Ursprungszauber: Zur Rezeption Von Hermann Useners Lehre Von Der Religiösen Begriffsbildung [Reprint 2013 ed.] 3110177870, 9783110177879

Wie kam der Mensch zu der Vorstellung, dass es Götter gibt? Enthält die Sprache des Mythos Hinweise auf Ursprung und Ent

209 74 16MB

German Pages 256 Year 2003

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Ursprungszauber: Zur Rezeption Von Hermann Useners Lehre Von Der Religiösen Begriffsbildung [Reprint 2013 ed.]
 3110177870, 9783110177879

Table of contents :
Einleitung
„Formenlehre des Geistes“ Zu Hermann Useners Lehre von der religiösen Begriffsbildung
Götter, Helden und Dämonen. Ein ,Reisebericht‘
Etymologie: Vergleich und Struktur
Zur Archäologie der menschlichen Psyche
Sprache und Religion. Ihr Verhältnis im Systematisierungsprozeß
Von der Urangst zum Mythos. Distanz – Begriff – Narrativität
Urangst und Artikulation
Das religiöse Begriffssystem: Die Sondergötter
Personifikation und Narrativität
Die ,Götternamen‘ im Kontext von Useners Gesamtœuvre
Ein zauberhaftes Archiv. Zu Albrecht Dieterichs Rekonstruktion ursprünglicher Denkformen
Spuren der Vergangenheit
Dieterichs Begriff der ,Volkskunde‘
Ritus versus Mythos
Archäologie der religiösen Grundformen. Zu Dieterichs ,Mutter Erde‘
„Perlen in einem Schutthaufen“. Zu Dieterichs ,Abraxas‘ und ,Eine Mithrasliturgie‘
Kontinuität und Erzählung. Zu Ludwig Radeimacher als Erzählforscher
Ursprünge von Mythos, Stoff, Motiv
Radermacher im Kontext der ‚Religionswissenschaftlichen Schule‘
Gattungsfragen
Glaube und mythische Erzählung
Pagane Volksdichtung und Christentum
Kontinuitätsidee und Vergleichende Methode
Glaube und Poetologie
„Von der mythisch-fürchtenden zur wissenschaftlich-errechnenden Orientierung des Menschen sich selbst und dem Kosmos gegenüber“ Zu Aby Warburg
Warburgs Begegnung mit der ,Religionswissenschaftlichen Schule‘. Biographische Bemerkungen
Warburg in der Warburg-Rezeption
Zur Publikationssituation
Theorie und Detailanalyse
Biographie
Warburg als ,Schüler‘ Useners
Symbol und Begriff
Kontinuität
Göttlicher Ursprung. Zum Neopaganismus bei Walter Friedrich Otto
Mythos und Wissenschaft
Offenbarung und Entwicklung
Sprache und Sein
Technikkritik und Antimoderne
Von den Sondergöttern zur Offenbarung. Ein Rückblick
Literaturverzeichnis
Personenregister

Citation preview

Antje Wessels Ursprungszauber

W

Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten Herausgegeben von Fritz Graf · Hans G. Kippenberg Lawrence E. Sullivan

Band 51

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003

Antje Wessels

Ursprungszauber Zur Rezeption von Hermann Useners Lehre von der religiösen Begriffsbildung

Walter de Gruyter · Berlin · New York

2003

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-017787-0

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.ddb.de > abrufbar.

© Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Danksagung

Die Arbeit wäre nicht zustande gekommen ohne ein Stipendium der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften und ohne die ideelle und finanzielle Unterstützung, die ich im Rahmen meiner Tätigkeit in den DFGProjekten zum „Nachleben der Antike" (Heidelberg) und zur „Antikerezeption" (FU Berlin) erfahren habe. Den genannten Institutionen sowie meinen Lehrern Glenn W. Most und Bernd Seidensticker gilt mein herzlicher Dank. Danken möchte ich auch Hans G. Kippenberg für seine inspirierenden Anregungen und seinen Vorschlag, die Arbeit in die .Religionsgeschichtlichen Versuche und Vorarbeiten' aufzunehmen, sowie Claus-Jürgen Thornton für die umsichtige Betreuung des Buches und Hendrike Witt für die Erstellung des Registers. Gewidmet ist das Buch meinem Vater und dem Andenken meiner Mutter.

Inhaltsverzeichnis Einleitung

1

„Formenlehre des Geistes" Zu Hermann Useners Lehre von der religiösen Begriffsbildung Götter, Helden und Dämonen. Ein Reisebericht' Etymologie: Vergleich und Struktur Zur Archäologie der menschlichen Psyche Sprache und Religion. Ihr Verhältnis im Systematisierungsprozeß Von der Urangst zum Mythos. Distanz - Begriff- Narrativität Urangst und Artikulation Das religiöse Begriffssystem: Die Sondergötter Personifikation und Narrativität Die ,Göttemamen' im Kontext von Useners Gesamtceuvre

7 14 29 48 53 53 65 76 78

Ein zauberhaftes Archiv Zu Albrecht Dieterichs Rekonstruktion ursprünglicher Denkformen Spuren der Vergangenheit Dieterichs Begriff der .Volkskunde' Ritus versus Mythos Archäologie der religiösen Grundformen. Zu Dieterichs .Mutter Erde' „Perlen in einem Schutthaufen". Zu Dieterichs .Abraxas' und .Eine Mithrasliturgie'

96 104 108 111 121

Kontinuität und Erzählung Zu Ludwig Radermacher als Erzählforscher Ursprünge von Mythos, Stoff, Motiv Radermacher im Kontext der .Religionswissenschaftlichen Schule' Gattungsfragen Glaube und mythische Erzählung Pagane Volksdichtung und Christentum Kontinuitätsidee und Vergleichende Methode Glaube und Poetologie

129 132 135 142 144 147 150

Vili

Inhaltsverzeichnis

„Von der mythisch-fürchtenden zur wissenschaftlich-errechnenden Orientierung des Menschen sich selbst und dem K o s m o s gegenüber" Zu Aby Warburg Warburgs Begegnung mit der ,Religionswissenschaftlichen Schule'. Biographische Bemerkungen Warburg in der Warburg-Rezeption Zur Publikationssituation Theorie und Detailanalyse Biographie Warburg als ,Schüler' Useners Symbol und Begriff Kontinuität

160 163 164 166 171 175 177 180

Göttlicher Ursprung Zum Neopaganisrnus bei Walter Friedrich Otto Mythos und Wissenschaft Offenbarung und Entwicklung Sprache und Sein Technikkritik und Antimoderne Von den Sondergöttern zur Offenbarung. Ein Rückblick

185 200 208 216 220

Literaturverzeichnis

226

Personenregister

239

Einleitung Methodenpluralismus und grenzüberschreitende Forschungsansätze sind wieder gefragt - auch in der Klassischen Philologie.1 Von geradezu aktuellem Interesse erscheint vor diesem Hintergrund Hermann USENERS Mitte des 19. Jahrhunderts begonnenes Projekt, die Philologie aus ihrer fachwissenschaftlichen Begrenzung herauszuführen und als ein Forschungsinstrumentarium zu perspektivieren, das nicht mehr und nicht weniger zu leisten verspricht als eine entwicklungshistorische Rekonstruktion des menschlichen Denkens - ein bahnbrechendes Unternehmen, das bis in die 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein in verschiedenen Disziplinen seine Spuren hinterlassen hat.2 USENER (1834-1905), dessen Bedeutung als Philologe seinerzeit allenfalls, wenn überhaupt,3 von seinem ehemaligen Studenten Ulrich von WILAMOWITZ-MOELLENDORFF überboten worden ist, hat vielleicht mehr noch als durch seine einzelnen Schriften dadurch gewirkt, daß er zahlreiche Schüler dazu inspirierte, die Methoden der Philologie für kulturwissenschaftliche und anthropologische Projekte zu nutzen. „Bei Hermann Usener" schreibt Arnaldo MOMIGLIANO „finden wir ... ein langsames Realisieren gewisser Möglichkeiten der Philologie, die er und andere zuvor nicht erfaßt hatten."4 Die Abwendung von der ästhetisierenden Textbetrachtung, das auf ein strukturalisti-

3

Vgl. dazu H. CANCIK, Graezistik und Latinistik im Fachbereich Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen, in: DERS., Antik-Modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte, hrsg. v. R. Faber/ B. v. Reibnitz/ J. Rüpke, Stuttgart/ Weimar 1998, 1-5. Vgl. dazu H. J. METTE, Nekrolog einer Epoche. Hermann Usener und seine Schule. Ein wirkungsgeschichtlicher Rückblick auf die Jahre 1856-1979, Lustrum 22, 1979/1980. Vgl. M. LANDFESTER, Die hermeneutische Konzeption H. Useners, in: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und die hermeneutische Tradition des 19. Jahrhunderts (= Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, hrsg. von H. Flashar/ K. Gründer/ A. Horstmann, Göttingen 1979, 156-180), 160-162. 160: „Man hat sich unter dem Eindruck der Selbsteinschätzung von U. v. Wilamowitz angewöhnt, die Bedeutung H. Useners zu verkennen und U. v. Wilamowitz zur beherrschenden Gestalt der Philologie jener Zeit zu machen. Es ist aber keine Übertreibung: H. Usener hat in jenen Jahren einen ungleich größeren Einfluß in seiner Wissenschaft gehabt." A. MOMIGLIANO, Hermann Usener, in: DERS., Neue Wege der Altertumsforschung im 19. Jahrhundert [Orig.: New Paths of Classicism in the Nineteenth Century, History and Theory, Beiheft 21, 1982], in: DERS., Wege in die Alte Welt, Frankfurt a.M. 1995, 201-222. 20If.

2

Hinleitung

sches Vorgehen vorausweisende5 Verfahren der Textsegmentierung und Strukuranalyse, die Neubewertung der Volkskunde und die Einsicht in die Bedeutung, welche die Erforschung der „Nachtseite der antiken Religion"6 für ein Verständnis der Gesamtreligion, ihrer Entstehung und ihres Weiterlebens in neuen Kontexten hat, gehen einher mit der Überzeugung, daß der Mythos nicht etwa deskriptiv, sondern vor allem als ein psychologisches Problem erfaßt werden müsse und daß seine Tiefenschichten über sozio-kulturelle, geographische und epochale Grenzen hinweg weiterbestehen. Mit der Synthetisierung von anthropologischer Religionspsychologie und sprachanalytischem Verfahren und mit dem Anspruch, eine traditionell auf Textexegese gerichtete Altertumswissenschaft in eine religions- und geschichtswissenschaftliche Grunddisziplin zu überführen, hat USENER produktiv und nachhaltig provoziert und die ihm nachfolgenden Generationen in die verschiedensten Richtungen zur Weiterarbeit angeregt. USENERs Hauptwerk, die Götternamen, gilt heute als überholt und wird, vor allem wegen seiner sachlichen Fehler, kaum benutzt. Unterschätzt wird dabei, daß die Lehre von der religiösen Begriffsbildung, die USENER darin entwickelt, die zentralen Dogmen enthält, mit denen er die fachwissenschaftliche Entgrenzung konkretisierte und vor allem die religionswissenschaftliche Forschung vorantrieb.7 Angeregt von dem Problem des Verhältnisses zwischen Polytheismus und Monotheismus begründet USENER in den Götternamen seine These von den allgemeinen psychologischen Gesetzmäßigkeiten', nach denen sich grundsätzlich das Abstrakte aus dem Konkreten, das Eine aus dem Vielen und demnach die Vorstellung von einem einzigen Gott aus der Vorstellung von vielen verschiedenen Göttern entwickelt habe. Unter der Prämisse, daß dem narrativen Mythos ein Begriffssystem vorausgegangen sei, dessen Überreste innerhalb der Götternamen, Heroennamen oder Lokaldämonen bewahrt seien, unternimmt USENER die sprachanalytische ,Vivisektion' des Mythos in seine entwicklungshistorischen Einzelschichten und gelangt so zu dem Bild einer zur sprachlichen Begriffsbildung analog verlaufenen religiösen Begriffsbildung, die er, auf der Ebene der Psychologie, auf eine allgemeine Geschichte der Entwicklung des menschlichen Geistes zurückführt. Das Dogma der Einverleibung oder Archivierung von entwicklungsgeschichtlich älteren Strukturelementen durch entwicklungsgeschichtlich spätere Kontexte führt die wesentli-

7

Auf dieses Verhältnis kann die folgende Arbeit nicht eingehen. Es sei aber (gewissermaßen als Parallellektüre) auf C. LÉVI-STRAUSS, Strukturale Anthropologie (frz. Orig.: Anthropologie structurale, Paris 1958), Frankfurt a.M. 1991, bes. 226-254 verwiesen. R. KANY, Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werkvon Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987, 141. Als ,Heros Ktistes' der Religionswissenschaft wurde USENER erstmals von Albrecht DIETERICH gewürdigt, s. A. DIETERICH, Hermann Usener (Archiv für Religionswissenschaft, im folgenden: ARW, 8, 1905, X), in: DERS., Kleine Schriften, hrsg. v. R. Wünsch, Leipzig/ Berlin 1911, 29f.

Einleitung

3

chen Erkenntnisinteressen zusammen: Es begründet die Rekonstruierbarkeit von Religionsentstehung und vorgeschichtlicher Geschichte (da der historisch greifbare Mythos seine Vorstufen archiviert) und ist zugleich die Voraussetzung für USENERs Hypothese, daß zwischen Begriffssystem und Mythos, zwischen Volksglauben und Literatur sowie zwischen Heidentum und Christentum eine (epochenübergreifende) Kontinuität bestanden habe, deren Spuren sich anhand zahlreicher und nur scheinbar marginaler Zeugnisse nachweisen lasse. USENER ist fasziniert von der Möglichkeit, die jenseits der Historie liegenden Ursprünge der Religion als Philologe rekonstruieren zu können; er ist fasziniert von der Tatsache, daß sich die Überreste dieser verloren geglaubten Ursprünge in der Volksreligion bis hin zur Vorstellungswelt des Christentums aufspüren und verfolgen lassen und daß es auf der Grundlage des philologischen Instrumentariums und unter Berücksichtigung auch und gerade der jenseits des klassischen Kanons liegenden Materialien nunmehr möglich wird, eine empirisch fundierte .Geschichte des menschlichen Geistes' zu schreiben. „Arbeiter in Useners Weinberg" - so überschreibt Renate SCHLESIER8 ihren Essay über die von USENER angeregte sogenannte ,Religionswissenschaftlichen Schule' (die im übrigen nicht mit der von Göttingen ausgehenden, freilich von USENER beeinflußten ,Religionsgeschichtlichen Schule' zu verwechseln ist).9 Vier dieser ,Arbeiter' hat die folgende Arbeit nach ihrem Verhältnis zu USENERs Konzeption befragt: Albrecht DIETERICH, Ludwig RADERMACHER, Aby WARBURG und Walter Friedrich OTTO - eine Auswahl, die getroffen wurde, um zu demonstrieren, in welche verschiedenen Richtungen sich USENERs Projekt entwickeln konnte. Sie alle haben (ganz oder teilweise) bei USENER studiert, und ihnen allen ist gemeinsam, daß sie einzelne Konstituenten von USENERs Ansatz demontierten oder die Geometrie seines Projekts, das Zusammenspiel von theoretischen Voraussetzungen, Methode, Arbeitsfeld und Erkenntnisziel, in fruchtbarer Weise verschoben oder neu akzentuierten. Vor allem aber haben sie USENERs Projekt in andere Disziplinen überführt: DIETERICH in die Volkskunde, RADERMACHER in die Literaturwissenschaft, WARBURG in eine religionswissenschaftliche Kunstwissenschaft und OTTO in eine .Philosophie des Seins'.

9

R. SCHLESIER, „Arbeiter in Useners Weinberg", in: DIES.: Kulte, Mythen und Gelehrte. Anthropologie der Antike seit 1800, Frankfurt a.M. 1994, 193-241. Vgl. dazu G. LÜDEMANN/ M. SCHRÖDER, Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen. Eine Dokumentation, Göttingen 1987. G. LÜDEMANN (hrsg.), Die Religionsgeschichtliche Schule. Facetten eines theologischen Umbruchs. Frankfurt 1996. C. Colpe, Zur religionsgeschichtlichen Schule. Darstellung und Kritik ihres Bildes vom gnostischen Erlösermythos, Göttingen 1961. Gleichwohl gibt es sowohl konzeptionelle als auch personelle Überschneidungen, etwa durch Richard REITZENSTEIN, der bei USENER studiert hatte, vgl. R. SCHLESIER, „Arbeiter in Useners Weinberg", 198f.

4

Einleitung

Albrecht DIETERICH (1866-1908) kritisiert USENERs Annahme, daß der narrative Mythos aus einem Denken in Begriffen hervorgegangen sei, hält aber an der Methode der Segmentierung sowie an der Überzeugung fest, daß frühe Ausdrucksformen über ihre Entstehungsbedingungen hinaus weiterbestehen, und versucht der Frage nach dem Ursprung von Religion daraufhin anhand einer Untersuchung von magischen und primitiven Riten nachzugehen. Das Ursprüngliche, so lautet DIETERICH These, hat sich mehr als in den Artikulationen der Sprache in den Formen des Ritus erhalten, die nach seiner Überzeugung auch Rekontextualisierungsvorgänge unverändert überstehen. Ahnlich wie USENER kommt DIETERICH zu dem Schluß, daß in vorgeschichtlichen religiösen Vorstellungen Zeichen und Bezeichnetes im wesentlichen zusammenfielen. Die von USENER angenommene Vorstellung einer Identität von einzelnem Ding und spontan auftretender Gottheit („Augenblicksgötter") findet ihre Entsprechung in der von DIETERICH im primitiven Ritus beobachteten „Metathese", bei der Vertreterrelationen als Identitätsbeziehungen genommen werden. DIETERICH (und später seinen Schülern) gelingt es, anhand der Untersuchungen des Volksglaubens diese und andere Grundformen der religiösen Vorstellungen zu rekonstruieren; das von USENER entworfene Entwicklungsschema, das die detaillierte Zuweisung verschiedener Vorstellungsformen zu bestimmten Entwicklungsstadien vorsieht, kann er freilich nicht bestätigen. Ludwig RADERMACHER (1867-1952) knüpft in erster Linie an die (von USENER in den Sintfluthsagen formulierte) Hypothese des ,Mythenkerns' an. Er glaubt zwar nicht an die Entwicklung religiöser Begriffe, wohl aber daran, daß den reichen mythischen Variationen feste, polygenetisch entwickelte narrative Sequenzen zugrunde liegen, die er im Volksglauben aufspürt und deren Kontinuität er bis in christliche Vorstellungen hinein verfolgt. Mythopoiesis versteht er als eine genuin dichterische, individuell-schöpferische Produktion von mythischen Bildern. Den Schwerpunkt seiner Forschungen legt er daher weniger auf die Ausprägungen des mythischen Denkens als auf die Entstehung von Erzählformen des Mythos und der ihm verwandten Gattungen. Darüber hinaus verweist sein Begriff der polygenetischen Entstehung von Motiven auf eine historische und topographische Ubiquität bestimmter Grundformen, die entwicklungshistorisch nicht fixierbar, sondern jederzeit und überall (re-)produzierbar sind. Aby WARBURG (1866-1929) schließlich übersetzt die von USENER im Bereich der Sprache angewandte Methode der Strukturanalyse in ein Verfahren der Bildlektüre, das es ihm erlaubt, einzelne Bildformeln als Ausdruck bestimmter Denkformen zu dechiffrieren. Doch während USENER und in seiner Nachfolge insbesondere DIETERICH die auf ein Nichterkennen der Differenz von Zeichen und Sache weisenden Ausdrucksformen als Relikte einer nicht mehr präsenten Denkform verstehen und es grundsätzlich ablehnen, ihnen einen augenblicklichen Impuls zuzuschreiben, führen WARBURGs auf der Ba-

Einleitung

5

sis der Bildanalyse unternommenen religionswissenschaftlichen Forschungen zu dem Nachweis eines kontinuierlichen, allgegenwärtigen Spannungsverhältnisses von „Denkraum"-schaffender Logik und „Denkraum"-zerstörender Magie und dem beständigen Ringen des Menschen um die Gewinnung einer Distanz zwischen Ich und Objekt. Das bildhafte Symbol, die ins Bild gebannte leidenschaftliche Erregung, besitzt (anders als die von USENER behaupteten religiösen Begriffe) „mnemische Energie", eine These, die WARBURG auch im rituellen Bereich, namentlich im Zusammenhang mit der Beobachtung des bei den Pueblo-Indianern praktizierten Schlangenrituals, bestätigt fand. WARBURG nimmt (ähnlich wie DIETERICH und RADERMACHER) Abstand von der Annahme eines strikt linear verlaufenden Entwicklungsprozesses und faßt das von USENER beschriebene Zusammenfallen von Zeichen und Bezeichnetem als ein allgegenwärtiges, bedrohliches Phänomen: An der Seite des ,heiteren olympischen Antlitzes' der Antike, so etwa seine düstere Beobachtung zur Kunst der Renaissance, drängt immer wieder auch deren dämonische Seite an die Oberfläche. Sein geradezu sprichwörtlich gewordenes Diktum „Der liebe Gott sitzt im Detail" greift schließlich unmittelbar auf eine für USENERs Forschungen zentrale Methode zurück, die sich auch ein Großteil seiner Schüler auf ihre Fahnen geschrieben haben und die WARBURG im Bereich der Bildanalyse allenfalls zu besonderer Berühmtheit gebracht hat. Daß das Detail nicht mit dem Unbedeutenden gleichzusetzen ist, sondern mitunter die einzige Spur zu der Entschlüsselung des ursprünglichen religiösen Denkens ist, zeigen fast alle der hier behandelten Gelehrten: Die Wege, über die sie sich zu den Ursprüngen des religiösen Denkens durcharbeiten, führen über Lokaldämonen, Zauberbücher und Küchenbräuche bis hin zu Briefmarken und Werbeannoncen. Auf den ersten Blick vielleicht erstaunen mag vor diesem Hintergrund die Aufnahme Walter Friedrich OTTOs. ES ist bekannt, daß OTTO (1874-1958), der sich zu Beginn seiner Laufbahn fast epigonal in USENERs Bahnen bewegte, nach einer etwa zehnjährigen Schaffenspause das Profil seiner Forschung radikal änderte und unter dem Einfluß der Kreise um KLAGES sowie der Lektüre von NIETZSCHE und HEIDEGGER zu einer Auffassung über die Religionsentstehung gelangte, die sich kaum mehr mit USENERs Forschungen in Verbindung bringen läßt. Weniger bekannt ist, wie es zu dem eklatanten Bruch in seiner intellektuellen Biographie gekommen ist. Tatsächlich hat sich OTTO wie kein anderer derer, die bei USENER studiert haben, mit der Lehre von der religiösen Begriffsbildung auseinandergesetzt und die einzelnen Kritikpunkte sowie die ihm notwendig erscheinenden Konsequenzen in einem bislang unveröffentlichten Manuskript detailliert dokumentiert. Das Manuskript, das just in der zwischen Früh- und Spätwerk liegenden (dunklen) Phase verfaßt worden ist, zeigt sehr deutlich, daß das Profil seines Spätwerks auf einer wissenschaftlich lange vorbereiteten und aus der präzisen Auseinandersetzung mit USENERs Arbeiten heraus entwickelten Abkehr beruht und daß der intel-

6

Einleitung

lektuelle Umgang in München weniger der Auslöser und die Inspirationsquelle als die Konsequenz dieser Entwicklung ist. Die durch das Manuskript zutage tretende intellektuelle Entwicklung schließt die bislang offene Lücke zwischen Früh- und Spätwerk und zeigt darüber hinaus, daß auch die so konträr scheinende Auffassung von den Ursprüngen der Religion, wie sie Walter Friedrich OTTO vertritt, wesentliche Impulse Hermann USENER verdankt. Die vorliegende Untersuchung richtet ihr Interesse gegenüber den zahlreichen biographisch oder institutionengeschichtlich interessierten Arbeiten zur sogenannten ,Religionswissenschaftlichen Schule' oder ihrer Vertreter vor rangig auf eine methodengeschichtliche Analyse und Verortung der genannten Gelehrten. Ihr Ziel ist weder die umfassende Darstellung dieser .Schule' noch die kritische Diskussion dieses Begriffs (was eine eigene Untersuchung wert wäre), sondern der bislang ausstehende Versuch, über eine detaillierte Analyse exemplarisch ausgewählter Forschungsansätze die theoretischen und methodischen Voraussetzungen zu erschließen, mit denen das Wagnis unternommen werden konnte, auf der Basis einer Einzelwissenschaft die Ursprünge der Religion zu ergründen. Da sich die Arbeit an Leser unterschiedlicher Fachdisziplinen richtet und auch denjenigen entgegenkommen möchte, die sich vor allem für einen bestimmten Autor interessieren, sind die Kapitel so gearbeitet, daß sie auch als eigenständige Texte gelesen werden können. Die eine oder andere Wiederholung, die dadurch nötig war, möge verziehen werden.

„Formenlehre des Geistes" Zu Hermann Useners Lehre von der religiösen Begriffsbildung

Götter, Helden und Dämonen. Ein Reisebericht' „Es wäre übel mit menschlicher Wissenschaft bestellt, wenn wer im einzelnen forscht, fesseln trüge, die ihm verwehrten zum ganzen zu streben. Je tiefer man gräbt, desto mehr wird man durch allgemeinere erkenntnisse belohnt."'

Als Hermann USENER (1834-1905) 2 1896 seine Lehre von der religiösen Begriffsbildung vorlegt, ist er 62 Jahre alt und auf der Höhe seines Ruhms. Neben Ulrich von WlLAMOWITZ-MOELLENDORFF, seinem ehemaligen Schüler und späteren Antipoden,3 gilt er als der einflußreichste Klassische Philologe seiner

2

3

H. USENER, Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Bonn 1896, VII. Hermann USENER wurde am 23. Oktober 1834 in Weilburg geboren, wo er ab 1844 das Gymnasium besuchte. Sein wichtigster Lehrer dort war Alfred FLECKEISEN. Er studierte Klassische Philologie im SS 1853 in Heidelberg (bei Karl Ludwig KAYSER), vom WS 1853/1854 bis SS 1854 in München (bei Leonard SPENGEL), nach einem Unteibrechungsjahr vom SS 1855 bis SS 1857 in Göttingen (bei Carl Friedrich HERRMANN und Friedrich W. SCHNEIDEWIN) und das WS 1857/1858 über bei Friedrich G. WELCKER, Friedrich RJTSCHL und Carl BRANDIS in Bonn, wo er im März 1858 von RlTSCHL mit einer Arbeit über die Analecta Theophrastea promoviert wurde. Als Professor wirkte er ab dem 7. Mai 1861 in Bern, vom SS 1863 an in Greifswald, ab 1866 bis zu seiner Emeritierung am 13. Juni 1902 dann schließlich in Bonn. Er starb am 21. Oktober 1905. Zu den wichtigsten biographischen Daten vgl. J. N. BREMMER, Hermann Usener, in: Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia, hrsg. von W. W. Briggs/ W. M. Calder m , New York/ London 1990, 462-478 mit umfassenden Literaturangaben (475-478). Eine ausführliche Darstellung von Leben und Werk findet sich bei A. MOMIGLIANO in dem Abschnitt über Hermann Usener, in: DERS., Neue Wege der Altertumsforschung im 19. Jahrhundert [Orig.: New Paths of Classicism in the Nineteenth Century, History and Theory, Beiheft 21, 1982], in: DERS., Wege in die Alte Welt, Frankfurt a.M. 1995, 201-222; H. J. METTE, Nekrolog einer Epoche. Hermann Usener und seine Schule. Ein wirkungsgeschichtlicher Rückblick auf die Jahre 1856-1979, Lustrum 22, 1979/1980. Ulrich von WlLAMOWITZ-MOELLENDORFF (1848-1933) hatte von Okt. 1867 bis Aug. 1869 bei USENER in Bonn studiert, bevor er nach dem Tod Otto JAHNS Bonn verließ und nach Berlin ging. Das Verhältnis zu USENER war, wie noch der spätere Briefwechsel (vgl. dazu Usener und Wilamowitz. Ein Briefwechsel 1870-1905, hrsg. von

8

Hermann Usener

Zeit.4 Die Bonner Universität, an der er dreißig Jahre zuvor den Lehrstuhl für Gräzistik übernommen hatte,5 darf als einer der wichtigsten Anziehungspunkte junger Philologen gelten:6 Zu den Schülern, die ganz oder teilweise bei USENER studiert haben, zählen Hermann DIELS, Richard HEINZE, Eduard NORDEN, Albrecht DIETERICH, Ludwig RADERMACHER, Walter F. OTTO, Ulrich von WlLAMOWITZ-MOELLENDORF, Eduard SCHWARTZ, Carl ROBERT, aber auch einige, die außerhalb der Philologie Fuß fassen sollten, wie der Kunst- und Kulturwissenschaftler Aby WARBURG, der Dichter Rudolf BORCHARDT, der .Weltmann' Harry Graf KESSLER,7 der Theologe Hans

4 5

6

7

H. Dieterich/ F. Hiller von Gaertringen, Leipzig/ Berlin 1934, bes. 6f.) und WILAMOWITZ' Bemerkungen in den Erinnerungen (Leipzig 1929, 2. Aufl., 84ff., bes. 91f.) und in seiner Autobiographie (veröffentlicht von W. M. CALDER III in: Antike und Abendland 27, 1981, 34-51, s. bes. 48; vgl. dazu A. HENRICHS, „Der Glaube der Hellenen ", in: Wilamowitz nach 50 Jahren, hrsg. von W. M. Calder III/ H. Flashar/ Th. Lindken, Darmstadt 1985, 281-284, bes. 281) zeigen, äußerst problematisch. Ob sich WILAMOWITZ tatsächlich mit USENER überwerfen hatte, wie die Legende erzählt (vgl. dazu A. KÖRTE, Hermann Usener - Ulrich von Wilamowitz. Ein Briefwechsel, Die Antike 11, 1935, 211-235; A. MOMIGLIANO, Hermann Usener, 204f.), muß offen bleiben (s. dazu W. M. CALDER III, Why Did Wilamowitz Leave Bonn? The New Evidence; in: DERS., Further Letters of Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Hildesheim 1994, 43-57). Sicher ist, daß die inhaltlichen Divergenzen so groß waren, daß USENER davon absah, sich WILAMOWITZ „als Schüler zu vindizieren, da schon, als Sie mir zuerst entgegentraten, Ihre Richtung so fest bestimmt war, daß sie sich zu meiner Art in Gegensatz fühlen mußte." (Brief von Usener an Wilamowitz, Bonn 20. Sep. 1877, s. Usener und Wilamowitz, 6f.). Zum Verhältnis USENER - WILAMOWITZ aus zeitgenössischer Perspektive s. Eduard SCHWARTZs Würdigung Rede auf Hermann Usener (Geschäftliche Mitteilungen der Königlichen Gesellschaft der Wiss. zu Göttingen am 5. Mai 1906), in: DERS., Gesammelte Schriften, Bd. 1: Vergangene Gegenwärtlichkeiten, Berlin 1938, 301-315. S. dazu oben S. 1, Anm. 3. USENER übernahm den in der Folge der legendären Auseinandersetzung zwischen Otto JAHN und Friedrich RITSCHL freigewordenen Lehrstuhl seines ehemaligen Lehrers RlTSCHL, der nach Leipzig gegangen war; vgl. dazu O. CRUSIUS, Erwin Rohde, Leipzig/ Tübingen 1902, 9-13. Zum JAHN/RITSCHL-Streit, dessen groteske Auswüchse über das Seminar hinaus ganz Bonn infizierten und in zwei Lager spalteten (die sogenannten Janitscharen, zu denen etwa WILAMOWITZ zählte, und die Ritschlianer, zu denen USENER gehörte), vgl. A. KÖRTE, Hermann Usener - Ulrich v. WilamowitzMoellendorff, 212ff. Anfangs noch im Schatten von Otto JAHN stehend, avancierte USENER nach dessen Tod, 1869, und besonders dann ab 1870 an der Seite seines ehemaligen Bonner Kommilitonen, des Latinisten Franz BUECHELER, zur Hauptfigur des Seminars. Vgl. dazu E. BICKEL, Das philologische Seminar unter Usener und Buecheler, in: Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn am Rhein, Bd. 2, Bonn 1933, 197-210. Von Harry Graf KESSLER stammt eines der schönsten Porträts, das uns über USENER als Mensch und. Lehrer überliefert ist, vgl. H. Graf KESSLER, Lehrjahre, in: DERS., Gesammelte Schriften in drei Bänden, Bd. 1 : Gesichter und Zeiten. Erinnerungen, hrsg. von G. Schuster, Frankfurt a.M. 1988, 171 f.: „Bei Usener wurden die Griechen, deren Licht in Hamburg bei mir im stillen Kämmerlein gebrannt hatte, während die Schule sie unter einem Berg von staubiger Philologie begrub, wieder springlebendig und zeitgemäß. Er war übrigens nicht nur geistreich und ohne Pedanterie, sondern auch

Götter, Helden und Dämonen

9

LlETZMANN und der Philosoph Paul NATORP.8 Was seine eigene Publikationstätigkeit betrifft, kann USENER zu diesem Zeitpunkt auf ein äußerst vielfaltiges Œuvre zurückblicken. Dem traditionellen Aufgabengebiet der Philologie entsprechend, war er durch zahllose textkritische Arbeiten hervorgetreten,9 unter anderem als Herausgeber der Lucan-Scholien10 und als Mitherausgeber der Aristotelesscholien;" 1887 erschien die in der Geschichte der Fragmentenphilologie bahnbrechende Ausgabe der Epicurea}1 In den Jahrbüchern für protestantische Theologie' hatte er 1879 einen Aufsatz über den Bischof von Poitiers: Gislebert de la Porrée, einen Zeitgenossen Abaelards, veröffentlicht.13 Und zu den Arbeiten, mit denen er sich, wie in der letztgenannten Schrift, ins Mittelalter14 oder, wie in dem Aufsatz Ad historiam astronomiae symbola (1876), 15 in die Byzantinistik vorwagte, kamen zahlreiche Abhandlungen zur Spätantike, zum Volksbrauch und zur Legende.17 1889 schließlich hatte er mit seiner Studie über Das Weihnachtsfest, einer Art

8

9

10

12

13

14

als Erscheinung fesselnd, ein schöner griechischer Philosophenkopf, aus dem gelegentlich Bosheiten wie Stichflammen hervoizüngelten." Vgl. den vollständigen Überblick bei H. J. METTE, Nekrolog einer Epoche, passim. Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle, daß USENER in den 60-er Jahren zusammen mit dem um 10 Jahre jüngeren Friedrich NIETZSCHE die Edition eines Textcorpus zur griechischen Philosophie geplant hatte (vgl. F. NIETZSCHE, Brief an Erwin Rohde vom 16. 6. 1869). Das Unternehmen scheiterte, nachdem er seinen Mitstreiter nach dessen Publikation der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1872) für „wissenschaftlich todt" erklärte (F. NIETZSCHE, Brief an Erwin Rohde vom 25. 10. 1872, in: DERS., Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von G. Colli/ M. Montinari, 2. Abt., Bd. 3: Briefe Mai 1872-Dezember 1874, Berlin/ New York 1972, 70f.). Vgl. dazu vor allem USENER, Kleine Schriften, Bd. 1 : Arbeiten zur griechischen Philosophie und Rhetorik, grammatische und textkritische Beiträge, hrsg. v. L. Radermacher/ K. Fuhr, Leipzig/ Berlin 1912. USENER, Scholia in Lucani Bellum Civile I: Commenta Bernensia, Leipzig 1869. USENER, Syriani in metaphysica commentarla (Berlin 1870), in: Aristotelis Opera IV, hrsg. v. O. Gigon, Berlin 1961. USENER, Epicurea, Leipzig 1887; repr. Stuttgart 1966. Vgl. dazu W. SCHMID, Useners ,Glossarium epicureum' und seine .Epicurea', Würzburger Jahrbücher für die Alt.wiss. N.F. 6.1, 1980, 19-29. Jahrb. für. protest. Theol. 1879, 183-192 (USENER, Kleine Schriften, Bd. 4: Arbeiten zur Religionsgeschichte, hrsg. von R. Wünsch, Leipzig/ Berlin 1913, 154-162). Zu den ins Mittelalter vordringenden Studien gehören auch USENERs Anecdoton Holderi. Ein Beitrag zur Geschichte Roms in ostgothischer Zeit, Festschrift zur Begrüßung der XXXII. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner zu Wiesbaden, Bonn 1877, und DERS., Religionsgeschichtliche Untersuchungen, Zweiter Teil: Christlicher Festbrauch. Schriften des ausgehenden Mittelalters, Bonn 1889. USENER, Kleine Schriften, Bd. 3; Arbeiten zur griechischen Literaturgeschichte, hrsg. von L. Radermacher/ K. Fuhr, Leipzig/ Berlin 1914, 323-371. USENER, Das Verhältnis des römischen Senats zur Kirche in der Ostgothenzeit (1877), in: DERS., Kleine Schriften, Bd. 4, 143-154; DERS., Acta S. Marinae et S. Christophori, Festschrift zur fünften Säkularfeier der Carl-Ruprechts-Universität zu Heidelberg, Bonn 1886. USENER, Legenden der Pelagia, Festschrift für die XXXIV. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner zu Trier, Bonn 1879.

10

Hermann Usener

religionspolitischer .Kampfschrift', die Rekontextualisierung paganer Riten innerhalb des Christentums untersucht und damit eine Brücke zwischen Philologie und Theologie geschlagen.18 Keine seiner Arbeiten aber hat innerhalb und außerhalb der Philologiegeschichte so viele Spuren hinterlassen wie USENERs wenige Jahre darauf publiziertes Meisterwerk Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung. Wie sehr dieses Buch hat provozieren müssen, vermag noch der heutige Leser nachzufühlen, wenn er die Götternamen durchblättert und die offensichtlichen Kontraste bemerkt: Während der lapidare Titel Götternamen auf eine sprachwissenschaftliche Untersuchung, vielleicht sogar auf ein Nachschlagewerk zu weisen scheint, das die Bedeutung göttlicher Namen an die Hand gibt, lassen sowohl das Inhaltsverzeichnis wie auch die knappen Themenskizzen, die sich den Kapitelangaben jeweils anschließen, die Namen der großen bekannten Götter weitgehend vermissen. Mit Überraschung muß der Leser zur Kenntnis nehmen, daß ihm stattdessen eine Vielzahl kleinerer Lokalgottheiten, Dämonen und Heroen begegnet - von Καλλίστη, Κ α λ λιγένεια und Sozon, über Λύκος oder Κλαικοφόρος bis hin zu Eiresione, Keraunos und Eileithyia. Und während der Untertitel, Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, ein religionswissenschaftliches, wenn nicht anthropologisches Werk erwarten läßt, zeigt schon der flüchtige Blick auf den Text ein .Feuerwerk' an philologischen Details, das jeden Anspruch auf die Diskussion eines fachübergreifenden Problems zu kompromittieren scheint. Die Reise, zu der USENER seinen Leser einlädt, führt offenkundig durch einen Dschungel einzelner, recht disparat anmutender Beobachtungen, deren innerer Zusammenhang sich auch demjenigen nicht ohne weiteres erschließt, der sich durch einen Blick auf das im Inhaltsverzeichnis annoncierte Themenspektrum Klarheit über Ziel und Verlauf des Unternehmens verspricht. USENERs Lehre, so scheint es, basiert auf der Untersuchung - um nur einige der 22 Kapitelüberschriften zu nennen - von Begriffliche[r] Wucherung, Litauische[n] götter[n] und christlichen heiligen, dem göttliche[n] arzt, dem licht des himmels oder den Augenblicksgötterfnj. Nicht wenig erstaunt sein wird der Leser daher, wenn er sich an die Lektüre des Vorworts macht. Mit Verve und frappierender Klarheit formuliert der Autor darin ein methodisches Konzept, das er nicht ohne Selbstbewußtsein als einen Bruch mit den traditionellen Verfahren der .mythologischen for18

USENER, Religionsgeschichtliche Untersuchungen, Erster Teil: Das Weihnachtsfest, Bonn 1889. Eine zweite, durchgesehene und erweiterte Fassung besorgte später USENERs Schüler Hans LIETZMANN (Bonn 1910,3. Aufl.: 1911). Vgl. auch die 1903 erschienene Studie über Geburt und Kindheit Christi (Preuschens Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde des Urchristentums 4, 1903, 1-21), in: DERS., Vorträge und Aufsätze, hrsg. von A. Dieterich, Leipzig/ Berlin 1907, 161-187, die die heidnische Unterlage der Geburts- und Kindheitsgeschichte herausarbeitet. Zu Das Weihnachtsfest vgl. unten S. 89-93.

Götter, Helden und Dämonen

11

schung' annonciert und in die Dienste eines Erkenntnisziels stellt, dessen Bedeutung alle Erwartungen des Lesers übersteigt: ,,[N]ichts geringeres" kündigt er an, als die „gesetzmässigkeit des mythischen vorstellens" und die „unbewußten Vorgänge der Vorstellung" zu erforschen.19 USENER will auf der Basis einer gründlichen philologischen Analyse sprachgenetischer Prozesse allgemeine Gesetzmäßigkeiten aufspüren, die der Genese von Sprache und Religion zugrunde liegen und so wesentlich und zwingend sind, daß sie als Grundlage der Entwicklung des menschlichen Geistes und mehr noch: als die Gesetze der menschlichen Natur gelten dürfen: „Wir suchen eine geschichte der Vorstellungen", schreibt er am Ende des Buches, „welche die vorzeit von den dingen ausser und in uns sich bildete, und indem wir der mannichfaltigen gestaltung und neubildung der einzelnen Vorstellungen nachgehn, bearbeiten wir die Werkstücke zu dem grossen bau einer entwicklungsgeschichte des menschlichen geistes."20 Der naturwissenschaftliche Impetus, wie er im Begriff des „Gesetzes" durchscheint, ist freilich geringer als der erste Blick vermuten läßt: USENER wird sich weniger an John Stuart MlLLs Modell der ,moral sciences'21 als an den Forderungen Wilhelm DlLTHEYs (1833-1911) orientieren,22 der scharfe Kritik an MlLLs enthusiastischer Übertragung naturwissenschaftlicher Methoden geübt und eine methodische Unterscheidung von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften gefordert hatte. Mit seiner Analytik des Verstehens23 und seiner Forderung, innerhalb der Geisteswissenschaften

20

1

22

USENER, Götternamen, VI; vgl. auch ebd., 321. Ebd., 330. Der universelle Anspruch von USENERs Projekt zeigt sich schon 1882 in einem seiner wenigen programmatischen Texte, Philologie und Geschichtswissenschaft, Rede gehalten beim Antritt des Rektorats am 18. Okt. 1882, Bonn 1882, wiederabgedruckt in: DERS., Vorträge und Aufsätze, 13: „[Es kann] vorgedrungen werden zur Ergründung der allgemeinen Gesetze, nach denen die einzelnen Lebensäußerungen der Völker sich entwickeln und gegenseitig bedingen, zur Erkenntnis der menschlichen Natur selbst." J. St. MILL, System der deduktiven und induktiven Logik, übertragen von J. Schiel, Braunschweig 1863, 6. Buch: Von der Logik der Geisteswissenschaften oder moralischen Wissenschaften-, hatte auch für die Geisteswissenschaften gefordert, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Vgl. dazu H.-G. GADAMER, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, 9. „Den Brüdern Wilhelm und Carl Dilthey" sind die Götternamen auch gewidmet. USENER war mit Lily DILTHEY, einer Schwester Wilhelms, verheiratet und pflegte mit seinem Schwager regen Umgang, vgl. C. MISCH (Hrsg.), Der junge Dilthey, Leipzig/ Berlin 1933, 252. Daß aufgrund dieses biographischen Faktums allerdings keine allzu leichten Schlüsse auf eine inhaltliche Nähe zu DlLTHEYs Ideen und Methoden gezogen werden dürfen, hat A. MOMIGLIANO in seinem Kapitel über Hermann Usener, 202 und 219, zu Recht betont. Vgl. F. RODI, Die Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1990, vgl. ferner H. G. GADAMER, Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule (1991), in: DERS., Gesammelte Werke, Bd. 10: Hermeneutik im Rückblick, Tübingen 1995, 185-205. Vgl. auch DERS., Das Problem Diltheys. Zwischen Romantik und Positivismus (1984), in: DERS., Gesammelte Werke, Bd. 4: Neuere Philosophie II. Probleme, Gestalten, Tübingen 1987, 406-424.

