischen persönlichen Kognitions-Emotionsbzw. Verhaltensmustern und sozialen Situationen. Gleichzeitig ermöglicht die Exploration auch hier eine Reflexion, insbesondere dann, wenn diese auch von anderen Gruppenteilnehmenden geteilt wird.

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Lebenspyramide Die Lebenspyramide nach Schindler (LWL 2017) ist mit ungefähr 40 Minuten Bearbeitungszeit eine der zeitintensivsten Übungen im Kursverlauf und eher am Ende des Kurses angesiedelt. Die Teilnehmenden nehmen sich die Zeit, um eine grafisch dargestellte Pyramide in den verschiedenen Ebenen zu befüllen. Die vier Ebenen sind dabei – Unterste Ebene: Was habe ich in meinem Leben schon erreicht? Was ist meine »Basis« auf der mein Leben aufbaut? Was ist mir wichtig? – Zweite Ebene: Was sind meine nächsten Schritte und Ziele? – Dritte Ebene: Was möchte ich irgendwann erreichen? – Oberste Ebene/Spitze: Was wäre mein allergrößter Wunsch?

In dieser Übung ist es explizit erwünscht, dass die Teilnehmenden sich untereinander eine Rückmeldung geben, zumal sie sich zum Zeitpunkt der Übung schon gut kennengelernt haben: – – – –

Wie erleben Sie die Ziele? Sind diese realistisch? Gibt es Tipps, wie die Ziele zu erreichen sind? Was möchte man den Teilnehmenden mit auf den Weg geben?

Diese Übung leitet in der Regel auch in den Abschluss des Kurses ein, indem auch die Kursleitung ein auf dem im Kurs Erfahrenen und Erlebten beruhendes Feedback gibt. Im Zusammenhang mit Sozialer Diagnostik ist hier die Benennung von Zielen auf unterschiedlichen Zeit- und Inhaltsebenen aus der Perspektive der Teilenehmen selbst besonders relevant. Abschluss – individuelle Outtake-Gespräche In Abgrenzung zum Abschluss in der Gesamtgruppe (vgl. S. 80) wird an dieser Stelle auf den Abschluss im Rahmen eines strukturierten Outtake-Gesprächs eingegangen. Wenn entsprechende Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, bieten sich Outtake-Gespräche an, die folgende strukturierten Inhalte behandeln: – Rückmeldung der*des Teilnehmenden zum Kursverlauf: Gab es als besonders wichtig erlebte Themen? Wie war ihr*sein subjektives Empfinden (Gefallen/ Nicht-Gefallen) bezüglich der Kursinhalte?

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– Austausch über die bekanntgewordenen Beziehungen zu den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten und den Geschwistern sowie weiteren Familienangehörigen; – schulische Einbindung und Entwicklung; – Vorhandensein von Interessen und Freizeitaktivitäten; – Substanzkonsum bzw. das Konsummuster und das persönliche Risikoprofil; – subjektive und ressourcenorientierte Rückmeldung der Kursleitung zum Verhalten des*der Teilnehmenden im Kurs; – Skizzierung möglicher weiterführender (Hilfe-)Angebote intern und extern.

Aus der Perspektive Sozialer Diagnostik haben diese Gespräche das Potenzial der Formulierung einer sozialen Diagnose mit Hinweisen darauf, was unter Berücksichtigung von Schwierigkeiten und Ressourcen weitere Wege sein könnten, das Erreichte zu stabilisieren bzw. weitere Veränderungen z. B. durch Vermittlung in weiterführende Hilfen und unter Nutzung des Potenzials eines integrierten Prozessbogens anzugehen. Spätestens nach dem Outtake-Gespräch bzw. in begründeten Ausnahmefällen nach drei Outtake-Gesprächen endet das FreD-Programm. Dieses definierte und auch von Beginn an kommunizierte Ende ist wichtig, um den Charakter der Kurzintervention beizubehalten. Den Teilnehmenden werden je nach Bedarf und (sozialdiagnostischer) Einschätzung der Kursleitung zwar weitere Hilfsangebote unterbreitet, diese sind aber dann nicht mehr Bestandteil des FreD-Programms. Auch hier bietet sich der »Kleiderschrank« als Bild an: Die Teilnehmenden bekommen am Kursende Angebote »in den Schrank gehängt«, was sie aber anziehen wollen, ihnen passt und ihren Geschmack trifft, entscheiden sie selbst. Die vertrauensvolle Arbeitsbeziehung aber bleibt und bei Bedarf können die Teilnehmenden daran zu einem späteren Zeitpunkt wieder anknüpfen und weitere Hilfen in Anspruch nehmen (integrierter Prozessbogen).

Fazit Nachdem nun die Elemente des FreD-Programms erstmals auf die Funktion der Sozialen Diagnostik hin betrachtet wurden, bestätigt sich die Annahme, dass ein nicht unerheblicher Anteil des Programms die Merkmale und die Funktion Sozialer Diagnostik erfüllt. Anhand der ausgewählten Methoden und Übungen kann eindeutig bejaht werden, dass diese die Entstehung des jeweiligen Substanzgebrauchs vor dem biografischen Hintergrund und der aktuellen Situation betrachten. Die Arbeit mit den Teilnehmenden findet reflexiv,

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prozessorientiert und dialogisch sowie partizipativ statt. Die so gewonnenen Erkenntnisse münden in ein qualifiziertes individuelles Feedback an die jeweiligen Teilnehmenden und der Ableitung möglicher weiterführender externer oder interner (Hilfs-)Angebote. Es empfiehlt sich im Sinne einer fachlichen Optimierung des FreD-Programms, zukünftig die Soziale Diagnostik als ein Kernelement im Trainer*innenmanual zu beschreiben, entsprechend in den Zertifikatsschulungen zu vermitteln und die genannten Methoden und Übungen als Instrumente der Sozialen Diagnostik weiterzuentwickeln. Es kann ebenfalls sinnvoll sein, die Dokumentation der erfassten Beobachtungen, Ergebnisse und Erkenntnisse im Kursverlauf zu standardisieren und den Trainer*innen dies für die Begründung ihres Feedbacks als Hilfestellung an die Hand zu geben. Offen und in diesem Zusammenhang noch zu bearbeiten sind die Fragen der Datenspeicherung und Weiternutzung der diagnostischen Ergebnisse sowie die Möglichkeit, daran bei Wunsch oder Bedarf aus Sicht der Klient*innen anzuknüpfen. Um die entstandene vertrauensvolle Arbeitsbeziehung diesbezüglich weiter nutzen zu können, bedarf es der Möglichkeit, Ressourcen für eine Weiterbegleitung im Sinne eines integrierten Prozessbogens durch die FreD durchführenden Personen selbst oder eine begleitete Weitervermittlung verlässlich zur Verfügung stellen zu können.

Literatur Guzei, M. (2002): Die Life Check-Methode. Risikotypen. In: G. Koller/N. Rögl: Risflecting. Grundlagen, Statements und Modelle zur Rausch- und Risikopädagogik. Salzburg. Guzei, M. (2007): Life Check. Risikostrategien bestimmen unsere Lebensqualität. In: J. Einwangerer (Hg.): Mut zum Risiko. Herausforderungen für die Arbeit mit Jugendlichen (S. 129– 138). München. Hansjürgens, R. (2018): »In Kontakt kommen«. Analyse der Entstehung einer Arbeitsbeziehung in Suchtberatungsstellen. Baden-Baden. Koller, G./Rögl, N. (2002): Risflecting. Grundlagen, Statements und Modelle zur Rausch- und Risikopädagogik. Salzburg. Lagemann, C. (1992): Das Tankmodell ein Erlebnisrahmen für die Suchtprävention. In: Feldkircher Gespräche für Suchtprävention. Tagungsbroschüre. Feldkirchen. Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) (Hg.) (2017): Handbuch FreD-Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten (4. Aufl.). Bönen. Tov, E./Kunz, R./Stämpfli, A. (2013): Schlüsselsituationen in der Sozialen Arbeit. Bern.

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Autoreninformation Frank Schulte-Derne, Sozialpädagoge, Medienpädagoge, risikopädagogischer Begleiter (risflecting©), FreD-Trainer, langjährige Tätigkeit in der Suchtprävention und der ambulanten Suchthilfe mit Schwerpunkt Jugendliche und junge Erwachsene, ist aktuell tätig als Fach- und Organisationsberater in der LWLKoordinationsstelle Sucht in Münster; dortige Arbeitsschwerpunkte: Kommunale Suchthilfeplanung, Entwicklung und fachliche Organisation von Fort- und Weiterbildung, (Weiter-)Entwicklung von Modellprojekten der Suchthilfe und Suchtprävention auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Kontakt: [email protected]

8 Der Sozialbericht als Instrument Sozialer Diagnostik in der Suchtberatung? Rita Hansjürgens

Zur Erstellung einer Sozialen Diagnose im Handlungsfeld Sozialer Arbeit in der Suchthilfe sind aus fachlich inhaltlicher Perspektive neben den hier beschriebenen auch weitere Konzepte und Instrumente geeignet, wie sie z. B. in aktuellen Sammelbänden zur Sozialen Diagnostik grundsätzlich und für einzelne Anwendungsbereiche spezifisch beschrieben werden (Buttner/­ Gahleitner/Hochuli Freund/Röh 2018a; Pantuček-Eisenbacher 2019). Auch für den Kontext Sucht existieren exemplarische Anwendungen. Diese beziehen sich im Wesentlichen auf den Kontext von Rehabilitation und Psychiatrie, in dem Fachkräfte der Sozialen Arbeit die Rolle von »Suchttherapeuten« einnehmen (Deimel/Deloie 2017; Deloie/Deimel 2017; Laging 2018). Ebenfalls wurden (sozial-)diagnostische Kompetenzen von Fachkräften Sozialer Arbeit, die in Settings von Suchthilfe arbeiten, im Rahmen von Kompetenzbeschreibungen als notwendig und funktional erachtet (Deloie 2015; Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe 2016). Welche konkreten Instrumente zur Erstellung Sozialer Diagnosen aus der fachlichen Perspektive Sozialer Arbeit für die inhaltliche Arbeit in den verschiedenen Arbeitsbereichen Sozialer Arbeit in der Suchthilfe jedoch genau Anwendung finden, lässt sich aktuell schwer beurteilen, da diese an keiner Stelle rechtlich normiert sind. Hier besteht Forschungsbedarf (vgl. Röh in Kap. 1). Obwohl im derzeitigen sozialadministrativen Bedingungsgefüge der Suchthilfe keine Ressourcen dafür vorgesehen sind (vgl. Hansjürgens in Kap. 2), wird hier die These vertreten, dass insbesondere in Suchtberatungsstellen Soziale Diagnostik faktisch stattfindet. Es existiert sogar ein Instrument, das aus der administrativen Perspektive von Leistungsträgern sowohl eine Verbindlichkeit besitzt, wenn Leistungen zur Rehabilitation (Deutsche Rentenversicherung Bund 2013) oder zur Eingliederung beantragt werden sollen, als auch eine gewisse Anschlussfähigkeit an fachliche Perspektiven Sozialer Diagnostik hat. Die Rede ist vom sogenannten Sozialbericht, der nachfolgend mit der sozialarbeiterisch fachlichen Brille der Möglichkeiten

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und Grenzen Sozialer Diagnostik näher betrachtet werden soll, um somit die Möglichkeiten, aber auch die fachlichen Grenzen dieses Instrumentes analysieren zu können.

Der Sozialbericht in der Praxis Sozialer Arbeit in der Suchtberatung Der Sozialbericht ist ein Instrument zur Erhebung einer Sozial- und Suchtanamnese. Seine Erstellung ist Teil des Verfahrens zur Beantragung einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation im stationären oder im ambulanten Kontext (Deutsche Rentenversicherung Bund 2013). Die darin enthaltenen »Anregungen« zu »Art, Ort, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung der Entwöhnungsbehandlungen« (Deutsche Rentenversicherung Bund 2013, S. 4) sollen bei der Bewilligung der Leistung berücksichtigt werden. Zusammen mit dem ärztlichen Gutachten über die Notwendigkeit einer medizinischen Rehabilitation und der suchtmedizinischen Prognose bildet der Sozialbericht letztendlich die fachliche Grundlage für die Entscheidung zur Bewilligung einer medizinischen Rehabilitation. Hierin begründen sich Aufwand und Notwendigkeit seiner Erstellung. Seine Erstellung ist nicht frei, genauso wenig wie das ärztliche Gutachten, sondern erfolgt »auf Vordruck« (Deutsche Rentenversicherung Bund 2013, S. 4), was auf eine Standardisierung der zu erhebenden Datenkategorien hinweist. Über die Entstehung des Sozialberichtes, insbesondere darüber, wer unter welchen Aspekten die Kategorien festgelegt hat und wie sie in das Verfahren eingegangen sind, ist nur wenig bekannt. Vermutet wird, dass es Sozialarbeitende waren, die durch ihre Expertise zur Standardisierung dieses Prozesses beigetragen haben. Festzuhalten ist, dass es in keinem anderen Bereich der medizinischen Rehabilitation ein solches Verfahren gibt, an dem explizit Suchtberatungsstellen (in denen zu einem überwiegenden Anteil Sozialarbeitende beschäftigt sind), Soziale Dienste (z. B. in Krankenhäusern oder sozialpsychiatrischen Diensten) oder – wie es in den Richtlinien der Deutschen Rentenversicherung Bund (2013, S. 19) heißt – »vergleichbare psychologische Dienste« in dieser Weise an der Beantragung einer Leistung beteiligt werden. Es ist zu vermuten, dass durch diese exklusive Stellung der in den Vereinbarungen genannten Dienste (Suchtberatung, soziale oder vergleichbare psychologische Dienste) die Qualität der Berichte sichergestellt werden soll, denn es ist nicht bekannt, dass Sozialberichte von anderen als den genannten Diensten als gleichwertig anerkannt werden.

