Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur 'Vernunftlehre' von Hermann Samuel Reimarus 3525855664

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Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur 'Vernunftlehre' von Hermann Samuel Reimarus
 3525855664

Table of contents :
INHALT

NORBERT HINSKE
Reimarus zwischen Wolff und Kant

HANS-JÜRGEN ENGFER
Die Urteilstheorie von H.$. Reimarus und die Stellung seiner „Vernunft- lehre“ zwischen Wolff und Kant

H.W. ARNDT
Die Logik von Reimarus im Verhältnis zum Rationalismus der Aufklärungs- philosophie

WERNER SCHNEIDERS
Praktische Logik

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Logik im Zeitalter der Aufklärung

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Studien zur “Vernunftlehre’ von Hermann Samuel Reimarus \

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Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg Nr. 38

Logik im Zeitalter der Aufklärung Studien zur ‚Vernunftlehre‘ von Hermann Samuel Reimarus

Herausgegeben von Wolfgang Walter und Ludwig Borinski

GÖTTINGEN

: VANDENHOECK

&

RUPRECHT

: 1980

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Logik im Zeitalter der Aufklärung: Studien zur „Vernunftlehre‘“‘ von Hermann Samuel Reimarus/ hrsg. von Wolfgang Walter u. Ludwig Borinski. — Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1980. (Veröffentlichung der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften ; Nr. 38) ISBN 3-525-85566-4

NE: Walter, Wolfgang

Hrsg.

© Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, Hamburg 1980 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akusto-

mechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

INHALT

NORBERT HINSKE Reimarus zwischen Wolff und Kant HANS-JÜRGEN ENGFER

Die Urteilstheorie von H.$. Reimarus und die Stellung seiner „Vernunft-

lehre“ zwischen Wolff und Kant

H.W. ARNDT Die Logik von Reimarus im Verhältnis zum Rationalismus der Aufklärungsphilosophie WERNER SCHNEIDERS Praktische Logik 000 0

er

75

Professor Dr. Hans Werner Arndt Philosophisches Seminar der Universität Mannheim Schloss 6800 Mannheim

Dr. Hans-Jürgen Engfer Technische Universität Berlin Fachbereich 1

Kommunikations- und Geschichtswissenschaften Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und

Technikgeschichte

Ernst-Reuter-Platz 7 1000

Berlin 10

Professor Dr. Norbert Hinske Universität Trier

Fachbereich I — Philosophie Tarforst 5500

Trier

Dr. Werner Schneiders Westfälische Wilhelms-Universität

Leibniz-Forschungsstelle Rothenburg 32 4400

Münster

Vorwort

Im Auftrage der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V., Hamburg, und der Lessing-Akademie Wolfenbüttel besorgt die ReimarusKommission die Edition der Schriften von Hermann Samuel Reimarus. Im

Zusammenhang

mit der Edition der „Vernunftlehre“

hat die Joachim

Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften zwei Reimarus-Symposien (17.— 19.2.1977; 5.-8.4.1978) in Hamburg veranstaltet. Die Symposien wurden

von der Stiftung Volkswagenwerk finanziell unterstützt.

Auf den Symposien wurden die folgenden Vorträge gehalten: am

17.2.1977:

Wilhelm Schmidt-Biggemann: „Reimarus als Polyhistor“

Gerhard Alexander: „Neue Erkenntnisse zur Apologie“ am

18.2.1977:

Norbert Hinske: „Reimarus zwischen

Wolff

und

Kant.

Zur

historischen

Stellung der Vernunftlehre“ Frieder Lötzsch:

„Der Beitrag von Reimarus zur deutschen philosophischen Fachsprache“ am 19.2.1977:

Gerhard Alexander: „Über die Behandlung der Personalschriften des Reimarus als Einleitung der allgemeinen Editionsdebatte mit Schlußplenum“

am 6.4.1978:

Hans Werner Arndt: „Reimarus’ Logik im Verhältnis zum Rationalismus der Aufklärungsphilosophie“ Hans-Jürgen Engfer: „Das Verhältnis von Reimarus zur analytischen Tradition im Rationalismus des 17. und 18. Jahrhunderts“ Werner Schneiders: „Zur Entwicklung der praktischen Logik von Thomasius zu Reimarus“

8

Vorwort

am 7.4.1978:

Günter Gawlick: „Zu einigen Problemen der Religionsphilosophie bei Reimarus“

Jürgen von Kempski: „Die Instinktlehre des Reimarus

im historischen Zusam-

menhang“ Von diesen Vorträgen ist der Beitrag von Gerhard

Alexander „Neue Fr-

kenntnisse zur Apologie“ in der Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 1979 erschienen. Die thematisch mit der „Vernunftlehre“zusammenhängenden Vorträge der

Herren Hans Werner Arndt, Hans-Jürgen

Engfer, Norbert Hinske und

Werner Schneiders sind in der Reihenfolge, in der sie gehalten wurden, in

diesem Band vereinigt. Sie sind von den Verfassern für den Druck überarbeitet worden und können dem Leser der „Vernunftlehre“, die im Dezember 1979 im Carl Hanser Verlag, München, erschienen ist, wichtige Hinweise geben. Zur Erleichterung der Benutzung neben der „Vernunftlehre“ enthält der

vorliegende Band außer einem Personenregister ein Register der Paragra-

phen der „Vernunftlehre“, die in den Beiträgen zitiert wurden. Für die Herstellung des Registers danken die Herausgeber Frau Renate Wolff. Hamburg, den 15.12.1979 LupwıG BORINSKI

WOLFGANG

WALTER

Veroff.

Joachim Jungius-Ges.

Wiss

Hamburg.

I8,S

9.32:

1980

NoRßerT HınsKE

Reimarus zwischen Wolff und Kant Zur Quellen- und Wirkungsgeschichte der Vernunftlebre von Hermann Samuel Reimarus

Während der Weg „Von Kant bis Hegel“ seit langem im Mittelpunkt des philosophischen und philosophichistorischen Interesses steht, ist die Etappe von Wolff bis Kant trotz einer Anzahl wichtiger Untersuchungen

in diesem Felde noch immer weithin unerforscht. Selbst die dringendsten Texteditionen stehen bei einer ganzen Reihe von Autoren bis heute aus.

Die Gründe, die zu dieser Forschungslage geführt haben, sollen hier nicht erörtert, ihre fatalen Folgen aber wenigstens kurz in Erinnerung gerufen werden. Sie zeigen sich einmal im Felde der Kantforschung, also gerade da, wo die philosophiehistorische Arbeit heute nicht selten überhaupt erst beginnt. Die kritische Philosophie Kants ist nämlich zu einem guten Teil das Resultat eben jener Gedankenbewegung, die sich im 18. Jahrhundert zwischen Wolff und Kant vollzogen hat. Viele ihrer Überlegungen sind ohne Kenntnis dieses Hintergrundes nur unzureichend zu erfassen. Schon Rosenkranz hat auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. In seiner Geschichte der Kant’schen Philosophie bemerkt er: „Historisch lässt sich die Kant’sche Philosophie ohne Berücksichtigung dieser Bewegungen“ der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts „gar nicht recht verstehen“ !. Die Folgen der genannten Forschungslage betreffen aber nicht nur das Verständnis der Kantischen Philosophie. Sie betreffen auch und vor allem das gegenwärtige Verständnis von Aufklärung selber. Die heute so oft beschworene Anstrengung des Begriffs, die die deutsche Aufklärung des

18. Jahrhunderts wirklich auf sich genommen hat, die innere Konsequenz und Eigenständigkeit ihres Gedankenweges, aber auch der präzise Sinn jener Leitideen, die die Gegenwart unter ausdrücklicher Berufung auf die ' Karl Rosenkranz, Geschichte der Kant’schen Philosophie (Immanuel Kant's sämmtliche Werke, hrsg. von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert, Bd. XII], Leipzig 1840, 5.79,

Nonnert Hınskt

10

liegen weithin im Dunke Aufklärung für sich selbst in Anspruch nimmt, oder Mündigkeit er ar

Was mit Ideen wie Vorurteilslosigkeit

flachschichtigen Veen gemeint war, ist längst in einem vagen und hat der Gedankenlosigkeit n

Begriffs untergegangen, der Ernst des

Schlagworts Platz gemacht.? Das gilt nicht zuletzt auch für den Begriff der Aufklärung selber. Die willkürliche Verwendung etwa, die er im Gefolgn

der Frankfurter Schule gefunden hat, wäre bei einer gründlichen Erfor

schung der deutschen Aufklärung des 18. Jahrhunderts wohl kaum denkbar gewesen. Die folgenden Überlegungen möchten einen konkreten Teilaspekt des genannten Zeitabschnitts behandeln. Sie zielen auf den Nachweis, daß

Reimarus

mit seiner

Vernunftlehre,

62. Lebensjahr, in erster Grade die Summe seines zu Kant einen wichtigen Reimarus, wie es ja auch

die

1756,

also etwa

in seinem

Auflage herauskommt und bis zu einem gewissen Nachdenkens darstellt, auf dem Weg von Wolff Platz einnimmt. Auf der einen Seite nämlich ist die einschlägigen Lexika betonen, in zahlreichen

Fragen tiefgreifend von Wolff beeinflußt. Auf der anderen Seite aber artiKants kuliert er neue Gedanken, ohne deren Kenntnis sich die Philosophie

der kaum zureichend verstehen läßt. Das gilt insbesondere für den Begriff

Vernunft selbst, die nun — wie alle anderen Kräfte in der Welt, das ist das bestimmt“ ist Entscheidende — „auch von Natur durch gewisse Regeln

gezeigt (A 17, $17)*. Eben dieser Gedanke aber ist, wie im folgenden Philosophie. werden soll, eine entscheidende Voraussetzung der Kantischen Phase der AnaVor allem in der Preisschrift des Jahres 1762, also in der

die Gegenwart, Freiburg u. München 2 Vgl. Norbert Hinske, Kant als Herausforderung an e von der Unmöglichkeit des totalen Irr1980, II. „Kant und die Aufklärung, Kants Theori bittend, Ursprung und Niedergang einer tums“ und III. „Um eine Mündigkeit von innen Leitidee der Aufklärung“ (im Druck). en vom Jahre 1750 bis 1800 verstorbenen teutsch 3 Vgl. Johann Georg Meusel, Lexikon der n mehrer „Nach 129: 5. Hildesheim 1968],

Schriftsteller, Bd. XI, Leipzig 1811 [Neudruck: en beschäftigte er sich vorzüglich mit der von ihm herausgegebenen philologischen Schrift Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. XXVIl, Philosophie, namentlich mit der Wolfischen.“ übte vorerst Joh. Franz Buddeus, alsbald aber Leipzig 1888, 5. 703: „in der Philosophie (Prantl). Wolff einen entscheidenden Einfluß auf ihn aus“ richtigen ftlehre, als eine Anweisung zum 4 Hermann Samuel Reimarus, Die Vernun Regeln der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Gebrauche der Vernunft in der Erkenntniß Aufl. Hamburg 1756, zweite Aufl. der Einstimmung und des Wiederspruchs hergeleitet, erste

von Johann Albert Hinrich Reimarus, ebd. 1758, dritte Aufl. ebd. 1766, vierte Aufl., hrsg. voneinander abweichen und daher u. Kiel 1782. Die vier Auflagen, die oft stark

Hamburg im folgenden als A, B, C und D sorgfältig auseinandergehalten werden müssen, werden Paragra" g werden die — gleichfalls differierenden — zitiert. Zusätzlich zur Originalpaginierun

phenzahlen angegeben.

Reimarus zwischen Wolff und Kant

11

Iysıs, trıtt der Einfluß von Reimarus auf Kant — wie übrigens auch auf

Mendelssohn® - aufs deutlichste zutage. Wichtige Impulse seiner Vernunftlehre aber bleiben weit darüber hinaus bis in die Zeit der Kritik hinein bei Kant wirksam und bestimmen auf diesem Wege bis heute die Problemstellungen der Wissenschaftstheorie.

1. Wolff und Reimarus Zur Quellengeschichte der Vernunftlehre Die starke Abhängigkeit von Wolff, die bei Reimarus an zahlreichen Stellen zum Vorschein kommt und sich bis zu einem gewissen Grade ja auch

schon an seiner Bibliothek ablesen läßt$, ist bei der philosophischen Konstellation des 18. Jahrhunderts alles andere als überraschend. Als Reima-

rus zu philosophieren beginnt, ist Wolff, gut fünfzehn Jahre älter als er,

nicht nur in Deutschland, sondern weitgehend auch in Europa die alles beherrschende Figur der Philosophie, der Gigant, der in Zustimmung und Widerspruch die philosophische Diskussion bestimmt. Dabei spielen wohl vor allem zwei Faktoren zusammen: Auf der einen Seite hatte Wolff insbe-

sondere in seinen großen lateinischen Schriften ein System entwickelt, dem an Umfang, Geschlossenheit und philosophischer Strenge weit und breit nichts Vergleichbares gegenüberstand. Der Sog, der von seiner Philosophie ausging, bestimmte selbst noch für die Gegner die Bahnen ihres Denkens. Werner Krauss schreibt mit Recht: „Die Disziplinierung dreier Generationen, die durch diese Schule“ des Wolffianismus „gegangen waren, hat als 5 Ähnlich z.B., wie für Mendelssohn in seiner Preisschrift alle mathematischen Wahrheiten

„ursprünglich und implicite in dem ersten Begriffe der Ausdehnung anzutreffen“ sind und durch schrittweise Analysis aus ihm entwickelt werden (Moses Mendelssohn, Abhandlung

über die Evidenz in Metaphysischen Wissenschaften, welche den von der Königlichen Academie der Wissenschaften in Berlin auf das Jahr 1763. ausgesetzten Preis erhalten hat, in: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe, hrsg. von Ismar Elbogen,

Julius Guttmann, Eugen Mittwoch, Bd. II, Berlin 1931 [ergänzter Neudruck: Stuttgart-Bad in Cannstatt 1972], $.274), liegt auch für Reimarus in dem „einzigen Begriff von dem, was

Größen Einerley und nicht Einerley ist“, in Wahrheit „die ganze Vernunftlehre verborgen“ (A 21f., $ 20). Doch bedarf das Verhältnis von Reimarus und Mendelssohn einer eigenen

Untersuchung. 6 Reimarus besaß nahezu alle lateinischen und deutschen Schriften Wolffs. Vgl. den Auk-

tionskatalog der Bibliothek von Hermann Samuel Reimarus, Redigiert von Johann Andreas

Gottfried Schetelig, 2 Tle., Hamburg 1769 und 1770 [Neudruck: Hamburg 1978], Teil I, Nr. 1960, 2012-2018, 2025, 2035-2037, 2045, 2046, 2081, 2094a, 2094b, 2207, 22162223 usw. usw.

12

Nornert

eine der wichtigsten

Voraussetzungen

und nationalen Literatur zu gelten“ .

Hınskı

für das Gedeihen einer kl assısc hen

Auf der anderen Seite aber war Wolff durch seine Vertreibung aus Halle

im November

1723 gewissermaßen zur Symbolfigur der deutschen Aufklä.

rung geworden. Nicht nur sein Werk — sein Name, sein Lebensschicksal, seine Person standen von nun ab für das, was mit Aufklärung gemeint

war. Friedrich der Große

hat diese an die Person gebundene

Bedeutung

Wolffs sehr wohl erkannt: Als er ihn gleich nach Regierungsantritt nach Preußen zurückberief, ging es um mehr als um die Besetz ung eines Lehr. stuhls oder um die Wiedergutmachung eines geschehenen Unrecht s: es war das Zeichen für eine neue Ära, das Signal für den Bruch mit der Orthodo-

xie der Vergangenheit und für ein ‚siecle de la philosophie‘, Am 6. Juni

1740 schreibt er an Johann Gustav Reinbeck: „ich bitte ihnen sich umb des Wolfen mühe zu geben ein mensch der die Warheit sucht und sie lieber

mus unter aller menschlicher geselschaft weerht gehalten werden, und

glaube ich das er eine Conquete im lande der Warheit gemacht hat wohr er den Wolf hier her persuadiret“8, Der Einfluß Wolffs tritt in der Vernunftlehre des Reimarus besond ers klar zutage. Wie Wolff seiner lateinischen Logik, mit der er sein großes, in Latein abgefaßtes Gesamtwerk eröffnet, 1728 einen eigenen „Discursus praeliminaris de philosophia in genere“ vorangeschickt hatte, so beginnt auch Reimarus seine Logik in der ersten Auflage von 1756 mit einer „vorläuffigen Abhandlung“ (D 5, D7) „Von den Stuffen der menschlichen Erkenntniß“ — „humanae cognitionis gradus“, heißt es bei Wolff!o —, „Von der Weltweisheit überhaupt“ — de philosophia in genere! — „und der

Vernunftlehre

insbesondere“

(A 1). In der zweiten

und

dritten Auflage

fehlt dieser einleitende Diskurs. In der vierten Auflage aber hat sie der

Sohn, Johann Albert Hinrich, in gekürzter Form unter dem Titel „Von den Stuffen der menschlichen Erkenntniß, und von der Weltweisheit über-

haupt“ (D’7) ausdrücklich wieder aufgenommen. Aber Reimarus folgt dem Beispiel Wolffs nicht etwa nur in der Komposi-

tion. Auch in der Sache lehnt er sich an zahlreichen Stellen unverk ennbar ?” Werner Krauss, Studien zur deutschen und französischen Aufklär ung, Berlin 1963, $.374. Vg). auch S.206f. * Das

Buch

deutscher

Briefe,

hrsg.

von Walter Heynen, Wiesbaden 1957, 8.109. Vgl. Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung, hrsg. mit einer Abhand lung über Wolft von

Heinrich Wuttke, Leipzig 1841, $.71.

° Christian Wolff, Philosophia rationalis sive logica, methodo scientifica pertract ata et ad usum scientiarum atque vitae aptata [Lateinische Logik). Frankfurt u. Leipzig *1740 (1728),

5. 1-104, — Reimarus besaß die erste Auflage (vgl. Schetelig, a.a.O. Teil I, Nr. 2025). '» Ebd. 5.10, $ 22.

Reimarıs ’wischen Wolff und Kant

13

an dessen Ausführungen an. Auf manchen Seiten seiner Vernunftlehre hat man fast den Eindruck einer mehr oder minder wörtlichen Übersetzung oder Paraphrase des Wolffschen Textes, nur daß Reimarus „unpedansch“

eine „menschliche

Sprache“

(A 24, 522)

zu schreiben

versucht:

„Die erste Stuffe“ ım Ganzen der menschlichen Erkenntnis, so erklärt er, „hührt

zur historischen

IErkenntniß, oder zur Beobachtung dessen, was

wirklich ıst und geschicht oder geschehen ist“ (A 3, 54, D9, SIV), also, ım heutigen Sprachgebrauch, zur Tatsachenerkenntnis.

„Cognitio corum,

quac sunt atque fiunt, ... historica a nobis appellatur“, heißt es bei Wolff.'' „Wer diese, als etwas niedriges und geringes, verachtet oder versaumet, der macht sich übel um die Wissenschaften verdient“ (A 3f., 64; D9, IV), fährt Reimarus fort. „Apparet adeo, cognitionem histori-

cam non esse negligendam“ , heißt es wiederum bei Wolff.!? Die philosophische Erkenntnis dagegen zeige, „wie und warum sie [die Dinge] möglich sind“ (A 6, $6; D 12, $ VI), erläutert Reimarus dann zweı Paragraphen weiter die Stufe der philosophischen Erkenntnis im engeren Sinne. „Cognitio rationis corum, quae sunt, vel fiunt, philosophica dicitur“,

lautet die entsprechende Definition bei Wolff.13 Nicht weniger offenkundig schließlich

sind die Parallelen bei der mathematischen

Erkenntnis:

„Die Kunde der Natur, nach allen ihren Theilen und Begebenheiten, wird dadurch aufs Höchste gebracht“ (A 9, $8; D 15, $ VII), schreibt Reimarus; „cognitio philosophica a mathematica omnimodam certitudinem acquirit“, heißt es auch hier wieder bei Wolff.14 Derartige Parallelen mit der lateinischen wie mit der deutschen Logik Wolffs lassen sich, von den ausdrücklichen Zitaten einmal ganz abgesehen'S, an zahlreichen Stellen der Vernunftlehre nachweisen.!6 Ihre vollständige Anführung ergäbe in einer gewissenhaften Edition des Werkes ohne Zweifel einen umfangreichen Quellenapparat. Die Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede gar wäre das Thema einer eigenen '" Ebd. $.2, $ 3. '2 Ebd. 5.5, $ 11. "» Ebd. 5.3, $6. Vgl. S.13, $ 29: „Philosophia est scientia possibilium, quatenus esse possunt,“

"4 Ebd. $.13, $ 27. '" Vgl. z.B. Vernunftlehre C 3004f., $ 277; D 333 ff, $ 277 (in den ersten beiden Auflagen fehlen interessanterweise noch die ausdrücklichen Hinweise auf Wolffs deutsche Logik). '* Vgl. Vernunftlehre B/C 24, $ 31; D48, $ 31 und Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit [Deutsche Logik], hrsg. von Hans Werner Arndt [Christian Wolff, Gesammelte Werke, hrsg. von Jean Ecole u.a., Abt. I, Bd. I], Hildesheim 1965, $. 152ff., $$ Sff. - Reimarus besaß die neunte Auflage von 1738 (vgl. Schetelig, a.a.O. Teil 1, Nr. 2081).