12

Hermann Usener

die systematische und historische Forschung wechselseitig zu berücksichtigen,24 hatte DILTHEY in einer Weise auf die Geisteswissenschaften gewirkt, von der auch USENER, der das Wesen des menschlichen Geistes ganz in den Mittelpunkt seiner Interessen stellen und dabei methodisch die empirische mit der systematischen Vorgehensweise verbinden sollte, trotz im einzelnen bestehender Differenzen (etwa bezüglich des Empfindungsbegriffs)25 nicht unbeeinflußt geblieben ist.26 Denn USENERs zentrales Thema ist ein Problem, dem mit logischen Begriffen allein nicht beizukommen ist, weil es sich gerade im Bereich jener Denkformen bewegt, die dem begrifflichen Denken vorausgehen. Wie, fragt er, hat der Mensch gedacht, bevor er mit dem uns heute so vertrauten Instrumentarium der .Begriffe' operieren konnte? Wie kam es in der Sprache vom einzelnen Wort zum Begriff? Und wie entstand in der Religion schließlich die Vorstellung von persönlichen Göttern, die, wie USENER behauptet, aus den Begriffen des religiösen Denkens entstanden und die Voraussetzung für Metaphernbildung und mythisches Erzählen sind? Die Aufgabe, der sich USENER als Vertreter einer Einzelwissenschaft zu stellen gedenkt, hat denn nicht ohne Grund für Furore gesorgt. Denn USENERs Erkenntnisziel weist in seiner ganzen Dimension zwar weit über die Klassische Philologie hinaus und scheint sich schon allein deshalb jeder Möglichkeit einer empirischen Analyse zu versagen, weil sein Gegenstand der vorhistorischen Zeit zuzurechnen ist. Doch sowohl was das Arbeits/ëW als auch was seine Aibeitsmethoden betrifft, bleibt USENER ganz Philologe. Zwar war die Zusammenführung einer transkulturell ausgerichteten Fragestellung mit einem detailorientierten Verfahren auch in der Sprach- und Mythosforschung schon versucht worden. Gerade die Forschungen zur Entstehung von Mythos 24 25

26

W. DILTHEY, Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883). Für USENER bedeutet „Nachempfinden" nicht ,Sich-Einfuhlen\ sondern präzise Analyse, s. Götternamen, VII: „Nur durch hingebendes versenken in diese geistesspuren entschwundener zeit, also durch philologische arbeit vermögen wir uns zum nachempfinden zu erziehen". Vgl. dazu E. ROTHACKER, Einleitung in die Geisteswissenschaften (1920), 2. Aufl., Tübingen 1930, 136f.; K. OEHLER, Dilthey und die Klassische Philologie, in: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert, hrsg. von H. Flashar/ K. Gründer/ A. Horstmann, Göttingen 1979, 181-200; M. LANDFESTER, Die hermeneutische Konzeption Hermann Useners, 161 mitAnm. 17, 162; M. M. SASSI, Dalla scienza delle religioni di Usener ad Aby Warburg, in: Aspetti die Hermann Usener. Filologo della religione, hrsg. von G. Arrighetti u.a, Pisa 1982, 76-78. Ferner: A. MOMIGLIANO (mdl. Diskussionsbeitrag) bei W. BURK.ERT, Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, in: Les Études classiques aux XJXe et XXe siècles: Leur place dans l'histoire des idées (= Entretiens sur L'Antiquité Classique 26, Fondation Hardt), hrsg. von W. de Boer, Vandrœvres-Genève 1980, 159-207. 200. A. MOMIGLIANO hatte in Hermann Usener, 219f., den Einfluß DlLTHEYs auf USENER bestritten. Ebenso R. BODEI, Hermann Usener nella filosofia moderna: tra Dilthey e Cassirer, in: Aspetti die Hermann Usener, 23-42. Zur Diskussion vgl. auch R. KANY, Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987, 77.

Götter, Helden und Dämonen

13

und Religion verlangten dort, wo sie nicht spekulativ bleiben wollten, eine genaue Analyse der Sprache, die, neben dem bildlichen und rituellen Ausdruck, eines der Medien ist, durch die der Mythos überliefert ist. Nicht immer aber wurde zugleich so rücksichtslos und ohne Vorbehalte so viel .Unbedeutendes' und Folkloristisches zusammengetragen, um durch Vernetzung und Montage ein Bild des Ganzen zu gewinnen. Dabei bedeutete die Beschäftigung mit dem Detail fur USENER nicht nur das, was wir unter einem mikroanalytischen Verfahren verstehen: die Untersuchung einer in sich geschlossenen Einheit mit dem Ziel der Projektion auf das Ganze,27 also die Transformation einer an der Antike gewonnenen Beobachtung in eine Theorie des allgemein menschlichen Geistes; sondern auch der bewußte Verzicht darauf, innerhalb des antiken Materials zwischen bedeutenden und unbedeutenden Zeugnissen zu unterscheiden. USENER betrachtet die Sprache als ein Archiv, das auch diejenigen Ausdrucksformen, deren Entstehungsbedingungen nicht mehr präsent sind, in sich aufbewahrt - freilich an meist wenig prominenter Stelle und daher nur für den „kundigen" als Ausdrucksgebilde einer früheren Entwicklungsstufe dechiffrierbar.28 Die Sprache ist, indem sie die materiale Persistenz früher Ausdrucksformen über deren eigentliche Aktualität hinaus zu wahren scheint, das Bindeglied zwischen der Welt des vor-mythischen Vorstellens, die das Ziel der Untersuchung ist, und den Bedingungen von USENERs gegenwärtlichem Standort. In einem nur vermeintlichen Gegensatz zu den verwendeten Materialien steht daher das groß angelegte Erkenntnisziel. Denn was USENER als die Lehre von der religiösen Begriffsbildung vorstellt und was thematisch in die Theorien über den Ursprung der Religion einzuordnen ist, bezieht sich auf eine Zeit, die historisch nicht mehr direkt dokumentiert, unter Berücksichtigung der in den Details der Sprache archivierten Reste aber sehr wohl rekonstruierbar ist. Unter den Rezipienten der Götternamen hat USENERs Verfahren, „im kleinsten Punkt die höchste Kraft zu finden",29 - wegen der geradezu erstickenden Materialfülle und der auf jegliche Übersichtlichkeit verzichtenden Montagetechnik - zuweilen auch zu Mißverständnissen (oder Mißmut)

Vgl. dazu R. von DÜLMEN, Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, Köln/ Weimar/ Wien 2000, 47-50. Vgl. USENER, Götternamen, 5: „Von [den] Vorgängen [sc.: ,der entstehung polytheistischer religion'] meldet kein zeuge; sie zu verstehen bietet unser eignes bewusstsein keinen anhalt. Nur éine urkunde ist uns von ihnen geblieben, so schweigsam dem unkundigen, wie beredt dem kundigen: die spräche." USENER, Philologie und Geschichtswissenschaft, 29. Zu diesem Diktum USENERs im übrigen wohl die Vorlage für WARBURGs berühmte Formel „Der liebe Gott steckt im Detail"-s. A. DIETERICH, Hermann Usener, ARW 8, 1905, I-XI. IX. Vgl. femer D. WUTTKE, Nachwort zu: A. WARBURG, Ausgewählte Schriften und Würdigungen, Baden-Baden, 2. Aufl., 1980, 623-625; R. KANY, Mnemosyne als Programm, 85; Th. MACHO/ W. SCHAFFNER/ S. WEIGEL (Hrsg.), „Der liebe Gott steckt im Detail". Mikrostrukturen des Wissens, Berlin 2001.

14

Hermann Usener

geführt.30 Als methodisches Programm freilich hat die ,Andacht zum Unbedeutenden", wie Roland KANY in einer sorgfaltigen Studie herausgearbeitet hat, auch produktive Nachfolger gefunden: Aby WARBURG, auf den das 4. Kapitel ausführlich eingehen wird, und Walter BENJAMIN in seinem Passagen-Werk.3I

Etymologie: Vergleich und Struktur Seit der,Entdeckung' der indischen Veda-Texte32 haben die Fortschritte in der Indologie wiederholt den Ehrgeiz geweckt, die religiösen Anfange der Menschheit aus einem sprachhistorischen Vergleich von mythischen Namen zu erschließen. Das methodische Rüstzeug dafür bot die Mitte des 19. Jahrhunderts aufblühende Vergleichende Sprachwissenschaft. Geistesgeschichtlich vorgearbeitet hatten dem Blick nach Osten die Romantiker, deren .Morgenländerei' - wie gelegentlich moniert wurde - zwar all jenen Gelehrten den Rücken stärkte, die das Griechentum als die Fortschreibung östlicher Kulturen betrachteten, die die innere Verwandtschaft der zum indogermanischen Sprachbereich gehörenden Kulturen gleichwohl ins Blickfeld wissenschaftlicher Forschung rückten. Mit welchen Folgen die romantische Faszination am Ursprung in die Philologie einwanderte, zeigt der erbitterte Streit um Friedrich 30

31

32

Vgl. dazu R. KANY, Mnemosyne als Programm, 99, mit Hinweisen auf K. REINHARDT, Vermächtnis der Antike, Göttingen 1966, 2. Aufl. 7-40, H. G. GADAMER, Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft (in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Freiburg/ Basel/ Wien 1981, 2. Aufl., 20-29), in: DERS., Gesammelte Werke, Bd. 8: Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage, Tübingen 1993, 180-188. 186, und G. van der LEEUW, Einßihrung in die Phänomenologie der Religion, München 1925, 50. Unter USENERs Schülern ausdrücklich zu den Schwierigkeiten der Lektüre bekannt hat sich Walter F. ÒTTO in einem bislang unveröffentlichten Dokument zu Usener (DLA, Marbach, Nachlaß A: Otto u, 3, 25): „Leider ist es sehr schwer, sich mit Useners Theorie auseinanderzusetzen, weil er die wichtigsten Begriffe, mit denen er operiert, nicht ein für allemal klar definiert, sondern da und dort ein Merkmal hinzufügt oder durchblicken läßt, so daß man die grundlegenden Anschauungen mit großer Mühe aus verschiedenen Teilen seines Werkes selbst zusammenlesen muß. Ich habe zu mehreren Malen mit der Feder den Versuch gemacht, die Usenersche Theorie klar zu charakterisieren u. dann zu kritisieren, und immer wieder kam ich an einen Punkt, wo ich merkte, daß ich umkehren und von neuem beginnen müsse, weil erst die fortschreitende Kritik mich lehrte, in welchem Sinn die von Usener eingefügten Begriffe gemeint seien, ohne daß er selbst sich ... von Anfang an hinreichend klar darüber ausspricht." R. KANY, Mnemosyne als Programm, 187-239. Zu A. WARBURG s. unten S. 155-184. Auf W. BENJAMIN kann im Zusammenhang dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden, vgl. aber H. FOLKERS, Die gerettete Geschichte. Ein Hinweis auf Walter Benjamins Begriff der Erinnerung, in: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hrsg. von A. Assmann/ D. Harth, Frankfurt a.M. 1991, 363-377. 1771: Zend-Avesta; 1785: Bhagavadgita; 1788: Hitopadesa; 1789: Sakuntala; 1801: Upanischaden, s. F. GRAF, Griechische Mythologie, München 1985,25.

Etymologie: Vergleich und Struktur

15

CREUZERs Symbolik und Mythologie der alten Völker,33 die so zünftige Philologen wie Gottfried HERMANN, Christian August LOBECK und Johann Heinrich VOSS34 auf den Plan rief und zu einem lebhaften Plädoyer für die Philologie als historisch-kritische Quellenforschung veranlaßte. Zu dieser Kontroverse nicht zuletzt beigetragen hatte sicher auch eine „Furcht vor der orientalischen Überfremdung klassischen Griechentums",35 wie sie CREUZERs Deutung der Mythen als ursprünglich orientalische, durch Priestertradition und Mysterien vermittelte Theomythien hervorrief. CREUZER (1771-1858) verstand die Mythen als eine eigene Sprache, als symbolische Ausdrucksformen priesterlicher Weisheit,36 die, von indischen Priestern den frühen, primitiven Griechen vermittelt, von diesen mißverstanden und schließlich zu Mythen wurden. Sein Versuch, sich die .Grammatik' dieser mythischen Sprache auch etymologisch zu erarbeiten, mußte freilich daran scheitern, daß er die Lautgesetze noch nicht besonders gut kennen konnte. Indem sie der Frage nach den Ursprüngen eine besondere Aktualität verlieh, war die Romantik trotz ihrer Fixierung auf einen indischen Ursprung ein wichtiger Nährboden für das Vorhaben der Vergleichenden Mythologen. Einer der ersten, der die indische Mythologie einbezog, zugleich aber auch auf eine solide philologische Grundlage zu stellen versuchte, war Friedrich SCHLEGEL (1772-1829) in seiner 1808 erschienenen Abhandlung LIber die Sprache und Weisheit der Inder?1 Viele seiner Vermutungen konnten wenig später von Franz BOPP (1791-1867), dem eigentlichen Begründer der Vergleichenden Sprachwissenschaften, in seinem bahnbrechenden Werk Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache im Vergleich mit jenem der griechischen, persischen und germanischen Sprache bewiesen werden.38 SCHLEGEL wandte sich von der Indiamania der Romantiker ab und wurde schließlich zu einem Wegbereiter der Indogermanistik.39 Die Vergleichenden Mythologen begannen nun, auch die enge Bindung von Mythos und Sprache wieder in den Blick zu 33

34

36

37

39

F. CREUZER, Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, Teil 1-4, Leipzig/ Darmstadt 1810/1812 (3. verb. Aufl. Leipzig/ Darmstadt 1822-1843, repr. Hildesheim/ New York 1973). Zur Kontroverse vgl. grundlegend: E. HOWALD, Der Kampf um Creuzers Symbolik, Tübingen 1926. G. HERMANN/ F. CREUZER, Briefe über Homer und Hesiodus vorzüglich über die Theogonie, Heidelberg 1818; G. HERMANN, Über das Wesen und die Behandlung der Mythologie. Ein Brief an Herrn Hofrath Creuzer, Leipzig 1819; Chr. A. LOBECK, Aglaophamus sive de theologiae mysticae Graecorum causis libri tres, 2 Bde., Königsberg 1829; J. H. VOSS, Antisymbolik, Stuttgart 1824-1826. A. HORSTMANN, Der Mythosbegriff vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, Archiv für Begriffsgeschichte 23, 1979, 7-54. 32. Zu CREUZERs Symbolbegriff s. G. POCHAT, Der Symbolbegriff in der Ästhetik und Kunstwissenschaft, Köln 1983, 40-44. F. SCHLEGEL, Über die Sprache und Weisheit der Inder, Heidelberg 1808. F. BOPP, Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache im Vergleich mit jenem der griechischen, persischen und germanischen Sprache, Frankfürt a.M. 1816. Vgl. dazu E. ROTHACKER, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften (1926), Darmstadt 1970, 94f.

16

Hermann Usener

nehmen, wie sie schon von Christian Gottlob HEYNE und Johann Gottfried H E R D E R betont worden war. Empirisch gestützt auf das Fundament der Sprachwissenschaften und damit auch den Ansprüchen der philologischen Wissenschaft Genüge leistend, war ihr Verfahren nunmehr auf den Vergleich der Sprachen (bzw. Mythen) ausgerichtet, ohne in Indien dabei eine Urreligion oder eine Urheimat philosophischer Weisheit suchen zu wollen. Mit diesem Perspektivenwechsel war der erste Grundstein zu einer philologisch fundamentierten Analyse des mythischen Denkens gelegt. Pionierarbeit geleistet hatte in dieser Hinsicht neben dem Sprachwissenschaftler Franz BOPP und Wilhelm von H U M B O L D T (1767-1835)40 auch Jacob GRIMM (1785-1863),41 zusammen mit seinem Bruder Wilhelm der Begründer der wissenschaftlichen Germanistik und der Volkskunde. GRIMM hatte 1835, nachdem im 18. Jahrhundert die nordische Edda (1753) und der schottische Ossian (1760-1763) wieder entdeckt worden waren, eine umfassende Darstellung der Deutschen Mythologie vorgelegt42 und 1848 in seiner Geschichte der deutschen Sprache auf zahlreiche sprachliche Übereinstimmungen innerhalb der indogermanischen Völker hingewiesen.43 Sein Blick auf die nordische Mythologie relativierte die Priorität des Indischen und ebnete den Weg für die vergleichende Mythenforschung, zu deren wichtigsten Exponenten Adalbert K U H N (1812-1881) und Friedrich Max M Ü L L E R (18231900)44 gehören sollten. MÜLLER und K U H N stellten ihre Theorien über die Genese des Mythos auf die Grundlage eines Vergleichs mythischer Namen, eine Methode, die dann von U S E N E R aufgegriffen, modifiziert und fortgeschrieben wird. 40

41

42 43

44

W. von HUMBOLDT, Einleitung in die Kawi-Sprache, in: DERS., Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung, Berlin 1820 (= DERS., Gesammelte Schriften, hrsg. v. A. Leitzmann u.a., Berlin 1903-1936, repr.: Berlin 1968, Bd. 4, 1-34); DERS., Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einßuß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, Berlin 1836 (= Gesammelte Schriften, Bd. 7); DERS., lieber die Kawi-Sprache auf der Insel Java, Berlin 1836-1839. Der Einfluß HUMBOLDTS auf die Vertreter der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaften blieb allerdings, auch wenn sich diese „gerne der Humboldtschen Texte als einer Sammlung schöner Zitate" bedienten (J. TRABANT, Traditionen Humboldts, Frankfurt a.M. 1990, 55ff.), gering. Zu Franz BOPP, Jacob GRIMM, August POTT und Adalbert KUHN als Gründungsvätem der Vergleichenden Sprachwissenschaften s. H. PEDERSEN, The discovery of Language. Linguistic Science in the Nineteenth Century, London 1965, 254f. J. GRIMM, Deutsche Mythologie, Göttingen 1835. J. GRIMM, Geschichte der Deutschen Sprache, Leipzig 1848. Vgl. auch DERS., Über Etymologie und Sprachvergleichung (gelesen ani 10. August 1854), in: DERS., Kleinere Schriften, Bd. 1, Berlin 1864, 299-326; Gedanken über Mythos, Epos und Geschichte (Fr. Schlegels Deutsches Museum 3, 1813, 53-73), in: DERS., Kleinere Schriften, Bd. 4, Berlin 1869, . 74-85. In der letztgenannten Schrift bringt GRIMM beispielsweise den Namen des Teil mit lat. telum, griech. βέλος in Verbindung (ebd., 77). Vgl. vor allem F. M. MÜLLER, Essay on Comparative Mythology (1856), im folgenden zitiert nach der deutschen Übersetzung: Vergleichende Mythologie, in: DERS., Essays, Bd. 2, Leipzig 1881, 1-129.

Etymologie: Vergleich und Struktur

17

MÜLLER war 1841 nach Leipzig gegangen, wo er bei Franz BOPP und Friedrich SCHELLING studierte, dessen Vorlesungen über die Philosophie der Mythologie er besuchte. Wenige Jahre später, mittlerweile in Oxford, begann er damit, die erste umfassende Ausgabe des Rigveda zu besorgen - eine .Lebensaufgabe', wie sich herausstellen sollte, die ihn ein Vierteljahrhundert lang beschäftigte.45 Ein Pionier war MÜLLER nicht nur als Indologe. 1868 an seiner neuen Wirkungsstätte zum Professor für Vergleichende Philologie ernannt einen Lehrstuhl fiir Indologie hatte man ihm verweigert - , begann er sich dafür stark zu machen, die Religionswissenschaft als eigenständige Disziplin zu etablieren und aus den Armen der Theologie zu befreien. Einen ersten öffentlichkeitswirksamen Beitrag dazu leisteten seine 1870 in London gehaltenen Lectures,46 die auf großen Zuspruch stießen und schon kurz nach ihrer Veröffentlichung 1873 ins Deutsche, Französische und Italienische übersetzt wurden. Weitere Vorlesungen folgten, darunter im Frühjahr 1878 die Lectures on the Origin and Growth of Religion, as Illustrated by the Religions of India in Oxford und ab 1888 im Rahmen der von Lord Gifford finanzierten GiffordLectures, in denen theologische Fragen in einer naturwissenschaftlichen Weise behandelt werden sollten, Vorlesungen unter anderem über Natural Religion ( 1888) und über Anthropological Religion ( 1891 ).47 Zusammen mit Adálbert KUHN, der nach Eugène BURNOUF zu den ersten gehörte, die die etymologisch vergleichende Methode auf die Mythologie anwandten,48 gehörte MÜLLER zugleich zu den wichtigsten Gründungsvätern der .Naturmythologischen Schule',49 die in England (George William COX50),

45

46

47

F. M. MÜLLER, Rigveda Samhitâ. The Sacred Hymns of the Brâhmans together with the Commentary of Sâyanâcârya, 6 Bde. Oxford 1849-1874. Nach Oxford war MÜLLER 1847 gegangen. In diese Zeit fallen auch die ersten Bemühungen um die Herstellung der Ausgabe, vgl. L. P. van den BOSCH, Friedrich Max Müller. A Life Devoted to the Humanities, Leiden 2002, 44. F. M. MÜLLER, Introduction to the Science of Religion. Four Lectures delivered at the Royal Institution in February and May 1870, London 1873. Vgl. dazu H. G. KIPPENBERG, Die Entdeckung der Religionsgeschichte, München 1997, 60-64. Zur Bedeutung der Lectures vgl. H. G. KJPPENBERG, Die Entdeckung der Religionsgeschichte, 62-64. Zu den Gifford-Lectures s. L. P. van den BOSCH, Friedrich Max Müller, 428-480. A. KUHN, Herabkunft des Feuers und Göttertranks. Ein Beitrag zur Vergleichenden Mythologie der Indogermanen, Berlin 1859; DERS., Der Schuß des wilden Jägers auf den Sonnenhirsch, Zeitschrift für deutsche Philologie 1, 1869, 89-169 (s. vor allem den Schluß); DERS., Entwicklungsstufen des Mythus, Abhandl. d. Beri. Akad. 1873. S. dazu K. H. KOHL, Naturmythologie, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hrsg. von H. Cancik/ B. Gladigow/ K. H. Kohl, Bd. 4, 1998, 225-230. G. W. COX, The Mythology of the Aryan Nations, London 1870. Zur wechselseitigen Einflußnahme zwischen COX, einem der wichtigsten Vertreter des Verfahrens der Analogie, und MÜLLER vgl. L. P. van den BOSCH, Friedrich Max Müller, 288f. Explizit mit COX auseinander setzt sich MÜLLER in Griechische Sagen, in: DERS., Essays, Bd. 2, 141-154.

18

Hermann Usener

Deutschland (Hermann OLDENBERG, Alfred HILLEBRANDT51) und Frankreich (Michel BRÉAL52) rasche Verbreitung finden sollte53 und zu deren charakteristischen und zugleich umstrittensten Dogmen es gehörte, daß sie einen Großteil der Mythen allegorisch als Sonnen- oder Mondmythen deutete54 ein Dogma, das auch in USENERs zahlreichen Rekonstruktionen angeblicher Sonnen-, Mond- und Lichtgötter noch intensiv nachwirkt.55 Das Bestreben der Vergleichenden Mythologen war es im wesentlichen, innerhalb des indogermanischen Sprachraums nach etymologisch verwandten Götternamen zu suchen und den jeweils gemeinsamen sprachlichen Ursprung als Bezeichnung für ein konkretes natürliches Phänomen auszuweisen. So einleuchtend diese Befunde auf den ersten Blick erscheinen mochten, so sehr umging dieses Verfahren doch vor allem die Frage nach einem mythosimmanenten Denken. Denn die in die Formel ,aus nomina wurden numina'56 gebrachte Behauptung, daß der Mythos aus einem Mißverstehen sprachlicher Zeichen entstanden sei, blendete die Existenz eines mythosspezifischen Wahrheitsbegriffs aus - letztlich wurde alles auf Naturereignisse, also auf einen mythosunabhängigen Objektkreis bezogen57 - und führte statt dessen H. OLDENBERG, Indoeuropäische und allgemeine Religionsvergleichung, in: DERS., Religion des Veda, 2. Aufl., Stuttgart/ Berlin 1917, 31-37; DERS., Die indische Religion, in: Die orientalischen Religionen (= Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hrsg. von P. Hinneberg, Teil 1, Abt. 3.1), Berlin/ Leipzig 1906, 51-73; A. HILLEBRANDT, Vedische Mythologie (1891), 2 Bde., 2. Aufl., Breslau 1927-1929. Vgl. auch F. L. W. SCHWARTZ, Der Ursprung der Mythologie, Berlin 1860. M. BRÉAL, Hercule et Cacus. Étude de mythologie comparée, Paris 1863. Zur Wirkungsgeschichte von F. M. MÜLLERS Vergleichender Mythologie (1856) s. L. P. van den BOSCH, Friedrich Max Müller, 519-531. Zu Wesen und Problemen der Sonnenmythologie vgl. R. M. DORSON, The Eclipse of Solar Mythology, in: Myth. A Symposium, hrsg. von Th. A. Sebeok, Bloomington 1971, 25-63. Vgl. beispielsweise Kallone (RhM 23, 1868, 316-377), in: USENER., Kleine Schriften, Bd. 4, 1-93 (passim); Götternamen, 57ff., 177ff., 239ff., 303ff.; Die Sintfluthsagen, Bonn 1899, vor allem Kap. 3: Das götterknäblein in der truhe, 80-114. In seinem Aufsatz über Mythologie (1904), in: Vorträge und Aufsätze, 41, spricht USENER dagegen eher abfällig über die Naturallegorie: .Jetzt hatten Donner und Blitz, Morgenröte, .Sonne, Mond und Sterne' Modezeit. Die Absonderlichkeit und Einförmigkeit der Deutungen und die unwahrscheinliche Gewaltsamkeit sprachlicher Vergleichungen hat dieser Methode der Mythenforschung trotz mancher bleibender Ergebnisse eine nur kurzlebige Herrschaft gestattet." A. LANG, Custom and Myth, London 1884, 198f. (über MÜLLERS Vergleichende Mythologie)·. „Men·... had originally pure ideas about gods and expressed them in language which we call figurative. The figures remained, when their meaning was lost; the names were then supposed to be gods, the nomina became numina, and out of the inextricable confusion of thought which followed, the belief in cannibal, bestial, adulterous, and incestuous gods evolved." Vgl. auch F. M. MÜLLER, Vergleichende Mythologie, 71. Zu seiner Kritik an MÜLLER vgl. A. LANG, Mr. Müller's Philosophy of Mythology, Fraser's Magazine 24, 1881, 166-186. Vgl. auch W. BURKERT, Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, 165-169.

Etymologie: Vergleich und Struktur

19

zu einer Pathologisierung des Mythischen.58 Am explizitesten zum Ausdruck kommt dies in MÜLLERS Definition des Mythos als einer Sprachkrankheit, „disease of language",59 die an CREUZERs These erinnert, daß Mythen lediglich mißverstandene Symbole seien.60 MÜLLER nimmt beispielsweise an, daß sich das Verbum ένδύω (wie später δύω) in einem der griechischen Dialekte auf das Untergehen der Sonne bezogen und daß sich daraus ένδυμα, der „Sonnenuntergang", gebildet habe. Doch „wäre ένδυμα der allgemein angenommene Name für Sonnenuntergang geworden, so hätte der Name Ένδύμιον nie entstehen können."61 Erst nachdem die ursprüngliche Bedeutung von Ένδύμιον vergessen worden war, hielt man das Wort für einen Namen; aus einem nomen wurde ein numen, der göttliche Endymion, „der nach einem eintägigen Leben in ewigen Schlaf versinkt". Dementsprechend, so fährt MÜLLER fort, wurde aus „die Sonne geht unter, der Mond geht a u f das Bild der den Endymion umarmenden Selene. Und „waren die Kinder neugierig, noch mehr zu hören, so gab es jederzeit eine Großmutter, der es Freude machte, ihnen zu erzählen, dass dieser Jüngling Endymion der Sohn der Protogeneia gewesen sei, - mit welchem Namen sie halb und halb die Morgendämmerung meinte, die der Sonne das Leben gab, oder Kalyke [deren Namen MÜLLER auf καλύπτω zurückführt], die dunkle, verhüllende Nacht." Auch den ewigen Schlaf des Endymion weiß MÜLLER auf diese Weise zu deuten. Er führt ihn auf die Vorstellung zurück, daß der Sonnengott „in der Frühe aus dem Mutterschoosse der Morgenröthe aufsteigt und, nach einer kurzen und glänzenden Laufbahn, des Abends untergeht, um nimmer wieder zu diesem sterblichen Leben zurückzukehren". Er vergleicht Endymion mit dem ebenfalls unvollständig (nämlich ohne Beigabe ewiger Jugend) Unsterblichkeit erlangenden Tithonoos, dessen Name (wie dîdhâna/î im Sanskrit) auf die Bedeutung „strahlend" zurückgehe, und schließt daraus, daß in der arischen Mythologie die Sonne „zuweilen als göttlich, doch nicht unsterblich dargestellt [wird]; zuweilen als lebendig, doch schlafend; zuweilen als ein Sterblicher, der von einer Göttin [nämlich Eos, der Morgenröte] geliebt wird, an dem aber der Makel des menschlichen Geschickes [nämlich des Alterns] haftete." Berühmt geworden sind auch seine Deutungen der Sintflutsage und des DaphneMythos: Wenn der Mythos von der großen Flut davon berichtet, daß Deukalion hinter seinen Rücken Steine warf und daß daraus Männer und Frauen entstanden, so sei das ganze Geheimnis der Geschichte die Vermischung zweier homonymer Begriffe - λαάς und λάος. 62 Und wenn von Daphne

61 62

Vgl. dazu E. CASSIRER, The Myth of the State (1945), Zürich/ München 1949, 24ff. F. M. MÜLLER, Introduction to the Science of Religion, London 1873, 355. Griechische Sagen, in: DERS., Essays, Bd. 2, 141-154. 146 („Kinderkrankheit"). Vgl. Chr. JAMME, Einführung in die Philosophie des Mythos, Bd. 2: Neuzeit und Gegenwart, Darmstadt 1991, 52. Dies und die folgenden Zitate: F. M. MÜLLER, Vergleichende Mythologie, 73f. F. M. MÜLLER, Vergleichende Mythologie, 11.

20

Hennann Usener

erzählt wird, sie habe sich, von Apoll verfolgt, in einen brennenden Lorbeerbaum verwandelt, so beruhe dies auf einem Mißverstehen des Wortes δάφνη, das im Griechischen zwar den Lorbeerbaum bezeichnet, ursprünglich aber, wie sanskrit Ahanâ, auf die Wurzel *dah, „brennen", zurückgehe und die Morgenröte bedeute. In Wahrheit stecke hinter der Geschichte also die Beschreibung des Sonnenaufgangs: Phoibos - zunächst ein Epitheton der Sonne („der Strahlende"), später ein eigenständiger Gott und schließlich mit Apoll identisch - verfolgt die Morgenröte.63 Mythen, so behauptet MÜLLER, sind nichts als Illusion. Innerhalb der Klassischen Philologie hatte erstmals Karl Otfried MÜLLER (1797-1840), namentlich in seinen 1825 publizierten Prolegomena einer wissenschaftlichen Mythologie, dazu eingeladen, die etymologische Forschung der indogermanischen Sprachwissenschaft bei der historischen Betrachtung des Mythos einzubeziehen.64 Bereits einige Jahre zuvor war der Weg einer etymologisierenden Mythologie beschritten worden - etwa bei Georg ZOËGA, Johann Arnold KANNE und Friedrich CREUZER65 - , allerdings, wie schon Philipp BUTTMANN wenig später beklagt,66 noch ohne ausreichende Kenntnis der Sprachgeschichte. Franz BOPPs Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache und sein grundlegendes Werk zur Vergleichenden Grammatik sollten eben erst 1816 bzw. 1833 erscheinen. Auch blieben die Etymologien weitgehend auf das Griechische fixiert. Noch in den 50-er Jahren versuchte Friedrich Gottlob WELCKER (1784-1868) seiner These vom Urmonotheismus dadurch Halt zu geben, daß er den Namen des Zeus auf die selbe Wurzel zurückführte wie das griechische θεός.67 Er zog sich damit ebenso wie als Verfasser 63

64

65

66

67

F. M. MÜLLER, Chips from a German Workshop, Bd. 1: Essays on the Science of Religion (1867), New York 1869, Bd. 1, IX; DERS., Vergleichende Mythologie, 82-85. Vgl. dazu L. P. van den BOSCH, Friedrich Max Müller, 283-285. K. O. MÜLLER, Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie, Berlin 1825, 218, 285: „Dass die Etymologie ein Haupthilfsmittel zur Erklärung der Mythen ist, möchte schwerlich bezweifelt werden". Zu MÜLLER als einem der wichtigen Begründer einer wissenschaftlichen Mythologie s. Zwischen Rationalismus und Romantik. Karl Otfried Müller und die antike Kultur, hrsg. von W. M. Calder/ R. Schlesier, unter Mitarbeit von S. Gödde, Hildesheim 1998. G. ZOËGA, Vorlesungen über die griechische Mythologie (ca. 1800), in: Georg Zoëgas Abhandlungen, hrsg. von F. G. Welcker, Göttingen 1817; J. A. KANNE, Mythologie der Griechen, 1. Teil, Leipzig 1805; F. CREUZER, Symbolik und Mythologie der alten Völker, 1810/1812. Vgl. dazu A. HENRICHS, Welckers Götterlehre, in: Friedrich Gottlieb Welcker. Werk und Wirkung, hrsg. von W. M. Calder ΠΙ/ Α. Köhnken/ W. Kallmann/ G. Pflug, Stuttgart 1986 (= Hermes Einzelschriften 49), 179-229. 206. Einen ausführlichen Überblick über die Geschichte des Etymologisierens gibt R. KANY, Mnemosyne als Programm, 13-66. P. BUTTMANN, Über den Janus, Abhandl. phil. Kl. der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften 1816/1817, Berlin 1819, 125-144. 125. F. G. WELCKER, Griechische Götterlehre, 3 Bde., Göttingen 1857/ 1860/ 1863, Bd. 1, 129-138. 134. Die angebliche Verwandtschaft von θεός und Ζεύς stand im Gefolge von D. LENNEPS Etymologicum; nach neuerer Auffassung liegt in der indogermanischen Wurzel *d(i)iéus ein nomen agentis des im altindischen dide-ti, „scheinen", enthaltenen

Etymologie: Vergleich und Struktur

21

eines Anhangs zu den Etymologisch-mythologischen Andeutungen seines Schülers Konrad SCHWENCK,68 schnell den Spott der Fachwelt zu.69 Auch USENER, der in Bonn bei WELCKER studiert hatte, beschränkt sich vorwiegend auf die griechischen und lateinischen Götternamen - wenn er das Sanskrit auch gelegentlich mit einbezieht.70 Die einzige nicht-antike Kultur, auf die er seine Forschungen ernsthaft stützt, ist die Litauische des 16. Jahrhunderts, wo er auf eine Parallele zu den römischen di certi, einer Form von „Sondergöttern", gestoßen war. Anders als die Vergleichenden Mythologen, und das unterscheidet ihn sehr produktiv von ihnen, versteht USENER den Mythos nunmehr als eine Ausdrucksform, die, weil sie die Vorstellungen des Menschen unmittelbar repräsentiert, sehr ernst zu nehmen ist. USENER versucht nicht, im Stil der Naturmythologen einzelne Mythologeme auf metaphorische Beschreibungen von Naturvorgängen zurückzuführen oder gar (wie K. O. MÜLLER) eine Frühhistorie der Antike zu verfassen,71 sondern er will die Entwicklung der Systeme, d.h. die Vorstellungs/or/we«, aufdecken, mit denen der Mensch vor Ausprägung der religiösen Begriffe der in- und umweltlichen Phänomene habhaft geworden ist - eine Entwicklung, die sich, wie er glaubt, in Sprache und Religion gleichermaßen niedergeschlagen hat: „Getauft worden", heißt es schon am

68

69

70 71

Verbs („scheinen, glänzen, leuchten") vor, H. FRISK, s.v. Ζεύς, Griechisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. 1, 61 Of. Unter den zeitgenössischen Kritikern ist Wilhelm von HUMBOLDT hervorzuheben, der in einem im Januar 1823 an WELCKER gerichteten Brief neben dessen Ablehnung nichtgriechischer Etymologien vor allem die unsystematische Quellenbenutzung bemängelte (Wilhelm von Humboldt's Briefe an F. G. Welcker, hrsg. von R. HAYM, Bonn 1859, Nr. 30, 68f. 75-80). Der Spott reicht bis heute, s. A. HENRICHS, Welckers Götterlehre, 201 f.: „Welckers Anhang ist ein unübersichtliches Konglomerat von religionsgeschichtlichen Beobachtungen, u.a. Hera als Erdmutter, in deren Verlauf Dutzende von Götterund Heroennamen durch wilde und willkürliche Etymologien erklärt werden, die jeden Stoiker vor Neid erblassen ließen. Hier zeigt sich Welcker von seiner schlechtesten Seite, und war sich dessen auch bewußt: ,Ganz gegen meine Ueberzeugung, dass in Untersuchungen dieser Art die strengste Gesetzmässigkeit und Ordnung der überwuchernden Fülle und der reizenden Verwachsenheit des Stoffes entgegengesetzt werden müssen, habe ich mir in diesen zufälligen Ausführungen grössere Freiheit erlaubt.'" F. M. MÜLLER, Griechische Mythologie, in: DERS., Essays, Bd. 2, 130-140. 136 über WELCKER: „Mancher griechischer Gelehrte mag so ganz natürlich fragen: wenn wir θεός von θέειν oder von τιθέναι ableiten können, warum sollen wir uns da die Mühe nehmen, es von einer anderen Wurzel abzuleiten?" Darüber hinaus verfaßte MÜLLER eine anonyme Rezension im Saturday Review, Jan. 1858, 112-14, vgl. dazu A. HENRICHS, Welckers Götterlehre, 184f., 205, Anm. 108. Vgl. etwa USENER, Götternamen, 32f. K. O. MÜLLER, Geschichten hellenischer Stämme und Städte, Breslau 1820-1824. MÜLLER konzentrierte sich auf den Nachweis der territorialen und kulturellen Gebundenheit der Mythen, s. auch DERS., Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie, 285: „Die Namen sind größtenteils mit den Mythen zugleich geworden und haben eine eben so nationale und lokale Entstehung", vgl. dazu Chr. JAMME, „Gott an hat ein Gewand". Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1999, 30.

22

Hermann Usener

Anfang des Buches, „sind die Götter ebenso wenig wie die übrigen Dinge um uns."72 Es interessiert ihn daher weniger die Semantik der Namensbezeichnungen (auch wenn diese nicht ganz in den Hintergrund rückt) als die Wortbildungslehre, wie er sie aus der Zusammenschau von bekannten oder weniger bekannten mythischen Namensformen rekonstruiert. So fallt ihm auf, daß es häufig eine Vielzahl von Parallelformen gibt, die ganz offensichtlich durch Suffixbildungen, also durch „formale Wucherungen in der spräche"73 entstanden sind, und zwar nicht nur bei den Götternamen - z.B.: Άθήνη/ Α θ η ναία/ Άθηνάα/ 'Αθηνά - , sondern auch in der profanen Sprache. Aus der Bezeichnung für eine Handlung (etwa ήγεισθαι) sei eine ganze Fülle von nomina agentis entstanden: ήγητής/ ήγητήρ/ ήγήτωρ/ ηγέτης/ ήγεμών/ ήγημονεύς/ Ήγίας/ 'Αγίων/ Ήγησίας/ 'Ηγούμενος.74 Der Sprachgebrauch hat sie auch nach Abschluß der Begriffsbildung noch aufbewahrt. Diese Triebhaftigkeit, wie sie in den sprachlichen Wucherungen dokumentiert ist, hält USENER für eine grundsätzliche Signatur der ersten vorbegrifflichen Phase: Offensichtlich wurde so wie in der Sprache jede einzelne konkrete Handlung mit einem neuen Wort (bzw. einer neuen Wortbildung) auch in der Religion jeder einzelne Auftritt eines göttlichen Wesens mit einem neuen Namen bezeichnet, bevor es dann zu der Vorstellung von göttlichen Wesen kam, die für einen bestimmten Wirkungsbereich ursächlich zuständig waren. Die früheste Form des Vorstellens zeichnete sich also durch die Fixierung auf das Konkrete aus: Es gab so viele Worte und so viele göttliche Wesen wie es Erscheinungen gab - „die worte wechseln nach ort und zeit, sie erneuem sich unwillkürlich."75 Und - wie USENER vermutet - handelte es sich dabei in der Sprache um Appellativa, vorwiegend um adjektivische Bildungen oder nomina agentis. Denn: „das wort als bezeichnung eines dings ist ursprünglich blos praedicat eines unbestimmten subjects, das sich noch nicht benennen, nur mit den fingern zeigen lässt. Wie aber das prädicat nur entweder ein sein oder thun aussagt, so erscheinen unseren sinnen die dinge entweder als irgendwie beschaffene oder als irgendwie thätige, handelnde wesen."76

Einen ersten Schritt zur Systematisierung schließlich meint er bei den Parallelformen beobachten zu können, die durch das Suffix -ιδης oder -αδης entstanden sind. Denn hier lasse sich zeigen, daß anfangs synonym gebrauchte Bildungen - etwa Ύπερίων und Ύπεριονίδης - semantisch differenziert und zu Bezeichnungen für Vater und Sohn wurden:77 Die durch das Suffix -ιδης bzw.

73 74 75 76

77

USENER, Götternamen, 4. Dies auch der Titel des entsprechenden Kapitels, ebd., 6-28. Ebd. (mit Belegstellen). Ebd., 56f. Ebd., 4. Vertreten wurde diese Auffassung unter Bezug auf A. POTT schon von G. CURTIUS, Grundzüge der griechischen Etymologie, 5. Aufl., Leipzig 1879, 117. Hes. Theog. 1011; Pind. Ol. 7,39 (Ύπεριονίδας: „Sohn des Hyperion"), vgl. USENER, Götternamen, 19.