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Auch wenn es immer wieder Bestrebungen gab und gibt, eine sogenannte Direktverlegung unter Umgehung der Suchtberatungsstellen zu etablieren,1 ist dieser Verfahrensweg doch bis heute überwiegend geübte Praxis. Über 55 % der Vermittlungen in stationäre Rehabilitation erfolgten im Berichtsjahr 2018 aus Suchtberatungsstellen und 17 % aus Allgemein- und psychiatrischen Krankenhäusern, bei denen davon ausgegangen wird, dass ein sozialer Dienst an der Vermittlung mit Erstellung des Sozialberichtes beteiligt war. Trotz dieser in der Praxis wichtigen Stellung des Sozialberichtes wird er eher selten als diagnostisches Instrument bezeichnet. Seine Ergebnisse sollen zwar in die Beurteilung des medizinischen Dienstes der Rehabilitation einfließen, müssen es aber nicht. Insofern kann hier formal von einer Zuarbeit zur medizinischen Diagnostik gesprochen werden. Nebenbei sei angemerkt, dass im Unterschied zum medizinischen Gutachten diese Leistung nicht in allen Fällen mit den Beauftragenden, den Trägern der Rentenversicherung, abgerechnet werden kann, sondern als von Suchtberatungen zulasten der kommunalen Daseinsvorsorge als Zuarbeit erwartet wird. Möglicherweise trägt diese mangelnde Wertschätzung sowohl in administrativer als auch in finanzieller Hinsicht dazu bei, dass die Erstellung von Sozialberichten zu einem verwaltungstechnisch administrativen Akt werden kann, der manchmal »am Fließband« geleistet wird und bei dem sich aus Effizienzgründen vonseiten der Träger der Suchtberatungsstellen und des Krankenhaussozialdienstes die Frage stellt, warum dies von teureren Sozialarbeitenden und nicht von Verwaltungsmitarbeitenden geleistet werden sollte. Die Begründung könnte aus meiner Sicht darin liegen, dass es bei der Erstellung des Sozialberichts weit über eine administrative Tätigkeit hinausgeht und es sich um eine voraussetzungsvolle diagnostische Aufgabe handelt, deren Gelingen den Erfolg einer Rehabilitationsmaßnahme beeinflussen kann, wenn sie fachlich ausgeführt wird und die Ergebnisse angemessene Berücksichtigung finden. Aus diesem Grund soll nachfolgend der Frage nachgegangen werden, inwieweit es sich bei der Erstellung des Sozialberichts um Soziale Diagnostik handelt, bei der die explizite Erhebung der Sichtweise der Klient*innen eine wichtige Rolle spielt. Die Überlegungen zum gelingenden Beitrag für einen Rehabilitationsantritt auf der Basis einer Veränderungsbereitschaft (Kooperation) gründen in der Vermutung, dass die gemeinsame Erstellung/ Erarbeitung des Sozialberichts als Soziale Diagnostik durch Fachkräfte der Sozia1

Der Versuch zu überprüfen, ob z. B. eine Direktverlegung aus Hausarztpraxen als Veränderung des sog. Behandlungspfades etabliert werden kann, kann als grundlegend gescheitert beschrieben werden (vgl. Fankhänel/Klement/Forschner 2014).

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len Arbeit und Klient*innen die Entstehung bzw. Verstetigung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung ermöglicht. Denn eine Untersuchung der Möglichkeit zur Verlegung des Behandlungspfades in die hausärztliche Praxis mit dem Ziel des »Bürokratieabbaus« und der »effizienteren« Gestaltung des Antragsverfahrens auf Grundlage eines objektiven Screeninginstruments hat ergeben, dass dies derzeit als nicht funktional einzuschätzen ist (Fankhänel/Klement/ Forschner 2014). Explizit wird in dieser Studie davon ausgegangen, dass das Ergebnis im Zusammenhang mit der Beziehungsgestaltung zwischen Ärzt*innen und Patient*innen steht. Demgegenüber steht das Ergebnis der qualitativen Studie zur Entstehung einer Arbeitsbeziehung (Hansjürgens 2018, 2019c), die zeigt, dass insbesondere die Würdigung der Konstruktionen und Narrativen der Klient*innen (also der subjektive Zugang) die Entstehung von Vertrauen begünstigt. Eine Soziale Diagnostik hat das Potenzial, diese Schwierigkeit zu überwinden, weil sie beide Anteile enthält (s. Hansjürgens in Kap. 2). Insofern stellt sich die Frage, ob und, wenn ja, inwieweit der Sozialbericht unter diesen Vorzeichen mehr sein kann als eine administrative Zuarbeit für Rehabilitation Sucht.

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Grundelemente Sozialer Diagnostik Um eine solche Analyse vornehmen zu können, werden zunächst Kriterien dargestellt, die im Fachdiskurs Soziale Arbeit als konstitutiv für eine soziale Diagnose oder auch psychosoziale Diagnostik2, wie sie in ihrer Anfangszeit genannt wurde, gesehen werden und die sich von anderen Formen der Diagnostik abgrenzen. Diese werden nachfolgend im Anschluss an Maja Heiner entwickelt, deren explizites Anliegen es war, sozialarbeiterische Tätigkeiten an entsprechende Fachdiskurse anschlussfähig zu machen und damit eine Profes-

2 Die Begriffe »soziale Diagnostik« und »psychosoziale Diagnostik« werden hier synonym gebraucht. »Soziale Diagnostik« schließt an den historisch geprägten Begriff von Mary Richmond und Alice Salomon (vgl. Buttner/Gahleitner/Hochuli Freund/Röh 2018b) an, während der Begriff »psychosoziale Diagnostik« auf den inhaltlichen Zusammenhang zwischen psychologischer und sozialer Situation fokussiert, sich aber von einer psychologischen Diagnostik abgrenzt.

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sionalisierung als eigenständige Leistung von Fachkräften Sozialer Arbeit zu ermöglichen, indem sie wissen und beschreiben können, was sie tun (Bolay/ Iser/Weinhardt 2015). In diesem Verständnis liegt »[d]ie psychosoziale Diagnostik […] quer zu den zentralen Grundrichtungen der psychologischen Diagnostik und stellt eine spezifische Mischung der Elemente der Selektions- und Klassifikationsdiagnostik einerseits und der Modifikationsdiagnostik andererseits dar.« (Heiner 2001, S. 255) Selektionsdiagnostik dient dazu, verschiedene theoretisch oder konzeptionell beschriebene Kategorien einem Fall zuzuordnen und voneinander zu unterscheiden und verschiedene Zustände mit z. B. Armut, Wohnungslosigkeit, alleinerziehend usw. zu identifizieren. Eine Klassifikationsdiagnostik ordnet diese Begriffe einem Klassifikationssystem zu bzw. dort ein. Im Zusammenhang mit Sucht und ggf. Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) ist hier z. B. die Zuordnung zum Klassifikationssystem der International Classification of Diseases (ICD 10/11) oder das Klassifikationssystem der International Classi­fication of Functioning (ICF) von Bedeutung. Diese Einordnungen dienen in der Regel der professionellen, aber auch der interprofessionellen Verständigung, im Fall des ICD 10 auch der Legitimation zur Generierung von (Behandlungs-)Ressourcen aus den Sozialgesetzbüchern V, VI und XII. Eine solche Diagnose im Rahmen der ICD 10 zu stellen und im Rahmen der Kostenerstattung auch anerkannt zu bekommen, ist den Berufsgruppen der Ärzt*innen und approbierten Psycholog*innen vorbehalten. Eine Modifikationsdiagnostik formuliert und beschreibt Sachverhalte, die aus Sicht der Klient*innen und/oder anderer Akteur*innen im Fall (z. B. Familie, Jobcenter, Arbeitgeber usw.) verändert bzw. modifiziert werden sollen. Dies wird in der Regel als »Auftrag« beschrieben. Um der Spezifität dieser Mischung der genannten Formen von Diagnostik als Sozialer Diagnostik gerecht werden zu können, ergeben sich aus Sicht der Sozialen Arbeit, deren zentrales Anliegen Empowerment und Ermöglichung von Teilhabe (Partizipation) ist, Anforderungen an die Bedingungen zur Durchführung. Maja Heiner (2001, S. 523) postuliert in diesem Zusammenhang: 1. Klient*innen sollen als Partner*innen auf Augenhöhe begriffen werden, die Einfluss auf diagnostische Prozesse nehmen können und sollen, damit partizipativ angelegte Prozesse auch für die Phase der Diagnostik möglich werden. 2. (Psycho-) Soziale Diagnostik soll ein facettenreiches, ressourcen- und entwicklungsorientiertes Bild von Klient*innen, der Situation und den Aufgaben ermöglichen und nicht auf einen oder wenige Aspekte reduzieren.

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3. Ergebnisse (psycho-) Sozialer Diagnostik sollen explizit hypothetisch und vorläufig formuliert sein, um dauerhafte Selbstzuschreibung und daraus folgende Stigmatisierungen zu vermeiden. Darauf aufbauend formuliert Heiner »Prinzipien« oder auch »Gütekriterien« als fachliche Orientierungsmarken: Verfahren (psycho-) Sozialer Diagnostik sollen 1. partizipativ, 2. sozialökologisch, 3. mehrperspektivisch und 4. reflexiv sein (Heiner 2001, S. 258 ff.). Die Funktionen einer Diagnose von Selektion, Klassifizierung und Modifikation weiter differenzierend, schlägt sie als Ordnungssystem für eine Diagnostik in der Sozialen Arbeit vor, zwischen Orientierungsdiagnosen, Zuweisungsdiagnosen, Gestaltungsdiagnosen und Risikodiagnosen zu unterscheiden (Heiner 2011, S. 243 ff.). Für die verschiedenen Funktionsebenen können unterschiedliche Instrumente eingesetzt werden. Die Unterscheidung ergibt sich für sie aus der unterschiedlichen Ausprägung der Merkmale zur Reichweite der Aussagen, die sich aus der Zahl der kategorisierten Phänomene ergibt, und dem Präzisionsgrad der Kategorien. Während eine Orientierungsdiagnostik versucht, möglichst breit die Phänomene zu erfassen (z. B. biografische Interviews), und die Aussagekraft zur Präzision der Kategorien eher unscharf bleibt, verhält es sich bei der Risikodiagnostik genau andersherum (z. B. Screeningverfahren zu Suizidalität, Abhängigkeit oder zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung). Zuweisungs- und Gestaltungsdiagnosen liegen im mittleren Bereich von Reichweite und Präzision und fokussieren auf Fragen der weiteren Beteiligung anderer Akteure oder auf die Formulierung von Zielen der Zusammenarbeit. Möglichkeiten des Sozialberichts als Instrument Sozialer Diagnostik Wenn nun die Erstellung des sogenannten »Sozialberichts« unter der Folie von sozialer Diagnostik betrachtet wird, so ergibt sich folgendes Bild: Im Sozialbericht sollen unter anderem folgende Daten erfasst und teilweise in offenen Kategorien beschrieben und präzisiert werden: Ȥ aktuelle familiäre Situation und Einbindung in ein ärztliches Versorgungsnetz, Ȥ aktuelle Wohnsituation und familiäre Verhältnisse, Ȥ Vorbehandlung der Sucht, Ȥ Anamnese der Entwicklung der Sucht, Ȥ sogenannte Sozialanamnese, bestehend aus der Erhebung der Familiengeschichte und persönlichen Entwicklung, aus einer Beschreibung des sozialen Umfeldes, des schulischen und beruflichen Werdegangs,

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Ȥ mögliche Hinderungsgründe für eine Suchtbehandlung (z. B. offene Strafverfahren), Ȥ aktuelle Einbindung in suchtbezogene oder andere Hilfen, Einbindung des sozialen Umfeldes, Ȥ ein Hilfebedarf aus Sicht des*der Beratenden, Ȥ Vorschläge zu geeigneten Rehabilitationsformen bzw. -kliniken, Ȥ Wünsche des*der Klient*in erfassen (Deutsche Rentenversicherung Bund 2013, S. 20). Diese Kategorien entsprechen insofern den oben aufgeführten Postulaten Maja Heiners zur Sozialen Diagnostik, als dass sie multiperspektivisch und auch sozialökologisch (d. h. Wechselwirkungen berücksichtigend) und in Bezug auf Zielentwicklung und Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechtes bei der Auswahl der Rehabilitationseinrichtung zumindest teilweise partizipativ genannt werden können. Aus der fachlichen Sicht Sozialer Diagnostik wären jedoch noch mehr oder andere Kategorien denkbar und auch wünschenswert (vgl. Hansjürgens in Kap. 2), um ein genaueres Bild der Person, welche einen problematischen Suchtmittelkonsum entwickelt hat, in ihrer Umwelt (Person in Environment) erhalten zu können. Darüber hinaus kann eine solche Erhebung auch eine reflexive Orientierung entwickeln, da sie entsprechende Prozesse bei Klient*innen anregen kann. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sie gemeinsam im Gespräch mit Klient*innen explizit dialogisch geschieht und nicht nach Aktenlage oder als verwaltungslogisches, rein auf Abfrage zielendes Antragsprozedere im Akkord erfolgt. Ob die gemeinsame Erarbeitung eines Sozialberichts von Klient*in und Fachkraft jedoch auch partizipativ genannt werden kann, hängt noch wesentlicher davon ab, auf welche Art und Weise diese diagnostischen Erhebungsgespräche verlaufen. Hierbei spielen zum Beispiel Sich-Zeit-Nehmen und Zeit-Haben genauso eine wesentliche Rolle wie die emotionale Zugewandtheit der Fachkraft zu dem*der Klient*in. Diese ist entscheidend, da die abgefragten Kategorien biografische Reflexionen auslösen, die sich in narrativen Bildern und Emotionen zeigen können, die von Klient*innen nicht immer sofort und auf Kommando linear zu beschreiben und verbalisieren sind. Im Gegenteil bedarf es hier eines feinfühligen Nachspürens und der vorsichtigen Formulierungsangebote für diese Bilder und Emotionen. Der im Fachkontext dafür häufig verwendete Terminus heißt »sich öffnen«. Diese offenen Verbalisierungen stellen die Klient*innennarrative dar, die in diesem Rahmen eine explizite Würdigung erfahren und nicht vorschnell in ein Kategorienschema ein- bzw. diesem Schema untergeordnet werden. Es wird vermutet, dass es – wenn die Erhebung