14

NORBERT HinsKkF

Monographie.!” Statt dessen sollen hier ın der gebotenen Kürze sechs mar kante Punkte genannt werden, an denen Reimarus in seiner Vernunftlehr im großen und ganzen den Auffassungen Wolffs folgt, nämlich: ..

*

e

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1. Die Unterscheidung und Charakterisierung der Stufen oder Schritte (gradus) der menschlichen Erkenntnis als ganzer; die Untergliederung der Metaphysik in Einzelabteilungen; die Benennung der verschiedenen philosophischen Disziplinen;

der Philosophiebegriff; der Wissenschaftsbegriff; und der Vorbildcharakter der Mathematik für die Philosophie, der dann später, wenn auch in ganz anderer Weise, auch im Denken Kants eine

so bedeutsame Rolle spielen wird. 1. Ähnlich wie Wolff im ersten Kapitel seines Discursus praeliminaris unter dem Titel „De triplici cognitione humana, historica, philosophica et

mathematica“ !® den grundlegenden Unterschied von historischer, philosophischer und mathematischer Erkenntnis herausgearbeitet hatte, unterscheidet auch Reimarus zwischen der „historischen Erkenntniß“, der „natürlichen Weltweisheit, nach Anleitung der sich gelassenen, ungekünstelten, gesunden Vernunft“, der „philosophischen oder gelehrten Erkenntniß“ sowie viertens und letztens der „mathematischen Erkenntniß“ (A 3ff., $$ 4ff.; DIEf., $ TVEf.). Die Gemeinsamkeiten mit Wolff sind

offenkundig, der Differenzpunkt ebenso: Zwischen die historische und die philosophische Erkenntnis schiebt Reimarus, die strenge Wolffsche Architektonik unterbrechend, als zweite Stufe die „natürliche Weltweisheit (Philosophie du bon Sens)“ (A4f., $5; D10, $5) ein. Denn „Die Natur leidet keinen Sprung, sondern geht stuffenweise“ (AS, $5; D11, $V).

Eben damit aber scheint Reimarus den prinzipiellen Unterschied zwischen historischer und philosophischer Erkenntnis zu relativieren. Mit einer ganz ähnlichen Argumentationsform aber wird auch schon von Wolff im zweiten Kapitel seines Discursus ein „Medius inter cognitionem philosophicam & historicam gradus“ !? eingeführt, der sich nicht auf Beweise im strengen

Sinne, sondern auf Experimente und Beobachtungen stützt. Und auch die Funktion dieser Zwischenstufe ist bei Reimarus in manchem eine ähnliche wie bei Wolff und läßt bei beiden ein gutes Stück von dem nüchternen Realismus der deutschen Aufklärung zutagetreten. „Es giebt viele Men!7 Vgl. jetzt auch Hans Werner Arndt, Die Logik von Reimarus in Verhältnis zum Rationalismus der Aufklärungsphilosophie, unten 5.59-74.

!® Philosophia rationalis sive logica, a.a.O. $.1. "9 Ebd. 5.27, 654.

Reimarus zwischen Wolff und Kant

15

schen, welche bey dieser zweyten Stuffe bestehen bleiben. Und so ferne es ihre Lebens-Art nicht erlaubt weiter zu gehen, so kann man solches auch keinem

verdenken. Wenn einer nur der gesunden Vernunft Koi den klaren Begriffen nachgehet, und seine Denkungs-Art nicht durch Vorurtheile und angewöhnte Unordnung verdorben hat: so kann auch ein HandwerksKauf- Kriegs- Hof- und Staats-Mann, so kann auch das Frauenzimmer die

nöhtigsten und nützlichsten Wahrheiten zur menschlichen Glückseligkeit verständlich begreifen“ (A Sf., $6; vgl. Di1f., $ VI), schreibt Reimarus.

„Optandum

sane foret, ut iis, quibus vel ingenium tantum non est, vel

otıum non suppetit, quo demonstrationibus vacare possint ipsam scientiam philosophicam sibi comparaturi, ad hunc gradum intermedium con-

tenderent“, heißt es bei Wolff.2° Bei näherem Hinsehen handelt es sich hier also wohl mehr um einen didaktischen oder kompositorischen als um einen sachlichen Unterschied.

2. Zu den folgenreichsten Neuerungen Wolffs gehört seine Einteilung der

Metaphysik in die Ontologie auf der einen und die Psychologie, Kosmologie und Theologie auf der anderen Seite.2! Sie bestimmt auch die Abfolge seiner großen lateinischen Werke: Auf die Logik des Jahres 1728 folgt 1729 bzw. 1730 die Philosophia prima, sive ontologia??, 1731 die Cosmologia generalis?®, 1732 die Psychologia empirica*, 1734 die Psychologia rationalis?° sowie 1736 und 1737 die Theologia naturalis?6. Auch hier schließt

20 Ebd. 21 Vgl. Giorgio Tonelli, The problem of the classification of the sciences in Kant’s time. In: Rivista critica di Storia della Filosofia 30 (1975), 5.243 ff. 22 Christian Wolff, Philosophia prima, sive ontologia, methodo scientifica pertractata, qua

omnis cognitionis humanae principia continentur, Frankfurt u. Leipzig ?1736 ("1730) [Neudruck: Christian Wolff, Gesammelte Werke, hrsg. von Jean Ecole u.a., Abt. II, Bd. III, hrsg.

von Jean Ecole, Hildesheim 1962]. — Reimarus besaß die erste Auflage (vgl. Schetelig, a.a.O. Teil I Nr. 2035). 23 Christian Wolff, Cosmologia generalis, methodo scientifica pertractata, qua ad solidam,

inprimis Dei atque naturae, cognitionem via sternitur, Frankfurt u. Leipzig 21737 (11731) [Neudruck: Christian Wolff, Gesammelte Werke, hrsg. von Jean Ecole u.a., Abt. II, Bd. IV, hrsg. von Jean Ecole, Hildesheim 1964). — Reimarus besaß die erste Auflage (vgl. Schetelig, a.a.O. Teil I Nr. 2037 a).

24 Christian Wolff, Psychologia empirica, methodo scientifica pertractata, qua ea, quae de anima humana indubia experientiae fide constant, continentur et ad solidam universae philosophiae practicae ac theologiae naturalis tractationem via sternitur, Frankfurt u. Leipzig 21738 (11732) [Neudruck: Christian Wolff, Gesammelte Werke, hrsg. von Jean Ecole u.a., Abt. II, Bd. V, hrsg. von Jean Ecole, Hildesheim 1968]. - Reimarus besaß die erste Auflage (vgl. Schetelig, a.a.O. Teil I Nr. 2037b). 25 Christian Wolff, Psychologia rationalis methodo scientifica pertractata, qua ea, quae de anima humana indubia experientiae fide innotescunt, per essentiam et naturam animae

proponuntur, explicantur, et ad intimiorem naturae ejusque autoris cognitionem profutura

16

NORBERT HINSKE

ung Wolffs an, D; sich Reimarus in allen wesentlichen Punkten der Einteil htenden War „betrac (der phie Philoso ersten vier Teile der theoretischen Ontologia, r die „Grundwissenschaft (oder weisheit“), die er nennt, sind “, die „Lehre von der Seele n die „Weltwissenschaft, (oder Cosmologia,) logia Ein Menschen, sowohl nach der Erfahrung als Vernunft, (Psycho heit“ (A 10f., $ 19. rica & rationalis genannt;)“ sowie die „Gottesgelahrt der Metaphy. D 16f., $ X). Daß damit auch für Reimarus alle Disziplinen

ungen über sik vollständig erfaßt sind, zeigen seine anschließenden Bemerk den Bedeutungswandel des Begriffes ‚Metaphysik‘. die Frage der Digzj. 3. Mit diesem zweiten Punkt ist zugleich auch schon

plinentitel berührt. Auch hier stimmt Reimarus weitgehend mit Wolff

überein. Das zeigt sich vor allem an zwei Disziplinen, deren erste Etablje-

rung Wolff in besonderem Maße als seine eigene, ganz persönliche Lei. stung betrachtet hatte: der cosmologia generalis vel transscendentalis?? und der philosophia practica universalis?®. Bei beiden Disziplinen weist auch Reimarus ausdrücklich auf Wolffs originäre Leistung hin. Die „Weltwissenschaft, (oder Cosmologia,)“, so bemerkt er, ist diejenige Disziplin, „welche die Welt im Ganzen, nach ihrer Verknüpfung, betrachtet, und welche von Wolfen zuerst in die Form einer Wissenschaft gebracht ist“

(A 11, $ 10; D 16f., $ X). Ganz ähnlich heißt es im folgenden Paragraphen mit Bezug auf die Philosophia practica universalis: „Die sittliche Weltweisheit hat Wolf

billig auf eine von

ihm

in Ordnung

gebrachte sittliche

Grundwissenschaft (Philosophia practica universalis,) gebauet; worin die ersten Begriffe und Grundsätze von der Menschen freyen Handlungen, Verbindlichkeit, Naturgesetze, Belohnungen und Strafen, Tugenden und

te Werke, hrsg. Frankfurt u. Leipzig ?1740 ('1734) [Neudruck: Christian Wolff, Gesammel York 1972]. New u. im Hildeshe Ecole, Jean von hrsg. von Jean Ecole u.a., Abt. II, Bd. VI,

Reimarus besaß die erste Auflage (vgl. Schetelig, a.a.O. Teil I Nr. 2036). integrum 26 Christian Wolff, Theologia naturalis, methodo scientifica pertractata. Pars prior, u. Frankfurt antur, systema complectens, qua existentia et attributa Dei a posteriori demonstr von Jean Ecole Leipzig 1739 (!1736) [Neudruck: Christian Wolff, Gesammelte Werke, hrsg.

u.a., Abt. II, Bd. VII 1 und VII 2, hrsg. von Jean Ecole, Hildesheim u. New York 1978]; ders.,

et attriTheologia naturalis, methodo scientifica pertractata. Pars posterior, qua existentia Deismi, Atheismi, et antur, demonstr animae buta Dei ex notione entis perfectissimi et natura ur, subvertunt ta fundamen errorum Deo de ue Fatalismi, Naturalismi, Spinosismi aliorumq Schetelig, (vgl. Frankfurt u. Leipzig *1737 (21741). — Reimarus besaß die erste Auflage a.a.O. Teil I Nr. 2045, 2046).

Hinske, Die historischen 27 Vgl. Cosmologia generalis, a.a.O. Praefatio, S.9*. Vgl. Norbert 12 Vorlagen der Kantischen Transzendentalphilosophie. In: Archiv für Begriffsgeschichte

(1968), 5.98 ff.

28 Vgl. Philosophia rationalis sive logica, a.a.0.S.32f., $ 70.

Reimarus zwischen Wolff und Kant

17

Lastern, und dem Wege zur Glückseligkeit, erkläret und dargethan wer-

den“ (A12,$ 11;D 18, $ XI). Aber Reimarus stimmt mit Wolff nicht nur in solchen Grundentscheidungen überein. Selbst bei manchen Detailpro-

blemen finden sich in seiner Vernunftlehre fast wörtliche Parallelen zu

Wolff. So bemerkt er etwa zum Begriff der ‚Pneumatologie‘, wie man ihn kann: insbesondere im Deutscharistotelismus relativ häufig antreffen „Auch haben einige die Lehre von der Seele und von Gott unter dem gemeinen [= gemeinsamen] Namen der Geisterlehre (Pneumatologia,) zusammen gefasset“ (A 11, $ 10; D 17, $ X). Parallel dazu heißt es im Dis-

cursus praeliminaris: „Psychologia & Theologia naturalis nonnumquam Peumaticae nomine communi [!] insigniuntur, & Preumatica per spirituum scientiam definiri solet“ 2,

4. Sehr viel schwieriger und verwickelter liegen die Dinge bei der Begriffsbestimmung der Philosophie selber. Hier war Wolff schon früh mit einer neuen, auf den ersten Blick nicht leicht verständlichen Definition hervorge-

treten: „Philosophia est scientia possibilium, quatenus esse possunt“ 2. Diese Definition hatte im Umkreis des Wolffianismus zwar rasche Verbrei-

tung gefunden, war aber aus mancherlei Gründen in der Regel mit einer gewissen Zurückhaltung behandelt worden.?! Hier mag auch der Grund

dafür zu suchen sein, daß Reimarus an dieser Stelle auf andere Traditionen

29 Ebd.$.36,$ 79.

, Zum 30 Ebd. $. 13, $ 29. Vgl. dazu Norbert Hinske, Die Geliebte mit den vielen Gesichtern

Zusammenhang von Selbstdefinition und Funktionsbestimmung der Philosophie. In: Wozu

u. New Philosophie?, Stellungnahmen eines Arbeitskreises, hrsg. von Hermann Lübbe, Berlin York 1978, 5.322. 31 Vgl. Johann Peter Reusch, Systema logicum antiquiorum atque recentiorum item propria ia praecepta exhibens, Jena *1760 ('1734), 5.33, $ 47: „Secundum Ce. Wolfium Philosoph

besaß die est scientia possibilium, quatenus esse possunt: quod eodem recidit.“ — Reimarus Baumeister, dritte Auflage (vgl. Schetelig, a.a.O. Teil I, Nr. 2078). — Friedrich Christian

(11735), Institutiones philosophiae rationalis methodo Wolfii conscriptae, Wittenberg 201780 tam, considera subiective iam, philosoph e incommod 5.10, $ 27: „Inde nunc intelligitur, non Reimarus — possunt“. esse quatenus m, possibiliu ab illustri Wolfio definiri per scientiam £.). - Vgl. insbebesaß die (zwölfte) Auflage von 1749 (vgl. Schetelig, a.a.O. Teil 1, Nr. 2066 est definitiones hoc sondere auch Friedrich Christian Baumeister, Philosophia definitiva (11735) philosophicae ex systemate Lib. Bar. a Wolf in unum collectae ..., Wien 1775

[Neudruck: Christian Wolff, Gesammelte Werke, Materialien und Dokumente, hrsg. von

Jean Ecole u.a., Bd. VII, mit einem Vorwort von Hans Werner Arndt, Hildesheim u. New

York 1978], 5.2£. Vgl. schließlich Johann Friedrich Stiebritz, Erläuterung Der Vernünftigen Gedancken Von den Kräfften Des Menschlichen Verstandes Des ... Herrn ... Wolffs, Halle

hrsg. 1741 [Neudruck: Christian Wolff, Gesammelte Werke, Materialien und Dokumente, Reimarus von Jean Ecole u.a., Bd. VIII, Hildesheim u. New York 1977], S.46f., $$ 37 ff. — besaß die (dritte) Auflage von 1747 (vgl. Schetelig, a.a.O. Teil I, Nr. 2083).

Nonnert Hınske

18

zurückgreift und die Philosophie zunächst ganz anders als Wolff, nämlich im

Ausgang

von

der

‚Bestimmung

des Menschen‘,

definiert.

Sie

ist für ihn

eine „Wissenschaft aller beträchtlichen |= theoretischen] und sittlichen Hauptwahrbheiten, die in der Menschen Glückseligkeit einschlagen“ (A 13, $ 12; D 19, $ XI1).32 Im Anschluß daran kommt Reimarus auf die Begriffs.

bestimmung der „Alten“ zu sprechen, so wie sie in den Handbüchern des 17. Jahrhunderts?3, aber auch bei Baumeister** zu finden ist. „Ich denke,“ schreibt er, „daß die Alten in der That eben dasselbe haben sagen wollen, da sie die Weltweisheit als eine Wissenschaft aller göttlichen und menschlichen Dinge beschrieben haben“ (A 13, $ 12; D 19, $ XII). Dann aber geht

Reimarus ausdrücklich, wenn auch diesmal ohne Namensnennung, auch auf die Definition Wolffs ein und macht ähnlich wie Baumeister den Versuch, sie mit den vorangeschickten Begriffsbestimmungen der Philosophie zu harmonisieren: „Wenn in neuerer Zeit die Weltweisheit als eine Wis-

senschaft des Möglichen, so ferne es möglich ist, angegeben worden: so ist wohl auf den allgemeinen Grund alles Seyns und aller Erkenntniß gesehen,

welcher freylich alle göttliche und menschliche Dinge, oder alle beträchtliche und thätige Wahrheiten,

in sich fasset“

(A14,

$ 12; D20,

$ XI).

Alles in allem wird man daher sagen können, daß das Vorgehen von Reimarus in dieser Frage ganz auf der Linie der mehr oder weniger orthodoxen Wolffianer liegt. 5. In bezug auf das Verständnis von Wissenschaft dagegen lehnt sich Reimarus wieder aufs engste an Wolffs Discursus praeliminaris an. Wie dieser vertritt auch er einen entschiedenen Rationalismus und versteht Wissenschaft im eigentlichen Sinne als ein von obersten Grundsätzen ausgehendes, streng deduzierendes Verfahren: „Beweise und Wissenschaften“ entstehen „aus an einander hängenden Vernunftschlüssen“ (A 30,

$ 27). Auch hier wirken manche Sätze der Vernunftlehre wie eine wörtliche Paraphrase des Wolffschen Textes. Reimarus schreibt: „Weil nun die 32 Vgl. Baumeister, Institutiones philosophiae rationalis, a.a.O. S.8, $ 21: „Philosophiam, obiectine et systermatice consideratam, definimus cum

Cel. Hollmanno

per doctrinam vel

scientiam, ratione sola cognitam, qua id, quod homini, in quocumque statu spectato, ad felicitatem suam promouendam, vel sciendum, vel agendum est, distincte traditur.“

33 Vgl. Johann Adam Scherzer, Vade mecum Sive manuale philosophicum quadrıpartıtum, Leipzig '1654 (?1658), Teil 1: Definitiones philosophicae in scholis celebrior es, 5.155: „Philo-

sopbia, est rerum divinarum atque humanarum, causarumque, quibus continentur, cognitio.“ 34 Baumeister, Philosophia definitiva, a.a.O, $.3: „Si tibi displicuerit haec definitio [scil. Wolıfii], cam, quam dedit Cicero, retineas. Ita autem Tullius: Philosophia est notitia rerum divinarum & humanarum, & caussarum, quibus hae continentur. Qua quidem definitione,

nescio, an quid Wolfianae possit esse similius“? Vgl, auch Stiebritz, a.a.O. $.64, $ 4.

Reimarus zwischen Wollf und Kant

19

Weltweisheit, nach aller Geständniß, eine Wissenschaft ist: so muß sie aus der gesunden Vernunft deutlichen Grund und zusammenhangenden Beweis von allen Sätzen geben“ (A 14, $ 13; D 20, $ XIII). „Wissenschaft

erfordert“, aus „allgemeinen Grundsätzen oder Regeln“ „alles übrige, durch richtige Schlüsse, in unzertrennter Verbindung, beweisen“ (B/C3,

$6; D25f., $6). Sie ist eine „Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten, die aus unleugbaren allgemeinen Grundsätzen durch unzertrennte

Verbindung der Schlüsse bewiesen werden“ (B/C 247, $ 233; D 278f., $233; vgl. A278, $ 168). Parallel dazu heißt es bei Wolff: „Cum enim philosophia scientia sit ..., in ea demonstranda sunt asserta, ex principiis

certis atque immotis legitima consequentia inferendo conclusiones“ ®.