Etymologie: Vergleich und Struktur

23

-αδης markierten Patronymbildungen führten zu einer Genealogisierung der Namen; als Ύπεριονίδης etwa wird nicht mehr Hyperion selbst, sondern sein Sohn bezeichnet. Der Name wird zu einem Beiwort des Helios. Aus dem in dieser Weise beschriebenen Vorgang nun versucht USENER ein Bild zu gewinnen, das etwas über die einzelnen Schritte der psychischen Entwicklung sagt. Er kommt zu dem Schluß, daß in allen Bereichen des Denkens und Sprechens ein Differenzierungsvorgang eingetreten ist: Nachdem zunächst jede einzelne Erscheinung singulär gedacht und bezeichnet wurde, setzten sich in der Sprache bestimmte Worte durch, andere wurden beiseite gedrängt, untergeordnet oder bekamen eine spezifische Bedeutung. Von der sprachlichen Entwicklung unterstützt (wie in dem eben genannten Beispiel) und zugleich analog, setzte auch im religiösen Denken ein Abstraktionsvorgang ein: Eine Erscheinung, die regelmäßig wiederkehrt, wurde nicht mehr als das (wiederholt) spontane Auftreten eines einmalig handelnden (,Augenblicks"-)Gottes, sondern als die Wirkung einer göttlichen Ursache: eines für einen besonderen Bereich zuständigen („Sonder"-)Gottes begriffen.78 Damit setzt ein relationales, raum-zeitliches und ursachenbezogenes Denken ein. Der Weg zum metaphorischen Denken und zur narrativen Ausgestaltung ist in dieser Phase freilich noch weit. Erst wenn der Begriffsbildungsprozeß abgeschlossen ist und die Götternamen zur Bezeichnung persönlicher Wesen werden, beginnt der Mythos auch bildhaft und narrativ zu werden. An diesem Punkt nun beginnen sich USENER und MÜLLER wieder anzunähern. Was den eigentlichen Beginn des Mythos betrifft, waren ihre Deutungen der Religionsentstehung (trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten - wie des auf einer etymologischen Analyse beruhenden Rekonstruktionsverfahrens) noch sehr verschieden gewesen. Um die Unterschiede kurz zusammenzufassen: MÜLLERs Historie der Religion setzt bei der Metaphernbildung des mythischen Zeitalters an und beschreibt die Mythopoiesis79 als einen degenerativen Prozeß, in welchem die auf die subjektive Wirklichkeit bezogenen Zeichen in die Welt des Objektiven übertragen80 und im weiteren Verlauf als numinose Eigennamen mißverstanden werden. Das vorrangige Interesse seiner Sprachanalyse ist die semantische Entschlüsselung der zu numina verzerrten nomina und deren Deutung als bestimmte Personifikationen von Naturphänomenen. Das von ihm angenommene Verhältnis von Mythos und Sprache ist daher keineswegs das eines wechselseitigen Zusammenhangs: MÜLLER zufolge entsteht der Mythos erst durch einen Verlust der semantischen Transparenz, 78 79

80

Zu diesen Begriffen ausfuhrlich unten S. 56ff., 65ff. Zum sogenannten „mythologischen" bzw. „mythopoieischen [sie] Zeitalter" s. F. M. MÜLLER, Vergleichende Mythologie, 9. F. M. MÜLLER, The Science of Thought, London 1887, 328: „Here is the true riddle of mythology ... namely in the inevitable metaphor or transference of the subjective to the objective ... The same people who had learnt to speak of themselves as runners, now spoke of rivers as runners."

24

Hermann Usener

also entwicklungsgeschichtlich erst nach der Entstehung der Sprache und das durch einen Irrtum. USENER zufolge gehen dem Mythos dagegen mehrere vormythische Phasen voraus, deren Entwicklung sich durch logische Stringenz auszeichnet und durch die Wirkung einer triebhaften und zur Systematisierung drängenden vorbegrifflichen Sprache bestimmt ist. Über die entwicklungsgeschichtliche Lokalisation von Personifikation und Metapher besteht dagegen wieder manche Einigkeit. Für MÜLLER ist die Personifikation von sprachlichen Bezeichnungen (also der Übergang von nomina zu numina) zwar die ureigene Bedingung des Mythos und die Metapher sein Beginn - ein begriffliches Denken sieht er also von Anfang an gegeben. Doch einen Zusammenhang von Personifikation und Metapher sieht USENER ebenso wie MÜLLER. Auch USENER knüpft - einmal abgesehen davon, daß er darüber hinaus die vormythischen Prozesse rekonstruiert und den Mythos als eine logische Konsequenz der religiösen Begriffsbildung begreift - den Beginn der narrativen Ausgestaltung an den Verlust von semantischer Transparenz: Die Namen der Augenblicks- bzw. Sondergötter - so seine These - werden erst dann zu Bezeichnungen für persönliche Wesen, wenn durch lautliche Veränderungen oder das Absterben der entsprechenden Wortstämme der Zusammenhang mit dem lebendigen Sprachschatz verloren geht.81 USENER demonstriert dies an dem - in der neueren Forschung freilich mit der indogermanischen Wurzel *suel in Verbindung gebrachten - Namen des Apoll,82 den er, ausgehend von der dorischen Wortform Άπέλλων, etymologisch auf die Wurzel πελ- (vgl. πελ-jû), pellere) zurückfuhrt. Ursprünglich, so behauptet er, hat es sich bei Apoll um einen „Sondergott" gehandelt, der dafür zuständig war, „[Übel zu] vertreiben", und dessen Name begrifflich völlig durchsichtig war. Dafür sprächen die Sondergötter, die später in den Zuständigkeitsbereich des Apoll integriert wurden und als seine Epitheta wieder auftauchten, darunter Φοίβος, dessen Namen USENER mit φοιβάν, φοιβάζειν,,/einigen" und dem römischen Lustrationsgott Februus in Verbindung bringt, und deren spezifischeren Bereiche, wie sie Apolls Bezeichnungen etwa als σμίνθευς (σμίνθος, die Feldmaus), der Mäusevertreiber, zeigen.83 Die Transformation in einen persönlichen, subjekthaft gedachten Gott sieht USENER schließlich wie bei allen persönlich gedachten Göttern in einem Auseinandertreten von Bezeichnetem und Zeichen (lautlicher Benennung) begründet: „Indem die benennung eines wichtigeren sondergottes durch lautliche Veränderung oder durch das absterben des entsprechenden wortstamms den Zusammenhang mit dem lebendigen

USENER, Götternamen, 312. S. dazu A. D. PAPANIKOLAOU, Ein Versuch zur Etymologie des Namens 'Απόλλων, Glotta 64, 1986, 184-192. 'Απόλλων (Άπέλλων) bedeutet demnach „etwas, von dem Glanz ausgeht, das strahlt". Zu diesen speziellen Formen der Übelabwehr vgl. auch die von USENER angeführten Sondergötter Μυίαγρος (Mückenjäger) Άπόμυιος (Fliegenabwehrer) Ίποκτόνος (Rebkäfertöter) u.a., s. Götternamen, 260ff.

Etymologie: Vergleich und Struktur

25

sprachschatze verliert und ihre Verständlichkeit einbüsst, wird sie zum eigennamen. Erst wenn er in einem eigennamen gebunden ist, erhält der gottesbegriff die fáhigkeit und den antrieb zur persönlichen ausgestaltung in mythus und cultus, dichtung und kunst." 84

Apolls Name wird zum Ausgangspunkt freier Gestaltung und Inspiration, die sich wie zum Beispiel der Zusammenhang von Apollon und άπολλύναι auch an volksetymologischen Assoziationen ausrichtet. Die Personifikation und die Metaphernbildung, die sich unmittelbar daran anschließt, wird von USENER als der „eigentliche Mittelpunkt der geforderten Formenlehre der religiösen Vorstellungen"85 betrachtet: „Die beiden Hauptvorgänge allen mythischen Vorstellens sind Beseelung (Personifikation) und Verbildlichung (Metapher) ... Es muß gleichzeitig aus der Tiefe des Bewußtseins ein Bild aufsteigen und sich mit der beseelten Vorstellung vereinigen. So entsteht das mythische Bild oder Motiv, so ein Symbol, so eine konkrete Gottesvorstellung." 86

In der Einschätzung der Bedeutung dieser beiden Vorgänge scheint er durchaus zustimmen zu können. Nicht ganz der Fall ist das, wenn es um die Bedingungen für die Entstehung von mythischen Bildern geht: Denn U S E N E R sieht auch in dieser Phase noch die „elementaren und unbewußten Vorgänge der menschlichen Vorstellung"87 am Werk. Dem Wirklichkeitsbegriff von M Ü L L E R , wie er sich in der Pathologisierung des Mythos niederschlägt, setzt er in seinem 1899 erschienenen Buch über Die Sintfluthsagen den Gedanken einer eigenen „mythologischen logik"88 entgegen. Die mythischen Bilder (Metaphern) - von USENER terminologisch vage auch als Motive oder Symbole bezeichnet - sind zwar ebenso wie die Personifikationen nicht mehr unmittelbare Repräsentationen einer Wirklichkeit, sondern „lebendige gestalten, die ohne rücksicht auf die zugrunde liegende anschauung wie aus dem ursprünglichen Zusammenhang gelöst ihre eigene bewegungsfähigkeit besitzen." 89 Auch teilen sie mit den „gewöhnlichen" Bildern ein „selbständiges dasein" und ihre Viel- und Mehrdeutigkeit.90 Allerdings bleibt als wesentlicher Unterschied, daß das Wesen ihrer Bildhaftigkeit präsent bleibt: Während sich das nicht-mythische Bild an die Stelle des Begriffs setzt, den es veranschaulichen soll, und als bildlicher Ausdruck schließlich überhaupt nicht mehr empfunden wird, gewinnen die unbewußt erzeugten mythischen Bilder „in der Vorstellung der dichter ein leben für sich." Schließlich entstehen aus den sogenannten „wurzelhaften Vorstellungen" - einmal entwickelten und ausgeführten MÜLLER

84 85 86 87 88 89

USENER, Götternamen, 316. USENER, Mythologie, 61. Ebd., 58. USENER, Götternamen, 375. Vgl. auch DERS., Die Sintfluthsagen, 223-226. USENER, Die Sintfluthsagen, 197. Ebd., 194. Zum Aspekt der Mehrdeutigkeit vgl. ebd., 181-229. Ebd., 182: „[mythisches motiv:] das einfache bild, unter welchem das mythenbildende volk eine eindrucksvolle Wahrnehmung oder lebenserfahrung auffasste und festhielt ... Das mythische motiv theilt mit allen bildern die beiden eigenschaften der Vielfältigkeit und der mehrdeutigkeit."

26

Hermann Usener

Bildern wie z.B. die Vorstellung vom Berg der Götter91 - wiederum neue Vorstellungen, die die wesentlichen Momente fortspinnen und zu neuen Bildern ausgestalten. Der. Begriff der „Vorstellung" bekommt, bezogen auf diese Etappe der Mythenentstehung, nunmehr auch einen konkreten Sinn. So wird der Mythos vom Knäblein in der Truhe auf die bildhafte „Vorstellung des lichtaufgangs" zurückgeführt: ,,[D]er gott, welches fahrzeug auch ihn tragen möge, wird durch die fluth zum gipfel des berges gehoben oder an eine insel oder klippe gefiihrt und erhebt sich nun zum himmel, zu den göttern."92 Das Verhältnis dieser Vorstellungen zur Wirklichkeit ist freilich ein ganz anderes als bei MÜLLER, der „in dem Schatten der Sprache", wie Bruno LIEBRUCKS bemerkte, „den Fluch der Mittelbarkeit" sieht93 und dem Mythos daher etwas Krankhaftes zuschreibt. Es gibt nun noch einen weiteren Einwand gegen die Vergleichenden Mythologen, den USENER vor allem an Adalbert KUHNs Methode festmacht. KUHN, der Autor des 1859 erschienenen Werkes über Die Herabkunft des Feuers und des Göttertranks, sah den Zweck seiner Arbeiten darin, „durch eine möglichst umfassende behandlung eines einzelnen mythenkreises das Vorhandensein der ihn bildenden gleichen grundanschauungen bei den bedeutendsten der indogermanischen Völker nachzuweisen und so zu einer genügenden deutung der mythenzüge im einzelnen zu gelangen."94 Wie MÜLLER ging er dabei von der indischen Sprache aus. Abgesehen von der „willkür und gewaltsamkeit, mit der sie die Vergleichspunkte zu vermehren suchte",95 wirft USENER KUHN und seinen Kombattanten vor, sich nicht an den psychologischen Grundlagen, sondern an deren Ausdrucksformen orientiert zu haben.96 Freilich ist es nicht einfach ein ,unausgereiftes' Erkenntnisziel, das USENER zu diesem Vorwurf reizt. Er führt vielmehr zwei Überlegungen an, die die Methode der Vergleichenden Mythologie grundsätzlich in Frage stellen:97 Erstens: Die Begriffe von Göttern und Heroen sind nicht in der Zeit der Völkereinheit, sondern erst von den einzelnen Nationen geprägt worden. Und "

92 93

94

95 96 97

Vgl. ebd., 197 (zu der Beschreibung des Olymps in Horn. Od. 7, 42): „In dieser beiläufigen Schilderung ist alles wenigstens im keime vorhanden, was die menschliche einbildungskraft ersinnen konnte, den wohnsitz der götter würdig auszugestalten: das ewige helle licht, der mangel aller Störungen der atmosphäre, ein dasein in dauernder, ungetrübter freude. Von selbst wachsen daraus die weiteren züge des bildes: der ewige frühling, der ungetrübte friede, der unerschöpfliche vorrath oder das willkürliche wachsen aller lebensbedürfnisse, die fülle aller genuesse, woran der mensch freude haben kann." Ebd., Kap. 3: Das götterknäblein in der truhe, 80-114. B. LIEBRUCKS, Sprache und Mythos II, in: DERS., Sprache und Bewußtsein, Bd. 1 : Einleitung. Spannweite des Problems. Von den undialektischen Gebilden zur dialektischen Bewegung, Frankfurt a.M. 1964, 409. A. KUHN, Die Herabkunft des Feuers und des Göttertranks, III. Vgl. auch oben S. 17 mit Anm. 48. USENER, Götternamen, 324. Ebd., 323ff. USENER, Mythologie, 41.

Etymologie: Vergleich und Struktur

27

zweitens: Nur die Vorstellungen, d.h. die psychischen Dispositionen und deren Entwicklung gehören zur allgemein menschlichen Natur; die Ausdrucksformen dagegen sind zwar in ihrer strukturellen Entwicklung ohne weiteres vergleichbar, nicht aber in ihren völkerspezifischen Ausprägungen. „Es wäre so schön gewesen, wenn man nur die indogermanischen, dann allgemein europäischen, weiter griechisch-italischen, sodann bithynisch-makedonisch-hellenischen Übereinstimmungen zu sammeln brauchte, um die vorgeschichtlichen Epochen der griechischen Religion mit gesichertem Inhalt zu füllen."' 8

Die Sprachvergleichung der Vergleichenden Mythologen setzt nach USENERs Ansicht also in zweierlei Hinsicht zu spät an: Sie operiert mit Namen, deren Bildungsvorgang längst abgeschlossen ist, und sie übergeht damit, daß die Namen in der Zeit der Völkereinheit noch nicht geprägt waren und sich daher nicht die Namen selbst, sondern allenfalls die Vorstellungen, die zu ihrer Bildung geführt haben, als das Gemeinsame und damit bei der Veigleichung Konstante erweisen können. Denn: die „Begriffe von Göttern und Heroen haben mitnichten schon in der Zeit der Völkereinheit ihre sprachliche Prägung empfangen, sondern pflegen Sonderbesitz der einzelnen Volksstämme und Völker zu sein."99 Gerade bei einem Vergleich der Sprachen aber muß die „gleichheit der sprachlichen ausprägung" nicht zwingend eine Gleichheit der Vorstellung bedeuten. Die Rekonstruktion der Vorstellungen kann also keinesfalls mit einem einfachen Wortvergleich erzielt werden: „Schon innerhalb des einen Griechenvolks zeigen sich, wenn wir auf ältere Überlieferungen der einzelnen landschaften zurückgehn, die stärksten abweichungen; die griechischen götter sind zu gutem theile erst durch den austausch der cultur und litteratur gemeingut des ganzen volks geworden. Um so weniger ist bei den verwandten Völkern eine gleichheit der sprachlichen ausprägung zu erwarten, die auf die zeit vor aller trennung zurückgienge. Gleiche worte des religiösen gebiets können nur ausnahmefalle sein und sind thatsächlich nur selten in überzeugender weise nachgewiesen worden. Damit fällt die wesentliche Voraussetzung der vergleichenden mythologie, wie sie bisher geübt wurde. Die methode, die in so überzeugender weise aus den Übereinstimmungen des Sprachschatzes ein bild des geschichtlichen zustandes zu zeichnen vermag, auf dem die Indogermanen vor der Spaltung angelangt waren, durfte nicht vorschnell auf die begriffe der mythologie übertragen werden." 00

Für seine eigene Methode schließt USENER daraus, daß ,,[n]icht die Namen und Worte sondern die Vorstellungen ... der Hauptgegenstand der Vergleichung" sein müssen.101 Noch deutlicher äußert er sich 1882 in seiner Rede über Philologie und Geschichtswissenschaft. Hier bringt er nicht nur klar zum Ausdruck, daß der Vergleich von spezifischen, an die Individualität eines Volkes gebundenen Elementen sinnlos ist. Die Auffassung, daß das Spezifische 98

99 100

I0

'

Ebd., 42. Neben Adalbert KUHN nennt USENER, a.a.O., 41, auch K. O. MÜLLER (gemeint ist aber wohl Friedrich Max MÜLLER, vgl. Götternamen, 323ff.). USENER, Mythologie, 41. USENER, Götternamen, 324f. Vgl. dazu auch DERS., Über vergleichende Sitten- und Rechtsgeschichte (1893), in: DERS., Vorträge und Aufsätze, 105-157. 1 lOf. USENER, Mythologie, 41 mit Verweis auf Götternamen, 323ff.

28

Hermann Usener

letztlich auf einen in der „Ferne einer vorgeschichtlichen Geschichte" liegenden, allem gemeinsamen Kern zurückgehe, ist zugleich wegweisendes Programm und Aufforderung an die Philologie, sich an der Rekonstruktion des „Übereinstimmenden" zu beteiligen und „die Geschichte der religiösen Vorstellungen und der sittlichen Institutionen ... bis zur Wurzel zurück zu verfolgen": „Nachdem fur die indogermanischen Nationen die Einheit des Sprachbaus in so glänzender Weise nachgewiesen und von dem gemeinsamen Grundstock die jüngeren Anwüchse geschieden worden, lag es nahe, durch Aufsuchung des Übereinstimmenden auch die Geschichte der religiösen Vorstellungen und der sittlichen Institutionen, überhaupt des ganzen Vorstellungskreises bis zur Wurzel zurück zu verfolgen. Diese schwierigen Aufgaben berühren sich aufs engste mit der vergleichenden Analyse des Sprachschatzes, dessen einzelne Bestandteile richtig zu deuten unmöglich ist, ohne ein feinfühliges Nachempfinden des Wortgebrauchs, zu dem sich nur der Philologe erzieht."102

Gegenüber den Vergleichenden Mythologen beziehen sich USENERs Forschungen also nur sekundär auf die sprachliche Entwicklung. Zwar stützt er sich wie diese vorrangig auf das Instrumentarium der Etymologie. Doch im Unterschied zu MÜLLER und KUHN legt USENER sein Augenmerk bei der Sprachbetrachtung auf die Mechanismen der menschlichen Psyche und deren struktureller Entwicklung, angefangen von den ersten Formen, die Um- und Innenwelt als solche wahrzunehmen, über das abstrahierende (d.h. kausale und systematisierende) Denken bis hin zu der Fähigkeit, sich persönliche, willentlich agierende Wesen vorzustellen.103 Im Zentrum von USENERs Forschungen steht ein psychohistorisches Erkenntnisinteresse, das die Frage nach den sprachlichen Ausdrucksformen nur deshalb zu stellen zwingt, weil es sich dabei - und das gilt in ganz besonderem Maße für die mythische Sprache - um die einzigen Zeugnisse handelt, die über die Entstehung des religiösen Denkens Aufschluß geben können. Nachhaltigen Ausdruck hat dieser aufs Strukturelle ausgerichtete Perspektivenwechsel darin gefunden, daß USENER von einer „formenlehre der Vorstellungen"104 spricht und sich nur sekundär den inhaltlichen Analysen von konkreten Namen widmet, um daraufhin auf eine bestimmte Vorstellung zu schließen.105 Anders als MÜLLER, der den Mythos von Endymion und Selene 102 103

!"

USENER, Philologie und Geschichtswissenschaft, 12f. USENER, Götternamen, 73ff., 279ff„ 301ff. (bes. 316, 324f.). Ebd v

" ·

Im Zusammenhang mit dem Prozeß der Verbildlichung (s. dazu unten S. 76f.) spielt die Vorstellung im Sinne einer konkreten Vorstellung dann freilich eine zentrale Rolle. In den Götternamen ist sie stark zurückgedrängt. Eine der wenigen Ausnahmen ist die Deutung des Achill als eines Wassergotts. Diese schon von K. H. W. VÖLCKER, Allgemeine Schulzeitung 39.2, 1831, 311, F. G. WELCKER, Der epische Cyclus und die homerischen Dichter, Bonn 1835, Bd. 2, 37, und L. DINDORF, Fleckeisens Jahrbücher 1869, 764, vorgetragene Deutung wird heute freilich angezweifelt. H. FRISK, s. ν. Άχιλλεύς, Griechisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. 1, 201, nimmt vorgriechischen Ursprung an.

Zur Archäologie der menschlichen Psyche

29

auf die Vorstellung von der Umarmung zwischen Sonne und Mond zurückführt, will USENER Bildungsgesetze aufdecken, um daraus eine Aussage über die Formen des Vorstellens und ihre strukturelle Entwicklung zu gewinnen.

Zur Archäologie der menschlichen Psyche Als einer der ersten hatte Giovanni Battista VICO (1668-1744) den Begriff der Vorstellung ins Spiel gebracht. Seine gegen DESCARTES gerichtete, als das sogenannte verum-factum-Prinzip106 in die Terminologie eingegangene Erkenntnistheorie hat die Wissenschaftshistorie in VICO zuweilen einen Vorläufer Immanuel KANTs sehen lassen,107 dessen in der Kritik der reinen Vernunft (1781) und in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) formulierter Vorstellungsbegriff108 wiederum USENERs Konzeptualisierung des Göttlichen als einer im Menschlichen situierten Vorstellung vorbereitet. In den 1725 veröffentlichten Principi di una scienza nuova d'intorno alla communa natura delle nazioni hatte VICO das Postulat aufgestellt, „daß diese historische Welt ganz gewiß von Menschen gemacht ist" und ihre Prinzipien darum „in den Modifikationen unseres eignen menschlichen Geistes ... aufgefunden werden".109 Freilich bezog er den Begriff der Vorstellung sehr konkret auf eine Vorstellung ,νοη etwas', beispielsweise vom Baum als Nachkommenschaft der Familien, und nicht in dem Sinn, in dem USENER den Begriff vorwiegend gebraucht, nämlich als Vorstellungsform. So verstand er Apolls Verfolgung der Daphne als die Verfolgung einer „umherschweifenden Jungfrau" und ihre Verwandlung in einen Lorbeerbaum als „Eheschließung".110 Zugleich faßte 106

107

108

110

G. B. VICO, Liber metaphysicus (1710), hrsg. v. S. Otto/ H. Viechtbauer, München 1979, 34. Vgl. V. HÖSLE, Einleitung zu: G. B. VICO, Prinzipien einer neuen Wissenschaft, (s. Anm. 109), LXXf. I. KANT, Kritik der reinen Vernunft (1781), in: DERS., Werke in sechs Bänden, hrsg. von W. Weischedel, Darmstadt 1998, Bd. 2, bes. 380ff; DERS., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Erster Teil, erstes Buch: Vom Erkenntnisvermögen, in: ebd., Bd. 6, 407-549. G. B. VICO, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (dt. Übers, nach der 3. Aufl. 1744), hrsg. von V. Hösle/ Chr. Jermann, 2 Bde., Hamburg 1990,1, 3: Bd. 1, 142 (HÖSLE übersetzt .politische', R. KANY, Mnemosyne als Programm, 82 .historische' Welt). Vgl. ferner die vom Herausgeber Vittorio HÖSLE dem Text vorangestellte Einleitung, bes. Kap. 2.3 (Clff.) über Die Stellung der Kulturwissenschaften innerhalb des Systems des Wissens. Ihre Vorzugsstellung aufgrund des verum-factum-Prinzips, Kap. 2.4 (CVIIIff.) über Philosophie und Philologie: Allgemeines und Besonderes in den Kulturwissenschaften und Kap. 2.5 (CXVIIff.) über Die Gesetzlichkeit der Geschichte. G. B. VICO, Prinzipien einer neuen Wissenschaft, II, 4: Bd. 2, 281. Vgl. auch ebd.: „[Der Lorbeerbaum gilt als eine] Pflanze, die in ihrer sicheren und wohlbekannten Nachkommenschaft immer grünt, in eben derselben Bedeutung, in der die Lateiner die

30

Hermann Usener

VICO den menschlichen Geist als eine zunächst unbewußt drängende Vernunft und die Entwicklung der Sprache als den Weg von einer stummengestischen111 über eine bildlich-metaphorische zur abstrakt-begrifflichen Artikulation.112 In den wesentlichen Zügen dieser Entwicklungsgeschichte stimmt USENER sicher mit VICO überein. Inwieweit er allerdings tatsächlich von VICO inspiriert worden ist, läßt sich nur schwer rekonstruieren. VlCOs Überzeugung, allgemein geltende Entwicklungsgesetze gefunden zu haben, mag seinen Zuspruch ebenso gefunden haben wie der grundsätzliche Ansatz zu einer Geschichtlichkeit des Geistes. Daß die typologischen Verwandtschaften voneinander unabhängiger Völker auf einer der menschlichen Natur gemeinsamen Struktur basierten und der archaische Mensch generell noch nicht in Allgemeinbegriffen denken konnte; daß die Sprachentwicklung in Entsprechung zur ontogenetischen phylogenetisch bedingt ist und die Empfindungsweise des archaischen Menschen gerade im einfachen Volk weiterlebt113 - das alles kommt USENERs Konzeptualisierung der Geschichte von Sprache und Mythos schon fast gefahrlich nahe. Darüber hinaus darf VICO auch noch als einer der ersten gelten, die sich für eine Philologie als Wissenschaft und das Verfahren der Etymologie einsetzten (wenn auch letzteres eher in den Spuren des Platonischen Kratylos).114 Doch wenn USENER über ihn spricht - wie in seinem Mythologie-Aufsatz, wo er die „wissenschaftliche Errungenschaft" lobt, Mythos und Symbol auf die „Vorgänge unbewußten Vorstellens" zurückgeführt zu haben,115 oder in den Götternamen, in denen er sein Verdienst erwähnt, eine Entstehung der mythischen Vorstellungen erkannt zu haben116 - , dann mit dem Hinweis „schon bei Vico" - was eher auf die Empfindung einer Antizipation als auf eine direkte Einflußnahme durch den italienischen Gelehrten zu deuten scheint. Und die Unterschiede zwischen VlCOs Konzept der drei Zeitalter und USENERs Begriffsbildungsprozeß oder zwischen VlCOs poetischer Logik und USENERs .unbewußten Vorstellungen' sind doch zu groß, als daß eine direkte Verbindung ernsthaft herzustellen wäre. Deutlich ist dagegen - und daher ist es sicher nicht ganz falsch, an dieser Stelle auch auf VICO hinzuweisen - , daß USENER sein eigenes Selbstverständnis durchaus in Vicos Tradition begründet sehen wollte und sich für die ,Renaissance' des Stämme der Familien ,s tipites' nannten; und die wiedergekehrte Barbarei brachte uns dieselben Redensarten wieder, wo man .Bäume' die Nachkommenschaft der Familien, ihre Gründer .Stämme' und .Baumstämme', die Nachkommenschaft der Abkömmlinge .Äste' und die Familien selbst .Stämme' nennt." 1 " Zu diesem Aspekt bei USENER s. das Zitat oben S. 22. 112 G. B. VICO, Prinzipien einer neuen Wissenschaft, IV, 5: Bd. 2. 496f. 113 Zu diesen Aspekten vgl. die Einleitung von V. HÖSLE, in: G. B. VICO, Prinzipien einerneuen Wissenschaft, Bd. 1, CXVII-CXXXIX. CCLVIIIff. Zu G. B. VlCOs etymologisierender Mythologie s. R. KANY, Mnemosyne als Programm, 46-52. 115 USENER, Mythologie, 57f. 116 USENER, Götternamen, 301f., Anm. 2.

Zur Archäologie der menschlichen Psyche

31

.vergessenen Gelehrten' stark zu machen suchte, die freilich mit den ersten Übersetzungen in den 20-er Jahren längst eingeleitet worden war.117 Schon 1875 hatte USENER die Hörer seines Kollegs über die Phänomenologie des Mythos auf VICO hingewiesen und dabei offensichtlich großen Eindruck gemacht.118 Und als fünf Jahre später eine der wichtigsten Vico-Rezeptionen, Tito VlGNOLls Mito e Scienza, auch auf deutsch erschien,119 rezensierte er das Buch in der ,Deutschen Litteraturzeitung' und widmete ein Drittel dieser Rezension dem „großen Neapolitaner", der „vor mehr als anderthalb Jahrhunderten den denkwürdigen ersten Versuch aufstellte, die Gesetze des geschichtlichen Lebens und die Natur seiner Erzeugnisse zu begründen". 120 Anschließend empfahl er das Buch den Studenten seiner mehrfach wiederholten Mythologie- Vorlesung nachdrücklich zur Lektüre.121 Doch ob man aus diesen Befunden, wie gelegentlich geschehen,122 erschließen kann, daß USENER sich auch unmittelbar von VICO hat anregen lassen, bleibt - sowohl vor dem Hintergrund der im vorangegangenen Abschnitt genannten und im folgenden noch zu nennenden Traditionen als auch angesichts der genannten Differenzen fraglich. Nicht unerwähnt bleiben soll in diesem Zusammenhang noch ein weiterer Kontext, in dem die psychologischen Aspekte der Sprach- und Mythosentstehung diskutiert wurden. Denn VlCOs Ansatz war schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert im großen Stil wiederaufgegriffen worden, und zwar von der Völkerpsychologie,123 die 1860 mit der .Zeitschrift für Völker-

1,7

118

'" 120

121

122

123

J. MICHELET fertigte 1827 eine französische Übersetzung an. Die erste deutsche Übersetzung erschien 1822. Zur Wirkungsgeschichte VlCOs vgl. J. TRABANT, Giambattista Vico (1668-1744), im Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky, hrsg. von T. Borsche, München 1996, 161-178. 162; V. HÖSLE, Einleitung zu G. B. VICO, Prinzipien einer neuen Wissenschaft, Bd. 1, CCLXIV-CCLXXVII. Vgl. auch B. CROCE, La filosofia di Giambattista Vico, Bari 1911 (dt. Die Philosophie Giambattista Vicos, Tübingen 1927). S. dazu R. KANY, Mnemosyne als Programm, 81, der einen bis dahin unveröffentlichten Brief Alfred BlESEs zitiert (Biese an Usener, 23. 6. 1889 = ÜB Bonn S 2101,1), in welchem dieser seinem einstigen Lehrer dafür dankt, in „dem schönen Kolleg über Phänomenologie der Mythologie, welches ich im Sommer-Semester 1875 bei Ihnen hörte ... auf Vico gewiesen" worden zu sein. T. VIGNOLI, Mito e scienza, Mailand 1879, dt. Übers.: Mythos und Wissenschaft, Leipzig 1880. Deutsche Litteraturzeitung 2, 1881, 1065-1067. Zu USENERs Verhältnis zur italienischen Wissenschaft vgl. A. MOMIGLIANO, Hermann Usener, 205f. Vgl. E. H. GOMBRICH, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie (1970), Hamburg 1992, 94f. Zu der Mythologie-Vorlesung s. unten S. 79, Anm. 327. R. KANY, Mnemosyne als Programm, 81-83, 103. Vgl. auch B. LIEBRUCKS, Sprache und Mythos II, 415. Vgl. dazu L. J. PONGRATZ, Problemgeschichte der Psychologie (1967), 2. Aufl., München 1984, 12; G. ECKARDT, Völkerpsychologie- Versuch einer Neuentdeckung. Texte von Lazarus, Steinthal und Wundt, Weinheim 1997, 57f.

32

Hennann Usener

psychologie' 124 von den beiden jüdischen Gelehrten Heym (Heymann) STEINTHAL (1823-1899) und Moritz LAZARUS als Disziplin begründet wor-

den war. Die Zeitschrift für Völkerpsychologie', deren Gründern aufgrund ihres jüdischen Glaubens die Berufung auf einen Lehrstuhl entweder verweigert oder erschwert wurde125 und die bei der Institutionalisierung des Faches daher (mehr als andere Zeitschriften) eine zentrale Funktion einnahm, durfte in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geradezu als ein „intellektueller Fokus und Umschlagplatz" gelten.126 Im programmatischen Einleitungsteil der ersten Ausgabe hatten STEINTHAL und LAZARUS den Blick von der Kulturhistorie auf die Notwendigkeit einer psychologischen Bearbeitung' gelenkt. Die gesetzmäßige Dynamik des menschlichen Geistes sollte erforscht und die Analyse dieser Gesetze auf eine psychologische Grundlage gestellt werden. Dabei beruhte ihr Selbstverständnis auf der Abgrenzung zu Wilhelm von HUMBOLDT, August BOECKH und Jacob GRIMM:127 124

Die Zeitschrift erschien in 20 Bänden zwischen 1860 und 1890, vgl. dazu W. BUMANN, Einleitung zu: H. STEINTHAL, Abriß der Sprachwissenschaft, Bd. 1: Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, Hildesheim/ New York 1972, VI; ab 1891 begann die .Zeitschrift des Vereins für Volkskunde' als ,Neue Folge der Zeitschrift für Völkerpsychologie' unter der Ägide von LAZARUS/ STEINTHAL zu erscheinen (vgl. A. DIETERICH, Über Wesen und Ziele der Volkskunde, in: DERS., Kleine Schriften, hrsg. von R. Wünsch, Leipzig/ Berlin 1911, 288). Der offizielle Gründungstext erschien 1860 in der ersten Ausgabe (M. LAZARUS/ H. STEINTHAL, Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie, als Einladung zu einer Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, ZfVP 1, 1860, 1-73, wiederabgedruckt in: G. ECKARDT, Völkerpsychologie - Versuch einer Neuentdeckung, 125-202). Dem vorausgegangen war eine erste Formulierung, die am 15. 6. 1851 in Prutz' Zeitschrift .Deutsches Museum' (Über den Begriff und die Möglichkeit einer Völkerpsychologie) erschien. C. SGANZINI, Die Fortschritte der Völkerpsychologie von Lazarus bis Wundt, Berlin 1913, 31f., bezeichnet denn auch das Jahr 1851 als die eigentliche „Geburtsstunde" der Völkerpsychologie, da hier erstmals Begriff und Notwendigkeit dieser Wissenschaft klar bestimmt wurden (zur .Geburtsstunde' des Programms vgl. auch I. BELKE, Moritz Lazarus und Heymann Steinthal: Die Begründer der Völkerpsychologie in ihren Briefen, Tübingen 1971, XLVII; G. ECKARDT, a.a.O. 37ff.). Zum Kontext der ZfVP s. ferner G. von GRAEVENITZ, , Verdichtung'. Das Kulturmodell der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 12, 1999, 19-59.

125

Vgl. dazu I. BELKE, Moritz Lazarus und Heymann Steinthal, XCIIIff. Heym STEINTHAL hat nie einen Lehrstuhl erhalten; Moritz LAZARUS bekam 1862 schließlich in Bern das erste Ordinariat fur Völkerpsychologie. Die Wirkung der Völkerpsychologie war lange Zeit unterschätzt worden. Noch 1996 war Anlaß genug, an seine Leistungen unter dem vielsagenden Titel Vergessene Kulturanthropologie zu erinnern: S. H.-J. NEUBAUER, Dreikaiserbündnis. Vergessene Kulturanthropologie, FAZ 24. 1. 1996, Nr. 20, S. N5. Vgl. auch G. von GRAEVENITZ,, Verdichtung', 21f. U. RAULFF, Nachwort zu: A. WARBURG, Schlangenritual. Ein Reisebericht, hrsg. von U. Raulff, Berlin 1988, 74. Wilhelm von HUMBOLDT und August BOECKH gehörten neben Johann Friedrich HERBART, Georg Friedrich Wilhelm HEGEL und Carl Wilhelm Ludwig HEYSE zu STEINTHALs Lehrern. Besonders die Beschäftigung mit HUMBOLDT, wurde für

126

127

Zur Archäologie der menschlichen Psyche

33

„Die Werke dieser Männer können uns freilich nur die concreten Erscheinungen des inneren und äußeren Lebens der Völker, einzelner oder mehrerer zugleich, also die Thatsachen, in denen die Volksgeister sich manifestiren, und die historische Entfaltung darbieten. Der Völkerpsychologie fällt nun die Aufgabe zu, aus diesen concreten Erscheinungen heraus auf wissenschaftliche Weise und in wissenschaftlicher Form die Gesetze zu finden, nach denen sie sich erzeugt haben. Es verhalten sich jene Arbeiten zur Völkerpsychologie wie Biographien und Novellen zur Psychologie: die besseren liefern reichen Stoff und häufige Winke, welche der Psychologe wohl benutzen und kaum entbehren kann; aber sie überheben ihn seiner Arbeit nicht."'28

Allerdings war die Völkerpsychologie noch vor allem an den Zusammenhängen von Nation und Sprache interessiert. Anders als USENER ging es ihr um die Sichtbarmachung des national Spezifischen und damit um nationalspezifische Ausprägungen der Sprache, die sie wiederum auf spezifische völkerpsychologische Dispositionen rückfiihrte. Der nationalistische Impetus, mit dem sich die Gründungsväter Ende der 50-er Jahre an die Arbeit machten,129 steht in völligem Kontrast zu den kulturanthropologischen Interessen USENERs, die gerade das Individuell-Nationale ausblendeten, um zu einer Anschauung der allgemein-menschlichen Psychologie zu gelangen. Mit dem Projekt, den Zusammenhang von Psychologie und Sprache aufzuzeigen, konstituierte sie freilich, ähnlich wie die Vico-Renaissance, eine atmosphärische Grundstimmung, die sich mit USENERs Fokussierung auf die psychologischen Aspekte der Sprach- und Religionsgenese durchaus traf.130 USENER zitiert die Völkerpsychologen kein einziges Mal. Daß es immerhin „Parallelen" zwischen USENERs Konzept und dem der Völkerpsychologie gibt, hatte jedoch

128

129

130

STEINTHAL eine Lebensaufgabe, vgl. dazu W. BUMANN, Die Sprachtheorie Heymann Steinthals. Dargestellt im Zusammenhang mit seiner Theorie der Geisteswissenschaft, Meisenheim am Glan 1966. Zur Auseinandersetzung mit August BOECKH s. vor allem H. STEINTHAL, Darstellung und Kritik der Böckhschen Encyclopädie und Methodologie der Philologie (1880); DERS., Kleine sprachtheoretische Schriften, hrsg. von W. Bumann, Hildesheim/New York 1970, 564ff. Ein Schüler BOECKHs, HERBARTs und HEYSEs war auch Moritz LAZARUS. M. LAZARUS/ H. STEINTHAL, Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie, als Einladung zu einer Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, in: G. ECKARDT (Hrsg.), Völkerpsychologie - Versuch einer Neuentdeckung, 150. Vgl. dazu G. ECKARDT (Hrsg.), Völkerpsychologie - Versuch einer Neuentdeckung, 2832, 37-40. Zu untersuchen wäre, inwieweit umgekehrt Wilhelm WUNDT, der das Projekt der Völkerpsychologie kritisch fortschrieb und heute als deren prominentester Vertreter gilt, an USENER anknüpfte. Die in seinem Monumentalwerk zur Völkerpsychologie vorgelegte Definition des „mythischen Denkens" als eines „im Unterschied zu Poesie und Wissenschaft ,unbewußten Vorstellen^]'" mit den Haupteigenschaften der „.Beseelung' (Personifikation) und , Verbildlichung' (Metapher)" (W. WUNDT, Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte, 6 Bde., Leipzig 1905-1910, Bd. 2: Mythus und Religion, Teil 1, Leipzig 1905, 552) entstammt jedenfalls fast wörtlich aus USENER, Mythologie, 58 (zitiert oben S. 25), und steht wohl zumindest in dessen Tradition. Dagegen übt WUNDT, ebd., Bd. 4, 561, deutliche Kritik an USENERs Begriff der Augenblicksgötter.

34

Hermann Usener

bereits einer der ersten Rezensenten der Götternamen konstatiert131 - und verband dies mit dem Vorwurf, USENER habe nicht darauf hingewiesen, daß seinem Projekt in der Völkerpsychologie längst vorgearbeitet worden war. In der Tat ist die von USENER selbst vorgenommene Kontextualisierung seiner Forschung oft erstaunlich. Seiner Situierung des eigenen Sprachursprungskonzepts in der Sprachphilosophie Wilhelm von HUMBOLDTS kann man nur dann zustimmen, wenn man dessen Differenzierung in Ergon und Eneigeia132 auch, wie USENER das offensichtlich getan hat, als eine historische Differenzierung liest.133 Auch die Schärfe, mit der USENER sein Konzept gegen die wissenschaftlichen Traditionen abgrenzt, ist zwar in mancher, aber nicht in jeder Hinsicht berechtigt.134 Daß die „Mythologie in dem sinne, in welchem sie betrieben zu werden pflegt ... nur Sammlung und sichtung des stoffs" ist, wie es im ersten Satz der Götternamen heißt, läßt sich nur behaupten, wenn man den Begründer der Altertumswissenschaften, Christian 131 132

133

134

A. VIERKANDT, Philologie und Völkerpsychologie, ARW 1, 1889,97-104. W. von HUMBOLDT, Einleitung in die Kawi-Sprache, bes. 3ff.; DERS., Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, hier zitiert nach der mit einer ausführlichen Einleitung der Herausgeberin versehenen Ausgabe von D. DI CESARE (Hrsg.), Wilhelm von Humboldt. Über die Verschiedenheit..., Paderborn 1998, 145-446. 174: „Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorûbergehendès ... Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein. Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens." Vgl. USENER, Philologie und Geschichtswissenschaft, 12. Dem Problem, das eine lange Diskussion von HUMBOLDTS Begriff des „Sprachursprungs" erforderte, kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. HUMBOLDT bezog den Aspekt der Dynamik weniger auf einen einmalig-historischen Sprachursprung als auf die ständige Spracherzeugung, vgl. S. BUCHER, Naturphilosophie, Teleologie und Sprachtheorie bei Wilhelm von Humboldt, in: Multum- non multa? Studien zur „Einheit der Reflexion" im Werk Wilhelm von Humboldts, hrsg. von P. Schmitter, Münster 1991, 29-42; vgl. besonders ebd., 38: „Statt um den historischen Ursprung der Sprache geht es Humboldt um das sprachimmanente dynamische Prinzip, aus dem die Sprache ständig neu hervorgeht." Der historische Aspekt wird aber in der neueren Forschung in der Tat zuweilen diskutiert, vgl. J. TRABANT, Traditionen Humboldts, 96f. (zu W. von HUMBOLDT, Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung)·, dagegen ebd., 75-77 (zu HUMBOLDTS namentlich gegen Gottfried Wilhelm LEIBNIZ gerichteten Protest gegen eine Instrumentalisierung der Sprachwissenschaft für die Geschichtsforschung); ferner F. SCHNEIDER, Der Typus der Sprache. Eine Rekonstruktion des Sprachbegriffs Wilhelm von Humboldts auf der Grundlage der Sprachursprungsfrage, Münster 1995, 122ff.; W. HÄRTUNG, Zum Problem des Sprachursprungs in der Geschichte der Akademie, in: Erbe- Vermächtnis und Verpflichtung. Zur sprachwissenschaftlichen Forschung in der Geschichte der AdW der DDR, hrsg. von J. Schildt, Berlin 1977, 90. Das gilt auch für USENERs im Zusammenhang mit den beiden Schriften Das Weihnachstfest und Legenden der Pelagia geäußerten Bemerkungen über die Novität des darin verfolgten Ansatzes, s. dazu unten S. 92 mit Anm. 394.