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auf diese Art und Weise geschieht – genau diese Elemente sind, die eine implizite Bewertung der Interaktion mit Vertrauen evozieren und in der Verdichtung eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung verstetigen können. Die partizipative Ausrichtung ist darüber hinaus ein zentrales Merkmal einer Sozialen Diagnostik aus fachlicher Perspektive Sozialer Arbeit und zwar nicht nur als fachliches Postulat, sondern aus funktionaler Sicht, damit Klient*innen sich authentisch »öffnen« (können). Dies wird gerade im Suchtbereich auch in internationaler Perspektive als besonders bedeutsam eingeschätzt (vgl. Galvini 2013; Mancini 2013). Erst dieses »Sich-Öffnen« führt dazu, dass der Schritt von einem »Bericht« zu einer »Diagnose« gemacht und somit seine volle Wirkung mit Blick auf die Gatekeeping- und Lotsenfunktion von Suchtberatung (Hansjürgens 2019b) im Feld der Suchthilfe entfaltet werden kann. Die Bedeutung dieses Unterschiedes liegt darin, dass erst durch eine »Diagnose« in diesem Kontext die Motivation zur Annahme von suchttherapeutischer Hilfe entsprechend gestärkt und Ziele der Behandlung formuliert werden im Sinne eines »Ins-Wort-Bringens«3. Auf dieser Basis kann für den*die Klient*in die passende Hilfe (in Form einer Rehabilitationseinrichtung) vorgeschlagen werden, wie es zum Ende des Berichtes gefordert ist. Weiter wird davon ausgegangen, dass »ganz nebenbei« dieser Prozess das Entstehen einer »vertrauensvollen Arbeitsbeziehung« (Hansjürgens 2019c) fördert, an die nach Beendigung der Maßnahme wieder angeknüpft werden kann, wenn es um Wiedereingliederung in den Alltag geht. Jedoch stellt die Gestaltung eines sozialen Raums, der das Entstehen (nicht die Herstellung) einer solchen Arbeitsbeziehung ermöglicht, ein komplexes Geschehen dar und ist eine recht voraussetzungsvolle Tätigkeit (Hansjürgens 2018, 2019a). In Bezug auf den Beitrag des Sozialberichtes für einen Rehaerfolg bzw. die Rehazufriedenheit zeigen Hinweise aus der Reha-Forschung, dass insbesondere die Elemente einer partizipativen Entwicklung von Rehabilitationszielen als auch deren Weiterentwicklung innerhalb der Rehabilitation den Rehabilitationserfolg sowie dessen Nachhaltigkeit befördern. Demgegenüber wird der Rehaerfolg durch eine rein formal anmutende Thematisierung von Rehazielen der Klient*innen nur zum Zwecke der Dokumentation gefährdet, wenn z. B. alle Patient*innen vorher bereits feststehende »Programme« durchlaufen sollen. Diese Art der Unterordnung von individuellen Zielen unter ein vorher fest3 Dies ist insbesondere bei den Klient*innen von Bedeutung, die es aufgrund ihrer Sozialisation oder biopsychischen Ausstattung (z. B. angeborene oder erworbene kognitive und verbale Einschränkungen) nicht gewohnt sind und denen es entsprechend schwer fällt, entsprechende Ziele über »ich will aufhören« hinaus zu formulieren.

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stehendes Programm hat auch negative Auswirkungen auf die Compliance4 von Rehabilitand*innen (Meyer 2014, S. 279 f.). Somit wird deutlich, dass der Sozialbericht die Funktionen einer Sozialdiagnostik mindestens im Kontext der Zuweisung als auch der Gestaltung in Bezug auf die partizipative Formulierung von Rehabilitationszielen durch ein durch die Fachkraft Sozialer Arbeit unterstütztes »In-Worte-Fassen« nicht nur formal erfüllt, sondern dass dies für die weitere Kooperation in der Rehabilitation und deren Nachhaltigkeit eine bedeutsame Funktion erfüllt. Auch hier besteht allerdings weiterer Forschungsbedarf. Es liegt gleichzeitig nahe, dass der Sozialbericht die Funktionen einer grundlegenden Orientierungsdiagnostik und einer Risikodiagnostik nicht zu erfüllen vermag. Grenzen des Sozialberichts als Instrument sozialer Diagnostik Kritisch ist anzumerken, dass dieses Instrument des Sozialberichts primär auf der administrativen Vorgabe eines Leistungsträgers beruht. Deshalb reagiert es im »Feintuning« eher auf dessen Informationsbedarfe in Bezug auf die Leistungsbewilligung (z. B. die im Verhältnis zu anderen Kategorien sehr detaillierte Erhebung der beruflichen Situation und Anstellungsverhältnisse) und das Leistungscontrolling (im Vorfeld der Leistung zu erhebende Rehabilitationsziele aus Sicht der Fachkraft). Dies verengt den diagnostischen Blick auf die Gesamtsituation des*der Klient*in. Mit Blick auf den Zeitpunkt der Erhebung, nämlich erst nachdem der*die Klient*in sich für eine Rehabilitation entschieden bzw. dies als Behandlungsoption nicht ausgeschlossen hat und auch aus formalen Gründen (z. B. wegen der Anzahl der versicherungspflichtig gearbeiteten Tage) für eine solche Maßnahme infrage kommt, stellt sich die Frage, in welchem Rahmen eine solche Diagnostik überhaupt erwünscht ist. Da sie sich jedoch bis heute als Verfahren zur Vorbereitung der suchtrehabilitativen Maßnahme bewährt zu haben scheint, ist von einer gewissen Effizienz und auch Sinnhaftigkeit dieser Erhebung auszugehen. Dennoch stellt diese Konstellation aus inhaltlicher sozialer Diagnostik und notwendiger vorgelagerter Entscheidung für eine feststehende Maßnahme (Rehabilitation) mit Blick auf die Entwicklung einer Arbeitsbeziehung eine eher ungünstige Vermischung dar, da sie dazu führen kann, dass diese sich in 4 Mit Compliance ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass die Kooperationsbereitschaft der Klient*innen ausgedrückt werden soll. Diese steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung, wie in der Untersuchung von Erstgesprächen in Suchtberatungsstellen gezeigt werden konnte (Hansjürgens 2018).

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Richtung Misstrauen entwickelt (Hansjürgens 2018). Positiv gewendet wird hier die These vertreten, dass die Effizienz und Vergleichbarkeit von Suchtberatung noch erhöht werden könnte, wenn die Erhebung einer sozialen Diagnostik, in die der Sozialbericht bzw. seine Kategorien als Instrument benutzt und dialogisch erhoben werden, in Bezug auf die zu ergreifenden Maßnahmen (zu denen selbstverständlich auch Rehabilitation gehören kann) ergebnisoffen gestaltet wird. Wenn die Elemente des sogenannten Sozialberichts als Diagnostik eingesetzt werden sollen, wäre es darüber hinaus möglich, fehlende Kategorien – z. B. in Bezug auf bereits in Anspruch genommene und aktuell laufende Hilfen anderen als rehabilitativen Ursprungs – zumindest punktuell zu ergänzen. Zudem könnten Visualisierungen der Kategorien hilfreich sein, wie sie z. B. in anderen Verfahren sozialer Diagnostik vorgeschlagen werden. (vgl. z. B. Lüdtke/Lüdtke, Black-Box-Diagnostik in Kap. 3; Calzaferri, Real-Time Monitoring in Kap. 9; Pantuček-Eisenbacher, Time-Line in Kap. 4).

Fazit Obwohl Soziale Diagnostik im derzeitigen administrativen Rahmen von Sozialer Arbeit in der Suchthilfe weder vorgesehen ist noch mit Ressourcen ausgestattet wird, wird in diesem Beitrag die These vertreten, dass sie insbesondere in Suchtberatungsstellen faktisch trotzdem stattfindet. Dies wurde damit begründet, dass im Rahmen des Antragsverfahrens für medizinische Rehabilitation Sucht ein sogenannter Sozialbericht erstellt werden muss. Dieser weist standardisierte Kategorien auf, die systematisch biografische Elemente des Lebens von Klient*innen, ihre aktuelle soziale Situation, die Selbstbeurteilung ihrer aktuellen Lage sowie auch Wünsche und Vorstellungen in Bezug auf die Rehabilitation erfassen. Dabei werden diese Explikationen der Klient*innen durch die Unterstützung der Fachkraft partizipativ erarbeitet im Sinne von »ins Wort gebracht«. Die dadurch ausgelösten Reflexionsprozesse ermöglichen nicht nur die Entstehung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung zwischen Fachkraft und Klient*in, an die nach Beendigung der Maßnahme wieder angeknüpft werden kann. Hinweise aus der Forschung zeigen darüber hinaus, dass verbindliches Anknüpfen und Weiterentwickeln dieser Therapieziele zur Kooperation innerhalb der Maßnahme und Nachhaltigkeit des Rehabilitationserfolges beitragen können. Insofern erfüllt die partizipative Erarbeitung des Sozialberichtes zum einen nicht nur aus konzeptioneller Sicht Sozialer Arbeit die Funktion einer Zuweisungs- und Gestaltungsdiagnostik, sondern erscheint zum ande-

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ren auch sektorenübergreifend und in der interdisziplinären Zusammenarbeit funktional bedeutsam. Eine Einschränkung seines Potenzials erfährt der Sozialbericht durch die feste Verknüpfung mit der Rehabilitation, bei der die Entscheidung, diese durchführen zu wollen, schon gefallen sein muss, bevor der Sozialbericht zum Einsatz kommt. Weiterhin ist kritisch anzumerken, dass zumindest nach meinem Kenntnisstand keine systematische Aus- und Fortbildung zur Erhebung der Kategorien aus der Perspektive Sozialer Diagnostik erfolgt. Dies könnte jedoch sinnvoll sein für den Erwerb methodischer Fähigkeiten, damit die Art und Weise der Erhebung tatsächlich partizipativ und nicht formal administrativ erfolgt. Denn nur so kann der Sozialbericht insbesondere im Kontext sozialer Diagnose sein Potenzial entfalten. Weiterhin wird vermutet, dass die wenig verbindliche Übernahme der Ergebnisse des Sozialberichts in die Entscheidung des Rehabilitationsträgers zur Bewilligung, Art und Dauer der Rehabilitation sowie der explizite Ausschluss der Übernahme der Kosten für eine fach- und sachgerechte Erhebung dazu führen, dass die Ergebnisse sowohl von interdisziplinären Fachkräften als auch von Klient*innen als beliebig eingeschätzt werden. Dies kann zu einer Einschränkung der Kooperation führen. Damit wird das Potenzial des Berichtes, der auch funktional als Soziale Diagnostik eingesetzt werden könnte, verschenkt. Mehr noch ist zu befürchten, dass er maximal als »nice to have« eingeschätzt wird und in der Wahrnehmung der beteiligten Akteure zur bürokratischen Hürde auf dem Weg in die Rehabilitation mutiert, die es eher abzubauen als auszubauen gilt. Dennoch bleibt es dabei: Von diesen nicht unerheblichen, aber durchaus veränderbaren Einschränkungen abgesehen, könnte aus professionell sozialarbeiterischer Perspektive die dialogische Erarbeitung der oben genannten Daten durchaus als Grundstock für eine Soziale Diagnostik begriffen werden. Voraussetzung wäre, das Instrument aus dem engen Beantragungskontext Rehabilitation zu lösen bzw. die Verbindlichkeit der Ergebnisse für die Durchführung einer Rehabilitation zu erhöhen und durch weitere Kategorien zur Vervollständigung der sozialen Situation und subjektiven Einschätzung des Hilfebedarfs über Rehabilitation Sucht hinaus aus der Perspektive des*der Klient*in zu ergänzen. Dazu müsste diese Tätigkeit mit angemessenen Ressourcen ausgestattet werden, zu denen auch eine Ausbildung gehört, wie die Daten erhoben und ausgewertet werden sollen.