6. Wie Wolff betrachtet schließlich auch Reimarus die Mathematik als das Vorbild aller anderen Wissenschaften. Zahlreiche Äußerungen zeigen, wie sehr diese Disziplin für ihn spätestens in der Vernunftlehre?® das Ideal der Wissenschaftlichkeit verkörpert. Die Stufe der mathematischen Erkenntnis, so erklärt er, ist „die höchste, welche ein menschlicher Verstand in der deutlichen Erkenntniß erreichen kann“; „ihre ausnehmende Gewißheit und scharfe Lehr-Art bringet dem menschlichen Geschlecht Ehre“ (A9, $8; D15, $ VIII).?” Die „Mathematik in ihren Anfangsgrün-

den der Arithmetik und Geometrie“ ist daher, „zur Uebung einer gesunden natürlichen Logik, höchlich anzurathen. Denn darinn sind alle Regeln der Vernunftlehre aufs genauste beobachtet“ (B/C 6, $ 10; D28, $ 10).?® „Es war dem großen Wolf vorbehalten, die mathematische Richtschnur in die 35 Philosophia rationalis sive logica, a.a.O. S.15, $ 33. 36 Die entgegengesetzte Auffassung scheint Reimarus noch in der frühen Programmschrift Progr. de certitudine, ex methodo mathematica non facile speranda, Wismar 1727, zu vertreten. Doch war diese Abhandlung bislang im Leihverkehr nicht zu erhalten. Vgl. jetzt auch Hermann Samuel Reimarus, Handschriftenverzeichnis und Bibliographie, zusammengestellt und eingeleitet von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Göttingen 1979, 5.51, Nr.20. 37 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [KrV] B492: „die eigentliche Würde der Mathematik (dieses Stolzes der menschlichen Vernunft)“; ders., Refl. 3717 (XVII 262): „Die Mathematik zeigt die Großte Würde der menschlichen Vernunft, die Metaphysik aber die Schranken und ihre eigenthümliche Bestimmung.“ — Kants Druckschriften werden soweit

möglich nach der Ausgabe von Wilhelm Weischedel: Immanuel Kant, Werke in sechs Bän-

den, Darmstadt 51975, zitiert, und zwar nach der dort vermerkten Paginierung der Originalausgaben; A bezeichnet die erste, B die zweite Auflage. Kants Briefe, Nachlaßreflexionen und

Vorlesungsnachschriften sowie die restlichen Druckschriften werden nach der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften zitiert; römische Ziffern ohne weiteren Zusatz

bezeichnen die Bandnummern, arabische die Seitenzahlen dieser Ausgabe.

38 Vgl. Wolff, Deutsche Logik, Vorrede zur ersten Auflage, a.a.O. $.106: „Derowegen bleiben bloß die mathematischen Wissenschaften übrig, daraus man den richtigen Gebrauch der Kräfte des Verstandes ersehen kan.“

NoRnrRT HınsKke

20

Vernunftlehre und Weltweisheit zum Leitfaden einzuführen, und dadurch dem Gebrauche unsers Verstandes, und den Wahrheiten Licht, Ordnung und Vestigkeit zu geben“ (A 221.621).

selbst ... mehr

2. Reimarus und Kant e Zur Wirkungsgeschichte der Vernunftlehr Die angeführten

Gedanken

mögen

ausreichen, um

die Abhängigkeit

der

Vernunftlehre des Reimarus von der Wolffschen Philosophie wenigstens in groben Umrissen sichtbar zu machen. Über das Ausmaß und die sachlichen Konsequenzen dieser Abhängigkeit mag man streiten können, ihre Bedeutung für die Quellengeschichte der Vernunftlehre steht außer Frage. Um einiges komplizierter liegen die Dinge dagegen bei den Problemen der Wirkungsgeschichte, vor allem bei der Frage nach einem möglichen Einfluß von Reimarus auf Kant. Es gibt zwar manche Gründe, die einen solchen Einfluß von vornherein wahrscheinlich machen könnten, nicht zuletzt die allgemeine Hochschätzung, mit der die Vernunftlehre im 18. Jahrhundert behandelt wurde. Sie ist dasjenige Buch, das Buhle bei Reimarus an erster Stelle nennt: „Durch Gründlichkeit und Deutlichkeit übertraf er

zuvörderst alle seine Vorgänger in der compendiarischen Behandlung der Logik. Seine Vernunftlehre aus den Sätzen der Einstimmung und des Widerspruchs hergeleitet, hat lange mit Recht für ein classisches Buch gegolten, und ist es noch.“?% Vergegenwärtigt man sich die philosophischen ‚Revolutionen‘ der vorangegangenen Jahrzehnte, den Siegeszug der kritischen Philosophie und den Beginn des Deutschen Idealismus, so enthalten diese Sätze, geschrieben 1805, also fast fünfzig Jahre nach dem ersten Erscheinen der Vernunftlehre, ein erstaunliches Urteil. Aber noch der Hegelianer Rosenkranz nennt das Buch im Jahre 1840 die „für jene

Zeit classische Vernunftlehre“*°, Neben dieser allgemeinen Hochschätzung des Zeitalters steht, was Kant selbst angeht, das Zeugnis Johann Gottfried Hasses: „Von Philosophen gieng ihm Reinmarus [sic!] über

alle“*', Aber dieses Urteil ist so pauschal formuliert, daß es sich auf jede beliebige Schrift des Reimarus beziehen läßt, und Hasse, dieser „unerträg-

39 Johann Gottlieb Buhle, Geschichte der neuern Philosophie seit der Epoche der Wiederherstellung der Wissenschaften, Bd. V1/2, Göttingen 1805, 5.539f. 40 Rosenkranz, 3.2.0. 5.79, 41



TR

5

Kants und persönliche Notizen aus dem Gerhard Lehmann. ’ Berlin u . Leipzig 1925,

Der alte Kant, Hasse’s Schrift: Letzte Äußerungen

opus postumum, hrsg. von Artur Buchenau und

5.30.

Reimarıs zwischen Wolff und Kant

lich

flache

Mückenseiger",

wie

es in einer

21

zeitgenössischen

Rezension

e Gewährsmann. heilt #2, ist wohl ohnehin nicht gerade der verläßlichst in seinen Vor allem aber läßt sich der Einwand ins Feld führen, daß Kant

sondern die Vorlesungen ja nicht etwa die Vernunftlehre von Reimarus, - als Handvon Meier — genauer: dessen Auszug aus der Vernunftlehre*’ buch zugrunde gelegt hat.

Trotz aller dieser Bedenken aber kann man noch vor der Analyse des e Textes mit Sicherheit davon ausgehen, daß Kant auch die Vernunftlehr

des Reimarus gelesen hat. Nach Wardas Angaben über Kants Bücher befand sich die erste Auflage von 1756 in seinem Besitz.* Und in der ausdrückSchrift über die negativen Größen wird sie von Kant 1763 auch lich zitiert: „Man kann unter andern hierüber die Logik des Reimarus

nachsehen, welcher hierüber [scil. über das Spiel der unbewußten Vorstellungen z.B. beim Lesen] Betrachtung anstellt“ (A 44).*°

ar zu machen, Um die Beziehungen zwischen Reimarus und Kant sichtb sprachlicher könnte man zunächst auf eine Reihe höchst charakteristischer

Parallelen hinweisen. Das gilt z.B. für Metaphern

wie „Luftstreiche“

(A427., $205; B/C383, $327; D418, $327),* „Schlösser in der Luft“ (A4, $4; D9, $IV),

„Richterstuhl“ (B/C 15, $21; D38, $21) bzw.

23, 24. 2 Ebd. 5.70. — Zu „Mückenseiger“ [= Mückenseiher] vgl. Matth. [Wiederabgedruckt in: 1752. Halle 43 Georg Friedrich Meier, Auszug aus der Vernunftlehre, hen Akademie der WissenschafKant's gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußisc

ten, Bd. XVI, Berlin u. Leipzig 1924.] und Studien, hrsg. von Martin 44 Arthur Warda, Immanuel Kants Bücher (Bibliographien Breslauer, Bd. III], Berlin 1922, S. 53, Nr. 94, der Akademie-Ausgabe, verweist 5 Kurd Lasswitz, der Herausgeber der Schrift im Rahmen

Hamburg und Kiel 1756. $ 35“ an dieser Stelle zur Erläuterung auf $ 35: „Vernunftlehre, rt die Augen reiben. Lasswitz (11 479). Wer dieser Angabe pünktlich folgt, wird sich verwunde Auflagen vorausgesetzt und hat nämlich stillschweigend die Identität der verschiedenen

n, aber vermutlich nach der vierten, deshalb zwar das Erscheinungsdatum der ersten angegebe

gerät der Benutzer der ersten Auflage die in Hamburg und Kiel erschienen ist, zitiert. So angeammenhang. Den von Lasswitz durch die ‚Erläuterung‘ in einen ganz anderen Textzus

in der ersten Auflage die $$ 53ff. (der führten $$ 35ff. der späteren Auflagen entsprechen Verwechslung der Auflagen findet Hinweis auf das Lesen findet sich $ 61). — Eine ähnliche der Königlich

Schriften, hrsg. von sich übrigens auch in Wilhelm von Humboldts Gesammelte Zweite Hälfte, Berlin 1907, VIl, Bd. 1, Abt. der Wissenschaften, Preussische

Akademie

die 1782 erschienene vierte Auf5.467. (Allem Vermuten nach hat Engel seinem Unterricht lage der Vernunftlehre zugrunde gelegt.) 4 Vgl. KrV B 771: „alle seine Luftstreiche“. Figuren (1762) A 25: „Allein es ist «7 Vgl. Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen entweder er ist grüblerisch und einmal das Los des menschlichen Verstandes so bewandt; Gegenständen, und bauet Luftgerät auf Fratzen, oder er haschet verwegen nach zu großen schlösser.“

Nonnert Hınskr

22

„Richtstuhl der Vernunft“ (A43, 638)

usw., aber ebenso für Begriffe

“ (A42, 538) wie „Grenzen der Vernunft“ oder „Schranken der Vernunft (Phaenound nicht zuletzt auch für die Formulierungen „Erscheinungen,

mena)“ (B/C80, $88; D 106, $88; vgl. B/C 399, $339; D435, 5339) und

folgenden noch „Dinge, an sich,“ (B/C 14, $ 20; D 37, $ 20), von denen im

um unmittelbare ausführlicher zu handeln sein wird®”. Wieweit es sich hier

g freilich Einflüsse handelt, ist bei dem gegenwärtigen Stand der Forschun

bei nur schwer abzuschätzen. Doch ist zu hoffen, daß sich in diesem Felde

18. Jahrhuneiner fortschreitenden Lexikalisierung der Philosophie des chliche derts, für die die elektronische Datenverarbeitung heute unverglei Maß an Sicherheit Hilfsmittel an die Hand gibt, in Zukunft ein höheres gewinnen lassen wird.°° ana . i o ist jedoch Vernunft“ der „Grenzen oder Mit dem Stichwort „Schranken“ bei Kant auch in zugleich ein Thema angeschlagen, das bei Reimarus wie Auflage der sachlicher Hinsicht eine wichtige Rolle spielt. In der ersten raphen 38 ff. (A 42 ff.) sowie Vernunftlehre sind ihm insbesondere die Parag in den folgenden Auflagen die Paragraphen 210ff. (A 442ff.) gewidmet, raphen 324 und die Paragraphen 21 ff. (B/C 15ff.; D 38 ff.) sowie die Parag Thematik in 325 (B/C 373 ff.; D 408 ff.). Die zentrale Bedeutung, die dieser An dieser der kritischen Philosophie Kants zukommt, liegt auf der Hand. sichtbar. In Stelle wird also eine erste Gemeinsamkeit der Fragestellung ganz verschiedene der Art der Antwort freilich gehen Reimarus und Kant

Vernunft in Wege. Für Reimarus gründen die Schranken bzw. Grenzen der (1746 bzw. 1749) A VII: 4 Vgl. Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte

schichte und Theorie des „vor dem Richterstuhle der Wissenschaften“; Allgemeine Naturge A 197: „vor dem Richebd. Himmels (1755) A 146: „vor dem Richterstuhle der Religion“;

nommenen terstuhle der Gerechtigkeit“; Fortgesetzte Betrachtung der seit einiger Zeit wahrge t“. Erderschütterungen (April 1756) 1469: „vor dem Richterstuhle der Vernunf 49 Vgl. unten 5.26.

hung und 50 Bei Johann Heinrich Lambert, Neues Organon oder Gedanken über die Erforsc

Bezeichnung des Wahren

und dessen

Unterscheidung

vom

Irrthum

und Schein,

2 Bde.,

hrsg. von Leipzig 1764 [Neudruck: Johann Heinrich Lambert, Philosophische Schriften,

Hans-Werner Arndt, Bd.I und I], Hildesheim 1965] ist z.B. keine einzige der genannten

Metaphern belegt. Auch spricht Lambert im Neuen Organon zwar von den „engern Schran-

ken unsrer Erkenntniß“ (Bd.I $.482) bzw. von den „Gränzen unsrer Erkenntniß“ (Bd.1 von „Grenzen 5.488 u. 5.490), von „Gränzen des deutlichen Sehens“ (Bd. II $. 12) oder auch

der Einbildungskraft“ (Bd. Il S.297), aber eben nicht von Schranken oder Grenzen der Ver-

e hrsg. von Nornunft selbst. Vgl. Lambert-Index. In Zusammenarbeit mit Heinrich Delfoss

bert Hinske, Bd. I: Stellenindex zu Johann Heinrich Lambert “Neues Organon I“ Unter

Mitwirkung von Michael Albrecht, Rainer Bast, Birgitta Drosdol, Hans-Jürgen Engfer, Birgit

Nehren in Zusammenarbeit mit Heinrich Delfosse hrsg. von Norbert Hinske [Forschungen Cannstatt 1981 (in und Materialien zur deutschen Aufklärung, Abt. III, Bd. 1], Stuttgart-Bad Vorbereitung).

Reimarus zwischen Wolff und Kant

23

der „Dunkelheit und Undeutlichkeit“ (A 43, $ 38), die für viele unserer Vorstellungen charakteristisch ist: „Weil aber die zureichend klare und

deutliche Vorstellung der Dinge unterscheidet, was in der Macht unserer Vernunft sey, zu vergleichen oder nicht: ... so erstrecken sich die Schran-

ken der Vernunft so weit, als die Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellung zureichend ıst, einzuschen, ob und wie weit die Dinge mit einander einerley sind oder nicht, sich wiedersprechen oder nicht“ (A 42, $ 38). „Aber,

wo wir die zur Vergleichung nothwendige Klarheit und Deutlichkeit nicht haben, da ist die Sache ausser den Schranken unserer Vernunft, wir haben keinen rechten Begriff davon, und können nicht davon urtheilen“ (B/C 15, $21;D38,

$ 21). Für Reimarus also sind die Grenzen der Vernunft, poin-

tiert formuliert, die Grenzen der Analysis, für den Kant der Kritik dagegen sind sie die Grenzen der Synthesis.

Im Mittelpunkt der nachfolgenden Überlegungen soll nun aber ein ganz anderer Gedanke der Vernunftlehre stehen, nämlich die von Reimarus entwickelte Theorie von den eigenen, in ihrer Natur als Kraft gründenden Regeln oder Gesetzen der Vernunft. Zumindest Reimarus selbst hat diese Theorie, wie sich sogleich noch zeigen wird, weitgehend als seine eigene originäre Leistung empfunden, und auch sein Sohn hat gerade hier das besondere Verdienst der Vernunftlehre gesehen. In der Vorrede zur vierten Auflage schreibt Johann Albert Hinrich: „so zeigt der Verfasser [gemeint ist der Vater] aus dem einzigen fruchtbaren Begriffe von der Vernunft, als

einer Kraft, die Gegenstände zu vergleichen, daß alle logische Regeln aus den beyden Grundregeln der Einstimmung und des Widerspruchs entspringen, dadurch die Natur selbst unsere Vernunftkraft so bestimmt hat, daß wir ohne und wider diese Regeln wissentlich nichts gedenken können“ (D 2, Vorrede, unpaginiert).

Diese für das 18. Jahrhundert alles andere als selbstverständliche Interpretation der Vernunft als eine Kraft, die von der Natur selbst, und zwar wie alle anderen Kräfte der Natur auch, mit bestimmten Regeln ausgestattet worden ist, nach denen sie funktioniert, wird von Reimarus in den verschie-

denen Auflagen seiner Vernunftlehre in immer neuen Wendungen vorge-

tragen. So heißt es etwa im Paragraphen 17 der ersten Auflage: „Wir Menschen bringen ... die Kraft der Vernunft mit auf die Welt; und diese

Kraft ist auch von Natur durch gewisse Regeln bestimmt, wornach sich alle im Denken richten“ (A 17). Eben diese Einsicht aber ist nach der

Überzeugung von Reimarus in der überlieferten Logik zumindest stark vernachlässigt worden: „Diese Regeln dürfen also nicht erst in den Schulen

ersonnen werden, sondern sie liegen schon mit der Geburt in der natürlichen Vernunftskraft eingeprägt, als welche dadurch bestimmt ist, und nach

24

Nonntkr Hınske

diesen Regeln denken muß, ohne und wieder dieselbe aber wissentlich nicht denken kann. ... Woher kommt es dann, daß wir bisher in den Logiken

oder Vernunftlehren die Natur nicht fleißiger zu Rahte gezogen haben; und ... daß wir nicht gefragt haben, was eigentlich die Kraft der Vernunft sey, oder durch welche Regeln sie von Natur bestimmet worden? Wir thun ja solches in der Naturlehre, daß wir die Bestimmung der körperli-

chen Bewegungskräfte in allgemeine deutliche Regeln oder Gesetze der Bewegung bringen: warum nicht auch in der Vernunftlehre bey der Bestimmung der Vernunftskraft?“ (A25f., $23). Welche Regeln der Vernunft Reimarus dabei im einzelnen vor Augen hat, kommt vielleicht am

deutlichsten im Paragraphen 14 der zweiten Auflage zum Ausdruck: „Alle Kräfte haben ihre Regeln, wodurch ihr Bemühen etwas gewisses zu verrichten bestimmt ist. Dergleichen finden sich bey den Bewegungskräften, so wohl überhaupt, als besonders bey dem Lichte, der Luft, dem Wasser, u.s.w. Weil nun die Kraft zu reflectiren in einem Bemühen zur Einsicht der Einstimmung und des Widerspruchs besteht: ... so kann die Kraft zu

reflectiren keine andere Regeln, als die Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs, haben“ (B/C 8, $ 14; D 31, $ 14).5! Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Reimarus selbst noch an dieser Stelle von Wolff beeinflußt oder zumindest angeregt worden ist. Die Überein-

stimmungen, die zwischen seiner „Einleitung in die Vernunftlehre“ (B/C 1; D23) und Wolffs „Prolegomena“? zur Logik bestehen, sind kaum zu übersehen. Auch für Wolff nämlich gibt es bestimmte Regeln, die für die Handlungen des Erkennens charakteristisch sind: „Dantur Regulae operationum mentis.“°? Alle Handlungen unseres Erkennens vollziehen sich nach eben diesen Regeln: „evidentissime patebit, mentis operationes juxta certas regulas sese exercere“5*, Ja, das Erkennen richtet sich auch dann nach ihnen, wenn es sie noch nicht ausdrücklich erkannt hat: „Regulas

istas in cognoscendo mens tenet, utut eas non intelligat.“ 55 Und schließlich besteht hier auch für Wolff wie später für Reimarus so etwas wie eine Analogie mit den Tätigkeiten im Bereich der Natur: „Perinde hic sese res

habet ac cum motibus organicis corporis organici. Sunt regulae staticae,

juxta quas fiunt, etsi homo eas ignoret, multo minus autem animantia

bruta cas norint.“°® Aber im Unterschied zu Reimarus gibt es für Wolff

sı Vgl. A32, $ 29; B/C7, $ 12; D 30, $ 12, s2 Philosophia rationalis sive logica, a.a.O. S. 107. 53 Ebd. 5.108, $ 3.

54 Ebd. ss Ebd., $ 4.

s Ebd.

Reimarus zwischen Wolff und Kant

25

nur eine natürliche „Disposition“ des Erkenntnisvermögens, den — unab-

hängig von ihm vorgegebenen — Regeln zu folgen, nicht aber so etwas WI€

eigenständige, in ihm selbst gründende Regeln oder Gesetze, durch die es „mit der Geburt“, also a priori, „von Natur bestimmet“ (A25, $ 23) wäre: „natura menti tantum insit dispositio quaedam ad istam directio

nem“ 57. Angeboren ist für Wolff nichts weiter als eben diese Disposition, und auch sie nur in unterschiedlichem Grade: „Nimirum Logica naturalis connata non est nisi dispositio naturalis ad operationes mentis, quibus

dispositio ad veritas cognoscitur“S®; „non eadem omnibus natura est istam operationum mentis directionem“ 59. Bei der Annahme eigenständiger Regeln, die der Vernunft wie jeder ande-

ren Kraft der Natur „mit der Geburt“ „eingeprägt“ sind (A 25, $23),

handelt es sich daher der Sache nach um mehr als um eine bloße Weiterentwicklung der Wolffschen Logik oder um eine harmlose, nur philoso-

phiehistorisch interessante Spielart innerhalb der vielfältigen Erscheinungs-

formen des Wolffianismus. Sie markiert vielmehr trotz mancher ähnlich

klingenden Formulierungen einen grundlegend neuen Gedanken. Seine

Konsequenzen für die weitere philosophische Entwicklung sind kaum hoch [Thema der Philosophie, Thema der Logik und genug zu veranschlagen. Erkenntnistheorie sind nun nicht mehr die vorgegebenen Gesetze, an denen sich die Vernunft zu orientieren hat, sondern eben jene Regeln, die sie von Hause aus selbst mitbringt und in deren Rahmen sie sich daher auch zwangsläufig bewegt.]Die Vernunft wird damit zu einer Quelle eigener, in ihr selbst gründender, apriorischer Gesetze, sie wird im wörtlichen Sinne autonom. Sie ist nun nicht mehr olov TO P@g*®, nicht mehr „quaedam participata similitudo luminis increati“ ©, nicht mehr „quodammodo jener omnia“ 62, sondern vis naturae wie jede andere res naturae auch. Ob auf neue Vernunftbegriff wirklich vernunftgerechter ist, steht freilich einem anderen Blatt. jedoch bei Die weitreichenden Konsequenzen dieses neuen Gedankens sind in Reimarus noch kaschiert. Reimarus nämlich geht — auch hier wieder a.a.O. 5.20, $ 48 f., spricht 57 Ebd. $ 5. — Baumeister, Institutiones philosophiae rationalis,

endi, vel illud diiudicandi, vel an dieser Stelle von einer „naturali quadam, vel verum cognosc einer „Naturalis ... iudicandi bzw. rationes denique conficiendi, siue ratiocinandi, dote“

ratiocinandique facultas“. $6. ss Philosophia rationalis sive logica, a.. O. 5.109,

9 Ebd. $.114, $ 13. - Vgl. auch Arndt, a.a.O. unten $.61. 0 Aristoteles, Über die Seele, Buch 3, Kap. 5; 430415.

61 Thomas von Aquin, Summa theologiae, | q.84 a. Sc. 2351a. 62 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, Buch 3, Kap. 59; Nr.