Zur Archäologie der menschlichen Psyche

35

Gottlob HEYNE (1729-1812), die von ihm inaugurierte .Mythische Schule',135 Johann Gottfried HERDER, Karl Otfried MÜLLER und die Vergleichenden Mythologen unterschlägt, die an Stelle einer ästhetisch-literarischen Untersuchung der mythischen Sprache die geschichtliche Erforschung des mythischen Denkens gefordert hatten. Und wenn USENER behauptet, VICO habe die für die Entstehung von Mythos grundlegende Bedeutung der „Vorgänge unbewußten Vorstellens" erkannt, „ohne in fast zwei Jahrhunderten einen Nachfolger zu finden, der es verstanden hätte, die genialen Ahnungen Vicos in wissenschaftliche Errungenschaften umzusetzen",136 dann scheint damit mehr über den rebellischen Impetus des Autors selbst als über die Geschichte der mythologischen Wissenschaft gesagt. Denn den Begriff des unbewußten Vorstellens hatte USENER weder bei VICO ausgraben noch selbst erfinden müssen. Der Begriff der (religiösen bzw. mythischen) Vorstellung war seit HERDER, KANT und SCHELLING längst diskutiert worden und gehörte zum Grundrepertoire der Vergleichenden Mythologen.137 Und die Vermutung ausgesprochen, daß der mythologischen Fabulierkunst eine archaische Phase des unbewußten Artikulierens vorausging, hatte etwa vierzig Jahre nach den Principi di una scienza nuova schon HEYNE in der 1764 veröffentlichten Quaestio de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis. HEYNE wandte sich gegen die von der Spätantike bis in die Aufklärung hinein lebendige Allegorisierung des Mythos (die ja ein begriffliches, zur mythischen Einkleidung von Historie, Moral oder Natur fähiges Denken voraussetzt) sowie gegen deren schärfste Form, den Euhemerismus, wie ihn etwa Abbè BANIER in seiner 1713/1714 erschienenen Explication historique des fables mit Vehemenz vertreten hatte.138 Er revidierte die rationalistische 135

136

Vgl. dazu H. G. GADAMER, Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft, 181. Zu HEYNE als Begründer der Altertumswissenschaften s. M. VÖHLER, Christian Gottlob Heyne und das Studium des Altertums in Deutschland, in; Disciplining Classics - Altertumswissenschaft als Beruf, hrsg. von G. W. Most, Göttingen 2002, 39-54. USENER, Mythologie; 57f. Zu HERDER s. R. WIELAND, Herders Theorie von der Religion und den religiösen Vorstellungen, Naumburg 1903. Zu KANT s. oben s. 29. F. W. J. SCHELLING, Philosophie der Mythologie (1842), in: Schellings Werke, hrsg. Von M. Schröter, Bd. 5, München 1959, 1-254: Einleitung in die Philosophie der Mythologie: 9. Vorlesung, 208f.; ebd., 255-388: Philosophie der Mythologie. Erstes Buch: Der Monotheismus: 6. Vorlesung, 383ff.: „Die mythologischen Vorstellungen verhalten sich im Allgemeinen als reine innere Ausgeburten des menschlichen Bewußtseyns, allerdings als Erzeugnisse eines relativ vormenschlichen Bewußtseins"; DERS., Philosophie der Mythologie. Nachschrift der letzten Münchener Vorlesungen 1841, hrsg. von A. Roser/ H. Schulten (= Schellingiana, Bd. 6), Stuttgart/ Bad Cannstatt 1996, vgl. etwa 12ter Vortrag 3. 2. 1841, 22ter Vortrag 4. 3. 1841. Zur Begriffsgeschichte s. C. KNÜFER, Grundzüge der Geschichte des Begriffs Vorstellung von Wolff bis Kant. Ein Beitrag zur Geschichte der philosophischen Terminologie, Halle 1911; ferner: J. TRABANT, Traditionen Humboldts, 75-77 (zu LEIBNIZ und HUMBOLDT). Vgl. dazu H. GOCKEL, Mythos und Poesie. Zum Mythosbegriff der Aufklärung und Frühromantik, Frankfurt a.M. 1981, 27ff.

36

Hermann Usener

Deutung des Mythos als Phantasiegebilde und faßte ihn historisch als ein zunächst unwillkürliches, angeborenes Reden über alles, was dem primitiven Menschen zustieß und begegnete.139 „Front gemacht gegen die Gleichsetzung von mythologischem Bilderreichtum und poetischem Zierrat"140 haben daraufhin, um nur einige zu nennen, auch der junge Friedrich SCHELLING (17751854) in seiner 1793 verfaßten Magisterarbeit Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt,m Karl Otfried MÜLLER (seit 1819 HEYNES Nachfolger in Göttingen) in den Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie,142 Johann Gottfried HERDER (1744-1803)' 43 sowie Jacob GRIMM in seiner Deutschen Mythologie144, die allesamt der Auffassung

140 141

142

14:1 144

Chr. G. HEYNE, Quaestio de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis, Göttingen 1764; vgl. dazu F. GRAF, Die Entstehung des Mythosbegriffs bei Christian Gottlob Heyne, in: DERS., Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Roms (= Colloquium Rauricum, Bd. 3), Stuttgart/ Leipzig 1993, 284-294. 288. A. HORSTMANN, Mythologie und Altertumswissenschaft. Der Mythosbegriff bei Chr. G. Heyne, in: Archiv für Begriffsgeschichte 16, 1972, 60-85, bes. 72ff. H. GOCKEL, Mythos und Poesie, 34f. H. GOCKEL, Mythos und Poesie, 57. F. W. J. SCHELLING, Sämtliche Werke, hrsg. von M. Schröter, Bd. 1, 1927, 41-84. 52 (mit explizitem Bezug auf Chr. G. HEYNE, Quaestio de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis, vgl. dazu H. GOCKEL, Mythos und Poesie, 54ff.); DERS., Philosophie der Mythologie. Nachschrift der letzten Münchener Vorlesungen 1841, Dreiundzwanzigster Vortrag, 5. 3. 1841: „Die Vorstellungen durch deren Aufeinanderfolge unmittelbar der ... Polytheismus entsteht, erzeugen sich dem bewußtseyn ohne sein Zuthun, ja gegen seinen Willen." In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Mythologie grenzt SCHELLING die „einzelne Thätigkeit des Bewußtseyns, z.B. die Phantasie" ab von der „Substanz des Bewußtseins", die die mythologischen Vorstellungen erzeugt. Die Entstehung der Mythologie sei ein „unwillkürlicher und nothwendiger" Prozeß, der sich in „vorgeschichtlicher Zeit" zugetragen habe (Siebzehnte Vorlesung, in: F. W. J. SCHELLING, Sämtliche Werke, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart/ Augsburg 1856-1861, 2. Abt., Bd. 3: Philosophie der Offenbarung, 380) und mit dem „gegenwärtigen Bewußtseyn" daher nicht zu begreifen sei (Siebte Vorlesung, in: ebd., 2. Abt., Bd. 2: Philosophie der Mythologie, 140). K. O. MÜLLER, Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie, führt die Mythenbildung statt auf „Erfindung" auf „Unbewußtheit" und „Nothwendigkeit" zurück, vgl. ebd., 59, 67, 110f„ 166. Vgl. dazu H. GOCKEL, Mythos und Poesie, 47ff. Zu Jacob GRIMMs Auffassung von Mythos als einer „der Sprache analogen Schöpfung des unbewußt dichtenden Volksgeistes" (L. BLOCH, Antike Religion, Bursian 124, 1905, 428-464. 443) s. DERS., Deutsche Mythologie (1835), 3. Aufl., Göttingen 1854, XLV: „Vielgötterei ist, bedünkt mich, fast überall in bewustloser unschuld entsprungen." In Gedanken über Mythos, Epos und Geschichte, 74, schreibt er, „daß hinter [febei und sage] kein eitler grund, keine erdichtung, sondern wahrhafte dichtung liegt." Sein Schüler Wilhelm MANNHARDT schließt sich GRIMMs Auffassung von einer unbewußt vollzogenen Mythosgenese an:,.Damit hat er [sc. Grimm] den Grund gelegt für das wissenschaftliche Verständnis nicht allein der germanischen, sondern auch der griechischen und römischen und aller sonstigen Mythologie." (W. MANNHARDT, Waldund Feldkulte, 2 Bde., Berlin 1875/1877, Bd. 2: Antike Wald- und Feldkulte aus nordeuropäischer Überlieferung erläutert, IX; zu MANNHARDTs Differenzierung in Naturpoesie und Dichterreflexion s. DERS., Brief an Karl Müllenhoff, 7. Mai 1876,

Zur Archäologie der menschlichen Psyche

37

waren, daß man die Mythosgenese nicht grundsätzlich intentional verstehen oder mit der phantasiebegründeten Mythopoiesis gleichsetzen dürfe, sondern zwischen Mythos und Dichtung trennen oder doch ein spezifisches mythisches Bewußtsein annehmen müsse. Indem HEYNE die von der römischen Rhetorik bis in die Renaissance hinein übliche Junktion von Mythos und fabula aufgebrochen hatte,145 setzte er zugleich das religiöse Moment des Mythos wieder in sein Recht146 - eine entscheidende Vorarbeit auch fiir USENERs Verständnis des Mythos als religiöser Sprache. Zwar behauptete HEYNE noch alles andere als eine Identität von Mythos und Religion, betonte aber doch, daß zumindest einige Mythen nur aus ihrem religiösen Kontext heraus verständlich seien. An diese Unterscheidungspraxis anknüpfen sollten unter anderen Karl Otfried MÜLLER oder Georg ZOËGA, der die Mythologie in zwei Hauptteile, Theologie und Götterfabel, zerfallen ließ.147 Allerdings verband HEYNE seine Differenzierung zwischen einem ursprünglichen und einem fiktionalen Mythos mit seiner These, daß der „sermo mythicus" eine Signatur des Kindheitsalters der Menschheit („infantia generis humani")148 sei, und trug damit zu der folgenreichen Auffassung bei, daß es mehrere geschichtliche Stufen des menschlichen Denkens gegeben habe, die in einem fortschrittlichen Prozeß schließlich zum logischen Denken führten.149 Gewirkt hat dieser Fortschrittsglaube - nicht zuletzt vermittelst der zahlreichen Hörer von HEYNES

145

146

147 148

149

abgedruckt in: Mythologische Forschungen. Aus dem Nachlasse von Wilhelm Mannhardt, hrsg. von H. Patzig, Straßburg/ London 1884, XXV.). Zu MANNHARDT s. H. G. KIPPENBERG, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997, 120-128. Chr. G. HEYNE, Apollodori bibliothecae libri tres et fragmenta. Praefatio zu Bd. 2, Göttingen 1783, XXIX: „ ... accepere illi (sc.: Homerus et Hesiodus) fabulas, seu, quo vocabulo lubentius utor, mythos, non invenere." Fast zweihundert Jahre zuvor hatte bereits Francis BACON davon Abstand genommen, den Mythos als bloße Fiktion abzutun - allerdings verstand er ihn als ein Mittel der Belehrung, als eine die moderne Wissenschaft antizipierende empirische Naturerkenntnis, F. BACON, De sapientia veterum liber, 1609; dt. Übersetzung: Weisheit der Alten, hrsg. und mit einem Essay versehen von Ph. Rippel, Frankfurt a.M. 1990. Erste Ansätze, der Mythologie ihren Status als heidnische Theologie wieder zuzuerkennen, finden sich bei G. PICTORIUS, Theologia mythologica ex doctissimorum promptuario labore Pictorii Villingertsis in compendium congesta. Videlicet de nominum deorum gentilium ratione, de imaginibus aut formis insignibusque eorundem et omnium imaginum explanationes allegoricae, Freiburg 1532; F. BACON, De dignitate et augmentis scientiarum, 1620; G. VOSSIUS, De theologia gentili et physiologia Christiana, 1641, s. R. SCHLESIER, Mythos, in: Vom Menschen. Handbuch Historischer Anthropologie, hrsg. von Chr. Wulf, Weinheim/ Basel 1997, 1079-1086. 1082. G. ZOËGA, Vorlesungen über die griechische Mythologie, 265ff. Chr. G. HEYNE, Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata (Vortrag vor der Göttinger Akademie 1763), Comm. Soc. Reg. Gott. 8, 1787, 3ff.; vgl. dazu Chr. HARTLICH/ W. SACHS, Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft, Tübingen 1952, 13ff. Chr. JAMME, „ Gott an hat ein Gewand", 60f.

38

Hermann Usener

Göttinger Vorlesungen150 - bis ins 20. Jahrhundert, etwa in Wilhelm NESTLEs populär gewordenem Buch Vom Mythos zum Logos.151 Auch die an die Analogie von Onto- und Phylogenese anschließende Metapher vom Mythos als Kindheit - wie sie noch bei USENER auftaucht152 - hat hier ihren Ursprung.153 Das mythische Zeitalter bestimmte HEYNE als einen dreifachen Mangel: fehlende Einsicht in die wahren Ursachen der natürlichen und psychischen Prozesse, fehlendes Abstraktionsvermögen sowie eine hohe Erregbarkeit durch Sinneseindrücke.154 Spuren dieser ursprünglichen Form des Mythos meinte er allerdings in der Antike nicht mehr finden zu können. Wer danach suchen wolle, so seine unter dem Eindruck der Werke von FONTENELLE155 und LAFITAU156 gewonnene Überzeugung,157 müsse sich bei den Naturvölkern umsehen.158 Im Unterschied zu HEYNE sieht USENER, der hierin die Tradition der Sprachwissenschaften und der Vergleichenden Mythologen weiterschreiben kann, keine Notwendigkeit, auf die Beobachtung von Naturvölkern zurückzugreifen. Zwar hatte er noch 1882 in seinem Aufsatz über Philologie und Geschichtswissenschaft die Errungenschaften der .Ethnologie'159 150

151 152 153 154

155

156

157 158

159

Zu den Vermittlem von HEYNES Vorlesungen an der Göttinger Universität gehörten unter anderen Johann Gottfried HERDER, Wilhelm von HUMBOLDT, die beiden SCHLEGEL-Brüder, Georg Friedrich CREUZER und Georg ZOËGA, der Lehrer von Friedrich Gottlob WELCKER, bei dem wiederum USENER studierte, vgl. F. GRAF, Die Entstehung des Mythosbegriffs bei Christian Gottlob Heyne, 284-292. W. NESTLE, Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1940. USENER, Götternamen, V. Vgl. dazu H. GOCKEL, Mythos und Poesie, 45ff. Vgl. W. PANNENBERG, Späthorizonte des Mythos in biblischer und christlicher Überlieferung, in: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hrsg. von M. Fuhrmann, München 1971,473-525. 478f. B. de FONTENELLE: De l'origine des fables (1690/1724), in: DERS.: Œuvres complètes, hrsg. von A. Niederst, Bd. 3, Paris 1989, 187-202. J.-F. LAFITAU: Allgemeine Geschichte der Länder und Völker von Amerika (Mœurs des sauvages Américains comparées ata mœurs des premiers temps, Paris 1723), 2 Bde., übers, von S. J. Baumgarten, Halle 1752. Zu LAFITAU s. ausfuhrlich K.-H. KOHL, Entzauberter Blick..Das Bild vom guten Wilden, Frankfurt a.M. 1986, 77-106. Vgl. F. GRAF: Die Entstehung des Mythosbegriffs bei Christian Gottlob Heyne, 288ff. Vgl. etwa J. G. HEYNE, Apollodori bibliothecae libri tres et fragmenta. Praefatio zur 2. Aufl., Göttingen 1803, viiif.: „Ut vero studii huius mei fines latius proferrem, alia adiunxi: primo, ut recentiorum hominum, qui remotas terras, maria et ínsulas adiete, populorumque mores et habitus descripsere, narrationes assidue perlustrarem, ex iisque rudium et barbarorum populorum modos cogitandi, sentiendi et eloquendi, notarem, ita ut eos cum antiquiorum aetatum simili vitae habitu compararem." Wie wenig bestimmt die Ethnologie noch im 19. Jahrhundert als eine eigenständige Disziplin gefaßt wurde, zeigen die terminologischen Unsicherheiten, die die Abgrenzung zur Anthropologie nur schwer nachvollziehbar machten, auch bei und für USENER, vgl. etwa Philologie und Geschichtswissenschaft, 14: „Die Summe unseres Wissens von den vorhandenen und gewesenen Völkern vereinigt sich zu einer Ethnologie, die zu jener Wissenschaft, die, wer will Anthropologie in höherem Sinne nennen mag, in keinem anderen Verhältnis steht als eine beschreibende Naturwissenschaft zur Anatomie und Physiologie des organischen Daseins." Zur Abgrenzung vgl. R. SCHLESIER,

Zur Archäologie der menschlichen Psyche

39

gewürdigt und ihnen durchaus zugebilligt, einen Beitrag zum Verständnis des vorhistorischen Denkens leisten zu können.160 Doch ist U S E N E R anders als H E Y N E sehr wohl davon überzeugt, daß aussagekräftige Spuren jenes ursprünglichen Mythos auch in den historischen Dokumenten der Antike noch greifbar sind, und zwar in der religiösen Sprache. Methodisch anknüpfen kann er dabei an die Tradition des Germanisten Jacob G R I M M , dessen Deutsche Mythologie USENER einmal als „das größte geschichtliche Werk unseres Jahrhunderts" bezeichnet hat.161 G R I M M und sein Schüler Wilhelm M A N N H A R D T (1831-1880) waren der Überzeugung, daß die Überbleibsel früherer Kulturstufen und damit auch die Überreste einer ursprünglichen Mythologie in den niederen Schichten der Volkspoesie bzw. in den unberührten bäuerlichen Unterschichten Europas noch zu finden seien. Während G R I M M auf HERDERS Differenzierung in Natur- und Kunstpoesie rekurrierte, zwischen den literarisch überformten Mythen der Dichter und den abgesunkenen, ursprünglichen Mythen des Volkes aber nicht immer ganz präzise unterschied, verlegte sich MANNHARDT, der sich von den Verfahrensweisen der Etymologen endgültig verabschiedet hatte, auf die folkloristische Überlieferung von Bräuchen und Riten der Ackerbaukultur und konzentrierte sich in den 1875/1876 veröffentlichten Wald- und Feldhilten ganz auf die Befragung des deutschen Landvolks. Zu den Voraussetzungen seines Verfahrens hatte nicht zuletzt Edward B. T Y L O R s 1871 publiziertes Standardwerk Primitive Culture162 beigetragen, das MANNHARDT (anders als G R I M M in der 1835 erschienen Deutschen Mythologie) in seine Forschungen bereits einbeziehen konnte.163 TYLÖR hatte darin die Auffassung vertreten, daß Überbleibsel vergangener Denk- und Lebensformen (selbst ohne die ubiquitäre und unmittelbare Präsenz ihrer Entstehungsbedingungen oder Lebenszusammenhänge) in den Tiefenschichten einer Kultur überleben (.survivals'), ja zuweilen sogar eine Revitalisierung erfahren können (.revivals').164 So fand er die

160 161

162

163

164

Art.: Kulturanthropologie, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Rezeptionsund Wissenschaftsgeschichte, hrsg. von M. Landfester, Bd. 14, Stuttgart/ Weimar 2000, 129-157. USENER, Philologie und Geschichtswissenschaft, 13. Vgl. USENER, Vorlesung über Mythologie. WS 1886/1887, 3. 12. 1886, Mitschrift von Aby Warburg, Warburg Institute, London. E. B. TYLOR, Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, and Language, Art and Custom, 2 Bde., London 1871, dt. Übers.: Die Anfange der Cultur. Untersuchung über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Unter Mitwirkung des Verfassers ins Dt. übertragen von J. W. Spengel und F. Poske, Leipzig 1873. Zum Einfluß des Buches auf MANNHARDTs 1875/1877 publizierte Wald- und Feldkulte s. H. G. KIPPENBERG, Die Entdeckung der Religionsgeschichte, 122 mit Anm. 7. E. B. TYLOR, Primitive Culture, Bd. 1,16, definiert survivals als „processes, customs, and so forth, which have been carried on by force of habit into a new state of society different from that in which they had their original home." DERS., On the Survival of Savage Thought in Modern Civilization, in: Proceedings of the Royal Institution of Great Britain 5, 1866-1869, 522-535. 523: „Some old belief belonging to a low level

40

Hermann Usener

animistische Vorstellung von der Beseelung auch alles Gegenständlichen seiner Auffassung nach eine der ersten Denkformen der Menschheit165 - in der modernen spiritualistischen Bewegung seiner Zeit in neuer Blüte.166 TYLORs Buch war eine Antwort auf das von ROUSSEAU bis in die Romantik hinein lebendige Bild vom,guten Wilden',167 in dem die primitiven Völker als Überbleibsel früherer Hochkulturen firmierten.168 Dem Degenerationsgedanken, der dieser These zugrunde lag, setzte TYLOR ein progressives Mehrstufenmodell entgegen, demzufolge sich aus den Wilden die Barbaren und daraus wiederum die Zivilisation entwickelt habe. Im Unterschied zum Fortschrittsglauben der Aufklärung oder Herbert SPENCERs evolutionistischer Entwicklungsthese169 und Auguste COMTEs berühmtem Dreistadienmodell,170 glaubte er jedoch keineswegs daran, daß das frühe, primitive Denken durch höher entwickelte Formen abgelöst wird. Zwar wurde er, wie übrigens schon LAFITAU, als Evolutionist immer wieder mißverstanden.171 Doch war er im Gegenteil der Ansicht, daß die sogenannten survivals' gerade nicht defizitär sind, sondern Zeugnis ablegen von einer noch nicht durch Materialismus geprägten Menschheit. Zudem verstand er unter den ,survivals' keinesfalls tote

165 166

167 168 169

170

171

of culture is carried on into the midst of a higher civilization which practically disowns it, and such relics of ancient thought not only survive, but sometimes revive with wonderful vigour." Vgl. dazu H. G. KIPPENBERG, Die Entdeckung der Religionsgeschichte, 124 und DERS.: Survivals: Conceiving of Religious History in an Age of Development, in: Religion in the Making. The Emergence of the Science of Religion, hrsg. von A. L. Molendijk/ P. Pels, Leiden 1998, 297-309, bes. 300-303. Ε. Β. TYLOR, The Religion of Savages, The Fortnightly Review, 6, 1869, 71-86. H. G. KIPPENBERG, Survivals: Conceiving of Religious History in an Age of Development, 303f. S. dazu K.-H. KOHL, Entzauberter Blick, passim. H. G. KIPPENBERG. Die Entdeckung der Religionsgeschichte, 80-98. 80. H. SPENCER, The Development Hypothesis (1852), in: DERS., Essays: Scientific, Political and Speculative, Bd. 1, London 1901, 1-7; DERS., Progress. Ist Law and Cause (1857), ebd. 8-62. A. COMTE, Rede über den Geist des Positivismus (frz. Orig.: Discours sur l'esprit positif, Paris 1844), Hamburg 1994. Vgl. dazu H. G. KIPPENBERG, Survivals, der mit der vor allem durch E. EVANSPRITCHARD (Religion and the Anthropologists [1959], in: DERS., Essays in Social Anthropology, London 29-45) populär gewordenen These aufräumt, daß TYLOR ein evolutionistisches Entwicklungsmodell entworfen habe. Die von TYLOR benannte Phasenfolge „wild - barbarisch - zivilisiert" sei vielmehr als die Reaktion auf einen Geschichtsbegriff zu verstehen, der Geschichte als einen degenerativen Prozeß auffaßt. Gegen einen solchen Geschichtsbegriff hatte auch LAFITAU protestiert (den TYLOR des öfteren zitiert, aber an den er nicht direkt anzuknüpfen scheint, vgl. K.-H. KOHL, Entzauberter Blick, 101), wurde aber gleichwohl als Wegbereiter des Evolutionismus mißverstanden, etwa von T. K. PENNIMAN, A Hundred Years of Anthropology, 3. Aufl., London 1965, 39. S. auch K.-H. KOHL, a.a.O., 83f.: „Die Mœurs des Sauvages américains als einen im Hinblick auf ,allgemeine Entwicklungsgesetze' unternommenen Versuch zu weiten, ,die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften von dem primitivsten Zustand zur höheren Kultur zu begreifen' [L. VAJDA, Untersuchungen zur Geschichte der Hirtenkulturen, Wiesbaden 1968, 50], erscheint ... hinsichtlich Lafitaus eigener Intention verfehlt."

Zur Archäologie der menschlichen Psyche

41

Überreste einer Vergangenheit - obwohl sie natürlich dieser Vergangenheit entstammten - , sondern lebendige Elemente der gegenwärtigen Kultur, von der die fortgeschrittene Gesellschaft zuweilen sogar lernen kann. Diese Lebendigkeit (allenfalls im gesellschaftlichen Sinne abgesunkener) früher Kulturstufen macht sich MANNHARDT schließlich bei der Ursprungssuche zunutze. USENER - im Bereich der Sprachforschung - und später im Bereich der Ritusforschung auch dessen Schüler Albrecht DIETERICH 1 7 2 sollten an diese Strategie anknüpfen. MANNHARDT überführt das Konzept der survivals in ein Verfahren der Entschichtung, das sich methodisch (und terminologisch) an den Tätigkeiten der Geo- und Paläontologen ausrichtet und mit dessen Hilfe er (auf der Grundlage intensiver Befragungen) die unter der einfachen Landbevölkerung konservierten „psychischen Petrefakte"173 freilegt: „Wie in einem Gebirge sich die organischen Reste verschiedener Erdbildungsperioden übereinander ablagern, bewahrt das Gedächtniß des Volkes unbewußt Ablagerungen der verschiedenen Kulturepochen, die dasselbe jemals durchgemacht hat, mit vielen fremden Einschlüssen; aber die Lage der Schichten hat sich vielfach verschoben und durchkreuzt, der Inhalt jeder einzelnen hat sich durch Verwitterung, Vermischung oder rein äußerliche Verbindung mit den Produkten anderer umgestaltet. Damit aus den Versteinerungen die Geschichte der Vorwelt wiederhergestellt werden könne, mußte der Tätigkeit der Geologen und Paläontologen die elementare Arbeit der deskriptiven Mineralogie, Zoologie und Botanik vorausgehen."174 MANNHARDTs geologische Metaphern greift USENER nicht unbedingt auf. Aber er übernimmt das Verfahren der Entschichtung und überträgt es auf den Bereich der Götternamen. So wie MANNHARDT davon überzeugt ist, daß das „Gedächtniß des Volkes unbewußt Ablagerungen der verschiedenen Kulturepochen" aufbewahre, so glaubt USENER, daß sich unter der Vielzahl der Götternamen eine Reihe von Namen fände, deren sprachliche Bildungen auf vorbegriffliche Vorstellungen zurückgehen. Und ähnlich wie MANNHARDT, der von „Verwitterung, Vermischung oder rein äußerlichefr] Verbindung mit den Produkten anderer" spricht, geht USENER von einem Verdunkelungsprozeß aus, der die Freilegung der einzelnen Schichten erschwert. So seien beispielsweise eine Reihe von Epitheta ursprünglich die Bezeichnungen fur Sondergötter gewesen und erst später, in einem Prozeß der Systematisierung und Hierarchisierung, den großen Göttern untergeordnet und in deren Zuständigkeitsbereich integriert worden. Das von TYLOR formulierte Spannungsverhältnis von survival und revival taucht hier in etwas veränderter Form wieder auf: Die Epitheta sind Überreste des vorbegrifflichen Denkens; zugleich erfahren sie in

172 173

174

Vgl. dazu unten S. U l f . Zur Metapher der „psychischen Petrefakte", die sowohl auf den doppelten Prozeß der Versteinerung (survivals) und Lebendigwerdung (revival) weist, s. H. G. KIPPENBERG, Die Entdeckung der Religionsgeschichte, 124. W. MANNHARDT, Wald- und Feldkulte, Bd. 2 (1877), XXVIII.

42

Hermann Usener

ihrer neuen Funktion eine Revitalisierung und Aktualisierung, die sie am Leben hält und dem Gedächtnis der Kultur bewahrt. Die Zuordnung der einzelnen Namen zu den einzelnen Stufen der Begriffsbildung, die die Grundlage für die Darstellung dieses Prozesses stellt, gehört zugleich zu den größten Herausforderungen von USENERs Projekt. An keiner Stelle ist sein Selbstverständnis als empirisch und nicht spekulativ arbeitender Forscher175 verwundbarer als dort. Zwar hat USENER „das Problem des Verstehens als das zentrale Methodenproblem der von ihm neu begründeten Philologie erkannt":176 „Die Schwierigkeit, der unsere Versuche begegnen, ältere Religionsgebilde zu verstehen und vor unserem Auge wieder entstehen zu lassen, beruht im letzten Grunde darin, daß unser Bewußtsein nicht über Erfahrungen ähnlicher Art verfügt, an denen uns der Hergang deutlich werden könnte."177

Gegen August BOECKHs Formel der „Wiedererkenntnis des Erkannten"178 wendet er ein, daß sich der Mythos, als ein Produkt des vorlogischen Denkens, einer „Wiedererkenntnis" mit logischen, begrifflichen Mitteln entzieht. Doch auch wenn die Elemente einer bereits abgeschlossenen mehrstufigen Entwicklung als Spuren im Mythos noch vorhanden sind, so bedeutet das doch, daß ihr ursprünglicher Kontext nicht mehr besteht und ihre Entstehungsbedingungen letztlich doch nur extern, und zwar mithilfe moderner, dem begrifflichen Denken verpflichteter Kategorien rekonstruierbar sind. Einem Entwicklungsschema eingepaßt werden können die synchron evidenten 175

'76 177 178

Vgl. dazu USENER, Götternamen, 73f., 274, 321; Mythologie, 60f.; Philologie und Geschichtswissenschaft, 13. Vgl. dazu W. ETTELT, Der Mythos als symbolische Form. Zu Ernst Cassirers Mythosinterpretation, Philosoph. Perspektiven 4, 1972, 59-73. 61. K. OEHLER, Dilthey und die Klassische Philologie, 189. USENER, Mythologie, 61 f. August BOECKH verstand Philologie als „Wiedererkenntnis des Erkannten" bzw. als „Reproduktion des Produzierten"; vgl. dazu F. RODI, „Erkenntnis des Erkannten" August Boeckhs Grundformel der hermeneutischen Wissenschaften, in: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, hrsg. γοη H. Flashar/ Κ. Gründer/ Α. Horstmann, Göttingen 1979, 103-121. Zu USENERs Kritik an BOECKH, vgl. Philologie und Geschichtswissenschaft, 14f.: „Eine Konstruktion der Philologie wie die Boeckhsche ist heute unmöglich. Es ist, als ob man aus einem Buche alle Stellen, die von einem Volke handeln, unbekümmert um den jedesmaligen Zusammenhang, ausschneiden und aneinander reihen wollte. Schon der Schüler weiß es heute aus hundertfältiger Erfahrung, wie selbst das allernächste Verständnis der konkreten Erscheinung oft erst gewonnen werden kann nach Ablegung der Scheuklappen, die sich der Philologe sonst gerne links und rechts von seinen Augen band. Für den aus vorgeschichtlicher Zeit fortgeführten Besitz von Sprache, Glaube und Sitte versteht sich das von selbst." Vgl. auch A. HORSTMANN, Wozu Geisteswissenschaften? Die Antwort August Boeckhs, in: August Boeckh (1785-1867). Leben und Werk, Zwei Vorträge, hrsg. von H. Meyer, Berlin 1998 (= Humboldt Universität. Öffentliche Vorlesungen, Heft 93), 23-48. 32-37; B. SCHNEIDER (Hrsg.), August Boeckh. Altertumsforscher, Universitätslehrer und Wissenschaftsorganisator im Berlin des 19. Jahrhunderts. Ausstellung zum 200. Geburtstag, 22. November 1985 - 18. Januar 1986, Wiesbaden 1985.

Zur Archäologie der menschlichen Psyche

43

Spuren nur auf der Grundlage eines spekulativ gewonnenen Vorverständnisses über die Entwicklung, die aus eben diesem Material eigentlich erst empirisch erschlossen werden soll. Wenn USENER etwa (neben einer Reihe von weiteren „Namenspaaren"179) den Namen der Αταλάντη für ein weibliches Pendant zu "Ατλας hält180 - was darüber hinaus auch etymologisch höchst problematisch ist181 - und wenn er daraus schließt, daß die Bildung weiblicher Götternamen grundsätzlich auf „sprachlichen Wucherungen" beruht,182 so ist offensichtlich, daß die chronologische Entzerrung der herangezogenen .Namensgruppen' ohne die Vorwegnahme des Ergebnisses - "Ατλας entstand vor 'Αταλάντη - keinen Bestand hat. Die Schwierigkeit seines Versuchs, zwischen einer Universalisierung des rationalen Denkens und der Differenzierung in kulturell bedingte Qualitäten von Geist zu vermitteln, wird vollends deutlich dadurch, daß er einerseits jegliche Form .apriorischer Spekulation' zu desavouieren sucht und damit einer Historisierung des Geistes das Wort redet; sich aber andererseits durchaus in der Lage sieht, die einzelnen empirisch gewonnenen Daten zu flächigen Bildern auszumalen, d.h., alles über die konkreten Daten Hinausgehende zu ergänzen und mit den Mitteln des modernen (verstandesmäßigen) Denkens auszudrücken, begreifbar zu machen und in die Sprache des ,logischen Denkens' zu übersetzen. Freilich versucht USENER, diesen Schwierigkeiten - auf die im Zusammenhang mit den Sondergöttern noch näher einzugehen sein wird183 - durch eine Reihe vorgängiger Überlegungen zu entgehen, deren zentraler und verbindender Gedanke die sehr spekulativ gewonnene Überzeugung ist, daß es einen Zusammenhang zwischen Unbewußtheit und Gesetzmäßigkeit gibt. Das erste Dogma, das USENER diesbezüglich ins Spiel bringt, ist der Vergleich von Sprache und Natur. Schon gleich zu Anfang der Götternamen heißt es: „Wie in der natur, so offenbart sich in der spräche der geheimnissvolle trieb der fortpflanzung, veijüngung und erneuening."'84

Die eine Analogie von Geist und Körper heraufbeschwörende Fortpflanzungsmetapher ist mit Bedacht gewählt; denn sie rückt, gleichsam nebenbei, 179

180 181

182

183

'84

Ήλέκτωρ / Ήλεκτρα; "Εκατος / Εκάτη; Περσεύς / Περσεία, aber auch "Ατλας / 'Αταλάντη/ Δίκτυς / Δικτύννα (USENER, Götternamen, 37ff.). Ebd., 37, 39ff. Vgl. P. KRETSCHMER, τάλαντον, Αταλάντη, Glotta 3, 1910/1912, 266-269; DERS., Literaturbericht für die Jahre 1931 und 1932, Glotta 22, 1933/1934, 193-269. USENER, Götternamen, 29-47, Kap.: Bildung weiblicher götternamen. USENERs Untersuchungen gehen von den Gottheiten des Rigveda aus, unter denen ,,[n]ur zwei begriffe ... schon in frühester zeit... und gewiß von anfang her weiblich gewesen [sind], die mutter erde ... und die morgenröthe" (ebd. 30) und unter denen „eine ganze anzahl von göttinnen" zu finden ist, „die zum theil religiös und mythologisch ohne jede bedeutung und Selbständigkeit, lediglich feminine fortbildungen feststehender männlicher götternamen sind." (ebd. 31). Vgl. auch unten S. 50. S. dazu unten S. 65-75, bes. 68ff. USENER, Götternamen, 6.

44

Hennann Usener

den wiederholt verwendeten Begriff der ,Gesetzmäßigkeit' in das ,richtige' Licht und arrogiert damit auch der für die Sprache zuständigen Forschung etwas Naturwissenschaftliches: Individuelle Gestaltung und Phantasie werden als Faktoren früher Sprachbildung ausgeblendet und der Sprache statt dessen eine analog zur ,Natur' vorhandene Triebhaftigkeit und Eigendynamik zugeschrieben: Sprache, so USENERs Dogma, ist zu Beginn der Entwicklung nicht das Produkt von individueller Schöpfungskraft, sondern ,wird' und .entsteht': „die spräche [hat], dem menschen unbewusst, den Vorgang [sc.: der begriffsbildung] vorbereitet und herbeigeführt".185 Als Forschungsgegenstand gewinnt sie dadurch nur Vorteile: Denn in den Bereich des gesetzmäßig Entstehenden gerückt, wird sie - vice versa - entschlüsselbar. In eine ähnliche Richtung weist das zweite Dogma. USENER verschärft den Begriff des Unwillkürlichen', indem er, bezogen auf die Generation der frühen Vorstellungs- und Ausdrucksformen, von einem dem Menschen unbewußten Vorgang spricht.186 Dabei versteht er das Unbewußte nicht als eine zeitlose und ubiquitäre Organisationsform des Bewußtseins oder als ein „ehemals Gewußtes", in dem der „Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des bewußten Seelenlebens" liegt,187 sondern als eine außerhalb des freien Willens liegende Kraft, die dem sekundären Phänomen der bewußten Vorstellung vorausgeht und durch den Begriffsbildungsprozeß schließlich überwunden wird. Die wesentliche Signatur des Unbewußten ist eine ähnliche wie die der frühen Sprache: eine Triebhaftigkeit, die freilich bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt und daher nicht im individuellen Erleben, sondern vielmehr in einer menschlichen Grundveranlagung situiert ist. Sein Wirkungsbereich sind die Vorstellungen, aus denen Mythos und Symbol entstehen, sowie alle Artikulationsformen, in denen sich diese Vorstellungen ausdrücken. Gegenüber dem Unwillkürlichen' zeichnet sich USENERs Begriff des Unbewußten also dadurch aus, daß dieses nicht situativ und individuell, sondern kollektiv und notwendig ist. Die erwünschten Folgen für seine Methode bleiben nicht aus: Wenn jede Artikulation zunächst unbewußt und nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten verlaufen ist, wenn das Unbewußt-Gesetzmäßige also die formgebende Kraft in allen Artikulationsbereichen war, dann muß es möglich sein, über die Gesetze der Sprachentwicklung die Gesetze des menschlichen Vorstellens zu erschließen und von dort aus auch die übrigen vom Unbewußten gesteuerten Prozesse wie den der Religionsentstehung zu rekonstruieren. Und das heißt konkret: Wenn die (gesetzmäßig verlaufene) Sprachentwicklung zeigt, daß dem begrifflichen Denken ein vorbegriffliches vorausgegangen ist, so bedeutet das, daß sich auch im religiösen Bereich das Denken von einem vorbegrifflichen zu einem

185 186 187

Ebd., 321. Ebd. C. G. CARUS, Psyche. Arnold, 1964, 3Iff.

Zur Entwicklungsgeschichte

der Seele (1846), hrsg. von F.

Zur Archäologie der menschlichen Psyche

45

begrifflichen entwickelt, daß also, wie es der Untertitel der Götternamen ankündigt, eine „religiöse Begriffsbildung" stattgefunden hat. Die Konstruktion des unbewußt erzeugten Vorstellens erlaubt es USENER, zwei Ansprüchen wissenschaftlicher Argumentation mit einem Schlag gerecht zu werden: dem Anspruch auf historische Plausibilität - der beschriebene Prozeß, hier: der religiösen Begriffsbildung, muß historisch nachweisbar sein; und dem von ihm selbst als oberstes Kriterium für Wissenschaftlichkeit lancierten Anspruch, zur Erkenntnis „allgemeiner für die Menschheit selbst gültiger Gesetze" vordringen zu können: Zum einen begreift U S E N E R die dem Sprachbild immanente Wortgeschichte als Reflex geistig-psychischer Veränderungen: „Die Schöpfung eines wortes ist reflex der seelischen erregung".188 Die Berufung auf das Unbewußte als einer konkurrenzlosen Instanz frühmenschlicher Artikulation verspricht die historische Fundamentierung der von USENER anvisierten Geschichte der ,Vorstellungen'; denn die einzelnen Sprachstufen als ein unbewußtes Erzeugnis zu verstehen, heißt, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Vorstellung und Ausdruck zu postulieren, ein Zusammenhang, der USENER zu dem Schluß fuhrt, daß mit der (sprach)historischen Transparenz der sprachlichen Schichten auch deren psychologische Grundlagen, die Vorstellungen, in ein historisches Licht rücken. Hat sich die Sprache unbewußt, d.h. ohne die Unwägbarkeiten willkürlicher Einflußnahme entwickelt, so muß es möglich sein, umgekehrt von dem Ergebnis dieser Entwicklung, nämlich der historisch nachweisbaren sprachlichen Äußerung, auf die Ausgangssituation, aus der heraus sie entstanden ist, d.h., die „seelische erregung" rückzuschließen. Indem deren Reflexe sichtbar werden, avancieren sie selbst zu einem greifbaren Gegenstand. Die Behauptung, daß die frühen Bildungsprozesse nicht auf Willkür zurückgehen, ist also die Grundlage dafür, daß sich die Vorstellungen anhand von Ausdrucksformen rekonstruieren lassen. Zum anderen erscheint die Konzeptualisierung des Unbewußten auch als geeignet, um die Gesetzmäßigkeit der geistigen Entwicklung zu entdecken. Wenn Sprache und Geist in ihrer Entwicklung korrelieren, so lassen sich die in der sprachlichen Entwicklung nachzuweisenden Gesetze in eine ebenfalls gesetzmäßige Entwicklungsgeschichte des Geistes überführen. Indem USENER das Unbewußte als eine von jeglichen äußeren Einflüssen freie Kraft, als ausschließlichen Mechanismus der Spracherzeugung bestimmt, kann er die Sprache als einen auf psychologischen Gesetzmäßigkeiten fußenden Objektivierungsprozeß konzeptualisieren. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der von USENER behaupteten Gesetzmäßigkeit der religiösen Vorstellungen, einem Begriff, der seine Schlüsselstellung vor allem durch die Gelenkfunktion bezieht, die die Vorstellungen vom Göttlichen zwischen der Wirkung des , unbewußten 188

USENER, Götternamen, 56f.

46

Hermann Usener

werdens' und der Entwicklung der religiösen Ausdrucksformen einnehmen. Wie alles menschliche Vorstellen wird auch das religiöse durch eine außerhalb des freien Willens liegende Kraft (das ,unbewußte werden') erzeugt und ist damit konstitutiv für die gesetzmäßige Entstehung von Religion. Daß die Rekonstruktion einer spezifischen Vergangenheit mit der Visualisierung allgemeingültiger Gesetze einhergehen kann, ist eine Merkwürdigkeit, die sich bei der Betrachtung eines weiteren Schlüsselbegriffs in USENERs Theorie auflöst. Eine der Pointen, die USENER für seine philologischen Kollegen bereit hielt, war der Wille, als Philologe zu einer „vorgeschichtlichen Geschichte" vorzudringen. Der offensichtlich paradoxe Begriff der „vorgeschichtlichen Geschichte" spielt mit einer willkürlich markierten (und als solcher zu begreifenden) Zäsur: Das aufgrund fehlender direkter Zeugnisse begrifflich in eine Nicht-Existenz verbannte „Vorgeschichtliche" soll durch den Nachweis indirekter Zeugnisse als „Geschichte" etabliert werden. Die Zäsursetzung als solche wird dadurch freilich nicht in Frage gestellt (oder gar zerstört), ihre zeitliche Position vielmehr unbegrenzt in die Vorzeit verschoben, der Zusammenhang von bezeugter und geschichtlicher Existenz letztlich affirmiert. Allerdings erfahrt die Qualität des Bezeugt-seins eine Neubestimmung, indem dieses nicht mehr ausschließlich mit dem Direkt-bezeugt-sein identifiziert wird. Der entscheidende Schachzug, mit dem das Vorgeschichtliche als Geschichte etabliert wird, gelingt mit dem Argument, daß sowohl die Kenntnis gesetzmäßiger Abläufe als auch die Existenz nur indirekt greifbarer Spuren direkten Zeugnissen als Beweis- und Rekonstruktionsorgane gleichzustellen sind. Daß der Begriff des Bezeugt-seins um diese beiden Dimensionen erweitert wird, führt zu einer Ausdehnung des als geschichtlich' begriffenen Raums: „Das Gebiet der Geschichte" schreibt USENER 1882, wird „sozusagen verdoppelt." 189 Was die „vorgeschichtliche Geschichte" als Forschungsfeld so attraktiv macht, ist also der Glaube, daß hier alles Spezifische und Individuelle, überhaupt alles dem Gesetz Widerstrebende noch nicht ausgeprägt ist, daß vielmehr „Sprache, Glaube und Sitte unmittelbare Äußerungen, gewissermassen unwillkürliche Schöpfungen des Volksgeistes" sind. Die Zäsur, die dabei zum Tragen kommt, scheidet zwischen einer allen Völkern gemeinsamen, unbewußt, und darum gesetzmäßig gesteuerten ersten (vorgeschichtlichen) Entwicklungsphase und einer zur Etablierung kultureller Identitäten und Differenzen führenden, bewußt, weil individuell gesteuerten zweiten (geschichtlichen) Entwicklungsphase:190 189

Vgl. USENER, Philologie und Geschichtswissenschaft, 12: „Es fielen die Schranken, innerhalb deren sich die bezeugte Geschichte bewegt, und der Blick durfte sich in die unbegrenzte Ferne einer vorgeschichtlichen Geschichte verlieren." H. USENER, Uber vergleichende Sitten- und Rechtsgeschichte, Vortrag, gehalten bei der 42. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner 1893 (Hessische Blätter für Volkskunde, 1. 3, 1902, 195-228), in: DERS., Vorträge und Aufsätze, 103-157. llOf. Zu Albrecht DlETERICHs Modifikation dieses Gedankens s. unten S. 105f.