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Autorinneninformation Rita Hansjürgens, Prof. Dr. phil., Sozialarbeiterin, langjährige Tätigkeit in der ambulanten Suchthilfe, ist seit 2018 Professorin für Handlungstheorien und Methoden Sozialer Arbeit und allgemeiner Pädagogik an der Alice Salomon Hochschule in Berlin; Schwerpunkte von Forschung und Lehre sind Professionalisierung Sozialer Arbeit, Soziale Diagnostik, Soziale Arbeit in der Suchthilfe und im Gesundheitswesen, klinische Soziale Arbeit, Versorgungsforschung und Performanz Sozialer Arbeit in der Suchthilfe. Kontakt: [email protected]

9 Real-Time Monitoring als Verfahren der Systemisch-biografischen Fallarbeit – ein Gewinn für die Soziale Arbeit in der Suchthilfe Raphael Calzaferri

Einleitung Suchthilfe und gelingende Hilfe sind an vielfältige Voraussetzungen geknüpft, wie Praktiker*innen täglich erleben. Die Entscheidung der Klient*innen, aufhören zu wollen, ist nach wie vor zentral, reicht aber für eine nachhaltige Hilfe nicht aus (vgl. den Beitrag von Hansjürgens zum Sozialbericht in Kap. 8). Unabdingbar für eine passende Interventionsplanung ist in jedem Fall ein gutes Fallverständnis. Wie lässt sich die aktuelle Falldynamik charakterisieren? Wie ist sie lebensgeschichtlich entstanden? Welche Muster sind bei Klient*innen und Umfeld wirksam? Welche Trigger sind im Fall beispielsweise für die Aktivierung eines problematischen Bewältigungsverhaltens entscheidend – und welche für jene eines sinnvollen oder adäquaten? Es ist eine gute Datenlage nötig, um passend unterstützen zu können. Nur so kann Soziale Arbeit ihre Funktion an der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft wahrnehmen, d. h. eben das jeweilige Verhältnis von Mensch und Gesellschaft bearbeiten, d. h. Schwierigkeiten der Passung anstatt einseitig Assimilation (Anpassung) von Menschen zu unterstützen. Notwendig ist also eine angemessene Soziale Diagnostik. In Anlehnung an Dieter Röh (2019) und in Erweiterung seiner Befunde kann festgehalten werden, dass Soziale Diagnostik dialogisch, mehrperspektivisch, reflexiv und biopsychosoziokulturell gestaltet werden sollte (ähnlich formuliert es auch Heiner 2001; vgl. dazu auch den einführenden Beitrag von Hansjürgens in Kap. 2). Eine so gefasste Soziale Diagnostik und Systemischbiografische Fallarbeit1 berücksichtigt laufend Erkenntnisse aus dem Fallverlauf – denn Menschen entwickeln sich im Lebenslauf weiter und deshalb ist

1 Weiterbildungsangebote zur Systemisch-biografischen Fallarbeit befinden sich an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz im Aufbau.

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der Fallverlauf ungewiss.2 Entsprechend sind einmal entwickelte – in unserem Verständnis: kollaborativ (mit der Klientel) erarbeitete, im Team und interinstitutionell abgestützte, interprofessionell diskutierte – Interventionspläne nicht für einen offenen Zeithorizont gültig. Erkenntnisse zum Fallverlauf lassen sich über eine Verlaufsdokumentation gewinnen, die auf hochfrequent erhobenen Daten basiert, generiert mit dem Real-Time Monitoring (RTM). Es bietet gute Möglichkeiten zur Verlaufsdokumentation und begleitenden Evaluation. Diese Erkenntnisse können dann wiederum in die Aktualisierung der Interventionsplanung einfliessen. Dieses Instrumentarium wurde durch die Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz (HSA FHNW) in verschiedenen Projekten genutzt und zusammen mit Praktiker*innen weiterentwickelt. Eines dieser Projekte wurde zusammen mit der »Casa Fidelio« , einem Rehabilitationszentrum für suchtmittelabhängige Männer3, durchgeführt. Es fokussierte die Prüfung der Tauglichkeit von Systemmodellierung und RTM für die Praxis von Suchttherapie. Es ging dabei einerseits darum, die Systemmodellierung als Instrument für die Visualisierung von Lebensführungssystemen von Menschen4 hinsichtlich Praktikabilität zu testen, und andererseits auch darum, das Real-Time Monitoring im Übergang vom stationären Aufenthalt zum Wohnexternat und weiter über den eigentlichen Austritt hinaus anzuwenden. Mit dem RTM wurden die Verläufe von Klienten in der Integrationsphase und in der Nachbetreuung erfasst. Die gewonnenen Daten wurden durch die Bezugspersonen in die Einzelgespräche mit den Klienten einbezogen, diese teilweise auch als eigentliche Feedbackgespräche ausgestaltet, um eine Reflexion der Gedanken, Gefühle, Motive und Handlungen anzuregen. Weiter interessierten Erfahrungen mit der Schulung der beiden Instrumente und die Frage, wie ein passendes Nachsorgekonzept aussehen könnte (Calzaferri/Sommerfeld/Yavuz 2013). Im vorliegenden Beitrag 2 Dies verweist auch auf das Strukturmerkmal der strukturellen Ungewissheit in der Sozialen Arbeit; vgl. dazu z. B. Galuske 2013. 3 Niederbuchsiten, Kanton Solothurn, Schweiz. In der Institution sind als Mitarbeiter ausschliesslich Männer tätig. Die adressierten Männer halten sich in der Regel ein Jahr in der Institution auf, erarbeiten sich über Therapie, Arbeit, Wohn- und Arbeitsexternat stufenweise wieder die Selbstständigkeit. Ein Teil der Männer hält sich im Rahmen des Massnahmenvollzugs in der Institution auf (vgl. www.casafidelio.ch). Bezüglich Arbeit ist das Angebot differenziert und führt über Arbeitserprobung stufenweise zu Eingliederungsmaßnahmen in Arbeit. Dazu werden diversifizierte interne und externe Arbeitsmöglichkeiten durch eigene Mitarbeiter angeboten. 4 Vgl. zu einer kompakten Darstellung der Systemmodellierung Hollenstein/Calzaferri/Dällenbach/Rüegger/Sommerfeld 2018 und das Manual auf www.soziale-diagnostik.ch, Calzaferri/ Dällenbach/Hollenstein/Sommerfeld/Babic 2017.

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wird das RTM fokussiert. Zunächst soll aber ein Einblick in die forschungsbasierte Theorie der Sozialen Arbeit Integration und Lebensführung gegeben werden. Danach folgt ein Blick auf die Synergetik, wichtiger Bezugspunkt von Integration und Lebensführung und zugleich theoretischer Hintergrund des RTM. Im dritten Abschnitt werden das RTM vorgestellt und seine Anwendung im Projekt in der Casa Fidelio anhand eines Fallbeispiels illustriert. Abschließend werden die Erfahrungen mit dem RTM reflektiert und auf einen grösseren Zusammenhang bezogen, d. h. auf das an der HSA FHNW entwickelte Modell des professionellen Prozessbogens. Praktisch Interessierte werden vermutlich mit dem dritten Abschnitt beginnen und können dann bei Interesse die theoretischen Grundlagen im zweiten Abschnitt nachlesen.

Theoretische Grundannahmen Integration und Lebensführung Soziale Arbeit ist an der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft tätig; sie bearbeitet Schwierigkeiten der Passung. Für die Reflexion dieser Schwierigkeiten ist der Bezug zum Modell des Lebensführungssystems (LFS) hilfreich, das aus der forschungsbasierten, lebenslaufbezogenen Theorie Integration und Lebensführung stammt (Sommerfeld/Hollenstein/Calzaferri 2011). Das Modell geht davon aus, dass Menschen nicht einfach in der Welt sind. Vielmehr schaffen sie sich ihre Lebensverhältnisse, indem sie selbst tätig werden, sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzen und ihr Leben in ihrem individuellen LFS führen (Abb. 1). Dieses besteht einerseits aus dem Menschen selbst, mit seinen Ressourcen und Mustern, und andererseits aus seinen ganz spezifischen Formen der Integration in diverse soziale Handlungssysteme (z. B. Familie, Arbeit, Wohnumfeld und Hilfesystem). Der Mensch und die Handlungssysteme sind dynamisch über Wechselwirkungen miteinander verknüpft und bedingen sich gegenseitig. Das LFS ist ein sich selbst organisierendes System, in welchem das Individuum sein Leben auf seine eigene Art und Weise führt. Mit der Lebensführung gehen Aufgaben der Lebensbewältigung und entsprechende Schwierigkeiten einher. Soziale Probleme und Krisen entstehen dann, wenn die Form, wie ein Mensch in seine Handlungssysteme eingebunden ist, auf seiner individuellen Ebene problematische Muster aktiviert und/oder seine biopsychosozialen Bedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können. Mit Mustern sind lebensgeschichtlich erworbene Muster des

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Abb. 1: Das Lebensführungssystem (LFS) (in Anlehnung an Sommerfeld/Hollenstein/ Calzaferri 2011, S. 287)

Denkens, Empfindens und Verhaltens angesprochen: Kognitions-Emotions-Verhaltens-Muster (Haken/Schiepek 2006; nachstehend: KEV-Muster). In diesem Verständnis ist die Begleitung des Wandels des Lebensführungssystems die Funktion der Sozialen Arbeit (Sommerfeld/Solèr/Süsstrunk 2019) – immer mit der Stoßrichtung, sowohl an Integrationsbedingungen in den einzelnen Handlungssystemen und der Art der Einbindung der Menschen in diese Systeme als auch an KEV-Mustern zu arbeiten. Dies aber bedeutet: Um an gelingender sozialer Integration zu arbeiten, ist es notwendig, zu verstehen, welche Muster das menschliche Denken, Empfinden und Verhalten strukturieren – und gleichzeitig müssen eben auch behindernde oder krank machende Integrationsbedingungen in den einzelnen Handlungssystemen aufgeklärt werden. Damit kann die Soziale Arbeit ihre Interventionen nachvollziehbar und begründet auf die konkrete Falldynamik abstimmen und Lebensführungssysteme zusammen mit den Klient*innen sowie mit anderen Leistungserbringenden nachhaltig bearbeiten, sodass günstige Bedingungen gestärkt und positive Entwicklungen initiiert und gefördert werden. Außerdem wird damit der Wissens-

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stand zur Veränderung von sich selbst organisierenden Systemen erschlossen bzw. für die Soziale Arbeit anschlussfähig. Um diese komplexen Falldynamiken zu erfassen, ist eine taugliche Soziale Diagnostik notwendig. Dazu liegen seit Längerem unterschiedliche Konzepte, Verfahren und Instrumente vor.5 Mit explizitem Bezug auf die Theorie zu Integration und Lebensführung wurden in einem Kooperationsprojekt mit elf Praktiker*innen aus neun unterschiedlichen Arbeitsfeldern diagnostische Verfahren entwickelt (Hollenstein/ Calzaferri/Dällenbach/Rüegger/Sommerfeld 2018). Als Ergebnis liegen unterschiedliche Verfahren vor, die auch manualisiert zur Verfügung stehen (Calzaferri/Dällenbach/Hollenstein/Sommerfeld/Babic 2017). Sie nutzen das Analysepotenzial qualitativer wissenschaftlicher Verfahren und versuchen, auch den Bedingungen der Praxis (v. a. Handlungsdruck, begrenzte Ressourcen) gerecht zu werden, indem unterschiedliche Abkürzungsvarianten vorgeschlagen werden. Synergetik Das Modell des LFS beinhaltet auch die wichtige theoretische Grundkonstruktion der »zirkulären Kausalität«. Sie ist das zentrale Theorem der »Synergetik« (Haken/Schiepek 2006). Die Synergetik befasst sich mit Prozessen der Selbstorganisation, die oben im Zusammenhang mit dem Modell des LFS (Abb. 1) bereits angesprochen wurden. Die zentrale Frage ist dabei, wie eine systemische Ordnung entsteht und wie sich diese Ordnung reproduziert. Diese operationalisierbare Dynamik zwischen biopsychischen und sozialen Systemen kann als zirkuläre Kausalität beschrieben werden. Im Verhältnis zwischen Individuen und den sozialen Systemen, in die sie eingebunden sind, sind soziale Prozesse Voraussetzung der biopsychischen Prozesse und umgekehrt. Die nachstehende Abbildung 2 veranschaulicht das.6

5 Vgl. die Hinweise bei Hansjürgens in Kap. 2; für einen Überblick z. B. Buttner/Gahleitner/Hochuli Freund/Röh 2018. Auch aus eigenen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz: Hollenstein/Klemenz/Krebs/Minnig/Sommerfeld 2009; Sommerfeld/Hollenstein/Calzaferri 2011; Calzaferri/ Sommerfeld/Yavuz 2013; Dällenbach/Rüegger/Sommerfeld 2013; Hollenstein 2013, Sommerfeld/Dällenbach/Rüegger/Hollenstein 2016; Sommerfeld/Solèr/Süsstrunk 2019; Hollenstein 2020. 6 Für eine zusammenfassende Darstellung grundlegender Prinzipien der Synergetik, von Ordnungswandel und d. h. der Veränderung von Kognitions-Emotions-Verhaltens-Mustern vgl. Sommerfeld/Dällenbach/Rüegger/Hollenstein 2016, S. 196–202.

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Soziale Prozesse Integrationsbedingungen und Lebensführung / Bedürfnisbefriedigung Zirkuläre Kausalität mit ….

Psychische Prozesse Kognitions-EmotionsVerhaltens-Muster Zirkuläre Kausalität mit ….

Biologische Prozesse Physiologische und neurophysiologische Prozesse, u.a. biologische, bio-psychische und bio-soziale Bedürfnisse

Abb. 2: Zirkuläre Kausalität (vgl. Sommerfeld 2019, S. 8)

Es ist also bedeutsam, bei der Betrachtung und Bearbeitung sowohl des LFS als auch der KEV-Muster diese drei Ebenen und ihr Zusammenspiel zu bedenken. Wichtig ist ein Weiteres: Es sollte versucht werden, über Systemmodellierung und RTM Einblick in die Potenziallandschaft in der Psyche von Menschen zu erhalten, die sich anhand der lebensgeschichtlich erworbenen Muster im Menschen bildet und das Auftreten bestimmter Muster mehr oder weniger wahrscheinlich macht.