Nornear

26

Hınsar

enger Anlehnung an Wolff - ohne große Umschweife von einer grundsarz. lichen Übereinstimmung aus, die zwischen der „logischen Wahrheit ım Denken (veritas in cogitando)“ und der „metaphysischen oder wesentlı-

chen Wahrheit in den Dingen selbst“ (veritas ın essendo), zwischen „unserer natürlichen Kraft der Vernunft“ und den „Dingen an sich“ (A 38, $ 35) besteht. Beide unterliegen den gleichen Gesetzen. Denn „die Dinge an sich“ haben „ihre wesentliche Wahrheit, nach eben den Regeln des

Wiederspruchs und der Einstimmung, wornach sich unsere natürliche Kraft der Vernunft im Denken richtet“ (A 39, $ 35). „Demnach richter sich die wesentliche Wahrheit der Dinge nach eben den Regeln, wornach

wir auch denken“ (B/C 12, $ 17; D 34, $ 17). (Kants berühmte Frage des Jahres 1772, „wie mein Verstand gäntzlich a priori sich selbst Begriffe von

Dingen bilden soll, mit denen nothwendig die Sachen einstimmen sollen“ 6, klingt fast wie eine Frage an eben diesen Text.) Auch diese Auffassung findet ihre Entsprechungen bei Wolff. Auch für ihn besteht die Wahrheit in den Dingen, die „veritas transcendentalis“, wie er sie nennt, darin,

daß diese in ihrer inneren Konstitution ebenso wie unser Denken durch die obersten Grundsätze bestimmt werden. In seiner lateinischen Ontologıe schreibt er: „principium contradictionis & principium rationis sufficientis sunt fons omnis, quae datur in rebus, veritatis, hoc est, datur in ente veritas, quatenus ea, quae insunt, per ista principia determinantur“ **. Trotz

solcher und anderer Parallelen bestehen aber auch hier wieder tiefgreifende Unterschiede. Das gilt insbesondere für zwei Punkte. Zum einen nämlich sind die obersten Grundsätze bei Wolff nicht etwa wie bei Reimarus der Vernunft und den Dingen gemeinsam übergeordnet, vielmehr liegt der ursprüngliche Ort dieser Grundsätze, wenn man die theologische Problematik einmal ausklammert, für Wolff in den Dingen selbst. Eben deshalb gibt es für ihn auch so etwas wie eine „Veritatis logicae a transcendentali dependentia“ 5. Zum anderen aber leitet sich für Wolff von dieser transzendentalen Wahrheit in den Dingen nicht etwa die logische Wahrheit

der Gesetze

oder

Regeln

der Vernunft

her, sondern

nur die

logische Wahrheit ihrer Sätze: „Sı nulla datur ın rebus veritas transcendentalıs, nec datur veritas logıca propositionum universalium, nec singularıum datur nisı in instanti” %. Die Rede von originären Gesetzen der Vernunft %

Brief an Marcus

Herz

vom

21.

Februar

1772.

Nr.70

(X 131).

Marcus Herz du 21 fevrier 1772, hrsg. und übersetzt von $. 11 4. und 8.88 1. “ Philosophia prima, swwe ontologra, a..0. 8.385, S498. + Fbd. $ 499 “ bd.

Roger

Vel. dazu

Kant,

Verneaux,

Parıs

Lettre d

1968,

Reimarus zwischen Wolff und Kant

scheint seiner Sprache weit Reimarus | i selbe r spricht viel dafür, daß anzen einfach Wolff

27

fremd.” Eine ganz andere Frage freilich ıst es, wıe sich dieser Unterschiede bewußt gewesen ıst. Es er auch an dieser Stelle gemeint hat, im großen und zu referieren — jedenfalls deutet er mit keiner Silbe

irgendeine Abweichung an. Auch an diesem Punkt könnte sich zeigen, daß

die schwerwiegendsten Weichenstellungen in der Geschichte des Denkens En selten geradezu gegen den Willen der Beteiligten zustande gekommen sınd.

Hier mag auch einer der Gründe dafür liegen, daß Kant gerade diesen Gedanken

der

Vernunftlehre

mit

frappierender

Selbstverständlichkeit

aufgenommen und weitergedacht hat. Vor allem im Kontext seiner Logikvorlesungen begegnet er auf Schritt und Tritt. So heißt es z.B. in der 1800 von Jäsche herausgegebenen Logik Kants: „Alles in der Natur, sowohl in

der leblosen als auch in der belebten Welt, geschieht nach Regeln, ob wir gleich diese Regeln nicht immer kennen. - Das Wasser fällt nach Gesetzen

der Schwere, und bei den Tieren geschieht die Bewegung des Gehens auch

nach Regeln.“ „Auch die Ausübung unsrer Kräfte geschieht nach gewissen Regeln, die wir befolgen, zuerst derselben unbewußt, bis wir zu ihrer

Erkenntnis allmählich durch Versuche und einen längern Gebrauch unsrer Kräfte gelangen“. „So wie nun alle unsre Kräfte insgesamt: so ist auch insbesondre der Verstand bei seinen Handlungen an Regeln gebunden, die wir untersuchen können. Ja, der Verstand ist als der Quell und das Vermögen anzusehen, Regeln überhaupt zu denken“ (A 1f.). Nicht weniger

nachdrücklich findet sich der Gedanke immer wieder in Kants Nachlaß formuliert. Die Reflexion 1562, im Band XVI der Akademie-Ausgabe die erste Aufzeichnung des Logik-Nachlasses überhaupt, nach der Datierung von Adickes „etwa

1754-5“

(XIV S.XXXVI)

entstanden,6® beginnt mit

der lapidaren Erklärung: „Alles, was aus einem gewißen Vermögen herfließt, entsteht gewißen Regeln gemäß. Denn es geschieht immer einem Grunde gemäß. Folglich wird auch die Vernunft nach gewißen Regeln

67 Vgl. Deutsche Logik, a.a.O. $.244, $ 3: „Es ist an dem, der Mensch hat eine Geschicklichkeit von Natur zu den Verrichtungen des Verstandes, und dem Verstand sind Regeln vorgeschrieben, darnach er sich achtet [= richtet], ob er sie gleich nicht verstehet, gleichwie

die Cörper sich nach gewissen Regeln bewegen, und selbst der Mensch im Gehen und Stehen gewisse Regeln in acht nimmet, die er nicht verstehet. Diese dem Verstande von GOrt vorgeschriebene Regeln und die natürliche Geschicklichkeit darnach zu handeln, machen die natürliche Logick“. Vg). auch Arndt, a.a. O. unten $.62f.

6 Zur Problematik dieser Datierungen vgl. Norbert Hinske, Die Datierung der Reflexion 3716 und die generellen Datierungsprobleme des Kantischen Nachlasses. In: Kant-Studien 68

(1977), 5.321-340.

28

NoRrBerT HiNSKE

handeln“ (XV13).° In der Reflexion 1579 heißt es: älle unsere Kräfte verfahren nach Regeln, also auch Verstand und Vernunft (XVI 17). Und noch in der Reflexion 1628, die Adickes in die achtziger Jahre verlegt, notiert Kant: „Ich habe gesagt: alles, was in der Welt geschieht, geschehe

nach Regeln; der Verstand also übe sein Geschafte auch nach Regeln aus“ (XV143). In den Nachschriften der Logik-Vorlesungen schließlich, also im Band XXIV der Akademie-Ausgabe, wird dieser Gedanke

in aller Breite

ausgeführt. So beginnt beispielsweise die Logik Herder mit den folgenden aufschlußreichen

Sätzen:

„Alles geschieht

nach

Regeln,

Stein, Waßer

bewegt sich so,?° der Mensch in seinen mechanischen Handlungen. — Die Handlungen des Verstandes sind gewisse Phänomene an der Natur“ (XXIV 3). Parallel dazu heißt es in der Logik Blomberg, die allem Vermuten nach den Reflexionsstand um 1771 wiedergibt: „Die gantze Natur

beweget sich nach Reguln, so bewegt sich das waßer nach Hydraulischen Reguln, die Natur würcket nach Reguln, selbst unbeständige Witterungen haben ihre gewisse Reguln, ob wir sie gleich nicht bemercken. Die Thiere bewegen sich nach Reguln, deren sie sich oft nicht einmal bewußt sind. Der Mensch handelet nach Reguln, und bedienet sich besonders des Verstandes nach gewissen Sätzen, und Reguln“ (XXIV 20). Und die Logik Pölitz, beinahe zwanzig Jahre später entstanden, repetiert: „Alles geschie-

het nach Regeln, so wol in der Körper-Welt als in der Menschheit. Die

Ausübung unserer Kräfte geschieht auch nach gewißen Regeln und wir verfahren nach denselben ob wir gleich uns derselben nicht bewust sind,“ „Der Verstand handelt auch nach Regeln, die wir untersuchen können. Er

ist ßen ten Ein

das Vermögen zu denken, wir können also nicht denken als nach gewiRegeln“ (XXIV 502). Auch die anderen Logik-Nachschriften enthalzahlreiche so oder ähnlich lautende Passagen.” Gedanke, der in vielen dieser Äußerungen in dieser oder jener Form

wiederkehrt, ist die Analogie der Verstandes- mit den Naturgesetzen, die

* Dabei scheint jedoch auch Kant nicht etwa nur die Vernunftlehre von Reimarus, sondern zugleich auch die Prolegomena von Wolffs lateinischer Logik (vgl. oben S. 24f.) vor Augen

gehabt zu haben. So heißt es etwa in der Reflexion 1562: „gleich wie man um zu gehen nicht darf den Borell gelesen haben“ (XV14). Parallel dazu bemerkt schon Wolff, Philosophia rationalis sive logica, a.a.0. 5.108, $4: „Nemo de eo dubitabit, qui vel obiter inspexerit Jo.

Alphonsi Borelli opus de motu animalium.“ Die sachlichen Erläuterungen der Akademie‚Ausgabe bedürfen daher an dieser Stelle der Ergänzung.

(M Zur Interpunkton vgl. Immanuel Kant, Aus den Vorlesung en der Jahre 1762 bis 1764,

Auf Grund der Nachschriften Johann Gottfried Herders, hrsg. von Hans Dietrich Irmscher [Kantstudien-Erg änzungshefte 88], Köln 1964, 5.43.

—"" Vgl. z.B. Logik Philippi XXIV 311; Logik Busolt XXIV 608: Logik Dohna-Wundlack en XXIV 693; Wiener Logik XXIV 790.

Reimarus zwischen Wolf und Kant

29

bei Kant wie bei Reimanus eine kaum zu überschätzende Rolle spielt. Auch die „Handlungen des Verständes sind gewisse Phänomene an der Natur“ (XXIV 3). Bei seinen Gesetzen handelt cs sich daher im Prinzip um keine anderen Gesetze, als wie sie auch bei den übrigen Kräften der Natur zu beobachten sind. Eben diese Analogie nun suggeriert eine außer jedem

Zweifel stehende Verläßlichkeit auch der Gesetze des Verstandes oder der Vernunft. Kant hat an dieser Verläßlichkeit der Vernunftgesetze, wie sich im folgenden ZEIGEN wird, bis nach 1770 unbeirrt festgehalten, ja selbst

noch in der Kritik der reinen Vernunft ist dieser Gedanke stellenweise zu

finden. Erst nach der Inauguraldissertation von 1770, etwa mit fünfzig Jahren, gelangt Kant zu der unheimlichen Idee einer Scheinhaftigkeit der Vernunft selbst, einer inneren Widersprüchlichkeit ihrer eigenen Gesetze, einer Antinomie, die nur durch eine ausdrückliche Kritik der reinen Vernunft aufgelöst zu werden vermag.

Um diese Gedankenbewegung abschließend wenigstens noch in groben

Zügen sichtbar zu machen, soll im folgenden Kants Irrtumstheorie etwas genauer analysiert werden. Eine frühe Fassung dieser Theorie findet sich in

der Preisschrift des Jahres 1762, erschienen 1764 unter dem Titel Untersu-

chung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. In dieser Schrift bemerkt Kant: „Der menschliche Verstand ist so wie jede andre Kraft der Natur an gewisse Regeln gebunden. Man irret

nicht deswegen, weil der Verstand die Begriffe regellos verknüpfet, sondern, weil man dasjenige Merkmal, was man in einem Dinge nicht wahr-

nimmt, auch von ihm verneinet, und urteilt, daß dasjenige nicht sei, wes-

sen man sich in einem Dinge nicht bewußt ist“ (A 87f.). „Bemerkt man

nun ein oder das andre Merkmal nicht, was gleichwohl zu seiner hinreichenden Unterscheidung gehört, und urteilt, daß zu dem ausführlichen Begriffe kein solches Merkmal fehle, so wird die Definition falsch und trüglich“ (A 88). Die Quelle des Irrtums liegt für Kant zu diesem Zeitpunkt also in einem Mangel an Bewußtsein, der für viele unserer Vorstel-

lungen kennzeichnend ist. Eben dieser Mangel hindert uns daran, das

Verhältnis zu erkennen, das zwischen den Merkmalen der Dinge in Wahrheit besteht, und führt uns zu falschen Begriffen. Genau das ist nun aber auch die Art und Weise, in der Reimarus in seiner Vernunftlehre das Phäno-

men des Irrtums zu erklären sucht, nur daß bei ihm nicht von einem Mangel

an Bewußtsein, sondern von einem Mangel an Klarheit und Deutlichkeit

unserer Vorstellungen die Rede ist: „Da wir ... ohne und wider diese

Regeln der Vernunft wissentlich nichts gedenken können: ... so folget, daß

aller Irrthum ursprünglich aus der Unwissenheit unsers Mangels an erfor-

derlicher Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen entstehe“ (B/C 374,

Nonne

30

$ 324; D409, 5 324; vgl. A443E,

Hinsar

$ 210). „Zuweilen nimmt man an, eın

Ding sey möglich, bloß weil man nicht einsichet, dal es wiedersprechend sey. Allein ein anders ist, klar und deutlich einsehen, daß Eins dem Andern nicht

wiederspreche;

... ein anders

ist, nicht

einsehen,

daß

Eıns dem

Andern wiederspreche* (A 49, $ 43,3). In anderer, Kantischer Formulıerung aber bedeutet das: Man bemerkt beispielsweise nicht die Unmöglichkeit einer Sache, „weil man dasjenige Merkmal, was man ın cınem Dinge nicht wahrnimmt, auch von ihm verneinet, und urteilt, daß dasjenige

nicht sei, wessen man sich in einem Dinge nicht bewußt ist“ (Deutlichkeit ASTF.). Diese analytische Irrtumstheorie von 1762, die die eigentliche Quelle des

Irrtums mit Reimarus unserer Vorstellungen aufgegeben oder nur beibehalten. Nicht die

in einem Mangel an Bewußtsein oder an Klarheit sucht, hat Kant, wie es scheint, relativ rasch wieder noch für Fragen von untergeordneter Bedeutung Gesetze der Analysis, sondern die Gesetze der Syn-

thesis rücken für ihn nach 1764 mehr und mehr in das Zentrum seiner Überlegungen. Aber noch in seiner Inauguraldissertation von 1770 De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principis, in deren Zentrum eine neue, ganz anders geartete Theorie des Irrtums steht, hält Kant an

einem der wesentlichen Gedanken jener alten Irrtumstheorie unerschütterlich fest. Auch für die Inauguraldissertation gilt sinngemäß: „Der mensch-

liche Verstand ist so wie jede andre Kraft der Natur an gewisse Regeln gebunden. Man irret nicht deswegen, weil der Verstand die Begriffe regel-

los verknüpfet* (Deutlichkeit A 87). Der Grund des Irrtums liegt nun freilich nicht mehr in einem Mangel an Klarheit und Deutlichkeit unserer Vorstellungen; er liegt vielmehr, wie Kant jetzt sagt, in einer „permutatio intellectualium et sensitivorum“ (A 30, $ 24), ın einer Verwechselung der „leges cognitionis intuitivae“ — bzw. der leges „sensualitatis“ (A 7, $ 3) mit den leges „intellectus er rationis“ (A 2f., $ 1). Denn das menschliche

Erkennen wird von höchst unterschiedlichen Gesetzen bestimmt. Die sinnliche Erkenntnis des Menschen folgt ganz anderen Gesetzen als sein Ver-

stand. Eben diese Gesetze aber stehen nicht etwa problemlos nebeneinander, vielmehr gibt es so etwas wie einen „dissensus inter facultatem sensitivam et intellectuwalem“ (A 3, $ 1), einen Streit zwischen den Gesetzen der Sinnlichkeit und denen des Verstandes. Aus ihm entspringen für Kant zu diesem Zeitpunkt alle ernstlichen Streitfragen der Metaphysik, alle Widersprüche, alle Irrtümer, in die sich der menschliche Verstand verstrickt. Auch diese neue Erklärung des Irrtums aber ist nur sinnvoll, wenn man davon ausgeht, daß die Gesetze des Verstandes nicht weniger verläßlich sind als die (anderen) Gesetze der Natur auch und daher für sich genom-

Reimarus zwischen Wolff und Kant 1

31

anıcerhli,np

men jeden Irrtum ‚ausschließen, so daß man ganz anders geartete Gesetze hinzunchmen muß, durch deren Einwirkung der Irrtum allererst zustande kommt.

nn

Auch in der Kritik der reinen Vern unft hat sich dieser Gedanke, obw ohl sie der Sache nach über ihn hinweg ist, überraschenderweise noch hier und da erhalten, So schreibt K ant gleich zu Beg inn der transzendentalen Dialektik: „In einem Erkennt ie Tkenntnis, das zusammenstimmt, ist kein Irrtum. mit den Verstandesgesetzen durchgängig In einer Vorstellung der Sinne ist (weil

sie gar kein Urteil enthält) auch kein Irrtum. Keine Kraft der Natur kann aber von selbs t von

ihren eigenen Gesetzen

abweiche

n. Daher würden weder der Verstand für sich alle in (ohne Einfluß einer andern Urs ache), noch

die Sinne für sich, irren;

der erstere darum nicht, weil, wenn er bloß nach seinen Gesetzen ha ER : ndelt, die Wirkung (das Urteil) mit diesen Gesetzen notwendig

übereinstimmen muß“ (B 350). Die Erklärung des Irrtums,

die Kant an dieser Stelle vorschlägt, entspricht noch ganz der Irrtumstheorie von 1770. Wie in der Inauguraldissertation kommt der Irrtum auch hier „durch den unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit auf den Verstand“ zustande: „Weil wir nun außer diesen beiden Erken ntnisquellen keine andere haben, so folgt: daß der Irrtum nur durch den unbem erkten Einfluß der Sinnlichkeit auf den Verstand bewir kt werde, wodurch es geschieht, daß die subjektiven Gründe des Urteils mit den objektiven

zusammenfließen, und diese von ihrer Bestimmung abwei chend machen,

so wie ein bewegter Körper zwar für sich jederzeit die gerade Linie in derselben Richtung halten würde, die aber, wenn eine andere Kraft nach

einer andern Richtung zugleich auf ihn einfließt, in krummlinige Bewe-

gung ausschlägt“ (B350f.). Die philologischen Probleme, die diese und andere Stellen der Kritik der reinen Vernunft mit sich bringen, können hier nicht erörtert werden. Die sogenannte „patchwork theory“ von Norman Kemp Smith’? ist am Ende doch so abwegig nicht. In ihrer letzten, ausgereiften Position freilich ist die Kritik der reinen Vernunft über diesen Gedanken hinweg. Für sie sind die Gesetze der Vernunft

an sich selbst widersprüchlich. Kennzeichnend für die Vernunft ist sowohl das Gesetz, jede Bedingung wiederum als bedingt anzusehen und damit ins unendliche weiterzufragen, als auch das Gesetz, sich erst bei einem Unbedingten zufriedenzugeben und daher ständig nach einer solchen Bedingung 2 Vgl. Norman Kemp Smith, A Commentary to Kant’s ‚Critique of Pure Reason‘, New York

21923 (21918) [Neudruck: New York 1962] sowie neuerdings Alfons Kalter, Kants vierter

Paralogismus, Eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zum Paralogismenkapitel der ersten Ausgabe der Kritik der reinen

Vernunft

[Monographien zur philosophischen For-

schung, Bd. CXLII], Meisenheim am Glan 1975, $. 1-43.