Zur Archäologie der menschlichen Psyche

47

„Die Geschichte kennt im allgemeinen nur das Mannes- und Greisenalter der Völker. Die Zeit des Wachstums und der Entwicklung liegt jenseits der bezeugten Geschichte, wie der Einzelmensch seines ersten Wachstums sich nicht bewußt ist. Alles, was das Volk in sein geschichtliches Leben hineinbringt, Sprache, Glaube und Sitte, ist mit ihm gewachsen; und es ist fertig ausgestaltet, wenn das Volk zum Selbstbewußtsein gelangt und in das geschichtliche Leben eintritt."

Verdoppelt war mit dieser zweifachen Zäsursetzung nicht nur das Gebiet der Geschichte, sondern auch die Attraktivität, sich gerade mit diesem Stadium der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das, was die Individualität einer Gruppe ausmachen kann - angeführt werden hier Sprache, Sitte und Glaube sollte erst sehr viel später nach einer „langen Entwicklung [ihres] geistigen Lebens" eintreten. Im Bereich der von USENER behaupteten „vorgeschichtlichen Geschichte" scheint dagegen alles noch nach den Regeln des Unbewußten und von unberechenbaren Eingriffen vollkommen ungestört zu funktionieren - eine Vorgabe, die jedem auf unbekanntes Terrain sich vorwagenden Forscher als eine unübertreffliche Forschungsgrundlage erscheinen muß. Die Reduktion der Entwicklungsmechanismen auf eine überindividuelle Instanz wie das Unbewußte garantiert die Berechtigung, anhand konkreter geschichtlicher Wirklichkeit Gesetze zu statuieren - und umgekehrt: anhand von Gesetzmäßigkeiten' die Vergangenheit lückenlos aufzuschlüsseln. Andererseits scheint mit der etymologischen Sicherung sprachgeschichtlicher Spuren ein empirischer Zugriff geboten, der die „vorgeschichtliche Geschichte" zu einem historischen Ereignis macht und ihrer Darstellung eine Glaubwürdigkeit sichern kann, die ihr allein auf der Basis vemunftmäßig konjizierter Gesetze nie hätte zugesprochen werden können. Der Begriff der „vorgeschichtlichen Geschichte" gilt letztlich der Empfindung einer Ambivalenz. Die vom Unbewußten bestimmte Vergangenheit ist geschichtlich geworden, indem Zeugnisse, wenn auch indirekte, ihre Existenz dokumentieren. Sie ist vorgeschichtlich geblieben, indem dem Menschen eine geschichtliche Existenz erst als bewußt handelndes und denkendes Subjekt zugestanden wird. Der Begriff nährt sich also von der Koexistenz zweier Zäsuren, indem er einer alten (unbezeugt/ bezeugt) eine neue (unbewußt/ bewußt) entgegenhält - und den bezeichneten Gegenstand von beiden profitieren läßt. Wiewohl sie ein nach Gesetzen funktionierender und von individuellen Eingriffen freier Raum ist (die Prozesse vollziehen sich unbewußt), steht die „vorgeschichtliche Geschichte" doch auch dem auf Zeugnisse angewiesenen Empiriker zur Verfügung (sie ist in der Sprache archiviert und darum bezeugt). Diese Doppelexistenz des einerseits Unberührten und doch Redseligen ist die Grundlage, auf der sich USENER der sprachwissenschaftlichen Erforschung des vormythischen Vorstellens wissenschaftlich - aber, wie wir gesehen haben, nicht ohne spekulative Prämissen - nähert. Die Transposition von an der Sprache gewonnenen Beobachtungen in eine Theorie des menschlichen Geistes und deren Projektion auf den Bereich der religiösen Vorstellungen, wie sie ihm auf dieser Grundlage gelingen sollte, ist

48

Hermann Usener

das Kernstück in USENERs Argumentation. Sie gestattet es ihm als Philologen, die vorbegrifflich denkende Psyche im allgemeinen und die vorbegrifflichen religiösen Vorstellungen im besonderen auf einer empirischen Grundlage zu entschlüsseln. Mit der anti-metaphysischen Konzeptualisierung einer Geschichtlichkeit des Geistes opponiert USENER gegen das Postulat einer unableitbaren Urreligion, wie es die Romantik (etwa Friedrich SCHLEGEL oder Friedrich SCHELLING191) und die in dieser Tradition stehende Religionswissenschaft vertrat (Friedrich Max MÜLLER),192 zugleich aber auch gegen die Dominanz des HEGELschen Geschichtsbilds in der Klassischen Philologie.193 An Stelle einer Ideengeschichte schreibt USENER eine systematische b e schichte der religiösen Vorstellungen', die die strukturelle Andersheit der vorreligiösen Artikulationsformen betont und ihre einzelnen Phasen dem Schema einer gesetzmäßigen psychischen Entwicklung einpaßt.

Sprache und Religion. Ihr Verhältnis im Systematisierungsprozeß

Das von USENER beschriebene Verhältnis von Sprache und Religion ist ein kompliziertes. Betrachtet man die Implikationen seines Verfahrens sowie die expliziten Äußerungen über dieses Verhältnis, so wird man feststellen, daß es sich um eine dreifache Definition handelt: Identität, Analogie und Abhängigkeit. Zum einen drückt sich Religion (außer natürlich in Bild und Handlung) in der mythischen Sprache aus. Sie ist damit ein Teil der Sprache, und „für den theil kann es kein anderes gesetz geben als für das ganze. Nur eine solche lehre von der religiösen begriffsbildung kann anspruch auf richtigkeit erheben, die sich in voller Übereinstimmung mit den allgemeinen gesetzen des begriffs- und Wortschatzes befindet und dem allgemeinen sich als eine besondere anwendung ungezwungen einordnet."194

Sprache und Religion sind also miteinander verwoben. Die Religion ist ein Teil der Sprache, die Sprache ein Teil der Religion. Zum anderen verläuft die Herausbildung religiöser Begriffe in Analogie zu derjenigen der Sprache, nämlich als ein von unbewußten Mechanismen gesteuerter mehrstufiger Prozeß. In den religiösen Vorstellungen geht dem Sondergott der auf die einzelne Erscheinung bezogene Augenblicksgott voraus so wie in der Sprachgeschichte dem Begriff eine Vielzahl einzelner auf die spezifische Handlung bezogener Worte. Vor dem Gattungsbegriff steht also die Bezeich191 192 193 194

Vgl. Chr. JAMME, „ Gott an hat ein Gewand", 147. Vgl. H. G. KIPPENBERG, Die Entdeckung der Religionsgeschichte, Vgl. dazu USENER, Mythologie, 59f. USENER, Götternamen, 317.

61f.

Sprache und Religion

49

nung von Individuen. Wie Jacob und Wilhelm GRIMM in Dorothea VIEHMANN, so fand USENER in dem Bonner Forstmeister Friedrich SPRENGEL schließlich auch einen Gewährsmann, der eine Beobachtung aus der deutschen Jägersprache beitrug und USENER über die grundsätzliche Tatsache eines solchen Sonderungsprozesses belehren konnte: „Für den jäger hat der hase nicht ohren sondern löffei, das wildschwein gehör, das edelwild luser oder lauscher, schüsseln, gehör, der hund behäng, in einzelnen racen läppen, aber der spitz ohren. Nicht äugen sondern lichter, seher oder kücker hat der hase, gesicht der hund; lichter, Spiegel, leuchter das edelwild. Statt des mauls eignet den sauen gebrech (gebräch), auch frass, gefräss, dem hochwild und dem hasen geäse, dem hund gebiss und fange .,."195

Daß USENER von der Analogie zwischen Sprache und Religion zutiefst überzeugt ist, hat ihm außer Lob aber auch Kritik eingebracht. Während Ernst CASSIRER196 mit dem Konzept der „religiösen Begriffsbildung" ein philosophisch unlösbares Problem überwunden sah, weil es dadurch möglich wurde, auf empirischer Grundlage eine Geschichte des vorbegrifflichen Denkens zu schreiben,197 haben sich vor allem Ulrich von WlLAMOWITZ-MOELLENDORFF und Walter F. OTTO gegen den Zusammenhang von Religion und Begriff gewehrt.198 Bei OTTO ging der Abscheu gegenüber dieser Analogie so weit, daß er ihr den tiefen Glauben an eine mythisch-religiöse Offenbarung entgegensetzte.199 WILAMOWITZ brachte seine Kritik auf die schlichte Formel: „Zu einem Begriff betet kein Mensch", womit er tatsächlich ein gravierendes Problem ansprach.200 Das Verhältnis von Sprache und Religion bestimmt USENER - drittens als eines der Abhängigkeit. So hält er die Entwicklung und Systematisierung der Götternamen für eine Folge des sprachlichen „Fortpflanzungstriebs". Das zeigte bereits seine Untersuchung der Patronymbildung. Als ein weiteres

195 I% 197 198

199 200

Ebd., 318-322. 318. Zu CASSIRERs Usener-Rezeption s. unten S. 59-65. S. dazu unten S. 60f. Beide sind, formal betrachtet, USENERs Schüler. Zum schwierigen Verhältnis zwischen USENER und WILAMOWITZ s. oben S. 7, Anm. 3. Zu OTTOs intellektueller Biographie und zu seiner Abkehr von USENER vgl. unten S. 185fT., 220-225. S. dazu ausführlich unten S. 200ff. U. von WILAMOWITZ, Der Glaube der Hellenen (Berlin 1931), Bd. 1, 2. Aufl., Darmstadt 1955, 11: „[Usener] späht in allen Zeiten, auch den christlichen, nach Überlebsen primitiver Denkart und hält sich für berechtigt, alle irgendwie ähnlichen Erscheinungen nach den Prinzipien auszudeuten, die er in der Vorrede seiner Götternamen angibt, religiöse Begriffsbildung, Personifikation, Metapher; ganz zuletzt kommt erst der Kultus. Da liegt alles im Bereiche des Verstandes, der immer klüger ist als der Mensch, der in seinem Herzen, oft auch mit seinen Augen, eines Gottes gewahr wird, weil er seine übermächtig wirkende Gegenwart fühlt. Hat denn Faust Unrecht, wenn er sagt,Gefühl ist alles'? Zu einem Begriffe betet kein Mensch. Phantasie schafft die Gestalten der Götter; erst wenn sie da sind, besser wenn sie schwinden, kommt der Verstand und sucht Begriffe hinter ihnen". Zu USENERs Bestimmungen des Verhältnisses von Ritus und Mythos bzw. Begriffsbildung s. unten S. 83-85.

50

Hermann Usener

Beispiel sei das Modell genannt, das chen Gottheiten bereit hält:

USENER

für die Entstehung der weibli-

„Wir stellen den satz auf: mit ausnahme von zwei, meinetwegen drei alten göttinnen, deren begriff unwillkürlich die wähl des geschlechts bedingte [sc. Γαία und Ήώς], haben die Indogermanen ursprünglich nur männliche götter geschaffen; der schöpferische trieb der spräche bildet aus diesen adjektivisch beweglichen Worten femmina heraus, die dann selbständiges leben gewinnen und die masculina zurückdrängen können. Die weibliche gottheit wird thatsächlich, wie in der Genesis Eva aus der rippe des Adam geschaffen." 21 "

Die Namen der weiblichen Gottheiten entstehen also aus „sprachlichen Wucherungen" maskuliner Wortbildungen; die mythologischen Namensbildungen aus der Triebkraft der Sprache. Den umgekehrten Prozeß, die auf die Systematisierung der Götterwelt hinwirkende Systematisierung der Sprache, macht USENER an den Heroennamen fest: „planlose ansammlung gleichbedeutender ausdrücke duldet der sprachgeist auf die dauer nicht, er beseitigt das überschüssige und müssige oder er sucht es besonders zu verwerthen."202 Nach der vielfachen Entstehung von Götternamen seien Parallelbildungen systematisch entfernt und eine der beiden Paarhälften in die Heroensage oder einen Lokalkult verbannt worden. So habe die Gattin des Zeus (Δίος), Δία, - von Hera verdrängt - nur noch im lokalen Kultus von Phlius und Sekyon Verwendung gefunden, und Τρίτων sei auf eben diese Weise zu einem untergeordneten Meergott herabgesunken, während „die weibliche Gestalt als Athene Τριτώνη Τρινωνία Τριντωνίς in hoher geltung blieb."203 Sprache also prägt die Religion; und nicht nur ihre Triebkraft, auch das Bedürfnis nach Systematik wirkt sich auf den Begriffsbildungsprozeß entscheidend aus: „[Unwillkürlich greift nun die gottesvorstellung nach allen Seiten über und zieht die verwandten begriffe in ihren bereich. Alles was als besondere anwendung des im gottesnamen empfundenen begriffs erscheint, wird dem letzteren untergeordnet: dem alten .Abwehrer' der gott der den dämon der krankheit veijagt, der göttliche ,arzt' ... der göttin der himmlischen hochzeit, ind. Surya,.gr. "Ηρα, die göttin der jochung Ζυγία, der Vollendung Τελεία, der ehe Γαμηλία, der wehen Είλείθυια usw. Unvermerkt und unbewusst vollzieht sich so der fortschritt vom artbegriff zum gattungsbegriff." 204

Das letztgenannte Beispiel wirft nun auch ein Licht darauf, warum, wie schon das Inhaltsverzeichnis zeigt, USENER auch Lokaldämonen und Heroen unter die Götternamen faßt und ihnen so eine gewichtige Bedeutung beimißt: Sie alle, so lautet seine These, waren ursprünglich Götter neben den anderen, Parallelerscheinungen, die später in die Lokal- oder Heroensage verdrängt wurden, aber als Zeugen des frühen religiösen Denkens Aufschluß geben über Ursprung und Entwicklung der religiösen Vorstellungen. 205 Die Andacht zum Unbedeutenden bezieht von hier aus ihren Sinn. 20

'

202 203 204 205

USENER, Götternamen,

Ebd., 28. Ebd., 35f. Ebd., 331. Vgl. ebd., 247-273.

32.

Sprache und Religion

51

Die fortschreitende Systematisierung und Verdichtung einer ans Einzelne gebundenen Vielfalt zu einem mythologischen System, das mit seinen wichtigen und weniger wichtigen Göttern Hierarchien und komplexe Verflechtungen kennt, ist eine Grundidee von USENERs Begriffsbildungstheorie. Als eine Perspektive, die Religionsentstehung ins Visier zu nehmen, wurde dieser Gedanke - um diesen Aspekt der Rezeptionsgeschichte wenigstens zu erwähnen von Max WEBER (1864-1920) in seiner 1921/1922 aus dem Nachlaß herausgegebenen Schrift Religiöse Gemeinschaften: Die Entstehung der Religionen aufgegriffen und in einen religionssoziologischen Kontext gestellt.206 WEBER, der sich im übrigen auch mit Friedrich Max MÜLLER und Edward B. TYLOR intensiv auseinandergesetzt hatte207 und im Heidelberger ,Eranos-Kreis' USENERs Schüler Albrecht DIETERICH begegnet war,208 zitiert USENER in diesem Text dreimal. Das erste Mal bezieht er sich auf die Augenblicksgötter als Konzeption einer „über den Verlauf eines einzelnen Vorgangs verfügenden Macht" 209 - womit er freilich USENERs gleichnamigen Begriff mit Edward B. TYLORs Animismusthese überblendet und als Bezeichnung eines beseelten Wesens mißversteht. Und ohne daß WEBER von den Bezeichnungen der „Sondergötter" und „persönlichen Götter" Gebrach machte, tauchen auch diese wenige Sätze später auf, nämlich als „Götter ohne alle Eigennamen, benannt nur nach dem Vorgang, über den sie Gewalt haben", und deren B e zeichnung erst allmählich, wenn sie sprachlich nicht mehr verstanden wird, den Charakter eines Eigennamens annimmt". Allerdings setzt WEBER diese Formen in kein zeitliches Verhältnis - im Gegenteil: Er stellt dem Vorgang der Personifikation den der „Verunpersönlichung" zur Seite und registriert zudem eine Vielzahl andere Konzeptionen göttlicher Wesen, die zu nennen hier jedoch nicht der Ort ist. Die beiden anderen Male fallt tatsächlich die Bezeichnung des Sondergottes, einmal im Zusammenhang der römischen „dii certi" (in welchem USENER den Begriff auch entwickelt hatte), dann schließlich im Sinne einer „sakralen Grundlage" einer „sakral geweihten Konföderation von (wirklichen oder fiktiven) Sippen".210 Der Sondergott wird aus dieser Perspektive als ein „Konföderationsgott", also als „Sondergott des politischen Verbandes", und nicht mehr, wie noch bei USENER, als die einzelne Phase einer strukturell allgemein gültigen Entwicklung der Vorstellungsformen verstanden. Das in unserem Zusammenhang weitaus Interessantere aber ist, wie

207 208

210

M. WEBER, Religiöse Gemeinschaften: Die Entstehung der Religionen (entstanden 1913), in: DERS., Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften, hrsg. von H. G. Kippenberg in Zusammenarbeit mit P. Schilm unter Mitwirkung von J. Niemeier, Tübingen 2001 (= Max Weber, Gesamtausgabe, hrsg. von H. Baier u.a., Abt. 1: Schriften und Reden, Bd. 22.2), 121-157. Vgl. H. G. KIPPENBERG, Einleitung zu M. WEBER, Religiöse Gemeinschaften, 57. Vgl. ebd., 39. M. WEBER, Religiöse Gemeinschaften, 126. Ebd., 142.

52

Hermann Usener

bereits angesprochen, daß WEBER gleichwohl einen Systematisierungsprozeß beschreibt, der dann doch wieder die von USENER auf Sprache und Mythos bezogene strukturelle Herausbildung eines ordnenden Systems unmittelbar durchklingen läßt. Nur ist die Entwicklung, wie die Überformung von USENERs „Sondergott" als „Konföderationsgott" zeigt, eben keine sprachlich, sondern eine politisch bzw. wirtschaftspolitisch bedingte und daher auch keine allgemein verbindliche, universelle, sondern im Gegenteil von den spezifischen Ausprägungen der Wirtschaftskultur unmittelbar betroffene. Die Götter erscheinen darin als ein zunächst „ordnungsloses Durcheinander zufällig durch Kultus erhaltener Zufallsschöpfungen",211 die im Zuge der Vergesellschaftung sowie einer zunehmend sachlichen Spezialisierung zu Spezialgöttern werden und etwa rechtliche oder ökonomische Beziehungen determinieren können: „Kein Gemeinschaftshandeln, das nicht seinen Spezialgott hätte und auch, wenn die Vergesellschaftung dauernd verbürgt sein soll, seiner nicht bedürfte."212 Wo ein solches besteht, in Stadtstaaten, politischen Verbänden oder beruflichen Vereinigungen, gibt es daher Lokalgottheiten und Spezialgötter.213 Schließlich können einige von ihnen „innerhalb des Pantheons den Primat erringen".214 Dieses Hervortreten bestimmter Götter aus der Vielfalt spezifischer Sondergötter, das USENER eher unspezifisch auf ihre Wichtigkeit zurückführte215 und sprachlich mit dem Verlust der semantischen Transparenz in Verbindung brachte, verortet WEBER dabei im Kontext von Ökonomie und Religion - „Es kann dabei auf die für die Wirtschaft wichtigen Naturobjekte ankommen" - , wobei insofern auch ein situatives Moment hereinspielt, als der zu einer höheren Bedeutung gelangende Gott ,je nach der überwiegenden ökonomischen Bedeutung bestimmter einzelner Ereignisse" zu einem solchen wird.216 Mit der religionssoziologischen Betrachtung kommt also ein Aspekt ins Spiel, den USENER noch völlig übergangen hatte (eine religionssoziologisch ausgerichtete Religionswissenschaft war seinerzeit eher in der französischen Tradition betrieben worden, etwa bei FUSTEL DE COULANGES oder Emile DURKHEIM) und der seiner auf gesetzmäßig-unbewußte Prozesse fixierten Vorstellung einer allgemein verbindlichen Entwicklung auch zutiefst widersprochen hätte, namentlich die Klassenbedingtheit der Religionen, ihre Abhängigkeit von der spezifischen Wirtschaftsgesinnung und schließlich die explizite Unterscheidung zwischen römischer und griechischer Religion.217 211 212 213 2,4

216 2,7

Ebd., 134. Ebd., 140. Ebd., 146 f. Ebd., 138. USENER, Götternamen, 303: ,,[I]n der ursprünglichen begriffsbildung selbst liegt bereits der trieb, der einzelne götter als besonders wichtige und darum auch mächtige über andere, deren begriffskreis beschränkter oder unbedeutender ist, sich emporheben lässt." M. WEBER, Religiöse Gemeinschaften, 138. Ebd., 135f.

Von der Urangst zum Mythos

53

WEBERs auf Differenzen angelegte Betrachtung der Religion fuhrt (wie eben bereits erwähnt) zu einer wesentlich aspektreicheren Beurteilung der religiösen Formen. Hinsichtlich der Unterschiede zwischen der griechischen und römischen Religion sind seine Ergebnisse für die Haltbarkeit von USENERs These sogar fatal: Die di certi, die, wie weiter unten noch näher zu besprechen sein wird, zum Ausgangs- und Stützpunkt für das mit dem Anspruch auf universelle Gültigkeit entworfene Modell der Sondergötter werden,218 sind nach WEBERs Analyse die Signatur der spezifisch römischen Religion, die „religio" blieb, „d.h., einerlei ob dieses Wort etymologisch von religare oder von relegare abzuleiten ist: Gebundenheit an die erprobte kultische Formel und Rücksichtnahme' auf die überall im Spiel befindlichen numina aller Art". 219 Klare Abgrenzung der Kompetenzen, das Unpersönliche und Sachlich-Rationale - all das hat sich in der nationalen Bauern- und Patrimonialherrenreligon, anders als in der interlokalen Ritterkultur des homerischen Zeitalters, durchsetzen können. Die Indigitamentengötter, also die begrifflich durchsichtigen, mit sehr spezifischen Kompetenzen begabten di certi, sind, kurzum, eine Besonderheit des Römertums und nicht, wie das für USENERs These zentral ist, Teil eines mit Notwendigkeit sich vollziehenden Prozesses, dessen Notwendigkeit sich durch die Triebhaftigkeit der Sprache, die Analogie von Religion und Sprache oder eine in der menschlichen Psyche situierte, alle Ausdrucksbereiche gleichermaßen betreffende, unbewußte Vorstellung begründen ließe.

Von der Urangst zum Mythos. Distanz - Begriff- Narrativität

Urangst und Artikulation In seinem 1979 veröffentlichten Werk Arbeit am Mythos, das auch ein Kapitel über das Einbrechen des Namens in das Chaos des Unbenannten enthält, schreibt Hans BLUMENBERG dem Vorgang der Benennung den Sinn zu, „das Ungeteilte aufzuteilen und einzuteilen, das Ungriffige greifbar, obwohl noch nicht begreifbar zu machen."220 Nicht das Unerkannte, sondern das Unbenannte sei das Furchterregende, Angsteinflößende, denn „als Namenloses kann es nicht beschworen oder angerufen oder magisch angegriffen werden":221 218 219 220 221

Zu den di certi s. unten S. 70. M. WEBER, Religiöse Gemeinschaften, 135. H. BLUMENBERG, Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 1979, 49. Ebd., 40. Das folgende Zitat: ebd., 41.

54

Hermann Usener

„Alles Weltvertrauen fängt an mit den Namen, zu denen sich Geschichten erzählen lassen. Dieser Sachverhalt steckt in der biblischen Frühgeschichte von der paradiesischen Namengebung. Er steckt auch in dem aller Magie zugrunde liegenden Glauben, wie er noch die Anfänge von Wissenschaft bestimmt, die treffende Benennung der Dinge werde die Feindschaft zwischen ihnen und dem Menschen aufheben zu reiner Dienstbarkeit. Der Schrecken, der zur Sprache zurückgefunden hat, ist schon ausgestanden."

Der Aspekt der Furcht, die in der Benennung des Unendlichen, nicht Greifbaren und Bedrohlichen ins Wort gebannt wird und dadurch ihren Schrecken verliert, ist für USENER ein wesentliches Moment der Sprach- und Religionsentstehung: „In der vorzeit, in welche uns die bildung religiöser Vorstellungen zurückführt, vermag der mensch keinen schritt über den frieden seiner hütte hinaus zu thun ohne beängstigende oder räthselhafte Wahrnehmungen, die ihm den gedanken an ein höheres wesen, eine gottheit aufdrängen."222 USENER, den BLUMENBERG in diesem Zusammenhang übrigens als einen religionswissenschaftlichen .Gewährsmann' anführt,223 hatte die Benennung in das Spannungsfeld der Erfahrung von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Chaos und Ordnung, Furcht und objektivierender Distanzierung gestellt.224 Eine „grundfrage der mythologie und eine mindestens wichtige der allgemeinen religionsgeschichte" sei die Frage „in welcher weise eindrücke des übersinnlichen und unendlichen in die seele fallen konnten, dass Vorstellungen und benennungen sich erzeugten."225 Die Vorstellung von der Mythosgenese als einer Bewältigungs- und Distanzierungsstragetie - Not, Furcht und Angst habe den Menschen dazu gedrängt, im sprachlichen Ausdruck das Beängstigende der Natur zu objektivieren226 gehört freilich zu den Topoi der mythentheoretischen Auseinandersetzungen mit dem Ursprung und taucht schon 1702 in R. J. TOURNEMINEs Projet d'un ouvrage sur l'origine des fables auf.227 In verschiedenen Kontexten findet sich der Zusammenhang von Religion und Urangst denn auch bei Giovanni

222 223

224

226

USENER, Götternamen, 254. H. BLUMENBERG, Arbeit am Mythos, 41, Anm. 1: „Das ist etwas der Religionswissenschaft immer Naheliegendes, und Useners Verdienst war gerade die Verknüpfimg der ursprünglichen Erfahrung mit derNamensfindung." Vgl. vor allem Götternamen, 276. Nicht dagegen geht USENER, wie von W. SCHMIDTBlGGEMANN, Philosophia perennis, Frankfurt a.M. 1998, 19, behauptet, von einer „Furcht und Not der OfFenbarungserfahrung" aus, die es notwendig mache, „das namenlose Entsetzen angesichts der Offenbarung zu benennen." USENER, Götternamen, 5. Freilich versucht USENER weder, „das verhältniss des endlichen zum unendlichen festzustellen noch den ursprung des glaubens an gott zu schauen" (ebd., 73). Vgl. H. STEINTHAL, Ursprung der Sprache, Berlin 1877, 12. Gleichwohl ist die ,Not' unterschiedlich konnotiert. CONDILLAC etwa sieht sie in physischen, ROUSSEAU in moralischen, HERDER in metaphysisch-kognitiven Bedürfnissen, s. dazu J. TRABANT, Traditionen Humboldts, 30. R. J. TOURNEMINE, Projet d'un ouvrage sur l'origine des fables, Mémoires pour l'histoire des sciences et des beaux arts Nov./ Dez. 1702, 84ff.

Von der Urangst zum Mythos

55

Battista VICO,228 David HUME,229 Christian Gottlob HEYNE,230 und Johann Gottfried HERDER,231 um dann im 19. - etwa bei Eduard MEYER oder in James George FRAZERS The Golden Bough232 - bis hinein ins 20. Jahrhundert, bei A b y WARBURG, M a x HORKHEIMER/ Theodor W . ADORNO und H a n s

BLUMENBERG, weiterhin präsent zu bleiben.233 Das Moment der Urangst, das bis dahin recht unspezifisch als ein Staunen angesichts der Naturvorgänge und als das Bedürfnis nach Erklärung (HEYNE) oder umgekehrt als die Erschütterung durch „äußerst fiirchteinflößende Religionen" (Vico) gefaßt wurde, diskutiert USENER unter drei Aspekten. Zum einen erwächst das Bedrohliche aus dem Mangel an einem ,Dazwischen'. Die Erfahrung ist eine unmittelbare, der sich der Mensch nicht entziehen kann. Hinzu kommt, daß vor Beginn der Begriffsbildung eine Konfrontation von Ich und Nicht-Ich steht, ohne daß das Unendliche und Übersinnliche begriffen und ins Endliche, Begrenzte gefaßt werden kann.234

229

230

231

232

233

234

G. B. VICO, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (1725), I, 18: Bd. 1, 58 (vgl. dazu Chr. JAMME, „Gott an hat ein Gewand", 88f.) und bes. IV, 1: Bd. 2, 493: „entsetzliche Furcht vor den Göttern, die [die ältesten Weisen] sich selbst erfunden hatten". D. HUME, Die Naturgeschichte der Religion (Orig.: The Natural History of Religion, 1757), übersetzt und hrsg. von L. Kreimendahl, Hamburg 1984, Zweiter Abschnitt: Ursprung des Polytheismus, 8: „Wir können daher schließen, daß bei allen Völkern, die den Polytheismus angenommen hatten, die ersten religiösen Vorstellungen nicht von der Betrachtung der Werke der Natur herrührten, sondern von der Sorge um das tägliche Leben und von den unaufhörlichen Hoffnungen und Ängsten, die den menschlichen Geist bewegen." S. ferner ebd., Dreizehnter Abschnitt: Niedere Auffassungen der göttlichen Natur in den volkstümlichen Religionen beider Arten, 58-64. Chr. G. HEYNE, Quaestio de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis, vgl. dazu A. HORSTMANN, Mythologie und Altertumswissenschaft, 74. J. G. HERDER, Journal meiner Reise im Jahre 1769, in: DERS., Sämtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, Bd. 4, Berlin 1878, 356f. über die Erfahrung der Not während der Seereise: „In allem liegen die Data, die erste Mythologische Zeit zu erklären. Da man unkundig der Natur auf Zeichen hörte, und hören mußte", vgl. dazu H. GOCKEL, Mythos und Poesie, 47f., 124f. Zu Eduard MEYER s. R. SCHLESIER, Religion als Gegenbild. Zu Eduard Meyers Geschichtstheorie, in: DIES., Kulte, Mythen und Gelehrte, 65-122. 105. J. FRAZER, The Golden Bough (1890), 3. Aufl., London 1911-1936, 12 Bde., dt. Übersetzung der gekürzten Fassung London 1922: Hamburg 1989, 50. WARBURG, Schlangenritual, Berlin 1988, s. dazu unten S. 177ff.; M. HORKHEIMER/ Th. W. ADORNO, Dialektik der Aufklärung (1944), Frankfurt a.M. 1971; H. BLUMENBERG, Arbeit am Mythos, 10; DERS., Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1989, 24ff.; vgl. dazu den Diskussionsbeitrag von O. MARQUARD, Erste Diskussion: Mythos und Dogma, in: Terror und Spiel, hrsg. von M. Fuhrmann, 528 („Die Mythen wie ihre Rezeption gehören zur Distanzierung ... Am Anfang war die Angst"). Zur Erklärung der Religion aus der Angst s. auch den wissenschaftshistorischen Artikel von R. SCHLESIER, Angst, Handbuch der religionswissenschaftlichen Grundbegriffe, hrsg. v. H. Cancik/ B. Gladikow/ M. Laubscher, Bd. 1, Stuttgart/ Berlin/ Köln 1988, 455-471; Chr. JAMME, „ Gott an hat ein Gewand", 88-94. USENERs Konzept der Sprachentstehung als eines Versuchs, das Unendliche im Endlichen erfahrbar zu machen, steht möglicherweise in der Tradition F. M. MÜLLERs, der

56

Hermann Usener

„Wenn die augenblickliche empfindung dem dinge vor uns, das uns die unmittelbare nähe einer gottheit zu bewusstsein bringt, dem zustand in dem wir uns befinden, der kraftwirkung die uns überrascht, den werth und das vermögen einer gottheit zumisst, dann ist der augenblicksgott empfunden und geschaffen. In voller unmittelbarkeit wird die einzelne erscheinung vergöttlicht, ohne dass ein auch noch so begrenzter gattungsbegriff irgendwie hereinspielte: das éine ding, das du vor dir siehst, das selbst und nichts weiter ist der gott." 235

Die Leistung des Benennens besteht also auch in einer Herauslösung des Einzelnen, die die Anschauung auf einen einzigen Punkt zusammendrängt. Der dritte Aspekt ist das Fehlen einer Zeit- und Raumvorstellung. In der ersten Phase der Begriffsbildung ist der gesamte Inhalt des Bewußtseins religiös - alle möglichen Gegenstände: Berg und Fels, Quell, Fluß und Meer, Bäume und Kräuter, Wein, Reichtum und Zufall,236 werden spontan (im Augenblick) zu göttlichem Rang erhoben;237 die zeitliche und räumliche Ausdeh-

235 236 237

seinerseits durch den HEGEL-Schiiler Christian Hermann WEISSE (1801-1866) beeinflußt war („Es ist die unendliche Begrenztheit, die allein das Unendliche möglich macht; jedes Endliche spiegelt das Unendliche in sich." [F. M. MÜLLER über Chr. H. WEISSE, in: DERS., Notes on the course on metaphysics, British Library, MS Germ. d. 23, S. 66], vgl. L. P. van den BOSCH, Friedrich Max Müller, 24). WEISSE bezieht sich auf den Unendlichkeitsbegriff von F. SCHLEIERMACHER, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), Göttingen 1906, 24-133. Vgl. ferner Chr. JAMME, Mythosauffassung des jungen Hegel, in: Früher Idealismus und Frühromantik, hrsg. von W. Jaeschke und H. Holzhey, Hamburg 1990, 136-158. USENER, Götternamen, 280. USENER, Mythologie, 42-47. Vgl. USENER, Götternamen, 291 und ebd., V: „alles was in dieser zeit das gemüth des volkes erregt, die ganze aussenwelt, die ersten regungen des bewusstseins, selbst die fortschritte der äusseren cultur, wie entdeckung des feuers und anfinge des ackerbaus, das alles lebt als niederschlag im mythenschatze des volkes fort; denn jedes neue und unbekannte tritt zunächst als ein göttliches wesen an jene menschen heran." (Eine ähnliche Ansicht vertritt später A. DIETERICH, s. oben S. 105, Anm. 37). Als Inhalt des frühen Bewußtseins versteht USENER alle (inneren wie äußeren) Erscheinungen. Die Identifizierung von Götternamen und Begriffen (vgl. auch USENER, Mythologie, 43: „Man darf sagen, daß der ursprüngliche Mensch nur religiös apperzipiert") basiert auf einer seit G. B. VlCOs Prinzipien einer neuen Wissenschaft (s. etwa Bd. 1, 8 f f . ) und später dann besonders von Numa-Denis FUSTEL DE COULANGES, Der antike Staat (fiz. Orig.: La Cité antique, 1864, dt. Übers.: München 1988), formulierten Annahme, daß es eine Epoche in der Entwicklung des Denkverhaltens gegeben habe, innerhalb derer nicht nur die Organisation aller Lebensbereiche, sondern die gesamte Wirklichkeitswahrnehmung religiös gewesen sei (vgl. dazu die Rezension zur Cité antique von F. LIEBRECHT, Göttinger Gel. Anz. 1865, 841-880). Allerdings ist die Cité antique erstmalig 1907 ins Dt. übertragen worden und war auch dann nicht viel gelesen worden, vgl. L. WENGER, Deutsche Literaturzeitung 1907, Sp. 1733-1737. 1797-1801. Daß sich USENER direkt auf FUSTEL DE COULANGES bezog, läßt sich nicht nachweisen. Als bemerkenswert erscheint jedoch die Tatsache, daß USENER seine Ansicht von einer ursprünglich universell religiösen Lebens- und Denkweise gerade anhand des Strafrechts durchgespielt (Italische Volksjustiz [RhM 56, 1901, 1-18], in: DERS., Kleine Schriften, Bd. 4, 356-382) und diesbezüglich die Ansicht vertreten hat, daß alles Strafrecht im religiösen Brauch seinen Ursprung habe - eine Behauptung, die ganz besonders an die von FUSTEL DE COULANGES entworfene These erinnert, jegliche politische und rechtliche Organisation habe anfangs auf religiöser Grundlage gefußt. Zu FUSTEL DE COULANGES s. A. MOMIGLIANO, Der antike Staat des Fustel de Coulanges, in:

Von der Urangst zum Mythos

57

nung des Göttlichen aber bleibt auf den Moment seiner tatsächlichen Erscheinung reduziert. Das Erleben bezieht sich also ausschließlich auf das Hier und Jetzt: Was wieder auftauchte, etwa die Sonne, der Regen, der Blitz, das Licht, erschien dem frühen Menschen als ein neu entstehender, sich im Augenblick erzeugender Gott. Dieser Augenblicksgott, der dem Menschen als eine unter Umständen bedrohliche oder doch zumindest unfaßbare (in- oder umweltliche) Erscheinung begegnet, mit dieser identifiziert und schließlich in der Benennung zu einem faßbaren Objekt wird - was im übrigen auch eine magische Komponente hat - , stellt zugleich die Voraussetzung für die Überwindung der Furcht dar, indem er nämlich durch das Benannt-werden in ein Distanzverhältnis gerückt wird. Gleichwohl bleibt die aus dem spontanen Eindruck sich generierende Augenblicksbenennung nur das „bruchstück einer benennung"; sie umfaßt das sinnlich Wahrgenommene, nicht aber die Idee eines Dings oder eines Prozesses, wie sie dann erst in der Phase der Sondergötter vorstellbar wird, dann nämlich, wenn der Gott nicht mehr als die Erscheinung selbst, sondern als dessen bleibende Ursache gefaßt werden kann. Ihre sprachliche Entsprechung hat die erste Vorstellungsphase innerhalb des Begriffsbildungsprozesses in den eingangs beschriebenen spontanen „wortwucherungen", Parallelbildungen und Synonymen, die USENER auf den frühen „sprachbildungstrieb" zurückgeführt und in ihrer Wirksamkeit in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Qualität der Vorstellung gestellt hatte. Um die Ubiquität dieser Denkform auch für andere Ausdrucksbereiche zu beweisen, führt U S E N E R nun neben den wortgeschichtlichen Erscheinungen auch Beispiele aus dem Bereich des rituellen Handelns an, die er mit der ursprünglichen Vorstellung eines nur momentan gegenwärtigen göttlichen Wesens in Verbindung bringt. Der rein historische Aspekt der religiösen Begriffsbildung erfahrt vor diesem Hintergrund eine entscheidende Modifikation. Denn in der Darstellung der Augenblicksgötter deutet sich an, was sich später im Zusammenhang mit den litauischen Sondergöttern des 16. Jahrhunderts noch präziser zeigen läßt,238 daß USENER nämlich tatsächlich die an der Antike festgemachte Historie der Begriffsbildung als eine universell gültige, weder an Zeit noch Ort gebundene (freilich in Bezug auf den einzelnen Begriff jeweils abschließbare) Entwicklungshistorie versteht, deren Beginn jederzeit und überall einsetzen kann: Dort, wo Religion entsteht - heißt das - , beginnt sie mit der Vorstellung von Augenblicks- bzw. Sondergöttern, um erst dann zu einer Vorstellung von persönlichen Göttern zu gelangen. Neben den Gedanken der Persistenz ursprünglicher Ausdrucksformen - dahin gehört etwa die von U S E N E R angeführte Verehrung eines 405 v. Chr. bei Aigospotamoi

238

DERS., Wege in die alte Welt, 271-293. Zu USENERs Plänen, den Gedanken der sakralen Grundlage sozialer Organisationen umfassend auszuarbeiten s. A. DIETERICH, Hermann Usener, V. Vgl. unten S. 67f.

58

Hennann Usener

eingeschlagenen Meteoriten, von der noch Plutarch zu berichten wußte239 tritt die Überzeugung, daß jede Entstehung eines neuen (religiösen) Begriffs grundsätzlich das beschriebene Entwicklungsschema durchläuft. Der Ritus, den USENER zur Illustration der unter dem Stichwort der Augenblicksgötter firmierenden Vorstellungsform heranzieht, war bereits von Jacob GRIMM und Wilhelm MANNHARDT240 im Zusammenhang mit den Korndämonen ins Visier genommen worden und dadurch zu einiger Berühmtheit gelangt: Es handelt sich um den aus dem Ackerbau stammenden Ritus, die letzte Garbe zu einem heiligen Idol zu gestalten, wie er nicht nur in Griechenland,241 sondern selbst im Preußen des 13. Jahrhunderts242 noch nachweisbar ist. .Allenthalben zeigen sich deutliche reste der Vorstellung, dass in jedem fruchtbestandenen felde eine segensgottheit haust, die unter den verschiedensten gestalten, bald als menschliches wesen bald als thier gedacht wird. Es bedarf einer versöhnenden handlung, wenn man die frucht zu schneiden beginnt. Mit jedem schwad, das den streichen der sichel oder sense fällt, weicht der geist weiter zurück, bis ihm nur die letzten ähren als Zufluchtsort verbleiben. Die letzte garbe, in welcher der geist gefangen und eingebunden ist, wird daher Uberall heilig gehalten. Vielfach wird ihr, der ortsüblichen Vorstellung gemäss, eine besondere gestalt gegeben ... Nun ist aber selbstverständlich, dass jeder, der mit solchen Vorstellungen die letzte garbe band, seinen eignen korndämon hatte, der in der garbe fortlebte und mit dem letzten ausgedroschenen körn hinstarb. Es gab so viele dämonen dieser art, als felder oder wenigstens fluren waren; jedes jähr entstanden sie neu um bei der emte eingefangen zu werden und auf der tenne hinzusterben." 243

Sowohl bei den Griechen wie auch bei den Preußen hatte sich offensichtlich im Zusammenhang mit der letzten Garbe noch kein Begriff einer Gottheit herausgebildet, die grundsätzlich für die Ernte zuständig und deren Wohl wollen durch Gebet beeinflußbar gewesen wäre: Der Gott taucht mit einer 239

240

243

USENER, Götternamen, 287. Plutarch, Lysand. 12, den USENER als Gewährsmann heranzieht, spricht nur davon, daß der Stein δείκνυται μεν ετι νυν, σεβομένων α ϋτόν των Χερρονησιτών. Die Verehrung versteht USENER als die Verehrung einer einst spontan aufgetretenen und mit dem Meteoriten als identisch empfundenen Augenblicksgottheit. Ausführlich für den gesamten nordeuropäischen Raum nachgewiesen hatte den Brauch, die letzte Garbe zu verehren (zuweilen auch: den Komgeist zu töten), vor allem Wilhelm MANNHARDT, Mythologische Forschungen, 18-32 (zu dem als ,alten Mann' gedachten Korndämonen, der in der letzten Garbe wohnt) und 296-350 (zur Kornmutter); s. dazu auch MANNHARDTs Roggenwolf und Roggenhund. Beitrag zur germanischen Sittenkunde, Danzig 1865, und Die Korndämonen, Berlin 1868, bes. 45. USENER, Götternamen, 282f., verweist auf einen als ϊουλος bezeichneten Garbengott, dessen Name später als Epitheton der Demeter (Ίουλώ) wieder auftaucht. Auch die Existenz eines (ähnlich wie der nach dem anzurufenden Gott benannte Paian) Ioulos genannten Gebets um Feldsegen („πλείστον ούλον ουλον ΐει, ϊουλον ϊει") spreche dafür, daß lulos als Gott der Garbe selbständig existiert hat. Vgl. ebd., 280, zu einer aus dem Jahre 1249 stammenden altpreußischen Urkunde, die bezeugt, daß „ydolo quem semel in anno collectis frugibus consueuerunt confingere et pro deo colere, cui nomen Curche imposuerunt" (zitiert ebd., 94). Kurche (Curche) deutet USENER als das Idol, das man aus den letzten Ähren der Emte bildete. Ebd., 281.