Das Real-Time Monitoring (RTM) Das RTM wurde in der stationären Psychosomatik und Psychotherapie (Schiepek et al. 2003) entwickelt und kommt seit bald zwei Jahrzehnten im deutschen Sprachraum in verschiedenen Kontexten zum Einsatz. So ist es in einer Reihe von psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken Teil des Routinebetriebs geworden (Schiepek/Zellweger/Kronberger/Aichhorn/Leeb 2011). Zu erwartende und teilweise bereits nachgewiesene therapeutische Effekte von Prozessmonitoring und Prozessfeedback wurden schon vor einer knappen Dekade dargestellt (Schiepek/Eckert/Kravanja 2013). Die Methode hat sich auch in verschiedenen Projekten der Sozialen Arbeit bereits bewährt, so bei Über-

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gängen nach stationären Aufenthalten im Straf- und Maßnahmenvollzug, in der Psychiatrie, im Frauen- und Mädchenhaus und in der Suchttherapie (Sommerfeld/Hollenstein/Calzaferri 2011; Calzaferri/Sommerfeld/Yavuz 2013; Calzaferri 2014, 2015) sowie in ambulanten Settings der Opferhilfeberatung (Hollenstein/ Klemenz/Krebs/Minnig/Sommerfeld 2009; Hollenstein 2013, 2020). Es wird auch in der Beratungspraxis (Schiersmann/Friesenhahn/Wahl 2015) sowie in der Jugendhilfe und im Eingliederungsmanagement verwendet.7 In einer Art standardisiertem Tagebuch beantworten Klient*innen stationärer oder ambulanter Einrichtungen auf einem internetfähigen Gerät täglich Fragen und lassen damit den Tag Revue passieren. Das RTM ermöglicht es, psychische und soziale Prozesse im Verlauf zu beobachten, gewissermaßen der »Psyche bei der Arbeit zuzuschauen« (Schiepek/Tominschek/Eckert/Caine 2007). »Kritische Fluktuationen« in den Zeitreihen der Items kündigen eine Veränderung an – synergetisch gesprochen: einen Ordnungs-Ordnungs-Übergang. Damit können »sensible Phasen« identifiziert werden, d. h. Phasen, in denen Krisen (bzw. Rückfälle) drohen bzw. das System überhaupt veränderungs- und entwicklungsfähig ist (Haken/Schiepek 2006). In Gesprächen werden diese dichten Zeitreihen bzw. ihre signifikanten Veränderungen aufgegriffen. Anwendung in einer Institution der stationären Suchttherapie Der in der Casa Fidelio verwendete Fragebogen zur Erfassung der Klientendaten wurde in Anlehnung an den Therapie-Prozessbogen (Schiepek et al. 2003) und an den an der HSA FHNW in einem früheren Projekt verwendeten Bogen (Sommerfeld/Hollenstein/Calzaferri 2011) entwickelt. Dabei waren sowohl Praktiker aus der Institution als auch Mitarbeitende der HSA FHNW beteiligt. Der Fragebogen enthält 34 Items, gegliedert in fünf Dimensionen:8 Ȥ Dimension I: Optimismus, Sinnhaftigkeit, Selbstwirksamkeit, Perspektivenerweiterung (Bsp.: »Heute schaue ich zuversichtlich in die Zukunft.«) Ȥ Dimension II: Negative Emotionalität (Bsp.: »Ich habe heute Unsicherheit/ Angst verspürt.«)

7 Z. B. durch die Ohlebusch Gruppe, vgl. www.ohlebusch.de. 8 Eine Faktorenanalyse wurde aufgrund der kleinen Fallzahl in diesem Projekt nicht vorgenommen. Die getroffene Zuordnung zu vorläufigen Dimensionen stützt sich auf die Ergebnisse der Faktorenanalyse von Fragebogen mit teilweise identischen Items aus Forschungsprojekten von Schiepek und Mitarbeitenden (vgl. z. B. Schiepek et al. 2003 sowie Haken/ Schiepek 2006) und aus dem Forschungsprojekt »Die Dynamiken von Integration und Ausschluss« (Sommerfeld/Hollenstein/Calzaferri 2011).

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Ȥ Dimension III: Problembelastung (Bsp.: »Ich habe heute ein Verlangen nach Drogen/Alkohol.«) Ȥ Dimension IV: Soziale Resonanz (Bsp.: »Der Kontakt mit anderen fiel mir heute leicht.«) Ȥ Dimension V: Arbeiten, Wohnen, Freizeit (Bsp.: »Ich bin zufrieden mit meiner Freizeit.«) Die Beantwortung erfolgt auf siebenstufigen Likert-Skalen von »trifft voll zu« bis »trifft gar nicht zu«, bei einigen Items auf einer visuellen Analogskala. Zusätzlich können in einem Tagebuchfeld aktuelle Erlebnisse oder Gedanken eingetragen werden. Im Projekt füllten 16 Bewohner das RTM über eine Zeit von zwei bis 17 Monaten aus. Der interne Projektleiter der Casa Fidelio führte die Bewohner in das RTM ein, konsultierte die Daten regelmäßig, führte mit den Bewohnern Feedbackgespräche und unterrichtete den jeweils zuständigen Therapeuten über die Entwicklung bei den einzelnen Bewohnern. Auch der Leiter des Bereichs Erwachsenenbildung/Sozialarbeit war an diesen Prozessen beteiligt. Der Projektleiter konsultierte auch die Daten der Ausgetretenen weiter, sprach gegebenenfalls Interventionen mit der nachsorgenden Stelle ab oder nahm direkt Kontakt mit denjenigen ehemaligen Bewohnern auf, für die er selbst die Nachsorge übernommen hatte. Die Therapeuten berichteten in der Projektevaluation (Calzaferri/Sommer­ feld/Yavuz 2013), dass sie durch das RTM einen tieferen Einblick in die Befindlichkeit der Bewohner erhalten hätten, gewisse Muster der Klienten sehr deutlich wurden und deren Befindlichkeit an den Zeitreihendarstellungen gut abgelesen werden kann. Erkannte Krisen im Integrationsverlauf konnten durch den Projektleiter oder nachsorgende Stellen teilweise aufgefangen werden. Die Bewohner gingen mit dem Instrument sehr unterschiedlich um. Einige nutzten das Instrument intensiv für sich oder auch als Grundlage für die Kommunikation mit Mitarbeitern. Durch die Reflexion der Daten mit dem Projektleiter und teilweise auch mit dem zuständigen Therapeuten haben sie wichtige Zusammenhänge erkannt und verstanden, wie sich im zeitlichen Verlauf Erlebens- und Verhaltensweisen verändert haben. Konkretisierung an einem Fall Der 38-jährige »Fred« trat nach 19 Monaten Aufenthalt in der Casa Fidelio in das Wohnexternat über, d. h. er zog in eine Mietwohnung, wo er mit einer Mitbewohnerin zusammenlebte. Er war motiviert, das RTM auch nach dem Übertritt ins Wohnexternat und über den eigentlichen Austritt hinaus (weitere

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sechs Wochen später, Ende Februar) zu nutzen. Während der Zeit im Wohnexternat war Fred noch in die Strukturen der Casa Fidelio eingebunden, d. h. mit dem zuständigen Therapeuten und dem Projektleiter fanden regelmäßig Gespräche statt. Im Wohnexternat zeigten sich rasch Spannungen mit der Mitbewohnerin, was sich in den täglichen Selbsteinschätzungen abbildete und im Tagebuch dokumentiert wurde. Es wurde auch Angst hinsichtlich des Abschieds von der Casa Fidelio deutlich, ersichtlich in den Verlaufskurven und im Tagebuch. Der Klient kommentierte, dass der Abschied vom stationären Rahmen in der entsprechenden gruppentherapeutischen Sitzung Trauer und Unsicherheit ausgelöst habe. Direkt vor dem Austritt kam es zu einer weiteren Krise (in der untenstehenden Abb. 3 ersichtlich für Februar), in der Fred schriftlich mit dem Projektleiter Kontakt aufnahm. Die Krise hing mit dem Suchtdruck zusammen, den er beim Angebot von Alkohol und Cannabis empfand. Das KomplexitätsResonanz-Diagramm des ersten Abschnitts der Datenreihe von Fred zeigt, wie sich kritische Fluktuationen über mehrere Items hinweg ausbreiten (schwarze und graue Felder). Die Items sind auf den fünf Dimensionen untereinander angeordnet. Das Histogramm oben in der Abbildung stellt die summierten Komplexitäten der einzelnen Items dar. In diesen Daten zeigt sich deutlich, dass Fred in der Zeit des Austritts durch Phasen kritischer Instabilität gegangen ist.

Abb. 3: Komplexitäts-Resonanz-Diagramm von Fred. Der dargestellte Zeitraum umfasst ca. 130 Tage; Fred nutzte das RTM während insgesamt 15 Monaten; die Rechtecke markieren die im Text besprochenen Phasen (eigene Darstellung).

Interessant ist auch die nach rund 40 weiteren Tagen folgende Phase (Anfang April): Der Projektleiter in der Casa Fidelio hatte bei den Verläufen einiger Merkmale eine ungünstige Entwicklung gesehen. Tagebucheinträge verwiesen auf Konflikte mit der Mitbewohnerin und im Meeting der Selbsthilfegruppe

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Abb. 4: Komplexität der Items 2: »Heute hatte ich das Gefühl, dass ich mein Leben im Griff habe« und 7: »Heute war ich ehrlich mir oder anderen gegenüber« (oben) sowie 13: »Heute litt ich unter dem Gefühl, wertlos zu sein« und 22: »Ich habe heute ein Verlangen nach Drogen oder Alkohol« (unten); es ist jeweils das dynamische Konfidenzintervall 1 % angegeben (eigene Darstellung).

»Narcotics Anonymous« auf körperliche Belastung an der Arbeitsstelle sowie auf einen schlimmen Unfall eines Kollegen. Der Projektleiter intervenierte dann über die nachsorgende Stelle, konnte damit die Aufarbeitung der Erlebnisse initiieren und eine eigentliche Krise vermeiden helfen. Dementsprechend zeigt das Histogramm im Komplexitäts-Resonanz-Diagramm für diese Phase weniger Turbulenzen (Abb. 3). Schon frühzeitig hatten der Projektleiter und Fred gemeinsam besprochen, welche Items einen Hinweis auf eine Krise geben können. Der Projektleiter konnte seine Interventionen danach ausrichten. Bei der Arbeit hatte Fred einen weiteren Monat später (Mai) eine anstrengende Zeit mit Konflikten und Überstunden. Er fühlte sich erschöpft und vernachlässigte parallel die Gestaltung seiner Freizeit. Im persönlichen Gespräch mit dem Projektleiter der Casa Fidelio wurde ihm der Bedarf an Erholung und Ausgleich zur Arbeit bewusst, gleichzeitig realisierte er aber seinen überhöhten Anspruch, jederzeit allen Anforderungen an der Arbeitsstelle genügen zu können. Gleichzeitig erkannte er, dass Bestätigung bei Sport und Yoga für ihn wesentlich sind. In dieser Zeit haben sich die Komplexitäten, d. h. die Fluktuationen einiger Verlaufsmerkmale signifikant erhöht.

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Abb. 5: Rohitemwerte der Items aus Abb. 4: 2: »Heute hatte ich das Gefühl, dass ich mein Leben im Griff habe« und 7: »Heute war ich ehrlich mir oder anderen gegenüber« (links) sowie 13: »Heute litt ich unter dem Gefühl, wertlos zu sein« und 22: »Ich habe heute ein Verlangen nach Drogen oder Alkohol« (rechts) (eigene Darstellung).

Die signifikant erhöhte Komplexität verweist auf die Möglichkeit einer Musterveränderung und d. h. potenziell auch auf die Möglichkeit des Lernens. Allerdings ist erst anhand der Rohitemwerte eine sinnvolle Interpretation der erhöhten Komplexität möglich: Werden in Abbildung 5 die Items 2: »Heute hatte ich das Gefühl, dass ich mein Leben im Griff habe« und 7: »Heute war ich ehrlich mir oder anderen gegenüber« betrachtet, so zeigt sich zunächst eine zunehmend realistischere Selbsteinschätzung: Kontrolle der eigenen Lebensführung und Ehrlichkeit werden seltener mit den Maxima bewertet. Parallel dazu sind Suchtdruck und damit in den Itemausprägungen zusammenhängend das zeitweilige Gefühl von Wertlosigkeit dokumentiert. In der Folge konnte Fred die Balance zwischen Arbeit und Freizeit über lange Zeit besser finden. Er nutzte das RTM während insgesamt 15 Monaten. Im evaluierenden Interview bestätigt er die Bedeutung des RTM: »Ich hatte die Sicherheit, da ist jemand im Hintergrund.« Hier stellt sich die Frage, inwieweit das Instrument auch direkt als Kommunikationsmittel verwendet werden kann, d. h. ob RTM-Nutzende ihre Bezugsperson über Tagebucheinträge gewissermaßen zu Hilfestellungen sollen auffordern können. Gerade Professionelle in stationären Einrichtungen distanzieren sich von einer solchen Anlage, weil sie vermeiden möchten, dass sich die Kommunikation vom Face-to-Face-Setting auf das RTM verlagert. Für einen Einsatz in der Nachsorge nach stationären Aufenthalten stellt sich diese Frage aber ebenfalls;

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das RTM sollte einen möglichen Gesprächsanlass darstellen, aber nicht zum einzigen Medium werden – auch wenn es mit den programmierten Funktionalitäten9 prinzipiell auch als »Frühwarnsystem« gesehen werden kann. Nachsorge ist jedenfalls umfassender zu konzipieren (vgl. dazu unten, S. 120–122). Im evaluierenden Interview bestätigt Fred auch, dass die tägliche Reflexion des eigenen Lebens wertvoll sei und durch das RTM unterstützt würde. Er berichtet, dass er seine Einsicht bestätigt fand, dass Verdrängung seiner Probleme und ihrer Hintergründe nicht sinnvoll sei. Das RTM eröffne demgegenüber die Möglichkeit, sich Hilfe zu holen. Er habe schnell erkannt, dass es sich lohnt, die Zeit für das Ausfüllen zu investieren. Dies bestätigt, dass in seinem Fall Unterstützung der Selbstreflexion stattfinden konnte. Die Eruierung von relevanten Verlaufsmerkmalen als subjektiv bedeutsame Krisenindikatoren im Feedbackgespräch mit dem Klienten war im vorliegenden Beispiel hilfreich, weil sie dem Projektleiter eine gezielte Kontaktnahme mit der nachsorgenden Stelle oder dem Klienten ermöglichte.