Nornert HınskF

32

Ausschau zu halten, die ihrerseits gerade

nicht wiederum bedingt ıst,73 Das

aber bedeutet zugleich: Die menschliche Vernunft ist selber von gegenlaufigen Gesetzen bestimmt, von Gesetzen, die sich gegenseitig konterkarie. ren, sie enthält eine Antinomie und bedarf deshalb nicht mehr einer Kritik

der sinnlichen Erkenntnis, sondern einer Kritik der reinen Vernunft selbst. Erst mit dieser Wendung, so könnte man daher sagen, löst sich Kant ganz

von der Vernunftlehre des Reimarus, deren tiefgreifender Einfluß auf Kant jetzt wohl deutlich sichtbar geworden ist. Aber in Wahrheit löst sich Kant

auch an dieser Stelle nicht ganz von Reimarus, vielmehr läßt sich der Anti. nomiegedanke

als solcher

überhaupt

nur

auf

dem

Hintergrund

der

Annahme verstehen, daß die Vernunft wie jede andere Kraft der Natur von Hause aus ihre eigenen Gesetze mitbringt, nur daß diese Gesetze, das unterscheidet den Menschen von allem anderen in der Natur, an sich selbst antinomisch sind. 73 Vgl. etwa Refl. 3976: „Es ist nach dem subiectiven Gesetz der Vernunft nothwendig, eine erste handlung anzunehmen, wodurch das übrige alles folge; es ist aber eben so wohl nothwendig, einen Grund überhaupt von ieder handlung und also kein erstes anzunehmen“ (XVI1 372). Vgl. Norbert Hinske, Kants Begriff der Antinomie und die Etappen seiner Ausarbeitung. In: Kant-Studien 56 (1966), S.485ff.; ders, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, Der dreißigjährige Kant, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1970, $. 106 ff.

Veröff. Joachim Jungius-Ges. Wiss, Hamburg,

IR, S. 33-$R; I9RO

HANS-JÜRGEN ENGFER

Die Urteilstheorie von H. 5. Reimarus

und die Stellung seiner „Vernunftlehre“ zwischen Wolff und Kant Die philosophiehistorische Stellung einer Schrift kann vielleicht nicht besser bestimmt werden als dadurch, daß gezeigt wird, daß und wie sie in der Lage ist, in der philosophiehistorischen Forschung entstandene Probleme zu lösen und dort offengebliebene Fragen zu beantworten. Ich werde daher mit einer solchen Frage aus der gegenwärtigen philosophiehistorischen Diskussion beginnen, die zunächst nichts oder wenig mit der Vernunftlehre von Reimarus zu tun zu haben scheint, sondern eine der Kern-

fragen der Logikgeschichte des frühen 18. Jahrhunderts darstellt. Es handelt sich um die Frage, welchen Einfluß die analytische Urteilstheorie von Leibniz auf die Logik des 18. Jahrhunderts und insbesondere auf die des vorkritischen Kant genommen

hat, und im genaueren

um

die, welche

Theorie des Urteils Wolff und die Wolffsche Schule vertreten und tradiert haben.

In der neueren Literatur über die Wolffsche Philosophie und insbesondere über die Wolffsche Logik tauchen nämlich[zwei unterschiedliche Beurtei-

lungen der Wolffschen Urteilstheorie auf: die eine Seite ist der Ansicht, daß Wolff in der Theorie des Urteils den Leibnizschen Ansichten so weit

folge, daß man bei ihm vom Vorliegen einer analytischen Theorie des Urteils reden könne; die andere Seite vertritt die Ansicht, daß Wolff gerade in der Theorie des Urteils von der analytischen Konzeption Leibnizens

abgewichen sei. | So fügte Gottfried Martin der zweiten Auflage seines Leibnizbuches einen Anhang über „Die Bedeutung von Leibnizens analytischer Logik im achtzehnten Jahrhundert“ an!, in dem er nachzuweisen sucht, daß „die Logik und insbesondere die Urteilstheorie von Leibniz im achtzehnten Jahrhundert eine große Wirkung ausgeübt“ haben?; dabei verweist er insbesondere darauf, „daß der vorkritische Kant noch völlig auf dem Boden der " Gottfried Martin: Leibniz. Logik und Metaphysik. Zweite, durchgesehene und vermehrte

Auflage. - Berlin 1967, 5.211231. 2 Ebd. $.211.

HANS-JÜRGEN ENGFER

34

analytischen Logik von Leibniz steht“ ?. Dies ist für ihn „überraschend“ 4, weil in seiner Einschätzung Wolff zwar die analytische Begriffs- und die analytische Beweistheorie von Leibniz im Großen und Ganzen - allerdings

mit charakteristischen Abweichungen — beibehalten, die „analytische ; Urteilstheorie“ aber „im Ganzen“ aufgegeben habe‘: die Beziehung zwi/ -schen Subjekt und Prädikat im wahren Satz werde bei Wolff nicht als Identität zwischen Subjekt und Prädikat bestimmt, sondern „auf einen zwibloßen Zusammenhang, auf einen nexus reduziert, und dieser nexus schen dem Subjekt und dem Prädikat beruht auf dem nexus zwischen den durch das Subjekt und das Prädikat bezeichneten Gegenständen“6.) Ebenso sieht Wilhelm Risse in seiner umfassenden „Logik der Neuzeit“? das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat in der Wolffschen Urteilstheorie

durch einen „Seinszusammenhang“ bestimmt®. Und Winfried Lenders

schließlich macht „die analytische Begriffs- und Urteilstheorie von G.W.Leibniz und Chr. Wolff“ zum Thema seiner Dissertation? und kommt im wesentlichen zu denselben Resultaten: Wolff habe zwar in der Begriffstheorie Wesentliches von Leibniz übernommen, aber die analytische

Urteilstheorie

zwischen

Subjekt

nicht

fortgeführt,

und

Prädikat

sondern

auf

einen

„den

Zusammenhang

Seinszusammenhang

beschränkt“ !°, Demgegenüber betonen andere Autoren den analytischen Charakter auch

der Wolffschen Urteilstheorie. Hans Werner Arndt schreibt in seiner Einleitung?! zur deutschen Logik Wolffs: „Wie Leibniz versteht Wolff die im

3 Ebd. $.212.

4 Ebd. 5 Ebd. S.214. 6 Ebd. 5.217.

„2 Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. [Bisher] 2 Bde. — Stuttgart, Bad Cannstatt 1964 ff. - \s ‚Ebd. Bd. 2, 5.595 f.: „Gegenüber Leibniz’ analytischen, rein auf den Begriffsinhalt bezoge-



nen Urteilformel praedicatum inest subjecto beschränkt Wolff die Beziehung von Subjekt und Prädikat auf einen bloßen Zusammenhang oder ein Übereinkommen der Begriffe in der von ihnen bezeichneten Sache. Urteile beruhen also nicht darauf, daß der Begriff des Subjekts den des Prädikats in sich enthält, sondern daß diesen beiden Begriffen ein Seinszusammenhang zugrunde liegt.“

3 Winfried Lenders: Die analytische Begriffs- und Urteilstheorie von G.W. Leibniz und Chr. Wolff. - Hildesheim, New York 1971; vgl. dazu die Rezension des Verf. in: Studi

internationali di filosofia 5, 1973, 5.258-260.

10 Ebd. $.158.

11 Hans Werner Arndt: Einführung des Herausgebers. In: Christian Wolff: Vernünftige

Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit. Hrsg. u. bearb. v. Hans Werner Arndt (= Christian Wolff: Gesammelte Werke. Hrsg. u. bearb. v. J. Ecole u.a., I. Abteilung: Deutsche Schriften, Bd. 1). Hildesheim 1965, 5.7-102.

Die Urteilstheorie von HS. Reimarus

35

Urteil gesetzte Bezichung zwischen Subjekt und Prädikat als eine Implikationsbeziehung“; sowohl „im Falle der notwendigen Wahrheiten“ als „im Falle der zufälligen“ sei für Wolff das Prädikat im Subjektbegriff enthal-

ten, entweder notwendig oder nur der Möglichkeit nach !2, Und entsprechend versteht Arndt in seiner Habilitationsschrift'? die Wolffsche „Urteilstheorie wie diejenige von Leibniz, die der ‚Logik von Port-Royal‘ und auch implizit die kartesische als eine ‚analytische‘ “ +. Und Giorgio Tonelli schließlich versteht in seiner umfassenden Bestandsaufnahme über

den Gebrauch der Begriffe „Analyse“ und „Synthese“ in der ersten Hälfte

des 18. Jahrhunderts!5 die Wolffsche Urteilstheorie offenbar ebenfalls als analytisch, wenn er aus Wolffs Ontologie zitiert, „that a demonstration of a proposition is a perfect analysis if it shows that the proposition is identical“ 16,

Ich möchte die hier aufgeworfene Frage, ob Wolffs Urteilstheorie analytisch ist oder ob für ihn Urteile auf einem realen Gegenstandsbezug beruhen, den man wohl eher „empirisch“ als „Seinszusammenhang“ nennen sollte, erst in einem späteren Teil des Vortrags behandeln. Dies auch deshalb, weil bislang noch offen ist, ob und in welcher Weise es sich dabei für

die Wolffsche Philosophie um eine wirkliche Alternative handelt. Die

Vernunftlehre von Reimarus'” jedenfalls scheint beide Ansätze miteinander vereinbaren zu wollen. Denn in ihr findet sich erstens eine Theorie des Urteils, die so analytisch ist, wie es sich diejenigen nur wünschen können,

die — wie Lenders — auf der Suche nach Texten sind, „die Kant zugänglich waren und aus denen er die Grundlage der analytischen Logik entnehmen (12 Ebd. 5.82: „... ein Urteil ist dann als wahr zu bezeichnen, wenn der Subjektsbegriff mögliche Bestimmung des Prädikatsbegriffes ist. Im Falle der notwendigen Wahrheiten (propositiones categoricae) gilt dieser Satz ebenso wie im Falle der zufälligen (propositiones hypotheticae), nur daß bei der notwendigen Wahrheit das Prädikat als notwendig im Subjekt

enthalten gedacht wird, während es bei der zufälligen Wahrheit nur der Möglichkeit nach in diesem enthalten ist.“ !3 Hans Werner Arndt: Methodo scientifica pertractatum. Mos geometricus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theorienbildung des 17. und 18. Jahrhunderts (= Quellen und

Studien zur Philosophie, hrsg. v. Günther Patzig, Erhard Scheibe, Wolfgang Wieland, Bd. 4). — Berlin, New York 1971. 14 Ebd. $.130.

15 Giorgio Tonelli: Analysis and Synthesis in XVIllth Century Philosophy Prior to Kant. In:

Archiv für Begriffsgeschichte 20, 1976, 5. 178-213. !6 Ebd. $.196. '" Die Vernunftlehre wird hier nach der „dritten verbesserten und zu Vorlesungen eingerichteten Auflage“ von 1766 zitiert; die Paragraphenangaben im Text verweisen auf diese Ausgabe. Bei Zitaten wurden die überaus häufigen Sperrungen nur da übernommen, wo sie auch in dem veränderten Kontext sinnerhellend waren.

Hans- JÜRGEN ENGFER

s

di

arus nicht weniger grundsätzlich konnte“ !*, Und zweitens wird bei Reim isses“ der „ersten Quelle unsers Erke. nntn die These von der Erfahrung als enamm hier bei Reımarus den Zus vertreten ($ 213). Wenn es also gelingt,

dann dürfte das einiges Licht hang zwischen beiden Thesen aufzuklären, rischer ytischer Urteilstheorie und empi auch auf das Verhältnis von anal on \ Grundlegung der Erkenntnis bei Wolff werfen. einigen mit Kürze Teil in aller Ich werde mich daher in einem ersten itens die orie des Urteils beschäftigen, zwe Aspekten !? der Leibnizschen The tens

damit vergleichen, und drit analytische Urteilstheorie des Reimarus und Reimarus in dieser Frage zu dann das Verhältnis zwischen Wolff hte ich auf

ießenden vierten Teil möc bestimmen suchen. Und im abschl ftlehre des Reimarus auf die einige Aspekte hinweisen, in denen die Vernun hilosospätere,

nachwolffsche

der deutschen

Entwicklung

Aufklärungsp

indem ich auf einige Parallelen in phie vorausdeutet, und werde das tun, den vorkritischen Schriften Kants hinweise.

1:

analytisch genannte Theorie Die von Leibniz20 entwickelte und später?" en Urteil der Begriff des des Urteils besagt, daß in jedem wahren bejahend Gedanke vom s Begriff des Subjektes enthalten ist??. Der Prädikateim 18 Lenders a.a.O., 5.180.

findet sich bei Martin Schneider: Analysis 19 Die letzte umfassende Erörterung dieses Themas s und Synthesis der Aussagen und Synthesis bei Leibniz. — Diss. Bonn 1974, Teil II: Analysi

(5.217-340); vgl. dazu die Rezension von Albert Heinekamp:

Über Leibniz’ Logik und

7. Metaphysik. In: Studia Leibnitiana 8, 1976, 5. 265-28

ophischen Schriften von 20 Die Schriften von Leibniz werden zitiert nach GP = Die philos

Nachdruck Hildesheim 1965 G.W. Leibniz, hrsg. v. C.l. Gerhardt, 7 Bde. — Berlin 1875-90, des manuscrits de la Bibliotheund C = Opuscules et fragments inedits de Leibniz. Extraits

que royale de Hanovre par Louis Couturat. — Paris 1903, Nachdruck Hildesheim 1966.

Bertrand 21 Die Bezeichnung der Leibnizschen Urteilstheorie als einer analytischen geht auf

ophy of Leibniz. With an Russells Leibnizbuch zurück (A Critical Exposition of the Philos che Dichotomie "Appendix of Leading Passages. - 2London 1937). Russell benutzte die Kantis

n zwischen analytischen und synthetischen Urteilen, um zwischen den notwendigen Urteile

Leibniz synthetisch und den Fxistenz- und Kausalurteilen, die in seiner Interpretation auch bei

etation sind, zu unterscheiden ($. 37, vgl. S. 16). Nachdem sich Louis Couturats Leibnizinterpr uck Nachdr 1901; Paris inedits. nts docume des durchsetzt (La logique de Leibniz d’apres Sinne chen Kantis sch im analyti Hildesheim 1961), für den alle, auch die kontingenten Urteile, sind (vgl. S. 208 ff.), verliert die von Russell zur Kennzeichnung einer bestimmten Klasse von

Urteilen eingeführte Bezeichnung „analytisches Urteil“ ihren unterscheidenden Charakter und

wird auf die gesamte Leibnizsche Urteilstheorie ausgedehnt) | 22 C85: „In omni propositione affirmativa praedicatum inesse dicitur subjecto, seu praedison weist cati notio in subjecti notione involvitur“, vgl. C 51, 55, S18f. u.ö.; G.H.R. Parkin

Die Urteilstheorie von H.$. Reimarus

37

Enthaltensein eines Begriffs im anderen, der also hier die Grundlage der

Urteilstheorie bildet, beruht auf einer Unterscheidung zwischen zusammengesetzten, weniger zusammengesetzten und schließlich sogar einfachen

Begriffen: ein uns gegebener Begriff wie der des „Quadrats“ kann durch Analyse in weniger zusammengesetzte Teilbegriffe wie den des „Recht-

ecks“ und den der „Gleichseitigkeit“ zerlegt werden. Der Begriff der „Gleichseitigkeit“ ist dann in dem des „Quadrats“ enthalten, und eben deshalb ist der Satz „das Quadrat ist gleichseitig* wahr. Und seine Wahr-

heit kann bewiesen werden, indem durch Analyse des Subjektbegriffs „Quadrat“ nachgewiesen wird, daß in ihm der Begriff der „Gleichseitigkeit“ enthalten ist, daß also, wie eine andere Formulierung der Theorie lautet, der Begriff des Prädikats mit einem Teil oder dem Ganzen des Subjektbegriffs „identisch“ ist2?, so daß der in Frage stehende Satz auf einen formal identischen Satz „was gleichseitig ist, ist gleichseitig“ oder

„A ist A“ zurückgeführt, d.h. bewiesen werden kann **. Die Brisanz dieser Urteilstheorie liegt in ihrem Anspruch, für alle Urteile

zu gelten. Leibniz beschränkt die Geltung dieser Theorie nämlich nicht wie beispielsweise Suarez auf das Verhältnis zwischen einem Gegenstand und seinen notwendigen Attributen, sondern bezieht ausdrücklich auch die zufälligen Eigenschaften mit ein: Die These vom Enthaltensein des Prädikat- im Subjektbegriff gilt für alle affirmativen Urteile, sowohl für notwendige als auch für kontingente Sätze, sowohl für die Vernunft- als auch für die Tatsachenwahrheiten 25: der Satz beispielsweise, daß dieser Apfel süß ist, steht ebenso unter der Regel, daß das Prädikat im Subjektbegriff enthalten ist, wie der, daß das Quadrat gleichlange Seiten hat.

; Diese These findet bei Leibniz ihre Begründung in seiner Auffassung vom -

Wesen des vollständigen Begriffs, der „notio completa“. Dieser Terminus

des vollständigen Begriffs taucht bei Leibniz nämlich nicht wie später bei Wolff im Zusammenhang mit der erkenntnistheoretischen oder logischen mit Recht darauf hin, daß diesen Bestimmungen zufolge der Begriff des „inesse“ auch das Verhältnis von Prädikat und Subjekt in formalidentischen Sätzen „a est a“ umfassen muß

(Logic and Reality in Leibniz’s Metaphysics. - Oxford 1965, 5.16). = / 23 GP VII 218, 300, C 16ff. ?4 GP VII 44: „Demonstrare propositionem est, resolutione terminorum in aequipollentes

manifestum facere, quod praedicatum ... in subjecto contineatur“, vgl. 300: „propositiones ... verae sunt virtualiter identicae, quae scilicet per analysin terminorum (si pro primo ter-

mino notio vel aequivalens vel inclusa substituatur) ad identicas formales sive expressas reducuntur“. 25 C16: „Verum est affirmatum, cujus praedicatum inest subjecto, itaque in omni Propositione vera affirmativa, necessaria vel contingente, universali vel singulari, Notio praedicati aliquo modo continetur in notione subjecti“, vgl. auch 402, 519, GP VII 300.