Von der Urangst zum Mythos

59

bestimmten Garbe auf und geht mit ihr dahin. Wenn der Gott der Garbe benannt wird, besteht also eine Wesensidentität zwischen dem Wort bzw. Namen und dem, was bezeichnet wird. Die Unfähigkeit, zwischen Ding und Zeichen (Benennung) zu unterscheiden und ursächlich sowie in räumlichen und zeitlichen Distanzen zu denken (also z.B. die Vorstellung von einem ständig und überallhin wirkenden Garbengott zu haben), ist auch von Späteren als eine wesentliche Signatur des frühen Denkens ausgemacht worden. Albrecht DIETERICH nimmt diesen Gedanken bei der Beschreibung des in der rituellen Handlung manifesten Denkens unter dem Stichwort der Metathese wieder auf.244 Berühmt geworden ist vor allem Aby WARBURGs Begriff des Denkraums, mit dem dieser das im Bildsymbol generierte Auseinandertreten von Bild und Ding deren Zusammenfallen im magischen Denken gegenüberstellt.245 Schließlich findet sich dieser Zusammenhang auch in der Eidos-Theorie von USENERs Schüler Rudolf BORCHARDT, der die psychische Funktion des Bildes darin sieht, durch „ordnende Gestaltung das Chaos der wahrgenommenen Welt zu bannen", und darin auch WARBURG in mancher Hinsicht nahesteht.246 Freilich wurde die Bedeutung, die USENER in diesem Zusammenhang der Benennung beimißt, zuweilen auch als übertrieben empfunden; so von Ulrich von WILAMOWITZ: „Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch",247 und von Hermann DIELS, USENERs Schüler und Freund, der vor allem das psychologisierende Moment dieser Deutung moniert: „Am meisten weicht meine Auffassung ab in der psychologischen Grundlage des Ganzen, wie sich bei Dir im Titel ,Götternamen' ausspricht. Ich kann diesem Nominalismus von vornherein nicht die überragende Bedeutung zugestehen, die Du (ganz an [F.] M. Müllers Theorie erinnernd) der Entwicklung der Benennungen gibst. Ich verstehe den Standpunkt durchaus, aber ich halte ihn für eine durch unser philologisches Handwerk uns nahe gelegte Überschätzung der Formeln und sehe daher selbst in der Etymologie nicht das erste, sondern letzte Mittel zum Verständnis der Entwickelung vorzudringen." 248

Wie BLUMENBERGS Bemerkungen zum Einbrechen des Namens in das Chaos des Unbenannten zeigen, haben diese beiden Gelehrten die Faszination und die Rezeption von USENERs These jedoch bis heute noch brechen können.

Eine der interessantesten Auseinandersetzungen mit diesem Problem ist Ernst CASSIRERs Symboltheorie, auf die es sich lohnt, an dieser Stelle näher einzugehen, weil sich CASSIRER sowohl in der Philosophie der symbolischen 244 245 246

247

248

S. dazu unten S. 118-121. S. dazu unten S. 157, 177ff. Vgl. dazu M. NEUMANN, Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg, in: Rudolph Borchardt und seine Zeitgenossen, hrsg. von E. Osterkamp, Berlin 1997, 157-193. 175. Zu BORCHARDTs Verhältnis zu USENER s. bes. ebd., 191-193. Brief von U. von WILAMOWITZ an Usener vom 7. 12. 1895 (Bonn, Universitätsbibl. S 2108), wiederabgedruckt bei H. J. METTE, Nekrolog einer Epoche, 79-81. 80. H. DIELS an Usener, 3. 3. 1896, wiederabgedruckt bei H. J. METTE, Nekrolog einer Epoche, 84-86.

60

Hennann Usener

Formen249 als auch besonders in der 1925 in den , Studien der Bibliothek Warburg' veröffentlichten Abhandlung über Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen250 ausführlich mit USENER auseinandersetzt. Ernst CASSIRER (1874-1945), der USENER nie persönlich kennen lernen sollte,251 stand, 1919 an die frisch gegründete Hamburger Universität berufen, seit 1920 mit der ,Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg' in regem und intensivem Kontakt252 und war von ihrem damaligen Leiter Fritz SAXL auf die Götternamen hingewiesen worden. Sein eigener Ansatz war zu dieser Zeit bereits zu ausgereift, als daß man vorbehaltlos davon sprechen könnte, daß er maßgeblich von der Lektüre des Buches beeinflußt worden ist; aber er empfand eine tiefe Übereinstimmung mit USENERs Projekt und sah in ihm eine notwendige Ergänzung zu seinem eigenen. Fasziniert war er vor allem von den 249

250

251

Vgl. dazu die ausführliche Arbeit von J. VERBEEK, Über den Gottesbegriff und die Stellung der Theologie in der Philosophie Ernst Cassirers, Diss. Trier 1997, der CASSIRERs Bezüge nicht nur auf die Götternamen, sondern auch auf USENERs Arbeiten zur Heiligen Handlung (1904), zur Mythologie und zur Dreiheit (Bonn 1903) ausführlich analysiert (bes. S. 207-270) und dabei zu dem Ergebnis kommt, daß CASSIRERs Philosophie ohne die Berücksichtigung seiner Usener-Rezeption nicht angemessen verstanden werden kann. Noch in der neueren Forschung zu CASSIRER habe das Übergehen seiner Usener-Rezeption zu zahlreichen Mißverständnissen geführt, so u.a. bei Dominic KAEGI (Ernst Cassirer: Über Mythos und symbolische Formen, in: Mythos zwischen Philosophie und Theologie, hrsg. von E. Rudolph, Dannstadt 1994, 167-199) und Thomas KNOPPE (Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers. Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie, Hamburg 1992). Dort, wo sie berücksichtigt worden war (Johannes HESSEN, Alfred JOSPE, Richard SCHAEFFLER), sei vor allem Usener mißverstanden worden. Bezüglich etwa Richard SCHAEFFLER, der sich weigert, mythisches Denken als religiös anzusehen und das Konzept der Augenblicksgötter aus diesem Grund für irreführend hält, spricht VERBEEK, 151ff., von einem „kreativen Mißverständnis". Inwieweit diese Mißverständnisse auch auf das von R. KANY im Zusammenhang mit USENERs Arbeit am Detail beobachtete Phänomen zurückgehen (vgl. dazu oben S. 14, Anm. 30), bliebe zu untersuchen. Zum Verhältnis USENER/ CASSIRER s. R. BODEI, Hermann Usener nella filosofia moderna, 38-42; R. KANY, Mnemosyne als Programm, lOOff. E. CASSIRER, Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen (Studien der Bibliothek Warburg 6, 1925), in: DERS., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1994, 71-158. Von USENERs Mythenauffassung beeinflußt ist auch CASSIRERs The Myth of the State (1945), s. dazu A. MOMIGLIANO, Hermann Usener, 244. Eine indirekte Lehrer-Schüler-Verbindung zu USENER ließe sich allenfalls über den neben Hermann COHEN wichtigsten Lehrer CASSIRERs: Paul NATORP, herstellen, den Autor der 1912 publizierten Allgemeinen Psychologie, der in seiner Studienzeit bei USENER gehört hatte. Zu Paul NATORP vgl. H. G. GADAMER, Paul Natorp (Philosophische Begegnungen), in: DERS., Gesammelte Werke, Bd. 10: Hermeneutik im Rückblick, Tübingen 1995, 375-380. Vgl. dazu H. PAETZOLD, Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie, Darmstadt 1995, 68f.; M. FERRARI, Das Problem der Geisteswissenschaften in den Schriften Cassirers für die Bibliothek Warburg (1921-1923). Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der symbolischen Formen, in: Über Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, hrsg. von H.-J. Braun/ H. Holzhey/ E. W. Orth, Frankfurt a.M. 1988, 114-133.

Von der Urangst zum Mythos

61

Möglichkeiten der Philologie, die USENER freigelegt hatte und die es erlauben sollten, dort anzusetzen, wo Logik und Erkenntnistheorie aufgeben mußten: „Mit dieser Einsicht in die bestimmende und entscheidende Leistung, die dem Mythos wie der Sprache im geistigen Aufbau der Gegenstandswelt zukommt, scheint freilich alles erschöpft, was eine .Philosophie der symbolischen Formen' uns lehren kann. Die Philosophie als solche kann an diesem Punkte nicht weiter gehen; sie kann sich nicht vermessen, den großen Sonderungsprozeß, der sich hier vollzieht in concreto vor uns hinzustellen und seine einzelnen Phasen bestimmt gegen einander abzugrenzen. Aber wenn sie sich mit einer allgemeinen theoretischen Bestimmung der Umrisse des Bildes dieser Entwicklung begnügen muß, so kann vielleicht die Sprachforschung und die Mythenforschung ihrerseits diesen bloßen Umriß ergänzen und die Linien, die die philosophisch-spekulative Betrachtung nur andeuten konnte, schärfer fassen. Einen ersten und verheißungsvollen Schritt auf diesem Wege hat Hermann Usener in seinem Werk .Götternamen' getan."253

Für CASSIRER hat das Symbol eine ähnliche Funktion wie USENERs Begriffsbildung. Sprache, Mythos und Kunst haben nicht nur Symbole, sondern sie sind selbst symbolische Formen.254 Ihre Funktion ist dabei aber nicht ausschließlich die der Repräsentation des Bezeichneten im Zeichen, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß es ex post auf etwas verweisen würde.255 Jede echte geistige Grundfunktion hat vielmehr „eine ursprünglich-bildende, nicht bloß eine nachbildende Kraft". Kunst, Mythos, Religion - ,,[S]ie alle leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen. Und so schafft auch jede von ihnen sich eigene symbolische Gestaltungen."256 Ähnlich wie USENERs Begriffsbildung wohnt auch CASSIRERs Symbolbildung ein zeitliches Moment inne, wenn er sie als eine Strategie versteht, der Indifferenz des Unendlichen in einem Sonderungsprozeß zu begegnen und das Zusammenfallen von Zeichen und Bezeichnetem in ein Distanzverhältnis aufzulösen. Seiner etymologischen Bedeutung nach ist das Symbol als ein „Zusammenwerfen" und „-denken" zu verstehen, als ein Vergleich also, und CASSIRERs Konstruktion dieses Begriffs nimmt diese wörtliche Bedeutung insofern ernst, als er das funktionale und mediale 253

255

256

E. CASSIRER, Sprache und Mythos, 84f. Vgl. E. CASSIRER, Der Begriff der symbolischen Form im Aujbau der Geisteswissenschaften (Vorträge der Bibliothek Warburg, 1921-1922), in: DERS., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1994, 169-230. 174: „Nicht also was das Symbol in irgendeinerbesonderen Sphäre, was es in der Kunst, im Mythos, in der Sprache bedeutet und leistet, soll hier gefragt werden; sondern vielmehr wie weit die Sprache als Ganzes, der Mythos als Ganzes, die Kunst als Ganzes den allgemeinen Charakter symbolischer Gestaltung in sich tragen." E. CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken (1924), Darmstadt 1994, 51: „Wo wir ein Verhältais der .Repräsentation' sehen, da besteht für den Mythos ... vielmehr ein Verhältnis realer I d e n t i t ä t . Das .Bild' stellt die .Sache' nicht d a r - e s ist die Sache". Zum Repräsentationsbegriff vgl. B. NAUMANN, Philosophie und Poetik des Symbols, München 1996, 125-139: Exkurs zu Symbol und Repräsentation. E. CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1: Die Sprache (1923), Darmstadt 1994, 9.

62

Heimann Usener

Moment betont.257 ,,[J]ede Betrachtung", lautet daher der Einwand gegen die Natur-, Sonnen- und Mondmythologie, bleibt „ungenügend und einseitig, die die Wurzel des Mythos dadurch aufgedeckt zu haben meint, daß sie den bestimmten Objekt kreis aufweist, von dem er anfanglich ausgegangen sei".258 Die mythische Anschauung muß sich die Wahrnehmung der Welt in „fest umrissene Einzelgestalten", deren, jede ihre scharfe räumliche Grenze und durch sie bestimmte Individualität besitzt", erst erobern. Sie muß diese Einzelelemente „allmählich und schrittweise aus dem Ganzen gewinnen" und „den Prozeß der Abhebung und Sonderung erst selbst vollziehen".259 In der Behauptung einer solchen Indifferenz des frühen mythischen Denkens trifft sich CASSIRER mit USENERS Beschreibung des Menschen, der aus seiner Hütte tritt und von der Fülle des Unendlichen überwältigt wird, die er (um den Begriff der Artikulation einmal wörtlich zu nehmen) nicht zu zergliedern vermag. Die Einzelgestalten, darin sind sich beide einig, muß sich das mythische Bewußtsein aus einer „ursprünglich indifferenten Einheitsanschauung" erst ,ersondern'.260 Als der erste entscheidende Schritt eines solchen Zergliederungsund Sonderungsprozesses wird von CASSIRER wie schon von USENER der Vorgang der Benennung erkannt,261 wobei USENER den eigentlichen Differenzierungssvorgang freilich erst an der Vorstellung von Sondergöttern festmacht. Im Benennen wird die Einzelerscheinung aus dem Ganzen isoliert und auf einen einzigen Punkt hin verdichtet: „In höchster Energie ist das Ich diesem Einen zugewandt, lebt in ihm und vergißt sich in ihm. Hier herrscht somit statt der Erweiterung der Anschauung vielmehr deren äußerste Verengung; statt der Ausdehnung, die sie allmählich durch immer neue Kreise des Seins hindurchfühlt, der Trieb zur Konzentration; statt ihrer extensiven Verbreitung ihre intensive Zusammendrängung. In dieser Sammlung aller Kräfte auf einen Punkt liegt die Vorbedingung für alles mythische Denken und alles mythische Gestalten."262

Die Benennung ist zugleich ein Akt des Bemerkens, nicht im gewöhnlichen Sinne des Bemerkens eines schon Gegebenen, sondern im Sinne eines Vorgangs, in dem sich die „Gewinnung, die Setzung der Merkmale selbst" erst vollzieht.263 Der Mythos entsteht also nicht in der Bildung diskursiver, theoretischer Begriffe, sondern in einem intuitiven Prozeß der Verdichtung und Sonderung: Wenn sich der „Affekt des Augenblicks" im Wort „entladen" 257 258

259 260 261

262 263

Vgl. dazu B. NAUMANN, Philosophie und Poetik des Symbols, 135. E. CASSIRER, Sprache und Mythos, 81. Vgl. die Kritik gegen Friedrich Max MÜLLER, ebd., 75-84. E. CASSIRER, Sprache und Mythos, 83. Ebd., 84. Ebd., 99ff. 99: „Ehe die intellektuelle Arbeit des Begreifens und Verstehens der Erscheinungen einsetzen kann, muß die Arbeit des B e n e n n e n s vorangegangen und bis zu einem bestimmten Punkte fortgeschritten sein. Denn diese Arbeit ist es, die die Welt der sinnlichen Eindrücke, wie sie auch das Tier besitzt, erst zu einer geistigen Welt, zu einer Welt von Vorstellungen und Bedeutungen umschafft." Ebd., 103. Ebd., 100.

Von der Urangst zum Mythos

63

hat,264 geht die subjektive Empfindung im Objekt, dem Gebilde der Sprache, auf. Ins Wort gebannt, wird sie fixiert und tritt dem Menschen als ein objektiv Reales gegenüber. Was fteilich in der Indifferenz verharrt, sind Name und Sache.265 Das Bezeichnete tritt zwar aus dem inneren Erleben heraus, bleibt aber mit dem Zeichen nach wie vor identisch. Der eigentliche Sonderungsprozeß vollzieht sich erst durch deren Auseinandertreten, also in einem Denkverhalten, das in den Grundrelationen von Raum, Zeit und Ursache zu denken erlaubt: „Das Moment des Nebeneinander, wie es sich in der Form des R a u m e s , das Moment des Nacheinander, wie es sich in der Form der Zeit darstellt - die Verknüpfung von Seinsbestimmungen in der Art, daß die eine als ,Ding', die andere als .Eigenschaft' gefaßt wird, oder von aufeinanderfolgenden Ereignissen in der Art, daß das eine als U r s a c h e des anderen erscheint: dies alles sind Beispiele solcher ursprünglichen Beziehungsarten."266

Der sprachlichen Artikulation fallt dabei die entscheidende Aufgabe zu, dieses Denken überhaupt erst hervorzurufen: „Denn nicht dies ist die Aufgabe der Sprache, Bestimmungen und Unterschiede, die in der Vorstellung schon vorhanden sind, lediglich zu wiederholen, sondern sie als solche erst zu setzen und kenntlich zu machen."267 Hier aber liegt auch schon die entscheidende Differenz zu USENER, der zwar in der naturgemäßen Triebhaftigkeit der Sprache eine wesentliche Voraussetzung für die Konstituierung der Vorstellungen erkennt, sehr wohl aber, wie schon Roland KANY in diesem Zusammenhang bemerkte,268 von einem gegebenen Sein ausgeht. Für USENER ist die Konstituierung des Begriffs ein psychologischer Vorgang, in dessen Verlauf sich der Mensch den Zugang zur Welt erobert, nicht dagegen der Vollzug einer Konstituierung von Wirklichkeit. Insofern steht er den Naturmythologen, in dieser Hinsicht jedenfalls, näher als CASSIRER, der in den symbolischen Formen gerade nicht die „Kopie" oder „Nachahmung" des Vorhandenen sieht.269 Die Bewunderung, die CASSIRER fur den Philologen USENER empfand, führte freilich auch zu einer Vereinnahmung und Verschmelzung mit dessen Thesen, die es nicht immer leicht machen, den , U S E N E R ' CASSIRERs von dem Autor der Götternamen zu trennen.270 Auch die Tatsache, daß CASSIRER über die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg mit USENER

264 265 264 267 268

269 270

Ebd., 105. E. CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1 : Die Sprache, 21. Ebd., 28. Ebd., 43. R. KANY, Mnemosyne als Programm, 100-103 (über die Differenzen zwischen USENERs und CASSIRERs Theorie). 102: „Für Usener ist der Mythos eine Weise, in der sich eine an sich feststehende und eindeutig faßbare Wirklichkeit offenbart." E. CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1 : Die Sprache, 44. Vgl. dazu die oben (S. 60, Anm. 249) erwähnten Beobachtungen von J. VERBEEK.

64

Hermann Usener

in Berührung kam,271 spielt eine offensichtlich nicht unwesentliche Rolle für seine spezifische Lektüre des Werks.272 Aby WARBURG (1866-1929), dessen Verhältnis zu USENER im vierten Kapitel dieser Arbeit ausführlicher behandelt werden wird, hatte mehr als dreißig Jahre vor CASSIRERs Begegnung mit USENERs Schriften, namentlich im Wintersemester 1886/1887, neben seinem Kunststudium bei USENER gehört und war in der Vorlesung über die Mythologie mit einer der wichtigsten Vorstudien zu den Götternamen in Berührung gekommen.273 Ohne allzu weit vorausgreifen zu wollen, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß WARBURG zum einen USENERs Begriffsbildungslehre in eine Symboltheorie übersetzte (die nicht zuletzt Friedrich Theodor VlSCHER verpflichtet war274) und zum anderen in seiner Lesart der ,Entwicklungsgeschichte' des Geistes, anders als USENER, keine abgeschlossenen Prozesse und keine Linearität in der Entwicklung des Geistes, sondern ein beständiges Ringen um die ratio sah, die gewissermaßen immer von neuem erkämpft werden muß. Welche große Bedeutung WARBURG für CASSIRER spielte, zeigt die Tatsache, daß seine Begegnung mit der Bibliothek und dem intellektuellen Umfeld WARBURGs in seiner eigenen intellektuellen Entwicklung einen „archimedischen Punkt" markierte.275 Vor diesem Hintergrund erscheint es als bedeutsam, wenn CASSIRER in seiner Würdigung von USENERs Bemühen um eine Allgemeingültigkeit der Ergebnisse den historischen Aspekt, vor allem aber auch die evolutionistische Orientierung der Begriffsbildungslehre unterschlägt: „[Useners] Betrachtung sucht bis zu einem Punkte vorzudringen, an dem beides, der Gott wie sein Name, im Bewußtsein zuerst entspringt. Dieses ,Entspringen' aber wird nicht rein zeitlich gedacht, es wird nicht als ein einmaliger geschichtlicher Vorgang genommen, 271

272

273 274

Zum Kreis um CASSIRER und WARBURG während der Hamburger Zeit s. C. NABER, „... die Fackel deutsch-jüdischer Geistigkeit weitertragen". Der Hamburger Kreis um Ernst Cassirer und Aby Warburg, in: Die Juden in Hamburg 1590-1990. Wissenschaftliche Beiträge der Universität Hamburg zur Ausstellung , Vierhundert Jahre Juden in Hamburg', hrsg. von A. Herzig/ S. Rohde, Hamburg 1991, 393-406. Im Vorwort des zweiten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen (1924) wird deutlich, welche Übereinstimmung CASSIRER mit der durch USENERs Schüler Aby WARBURG geprägten Systematik des Materials empfand. So empfiehlt er denn auch die weitere Behandlung der von ihm selbst aufgeworfenen Fragestellung - Bemühung um systematische Einsicht in die .innere Form' des Mythischen - (ganz im Sinne USENERs) an die wissenschaftlichen Einzeldisziplinen Religionsgeschichte und Völkerkunde. Vgl. dazu unten S. 79, Anm. 327. F. Th. VlSCHER, Das Symbol (1887), in: DERS., Kritische Gänge, hrsg. von R. Vischer, Bd. 4, 2. Aufl., München 1922, 420-456. 424f. Nach VlSCHER wird im mythischen, symbolhaften Denken „Bild und Bedeutung" verwechselt und beides „unbewußt" miteinander „identifiziert". R. KLIBANSKY/ P. CONLEY, Die Grenzen des akademischen Lebens sprengen. Ein Gespräch über Ernst Cassirer und die Bibliothek Warburg, Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 564, 1995, 274-277. Zu CASSIRERs zahlreichen Publikationen in den Publikationsorganen des Instituts s. H. PAETZOLD, Ernst Cassirer, 68f.

Von der Urangst zum Mythos

65

der sich in einem bestimmten, empirisch aufweisbaren Zeitpunkt abgespielt habe, sondern es wird aus der Grundstruktur des sprachlichen und mythischen Bewußtseins schlechthin, aus einem allgemeinen Gesetz der sprachlichen und religiösen Begriffsbildung zu verstehen versucht. Hier stehen wir daher nicht mehr auf dem Boden der Geschichte, sondern auf dem der Phänomenologie des Geistes."276 CASSIRER betont zwar zu Recht, daß der Prozeß der Begriffsbildung im konkreten Sinne nicht geschichtlich ist: Er ist, um die Kategorie des .Geschichtlichen' in dieser Eingrenzung zu benutzen, nicht zeitlich fixierbar. Daß der Vorgang darum nicht empirisch nachweisbar sei, zielt aber gerade an USENERs Projekt vorbei. USENER selbst wollte dem Vorgeschichtlichen durch seine philologische Analyse eine geschichtliche' Qualität abgewinnen.277 Das Vorgeschichtliche sollte empirisch nachweisbar werden. Auch die Beurteilung des Prozesses als „nicht rein zeitlich gedacht", scheint unpräzise. USENER geht durchaus von (vor-)historischen Entwicklungsprozessen aus. Wenn er zugleich behauptet, daß jede Entstehung eines neuen Begriffs (wie das Beispiel des Korndämonen gezeigt hat) nach dem Schema der Begriffsbildung verläuft, so bedeutet das nicht, daß die Entstehungsbedingungen nicht grundsätzlich überwindbar wären. Gerade das Vorhandensein von un- oder umbesetzten Ausdrucksformen weist darauf hin. Insofern bedeutet die Begriffsbildung für USENER auch entwicklungsAwtonscA eine Überwindung der Angst bedeutet.

Das religiöse Begriffssystem: Die Sondergötter Mit den Sondergöttern, der zweiten Vorstellungsstufe, sieht USENER die mit den Augenblicksgöttern noch verbundenen Defizite fürs erste behoben: Zeichen und Bezeichnetes treten auseinander. Der Gott wird zur Ursache des Geschehens; er ist nicht mehr als Erscheinung, sondern durch die Erscheinung wirksam. Behoben ist auch die räumliche und zeitliche Verdichtung, die Fixierung auf das Hier und Jetzt. Zugleich findet eine Systematisierung statt: Die adjektivischen Appellationen, mit denen der in Augenblicksgöttern denkende Mensch jede Einzelheit beschrieben hat, werden in Artbegriffe überfuhrt, mit denen fur ganz bestimmte Tätigkeitsbereiche oder Erscheinungen grundsätzlich zuständige göttliche Wesen bezeichnet werden. USENER erläutert dies am Beispiel des Keraunos: Man hat einen einzelnen Blitz nicht mehr selbst als Gott begriffen (einen Augenblicksgott, der spontan da ist und dann wieder verschwindet), sondern als etwas, das der ,Gott der Blitze' (d.h. der Sondergott ,Blitzschleuderer', Keraunos), gesandt hat.278 Auf eine Bündelung der 276 277 278

E. CASSIRER, Sprache und Mythos, 90f. Vgl. dazu oben S. 46f. Vgl. USENER, Götternamen, 287f.; DERS., Keraunos (RhM 60, 1905, 1-30), in: DERS., Kleine Schriften, Bd. 4, 471-497.

66

Hermann Usener

Vorstellungen machen auch USENERs Bemerkungen zur Dämonenvielfalt aufmerksam. Anfangs als Einzelerscheinungen gedacht, die den einzelnen Menschen in einem bestimmten Moment befallen und in seinen Affekten beherrschen, weichen die einzelnen Dämonen schließlich einem „gattungsbegriff', δαίμων, „der keinen neuen Vorgang des denkens erfordert",279 sondern als (beständiger) Verursacher der einzelnen Affekte gedacht wird. Eines der zentralen Charakteristika der Sondergötter sieht USENER darin, daß ihre (größtenteils auf eine adjektivische Bildung zurückzuführenden) Namen sprachlich - anders als diejenigen der späteren sogenannten .persönlichen' Götter - noch vollkommen transparent gewesen seien und mit ihrem Stamm deutlich auf den ihnen beigemessenen Zuständigkeitsbereich verwiesen hätten.280 Zur Veranschaulichung sei auf die von USENER angeführte Vielfalt der Heilung verleihenden Götter verwiesen, von denen er besonders den später als Sohn des Apoll in die Mythologie eingegangenen Asklepios hervorhebt. USENER faßt sie in einem knappen, mit dem Titel Der göttliche arzt annoncierten Kapitel zusammen.281 Die verbreitete Verehrung eines 'Ιατρός schließt USENER aus den durch Münzen und Inschriften belegten menschlichen Eigennamen Ίατρόδωρος, Ίατρόδοτος und Ίατροκλής im Verein mit der Beobachtung, daß „der erste bestandtheil der mit -κλης, -δωρος, -δοτος zusammengesetzten eigennamen die bezeichnung einer gottheit zu enthalten pflegt und daher solche namen einen sicheren schluss auf den gottesdienst des heimathortes gestatten".282 Später sei Iatros zu einem Heros herabgesunken. Zu den Weiterbildungen des selben Stamms (*ϊαμαι) zählt USENER neben Ίαμενός auch den später als Helden der Argonautensage berühmt gewordenen Iason, dessen Wirksamkeit als heilender Gott in der Sage verloren gegangen, im Kultus aber, etwa in den Beinamen des Apoll Ίασόνιος oder der Athene Ίασονία noch bewahrt geblieben sei. Auch die zahlreiche Bildungen wie Άκεσίδας, Άκέσιος, Άκεσίας, Άκεσσαμενός oder der Name des in Epidauros verehrten Asklepios-Sohnes "Ακεσις, die, laut USENER, die Wurzel άκεσ- noch deutlich durchscheinen lassen, werden von ihm mit (ursprünglich) heilender Tätigkeit in Verbindung gebracht. Vielfaltig seien schließlich auch die auf med- zurückzuführenden Namen, die vor allem - das bekannteste Beispiel in dieser Hinsicht ist sicher Medea - auf kräuter- und zauberkundige Fähigkeiten deuteten: Epimedes, Perimede, Agamede oder die maskulinen Bildungen Μήδος und Μηδενός, aus denen - ähnlich wie Ioaso zu Iason, Panakeia/ Akeso zu Akesios usw. - die femininen Fortbildungen

279 280

281 282

USENER, Göttemamen, 293. Ebd., 75f., definiert USENER die wesentlichen Merkmale der Sondergötter: ,,[E]nge begrenztheit des begriffs", „ausschliessliche geltung für je ein besonderes vorkommniss", „begriffliche durchsichtigkeit der benennungen". Ebd., 147-171. Ebd., 151.

Von der Urangst zum Mythos

67

Μήδη/ Μήδεια entstanden seien. Später habe sich aus der Vielfalt dieser Synonyme vor allem Asklepios in der Funktion des göttlichen Arztes durchgesetzt. In anderen Tätigkeitsfeldern, in denen die Differenzierung in einzelne Handlungsbereiche besonders gegenwärtig war, macht USENER eine Vielfalt weniger an Synonymen als an unterschiedlichen und für sehr spezielle Tätigkeiten zuständigen Sondergöttern aus. Jede einzelne Tätigkeit und Empfindung habe ihren eigenen Gott gehabt. Wozu das geführt habe, veranschaulicht er exemplarisch am Gebiet der Ackerbestellung, wo die existentielle Bedeutung der einzelnen Tätigkeitsfelder noch im römischen Denken ihre Wirksamkeit gezeitigt habe: ,3eim fluropfer hatte nach der angabe des Fabius Pictor der flamen ausser Tellus und Ceres zwölf götter anzurufen, welche ebenso vielen handlungen des landmanns entsprechen: den Veruaclor für das erste durchackern des brachfeldes (veruactum), den Reparator für die zweitmalige durchpflügung ... den Occator für die Überarbeitung des ackers mit der egge ... den Messor für die thätigkeit der Schnitter."283

Die Beispiele der Sondergötter entstammen nicht nur dem griechischrömischen Raum. Eine mehr als zwanzig Seiten umfassende Liste stellt die eingangs erwähnten litauischen Sondergötter zusammen, in die auch der ,Kurche', der im Litauischen später für die letzte Garbe zuständige Sondergott, Eingang gefunden hat.284 Einige Seiten weiter widmet sich USENER den christlichen Heiligen - auch sie sind unter die Sondergötter rubriziert. Wie in seiner 1889 veröffentlichten Studie zum Weihnachtsfest geht es dabei nicht ausschließlich um die Rekontextualisierung paganer Vorstellungen und Riten im Christentum, sondern auch darum, festzustellen, daß die „ursprüngliche form religiöser begriffsbildung auch im Christenthum von neuem durchbricht."285 Denn es seien zwar eine Reihe christlicher Heiliger an die Stelle „alter indigitamentengötter" getreten - eine Liste gibt USENER auf S. 116f.; doch trotz der Inkorporation heidnischer Sondergötter in die christlichen Vorstellungen seien auch immer wieder neue lokal- oder aktionsbezogene Heilige hinzugekommen, deren Charakteristik derjenigen der paganen Sondergötter entsprochen habe, was wiederum dafür spricht, daß USENER das historische Moment der Begriffsbildung vor allem als ein entwicklungshistorisches faßt. Zwar greift die Analogie zum Begriffsbildungsprozeß insofern nur bedingt, als auf die Neubildung begrifflicher Ausdrücke auch verzichtet und auf bereits vorhandene Heiligennamen zurückgegriffen werden konnte. Doch läßt sich dort, wo tatsächlich neue Namen gebildet wurden, eine begriffliche Durchsichtigkeit der Namen, wie sie von USENER für die indigitamenta beschrieben

283

284 285

Ebd., 76. Das Beispiel entstammt Servius Comm. Verg. Georg I, 21, s. dazu unten, S. 70. Ebd., 85-106. Zu .Kurche' s. ebd., 94, vgl. dazu oben S. 58, Anm. 242. Ebd., 116.

68

Hermann Usener

wurde, durchaus beobachten: Von USENER angeführt wird beispielsweise ein Mort oder ein Languit, der in den Vogesen verehrt worden sei. Um die Universalität der für den Begriffsbildungsprozeß verantwortlichen Gesetzmäßigkeiten zu stützen, greift USENER schließlich auf Analogien in der nicht religiös bestimmten Sprache zurück. Auch dort begegnet ihm das Phänomen, daß zahlreiche , Sonderbenennungen' einem allgemeingültigen Begriff vorausgehen: „Sämmtliche worte, sowohl nomina wie verba, welche einen allgemeingültigen begriff bezeichnen, sind stets ursprünglich nur einzelne unter vielen, welche zwar der gleichen begriffssphäre angehören, aber nicht den begriff als solchen, sondern nur bestimmte, den sinnen auffallende erscheinungsformen desselben ausdrücken."286

In diesen Bereich gehören die im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Sprache und Religion bereits genannten Beispiele aus der Jägersprache, mit denen USENER auf die allgemeine Gültigkeit seiner These hatte hinweisen wollen.287 Sein Anspruch, über einen konkreten historischen Verlauf auch allgemein gültige Entwicklungsgesetze zu rekonstruieren, wird freilich schon allein dadurch deutlich, daß er trotz der - theoretisch - deutlich artikulierten Kritik288 an das Verfahren der Vergleichenden Methode anknüpft und deren Universalisierungstendenzen übernimmt. Denn die Rekonstruktion des von ihm mit der Bezeichnung , Sondergötter' apostrophierten Denkstadiums ist alles andere als ausschließlich das Ergebnis einer wortgeschichtlichen Analyse (und der bereits angesprochenen spekulativen Vorüberlegungen). Sie stützt sich - jedenfalls: auch - auf die Parallelisierung und Analogisierung von Erscheinungen, die historisch oder topographisch dem Fremden zugehören, und impliziert damit einen stereotyp verlaufenden, nicht einmaligen, aber im einzelnen Fall historischen' Entwicklungsvorgang. Die Vergleichende Methode, wie sie unter anderem in der ethnologischen Forschung praktiziert wurde, ging von einer strikt stereotypen, in den einzelnen Kulturen jedoch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit sich vollziehenden Entwicklung aus, als deren Abschluß die vorrangig im europäischen Raum erreichte modern-rationale Wirklichkeitsvorstellung firmierte und in deren Anfangsstadium, wie man vermutete, die Primitiven zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung stehen geblieben waren. U S E N E R , der wie TYLOR und MANNHARDT die Präsenz und mögliche Revitalisierung von survivals nachgerade zur Voraussetzung seines Rekonstruktionsverfahrens und die Rekontextualisierung dieser survivals - etwa des Heidnischen innerhalb des Christlichen - sogar zu einem seiner Schwerpunktthemen macht, steht im Zusammenhang mit der Rekonstruktion der Sondergötter dem Problem gegenüber, die verschiedenen empirisch nachgewiesenen Konfigurationen von Wirklich286 287 288

Ebd., 317f. S. dazu oben S. 49. S. dazu USENER, Götternamen, 323ff.

Von der Urangst zum Mythos

69

keitsvorstellungen innerhalb eines festen Klassifikationsschemas bündeln und entwicklungsgenetisch zueinander in Beziehung setzen zu müssen. Die Kontinuität des Ursprünglichen nachweisen zu wollen, erfordert es zunächst einmal, das in spätere Kontexte eingegliederte Ursprüngliche als ein solches überhaupt zu identifizieren. Die Vergleichende Methode ist in gewisser Weise ein intelligenter Schachzug, um dieses Problem zu lösen, und bietet gerade demjenigen einen Vorteil, der sich auf ,geschichtslosem' Terrain bewegen will: Denn die Identifikation des ,Ursprünglichen' mit dem sogenannten .Primitiven' ermöglicht es, eine Rekonstruktion auch ohne direkte (vorhistorische) Zeugnisse, nämlich durch das ausschließlich analogische Verfahren oder, sofern es eine wenigstens bruchstückhafte Überlieferung gibt, durch die ,Implantation' fehlender Versatzstücke, herzustellen.289 Daß USENER hier anknüpfen konnte (und mußte), war ihm schon 1882 klar, als er die Errungenschaften der ethnologischen Forschung ausdrücklich würdigte und sein in den Ansätzen bereits gereiftes Vorhaben, die psychologischen Gesetze menschlicher Entwicklung zu erforschen, dazu in Beziehung setzte: „Längst war dem Dasein auch der geschichtslosen oder Naturvölker das lebhafte Interesse und die sorgsame Beobachtung von Reisenden und Missionären zugewandt... An diesen Völkern können wie an lebenden Exemplaren vorgeschichtliche Stufen anschaulich werden, welche von den Kulturvölkern in der Vorzeit durchlaufen oder übersprungen waren. Mit ihnen ist nun der Ring der vorliegenden Existenzformen der Menschheit geschlossen, und es kann auf einer höheren Stufe der Vergleichung vorgedrungen werden zur Ergründung der allgemeinen Gesetze, nach denen die einzelnen Lebensäußerungen der Völker sich entwickeln und gegenseitig bedingen, zur Erkenntnis der menschlichen Natur selbst."250

Beeindruckt war USENER vor allem von der vermeintlich empirischen Methode, die seiner eigenen Abneigung gegen jegliches spekulatives Vorgehen voll und ganz entsprach: „So strebt die Geschichtswissenschaft jetzt vom Einzelnen zum Allgemeinen hin, bemüht, aus der Fülle tatsächlichen Wissens die Begriffe abzuleiten und an die Stelle apriorischer Spekulation, aus deren Zauberbann sie sich mühsam und allmählich losringt, empirisch bewährte Erkenntnis zu setzen."291

289

291

Vgl. schon F. G. WELCKER, Methodik der mythologischen Forschung, in: DERS., Griechische Götterlehre, Bd. 1,115f.: ,,[W]as nicht ausgedrückt ist[, wird] durch das in demselben Zusammenhang anderwärts Gegebene aufgeschlossen". Zur Vorsicht bei der Übertragung und Ergänzung durch „entsprechenden Brauch bei anderen Völkern" mahnt A. DIETERICH, Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion, Leipzig 1905, 2f.: „[DJiese Analogien dürfen zu nichts Weiterem fuhren, als daß wir mit ihnen ausgerüstet die Überlieferungen, die wir interpretieren wollen, besser und tiefer verstehen, ohne daß wir von den Überlieferungen der anderen Völker irgend etwas hinübersetzen in die tatsächlichen Lücken geschichtlicher Tradition, die wir nicht ausfüllen können." USENER, Philologie und Geschichtswissenschaft, 13. Ebd.

70

Hennann Usener

Die Konfiguration der Prämisse, auf die das Verfahren aufbaute, war jedoch in zweierlei Hinsicht problematisch: Methodisch liegt das Problem darin, daß das Ergebnis (die Subsumption der Einzelerscheinung als Ausfluß einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit) oftmals nur die Prämisse (d.h. die Existenz dieser allgemeinen Gesetzmäßigkeit) bestätigt, ohne daß deren Richtigkeit unabhängig davon geprüft worden wäre. Inhaltlich reizt sie dazu, das Fremdartige anders beschaffener Wirklichkeitsauffassungen als Ausdruck eines defizitären Zustande zu deuten, das , Andere' also in bezug auf das modern-europäische Denken als ein .Vorher' (oder ,Noch-nicht') zu bestimmen. Die Ausblendung historischer Spezifika sowie die Implikation einer ethno- oder logozentristisch angelegten Universalisierung des modern-europäischen Wirklichkeitsbegriffs drohen letztlich nur zu einer Stabilisierung der gegenwärtigen Weltauffassung zu führen. Beides schleicht sich indirekt auch in USENERs Beurteilung der von ihm herangezogenen,Daten' ein. USENER war durch die Lektüre der von Varrò in den Antiquitates rerum divinarum präsentierten Indigitamentenlisten (den in den Pontifikalbüchem292 angeführten di certi)293 und nach Sichtung einer Reihe von Sammlungen über litauische Götterwesen des 16. Jahrhunderts294 zu der Überzeugung gelangt, daß es ein Vorstellungsstadium gegeben habe müsse, wie er es schließlich unter der Bezeichnung , Sondergötter' beschreibt; erst dann unternahm er den Versuch, diese Beobachtung im Verein mit weiteren, ähnlichen Beobachtungen in eine Systematik zu überfuhren, um sie dann in ein Entwicklungsschema einzupassen, in dem den beobachteten' Sondergöttern die Augenblicksgötter vorausgehen und die persönlichen Götter folgen. Die Anwendung der Vergleichende Methode wird von USENER also keineswegs vollständig verschmäht295 - im Gegenteil: Er steht ihnen in praxi sogar eher unkritisch gegenüber. Das angenommene Gesetz einer stereotypen Entwicklung des menschlichen Geistes fuhrt bei ihm zur Klassifikation der litauischen Götter als ,Sondergötter', nachdem es doch selbst unter anderem erst auf der Basis dieser , Sondergötter' konstruiert worden war. Und mehr noch: USENER Serv. Comm. in Verg. Georg. I, 21: „nomina haec numinum in indigitamentis inveniuntur, id est in libris pontificalibus, qui et nomina deorum et rationes ipsorum nominum continent." Dort auch Beispiele von Sondergöttem, vgl. dazu oben S. 67. USENER, Götternamen, 74f. Zu den von Varrò, Antiquitates rerum divinarum XIV, 4f. (s. M. Terenti Varronis Antiquitates rerum divinarum, hrsg. v. R. Agahd, Leipzig 1898, repr. New York 1975, 165-187) in diesen Listen angeführten di certi gehören Ianus, Saturnus, Liber, Diespater, Lucina, Carmentes, Levana u.a. Von den Antiquitates sind nur Fragmente erhalten, die zum großen Teil entsprechenden Erwähnungen bei christlichen Schriftstellern (Augustinus De Civitate Dei, Minucius Felix, Lactanz, Tertullian) zu verdanken sind, vgl. dazu R. AGAHD, a.a.O., 7-83. S. auch B. CARDAUNS, Varrò und die römische Religion, ANRW II, 16.1, 1978, 80-105. Eine Zusammenstellung der benutzten Literatur s. USENER, Götternamen, 85. Vgl. auch die Zusammenstellung der Beispiele zu den Vorstellungen von Augenblicksgöttem, die USENER aus dem litauischen, preußischen und schwäbischen Raum rekrutierte, Götternamen, 279ff.