Bedeutung des RTM für Soziale Arbeit in der Suchthilfe Die Bedeutung des RTM für die Soziale Arbeit in der Suchthilfe liegt darin, dass dadurch die Verbindung zwischen biopsychischer Befindlichkeit und sozialem Leben in ihrer Dynamik deutlich gemacht werden kann. Diese Verbindung zeigt sich im gelebten Alltag und nicht nur im klinischen Setting. Abstimmungs- und Anpassungsprozesse der (Wieder-)Eingliederung werden durch Professionelle der Sozialen Arbeit begleitet. Konkret bestätigte sich im Projekt mit der Casa Fidelio, dass das RTM im Übergang in ein (wieder) selbstständiges Leben sinnvoll eingesetzt werden kann. Ein zu früher Einsatz hat sich in diesem Setting als nicht sinnvoll gezeigt. Feedback-Gespräche sind entscheidend für die Frage, ob die Klienten der Casa Fidelio das RTM als sinnvoll erleben. »Ich hatte die Sicherheit, da ist jemand im Hintergrund – wenn es nicht gut geht, dann ist da jemand.« Fred hat die Erkenntnis als sehr bedeutsam eingeschätzt, dass sich Krisen und Rückfälle in ein Suchtmuster vorab in kritischen Fluktuationen ausdrücken. Die strukturierte tägliche Reflexionsmöglichkeit erachtete er hinsichtlich des Ziels, clean zu bleiben, als sehr bedeutsam. Beides zeigte sich auch in weiteren näher evaluierten Fällen. Zeitreihenanalysen dreier Fälle aus dem Projekt in der Casa

9 Vgl. dazu www.ccsys.de.

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Fidelio zeigten uns, dass das RTM zusätzlich zu seinem diagnostischen Wert auch Aussagen über Wirkungen professionellen Handelns und in beschränktem Umfang auch Prognosen von Fallverläufen ermöglicht (Calzaferri/Haunberger 2015). Der Einfluss von erklärenden Variablen aus den Bereichen Kritische Ereignisse im LFS, Übergänge und Professionelles Handeln im Unterstützungssystem konnte nachgewiesen werden. Damit können ansatzweise Aussagen über die Wirkung professionellen Handelns gemacht werden. Da es nicht möglich war, den zeitlichen Verzug einer Interventionswirkung genau zu fixieren, hat die Zeitreihenanalyse aus (wirkungs-)forschungsmethodischer Sicht in diesen Analysen den Status einer explorativen Studie, mit der Hypothesen über den Wirkverlauf einer Intervention erforscht werden (Bortz/Döring 2006). Zudem kann die individuelle Entwicklung nach Austritt aus einem stationären Setting prognostiziert werden, was gerade in Übergangsphasen bedeutsam ist. Allerdings konnten in den drei Einzelfallanalysen keine fallübergreifenden Muster identifiziert werden. Deshalb sollte zur Erfassung von Komplexität und Dynamik des Falles das LFS unter fortlaufendem Einbezug von Erkenntnissen aus der Fallarbeit (Beratungsgespräche, Feedbackgespräche zu den Daten aus dem RTM, Beobachtung der Effekte von Lebensereignissen usw.) immer individuell modelliert werden. Dies bedeutet, dass ein Vorhaben, dieses Verfahren als Grundlage zur Entwicklung eines Manuals oder Programms zu nutzen, eher kritisch beurteilt wird. Seine Wirkkraft entwickelt das RTM demgegenüber im Zusammenhang mit einer gezielten Fallsteuerung bzw. Fallführung und der Möglichkeit, das Handeln der Sozialen Arbeit im Einzelfall belegbar darstellen zu können. Neben dem RTM ist also eine aktualisierte Systemmodellierung10 für die Begleitung des Übergangs nach dem Austritt nicht nur wertvoll, sondern für ein vertieftes Verständnis sowohl der Falldynamik als auch der während des stationären Aufenthalts stattgefundenen Lernprozesse notwendig. Diese Lernprozesse müssen sich im Übergang nach draußen bewähren. Auch für einen weiteren Aspekt kann der Einsatz der RTM wertvolle fallbezogene Dienste leisten: In der Regel benötigen ehemalige Klient*innen stationärer Institutionen im Übergang nach draußen weitere Unterstützung. Demgegenüber ist oft zu beobachten, dass die Nachhaltigkeit der Lernprozesse gefährdet ist, weil die Kontinuität der Hilfe abgeschnitten und die Koordination der Hilfeleistungen nicht gewährleistet ist (Sommerfeld/Hollenstein/Calzaferri 2011). Soziale Arbeit hat das fachliche Potenzial, die dafür notwendige inter10 Im erwähnten Kooperationsprojekt mit Praktiker*innen aus verschiedenen Feldern der Sozialen Arbeit (Hollenstein/Calzaferri/Dällenbach/Rüegger/Sommerfeld 2018) wurde auch ein SoftwarePrototyp zur Systemmodellierung erstellt, der zurzeit zur Marktreife weiterentwickelt wird.

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professionelle und interinstitutionelle Kooperation zu gestalten. Diese Kooperation beginnt schon während des Aufenthaltes – bzw. in Settings ambulanter Hilfe möglichst früh. Erfolgreiche Kooperation bedingt eine geteilte Fallkonzeption und d. h. ein gemeinsames Verständnis der sozialen Dimension des Falles. Leider lässt sich dies empirisch nur selten finden; die beteiligten Professionen und Berufsgruppen verständigen sich in der Regel nicht auf ein gemeinsames Bild (Hollenstein/Sommerfeld 2009). Die Erarbeitung eines gemeinsamen Verständnisses von sozialer Dimension und Falldynamik würde es demgegenüber ermöglichen, auch die Bedingungen in den Handlungssystemen zu problematisieren, in denen Klient*innen ihr Leben führen und in die sie nach einem allfälligen stationären Aufenthalt auch örtlich zurückgehen. Die Systemisch-­ biografische Fallarbeit stellt ein in verschiedener Hinsicht flexibles und belastbares Instrumentarium zur Verfügung, mit dessen Hilfe Ansatzpunkte für adäquate Interventionen aus der Perspektive von Sozialer Arbeit, aber eben auch anderer beteiligter Professionen eruiert werden können. Für stationäre Settings lässt sich so festhalten: Das Potenzial des RTM kann nur ausgeschöpft werden, wenn es auf eine sektorenübergreifende Nachsorge abstellen kann, die tatsächlich auf dem Prozess der Re-Integration, wie er während des Aufenthalts angelaufen ist, aufbaut und daran unmittelbar ansetzt (Calzaferri/Sommerfeld/Yavuz 2013). Eine entsprechend konzipierte Nachsorge nimmt Rücksicht auf einen »professionellen Prozessbogen« (Sommerfeld/Hollenstein/Calzaferri 2011; Sommerfeld/Solèr/Süsstrunk 2019), der über den zeitlichen Horizont von z. B. einem stationären Aufenthalt hinausweist. Abschließend sollen diese praktischen Aspekte noch einmal zurückgeführt werden zu den sozialarbeitstheoretischen Grundlagen, die diesen Beitrag eröffnen. Dies geschieht, um deutlich zu machen, wie Theorie und Wissensbestände von Sozialer Arbeit als eigenständiger Disziplin und praktisch tätiger Profession zu einer Verbesserung der Versorgung hochbelasteter Menschen beitragen können. Damit kann das RTM als Bestandteil eines Sets von Methoden und Verfahren der Systemisch-biografischen Fallarbeit eingebettet werden. In den Projekten an der HSA FHNW spielte die methodologische Grundlage der »Grounded Theory« eine wichtige Rolle. Sie stellt u. a. den Begriff der »Verlaufskurve« zur Verfügung (Corbin/Strauss 2004). Das Anliegen, Soziale Arbeit den beobachteten Verläufen und der rekonstruierten Verlaufskurve entsprechend zu denken, führte zur Entwicklung des Modells des »professionellen Prozessbogens« (Abb. 6). In Abgrenzung zum Begriff der Verlaufskurve wird hier der Akzent stärker auf die Intervention und die Faktoren gesetzt, die im Hinblick auf die Beeinflussung des Verlaufs aus dem Material herausgearbeitet werden konnten.

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Abb. 6: Der professionelle Prozessbogen (vgl. Sommerfeld/Hollenstein/Calzaferri 2011, S. 336)

Die Orientierung des Modells am Verlauf eines Falles sollte sich schon optisch zeigen: Die Grundlage der Intervention der Sozialen Arbeit liegt in der Rekonstruktion der Problemgenese und der Beschreibung der aktuellen Beschaffenheit des LFS. Bevor es zu einer Intervention kommt, findet eine krisenförmige Dynamik im LFS statt, die »negative Eskalation«. Mit der Intervention wird die Krise zunächst aufgefangen und die krisenhafte Dynamik beruhigt, z. B. im stationären Setting durch die Herausnahme aus dem LFS. Das führt zu einer Stabilisierung, von der aus dann eine adäquate Hilfeplanung für den Weg zurück in die Lebenswelt kollaborativ entwickelt werden kann. Einer subjektiv bedeutsamen Zukunftsvision kommt dabei eine zentrale Stellung zu, die Energie erzeugt (Motivation) und in einer adressatenzentrierten Weise den Hilfeprozess inhaltlich ausrichtet. Die kooperative Arbeit an ihrer Umsetzung differenziert sich dabei in die »Arbeit an den Formen der Integration« einerseits und die »Arbeit an der psychischen Potenziallandschaft« und d. h. an den KEV-Mustern andererseits. Wie oben im Abschnitt zur Synergetik dargestellt sind das die beiden logischen Komponenten der psycho-sozialen Dynamik, wobei sie erst in ihrem Zusammenspiel die Dynamik ergeben. Im Modell sind einige bekannte prozessbezogene Faktoren enthalten. Unter Einbezug dieser und weiterer Faktoren muss nun ein Prozess zustande kommen, in dem Erfolg hinsichtlich der Bewältigungsaufgaben erfahrbar wird. Damit können sowohl neue Formen der Integration als auch KEV-Muster realisiert und stabilisiert werden. Die Erfahrung der

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Erreichung (kleiner) Ziele stärkt z. B. die Selbstwirksamkeitserwartung und die Hoffnung auf Besserung und den Selbstwert (Grawe 2004). Mit der Zielerreichung verbessern sich auf sozialer und sozioökonomischer Ebene die Chancen für die Befriedigung von biopsychosozialen Bedürfnissen. Bedürfnisbefriedigung und Erfolgserlebnisse steigern das Wohlbefinden, was den Prozess mit neuer Energie versorgt und mittel-/längerfristig zu einer nachhaltigen Bewältigung der Krise führt. Gleichzeitig führt Wohlbefinden aber auch sowohl als Resultante wie auch als Bedingung zu einer Veränderung des LFS. Im Modell laufen auch sozialstrukturelle Wirkfaktoren und kritische Lebensereignisse mit – sie entfalten ihre spezifischen Wirkungen in der Konkretisierung im Fall. Der professionelle Prozessbogen sichert also die Verstärkung und Verstetigung der neu erworbenen KEV-Muster, ohne sozialstrukturelle Wirkfaktoren und die Bearbeitung problematischer Integrationsbedingungen in einzelnen Handlungssystemen zu vernachlässigen. Die Sicherung des professionellen Prozessbogens ist nach unserem Wissensstand auch in der Suchthilfe höchst bedeutsam. Im Prozessbogen kann das RTM zur Gewährleistung eines angemessenen individualisierten Monitorings einen wertvollen Beitrag leisten. Zuweisende Stellen erhalten damit mehr Sicherheit, dass der Prozess zeitnah begleitet wird. Gleichzeitig leistet das RTM einen Beitrag dazu, dass Soziale Arbeit ihr Professionalisierungspotenzial auch in der Suchthilfe ausschöpfen kann. Interprofessionelle Zusammenarbeit ist in der Suchthilfe etabliert. Dabei ist jede der beteiligten Professionen verpflichtet, die bestmöglichen Hilfen anzubieten. Eine konsequente Ausrichtung der Suchthilfe an einem übergreifenden System der Person in ihrem Lebensvollzug – hier am Modell des LFS – wertet die soziale Dimension und ihr salutogenetisches Potenzial auf (Sommerfeld 2019). Es drängt sich auf, dass die Soziale Arbeit dabei eine koordinative Funktion übernimmt und ein sozialtherapeutisches Case Management realisiert (Sommerfeld/Dällenbch/Rüegger/Hollenseiten 2016). Mit dem Kompetenzprofil der DG-SAS (2016) wurde dieses Postulat ausbuchstabiert.