Hans- JÜRGEN ENGPER

38

n ım Frage nach dem Grad des Durchschautseins eines Begriffs auf, sonder

wirklichen Sein. Zusammenhang mit der metaphysischen Frage nach dem

Wirkliches Sein spricht Leibniz nur den Einzeldingen, den Individuen, zu;

entsprechend ist der vollständige Begriff immer Begriff eines Individuums:

' „Wenn ein Begriff vollständig ist, dann ist er der Begriff einer individuellen

Substanz“ 26, Der „notio completa“ steht dementsprechend die „notio ist specifica sive incompleta“ gegenüber, und dieser unvollständige Begriff dadurch gekennzeichnet, daß er nicht Begriff einer individuellen Substanz,

sondern bloß Art- oder Gattungsbegriff ist und als solcher nichts Wirkli-

ches bezeichnet, sondern bloßer Name ist?”. Diese Zuordnung des vollsich an der durchständigen Begriffs zur individuellen Substanz orientiert

riffe wie gängigen Bestimmtheit des Individuellen: während Allgemeinbeg beispielsweise

der des „Apfels

überhaupt“

unvollständig

sind, weil bei

die Farbe noch diesem Allgemeinbegriff „Apfel“ weder die Größe noch „dieser Apfel hier“ der Geschmack usw. usw. bestimmt sind, zeichnet sich

sind, die ihm überdadurch aus, daß in ihm alle Eigenschaften bestimmt

frisch oder faul haupt zukommen können. Er ist entweder süß oder sauer,

vollständig usw. usw. Und im vollständigen Begriff soll für Leibniz dieses

?®. bestimmte Sein, das &tre complet des Individuums, erfaßt sein ihr die Grenze Die eigentliche Brisanz dieser These liegt darin, daß mit und Indivizwischen Begriff und Gegenstand oder die zwischen Begriff mt seinen duum überwunden scheint: [der vollständige Begriff bestim Attributen, Gegenstand nicht nur durch die Vielzahl von wesentlichen tlich und sondern auch durch alle diejenigen Prädikate, die ihm nur gelegen

zufällig zukommen, und erfaßt ihn daher ohne Rest. Und darüber hinaus

auch sollen im vollständigen Begriff nicht nur die gegenwärtigen, sondern Individie vergangenen und sogar die zukünftigen Bestimmungen eines duums vollständig erfaßt werden: „der vollständige und vollkommene

Begriff einer einzelnen Substanz enthält alle ihre Prädikate, sowohl die vergangenen und die gegenwärtigen als auch die zukünftigen“°. Im voll-

die ständigen oder vollkommenen Begriff eines Individuums ist also Gesamtheit seiner Attribute und — wenn man dies auf den Menschen des bezieht — sein gesamtes Schicksal enthalten: im vollkommenen Begriff lis“. 26 C.403: „Si qua notio sit completa ..., erit notio Substantiae individua

27 GP 11 37 ff., IV 433. lle ou d'un estre 28» GPIV 433: „... nous pouvons dire que la nature d'une substance individue e ä comprendre et ä en faire complet, est d’avoir une notion si accomplie qu’elle soit suffisant C 403. deduire tous les predicats du sujet ä qui cette notion est attribuee*, vgl. ommia eyus praedicata involvit s singulari ae substanti perfecta seu completa 29 C520: „Notio

praeterita, praesentia ac futura“.

Die Urteilstheorie von H.S, Reımarus

39

Petrus — so exemplifiziert Leibniz diese These — ist also beispielswei se

enthalten, daß er sündigen und daß ihm vergeben werden wird?®; eine

Analyse des Begriffs „Petrus“, die bis zum vollkommenen Begriff aufstiege, würde alle nur möglichen wahren Einzelsätze über Petrus als ıdentische Sätze, als Sätze, deren Prädikate im Subjektbegriff Petrus enthalten

sind, erweisen können?', Dem Menschen ist es allerdings für Leibniz nicht gegeben, zum vollständi-

gen Begriff irgendeiner individuellen Substanz zu gelangen:

„alle unsere

Begriffe von vollständigen Dingen sind unvollkommen“ 32, Aber dies ist für Leibniz eher eine Frage der Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens und betrifft jedenfalls das Wesen des Urteils als solches nicht:

Auch wenn wir Tatsachenwahrheiten nicht analytisch aus dem Begriff des

Subjektes, sondern nur aus anderen Quellen gewinnen können, bleibt für

Leibniz wahr, daß in ihnen — sofern sie nur wahr sind — zwischen Subjekt und Prädikat Identität herrscht.

Allerdings differenziert Leibniz dann im Hinblick auf ihre Beweisbarkeit

doch zwischen

Vernunft-

und Tatsachenwahrheiten.

Die Vernunftwahr-

heiten sind in dem Sinne notwendig, daß ihr Gegenteil einen Widerspruch

einschließt, sie hängen, wie Leibniz diesen Tatbestand der logischen Not-

wendigkeit faßt, nur vom Verstand Gottes ab. Dagegen schließt das Gegenteil einer kontingenten Wahrheit keinen Widerspruch ein?, sondern

30 Ebd.: „Et proinde in perfecta notione individuali Petri vel Judae ... insunt et a DEO videntur omnia ipsis eventura tam necessaria quam libera. Atque hinc manifestum est DEUM

ex infinitis individuis possibilibus eligere ca quae supremis arcanisque suae sapientiae finibus magis consentanea putat, nec si exacte loquendum est, decernere ut Petrus peccet, aut Judas damnetur, sed decernere tantum ut prae aliis possibilibus Petrus ... peccaturus, et Judas

damnationem passurus ad existentiam perveniant“, vgl. GPIV 432 ff. 31 Von diesem Konzept der notio completa ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zur Konzeption der Monade als Spiegel der Welt. Wenn nämlich, wie Jürgen Mittelstraß gezeigt hat, „Aussagen über beliebige Gegenstände als Aussagen über ein und denselben Gegenstand“ darstellbar sind (Monade und Begriff. Leibnizens Rekonstruktion des klassischen Substanzbegriffs und der Perzeptionensatz der Monadentheorie. In: Studia Leibnitiana 2, 1970, 5.171-

200, 195), dann folgt bereits aus der analytischen Urteilstheorie, daß im vollständigen Begriff eines Individuums Prädikate enthalten sein müssen, die für Aussagen über beliebige andere

Gegenstände stehen: „Omnis substantia singularis in perfecta notione sua involvit totum universum“

(C 521); „... toute substance ... exprime ... tout ce qui arrive dans l’univers, passe, present ou avenir“ (GPIV 434); „... chaque substance simple ... est ... un miroir vivant perpetuel de l’univers“ (GP VI 616).

2 C. 220: „Omnes nostri conceprus de rebus completis sunt imperfecti“. /% Schneider a.a.0. 5.263 ff. macht mit Recht darauf aufmerksam, daß diese Bestimmung "nur dann konsistent interpretierbar ist, wenn man unter dem „Gegenteil einer kontingenten

Wahrheit“ nicht einfach ihre Negation versteht — die Negation eines wahren Satzes ergibt einen falschen Satz, falsche Sätze sind für Leibniz widerspruchsvoll und was widerspruchsvoll

HAns- JÜRGEN ENGFER

a

ist — nämlich in einer anderen Welt als in der wirklichen — möglich; Wahrheiten hängen vom Willen Gottes ab und sind nur moralisch, logisch unmöglich. Nun ist zwar auch der Wille Gottes für Leibniz unbestimmt, im Gegenteil soll aufgrund der Vollkommenheit Gottes stehen, daß er in einer freien, aber moralisch notwendigen Wahl die kommenste unter allen möglichen Welten in Realität gesetzt hat;

diese

Wahl

unterliegt im Grunde

dem

Kalkül?.

Diese

diese nicht nicht festvollauch

„Mathesis

...

Divina“?° aber übersteigt das menschliche Erkenntnisvermögen, und die

kontingenten Wahrheiten, die davon abhängen, sind nicht a priori beweis-

bar??. Bei ihnen geht die Analyse ins Unendliche?®, während sie bei den

Vernunftwahrheiten in einer endlichen Zahl von Schritten zur offenbaren Identität führt. Die Unendlichkeit der Analyse verhindert also die Beweisbarkeit kontingenter Wahrheiten, der Sache nach aber liegt auch ihnen die Identität von Subjekt und Prädikat zugrunde. 2.

In der Logik des Reimarus findet sich eine Theorie des Urteils, die in allen Einzelheiten mit dem Kernstück der analytischen Urteilstheorie von Leibniz übereinzustimmen

scheint. Wie bei Leibniz wird die Wahrheit

aller

bejahenden Urteile auf die Identität zwischen Subjekt- und Prädikatbegriff zurückgeführt: „Ein Urtheil (Judicium) ist ... die Einsicht von der Einstimmung oder dem Widerspruche zweyer Begriffe“ ($ 115). Bei dieser Bestimmung des Urteils bezieht Reimarus sich auf die in der Einleitung entwikkelten grundlegenden Regeln der Vernunft, in denen das Leibnizsche Prinzip der Identität und des Widerspruchs in seiner ontologischen®? Fassung aufgenommen wird. Die beiden Regeln des Verstandes sind für Reimarus nämlich erstens die „Regel der Einstimmung“: „Ein jedes Ding ist das, ist, ist unmöglich (C 387) —, sondern das Auftreten eines anderen Sachverhaltes statt dessen: Gott hätte entscheiden können, daß Petrus nicht sündigt, er hätte dann einen anderen Petrus in die Welt gesetzt und diese Welt wäre demzufolge eine andere mögliche Welt gewesen, in der dieses „Gegenteil einer kontingenten Wahrheit“ keinen Widerspruch in sich schließt. 34 GP IV 438 f., V1 612, C 17.

35 GP VII 191: „Cum DEUS calculat et cogitationem exercet, fit mundus“. 36 GP VII 304. 37 C2:

„... nam demonstrationes veritatum contingentium dari impossibile est“.

38 Ebd.: „Veritas est contingens quae infinitas involvit rationes“; vgl. 18, GP VII 200.

"39, Vg). Martins Unterscheidung zwischen der ontologischen Bedeutung des Prinzips, die sich

auf das Festhalten der Seinsbestimmtheit des Dinges, und der logischen Bedeutung, die sich

auf die Wahrheit und Falschheit von Sätzen bezieht (a.a.O. 'S.6f.); bei Leibniz finden sich beide Bedeutungen, wobei die logische Fassung allerdings vorherrscht.

Die Urteilstheorie von H.S.

Reımarus

41

was es ıst und die „Regel des Widerspruchs“: „Ein Ding kann nicht zugleich seyn und nicht seyn“ ($ 14) *'; die se beiden Regeln sind für ihn „zureichend, alle Wahrheit und Richtigkeit aller unserer Gedanken auszuy:

»g

machen“

cr‘

40

2

.

($ 18)*2:[Dabei

könnte

der

Begriff

der

„Einstimmung“

noch

Zweifel daran offenlassen, ob damit die formale Identität der Begriff e im Leibnizschen Sinne und nicht doch ein wie auch immer gearteter „Seinsz u-

sammenhang“

oder „nexus“

der Begriffe, wie ihn Martin, Risse und Len-

ders bei Wolff diagnostizierten, gemeint sei.JAber die weiteren Bestimmungen scheinen den formal-identischen Charakter dieses Begriffs der Einstim-

mung unzweifelhaft zu machen:

„Einstimmung“ erscheint bei Reimarus

ausdrücklich als Übersetzung des (Leibnizschen) Terminus „identitas“ ($ 14), und das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat im bejahenden Satz ist im Genaueren das der „Einerleyheit“; man gelangt zu einem bejahenden Urteil, wenn man durch Vergleichung einsieht, „daß die Vorstel-

lung des Hintergliedes [des Prädikates] einerley enthalte mit der Vorstel-

lung des Vordergliedes [des Subjektes]“ ($ 117). Diese These vom analytischen Charakter aller Urteile führt Reimarus bei der Einzeldiskussion der Qualität der Urteile fast noch konsequenter, auf *° Vgl. bei Leibniz GP VII 224: „a esta. Animal est animal“. *! Vgl. bei Leibniz C 515: „Nihil potest simul esse et non esse, sed quodlibet est vel non est“.

#2 Schon hier sei darauf hingewiesen, daß Leibnizens zweites grundlegendes Prinzip, der Satz vom zureichenden Grunde, bei Reimarus nicht als Grundregel der Vernunft auftaucht, sondern erst sehr viel später in seiner logischen Bedeutung gegenüber Sätzen angeführt und mit

den Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs gleichgesetzt wird: „Satz des zureichenden Grundes ... Wenn man setzet, daß etwas sey oder nicht sey ..., so muß auch etwas seyn, woraus sich völlig verstehen läßt, warum es sey oder nicht sey“ ($ 122). Dieser zureichende

Grund ist „die Einstimmung und der Widerspruch“. „Und die Regeln der Einstimmung und| des Widerspruchs sind nichts anders, als der Satz des zureichenden Grundes“ ($ 123). Nun finden sich zwar auch bei Leibniz solche Identifizierungen des Satzes vom Grunde mit dem des Widerspruchs:



„Principium ratiocinandi fundamentale est, nihil esse sine ratione, vel ut

Tem distinctius explicemus, nullam esse veritatem, cui ratio non subsit. Ratio autem veritatis seu ut praedicatum subjecto insit ...“ (C 11; vgl. consistit in nexu praedicati cum subjecto, in dieser logischen Anwendung erschöpft sich ] Aber auch GP II 56, IV 433, VII 300, 309 u.ö.). die Bedeutung des Satzes vom zureichenden Grunde bei Leibniz nicht./ Vielmehr dient ef — zur zugleich zur Unterscheidung der notwendigen und der zufälligen Wahrheiten. Während Ableizur wird Ableitung der notwendigen Wahrheiten der Satz vom Widerspruch ausreicht, als principium melioris tung der kontingenten Wahrheiten der vermittelst der finalen Gründe

realem in eo gedeutete Satz vom Grunde benötigt: „hinc sequitur, Existentiae definitionem consistere, ut existat quod

est maxime

perfectum

ex iis quae

alioqui existere possent, seu

für die quod plus involvit essentiae“ (GP VII 195, vgl. 301, 355f.). Daß Reimarus auf diese

Satzes vom zureichenden Ableitung kontingenter Wahrheiten entscheidende Anwendung des in seiner Begründung Grunde verzichten kann, deutet bereits auf tiefgreifende Verschiebungen der Wahrheit von Tatsachenaussagen voraus.

2

Hans-Jürgen EnGrne

jeden Fall aber umstandsloser als Leibniz durch. Reimarus nämlich unter

scheidet für das bejahende Urteil, also für den Fall der Identität zwischen Subjekt- und Prädikatbegriff, drei Möglichkeiten

($ 118). Entweder jsr

der Prädikatbegriff mit dem Ganzen des Subjektbegriffs identisch, dann handelt es sich entweder um „identische oder sogenannte leere Sätze“ ie „Ein Narr ist ein Narr“ ($ 126) oder um eine Definition wie „ein Dreyeck

beschließt eine Fläche in drey Linien“ ($ 118). Zweitens kann der Begriff des Prädikats nur mit einem Teil des Subjektbegriffs identisch sein, dann handelt es sich um Sätze, in denen der Begriff des Prädıkats irgendwelche wesentlichen und bleibenden Eigenschaften des Vordergliedes bezeichner,

wie „der Hund ist ein vierfüßig Thier“ ($ 118). Und drittens werden auch Urteile, in denen „das Hinterglied B ein abgesonderter Begriff von den [wechselnden] Umständen des Vordergliedes A ist“, umstandslos unter das Konzept der analytischen Urteilstheorie gestellt: in diesem Falle „ist B nur mit einem Umstande des Vordergliedes A einerley: als“ — Musterbeispiel

für eine zufällige Wahrheit bei Leibniz — „der Hund liegt an der Kette“ ($ 118). Ebendieselbe Tendenz, die analytische Urteilstheorie relativ umstandslos

auch für Fälle in Anspruch zu nehmen, die bei Leibniz zu Differenzierungen innerhalb der Theorie führten, findet sich bei der Diskussion der verneinenden Urteile, also bei Urteilen, die für Reimarus der Regel des Wider-

spruchs unterliegen. Hier folgte aus der Leibnizschen

Unterscheidung

zwischen notwendigen und kontingenten Urteilen, daß zwar das Gegenteil einer Vernunftwahrheit einen Widerspruch einschließt, daß aber das Gegenteil einer Tatsachenwahrheit nicht zum logischen Widerspruch führt; deshalb war es dem Menschen beispielsweise unmöglich, in verneinenden Tatsachenbehauptungen den Widerspruch zwischen Subjekt und Prädikat zu explizieren*?. Demgegenüber stellt Reimarus alle verneinenden Sätze, sowohl die Vernunft- als auch die Tatsachenwahrheiten, umstandslos unter die Regel des Widerspruchs. Auch hier unterscheidet er wie bei den bejahenden Sätzen zwischen drei Fällen. spricht das Prädikat dem gesamten Subjektbegriff wie in ist nicht krumm“, oder einem Teil des Subjektbegriffs „ein Mensch hat keine Federn“, oder nur einem Umstand

Entweder widerdem Satz „gerade wie in dem Satz des Subjekts wie

in dem — leider wahren — Satz „ein Mensch kann nicht allemal glücklich seyn“ ($ 119).

Die Analytizität seiner Urteilstheorie findet bei Reimarus eine Begründung, die der Leibnizschen

zunächst

sehr ähnlich zu sein scheint.

Reimarus

egriffe ein# Vg). oben 5.391.

N ın nat

ep

Die Urteilstheorie von H,S. Reimarus

43

zelner Dinge“, zweitens die „abgesonderten“ oder „allgemeinen“ Begriffe und drittens die „ersonnenen Begriffe“, die durch willkürliche Zusammensetzung der abgesonderten Begriffe gebildet werden ($ 51). Dabei sind die

„Begriffe einzelner Dinge“ für Reimarus dadurch gekennzeichnet, daß ihr Gegenstand „ein einzeln Ding“ oder „Individuum“ und „in allen Stücken bestimmt ist“ ($ 52). In allen Stücken bestimmt sein aber heißt, daß ihnen „von allen möglichen Beschaffenheiten jeder Art eine gewisse wirklich zukömmt, mit Ausschliessung aller übrigen. Ein einzelner Tisch hat eine gewisse Materie, Form, Figur, Größe, Farbe, Schwere, mit Ausschliessung

ist von diesem aller übrigen, die sonst bey einem Tische möglich sind: er

Meister, zu der Zeit, für mich, um so viel Geld gemacht, und steht jetzt an diesem Orte; alle übrige sonst mögliche Umstände kommen diesem Tische

nicht zu, sondern würden andere einzelne Tische vorstellen. Der einzelne

Tisch ist also in allen Stücken, die von einem Tische zu gedenken sind,

bestimmt, oder determinirt“ ($ 52). Dies entspricht ungefähr der Leibniz-

/ schen Fassung des @tre complet als des durchgängig Bestimmten. Zwar < steht hier bei Reimarus an der Stelle des Leibnizschen Begriffs der individuellen Substanz der Wolffsche Begriff des Dinges*, der es z.B. unmög-

lich macht, daß Reimarus dem „Begriff des einzelnen Dinges“ auch zukünftige Prädikate als wirkliche und nicht bloß als mögliche innewohnen läßt, aber der Gedanke, daß das Wirkliche sich durch seine durchgängige Bestimmtheit von dem bloß Gedachten unterscheide, ist auch bei \ Reimarus durchgehalten. Wie für Leibniz nämlich* sind für Reimarus '„alle wirklichen Dinge einzelne Dinge, und folglich in allen Stücken bestimmt“ ($ 58), und wie für Leibniz sind allgemeine Begriffe für Reimarus bloße Namen und bezeichnen an sich nichts Wirkliches: „Das Weglassen der verschiedenen Bestimmungen einzelner wirklichen Dinge, in den

allgemeinen und abgesonderten Begriffen, ist eine Erdichtung: und das

Dingen, nicht Abgesonderte ist, abgesondert, und ausser den einzelnen wirklich“ ($ 58).

von Aber alle diese Bestimmungen schreibt Reimarus nur den „Begriffen

zwar | einzelnen Dingen an sich“ zu. Diese Charakterisierung findet sich

Inhalts- | ficht im Text der Vernunftlehre, sondern in der Tabelle, also dem s der verzeichnis; dennoch ist sie für die Einschätzung des Stellenwerte

„Begriffe einzelner Dinge“ bei Reimarus entscheidend. In der Tabelle wird

der Frage nämlich zwischen den „Begriffen einzelner Dinge an sich“ #6 und 1919, S. 24 ff. “ VgJ. Hans Pichler: Über Christian Wolffs Ontologie. - Leipzig

* Vgl. oben S.38.

46 Anmerkung zu $ 52.

Hans- JÜRGEN ENGFER

4

*. Und bei der Behandlung dieser unterschieden, „wie wir dazu gelangen“

Frage, wie wir zu den Begriffen einzelner Dinge gelangen, wird von allen um die

iert: zufälligen Bestimmungen der Einzeldinge methodisch abstrah

vergleieinzelnen Dinge zu kennen, muß man sie „theils mit sich selbst allezeit und ig beständ sehen, welche Bestimmungen in ihnen

chen, um zu

einerley sind: theils muß man sie, zur Unterscheidung von Andern, ug andern sonst ähnlichen vergleichen, um zu sehen, welche Ueschniige sind“ Bestimmungen jedem einzelnen Dinge besonders und eigen

($53).

eines ' Die Bedeutung dieser Beschränkung auf die wesent lichen Merkmale besonders deutlich. Hier Dinges wird in der Begriffstheorie der Logik

hkeit, die — bis “unterscheidet Reimarus vier Stufen oder Grade der Deutlic ın den auf eine wesentliche Ausnahme — den Leibnizschen Bestimmungen

Meditationen*s entsprechen. Wie Leibniz nennt Reimarus Begriffe

„dun-

kel“, wenn sie „nicht zureichen, ein Ding im Ganzen und in seinem Geschlechte zu kennen, und von andern zu unterscheiden“ ($ 66); klar dagegen ist ein Begriff, mit dessen Hilfe „ein Ding im Ganzen und im chieden Geschlechte ... von andern Ganzen und Geschlechtern“ unters werden kann ($ 65): wer den Diamanten vom Glas und von anderen ähnlichen Dingen unterscheiden kann, hat einen klaren, wer es nicht kann, hat

einen dunklen Begriff vom Diamanten. Ein klarer Begriff kann entweder

deutlich Begriff verfügt Farben,

oder undeutlich sein: wenn „man das Verschiedene, welches der in und unter sich befasset, erkennen und unterscheiden kann“, man über einen deutlichen Begriff: ist uns dies wie z.B. bei den die wir zwar klar voneinander unterscheiden, ohne jedoch weitere

Merkmale angeben zu können, nicht möglich, haben wir einen zwar klaren, aber undeutlichen Begriff ($ 69).