Von der Urangst zum Mythos

71

behauptet, daß jeder Vorstellung von einem persönlichen Gott die Vorstellung von entsprechenden .Sondergöttern' vorausgegangen sei. Allerdings ist bei der Beurteilung des von USENER gewählten Verfahrens neben der Vergleichenden Methode auch der mögliche Einfluß von DlLTHEYs Hermeneutik zu berücksichtigen, die neben der historischen Forschung einen systematischen Zugriff forderte296 und die möglicherweise der Grund dafür ist, daß USENER der Zusammenführung und wechselseitigen In-BeziehungSetzung von empirischen Daten allgemeine Überlegungen zur menschlichen Psychologie voranstellt, um beides diskursiv miteinander in Einklang zu bringen. Daß sich bei diesem Verfahren gewissermaßen ,durch die Hintertür' bei aller Ablehnung aprioristischer Konstruktionen der Weltgeschichte die theoretischen Grundlagen idealistischer Philosophie wieder einschleichen, hat Erich ROTHACKER DILTHEY wie auch der ,Historischen Schule' (BOECKH, RANKE,

DROYSEN) insgesamt vorgehalten.297 Über USENERs Theorie ließ ROTHACKER verlauten, sie beruhe „ganz wesentlich auf der Suggestionskraft ihres Programms",298 was vielleicht etwas weit ging, aber doch ein entscheidendes Charakteristikum der Götternamen traf: USENERs empirische Methode funktioniert faktisch - trotz der ausdrücklich erhobenen Philosophenschelte299 nicht ohne Spekulation Angesprochen wurden diese methodischen Probleme auch in Fachkreisen. Die philologischen Kollegen bemängelten nicht nur die Etymologisierung von Eigennamen300 im besonderen und die angesichts eines Systemzwangs zuweilen vernachlässigte Präzision der Etymologien im besonderen.301 Die von 296 297

298

299 300

301

S. dazu oben S. 1 lf. E. ROTHACKER, Einleitung in die Geisteswissenschaften (1920), 2. Aufl., Tübingen 1930, 130-140, vgl. dazu H. G. GADAMER, Klassische und philosophische Hermeneutik (1968), in: DERS., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 92-117. 99. E. ROTHACKER, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 100 (vgl. auch M. LANDFESTER, Die hermeneutische Konzeption H. Useners, 162). In bezug auf USENERs Arbeiten zur Metrik hatte U. von WILAMOWITZ sogar aufs Schärfste verurteilt, daß USENER letztlich ,4och Theoretiker geblieben" sei, s. A. HENRICHS, ,Der Glaube der Hellenen', 282. Vgl. dazu oben S. 42, 175. Das Problem wird von USENER freilich durchaus in die Überlegungen miteinbezogen, vgl. USENER, Götternamen, 5: ,3esonnene grammatiker haben schon im altertum [sc.: Herodian π. παθών frg. 371 bei Lentz Bd. 2, 288, 7] davor gewarnt, etymologische forschung auf die eigennamen auszudehnen. Es erscheint daher empfehlenswerth, dass die Untersuchung die götternamen zunächst als gegebene ins auge fasst, ehe sie zum Ursprung vorzudringen sucht. Denn auch die worte und mit und an ihnen die begriffe unterliegen geschichtlichem wandel. Wer dem letzteren nachgeht, darf hoffen, von den treibenden kräften, die bei der eizeugung der worte thätig waren, etwas auch in den erscheinungen der umbildung und emeuerung wahrzunehmen." Vgl. dazu A. DIETERICH, Hermann Usener, VII: „Die Äußerung, die man wohl damals unter Philologen hören konnte, das Buch sei zwanzig Jahre zu spät erschienen, mochte zutreffen, soweit es sich um Etymologien handelte, die die weiter geschrittene Sprachwissenschaft nicht mehr gelten ließ." Auch USENER selbst mußte eingestehen, daß α „seit den 90er jähren ... der bewegung der Sprachwissenschaft nicht mehr gefolgt" war,

72

Hermann Usener

philologischer Seite erhobenen Einwände rührten, wenngleich sie auf inhaltlicher Ebene formuliert waren, auch an das methodische Grundproblem von USENERs Arbeitsweise. An der Linearität und dem Fortschrittsoptimismus, den USENERs Konzept durchscheinen ließ, nahm etwa Erwin ROHDE Anstoß, als er (zu Recht) darauf hinwies, daß sich zwar aus den „Sondergöttern die Hauptgötter hervorhebten", es zugleich aber „unleugbar" sei, daß „viele solcher Sondergötter dann immer noch neu erzeugt werden und stetig nachwachsen." Die Sondergötter, so war ROHDEs Argument, seien zugleich älter und jünger als die Hauptgötter; denn ebenso wie sie sich in die Epitheta der Hauptgötter integriert hätten, habe auch der umgekehrte Prozeß, die Absonderung und Verselbständigung von Epitheta zu eigenständigen Sondergöttern, stattgefunden. In seinem Brief an USENER machte Erwin ROHDE darauf aufmerksam, daß „unter G r i e c h e n ... alles so unerhört reich verzweigt [ist], durchwuchert mit allen möglichen Nebentrieben und über- und durcheinandergewachsenen Parasiten - daß ein deutlicher, reinlich sondernder Schnitt fast niemals möglich ist."302

Freilich hatte ROHDE übersehen (oder nicht hinreichend in Rechnung gestellt), daß USENER immer wieder derartige Fälle anfuhrt und sich des Problems insofern bewußt gewesen sein muß: Im Kapitel über die Augenblicksgötter äußert USENER seine Irritation darüber, daß die Entstehung von augenblicklich und als die Erscheinung selbst gedachten Göttern aus bereits voll entwickelten Sonder- oder persönlichen Göttern als ein seiner Konzeptualisierung zuwider laufender Prozeß zu konstatieren sei. Für den griechischen Raum erwähnt er die Vielfalt der Niken, Eroten und Eileithyiai, für den Römischen beispielsweise die der soles und luces:303 „Nicht die eine göttin N i k e , sondern jedesmal eine besondere, seine Nike ist es, die dem wagenlenker, dem wettläufer usw. den kränz reicht, die das Wahrzeichen des schlachtensiegs, das tropaion aufrichtet; in diesem sinn konnte an der balustrade des athenischen Niketempels eine Vielheit von Niken sich entfalten. Aus dem Eros ist eine dehnbare menge von E r o t e n hervorgegangen. Dichtung und kunst haben seit der alexandrinischen zeit diese kleinen lieblichen schelme zu gefälliger tändelei benutzt."

Die Erklärung dieses Phänomens fällt U S E N E R nicht leicht. Fest steht für ihn, daß sich die religiöse Empfindung auch in geschichtlicher Zeit noch die Fähigkeit bewahrt hat, „neue gottesbegriffe für den augenblick zu erzeugen".304 Der Prozeß der Begriffsbildung, heißt das, ist, wenn auch im Einzelfall historisch, so doch zugleich ein immer von neuem sich erzeugender:

302

303

304

s. seinen Brief an Wilamowitz vom Dezember 1896, erstmals veröffentlicht in: H. METTE, Nekrolog einer Epoche, E. ROHDE, Brief an Usener vom 1. 6. 1896, publiziert: O. KERN, Hermann Diels und Carl Robert. Ein biographischer Versuch, Bursian 215, 1927, 189-191; in Auszügen wiederabgedruckt in: H. J. METTE, Nekrolog einer Epoche, 88-90. USENER, Götternamen, 298. Vgl. auch Göttliche Synonyme (1898), in: DERS., Kleine Schriften, Bd. 4, 259-306. Vgl. USENER, Götternamen, 290, 300.

Von der Urangst zum Mythos

73

Mag die Begriffsbildung in anderen Fällen auch abgeschlossen sein, verläuft doch die Genese neuer Begriffe entlang der beschriebenen drei Stadien - eine Beobachtung, die USENER auch für die Entstehung von Sondergöttern hinlänglich bewiesen hatte.305 Überzeugt ist USENER auch davon, daß mitunter eine sehr „lange bewahrung des alten" zu verzeichnen ist. Daß sich die Vorstellung lange bewahrte, daß einer gebärenden Frau Jede einzelne wehe, die [sie] überkam, als Είλείθυια" galt,306 Eileithyia also nicht als ursächlich, sondern als mit der einzelnen Wehe identisch verstanden wurde, scheint ihm durchaus plausibel. Bei dem Versuch, daraus im Verein mit der beobachteten .Vervielfältigung' persönlicher Götter ein systematisches Bild zu gewinnen, kommt er jedoch zu keiner überzeugenden Lösung: „Die begriffsbildung ist hier offenbar so verlaufen, dass der augenblicksbegriff und seine Vielheit sich erst in geschichtlicher zeit zu einer persönlichen gottheit verdichtete, geradeso wie Soles zu Sol, vielleicht auch Veneres zu Venus wurden, während die Spaltung von Juno in Iunones, Artemis in Άρτέμιδες, Eros in Eroten einen rückfall in die ursprünglichste vorstellungsweise bedeutet. Der rückfall ist ebenso wenig wie die lange bewahrung des alten befremdend bei einem cultus der frauen."307

Die bescheidene Überzeugungskraft dieses Erklärungsversuchs ändert nichts daran, daß USENER das Phänomen des ,Rückfalls' wahrgenommen hat. Sie macht aber auch deutlich, daß ROHDEs Kritik einen entscheidenden Schwachpunkt von USENERs Theorie getroffen hat: USENER setzt grundsätzlich eine lineare Entwicklung voraus, und das Phänomen der Regression paßt tatsächlich nicht in seine Systematik. Die Vereinheitlichung und Simplifizierung bei der Beschreibung frühmenschlicher Entwicklungsvorgänge wurde nicht nur von ROHDE bemängelt. Auch WILAMOWITZ hatte die Ausblendung individueller und , systemwidriger' Vorgänge schon lange zuvor heftig kritisiert: „Ich kann überhaupt das einheitliche griechische Volk nirgends finden, also auch keine urgriechische Sprache und keinen urgriechischen Vers und keine urgriechische Religion. Soweit ich von der kenntlichen Zeit zurückschreite, umso stärker divergieren die Linien der Entwicklung. Da wird es mir schwer, anders als mit dem Werte einer Fiktion (wie wir sie im Rechte so oft gebrauchen), das Urvolk und seine Kultur in meine Rechnungen einzuführen."

Daß WILAMOWITZ bei USENER den Blick für das Individuelle und Besondere vermißt, spiegelt aber vor allem die grundsätzlichen Divergenzen zwischen den beiden Forschern wider.309 Die Subsumierung einzelner, individueller

304 307 308

309

Nicht hierhin gehören die christlichen Heiligen, die als Inkorporation paganer Sondergötter gedeutet wurden, s. USENER, Götternamen, 116-122. USENER, Götternamen, 299. Ebd. Brief an Usener vom 13. 10. 1887, Wiederabgedrucktin: Usener und Wilamowitz. Ein Briefwechsel 1870-19.05, hrsg. von H. Dieterich/ F. Hiller von Gaertringen, 46. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen USENER und WILAMOWITZ war kompliziert. USENER selbst hat sich gegenüber WILAMOWITZ nie wirklich als dessen Lehrer emp-

74

Hennann Usener

Leistungen und Erscheinungen unter generelle Prinzipien, wie sie schon von August BOECKH versucht worden war,310 war WlLAMOWITZ gänzlich fremd. Freilich hat WlLAMOWITZ seine Kritik mit der gewohnten Schärfe formuliert und dabei unterschlagen, daß USENER niemals von einer flächendeckenden Vorstellungsform ausgeht, sondern, wenn auch nicht von „divergierenfden] Linien der Entwicklung" spricht, so doch die Koexistenz und Revitalisierung verschiedener Glaubensstufen, im Gegenteil, gerade betont. Schließlich wurden auch kleinere sachliche Einwände gegen das Modell der , Sondergötter' erhoben, die sich zwar an Einzelheiten festmachten, aber doch den Kern des Problems berührten. Georg WlSSOWAs Warnung vor einer vorbehaltlosen Verwendung der Varronischen indigitamenta-Listen311 hätte sich USENER wohl kaum anhören müssen, wäre er nicht geradezu besessen davon gewesen, eine systematisch erarbeitete Theorie allgemeiner Gesetze auf die Füße zu stellen. Auch die Kritik von Seiten der Sprachwissenschaften312 hat sich USENER möglicherweise weniger als Philologe denn als Kulturwissenschaftler eingehandelt. Auszuschließen ist es jedenfalls nicht, daß er ohne das zweifellos faszinierende Bestreben nach einer Erkenntnis des Allgemeinen so manche Wortgeschichte strenger beurteilt hätte. USENERs Schüler Walter Friedrich OTTO, der 1909 unter dem Titel Römische Sondergötter einen Aufsatz verfassen sollte, in dem er die Plausibilität von USENERs ,Sondergöttern' im einzelnen kritisch prüft, betont vor allem die Besonderheit der in den Varronischen Listen verzeichneten Götter, die nicht als Grundlage einer allgemeinen Begriffsbildung herangezogen werden können: „Wir müssen einfach anerkennen, dass, abgesehen von formellen Schwierigkeiten, in den varronischen Listen eine ganze Reihe Namen stehen, die wenn sie wirklich das bedeutet haben, was Varrò von ihnen behauptet, uns zwingen, eine aller Psychologie und Logik

310 311

312

funden (vgl. oben S. 8, Anm. 3), und auch umgekehrt kann nicht davon gesprochen werden, daß WlLAMOWITZ sich jemals als ein Schüler USENERs empfunden hätte. Wiewohl für beide gelten darf, daß sie „an die Stelle der ästhetischen" eine „geschichtliche Betrachtung" der Antike (F. PAULSEN, Geschichte des gelehrten Unterrichts, 2 Bde., 3. Aufl., Berlin 1919/1921, Bd. 2, 742, über Wilamowitz) forderten, hatte sich WlLAMOWITZ doch mit der Ablehnung gegenüber USENERs Anwendung der Vergleichenden Methode, gegenüber der Einbindung folkloristischen Materials, insbesondere aber gegenüber der Suche nach allgemeinen Gesetzen grundsätzlich von den für USENERs Forschungen wesentlichen Voraussetzungen von Anfang an distanziert. Zum Verhältnis USENER/ WILAMOWITZ vgl. auch M. LANDFESTER, Die hermeneutische Konzeption H. Useners, 162ff. Vgl. dazu M. LANDFESTER, Die hermeneutische Konzeption H. Useners, 171. G. WlSSOWA, Echte und falsche Sondergötter in der römischen Religion, in: DERS., Gesammelte Abhandlungen, 304ff.; vgl. dazu auch W. F. OTTO, Römische Sondergötter, RhM 64, 1909, 449-468, wiederabgedruckt in und hier zitiert nach: DERS., Aufsätze zur Römischen Religionsgeschichte, hrsg. von R. Merkelbach u.a., Meisenheim am Glan 1975 (= Beiträge zur Klassischen Philologie, Heft 71), 72-91. 72. S. dazu oben S. 71, Anm. 301.

Von der Urangst zum Mythos

75

spottende und in ihrer Art völlig allein stehende religiöse Begriffsbildung ruhig hinzunehti3l3 men.

Daß U S E N E R seinen Willen zur Systematisierung von Entwicklungsabläufen zuweilen auch bewußt korrekten Einzeldarstellungen überordnete, zeigt aber vor allem sein Umgang mit den litauischen „Sondergöttem". Der Rekurs auf außergriechisches Terrain bliebe funktionslos, gewönne USENER mit seiner Einschätzung der litauischen Götter nicht einen passenden Baustein, um das Postulat der Gesetzmäßigkeiten zu stabilisieren. Freilich darf man USENER, der seine Beurteilung der litauischen Götter auf zahlreiche Texte zur litauischen Religion, darunter ein ca. 1580 von Jan LASICKI verfaßtes Traktat, stützte,314 nicht nur Nachlässigkeit unterstellen. Daß die von ihm erwähnten litauischen Beispiele entweder nachchristliche Entwicklungen oder Erfindungen interessierter Berichterstatter waren, hat erst 1920 A. BRÜCKNER nachgewiesen.315 Und erst in den 1950-er Jahren wurde durch die Forschungsarbeit von W. C. JASKIEWICZ darüber hinaus klar, daß nur zwei der rund 80 von USENERs Gewährsmann genannten Namen überhaupt unter die als , Sondergötter' definierte Kategorie fallen, die übrigen dagegen allenfalls Geister oder Kobolde sind.316 Dennoch ist offensichtlich, daß USENER (wie bewußt auch immer) ungeachtet historischer Bedingtheiten und zeitlich-räumlicher Differenzen eine aus einem fremden Kulturraum stammende Erscheinung instrumentalisiert hat, um die Allgemeingültigkeit seiner Behauptung, namentlich die gesetzmäßige Existenz eines durch die Vorstellung von Sondergöttern sich bestimmenden Entwicklungsstadiums, zu festigen. Der Verlockung, aus den Vorgaben des Vergleichenden Verfahrens umgekehrt den Anspruch darauf zu erheben, einzelne Phänomene als Teil eines universell gültigen Ganzen betrachten zu dürfen, um diese dann wiederum als repräsentative und hinreichende Belege für eine allgemeingültige Theorie hinzustellen - dieser Verlockung hat sich USENER nicht entziehen können.

3.3

3.4 315

W. F. OTTO, Römische Sondergötter, 75. Vgl. dazu auch U. v. WILAMOWITZ, Der Glaube der Hellenen,Berlin 1931, Bd. 1, 11: „Von den römischen Sondergöttern, auf die Usener so viel Gewicht legte, sind nach der Kritik durch Otto und Wissowa immer noch einige Reihen übrig geblieben, die in gewissen Litaneien aufgeführt wurden, auch wohl priesterliche Opfer erhielten und ein jeglicher zu einem bestimmten Akte menschlicher Betätigung ihren Segen geben sollten ... aber lebendige Götter sind Vervactor, Redarator, Imporcitor usw., Adolenda, Commolenda, Deferunda nicht geworden. Die Priester mochten ihnen opfern, für das Volk waren sie gar nicht vorhanden und für die Priester in Wahrheit auch keine Götter, denn der Verstand hatte sie geschaffen." Vgl. USENER, Götternamen, 82. A. BRÜCKNER, Osteuropäische Götternamen, Zeitschrift für Vergleichende Sprachforschung 50, 1920, 161.-197. W. C. JASKIEWICZ, Λ Study in Lithuanian Mythology. Jan Lasicki's Samogitian Gods, Studi Baltici 9, 1952, 65-106, s. R. KANY, Mnemosyne als Programm, 105.

76

Hermann Usener

Personifikation und Narrativität Mit der Vorstellung von Sondergöttern hält USENER die Begriffsbildung im wesentlichen für abgeschlossen. Ihr folgt die Personifikation, die nicht nur die Voraussetzung für mythisches Erzählen, sondern auch für die eigentliche religiöse Empfindung ist: Die begrifflich transparente Benennung wird zum Eigennamen; die als mit einem göttlichen Wesen identisch oder später dann als durch ein solches bewirkt gedachte Erscheinung wird zu einem als willentlich und subjekthaft agierend, persönlich gedachten Gott, und indem sie als frei entscheidendes und damit auch beeinflußbares Wesen begriffen wird, erlaubt sie die Genese von religiösem Ehrgefühl und Gebet. Kurzum: Personifikation ist die Wandlung vom Gattungsbegriff zum eigenständigen Subjekt: ,,[D]er begriff [gewinnt] leiblichkeit, gleichsam fleisch und blut."317 Der Anteil, den die sprachliche Entwicklung an diesem Vorgang hat, war bereits angesprochen worden: Ähnlich wie Friedrich Max MÜLLER sieht USENER den Grund für diese Transformation im Verlust semantischer Transparenz.318 Die Hauptursache liegt seiner Ansicht nach freilich in einem fortschreitenden Drang nach Systematisierung - eine These, die, wie Max 319 WEBERs Ansatz zeigen konnte, ebenso faszinierend wie problematisch ist. Der Übergang von der Personifikation zum mythischen Erzählen schließlich, dessen Untersuchung im Zentrum der Sintfluthsagen steht,320 wird in den Götternamen nicht mehr behandelt. Allerdings gibt es Andeutungen, wie USENER sich diesen Prozeß vorstellt. So deutet er den Mythos der „Lichtgöttin" Phaidra, die sich mit einem Strick erhängt, als eine Reminiszenz der Vorstellung vom absterbenden Mond. Freilich bleibt sowohl die Deutung des sprachlichen Vorgangs wie auch die Herleitung dieser Heroine aus dem Bereich der Lichtgöttinnen, die wohl einfach nur in der Tradition der Naturmythologen steht, dem Leser überlassen.321 Die Sequenz des Selbstmordes, den Phaidra nach der Abweisung durch Hippolytos verübt, versteht USENER demnach nicht als ein im Kontext der Hippolytos-Phaidra-Geschichte, also im Zusammenhang mit dem dramatischen Geschehen entstandenes Element, sondern als eine unverbrüchliche Konstante der Phaidra-Figur, die bereits vor der Einbindung in den Hippolytos-Mythos festgestanden habe und aus der 317 318 319 320 321

USENER, Götternamen, 331. S. dazu oben S. 19f., 23f. S. dazu oben S. 51-53. S. dazu oben S. 25f. und unten S. 82. USENER, Götternamen, 239ff. Eine Etymologie des Namens der Phaidra gibt USENER nicht; anzunehmen ist, daß er an einen Zusammenhang mit φαίδιμος denkt (vgl. dazu H. FRISK, Griechisch-etymologisches Wörterbuch, Bd. 2, 981). Neben Phaidra gibt es eine Reihe anderer Erzählungen sich erhängender (mythischer) Frauen, von deren Mythos USENER auf eine frühere Existenz als Lichtgöttin schließt, etwa 'Εκάτη Ά π α γ χομένη. S. auch ebd., 160. Zu den Anklängen an die Sonnen- und Mondmythologie der ,Naturmythologischen Schule' s. oben S. 18 mit Anm. 55.

Von der Urangst zum Mythos

77

Vorstellung von einer Lichtgöttin heraus entwickelt worden sei. Die Konsequenzen, die USENER aus der Annahme einer fixen Zuweisung von Aktionsbereich und narrativer Verbildlichung zieht, fordern nun darüber hinaus noch eine weitere zentrale Prämisse zutage: Für USENER bedeutet der beschriebene Vorgang in erster Linie, daß der sprachliche Prozeß, der zur Bildung der Götternamen geführt hatte, von den Inhalten des uns bekannten Mythos noch völlig unbeeinflußt war. Wenn er die Sondergötter als Begriffe beschreibt, mit denen der mythisch denkende Mensch gedanklich operiert habe, dann insinuiert er also, daß der Mythos nicht ausschließlich als Text, d.h. als in historischen Zeugnissen dokumentierte dramatische Ausgestaltungen (Mythologeme, ,Mythen'), sondern jedenfalls in diesem Stadium als nichts anderes denn als ein Begriffsapparat des mythischen Denkens zu verstehen ist. Wie schon im Zusammenhang mit dem Unbewußten beobachtet, ist der methodische Vorteil der Konstruktion unübersehbar. Indem er jegliche Formen dramatischer Ausgestaltung und damit zeitlich jegliche sprachbildend interpretatorische Eingriffe vor dem Begriffsbildungsprozeß ansetzt, gelingt es ihm, diesen selbst als ein Stadium zu betrachten, in welchem die sprachlichen Ausdrucksformen als noch gesetzmäßig geformte, reine Gebilde gelten dürfen. Die zeitliche Zäsur, die zwischen den Abschluß des begrifflichen Denkens und den Beginn lebendiger Erzählung tritt, markiert also zugleich zwei unterschiedliche Formen von Entstehungsbedingungen. Während die Entstehung des begrifflichen Denkens in reinster Form einem „inneren Gesetz" des menschlichen Geistes verpflichtet wird, wird die Genese von Erzählungen in ein Stadium verbannt, in welchem die unbewußt gesteuerten Vorgänge bereits abgeschlossen sind. Das grundsätzlich interpretatorisch wirksame rekonstruktive322 Potential von Erzählungen wird vollends dadurch beiseite geschoben, daß diese allenfalls als Verbildlichung der in die Götternamen eingeflossenen Aktionen und Tätigkeitsfelder betrachtet und in ihrer Wirksamkeit als sprachbildende Mechanismen ignoriert werden. Selbst die Volksetymologie wird von USENER, wenn auch in ihrer Wechselwirkung zu

„Kein Gedächtnis vermag eine Vergangenheit als solche zu bewahren, sondern nur das bleibt von ihr, ,was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann' [M. HALBWACHS, La mémoire collective, Paris 1950]. Das kulturelle Gedächtnis verfährt rekonstruktiv, d.h., es bezieht sein Wissen immer auf eine aktuell gegenwärtige Situation. Es ist zwar fixiert auf unverrückbare Erinnerungsfiguren und Wissensbestände, aber jede Gegenwart setzt sich dazu in aneignende, auseinandersetzende und verändernde Beziehung", J. ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Kultur und Gedächtnis, hrsg. von J. Assmann/ T. Hölscher, Frankfurt a.M. 1988, 9-19. 13. Vgl. auch DERS., Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (1992), München 1999, 4042. Auf das Verhalten von Erzählungen angewandt, soll Rekonstruktivität die normalerweise durch einen Erzählrahmen gegebene Umdeutung einzelner, die Erzählung konstituierender Elemente bezeichnen, hier: der zu erwartende Einfluß mythischer Erzählungen auf die Semantik der Göttemamen (wie er von USENER ausgeschlossen wird).

78

Hermann Usener

erzählerischen Inhalten anerkannt, so doch als fur die frühe Sprachbildung unwirksam beschrieben. Die zeitliche EntSchichtung der beiden Entstehungsvorgänge erlaubt es, für den Vorgang der Begriffsbildung alle Störfaktoren auszuschließen, die einem gesetzmäßigen Verlauf dieser entwicklungsgeschichtlichen Phase entgegenstehen könnten, und an der Funktion des Unbewußten als eines präindividuellen Steuerungsmechanismus' festzuhalten. Die Konstruktion ist insofern entscheidend, als USENER anderweitig seine implizite Bestimmung der Götternamen als eines Archivs grundlegend gefährdet hätte: Hätte er den Einfluß von Erzählungen schon vor Abschluß der Begriffsbildung angesetzt, hätte er bereits auf der Ebene sprachlicher Forstufen durch Rekontextualisierungsvorgänge bedingte sprachliche Veränderungen einbeziehen müssen, so daß die etymologische Rekonstruktion nicht auf ausschließlich gesetzmäßig generierte sprachliche Zeugnisse hätte aufbauen können. Das allerdings wäre ein Problem geworden. Denn nur das kann durch Anwendung entsprechender Gesetze wieder erschlossen werden, was auch gesetzmäßig entstanden ist.

Die , Götternamen ' im Kontext von Useners Gesamtoeuvre Bereits zwei Jahre vor ihrer Veröffentlichung hatte USENER in einem Brief an seinen einstigen Lehrer Alfred FLECKEISEN323 die Götternamen als sein „Lebenswerk" annonciert.324 In der Tat markierte das Buch einen Wendepunkt. Aus USENERs Sicht war mit der Publikation der Götternamen ein Zeitraum von fast dreißig Jahren abgeschlossen, in denen er sich in Ansätzen oder seit 1873 dann intensiver mit dem Thema beschäftigt hatte. Legendär ist der seit 1873 vorbereitete, aber erst 8 Jahre nach den Götternamen (1904) im .Archiv für Religionswissenschaft' (ARW) erschienene Aufsatz Mythologie,325 Dieser Aufsatz, wie USENER seinem Schüler DIETERICH später schreiben wird: sein „Testament",326 nimmt eine Schlüsselposition in USENERs Werk ein, da er die Grundlagen für USENERs Mythosbegriff (in einer etwas abstrakteren Weise als in den Götternamen geschehen) reformuliert und in einem allgemein zugänglichen Ton die religionswissenschaftliche Bedeutung von Mythos und Sprache hervorhebt, wie sie in den Götternamen vorausgesetzt wird. Die frühe Wirkung der darin formulierten Thesen ging von der

323

324

325



Vgl. L. DEUBNER, Hermann Usener, Bursian 141, 1908, 53. Zu Alfred FLECKEISEN, einem Schüler Friedrich RlTSCHLs, s. G. GÖTZ, Karl Friedrich Wilhelm Alfred Fleckeisen, Bursian 107, 1900, 25-47. Brief an Fleckeisen vom 29. 10. 1894, veröffentlicht in: R. KANY, Mnesmosyne als Programm, 79, Anm. 52. ARW 7, 1904, 6-32, wiederabgedruckt in: USENER, Vorträge und Aufsätze, 39-65. A. DIETERICH, Hermann Usener, I; s. auch L. DEUBNER, Hermann Usener, 71.

Die Götternamen im Kontext von Useners Gesamtœuvre

79

gleichnamigen Vorlesung aus, die USENER in Bonn über mehrere Semester hinweg gehalten hatte.327 Das früheste publizierte Zeugnis aber ist die Abhandlung Kallone,328 in der nicht nur inhaltlich und methodisch, sondern auch in der Technik der Darstellung einiges vorweggenommen wird. Ein kleines Detail im Aristophanischen Friederi329 führt USENER auf die Göttin Kallone und zu umfangreichen Erläuterungen zur Bedeutung ihres Namens. Die „Mythologie [sc.: Useners wissenschaftliche Behandlung des Mythos]", wird USENERs Enkelschüler Ludwig DEUBNER später bemerken, sei in diesem Aufsatz „gewissermaßen noch verschämt" aufgetreten.330 Damit hat es durchaus seine Richtigkeit: Denn die Systematik, mit der USENER das reiche Material später zu seiner Lehre von der Begriffsbildung ordnen wird, fehlt hier noch ganz.331 Das Material selbst und einige der für die Götternamen konstitutiven Implikationen liegen in Kallone aber bereits vor. Dahin gehören die Behauptung, daß Spuren der primitiven Vorstellung durch dichterische Zusätze, 332 durch Logo- und Mythographie 333 und durch das „mythenbildende spiel der spräche" verwischt worden seien, und die für USENERs eigene Systematik später relevante Prämisse, daß den persönlichen nomina agentis durch Suffixbildungen und andere Wortwucherungen erweiterte adjektivische Formen zugrunde lägen.334 Der von USENER in den Götternamen vehement betonte Zusammenhang von Suffix- und Wortbildungsprozessen ist auch in Kallone lebendiger Bestandteil 327

328 329

330 33

'

332 333 334

Die Vorlesung Mythologie beruhte auf einer mehr als zwölf Jahre währenden Auseinandersetzung mit der religionswissenschaftlichen Bedeutung von Mythos und Sprache. USENER hatte sie im Sommersemester 1873 erstmals gehalten und insgesamt neunmal wiederholt, vgl. L. DEUBNER, Hermann Usener, 59. Die in der Bonner Universitätsbibliothek aufbewahrte Vorlesungsmitschrift von Albrecht DIETERICH (ebenfalls WS 1886/1887) ist (wie auch die Mitschriften WS 1868/1869: Griechische Religionsgeschichte und Mythologie [H. DIELS]; WS 1886/1887: Mythologie [A. DIETERICH]; SS 1887: Encyclopädie und Methodologie der Philologie [A. DIETERICH]; SS 1894: Formenlehre der religiösen Vorstellungen [F. W. von BISSING]) dem Bombenangriff im Oktober 1944 zum Opfer gefallen. Eine Mitschrift dieser Vorlesung von Aby WARBURG ist aufbewahrt im Kollegbuch im Warburg Institute, London. Sie umfaßt die Wochen zwischen dem 28. 10. 1886 und dem 10. 12. 1886. USENER, Kallone (RhM 23, 1868, 316-377), in: DERS., Kleine Schriften, Bd. 4, 1-93. Im Aristophanischen Frieden (Ar. Pax 261-286) adressiert der attische Winzer Trygaios (V. 276-279) ein Stoßgebet an das athenische Publikum (ωνδρες): Wer von den Männern die Samothrakischen Weihen empfangen habe, der möge doch beten (νυν έστιν εΰξασθαι καλόν), daß dem Boten beide Füße verrenkt würden. Daß der Name der anzurufenden Gottheit nicht ausgesprochen werden durfte, verstehe sich von selbst, an welche Gottheit aber, fragt USENER, soll Trygaios (bzw. Aristophanes) an der vorliegenden Stelle gedacht haben? L. DEUBNER, Hermann Usener, 59. A. HENRICHS, ,Der Glaube der Hellenen ', 281, hat die Arbeit, nicht ganz zu Unrecht, als eine „geniale, aber erfolglose Materialschlacht" bezeichnet. USENER, Kallone, 64f. Ebd., 14ff. Ebd., 51.

80

Hermann Usener

der Namensdeutungen. Schließlich tauchen auch die Götter der römischen indigitamenta, aus denen USENER das begriffliche Stadium der , Sondergötter' ableiten wird, hier schon auf.335 Schließlich äußerte USENER in Kallone auch schon grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Mythos, wie sie dann in der Vorlesung über Mythologie und dem gleichnamigen Aufsatz wieder auftauchen sollten.336 Was fehlt, ist freilich die Einbindung der einzelnen Implikationen in ein theoretisches Gerüst und eine präzise Terminologie, mit der die beschriebenen Vorgänge begrifflich gefaßt werden könnten. Der Aufsatz Kallone bleibt, anders als die Götternamen, bei der Untersuchung eines einzelnen Phänomens. Ziel ist es weder, ein Gesamtbild der griechischen Religion zu entwerfen, noch, die psychologischen Grundlagen des religiösen Denkens im ganzen zu erforschen. Dennoch sind die darin implizierten Beziehungen von Sprache und Religion wegweisend. Ein anderes tragendes Moment, die ,Andacht zum Unbedeutenden', kündigt sich in dem Aufsatz über Italische Mythen an, den USENER zwei Jahre nach seiner Absage an WELCKERs Urmonotheismus-Hypothese im ,Rheinischen Museum' publizierte.337 USENER widmete sich hier den Spuren der hinter dem Glauben an die olympischen Götter zurückgetretenen italischen Volksüberlieferung. Die vorbehaltlose Einbeziehung folkloristischen Materials zeigt sich hier in ihrer besten Form; und mit der Bestimmung des folkloristischen Materials als eines unveränderten Ausdrucks früher Glaubensformen wird zugleich die für USENER später so bedeutsame Kategorie der Kontinuität vorbereitet. Den Götternamen gingen aber nicht nur zahlreiche Einzeluntersuchungen voraus. USENER ließ es sich auch nicht nehmen, darin Übergangenes oder nur Gestreiftes in späteren Abhandlungen nachzubereiten'. Darunter fallt etwa die Sonderstudie über Pasparios oder die Arbeit über das Problem der doppelten Väter der Heroen,338 in der er die Zuweisung eines göttlichen und eines sterblichen Vaters (wie das etwa bei Herakles der Fall ist) darauf zurückführte, daß sich „in den Namen der sterblichen Väter in der Regel ältere landschaftliche Benennungen desselben Gottes verbergen".339 Daß Amphitryon „ursprünglich selbst eine Anschauungsform und Benennung des Zeus gewesen 335 336 337

338

339

Ebd., 15, Anm. 29. Vgl. dazu die biographische Notiz bei A. DIETERICH, Hermann Usener, Π. USENER, Italische Mythen (RhM 30, 1875, 182-229), in: DERS., Kleine Schriften, Bd. 4, 93-143. Die Sonderstudie über Pasparios (RhM 40, 1894, 461-471) ist wiederabgedruckt in: USENER, Kleine Schriften, Bd. 4, 182-94 (zu Pasparios vgl. auch USENER, Götternamen, 66); die Arbeit über das Problem der doppelten Väter der Heroen wurde im Rheinischen Museum 1898, 53, 329-379, unter dem Titel Göttliche Synonyme veröffentlicht und ist wiederabgedruckt in: Kleine Schriften, Bd. 4, 259-306 (zur Synonymbildung vgl. auch USENER, Götternamen, 72). USENER, Göttliche Synonyme, 263.

Die Götternamen im Kontext von Useners Gesamtceuvre

81

sein" müsse,340 folgt einer argumentativen Technik, die uns aus den Anfangskapiteln der Götternamen vertraut ist: Der Name Amphitryon, so USENERs These, bestünde sprachlich aus άμφί („doppelseitig") und „einer Gestaltung der bekannten, auch in τείρειν terere, τέρετρον terebra, τρίβειν vorliegenden Wurzel"; ursprünglich habe er einen „nach Osten und Westen den Donnerkeil entsendenden und damit durchbohrenden Gewittergott" bezeichnet. Als den semantisch ausschlaggebenden Hinweis deutet USENER das ,,υ" in Amphitryon: „das υ zeigen auch τρύμη τρΰμα τ ρ υ μ α λ ι ά Loch, τρύω τρύχω zerreiben, erschöpfen, τρύος Mühe, τ ρ υ π ά ν bohren, τρύπανον Bohrer, ursprünglich Reibeholz zur Feuererzeugung, trua Rührkelle." Amphitryon sei also zunächst einer der vielen Gewittergötter (also ein Sondergott) gewesen und später dann einem (ihm ähnlichen) großen (also persönlichen) Gott - hier: „der allumfassenden Gestalt des Zeus" - unter Verlust seiner Eigenständigkeit eingegliedert worden - eine Deutung, bei der das in den Götternamen entwickelte Konzept der Abfolge von Augenblicks-, Sonderund persönlichen Göttern unverkennbar Pate steht. Spezialuntersuchungen zu Psithyros und Keraunos wurden 1904341 bzw. 1905342 nachgereicht. Die nur knapp zwei Seiten umfassende Miszelle über den einstigen „Flüstergott" Psithyros arbeitet nicht nur mit der Theorie, daß die Sondergötter später in den Aktionsbereich der großen Götter integriert worden seien - für Psithyros sind das u.a. Aphrodite und Hermes - , sondern auch mit der aus den Götternamen vertrauten These, daß das Alte, Überholte trotz allgemein voranschreitender Entwicklung unverändert neben dem Neuen weiterlebt: ψίθυρος findet sich nicht nur als Beiname der genannten Götter, sondern, wie aus einer kaiserzeitlichen Inschrift an der Nordecke des Athenetempels von Lindos hervorgeht, auch als ein niederer Heros: „Wenn zu Athen neben Göttern mit dem Beinamen ψίθυρος auch ein Heros Psithyros verehrt wurde, so nötigt uns das zu dem Schlüsse, daß hinter beidem einmal ein alter Sondergott Psithyros stand, dessen man sich, als der Gottesbegriff unbequem geworden war und nicht mehr in die herrschende Götterwelt paßte, durch das doppelte Verfahren zu entledigen wußte, ihn höheren Göttern unterzuordnen oder auf den Rang eines Heros herabzusetzen. Hier auf Lindos tritt uns nun dieser alte Flüstergott plötzlich, noch in der Kaiserzeit, gleichsam persönlich gegenüber. Er steht durchaus selbständig, scharf geschieden von der Göttin, der er sich zugesellt, und keine Silbe verrät, daß er nicht als Gott gedacht würde."343

Auch in der Studie Keraunos spielt USENER anhand eines konkreten Beispiels seine Theorie der drei Entwicklungsstadien noch einmal durch. Nicht umsonst hat denn auch das von USENER formulierte Schicksal des Blitzgottes 340 341

342

343

Ebd., 266. USENER, Psithyros (RhM 59, 1904, 623-624), in: DERS., Kleine Schriften, Bd. 4, 467-69. USENER, Keraunos (RhM 60, 1905, 1-30), in: DERS., Kleine Schriften, Bd. 4, 471497. USENER, Psithyros, 469.

82

Hermann Usener

in der von der Forschungsliteratur angeführten Beispielliste den ersten Platz eingenommen. Daß als Gott zunächst der einzelne Blitz (Augenblicksgott), dann der (abstrakte) Sender der Blitze (Sondergott) und schließlich ein persönlicher Gott (Ζευς Κεραυνός) vorgestellt worden sei, schien als Veranschaulichung von USENERs Theorie der Begriffsbildung offenbar so überzeugend, daß kaum eine Darstellung über die Götternamen darauf verzichten wollte.344 Neben diese Einzeluntersuchungen, in denen USENER seine in den Götternamen entwickelten Thesen an weiteren Phänomenen erprobt, treten die Nachträge, in denen er das dort nur Angedeutete nachzuholen und auszufuhren sucht. Die im Vorwort der Götternamen geforderte Darstellung der Vorgänge von Beseelung (Personifikation)345 und Verbildlichung (Metapher) und der sich daraus entwickelnden Formen der Symbolik, des Mythos und des Kultus,346 zu der es im Werk selbst nicht in vollem Umfang kommen sollte,347 trägt USENER in der 1899 publizierten Arbeit über Die Sintfluthsagen348 nach, in der er das „mythische bild" als die Veranschaulichung des Begriffs und „die wunderbare triebkraft ... in der ausgestaltung zu mythen" faßt.349 Fortgeführt und zu einem seiner großen Themen gemacht hat diesen Gedanken vor allem USENERs Schüler Ludwig RADERMACHER. Was RADERMACHER als „Mythenkern" bezeichnen wird, finden wir in U S E N E R s Sintfluthsagen in dem Begriff der „wurzelhaften Vorstellung" angelegt.350 Zu diesen ,Nachträgen' kommen die (in erster Linie) theoretischen Überlegungen, mit denen USENER seit der Vorlesung über Mythologie seine Arbeiten am Problem der Begriffsbildung begleitet hat. Sie finden sich vor allem in der 1907 posthum erschienenen und von Albrecht DIETERICH herausgegebenen Sammlung Vorträge und Aufsätze - genannt sei die Abhandlung

344

345

346

347

348

349 350

Auch in den Götternamen selbst kommt USENER, 286ff., im Kapitel Augenblicksgötter auf Keraunos zu sprechen. Die Beliebtheit des Beispiels geht aber wohl auf den gleichnamigen Aufsatz zurück. USENER, Götternamen, 364ff., behandelt lediglich die Personifikation von Abstrakta, etwa Phobos, Deimos, Eris, Mors oder Farnes, nicht aber den eigentlichen Übergang zu selbständigen subjekthaften, persönlichen Göttern. USENER, Götternamen, VI. Zu USENERs Plänen siehe A. DIETERICH, Hermann Usener, Vllf. Vgl. USENER, Götternamen, 375: Mit der Personifikation abstrakter Wörter „stehen [wir] vor einer erscheinung, welche jenseits der begriffsbildung liegt, die für jetzt unsere aufgabe war. Die beseelung oder personification, auf welcher diese dinge beruhn, gehört zu den elementaren und unbewussten Vorgängen der menschlichen Vorstellung. Diese erfordern eine betrachtung für sich, sowohl um ihrer selbst willen als weil sie das verständniss von symbol und mythus eröffnen werden." S. dazu die Rezension von F. JUSTI, Berliner Philologische Wochenschrift 13, 1900, 403-407. USENER, Die Sintfluthsagen, 194. Ebd., 197. Vgl. dazu oben S. 25 (zur „wurzelhaften Vorstellung"); unten S. 130f„ 136f. (zu RADERMACHER).