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Autoreninformation Raphael Calzaferri, lic. phil. I, Diplom-Sozialarbeiter, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter Senior am Institut Professionsforschung und -entwicklung, FH Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit, Olten, Schweiz. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Arbeit, professionelles Handeln, Soziale Diagnostik und Kasuistik auf Basis der Theorie Integration und Lebensführung, Systemisch-biografische Fallarbeit, Kooperative Instrumente- und Verfahrensentwicklung im Bereich der Sozialen Diagnostik und Prozessgestaltung, Synergetik und RealTime Monitoring, Soziale Arbeit in Straf- und Maßnahmenvollzug, Bewährungshilfe, Psychiatrie, Sucht und akzeptierender Drogenarbeit. Kontakt: [email protected]

10 Diagnostik in der Drogensuchtbehandlung im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland – ein Überblick Maike Klein

Informationen über die Drogensuchtsituation im Vereinigten Königreich (United Kingdom, im Folgenden UK) werden regelmäßig dem »European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction« (EMCDDA) mitgeteilt, welcher als zentrale Anlaufstelle der europäischen Drogensuchtpolitik und -behandlung dient (Crawford/Clare/Sharpe/Wright 2017). Der kürzlich veröffentlichte »European Drug Report« (2019) zeigt, dass Opiate und speziell Heroin weiterhin Europas Gesundheit, Sicherheit und Ökonomie gefährden. Der Report weist auch darauf hin, dass die Behandlungsaufnahmen von Menschen mit Crackmissbrauch drastisch gestiegen sind. So gilt das UK derzeit als europäisches Land, »[…] das mit dem Crackmissbrauch am meisten in Verbindung gebracht wird« (EMCDDA 2019, S. 14, Übersetzung M. K.). Dieser Befund spiegelt sich in aktuellen nationalen Statistiken wider, die zeigen, dass im UK der Tod durch Überdosis ein Rekordhoch erreicht hat (National Records of Scotland 2019). Vor diesem Hintergrund sind effiziente Behandlungsweisen und die Verwendung von angemessenen diagnostischen Instrumenten umso wichtiger. Daher wird sich dieses Kapitel mit der Behandlung von Drogensuchterkrankungen und den dabei verwendeten diagnostischen Instrumenten im UK befassen. Es wird zuerst dargelegt, welche Formen der Behandlung der Drogensuchterkrankung im UK angeboten werden, wer sie anbietet und wie diese Behandlungen im Allgemeinen strukturiert sind. Anschließend wird der Beitrag einen Überblick von relevanten Behandlungsrichtlinien vermitteln, um zu markieren, was von den Drogensuchtbehandlungsanbietern im UK erwartet wird. Zuletzt wird geschildert, welche wesentlichen Instrumente in der Drogensuchtbehandlung im UK angewendet werden, um Diagnostik von drogensuchterkrankten Patient*innen zu ermöglichen.

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Struktur der Drogensuchtbehandlung im UK Drogen- und Alkohol-Behandlungsdienstleistungen im UK basieren auf gemeindlichen Anordnungen, psychosozialen Interventionen, ambulanten Tagesprogrammen und stationären Rehabilitationsmaßnahmen (EMCDDA 2019). Zusätzlich werden den suchterkrankten Patient*innen Nachbetreuung zur Rückfallprävention, Behandlung und das Testen auf das Hepatitis-B-Virus (HBV), auf das Hepatitis-C-Virus (HCV) und das Humane Immundefizienz-Virus (HIV) angeboten. Öffentliche auf Drogenbehandlung spezialisierte Zentren sind die häufigsten Dienstleistungsanbieter im UK (EMCDDA 2019). Nahezu jede*r suchterkrankte Patient*in erhält entweder vor oder nach stationärer Rehabilitation eine ambulante Behandlung. Darüber hinaus werden unterschiedliche Arten der Suchtbehandlung auch in Gefängnissen angeboten. Die häufigste Behandlungsart im UK sind die Opioid-Ersetzungsbehandlungen (Opioid Substitution Treatment, kurz OST). OST werden hauptsächlich in spezialisierten ambulanten Suchtberatungs- und -behandlungsstellen angeboten und beinhalten die Verabreichung und die Einnahme von Methadon, Naltrexon und Buprenorhpin, jeweils in oraler Form. Jedoch müssen Ärzt*innen im UK hierzu eine gültige Lizenz besitzen (NHS National Prescribing Centre 2009). Auf Suchterkrankungen spezialisierte Dienstleistungen werden vom National Health Service (NHS) – z. B. Entgiftung im Krankenhaus – und dem dritten Sektor1 – z. B. stationäre Rehabilitation – gemeinsam zur Verfügung gestellt. Wie aus Abbildung 1 ersichtlich wird, sind Allgemeinärzt*innen (general practicioner, kurz GP) im Rahmen der Erstversorgung, bei der gelegentlich auch Drogensuchtbehandlung angeboten wird, die erste Kontaktstelle für an Drogensucht erkrankte Personen. In den Fällen, in denen der*die GP nicht in der Lage ist, eine solche Behandlung zu leisten, oder in denen die Suchtprobleme schwerwiegender sein sollten (z. B. Drogensucht und begleitende psychologische Erkrankungen), wird die drogensuchterkrankte Person an spezialisierte Suchtberatungsstellen verwiesen. Solche Beratungsstellen werden oftmals von Suchtpsychiater*innen oder GPs, die sich auf Suchterkrankungen spezialisiert haben, geleitet. Diese sind für das Testen, Diagnostizieren und Behandeln (z. B. Verschreiben von Methadon) der Erkrankten verantwortlich (Kalk et al. 2018). Dabei geben leitende Mitarbeitende oftmals praktische Unterstützungen z. B. 1

Unter dem »dritten Sektor« werden in England Freiwilligendienste verstanden, die die Arbeit der staatlichen Dienste (1. Sektor) und freiwilligen staatlichen Leistungen (2. Sektor) ehrenamtlich unterstützen.

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Diagnostik in der Drogensuchtbehandlung im Vereinigten Königreich

durch Rückgriff auf öffentliche Einrichtungen (z. B. auf Wohnungsämter und Arbeitsagenturen) oder auf psychosoziale Interventionen, die die drogensuchterkrankten Menschen in die Lage versetzen sollen, Bewältigungsstrategien zur Rückfallprävention aufzubauen (Marsden et al. 2009). Hierzu wird Allgemein­ ärzt*innen und Psychiater*innen empfohlen, die sowohl vom Royal College of Psychiatrists und vom Royal College of Practitioners (2012) als auch vom General Medical Council (2009) herausgegebenen klinischen Richtlinien zu befolgen.

1. r, kto Se 3. r kto Se

Spezialisierte Suchtberatungseinrichtungen (z. B. Stationäre Reha)

1. r, kto Se 2. r kto Se

Behandlung durch spezialisierte Allgemeinärtz*innen und/oder Suchtpsychiater*innen an spezialisierten, meist ambulanten Suchtberatungsstellen (z. B. OST)

1. r kto Se

Erstversorgung durch Allgemeinärtz*innen (z. B. Kurzinterventionen)

Abb. 1: Struktur des UK-Drogensuchtbehandlungssystems (adaptiert von Kalk et al. 2017, S. 185)

Bis zum Jahr 2012 ergänzten sich die gesetzlichen und die Drittsektor-Drogensuchtbehandlungsstellen, wobei die gesetzlichen Behandlungsstellen stationäre Entgiftungen und anderweitige medizinische Behandlungen anboten, während sich die Behandlungsstellen des dritten Sektors auf die Nachbetreuung und psychosoziale Interventionen ausrichteten (Turner 2005). Jedoch änderte sich dies mit dem »Health and Social Care Act 2012«, wonach lokalen Behörden (Regierungsabteilungen zuständig für lokale Bezirke) die Verantwortung für Drogensuchtbehandlung in England übertragen wurde. In Schottland ist diese Verantwortung den lokalen Gesundheitsboards zugeteilt worden, während in Wales öffentliche Sicherheitspartnerschaften dafür zuständig wurden. In Nord­ irland wurden Drogen-und-Alkohol-Teams verantwortlich (McGrail 2014). Dieser

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Wechsel in Struktur und Beauftragung rief viel Kritik von Wissenschaftler*innen und Expert*innen hervor (Mohammadi 2014) und veranlasste Bhui, Byrne, Goslar und Sinclair (2019, S. 1) zu deklarieren: »We are in the midst of a crisis in the organisation and delivery of addictions services in the UK.« Da nun Regierungsabteilungen für die Finanzierung und Beauftragung von Drogensuchtbehandlungsstellen verantwortlich geworden sind, binden sie diese oftmals an unrealistische Behandlungsergebnisse (z. B. kürzere Wartezeiten oder die Anzahl der entlassenen Patient*innen), da sie die lokalen Anforderungen und Gestaltungsprinzipien nur begrenzt verstehen. Dies führt zu zwei grundsätzlichen Konsequenzen: Ȥ Die Regierung fordert überzogene Resultate von NHS-Behandlungsstellen ein und erwartet zudem den Standard der NHS-Dienste auch von den Behandlungen des dritten Sektors. Ȥ Die Regierung fordert eine finanzielle Verminderung von über 30 % der gemeindlichen Suchtbehandlungen (Drummond 2007). Das Ergebnis: Mehrere Drogensuchtbehandlungsstellen mussten schließen (The Guardian 2017; Independent 2019), was dazu führte, dass die übrig gebliebenen Behandlungsstellen nur mangelnde Ressourcen zur Behandlung suchterkrankter Menschen zur Verfügung hatten. Critchlow und Bargiotas (2019) beschreiben, dass dieser Umstand auch die Behandlung von Patient*innen mit schwerwiegenden psychischen und suchtspezifischen Erkrankungen etwa in einem psychiatrischen Krankenhaus einschränkt. Zudem weisen sie darauf hin, dass sich die Verfahrensweise in stationären und ambulanten Suchtbehandlungsstellen geändert hat: Personen mit dualen psychischen und suchtspezifischen Erkrankungen werden zuerst zu den Drogensuchtbehandlungsstellen geschickt in der Hoffnung, dass mit einer vorrangigen Suchtbehandlung ihre mentalen gesundheitlichen Beschwerden aufgehoben werden. Insgesamt ist demzufolge festzustellen, dass der Standard der Drogensuchtbehandlungen im UK gesunken ist. Daher sind effiziente (für die Genesung der Menschen mit Suchterkrankung) drogenpolitische und klinische Richtlinien, einschließlich Diagnostik, von besonderer Bedeutung.

Drogenpolitische und klinische Richtlinien Drogenpolitische Richtlinien regeln Sachverhalte zu illegalen Substanzen in einer bestimmten Nation (Babor et al. 2018). Im UK umfassen Drogengesetze den »Misuse of Drugs Act 1971« und den »Psychoactive Substances Act 2016«.

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Zudem folgt jede Teilnation (Schottland, Wales und Nordirland) ihren eigenen Drogenstrategien und Drogensuchtbehandlungssystemen (Stevens/Zampini 2018). Solche Drogenstrategien setzen den Standard für den Drogensuchtbehandlungsbetrieb, während klinische Richtlinien, wie z. B. die »Drug misuse and dependence: UK guidelines on clinical management« (Department of Health and Social Care 2017) und die des National Institute for Health and Care Excellence (NICE), in der Praxis verwendet werden. Dieser Abschnitt wird zuerst die Entwicklung der nationalen Drogenstrategien im UK darstellen. Anschließend folgt eine kurze Zusammenfassung der aktuellen Drogenstrategien von Schottland, Wales und Nordirland. Folgen wird ein Kurzüberblick zu den aktuellen klinischen Richtlinien. Entwicklung der Drogenstrategie im Vereinigten Königreich Das behördliche und das öffentliche Verständnis für drogensuchtspezifische Probleme ist jeweils von den politischen Tagesordnungen der 1980er-Jahre beeinflusst worden. Buchanan und Young (2000, S. 413) führten aus, dass drogen- und alkoholsuchterkrankte Menschen in zweierlei Hinsicht typisiert worden waren: »Einerseits danach trachtend, ihre Mitmenschen zu üblen Verhaltensweisen zu veranlassen, und andererseits, als Gefährdete selbst in problematischen Drogenkonsum verwickelt zu werden«. Als Folge hieraus wurden drogen- und alkoholsuchterkrankte Menschen in der öffentlichen Wahrnehmung häufig entweder als Kriminelle oder als Opfer angesehen. Politische Kampagnen wie beispielsweise »Just Say No to Drugs« (Präsident Nixon, USA) und »Heroin Screws You Up« (Premierministerin Thatcher, UK) führten zu dem Verständnis, dass problematischer Drogenkonsum eine individuelle Entscheidung sei. Diese eher auf ein Verbot des Drogenkonsums hinauslaufende Auffassung veränderte sich jedoch in den späten 1980er-Jahren mit der Herausgabe der ersten Drogenstrategie im UK als staatliche Reaktion auf den mit der Verbreitung von HIV/Aids festgestellten allgemeinen Gesundheitsnotzustand (siehe Advisory Council of the Misuse of Drugs 1988). Da diese Verbreitung die öffentliche Gesundheit stark gefährdete, forcierte die Regierung des UK entsprechende Drogensuchtbehandlungsdienste. Das Leistungsangebot beinhaltete insbesondere auch Methadonverordnungen sowie die Ausgabe von sanitären Nadeln und Spritzen. Dem Ansatz von »harm reduction« wurde in den Drogenstrategien des UK zwischen 1997 und 2010 gefolgt (Strang 2012). Dies änderte sich jedoch im Jahre 2010 mit der Neuausrichtung der Abstinenzstrategie durch die Regierung (HM