Als drittes führt Reimarus die Unterscheidung zwischen dem ausführlichen und dem unausführlichen Begriff bzw. zwischen der „notio completa“ und der „notio incompleta“ an: ein deutlicher Begriff ist ausführlich, „wenn man alle Merkmaale anzugeben weiß, welche zusammengenommen zureichen, ein Ding allezeit zu kennen und von allen andern zu unterscheiden“, 47 Anmerkung zu $ 53. #8 GPIV 422f.: „Obscura est notio, quae non sufficit ad rem repraesentatam agnoscendam ... Clara ergo cognitio est, cum habeo unde rem repraesentatam agnoscere possim, eaque

rursus est vel confusa vel distincta. Confusa, cum scilicet non possum notas ad rem ab aliis discernendam sufficientes separatim enumerare ... At distincta notio est qualem de auro habent Docimastae, per notas scilicet et examina sufficientia ad rem ab aliis omnibus corporibus similibus discernendam ... In notionibus autem compositis, quia rursus notae singulae

componentes interdum clare quidem, sed tamen confuse cognitae sunt ... cognitio ... inadaequata est tamen. Cum vero id omne quod notitiam distinctam ingreditur, rursus distincte cognitum est, seu cum analysis ad finem usque producta habetur, cognitio est adaequata“.

Die Urteilstheorie von H.S. Reimarus

45

und unausführlich, wenn „nicht alle, oder allzueingeschränkte Merkmaale angegeben werden“ ($ 71); für den ausführlichen Begriff unterscheidet Reimarus noch zwischen dem „präcis-ausführlichen“ und dem „unnöthig-

ausführlichen“ Begriff: unnötig ausführlich ist beispielsweise der Begriff

des Dreiecks, in dem außer der Angabe, daß es sich um eine Figur handelt, die eine Fläche in drei Linien einschließt, noch angegeben wird, daß diese

Figur drei Winkel hat oder daß deren Summe zwei rechten Winkeln gleich ist, weil all dies schon implizit in der Angabe über die drei Linien enthalten ist ($ 72). Und auf der vierten Stufe nimmt Reimarus schließlich die Leibnizsche Unterscheidung zwischen dem adaequaten und dem inadaequaten Begriff auf, die auf den Grad der Zergliederung der im ausführlichen Begriff erkannten Merkmale zielt: „Ein vollständiger Begriff (Notio adaequata) ist ein solcher ausführlicher Begriff, dessen klare Merkmaale wiederum ausführlich deutlich gemacht werden können“ ($ 73); dies verweist auf eine mögliche „Analysis continua notionum“, auf eine „stete Zerglie-

derung der Begriffe“ bis zu einfachen Begriffen, die Reimarus aber für die Zwecke der Wissenschaft in aller Regel für unnötig hält ($ 74).

Dieses vierstufige Schema der Grade der Begriffszergliederung übernimmt Reimarus beinahe wörtlich und in allen Einzelheiten aus der Wolffschen

Logik“. Die entscheidende terminologische Abweichung von Leibniz in

diesem Schema besteht sowohl bei Wolff als auch bei Reimarus-in der

Einführung und Bestimmung der „notio completa“ auf der dritten Stufe°°.

Bei Leibniz bezeichnete der Terminus „notio completa“ den Begriff eines Individuums, der alle dem Indiviuum zukommenden Bestimmungen, sowohl die wesentlichen als auch die zufälligen, in sich enthalten sollte®'.

Dagegen versteht Reimarus unter der-„notio completa“ den „ausführli-

chen“ Begriff, in dem nur die wesentlichen Merkmale und von diesen auch

49 Die Schriften von Wolff werden zitiert als Deutsche Logik = Vernünftige Gedanken

und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis von den Kräften des menschlichen Verstandes'

der Wahrheit. Hrsg. u. bearb. v. Hans Werner Arndt (= Gesammelte Werke. Hrsg. u. bearb. v. J. Ecole u.a., I. Abteilung: Deutsche Schriften, Bd. 1). — Hildesheim 1965; Discursus

praeliminaris de philosophia in genere. In: Lateinische Logik, $.1-104; Lateinische ed ad usum scienLogik: Philosophia rationalis sive logica, methodo scientifica pertractata

tiarum atque vitae aptata. — Frankfurt und Leipzig 11728; Psychologia empirica. Edidit

Schriften, et curavit Joannes Ecole (= Gesammelte Werke a.a.O., Il. Abteilung: Lateinische Bd. 5). - Hildesheim 1968.

e ... 50 Deutsche Logik cap. 1, $ 15 ($.129): „Ausführlich ist der Begriff, wenn die Merckmahl $ 36 vgl. en“; unterscheid zu andern zureichen, die Sache jederzeit zu erkennen, und von allen Erklärung“. eine ihn ich (5.141): „Wenn ein deutlicher Begrif ausführlich ... ist ..., so nenne Vgl. Lateinische Logik $ 92 (S. 160) und $ 152 (S. 189).

sı Vgl. oben $.37f.

%

HANS-JÜRGEN ENGFER

nur die nötigen, nicht die überflüssigen, enthalten sind: die notio completa ist bei ihm die Definition52, Und durch Definitionen lassen sich auch für

Reimarus nur Allgemeinbegriffe, keine Individuen erfassen; seine Beispiele für die notio completa sind denn auch immer Allgemeinbegriffe wie die Definition des Quadrates oder die des Reimes usw., die bei Leibniz als

- „Notiones incompletae“ verbucht worden wären.

Diese: neue und eingeschränkte Verwendung des Terminus „notio com-

Ukteilstheorie_bei Reimarus. Wenn nämlich in der notio completa eines Dinges nur noch seine wesentlichen Merkmale enthalten sind, dann können aus dieser notio completa nicht mehr — wie wenigstens dem Anspruch nach bei Leibniz — auch seine zufälligen und veränderlichen Beschaffenheiten analytisch erschlossen werden. [Wenn Reimarus daher dennoch solche

Tatsachenwahrheiten unter die Regel der Einstimmung oder des Widerspruchs stellt, dann kann es sich jetzt nicht mehr um die Einstimmung roder den Widerspruch zwischen zwei Begriffen, sondern um die dann ı allerdings nicht mehr logisch faßbare „Einstimmung“ oder den „Widerspruch“ zzwischen einem Begriff und der erfahrenen Wirklichkeit handeln;| in der Terminologie des Reimarus: „Des historischen Erkenntnisses Wahr-“ heit wird durch die Einstimmung unserer Vorstellung mit dem Empfundenen bestimmt; wie hingegen historisch unwahr ist, wo das Empfundene der Vorstellung widerspricht“ ($ 18). Daß Schnee weiß ist, ist wahr, „in soferne die in der Vorstellung des Schnees enthaltene Beschaffenheit der| Farbe einerley ist, mit derjenigen, welche ich weiß nenne“ ($ 124). Und| |

daß dieses Papier nicht grün ist, ist wahr, weil zwischen meinem Begriff „grün“ und dem, was ich beim Anblick dieses Stückes Papier empfinde, Widerspruch herrscht ($ 24). Einstimmung und Widerspruch beziehen sich

hier also nicht mehr wie bei Leibniz nur auf das Verhältnis zweier Begriffe, das auf die formale Identität des „a est a“ oder auf den formalen Widerspruch des „a non est non-a“ zurückgeführt werden kann, sondern sollen

! auch ein nicht näher geklärtes Verhältnis zwischen einem Begriff bzw. einer Vorstellung einerseits und einer Empfindung andererseits erfassen: „Wenn wir völlig klar und deutlich einsehen, daß unsere Vorstellung ...

mit dem Empfundenen ... wesentlich einerley sey: so muß man beydes zusammen gedenken und Eins von dem Andern bejahen. Z.B. ... das Feuer brennt“ ($ 24). [Solche Erfahrungssätze gewinnen bei Reimarus also den

— | Rang identischer Urteile {und werden demzufolge auch unmittelbar mit \ ihnen parallelisiert: für ihn gibt es jetzt zwei Arten von Urteilen, die „per 52 Vernunftlehre $ 72: „Ein präcis-ausführlicher Begriff, der mit klaren Worten vorgetragen wird, heißt eine Erklärung (Definitio)*.

uuernnr

Die Urteilstheorie von H.S. Reimarus “

,

47

z

| ahr„ohne e Erf ungssäBeweis seklarverae“, tee an für sich selbst kl ar“ sind: es sind diesdie „entweder

r identische Grundsätze der Vernunft“ ($ 128).

3

ee 1arus 1

schaften

unmittelbarer Einsicht haben aber in der Logik des

ur die Funktion, Aussagen über die zufälligen Eigen-

irgendwelcher

Subjektbegriffe

zu

liefern.

Zwar

könnte

es

zunächst den Anschein haben, daß Sätze, in denen wesentliche Eigens chaf-

ven des Subjektbegriffs ausgesagt werden, ohne solche unmittelbaren Erfahrungsurteile ‚auskämen: bei ihnen muß die Einstimmung zwischen

Subjekt und Prädikat nicht unmittelbar in der Erfahrung gefunden, sondern kann aus den Definitionen abgeleitet werden.!Aber bei der Beantwor-

tung dieser Frage muß man hier bei Reimarus wie schon bei Wolff zwi-

schen dem Erfindungs- und dem Begründungszusammenhang wesentlicher

Wahrheiten unterscheiden. Wolffs

Wisenschaftsbegriff

ist, insbesondere

in der lateinischen Logik,

ganz am Gedanken der Begründung bzw. des Beweises orientiert, unter Wissenschaft versteht er die Haltung, das Behauptete zu beweisen, d.i., es

aus sicheren und unerschütterlichen Prinzipien auf dem Wege einer recht-

mäßigen Schlußfolgerung abzuleiten?. Eben diesen Wissenschaftsbegriff übernimmt Reimarus, wieder beinahe wörtlich. „Wissenschaft ist“ für ihn

„eine Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten, die aus unleugbaren allgemeinen Grundsätzen durch unzertrennte Verbindung der Schlüsse bewiesen werden“ ($ 233). Wolff bestimmt diese Ableitung aller Wahrhei-

ten aus unerschütterlichen Prinzipien näher, indem er seine philosophische mit der mathematischen Methode gleichsetzt°* und diese mathematische Methode, orientiert am Euklidmodell, dahingehend bestimmt, daß in ihr Definitionen zugrunde 'gelegt werden, aus denen Axiome und Postulate unmittelbar als „propositiones indemonstrabiles“ und Lehrsätze und Aufgaben mittelbar durch förmliche Schlüsse als „propositiones demonstrabiles“

abgeleitet

werden;

richtige Schlußverfahren

vorausgesetzt,

soll die

Wahrheit aller abgeleiteten Sätze in diesem System der Wahrheiten also ausschließlich von den zugrunde gelegten Definitionen abhängen®®.

/-

habitum asserta demon53 Discursus praeliminaris $ 30 (5.14): „Per Scientiam hic intelligo inferendi“. strandi, hoc est, ex principiis certis et immotis per legitimam consequentiam

eaedem sunt regulae, quae 54 Discursus praeliminaris $ 139 ($.69): „Methodi philosopbicae methodi mathematicae“. „Philosophie als Analy55 Zum Näheren vgl. Kap. 5 meiner demnächst erscheinenden Arbeit dem Einfluß matheunter n zeptione Iysiskon Ana sis. Studien zur Entwicklung philosophischer Jahrhundert“. matischer Methodenmodelle im 17. und frühen 18.

Hans- JÜRGEN ENGFFR

“=

beweisenden Darstel. Diese Definitionen aber, die in der synthetischen und

lung des Lehrsystems als unerschütterliche Prinzipien an oberster Stelle

stehen, \werden bei Wolff durch eine notwendigerweise vorhergehende

hrif\ Analyse der Begriffe gewonnen} der synthetischen Methode der Lehrsc

ten — die das Bild Wolffs für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und

der eigentlich bis heute prägt — entspricht ein analytisches Verfahren auf

Ebene des Begriffs, in dem die dort zugrunde gelegten Definitionen aller-

erst gefunden werden. Dieses Verfahren der Definitionsermittlung stellt Logik Wolff am ausführlichsten im praktischen Teil seiner lateinischen Erforschung der dar. Hier unterscheidet Wolff im Abschnitt über die Wahrheit5%

drei

verschiedene

Arten,

auf

die Begriffe gebildet werden

, können: Erstens können wir auf das reflektieren, was wir wahrnehmen ten zweitens können wir das, was in mehreren Begriffen gemeinsam enthal ist, abstrahieren,

und drittens können

wir variable

Determinationen

in

andere verändern”. Kapitel Die erste Art der Definitionsermittlung behandelt Wolff in dem über die Bildung intuitiver Urteile und Begriffe a posteriori®®. Dabei verrksteht er unter der „reflexio“ die fortlaufende Richtung unserer Aufme samkeit auf das, was in einem wahrgenommenen

Ding ist°®, und unter

Aufmerksamkeit die Fähigkeit, in einer zusammengesetzten Wahrnehmung einer Teilwahrnehmung eine größere Klarheit als den übrigen zu geben", wobei der sukzessive Charakter der reflexio bewirkt, daß die Aufmerk-

samkeit von einer Teilwahrnehmung zur anderen fortschreitet*'. Auf diese Weise werden dem in Frage stehenden Ding nacheinander verschiedene Teilwahrnehmungen zugeordnet. Und diese Zuordnung geschieht in intuitiven Urteilen, in denen das wahrgenommene Ding als Subjekt, das in ihm Beobachtete als Prädikat gesetzt werden“. Solche intuitiven Urteile kön56 Lateinische Logik part. 2, sect. 2, cap. I ($.480): „De usu logicae in veritate investigan-

da“. 7 Ebd. $ 716 (5.515): „Triplex ... modus est formandi notiones“: „1. reflectendo super nis,

quae percipiuntur, 2. abstrahendo communia, quac notionibus pluribus insunt, 3. determinationes variabiles mutando in alias“. 8 Ebd. part. 2, sect.2, cap.2 (5.484): „De formandis judiciis intuitivis et notionibus a posteriori”. s? Psychologia empirica $ 257 ($. 187): „Attentionis successiva directio ad ca, quae in re rcepta insunt, dicitur Reflexio“. percep

“ Ebd. $ 237 ($. 168): „Facultas efficiendi, ut in perceptione composita partialis una majorem claritatem ceteris habeat, dicitur Attentio“,

6 Ebd. $ 256 (S. 186): „Altentionem nostram successive ad alias aliasque partes perceptionis totalis promovere valemns, prouti visum nobis fuerit". mic an & 2 Lateinische Logiki $ 669 ($. 484): „Judiciaag intuitiva formaturus attendere debet ad ca, quae

rebus insunt, aut ad quae quomodocunque referuntur: 2. Rem, quam percipit, porro sumere

Die Urteilsthenrie von HS,

Reimarıus

nen dann einen unmittelbaren Beitr ag zur deutlichen Erkenntnis jcktbegriffs liefern, wenn ihre Pr ädikate beständige Merkmale des nommenen Dinges sind®P, Zur Unterscheidung der beständigen variablen Bestimmungen gi bt Wolff mehrere Kriterien an“, ein

dendes | ıst, ob die entsprec

49 des Subwahrge-

von den entschei-

hende Eigenschaft „salva re“, also ohne die Art des Dinges zu verändern, fortgenommen werden könnte; ist dies nicht der Fall, dann gehört sie zu seinen beständigen Eigenschaf ten. Wenn es auf diese Weise

gelingt, mehrere intuitive Urteile mit beständigen Eigenschaf-

ten des Dinges zu bilden und wenn die dem Subje ktbegriff darin zugesprochenen Merkmale

ausreichen, um das Ding von allen anderen zu unter-

scheiden, dann ist damit das wesentliche Ziel dieses Verfa hrens erreicht: die Definition des Dinges ist a posteriori gefun den 6. Die beiden anderen Arten der Begriffsbestimmung behandelt Wolff in dem

folgenden Kapitel über die Bildung von diskursiven Urteilen und von Defi-

nitionen a priori®?, beide Verfahren gelten als apriorisch, weil sie das noch nicht Erkannte nicht aus den Sinnen, sondern aus bereits Erkanntem schließen, Durch Abstraktion werden nach Wolff neue Begriffe gebildet, indem durch Vergleich das Gemeinsame in bereits vorliegenden Begriffen herausgezogen wird6°; durch Determination werden neue Begriffe gebildet, indem ein bereits gegebener Begriff durch zusätzliche oder abweichende Bestimmungen modifiziert wird”. Beide apriorischen Verfahren gehen also von bereits vorliegenden Begriffen aus, modifizieren diese bloß und setzen daher das erste Begriffsbildungsverfahren der „reflexio“ vordebet pro subjecto, quod vero in ca deprehendit aut relationem ejus ad alia, quam observat, pro praedicato. Ita nimirum prodit judicium intuitivum“.

63 Ebd. $ 671 (5.486): „Quodsi praedicata judiciorum intuitivorum fuerint notae, eo ipso notionem rei perceptae formamus distinctam“. 6 Ebd. $ 672ff. ($.486 ff.).

65 Ebd. $ 675 (5.488): „Si quid salva re ab eadem auferri non potest, id inter attributa vel essentialia ejus referendum; contrarium vero inter modos locum habet“. 66 Ebd. $ 679 (5.492 f.): „Quodsi notae hoc modo detectae fuerint sufficientes ad rem perceptam ab aliis distinguendam, notio sic formata erit definitio. Unde patet, quomodo definitiones

a posteriori detegantur“. 67 Ebd. part. 2, sect. 2, cap. 3 ($.S11): „De formandis judiciis discursivis et definitionibus a priori“. ;

6% Ebd. $ 663 ($.481): „Utimur autem in veritate proprio Marte eruenda vel solo sensu, vel ex aliis cognitis ratiocinando eligimus nondum eruere a posteriori; in posteriori autem a priori“.

cognita.

In priori casu dicimur veritatern

% Ebd. $ 710 ($.511). 70 Ebd. $ 716 ($.515): „... arbitraria determinatio ... duplici modo peragitur, vel determinando ea, quae in notione data nondum determinata sunt ... vel determinando aliter, quae certo modo determinata sunt“.

50

Hans-JURGEN ENGFPR

aus: {nur sie ermittelt Begriffsdefinitionen nicht wieder aus Definitionen, sondern aus der Erfahrung.| Hier, im Erfindungszusammenhang, werden .,

Begriffe also zunächst durch die Reflexion auf die Erfahrung gebildet und |

zur deutlichen Erkenntnis gebracht, und erst auf dieser Grundlage können | ' die apriorischen Begriffsbildungsverfahren der Abstraktion und Determi- — nation wirksam werden. In diesem Sinne bezeichnet Wolff die historische Erkenntnis im Discursus praeliminaris

seiner lateinischen

Logik

als das-

Fundament der philosophischen Erkenntnis”': zwar ist sie der niedrigste Grad der menschlichen Erkenntnis”2, aber sie liefert das „sichere und unerschütterliche Fundament“ auch für die philosophische Erkenntnis”>; selbst die Fundamentalbegriffe der philosophia prima sind aus der Erfahrung abgeleitet und noch die reine Mathematik setzt historische Kenntnisse

voraus, aus denen sie den Begriff ihrer Objekte und einige Axiome ableitet’*,

Reimarus legt diese Wolffschen Bestimmungen sowohl dem betrachtenden als auch dem ausübenden Teil seiner Vernunftlehre zugrunde. Dies ist deshalb A

er damit eine Schwerpunktverlagerung innerhalb

der Wolffschen Logik vornimmt.)Stand dort und insbesondere in der lateinischen Logik das Problem der Begründung von behaupteten Sätzen so sehr im Vordergrund, daß diese Anweisungen zur Erforschung der Wahrheit erst in der zweiten Sektion des praktischen Teils der Logik auftauchten, so sind bei Reimarus beide Teile der Vernunftlehre, sowohl der

betrachtende als der ausübende, von der Frage beherrscht, wie wir zu ' Tichtigen Begriffen und wahren Urteilen gelangen. In diesem Sinne benutzt " Reimarus die Wolffsche Unterscheidung ‘von drei Möglichkeiten der Begriffsbildung bereits im theoretischen Teil der Vernunftlehre, um drei Arten von Begriffen zu unterscheiden: 1. die „ursprünglichen“ oder „unveränderten“ Begriffe, 2. die „abgesonderten“ und 3. die „ersonnenen Begriffe“. Die „ursprünglichen Begriffe“ sind für Reimarus „Begriffe einzelner Dinge“ ($ 51) und beruhen ausschließlich auf der Erfahrung; es handelt

71 Discursus praeliminaris $ 10 ($.4): „Fundamentum itaque cognitionis philosophicae est historica“. 72 Ebd. $ 22 ($.10): „Historica cognitio communis infimus humanae cognitionis gradus est“.