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Government 2010; HM Government 2012). Diese beruhte nach McKeganey, Russell und Cockayne (2013) darauf, dass die betroffenen Patient*innen wegen der Verordnungen zunehmend abhängig geworden seien, etwa von Methadon. Seitdem haben sich Drogenstrategien des UK, einschließlich die von 2017, auf Abstinenz fokussiert (Middleton/McGrail/Stringer 2016). Nationale Drogenstrategien Die »UK 2017 Drug Strategy« (HM Government 2017) begegnet illegalen Drogensuchtproblemen mit zwei übergeordneten Zielsetzungen: Verminderung des illegalen Drogenkonsums und Erhöhung der Genesungszahl drogenabhängiger Patient*innen. Diese Ziele werden durch vier Schlüsselthemen unterstützt: 1. Drogenbedarf reduzieren, 2. Grenzkontrollen verschärfen, um Drogenlieferungen zu vermindern, 3. Genesungsstrategien verstärkt aufbauen und 4. global agieren. Innerhalb dieser Strategien beziehen sich die Teilbereiche von Gesundheit, Bildung, Wohnungsbau und Sozialpflege auf England, von Polizei und des Strafrechtssystems auf England und Wales und für die Aufgaben der Abteilung für Arbeit und Rente sind England, Wales und Schottland zuständig. Eine Reihe von Befugnissen sind Wales, Schottland und Nordirland übertragen, die überdies auch eigenen Strategien und Maßnahmeplänen folgen. Die aktuelle Drogenstrategie für Wales »Working Together to Reduce Harm: The Substance Misuse Strategy for Wales 2008–18« (Welsh Assembly Government 2008) verfolgt vier Hauptziele: 1. Schadensvorbeugung, 2. verbessern der Gesundheit und Genesung aufrechterhalten, 3. Unterstützung und Sicherheit für Familien und 4. Lieferbarkeit von Drogen durch verstärkte Vollstreckungsmaßnahmen einschränken. Diese Strategie fokussiert sich speziell auch auf »harm reduction« sowie auf das Belehren junger Menschen über die potenziellen Gefahren und Schäden, die durch den Drogenmissbrauch entstehen (Welsh Assembly Government 2008). Zudem betont die Strategie auch die Unterstützung und Belehrung von Familienangehörigen. Schottlands Drogenstrategie »Rights, Respect and Recovery: Alcohol and Drug Treatment Strategy« (Scottish Government 2018) bezieht sich hauptsächlich auf die Verminderung der Verbindung zwischen Kriminalität und Drogenmissbrauch. Diese Strategie betont eine Genesung, die den Menschen bewusst in den Mittelpunkt stellt. Zusätzlich wird die Weiterentwicklung von »recovery-oriented systems of care« angestrebt. So soll erreicht werden, dass die Drogenkonsument*innen ihre »eigene Art der Genesung finden« (Scottish Government 2018, S. 5). Nordirlands Strategie »New Strategic Direction for Alcohol and Drugs Phase 2« (Department of Health 2018) wurde 2011 eingeführt und zuletzt 2018

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überprüft. Das Strategieziel besteht in der »Verminderung des Niveaus von alkohol- und drogenspezifischen Schäden« (Department of Health 2018, S. 7). Die Strategie versucht, dies mithilfe von vermehrtem Zugriff auf medikamentöse Behandlung (z. B. mit Naloxon) zu erreichen sowie mit vermehrter Aufklärung der Öffentlichkeit über die schädlichen Konsequenzen von Drogenund Alkoholabhängigkeit. Die Strategie sieht weiterhin vor, dieses Ziel durch die Erfassung des Drogen- und Alkoholkonsumtrends bei jungen Menschen zu erreichen, etwa durch Unterstützung und Aufklärung der Familienangehörigen oder mithilfe von Kompetenztraining (z. B. für Suchttherapeut*innen, Mediziner*innen, Sozialarbeiter*innen und für andere in der Drogensuchtbehandlung tätige Mitarbeiter*innen). Klinische Richtlinien Die klinischen Richtlinien für Drogensuchtbehandlung wurden 2007 in Kooperation zwischen dem »National Institute for Clinical Excellence« (NICE), der »National Treatment Association for Substance Misuse« (NTA) und den vier Gesundheitsministerien des UK etabliert und 2017 aktualisiert. Diese Richtlinien sollen aber nicht »die konkreten Behandlungsarten diktieren […], sondern vielmehr die Behandlungsdienstleistungen des Klinikfachpersonals2 effektiv unterstützen im Sinne einer geeigneten Ausgewogenheit der durchgeführten Maßnahmen« (Clinical Guidelines on Drug Misuse and Dependence 2017, S. 5). Zusammengefasst stellen die nationalen Drogenstrategien des UK einen Leitfaden dar für die unterschiedlichen Aspekte in der Drogensuchtbehandlung. Darüber hinaus liefern die klinischen Richtlinien auch einen Anhaltspunkt für die Tätigkeit des Klinikfachpersonals in der Suchtprävention und -behandlung. Im Zusammenhang mit den oben genannten Eindrücken des Drogensucht-

2 Mit der Bezeichnung »Klinikfachpersonal« sind hier Psychiater*innen, Mediziner*innen, Sozialarbeiter*innen, Krankenpfleger*innen und andere Mitarbeiter*innen gemeint, die suchtspezifische Maßnahmen leisten können. Regelmäßig werden diese Richtlinien im Hinblick auf den neuesten Stand der Drogensuchtbehandlungen aktualisiert. Jedoch beschränken sie sich nicht nur auf das Einschätzen der Behandlungsbedürfnisse und -arten, sondern auch auf die Genesung nach der Behandlung (z. B. auch auf andere soziale Bedürfnisse, wie etwa die Erlangung von Sozialleistungen).

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behandlungssystems im UK könnten diese Drogenstrategien jedoch als anspruchsvoll gelten. Eine Diskrepanz zwischen den Praktiker*innen und den politischen Entscheidungsträger*innen oder zwischen dem, was in den Drogensuchtbehandlungsstellen tatsächlich geschieht und was von ihnen erwartet wird, bleibt allerdings erhalten. Um diese Diskrepanz zu reduzieren, haben sich Drogensucht­ expert*innen auf die Entwicklung von passgenauen und effektiven Diagnoseinstrumenten konzentriert.

Diagnose Instrumente in der Drogensuchtbehandlung Die International Classification of Diseases (ICD-10) bleibt weltweit das meistgenutzte Einstufungssystem für psychische Erkrankungen (Reed et al. 2019). Die ICD-10 wird im UK von suchtspezifischem Klinikfachpersonal verwendet. Darüber hinaus verweist dieses auch auf eine Reihe anderer Diagnoseinstrumente, wie z. B. auf den »Alcohol Use Disorders Identification Test« (AUDIT), den »Severity of Alcohol Dependence Questionnaire« (SADQ) und die »Clinical Opiate Withdrawal Scale« (COWS). AUDIT wurde von Barbor, de la Fuente, Saunders und Grant (1992) entwickelt, um nach alkoholgefährdeten oder alkoholabhängigen Menschen zu screenen. Die Autor*innen erhofften sich mit diesem Instrument insbesondere die Unterscheidung der Menschen, die gefährdet sind, von denen, die schon Abhängigkeit entwickelt haben (Reinert/Allen 2002). Der AUDIT beurteilt Klient*innen nach drei Kategorien: 1. aufgenommene Menge von Alkohol, 2. Abhängigkeit und 3. negative Konsequenzen. Zudem können Fragen dieser Kategorien wie z. B. »Wie oft erlebten Sie im letzten Jahr Schuldgefühle oder Reue, nachdem Sie Alkohol konsumiert haben?« (AUDIT, Frage 7; Babor/de la Fuente/Saunders/Grant 1992) dem*der Suchtarbeiter*in dazu dienen, eine Kurzintervention mit dem*der Klient*in durchzuführen. Der AUDIT-C ist eine gekürzte Version des AUDIT und beinhaltet nur die ersten drei Fragen der vollen Version. Obwohl Studien empfehlen, dass der AUDIT-Test mit Rücksicht auf Kultur, Geschlecht und Alter weiterentwickelt werden sollte, bleibt er dennoch ein zuverlässiges, praktisches und gültiges Screeninginstrument für Menschen, die unter problematischem Alkoholkonsum und/oder -sucht leiden (Reinert/Allen 2002). Ein weiteres, in den Drogensuchtberatungs- und -behandlungsstellen des UK häufig verwendetes Instrument ist der SADQ, der von Stockwell, Murphy und Hodgson (1983) entwickelt wurde. SADQ wird speziell verwendet, um die

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Abb. 2: Instrument des Treatment Outcomes Profile (TOP), Ausschnitt (Public Health England 2019) (Contains public sector information licensed under the Open Government Licence v3.0: http://www.nationalarchives.gov.uk/doc/open-government-licence/version/3/)

Schwere der Alkoholabhängigkeit zu beurteilen. Da dieses Instrument zunächst hauptsächlich für Menschen, die unter Alkoholabhängigkeit leiden, geeignet war, haben ihn die Autoren zum SADQ-C weiterentwickelt. Dieser ermöglicht, auch Menschen, die an leichter bis gemäßigter Alkoholabhängigkeit leiden, zu erfassen (Stockwell/Sitharthan/McGrath/Lang 1994). Ein drittes, häufig verwendetes Instrument ist die COWS, die von Wesson, Ling und Jara (1999) entwickelt wurde, um die Schwere von Opioidentzugsymptomen und damit von Opioidabhängigkeit zu bewerten. Diese Skala lässt sich schnell und leicht im Rahmen der stationären wie auch der ambulanten Behandlung verwenden (Wesson/Ling 2003). Diese Instrumente ermöglichen dem suchtspezifischen Klinikfachpersonal, die Substanzmissbrauchslage des*der Klient*in einzuschätzen und passgenaue Interventionen einzuleiten. Behandlungsergebnisse werden, wie bereits beschrieben, regelmäßig evaluiert, um den von den lokalen Behörden gesetzten Qualitätsstandards zu entsprechen. Um solch eine Qualität in den UK-Suchtbehandlungsstellen zu evaluieren, wird häufig das »Treatment Outcomes Profile« (TOP) verwendet, das von John Marsden et al. (2008) entwickelt wurde. Die Überwachung von Behandlungs-

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ergebnissen in Suchtbehandlungsstellen wurde zuerst in den USA eingeführt (Institute of Medicine 1990) und, nachdem das »National Drug Treatment Monitoring System« (NDTMS) im Jahr 2002 im UK etabliert war, auch hier angewandt. 2006 forderte die »English National Treatment Agency« (NTA), dass dieser Evaluationsprozess auch Verhaltensresultate berücksichtigen möge, was sich anschließend in der Entwicklung des TOP-Instruments niederschlug. Wie Abbildung 2 zeigt, besteht das TOP aus zwanzig Punkten, die sich auf Drogenkonsum, Gesundheit, Kriminalität und soziales Wohlverhalten (z. B. Umgang mit Familie oder Lebenssituationen) beziehen. Angesichts der Tatsache, dass die Genesungsphase die Zeit in einer strukturierten Behandlung verlängern kann, haben Neale et al. (2016) den »Substance Use Recovery Evaluator« (SURE) entwickelt: ein Instrument, das sich auf die Genesung von Drogensuchterkrankung ausrichtet. SURE ist mit der Hilfe und den Ansichten von drogensuchterkrankten Menschen sowie Suchtarbeiter*innen entwickelt worden. Dies hatte unter anderem eine benutzerfreundliche Sprache zur Folge. Deshalb kann SURE sowohl von Frontarbeiter*innen (etwa als Evaluation im Kontext der Behandlung) als auch von Patient*innen (z. B. als Reflexion) verwendet werden (Neale et al. 2016). SURE umfasst 21 Punkte: sechs zur Bewertung des Substanzmissbrauchs, drei beziehen sich auf materielle Ressourcen, weitere drei Punkte bewerten die Lebensaussichten, fünf thematisieren die Selbstvorsorge und weitere vier die sozialen Beziehungen. SURE ist nach Neale et al. (2016) sogar in der Lage, die Qualität und Kosteneffizienz von Interventionen und Beratungsstellen zu verbessern. Die Grundlage hierfür sei: Ȥ das partizipative Verfahren (d. h. der Einbezug der Klient*innen in die Entwicklung und regelmäßige Evaluierung des diagnostischen Instruments), Ȥ die Anerkennung der facettenreichen Genesungsphase (z. B. nicht nur Kategorisierung in »drogenfrei« oder »nicht drogenfrei«, sondern auch der Einbezug von neuen Lebensumständen – etwa neue Beschäftigungsmöglichkeiten usw.). SURE könnte somit dazu beitragen, insbesondere die zu verteilenden finanziellen Mittel den betroffenen Behandlungseinrichtungen passgenauer zuzuweisen.

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Zusammenfassung Dieses Kapitel vermittelte einen Einblick in den Kontext der Drogensuchtbehandlung des Vereinigten Königreiches (UK). Die Struktur der ambulanten und stationären Drogensuchtbehandlung im UK ist dargelegt worden. Dies offenbart, dass mehrere historische und politische Faktoren die Qualität und Flexibilität von Drogensuchtbehandlungsstellen beeinflussen. Überdies wurde eine Lücke erkennbar: eine Lücke zwischen den Frontarbeitenden (z. B. Suchttherapeut*innen), die das in der Praxis umzusetzen haben, was die lokalen Behörden für ihre Zielerreichungen verlangen, und den lokalen Behörden, die entscheiden, welche Behandlungsstellen weiterhin finanziell gefördert werden. Anschließend sind die aktuellen, nationalen Drogenstrategien des UK und die klinischen Richtlinien dargelegt worden. Zuletzt sind die in der Praxis am häufigsten verwendeten diagnostischen Instrumente aufgezeigt und kurz skizziert worden. Abschließend hat dieses Kapitel hervorheben können, dass das Verwenden von geeigneten diagnostischen Instrumenten größere Auswirkungen haben könnte, als vielleicht bisher vermutet. Obwohl es den lokalen Regierungsbehörden am Verständnis der Bedürfnisse der drogensuchterkrankten Menschen zu mangeln scheint, sind diese letztendlich verantwortlich dafür, welche Suchtbehandlungsstellen weiterhin finanziert und unterstützt werden. Diese Entscheidungen werden ihrerseits wiederum von »positiven« Behandlungsresultaten beeinflusst. Geeignete Soziale Diagnostik wie z. B. SURE kann solche positiven Resultate bewirken.

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Autorinneninformation Maike Klein ist PhD-Kandidatin im Department for Social and Policy Sciences an der University of Bath, Großbritannien. Forschungsinteressen: soziale Aspekte der Recovery und der Rückfälligkeit von Suchterkrankungen, Analyse von relevanten Gesetzgebungsverfahren. Sie ist ausgebildet in der »Internal Family Systems Therapie« und arbeitet als Suchttherapeutin an einer Charity in England. Kontakt: [email protected]