73 Ebd. $ 11 (5.5): „Quoniam enim cognitio historica philosophicae fundamentum praebet, eadem vero non admittit tanguam possibilia, nisi quae esse atque fieri constat; quae cognitio philosophica historicae superstruitur, ea firmo ac inconcusso nititur fundamento“. 74 Ebd. $ 12 ($.5): „In ipsis disciplinis abstractis, qualis est philosophia prima, notiones

fundamentales derivandae sunt ab experientia, quae cognitionem historicam fundat ...; imo ipsa Mathesis historicam quandam axiomata nonnulla derivat“.

notitiam

supponit,

unde objecti sui notionem

atque

r

Die Urteilstheorie von H.S, Reimarus

51

sich bei ihnen nämlich entweder um „sinnliche Begriffe aus der äusseren“

oder um sog. „immaterielle Begriffe aus der inneren Empfindung“ der Seele ($ 44). Sowohl bei den sinnlichen als auch bei den immateriellen Begriffen

liefert die Empfindung

zunächst eine undeutliche

Vorstellung

(635), aus der durch „Beachtung“ der „beachtete Theil in der ganzen Vorstellung ... klar, das ist, kenntbar“ wird ($ 36f.). Diese klare Vorstellung wird dann reflektiert, d.h. mit anderen, gegenwärtigen oder vergan-

genen, verglichen, woraus „eine Empfindung und Einsicht der Achnlichkeit ... der Dinge“ entsteht ($ 40)75, die im „willkührlichen Zeichen“ des Wortes festgehalten wird ($ 41) und uns „ein Bewußtseyn ... der Vorstel-

lung und des Vorgestellten“ liefert ($42). Einen ausführlichen Begriff dieses wahrgenommenen Dinges hat man, wenn man die beständigen

Merkmale anzugeben weiß, „welche zusammengenommen zureichen, ein Ding allezeit zu kennen und von allen andern zu unterscheiden“ ($ 71), zu

ihm und d.h. zur Definition des Dinges gelangt man durch die Sammlung „klarer Erfahrungssätze“ „unmittelbarer Einsicht“ ($ 128), sofern in ihnen beständige

Merkmale

des Dinges

prädiziert werden

($53).

Um

diese

beständigen Merkmale eines Dinges zu finden und damit zugleich den undeutlichen Begriff deutlich zu machen, schlägt Reimarus vor, von einem einzelnen Beispiel auszugehen und aufzusuchen, was sich in ihm unterscheiden läßt, dies mit anderen bekannten Dingen derselben Art zu vergleichen, wegzulassen, was nicht allen gemein

besondern

Eigenschaften

ist, und so die allgemeinen und

zu ermitteln 9% „Auf diese Weise

kann

der

75 Auch diese grundlegende Bedeutung. der Ähnlichkeitsrelation zwischen den Dingen für die Begriffsbildung findet sich schon bei Wolff; vgl. Hans Poser: Die Bedeutung des Begriffs ‚Ähnlichkeit‘ in der Metaphysik Christian Wolffs. In: Studia Leibnitiana 11, 1979, 5.62-81. 76 Hinter dieser Anweisung, die beständigen Merkmale eines Dinges dadurch zu ermitteln, daß man es mit anderen Dingen derselben Art vergleicht, verbirgt sich der gleiche Rekurs auf

die Umgangssprache, der sich schon hinter Wolffs Formel von der Ersetzbarkeit der veränderlichen Eigenschaften „salva re“ (vgl. Anm.65) verbarg: welche Dinge „derselben Art“ sind

und also für die Ermittlung der beständigen Merkmale herangezogen werden, entscheidet die ’ Begrifflichkeit der Umgangssprache. In diesem Sinne geben für Reimarus „die Wörter selbst ... eine Probe, ob man es recht getroffen habe: indem wir uns aus dem Gebrauche der Wörter bewußt sind, ob das Ding um dieser Merkmaale willen so genannt, und zu der Art gerechnet

wird, und ob es, wenn der Merkmaale eines fehlte oder zuviel wäre, den Namen nicht verdiente“ ($ 77). Dieser Rekurs auf die Umgangssprache erlaubt erst den Übergang von den je einzelnen

Erfahrungssätzen

unmittelbarer

Einsicht zu den allgemeinen

Sätzen, durch die

irgendeine Bestimmung dem Ding als beständiges Merkmal zugesprochen wird. Reimarus nämlich sieht wie Wolff, daß Erfahrungssätze immer singulär sind: „Da nun das Empfundene ‘wirklich und einzeln ist: so giebt die Erfahrung, an sich, nur einzelne Bejahungen oder Verncinungen“ und „nimmer allgemeine Urtheile und Sätze“ ($ 135). „Die einzelnen oder besonde-

ren Erfahrungssätze“ aber lassen sich für ihn durch den Nachweis „in allgemeine verwandeln:

HANS-JÜRGEN ENGFER

52

undeutliche Begriff bekannter Dinge ... ausführlich deutlich gemacht“ ($ 77), oder, mit Wolff gesprochen, ihre Definition a posteriori gebilder werden. Und wie bei Wolff die Begriffsbildung a priori durch Abstraktion

und Determination nichts als eine Modifikation der „ursprünglichen Begriffe“ darstellt und diese also voraussetzt, sO bei Reimarus: die „abgesonderten“ und die „ersonnenen Begriffe“ heißen „veränderte Begriffe“, weil sie aus den „unveränderten“ entstehen, „theils durch Weglassen, theils durch Zusetzen“ ($ 51). Und dementsprechend weist Reimarus der Erfah-

rung bzw. der Empfindung ebendieselbe grundlegende Rolle wie Wolff zu: sie ist „die erste Quelle unsers Erkenntnisses“

vernünftige Schlußerkenntnis grundlegend: gert

„das

Unbekannte

aus dem,

was

schon

($213)

und auch für die

„alles Schlußerkenntniß“ folbekannt

ist. Nun

kann

vor

allem Schlußerkenntnisse von der Möglichkeit oder Nothwendigkeit der _| Dinge nichts bekannt seyn, als das Wirkliche, vermittelst der Erfahrung.

Demnach gründet sich alles Schlußerkenntniß endlich auf vorausgesetztes richtiges

($ 217).

Erkenntniß

des

Wirklichen,

das

ist, auf

sichere

Erfahrungen“

Wie bei Wolff hat also die Definitionsbildung bei Reimarus ihr Fundament letzten Endes in der Erfahrung, und bei beiden geschieht sie durch Urteile

über Einzeldinge, die bei Wolff intuitive Urteile und bei Reimarus „Urteile unmittelbarer Einsicht“ heißen und denen gemeinsam ist, daß sie keines Beweises bedürfen und für sich selbst klar sind. Das synthetische Ablei- | tungsverfahren stellt dann nichts als die genaue Umkehrung dieses aposteriorischen Verfahrens der Begriffsbestimmung dar, in ihm werden aus der so gefundenen Definition eines Begriffs durch eine „consequentia imme-

diata“

Urteile über

Garantierte

wesentliche

Eigenschaften

des

dort — im Begründungszusammenhang

Begriffs

abgeleitet.

— die Wahrheit der

Definition unmittelbar die Wahrheit der aus ihnen folgenden Grundsätze, -——



so wird hier — im Entdeckungszusammenhang — die Wahrheit der intuitiven, aus der Erfahrung gewonnenen Urteile zum Garanten der Wahrheit der Definition. /—Dies vermag nun einiges Licht auf die eingangs zitierte Kontroverse über die Einschätzung der Urteilstheorie bei Wolff zu werfen. Innerhalb des Begründungszusammenhanges werden aus Definitionen Grund- und Lehrsätze abgeleitet; der Grund für die Zuordnung des Prädikates zum Subjekt besteht in solchen Sätzen darin, daß der Begriff des Prädikats im Subjektdaß nämlich die Aussage, allen der Art ... an sich ... zukomme ... Auf solche Weise werden die einzelnen Versuche mit der Luft zum allgemeinen Satze: alle Luft hat eine ausdehnende Kraft“ ($ 136; Hervorhebung vom Verf.). .

Die Urteilstheorie von H,S. Reimarus

33

begriff enthalten ist, und daß er das ist, zeigt die Definition; ın diesem Sinne ist die Urteilstheorie von Wolff und Reimarus ‚analytisch‘. Und sie ist dies auch — allerdings in einem abgeschwächten Sinne — für Sätze, in denen dem Subjektbegriff nicht ein notwendiges, sondern ein zufälliges Merkmal zugeordnet wird: hier kann aus der Definition wenigstens

gezeigt werden, daß das Prädikat eine mögliche Bestimmung des Subjektbegriffs ist und seinen wesentlichen Merkmalen nicht widerspricht ($ 17). Umgekehrt werden die Definitionen im Erfindungszusammenhang, mit Hilfe einer empirisch am Ding orientierten Begriffsanalyse ermittelt: intui-

tive Urteile über empirisch vorliegende Dinge liefern erst die dann bei der Begründung vorangestellte Definition: die in ihr auftauchenden wesentlichen Eigenschaften werden empirisch an der Sache selbst gewonnen, wo

sie beobachtbar sind und, wenn man so will, in einem Seinszusammenhang vorliegen. Beide Auffassungen von der Wolffschen Urteilstheorie scheinen sich mir also auf jeweils eine Seite derselben Münze zu beziehen: zwar gehen Wolff

und noch deutlicher Reimarus von der Identität zwischen Prädikat und Subjekt im wahren Satz aus, aber diese Identitätsannahme hat im Erfin-

dungszusammenhang gerade die Funktion, die an den Dingen selbst in

intuitiven Urteilen ermittelten Merkmale des Begriffs als seine Teilbegriffe zur Definition verwenden zu können. Und umgekehrt liegt diesen Definitionen zwar so etwas wie ein „Seinszusammenhang“ der Merkmale im Ding zugrunde, um aber diesen Seinszusammenhang innerhalb des demonstrativen Begründungszusammenhanges argumentativ verwenden zu können, muß er bei Wolff und Reimarus als Identität zwischen Definiendum

und Definiens gefaßt sein. Der bei Wolff und Reimarus auftauchende Typ der ‚analytischen‘ Urteilstheorie und die These von der Erfahrung als der ersten Quelle unserer Erkenntnis widersprechen einander also nicht, sondern stellen einander ergänzende und aufeinander angewiesene Teilstücke eines in sich geschlossenen Methodenkonzeptes dar. 4.

Trotz der weitgehenden Übereinstimmung zwischen Wolff und Reimarus im grundsätzlichen gibt es innerhalb dieses gemeinsamen Methodenkonzeptes jedoch auch Differenzierungen oder besser Schwerpunktverlagerungen, die Bedeutung für die weitere Entwicklung der nachwolffschen Philosophie haben oder in denen sich diese weitere Entwicklung wenigstens doch schon andeutet. Ich werde zum Abschluß einige wenige Aspekte, in denen solche Verlagerungen des Schwergewichts bei Reimarus auf die

Hans-Juneen Enore®

54

weitere Entwicklung vorausdeuten, dadurch suchen, daß ich auf gewisse Parallelen zwischen der Vernunftlehre und den logisch-erkenntnistheoretischen Schriften Kants?” aus den 60er Jahren aufmerksam mache. Wenn

solche Parallelen feststellbar sind, dann soll mit ihrem Nachweis allerdings nicht behauptet

werden,

daß

Kant

in diesen

Punkten

unmittelbar von

Reimarus abhängig wäre; eine so weitreichende Aussage wäre erst nach einer gründlichen Analyse der Vielzahl von nach-, pro- und antiwolffschen Logiken der 40er bis 60er Jahre möglich, insbesondere müßte die Logik Knutzens, bei dem Kant gehört hat””, der Logikauszug von Meier ”9, den Kant seinen Vorlesungen zugrunde legte, und die Logik von Crusius®, die er in dieser Zeit regelmäßig zitiert, mit zum Vergleich herangezogen werden.

All das kann

hier nicht geleistet werden,

deshalb

beschränke

ich

mich auf den Hinweis auf einige wenige Parallelen. In diesem Sinne erinnere ich erstens an die Parallelen in der Irrtumstheorie bei Reimarus und Kant®!: in der „Deutlichkeit“ finden sich zu diesem Problem beinahe wörtliche Anklänge an Reimarus®?. Zweitens verweise ich auf die Reduktion der vier Schlußfiguren auf die erste, die den Hauptinhalt von Kants Schrift über die „Falsche Spitzfindigkeit“ ausmacht; eine solche Reduktion der vier Schlußfiguren auf die erste findet sich auch in der Vernunftlehre des Reimarus: in den $$ 172ff. wird sie in aller Breite vorgeführt. Da sich dieser Gedanke allerdings schon bei Wolff finder®?, muß diese Parallele nicht viel besagen, immerhin ist auffällig, [daß beide,

Kant wie Reimarus, die Reduktion auf die erste Figur durch „Umkehrung“

77 Die Schriften Kants werden mit Angabe des Kurzrirels zitiert nach: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. — Darmstadt 1956 ff., Bd. 1.

7%, Martin Knutzen: Elementa philosophiae rationalis seu logicae cum generalis tum specialioris mathematica methodo in usum auditorum susrum demomstrata. Tertia et aucta editio. — Königsberg und Leipzig 1771.

79 George Friedrich Meier: Auszug aus der Vernunftleirre. - Halle 1752; wiederabgedruckt mit den Reflexionen Kants zur Logik in: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg, v. der Königlich

Preußischen Akademie der Wissenschaften Bd. XVL — Dritte Abteilung: Kant’s handschrifrlicher Nachlaß, Bd. III. Logik. — Berlin und Leipzig 1924. % Christian August Crusius: Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen

Eikenntniß. - Leipzig 1747; nachgedruckt in: Christian August Crusius: Die philosophischen

Hauptwerke. Hrsg. v. G. Tonelli, Bd. 3. — Hildesheim 1965. #1 Ausführlich nimmt dazu Stellung Norbert Hinske-

Reimarus

zwischen

Wolff und Kant,

in diesem Band 5.9-32. vg. Vernunftehre $ 25f. mit Deutlichkeit $ 2 1$.763£.).

®

Vgl. Albert Menne: Kants Kritik der Syllogistik. In: Akten des 4. Internationalen Kant-

"Kongresses Mainz. 6.--10. April 1974. Teil IL 1: Sektionen. Hrsg, v. Gerhard Funke. - Berlin, New York (1974), S. 130-134.

Die Urteilstheorie von H.S. Reimarus

u:

eines der Obersätze der anderen Figuren erreichen®* und daß beide solche Umkehrungen als unmittelbare Schlüsse fassen#s, so daß bei beiden Autoren die Schlüsse der 2.4. Figur als verkürzte Schreibweise erscheinen, eigentlich müßten in ihnen 3 Obersätze auftauchen, nämlich zwei Obersätze und die Umkehrung eines von beiden ®#, |

Drittens — und dies erscheint mir wichtiger - i$t auffällig, daß sowohl Kant als auch Reimarus zwei erste Grundsätze oder Regeln für alle Wahrheiten

aufstellen, den Satz der Identität und den des Widerspruchs. Dies ist soweit ich sehe - in den zeitgenössischen Logiken nicht üblich: bei den Wolffianern, wie beispielsweise bei Baumeister®7 und Gottsched ®, werden der Satz vom Widerspruch und der vom zureichenden Grunde als Prinzipien vorangestellt, bei Knutzen®? und bei Daries® taucht allein der Satz des Widerspruchs auf, und Crusius setzt drei Hauptsätze als erste Prinzipien unserer Schlüsse an?!, Dagegen nennt Kant sowohl in der „Nova

# Vernunftlehre $ 180: „Hergegen wird in der Ilten Figur der Obersatz, in der Illten Figur der Untersatz, in der IVten Figur beyde Vordersätze umgekehrt“; vgl. Falsche Spitzfindigkeit

$ 4 (8.604).

85 Vernunftlehre $ 166ff. und Falsche Spitzfindigkeit $ 3 (5.602). 86 Falsche Spitzfindigkeit $ 4 ($.605).

#7 Friedrich Christian Baumeister: Institutiones Metaphysicae. - Wittenberg und Servesta 1762, $ 19: Duo ... cognitionis humanae principia ... alterum scilicet principium contradictionis, alterum vero principium rationis sufficientis ...“. 88 Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe Der Gesamten Weltweisheit, Darinn alle Philosophische Wissenschaften in ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden. Zum Gebrauch Academischer Lectionen entworfen. Erster, Theoretischer Theil. — Leipzig 1733, $ 213 ($.117): „Die menschliche Vernunft hat zwar eine Menge von Grundsätzen, die sie aus den deutlichen Begriffen der Dinge zieht: Allein der Hauptgründe giebt es eigentlich nicht mehr als zweene. Diese nennet man den Satz des Widerspruches, und den Satz des zureichen-

den Grundes“. - 89 Knutzen

a.a.O.,

$ 256

($.159):

„Criterium veritatis in iudicando est eiusmodi nexus

iudicii ... cum principio contradictionis, quo tolli nequit, nisi negato principio contradictionis s. prima veritate. Criterium vero falsitatis in indicando est iudicii ... pugna cum eodem principio“.

90 Joachim Georg Daries: Introductio in artem inveniendi seu logicam theoretico-practicam, qua analytica atque dialectica in usum auditorii sui methodo auditoribus commoda proponuntur. Editio secunda. — Jena 1747, $ 1 ($.3): „Caput I. de generalissimis omnium cognitionum principiis. Principium contradictionis: Fieri non potest, ut idem simul sit et non sit“, 91 Crusius 4.4.0., $ 162 ($.475f.): „Es löset sich dahero der erste Grund aller unserer Schlüsse in die drey Hauptsätze auf ... 1) Nichts kan zugleich seyn und nicht seyn in ganz einerley Absicht. 2) Was sich nicht ohne einander denken lässet, das kan auch nicht ohne einander seyn. 3) Was sich nicht mit und neben einander denken lässet, das kan auch nicht mit und neben einander seyn“.

56

Hans- JÜRGEN ENGFER

dilucidatio“ 92 von 1755 als auch in der „Falschen Spitzfindigkeit“® und in der „Deutlichkeit“ 9 die beiden Grundsätze, die auch Reimarus kennt, stellt wie Reimarus alle bejahenden Sätze unter den Satz der Identität und

alle verneinenden Sätze unter den Satz des Widerspruchs und benutzt in der „Falschen Spitzfindigkeit“ für den Satz der Identität den bei Reimarus üblichen Begriff der „Einstimmung“. Die Formulierung dieser ersten Grundsätze selbst weicht bei Kant in allen drei Schriften relativ weit von den Formulierungen bei Reimarus ab, am ähnlichsten ist noch die der „Nova dilucidatio“, für die aus Datierungsgründen der Einfluß der Ver-

nunftlehre ausscheidet: die Regel der Einstimmung bei Kant lautet hier »Quicquid est, est“: alles, was ist, ist2. Am wichtigsten aber scheint mir die Beobachtung, daß sich in der Vernunftlehre des Reimarus eine Schwerpunktverlagerung hier noch innerhalb des Wolffschen Systems andeutet, die später in den 60er Jahren zur Ausbildung ausgesprochen antiwolffscher Positionen führen soll. Das Bild, das Kant, Lambert, Mendelssohn und andere von Wolff haben und das sich in ihren Schriften spiegelt, ist - man kann sagen — einseitig von dem beweisenden Charakter seiner Lehrschriften bestimmt: Wolff ist für sie der Mann der mathematischen und synthetischen Methode, der aus vorangestellten Definitionen alle folgenden Sätze beweist; präzis, gründlich und dogmatisch im guten Sinne, was die Ableitungen angeht, fragwürdig und fast unphilosophisch aber in bezug auf die einfach und dogmatisch im schlechten Sinne vorangestellten Definitionen. Entsprechend setzt die Methodendiskussion in den 60er Jahren mit einer fast einhelligen Ableh-

nung der synthetischen Methode Wolffs ein. 'Kant, Mendelssohn und in gewisser Weise auch Lambert erklären anläßlich der Preisfrage für 1763 übereinstimmend die analytische zur eigentlich philosophischen Methode

°? Nova dilucidatio sect. I, prop. II (8.412): „Veritatum omnium bina sunt principia absolute

prima, alterum veritatum affirmantium, nempe propositio: quicquid est, est, alterum verita-

tum negantium, nempe propositio: quicquid non est, non est. Quae ambo simul vocantur