Die Götternamen im Kontext von Usenets Gesamtceuvre

83

Über vergleichende Sitten- und Rechtsgeschichte (1892. 1902) und besonders die 1882 entstandene Rede Philologie und Geschichtswissenschaft.351 Unter den in Bd. 4 der Kleinen Schriften versammelten Aufsätzen zur Religionsgeschichte der wohl bedeutendste ist die 1904 im , Archiv für Religionswissenschaft' veröffentlichte Studie über die Heilige Handlung?51 in der sich USENER, der sich bislang vor allem der Sprache zugewandt hatte, einer weiteren Ausdrucksform annimmt: der feierlichen Darstellung der Göttersagen im Gottesdienst. Die Studie zur Heiligen Handlung, die zeitlich bis in die Moderne, geographisch bis nach Mexiko und ästhetisch bis hin zu Zauberriten, Gassensprüchen und Küchenbräuchen führt, scheint auf den ersten Blick mit den Götternamen nichts zu tun zu haben. Und doch weist ihre Intention in eine ähnliche Richtung und liefert sie im nachhinein die Grundlage für eines der wesentlichen Implikationen des Buches. Vorderes Ziel der Abhandlung ist eine Bestimmung der entwicklungsgeschichtlichen Relation von Sprache und Handlung. Illustriert der Ritus die Sage oder ist es umgekehrt: War die Handlung zuerst da? Die Frage traf eines der Kernprobleme der Religionswissenschaft353 und war vor allem durch die von den Cambridge Ritualists aufgeworfenene Diskussion hochaktuell.354 Die Gruppe um den in .Classics' ausgebildeten James George FRAZER355 (1854-1941), die Archäologin Jane E. HARRISON356 (1850-1928) und den Theologen und Semitisten William

352

353

354

355

356

E. ROTHACKER, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 136f., spricht neben dem Einfluß DlLTHEYs die „auffallende Ähnlichkeit" von USENERs „Menschenwissenschaft" mit Wilhelm SCHERERs 1861 erschienenem Programm einer „allgemeinen vergleichenden Geschichtswissenschaft" an (W. SCHERER, Vorrede zu Zur Geschichte der deutschen Sprache, Berlin 1868; in Auszügen wiederabgedruckt bei E. ROTHACKER, a.a.O., 220-224). Zum Verhältnis SCHERER/ USENER s. auch R. KANY, Mnemosyne als Programm, 76f. USENER, Heilige Handlung (ARW 7,1904, 281-339), in: DERS., Kleine Schriften, Bd. 4, 422-467. Zur Beurteilung des Verhältnisses von Mythos und Ritual innerhalb der religionswissenschaftlichen Diskussion s. K. WALDNER, Geburt und Tod des Kriegers. Geschlechterdifferenz und Initiation in Mythos und Ritual der griechischen Polis, Berlin/ New York 2000, 12-18. Vgl. dazu W. BURKERT, Stucture and History in Greek Mythology and Ritual, Berkely/ Los Angeles/ London 1979 (= Sather Classical Lectures 47); DERS., Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, 172-177; R. SCHLESIER, Prolegomena zu Jane Harrisons Deutung der antiken griechischen Religion, in: DIES., Kulte, Mythen und Gelehrte, 145-192. Vgl. dazu R. ACKERMAN, Frazer on Myth and Ritual, Journal of the History of Ideas 36, 1975, 115-134; DERS., The Myth and Ritual School: J. G. Frazer and the Cambridge Ritualists, New York/ London 1991. J. E. HARRISON, Mythology and Monuments of Ancient Athens. Being a Translation of the ,Attica ' of Pausanias by Margaret de G. Verrall. With an introductory essay and archaeological commentary by J. E. H, London 1890; DIES., Prolegomena to the Study of Greek Religion, Cambridge 1903; DIES., Themis. A Study of the Social Origins of Greek Religion, Cambridge 1912. Vgl. dazu R. ACKERMANN, J. E. Harrison: The Early Work, GRBS 13, 1972, 209-230; R. SCHLESIER, Prolegomena zu Jane Harrisons Deutung der antiken griechischen Religion, 145-192.

84

Hermann Usener

Robertson SMITH357 (1846-1894) (hinzugezählt werden müssen auch Gilbert MURRAY und Francis CORNFORD) hatte sich dafür eingesetzt, die Abhängigkeit des Mythos vom Ritual aufzuweisen. USENER, der den Ritus in den 1875 publizierten Italischen Mythen noch als „Reflex des Mythos"358 gedeutet hatte, revidiert diese Ansicht 30 Jahre später in der Heiligen Handlung (1904) von Grund auf - freilich ohne erkennbar von der englischen Anthropologie beeinflußt worden zu sein.359 In den Götternamen, deren Entstehungszeit zwischen diese beiden Schriften fallt, war das Verhältnis von Ritus und Mythos merkwürdig unbestimmt geblieben. Einerseits schreibt USENER einigen Lokalgottheiten (die ja auch einen Kult haben) den Status eines ehemaligen Augenblicksgottes zu, andererseits sieht er die Voraussetzung für einen Kult, wie im übrigen auch das Beispiel des Korndämonen zeigen konnte, erst mit der Vorstellung von persönlichen Göttern gegeben.360 In der Heilige Handlung kommt er dann schließlich zu dem Ergebnis, daß „in sakramentaler Handlung das Samenkorn [liegt], aus dem nach allmählicher Umbildung ein ganzer - nicht Baum, sondern Wald von Sagen erwachsen sollte."361

Die Revision des in den Italischen Mythen formulierten Ansatzes ist in ihrer Bedeutung nicht nur für USENER selbst (der damit die Bindung des Kultischen an den Abschluß der Begriffsbildung aufhebt), sondern auch und gerade für seinen Schüler Albrecht DIETERICH nicht zu unterschätzen. DlETERICHs Versuch, die Ursprünge menschlichen Denkens weniger in den Spuren des Mythos als in denen des Ritus zu suchen, hat die in der Heiligen Handlung dem Rituellen zugewiesene Bedeutung praktisch den Weg gewiesen. USENER selbst stützte mit dem Nachweis der zeitlichen Priorität des Ritus vor allem seine Untersuchungen zum Phänomen der Kontinuität.362 Während sich der antike Mensch nicht gescheut habe, die Göttersage, zumal in der Tragödie, zu ,entgöttlichen', habe er die heilige Handlung vor der Profanation geschützt und nie „zum Gegenstande freien Spiels gemacht".363 Freilich nutzt USENER 357

358

359

360

361 362

363

W. R. SMITH, Lectures on the Religion of the Semites, Edinburgh 1889 (dt.: Die Religion der Semiten, Tübingen 1899). Vgl. dazu O. BEIDELMANN, William Robertson Smith, Chicago 1974. USENER, Italische Mythen, 142, vgl. dazu W. BURKERT, Griechische Mythologie, 177, Anm. 1. Von einer Parallelentwicklung der englischen und deutschen Anthropologie geht auch R. SCHLESIER, „Arbeiter in Useners Weinberg", 200f., aus. Anders W. BURKERT, Griechische Mythologie, 177 und ebd., 200: „Hier steht doch wohl feme Anregung aus Cambridge im Hintergrund." Vgl. dazu oben S. 58. Angesprochen wurde das Problem auch von U. von WILAMOWITZ, Der Glaube der Hellenen, 11. USENER, Heilige Handlung, 467. S. dazu unten S. 92-95. Dem Kontinuitätsproblem stand USENER weit weniger kritisch gegenüber als selbst die Volkskunde, vgl. dazu W. BURKERT, Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, 203. USENER, Heilige Handlung, 423.

Die Götternamen im Kontext von Useners Gesamtœuvre

85

dies, anders als DIETERICH, nicht dahingehend, daß er die Handlungen in ihrer ganzen Prozessualität als unmittelbare Reflexe frühmenschlichen Denkens in die Untersuchung einbindet, sondern nur in bezug auf die im Kult erwähnten und verehrten göttlichen Wesen. Die Untersuchung zur Heiligen Handlung gewinnt ihre Bedeutung für die Götternamen vornehmlich dadurch, daß USENER mit der darin formulierten Abgrenzung von Sprache und Handlung eine genauere Begründung dafür nachträgt, warum er sich besonders mit der Heranziehung von im Kult belegten Namen eine zuverlässige Spur zum Ursprung erhofft hatte. Den offiziellen Ausschlag, als Philologe ein so grundsätzliches und umfassendes Problem wie die religiöse Begriffsbildung in Angriff zu nehmen, gab ein schon früh in den philologiehistorischen Anekdotenschatz eingegangenes364 Ereignis: Nach durchwachter Nacht, heißt es da in genretypischer Verdichtung, sei USENER im Sommersemester 1873 vor seine Hörer getreten und habe ihnen mitgeteilt, „bisher einer ganz verkehrten Auffassung vom Gang der menschheitlichen Religionsgeschichte gefolgt zu sein."365 Die Auffassung, auf die das Diktum anspielt und die USENER in einer 180-Grad-Wendung hinter sich lassen wollte, war die seines ehemaligen Lehrers Friedrich Gottlieb WELCKER. 366 WELCKER, der seit 1819 den Bonner Lehrstuhl für „Griechische Philologie und verschiedene Disziplinen der Altertumswissenschaft" innegehabt hatte367 (und von USENER im übrigen als „unser aller lehrer, auch derer, die es nicht wissen" 368 bezeichnet wird), war ein Vertreter der sogenannten ,Urmonotheismus'-Hypothese. In seiner Griechischen Götterlehre behauptete er, daß sich die Vielzahl der Götter (und Religionen) aus einem

364 365

366

367

368

Vgl. R. KANY, Mnemosyne als Programm, 91. Vgl. L. DEUBNER, Hermann Usener, 59; E. NORDEN, Kleine Schriften zum klassischen Altertum, Berlin 1966, 662; A. DIETERICH, Hermann Usener, III: „Noch schildern es Augen- und Ohrenzeugen, wie er eines Morgens nach einer fast durcharbeiteten Nacht in der Vorlesung die ganze bisher vorgetragene Hauptanschauung mit der leidenschaftlichen Ehrlichkeit, die das Innerste seines Wesens war, für irrtümlich erklärte - er hatte den Gedanken, daß aus dem einen Gott alle die vielen sich entwickelt hätten, zu Ende gedacht und ihn .dadurch widerlegt'. Die kapitale Erkenntnis war da, daß am Anfang die Vielheit steht." USENER selbst reflektiert die in der Auseinandersetzung mit F. G. WELCKER, F. W. J. SCHELLING und C. F. HERMANN entstandene Revision seiner früheren Auffassung Götternamen, 273-276. H. J. METTE, Nekrolog einer Epoche, 20. Zum Verhältnis WELCKER/ USENER s. grundsätzlich A. HENRICHS, Welckers Götterlehre, in: Friedrich Gottlieb Welcker. Werk und Wirkung, hrsg. von W. M. Calder III/ A. Köhnken/ W. Kullmann/ G. Pflug, Stuttgart 1986, 179-229. 223-229. Zur Bezeichnung der Disziplinen vgl. A. KÖHNKEN, Welcker und die Bonner philologische Tradition, in: Friedrich Gottlieb Welcker. Werk und Wirkung, hrsg. von W. M . Calder III/ A. Köhnken/ W. Kullmann/ G. Pflug, 79-104. 80. Vgl. auch DERS., Friedrich Gottlieb Welcker (1784-1868), Gymnasium 97, 1990, 97-103. USENER, Götternamen, 273.

86

Hermann Usener

ursprünglich allgemeinen Gottesbegriff entwickelt habe,369 eine These, die er schon im Anhang zu Konrad SCHWENCKs Etymologisch-Mythologischen Andeutungen vertreten hatte. Dort sprach er von der „Einheit des lebendigen Gottes, als dessen Bild die Natur angebetet wird, der aller Religionen Anfang ist, weil das Bedürfniß im Innern der Menschheit nur auf Eines und ein Unbestimmtes, Unendliches, nur auf Einen Gegensatz der Schwäche und Vergänglichkeit hinweist."370

Die ,Urmonotheismus'-Hypothese, zu deren Verfechtern man neben WELCKER und Friedrich CREUZER371 bedingt auch Jacob GRIMM,372 Friedrich SCHELLING373 und Friedrich Max MÜLLER374 zu zählen hat und die 369

370

371

372

373

F. G. WELCKER, Griechische Götterlehre, Bd. 1, 129-138 (vgl. auch ebd., 225f. und WELCKERs Vorrede zu Bd. 3, IV-XXIX). USENER, Götternamen, 273-276, diskutiert vor allem die Kontroverse zwischen WELCKERs .Urmonotheismus' und SCHELLINGs .relativem Monotheismus'; vgl. dazu auch A. VlERKANDTs Rezension der Götternamen: A. VIERKANDT, Philologie und Völkerpsychologie, ARW 1, 1889, 97-104. 99. Zu SCHELLING s. unten S. 86, Anm. 373. An SCHELLINGs These rügt USENER, Götternamen, 273-276, vor allem, daß sie ausschließlich auf „speculation" beruhe. F. G. WELCKER, Anhang zu Konrad Schwencks Etymologisch-Mythologischen Andeutungen als Zuschrift an den Verfasser (Elberfeld 1823), in: DERS., Kleine Schriften, Bd. 5, 1-62. 24. F. G. WELCKER zufolge (s. dazu oben S. 20, Anm. 67) hat der ,Urmonotheismus' Zeus als den ewigen Himmels- und einzigen Gott überhaupt verehrt. Darin schließt sich WELCKER Friedrich CREUZER an, vgl. dazu R. SCHLESIER, Olympische Religion und chthonische Religion: Creuzer, K.O. Müller und die Folgen, in: DIES., Kulte, Mythen und Gelehrte, 21-32. 22, Anm. 5. Zu CREUZER s. auch Chr. JAMME, Einführung in die Philosophie des Mythos, Bd. 2, 52f. J. GRIMM nimmt einen ursprünglichen Monotheismus an, aus dessen „schoss dem kindlichen alterthum leicht sich Vielgötterei entwand ... dies Verhältnis ergeben alle mythologien, die unsrige, dünkt mich, vorzüglich klar: fast alle götter erscheinen an rang und macht einander ungleich, bald überlegen bald untergeordnet, so dass sie wechselweise von sich abhängig zuletzt insgesamt für ausflüsse einer höchsten einzigen gelten müssen" (Deutsche Mythologie, XLIV). F. W. J. SCHELLINGs Einleitung in die Philosophie der Mythologie von 1842 modifizierte die Urmonotheismusthese unter anderem in der Auseinandersetzung mit Friedrich CREUZERs Vorrede zum 1. Teil der Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen (1810/1812). Er differenzierte zwischen einem absoluten Monotheismus, wie ihn das Christentum zeige, und einem relativen Monotheismus, wie er am Anfang der religiösen Entwicklung gestanden habe. Zwischen diesen beiden Formen stünde der heidnische Polytheismus: Er sei eine Konkretisierung des anfänglichen, relativen Monotheismus und Voraussetzung für dessen höher entwickelte absolute Form. Die anfänglich unentwickelte und unbestimmte Vorstellung eines einzigen herrschenden Gottes reagiere dabei auf die tatsächliche Vielfalt der verschiedenen Erscheinungen und setze an die Stelle des einzigen, aber unbestimmten Gottes einzelne besondere Götter. Vgl. auch SCHELLINGs Vorlesung über die Philosophie der Mythologie'. 16ter Vortrag 15. 2. 1841, in: DERS., Philosophie der Mythologie. Nachschrift der letzten Münchener Vorlesungen 1841, 103-114. 111: „Das gewöhnliche Wehklagen über den Untergang einer reineren Erkenntniß ist daher dem philosophischen Standpuncte sowenig gemäß, als der wahren Geschichte: Polytheismus war über die Menschheit verhängt um einen blos relativen Monotheismus zu zerstören, der Polytheismus war trotz dem entgegengesetzten Anschein, und so wenig dieß begreiflich erscheinen mag, wahrhaft der

Die Göttemamen im Kontext von Useners Gesamtœuvre

87

später - im Anschluß an Andrew LANG - besonders lebhaft in der Wiener .Kulturhistorischen Schule' vertreten werden sollte,375 erschien USENER zunächst als überzeugend.376 Ihre Glaubwürdigkeit bezog sie freilich weniger durch eine absolute, auf .historischen' Fakten beruhende Erklärung als durch eine Darlegung des Verhältnisses von Mono- und Polytheismus. WELCKER versuchte daher, seine Behauptung auf die Grundlage einer etymologischen Analyse zu stellen. Er erklärte den Polytheismus als das Ergebnis eines Differenzierungsprozesses, infolge dessen sich das Appellativum θεός zu einer Vielfalt einzelner Gottheiten entwickelt habe.377 Daß er die Entwicklung des Polytheismus in einem positiven Sinne als Differenzierungsprozeß auslegte, war mit einer ,Logik der Relation' freilich nicht zwingend bewiesen. Dem weniger wohlwollenden Betrachter stand es ebenso offen, Polytheismus als

374

375

376

377

Uebergang zur Befreyung der Menschheit von einer an sich wohlthätigen, aber ihre Erkenntniß niederhaltenden Gewalt: DieB ist wenigstens eine wohlthätigere Ansicht, als jene, die eine ursprünglich reinere Erkenntniß völlig zwecklos sich zerstören und untergehen ließ. Hiermit könnte die Kritik der sogenannten monotheistischen Hypothesen als geschlossen erachtet werden und als Resultat stellt sich uns dar ein bloßer relativer Monotheismus im Bewußtseyn der Menschheit." A. HENRICHS, Welckers Götterlehre, 204, Anm. 103. Zur Bezeichnung der fiiihesten Religionsform fuhrt Friedrich Max MÜLLER den Terminus des Henotheismus bzw. Kathenotheismus ein, worunter er eine primitive Intuition von Gott versteht, ohne die keine Religion überhaupt entstehen kann, vgl. F. M. MÜLLER, Lectures on Origin and Growth of Religion, as illustrated by the Religions of India, London 1878, 260-316. Lecture 6: Henotheism, Polytheism, Monotheism and Theism, vgl. dazu Chr. AUFFARTH, Henotheismus und Monolatrie, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 3, 1993, 104f.; L. van den BOSCH, Friedrich Max Müller, 347356. Vgl. das von dem Begründer der Wiener .Kulturhistorischen Schule', Pater Wilhelm SCHMIDT verfaßte Werk Der Ursprung der Gottesidee, 12 Bde., Münster 1912-1955, sowie die in der Zeitschrift .Anthropos' erschienenen Arbeiten seiner Schüler. Mit seiner Verteidigung des Urmonotheismus stellte sich SCHMIDT in der Tradition von LAFITAUs Mœurs des Sauvages Américains comparée aux mœurs des premiers temps (1723) vor allem gegen die evolutionistische Auffassung von Religionsgeschichte, s. dazu G. LANCZKOWSKI, Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 1991, 82; K.-H. KOHL, Entzauberter Blick, lOlf. USENER, Götternamen, 273ff. (ausdrücklich 274: „Ich gestehe diesen weg gegangen zu sein."). USENERs vergleichende Analyse schien WELCKERs Hypothese, wie er, Götternamen, 275, rückblickend anmerkt, zunächst recht zu geben: „Endlich lohnte es sich, die religion der auf tieferer, vorgriechischer cuiturstufe verharrten verwandten Völker im norden und osten von Hellas, die dem geschichtlichen Hellenen nur darum als barbaren erschienen, weil sie an seiner culturentwicklung nicht theilgenommen hatten, wie Makedonien Thraker, Bithyner, vergleichend heranzuziehn. Alle diese beobachtungsreihen treffen in wesentlich demselben ergebniss zusammen. Es sind so ziemlich dieselben vier bis fünf götter, welche sich aus jenen ganz verschiedenen Untersuchungen immer als ältester stock ergeben. Da liegt es nahe, wie die gestalten der heldensage, die sich oft als durchsichtige Verkörperungen oder hypostasen von attributen bekannter götter darzustellen scheinen, so auch eine grosse zahl der späteren götter aus jenen älteren hauptgöttem abzuleiten, indem man differenzierung derselben oder verselbständigung von attributen annimmt."

88

Hennann Usener

Abfall vom ursprünglichen Glauben, nämlich als eine Degradation vom Höheren, Allgemeinen (der einen Gottesidee) hin zum Einzelnen, Besonderen und Begrenzten zu fassen. Bei USENER hat die Hypothese folglich Zweifel ausgelöst: „Das unterfangen, die ganze griechische mythologie durch annahme von hypostasen zu erklären, musste jedem nicht von allem unterscheidungsvermögen für Wahrheit und Wahrscheinlichkeit verlassenen zu gemüthe führen, dass er auf einer schiefen ebene unaufhaltsam herabgleite."378

Er beschließt, wie er selbst an gegebener Stelle berichtet, „so viel wie möglich reihen von thatsachen zu gewinnen, durch welche die vor der bezeugten geschichte liegende religionsstufe, der ausgangszustand der zur griechischen gruppe gehörigen Völker genauer bestimmt werden könnte." An seinen Schüler Georg KAIBEL schreibt er noch während des besagten Sommersemesters, am 1 5 . 6 . 1873: „Ich rang nach größerer Klarheit über Grundbegriffe der Mythologie und die fundamentalen Vorgänge des religiösen Bewußtseins, und suchte zugleich meine Gedanken und das Beweismaterial schriftlich zu fixieren."

Der Beschluß, das Problem auf einer grundsätzlichen Ebene anzugehen, ist der archimedische Punkt in der Entstehungsgeschichte des Werkes. Ziel ist nun, eine Bestätigimg für die Vermutung zu finden, daß am Anfang der Religionsgeschichte der Polytheismus steht - ein Problem, das USENER wiederum schnell zu der Frage fuhrt, wie es sich mit der Entwicklung des Geistes grundsätzlich verhält, eine Frage, die sich recht bald zur organisierenden Kraft des ganzen Projekts ausweiten wird. Auf der Suche nach „Klarheit" stößt USENER auf die später unter die sogenannten „Sondergötter" rubrizierten litauischen Götternamen. Er stellt fest, daß es „Nur endliche, begrenzte erscheinungen und Verhältnisse sind es, in und an denen das gefiihl des unendlichen in das bewusstsein tritt. Nie ist es ursprünglich das unendliche an sich, zu dem sich das gefiihl und der gedanke erhebt. Nicht das unendliche, sondern etwas unendliches, göttliches stellt sich dem menschen dar und wird im geiste aufgefasst, in der spräche ausgeprägt. So entsteht eine unbegrenzte reihe von gottesbegriffen, die zunächst selbständige geltung haben. Jeder dieser begriffe ist, insofern er eine göttliche kraft bezeichnet, mit der eigenschaft der Unendlichkeit ausgestattet. Aber diese eigenschaft erstreckt sich nur in die tiefe, nicht in die breite; sie gilt nur dem punkt, der linie, welche von dem begriff gedeckt werden."379

Ein Blick zurück in die griechische Literatur scheint ihn darin zu bestätigen, daß das an persönliche Götter oder gar an eine „einheitliche gottheit gewöhnte denken" mit dem ,,kindliche[n] empfinden und denken der menschheit" nicht verwechselt werden darf. Bei dem Geographen Strabon findet er den Bericht, man habe die Kallaïken für götterlos (άθεους) gehalten und den Keltiberern

378 379

USENER, Götternamen, 275f. Das folgende Zitat ebd., 274. Ebd., 276.

Die Göttemamen im Kontext von Useners Gesamtœuvre

89

vorgeworfen, einem namenlosen Gott (άνωνύμωι τινί θεώι) zu opfern.380 USENER sieht hier ein hermeneutisches Problem - der Eindruck der Götterlosigkeit, so vermutet er, beruht auf einem unangemessenen Gottesbegriff - , einen Beweis aber auch für die Kluft zwischen der fortgeschritteneren Religionsstufe des Gewährsmanns und jener älteren der „von der kulturentwicklung der keltischen masse abgetrennten stamme": „Die Kallaïken hatten selbstverständlich götterverehrung so gut wie die ihnen verwandten Keltiberer, aber sie hatten· keine durch eigennamen gekennzeichnete, persönliche, sinnlich dargestellte götter. Die götter aller dieser Stämme waren .namenlos', weil sie nicht mit eigennamen, sondern durch eigenschaftsworte benannt wurden. Für einen griechischen reisenden vorchristlicher zeit waren sie nicht fassbar."381

Er fühlt sich schließlich in dem Verdacht bestätigt, daß sich der Gang der Religionsgeschichte genau umgekehrt zu der von WELCKER beschriebenen Entwicklung verhalten habe. Gegenüber Georg KAIBEL äußert er in dem genannten Schreiben, er sei durch grundsätzliche Überlegungen „dazu gedrängt worden," seine „Grundanschauung von der Bildung des Polytheismus geradezu auf den Kopf zu stellen." Daß der Polytheismus dem Monotheismus vorangegangen sei, daß sich das Allgemeine (ein Gott) aus dem Besonderen (vielen spezifischen Göttern) entwickelt habe und nicht umgekehrt, ließ sich auf solch dünnem Boden aber noch nicht beweisen. USENER sieht keinen anderen Ausweg, als die Frage grundlegend, und das heißt für ihn: auf der Grundlage einer Erkenntnis der menschlichen Natur zu klären. Die Götternamen sind also nur Teil eines sehr groß angelegten Unternehmens. Das eigentliche Problem, in dessen Kontext die Lehre von der religiösen Begriffsbildung projektiert worden war: die Entstehung des Monotheismus oder genauer des Christentums aus dem Polytheismus zu erforschen, hat USENER jedoch in zahlreichen anderen Schriften eindringlich verfolgt. Die wohl bedeutendste Abhandlung in dieser Hinsicht ist das im Dezember 1888 (Impressum: 1889)382 erschienene Buch Das Weihnachtsfest, das neben den Arbeiten zur religiösen Sprache als einer der wichtigen Marksteine in der Genese der Götternamen zu gelten hat, weil es die Entstehung des Buches unter dem Aspekt seines christlichen Referenzrahmens perspektiviert.383 Über den persönlichen Hintergrund dieser Schrift und seinen eigenen kirchenpolitischen Impetus ließ USENER keinen Zweifel. Schon in der bemerkenswert persönlichen Einleitung bekennt er sich dazu, daß seine Begeisterung für die Religionsgeschichte durch die Theologie geweckt worden war, namentlich in der theologischen Bibliothek seines Bruders Carl. An den kirchen- und kulturpolitsch aktiven katholischen Theologen Ignaz DOELLINGER schreibt er am 4. 12. 1888 über frisch erschienene Weihnachtsfest: 380 381

383

Strab. 111,4. 16-17. USENER, Götternamen, 277. H. J. METTE, Nekrolog einer Epoche, 62. Vgl. dazu unten R. SCHLESIER, „Arbeiter in Useners Weinberg", 199f.

90

Hermann Usener

„Niemand kann mehr als Sie in der Lage sein, die Schwächen, die dem ersten theologischen Versuche eines Philologen anhaften müssen, zu erkennen. Aber ich darf hoffen, dass Sie der Lauterkeit meiner Gesinnung einzelne Irrthümer zu gute halten werden. Der letzte unausgesprochene Zweck, dem mein Streben gilt, ist eine kirchliche Einigung unseres Volkes vorbereiten helfen. Hüben und drüben muß die Unzulänglichkeit des geschichtlich gewordenen zu vollem Bewußtsein gekommen sein, wenn in der Zukunft einmal die Gunst oder Ungunst einer Weltlage für unsere Religion und Kirche wahrhaft fruchtbar werden soll."384

Welche zentrale Rolle diese persönlichen Ambitionen noch für den Entwurf der Götternamen spielten, zeigt ein Brief, den er unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung, im Dezember 1896, an seinen Schüler Hermann DIELS schickt: „Wir müssen das brennende bedürfhis empfinden, durch die erforschung der gesetze des religiösen Vorstellens die klärung unseres eigenen rei. bewusstseins anzubahnen, meinetwegen, wenn Sie wollen, die Werkstücke des unterbaue für eine kirche der zukunft zu bearbeiten. Nur wer der naturnothwendigkeit der formen inne geworden, mit der die strahlen religiöser empfindung im menschlichen geiste sich brechen, vermag das heidnische wahrzunehmen, wovon noch das heutige Christenthum durchsetzt ist."385

Aus USENERs Perspektive bedeutete sein Blick auf das Christentum nicht nur die Sichtbarmachung von Rekontextualisierungs- und Inkorporationsprozessen, sondern auch ein engagierter, auf wissenschaftlicher Basis begründeter Aufruf zu einem neuen Selbstbewußtsein der Kirche.386 Dieses Ineinandergreifen von Quellenforschung und Selbstreflexion hat er eindringlich in einer Passage seines Aufsatzes zur Mythologie illustriert387 - ein acht Seiten umfassendes Plädoyer für eine .Bereinigung' der von heidnischen Elementen durchdrungenen Kirche, verbunden freilich auch mit dem Werben für einen Religionsbegriff, der die Geschichtlichkeit des Religiösen stärker in den Blick nimmt: „Echter Aberglaube", heißt es dort, sei „stets einmal Glaube gewesen". In diesem Zusammenhang macht USENER auf zahlreiche bis in die Gegenwart hinein praktizierte Exorzismen und Gebete aufmerksam, die auf vorreligiöse Vorstellungen zurückgehen und bei der Rekonstruktion der Religionsentstehung daher Entscheidendes leisten können: „Die unterste Stufe der religiösen Praxis war nicht nur der Ausgangspunkt alles Gottesdienstes, sondern ist auch immer die Grundlage aller ernsteren sakralen Handlungen geblieben." 388 Das Ineinandergreifen der höchsten Form von Religion, also der gottesdienstlichen Versammlung, und altem Dämonenglauben und Zauberei begreift er daher als Kritik und Chance zugleich - Chance, weil der Aberglaube 384

385

386

387 388

Bayerische Staatsbibliothek München (o. Sign.), erstmals publiziert bei H. J. METTE, Nekrolog einer Epoche, 65. Zu Ignaz DOELLINGER s. W. KÜPPERS, Ignaz Doellinger, Neue Deutsche Biographie 4, 1959, 21-25. Bonner Staatsbibliothek, S 1202, publiziert bei H. J. METTE, Nekrolog einer Epoche, 81-83. 81. Zu diesem Aspekt vgl. R. SCHLESIER, „Arbeiter in Useners Weinberg", 199f. mit Bemerkungen zum Fortleben dieser „theologisch-apologetischen Zielrichtung" unter USENERs Schülern, namentlich im Redaktionsprogramm der .Religionsgeschichtlichen Versuche und Vorarbeiten'. USENER, Mythologie, 46. 47-53. Ebd., 53.

Die Götternamen im Kontext von Useners Gesamtœuvre

91

den alten Glauben konserviert hat und damit für die Ursprungsrekonstruktion eine wichtige Grundlage stellt; Anlaß zur Kritik, weil es USENER nunmehr für eine Aufgabe der Kirche hält, sich der Grenzen zwischen Religion und Zauberei bewußt zu werden.389 Insofern hat der Klassische Philologe USENER, dessen Fach sich erst 1777 durch das emanzipatorische Aufbegehren des damaligen Studenten Friedrich August WOLF von ihr befreit hatte,390 die Theologie als Kontext philologischer Forschung zurückerobert.391 Freilich nicht ohne dafür auch Kritik zu ernten: Wie sehr die in diesem doppelten Anliegen zutage tretende „Verschmelzung der wissenschaftlichen und der religiösen Überzeugung" auch fiadas bereits bemerkte Ineinandergreifen von empirischem und spekulativem Verfahren eine Rolle spielte, hat bereits 1921 Otto GRUPPE bemerkt: ,,[0]bwohl er sich immer selbst als Philologe fühlte, war seine Forschung doch von seinem persönlichen Glauben unzertrennlich, und er forderte ausdrücklich die Übereinstimmung, ja geradezu die Verschmelzung der wissenschaftlichen und der religiösen Überzeugung, wobei letztere natürlich den Sieg davontragen muß ... Indem Usener scheinbar zu der neueren anthropologischen und psychologischen Entwicklungstheorie sich bekehrt, klammert er sich in Wahrheit um so fester an die theologische Spekulation."392

Es sei an dieser Stelle aber doch eher auf die Verdienste hingewiesen: Zum einen zeigt die Beschäftigung mit dem Christentum das ungeheure Spektrum von USENERs Forschungsinteressen. USENER reagierte damit auf ein seit den 80-er Jahren des 19. Jahrhunderts zunehmendes Interesse an der Erforschung außerhalb der klassischen Antike angesiedelter Texte393 - fast alle seine Schüler haben auf diesem Gebiet weitergearbeitet und zum Teil Bahnbrechendes geleistet (zu denken wäre etwa an Eduard SCHWARTZ, Eduard NORDEN oder 389

390

391

392

393

Vgl. auch USENER, Mythologie, 59: „Eine Grundlegung für das Verständnis aller religiösen Vorstellungen, wie ich sie hier fordere, würde zugleich für unser eigenes religiöses Leben die Wohltat einer planmäßigen Befreiung bedeuten." F. A. WOLF hatte sich geweigert, sich an der Göttinger Universität für das Fach Theologie einzuschreiben, und war daraufhin als der erste Student der Philologie immatrikuliert worden, vgl. M. FUHRMANN, Friedrich August Wolf. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 15. Februar 1959, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft 33, 1959, 187-236; W. RIEDEL, Die Erfindung des Philologen. Friedrich August Wolf und Friedrich Nietzsche, Antike und Abendland 42, 1996, 119-136. Radikaler drückt sich R. KANY, Christliche Antike. Zu einem Perspektivenwechsel bei einigen Historikern um 1900, in: .Mehr Dionysos als Apoll'. Antiklassizistische AntikeRezeption um 1900, hrsg. von A. Aurnhammer/ Th. Pittrof, Frankfurt a.M. 2002, 135158. 138, aus: ,,[B]ald hatten sich die Verhältnisse gegenüber der Zeit vor Wolf geradezu umgekehrt: Für Usener waren, leicht überspitzt gesagt, die Kunde vom römischen Recht und die Theologie gewissermaßen Hilfsdisziplinen der bis weit in die Bereiche des byzantinischen Griechisch und des mittelalterlichen Latein reichenden klassischen Philologie und Geschichtswissenschaften geworden." O. GRUPPE, Geschichte der klassischen Mythologie und Religionsgeschichte während des Mittelalters im Abendland und während der Neuzeit, Leipzig 1921, 229f.; vgl. auch U. von WILAMOWITZ, Der Glaube der Hellenen, 8f.: „das Ethos des Mannes (sc.: Useners), wissenschaftlich und religiös zugleich". Vgl. R. KANY, Christliche Antike, 135, 138-141.

92

Hermann Usener

Hans LlETZMANN) - ein Interesse, das, wie die Einleitungsworte zur Legende der Pelagia selbstbewußt394 insinuieren, nicht von jedem Klassischen Philologen geteilt wurde: „Die philologische Welt, bei der ein grammatisches Anekdoton, auch das dürrste, günstiger Aufnahme gewiß sein darf, wird einer kirchliche Legende, und wäre sie die lieblichste Novelle, nur verächtlich begegnen und sie unbesehen in den Winkel stellen. Dem Durchschnittstheologen kann man es noch weniger verargen, wenn er für Legendenliteratur kein Interesse zeigt, er hat eine instinktive Abneigung gegen Apokrypha: es war am Ende nicht so ganz unrichtig, wenn man auf der Angelicana meine Beschäftigung mit Legendenschriften als preußische Spionage beargwöhnte. Das alles weiß ich, und doch wage ich Legenden der heiligen Pelagia ohne Entschuldigung vorzulegen. Denn es scheint mir an der Zeit, daß die Philologie auch diesen Ausläufern des klassischen Altertums Aufmerksamkeit zuwende und sie zur Aufklärung des ihr eigenen Gebietes verwerten lerne." 3,5

Zum anderen hat der Versuch, die paganen Elemente des Christentums aus Legenden und heiligen Handlungen herauszufiltern, innerhalb der .Religionswissenschaftlichen Schule' auch im Hinblick auf die Ursprungsfrage sehr produktiv gewirkt: Denn verstärkt in das Blickfeld gerückt wurde dadurch nicht nur das Problem von Kontinuität, Rekontextualisierung und Inkorporation, sondern auch die Bedeutung des Ritus, der „gegenüber den beweglicheren Vorstellungen das Feste und Beharrende" und damit, vor allem was seine formalen Elemente betraf, ein wertvolles Zeugnis war.396 USENER war davon überzeugt, daß die Persistenz des Ritus wesentlich bedeutsamer war als die der Sprache: Während die sprachlichen Ausdrucksformen mit dem Wandel der ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen auch entsprechenden Veränderungen unterworfen waren, seien die rituellen Handlungen zwar in immer wieder neue Kontexte eingegliedert und dementsprechend mit neuen Deutungen belegt worden, in ihrem formal-äußerlichen Ablauf jedoch über weite Zeiträume hinweg konstant geblieben.397 Die Kontinuität des Paganen auf der Basis dieser Persistenz des Rituellen nachzuweisen, ist, wissenschaftlich betrachtet, das Ziel des Weihnachtsfests. So versucht USENER darzulegen, daß sich eine Reihe christlicher Feste an vorchristliche Kultfeiern, also an den römisch-synkretistischen Kultus ange-

3,5

396 397

Der zwischen Lamento und Spitzzüngigkeit angesiedelte Unterton, mit dem USENER schon im Zusammenhang mit VICO das Selbstverständnis eines rebellischen Entdeckers bedient hatte und der auch in den Folgegenerationen, etwa bei DIETERICH und R. WÜNSCH (s. unten S. 103, Anm. 29; S. 107, Anm. 44), noch begegnet, war in vieler, aber nicht in jeder Hinsicht berechtigt; so bemerkte der Kirchenhistoriker A. von HARNACK (rez. Das Weihnachtsfest, Theologische Literaturzeitung 14, 1889, Sp. 199212), daß USENER, jedenfalls von theologischer Seite, überhaupt kein Neuland betritt. Zur Diskussion des Weihnachstfests s. H. J. METTE, Nekrolog einer Epoche, 62-65. USENER, Legenden der Pelagia (Festschrift für die 34. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner, Bonn 1879). Die Einleitung zu den Texten I (Reue der Pelagia von Antiochia verfaßt vom Diakonus Jakob) und II (Legende der Pelagia von Tarsos) ist wiederabgedruckt in: DERS., Vorträge und Aufsätze, 189-215. 191. USENER, Mythologie, 53. Vgl. dazu USENER, Heilige Handlung (1904).

Die Götternamen im Kontext von Useners Gesamtoeuvre

93

schlossen hatte; das Weihnachtsfest, die Feier der erst im Jahre 354 n. Chr. vom 6. Januar auf die Wintersonnenwende am 25. Dezember verlegten Geburt von Jesus Christus, sei eine Übernahme des heidnischen Festes zu Ehren des Sol Invictus gewesen, dessen Name auf Christus übertragen worden sei.398 Das Buch hat schließlich, namentlich durch den Kirchenhistoriker Adolf von 399 HARNACK, scharfe Kritik geerntet. HARNACK äußerte neben einer Reihe von sachlichen Einwänden seinen grundsätzlichen Zweifel daran, daß das Christentum bereit gewesen war, „volkstümliche Mythologoumena" aufzunehmen - ein Zweifel, der freilich auch daher rührte, daß er selbst eine tiefe Abneigung gegen alles Primitive verspürte und sich „die Reinheit des Evangeliums nicht nehmen lassen" wollte.400 Die Antwort auf einen derartigen Einspruch hatte USENER schon zehn Jahre vorab in der Untersuchung über die Legenden der Pelagio geliefert, in der er das etwas psychologisierende (und apologetisch anmutende) Argument vortrug, die Übernahme paganer Elemente sei letztlich nur eine Vereinnahmungsstrategie des Christentums gewesen: „Die christliche Kirche konnte aus dem Kampf gegen die heidnische Kultur nicht als Siegerin hervorgehen, wenn sie nicht, was alles in Glauben und Kultus dem Volk ins Herz gewachsen war, selbst in sich aufnahm. Man wechselt das Innerste nicht wie ein Kleid. Die alten Opferstätten konnten geschlossen, dem Kultus gewaltsam ein Ende gemacht werden: der alte Glaube war unausrottbar und ergoß sich mit der Naturnotwendigkeit, mit der geschichtliche Wandlungen sich vollziehen, in die neuen Formen, mochten die Priester es in weiser Politik befördern oder nur dulden."401

- und in der Folge auch seine Schüler sowie die unter seinem Einfluß stehende,Religionsgeschichtliche Schule'402 - hat die Bedeutung des Paganen sicherlich überbewertet und ähnlich wie schon bei der Rekonstruktion der Sondergötter dem Systematisierungsinteresse gegenüber einer sachlichen Präzision den Vorrang gegeben. So wird die einstige Sünderin Pelagia, die sich nach ihrer spontanen Bekehrung in Männerkleidung hüllt und ins Kloster geht, zu einer Fortführung der griechischen Aphrodite Pelagia im Verbund mit der Vorstellung von Hermaphrodismus und Geschlechtswechsel, wie sie im Mythos der Omphale und im Kult der auf Kypros verehrten barttragenden Amathusia belegt sei. Der Gedanke der Kontinuität, von denen USENERs Forschungen zum Christentum getragen sind, hat allerdings als geschichtsphilosophische Konzeption auch reiche Früchte getragen und vor allem den Forschungsansätzen von Albrecht DIETERICH, Ludwig RADERMACHER, aber auch Aby WARBURG wichtige Impulse gegeben. Anknüpfen konnte USENER dabei an das USENER

3,8 399 400 40

'

402

Vgl. dazu USENER, Das Weihnachtsfest, 18ff., 348-378: Sol Invictus. A. von HARNACK, rez. Das Weihnachtsfest. R. KANY, Christliche Antike, 153-157 (über A. von HARNACK), hier: 155. USENER, Legenden der Pelagia, 191. Literatur zur ,Religionsgeschichtlichen Schule', für die ebenfalls christlichapologetische Absichten zu konstatieren sind, s. oben S. 3, Anm. 9.

94

Hermann Usener

Modell der Kontinuität, das im Zusammenhang mit der Epochenkritik, namentlich von den Kritikern des durch Christoph CELLARIUS Ende des 17. Jahrhunderts populär gewordenen weltgeschichtlichen Schemas Antike - Mittelalter - Neuzeit, aufgeworfen worden war403 und später in den 1920-er Jahren mit dem Erscheinen von Oswald SPENGLERs Untergang des Abendlandes404 eine große Konjunktur erfahren sollte. Geschichtsphilosophisch relevant geworden war der Begriff der Kontinuität erstmals bei Johann Gustav DROYSEN.405 Freilich hatte ihn DROYSEN auf die Vorstellung eines inneren Zusammenhangs von geschichtlichen Ereignissen, Begebenheiten, Handlungen und Epochen, und damit auf eine GeschichtsaH^örauwg, bezogen.406 In dieser Form ist der Begriff der Kontinuität bei USENER nur insofern wirksam, als er sowohl den Prozeß der Begriffsbildung als auch die Genese des Monotheismus aus dem Polytheismus als ein stetes Werden, als eine Weiterführung, Archivierung oder Vereinnahmung des Früheren durch das Spätere begreift. Er ist es insofern nicht, als USENER DROYSENs metaphysische und transzendente Konzeption des Geschichtsbegriffs nicht teilt und die einzelnen Beobachtungen keineswegs so zusammenfaßt, daß sie auf die Erfüllung eines Endzwecks der Geschichte bezogen werden würden. Vielmehr organisiert USENER seine Betrachtungen, sofern sie historisch sind, nicht von einem Ende, sondern von deren Anfang her, indem er nämlich, gerade umgekehrt, das Festhalten an ursprünglichen Ausdrucksformen in den Vordergrund stellt und

403

404

405

406

Vgl. dazu H. M. BAUMGARTNER, Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1997, 14. O. SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes, 2 Bde., München 1918/1922. Für den Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung war das Modell der Kontinuität von Alfons DOPSCH formuliert worden: Die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung aus der Zeit von Cäsar bis auf Karl den Großen, 2 Bde., Wien 1918/1920; vgl. auch DERS., Vom Altertum zum Mittelalter. Das Kontinuitätsproblem, Archiv für Kulturgeschichte 16, 1926, 159-182, wiederabgedruckt in: P. E. HÜBINGER, Kulturbruch oder Kulturkontinuität im Übergang von der Antike zum Mittelalter, Darmstadt 1968. J. G. DROYSEN, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte (1882), 4. unver. Aufl., hrsg. von R. Hübner, Darmstadt 1960; vgl. dazu J. RÜSEN, Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J. G. Droysens, Paderborn 1969, 60; H. M. BAUMGARTNER, Kontinuität und Geschichte, 72-75; M. MÜLLER, Historie und Geschichte im Denken Johann Gustav Droysens, in: Spectaculum Historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung, Festschrift fur J. Spörl, Freiburg/ München 1965, 694-702. Vgl. J. G. DROYSEN, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, 12: „Es ist eine Kontinuität, in der jedes Frühere sich erweitert und ergänzt durch das Spätere ... eine Kontinuität, in der die ganze Reihe durchlebter Gestaltungen als ein Moment der werdenden Summe erscheint. In diesem rastlosen Nacheinander, in dieser sich in sich steigernden Kontinuität gewinnt die allgemeine Anschauung ihren diskreten Inhalt, den einer unendlichen Folgenreihe fortschreitenden Werdens. Die Gesamtheit der sich uns so darstellenden Erscheinungen des Werdens und Fortschreitens fassen wir auf als Geschichte."

Die Göttemamen im Kontext von Useners Gesamtceuvre

95

die Prozesse des .Werdens' mit der Beobachtung in Einklang zu bringen versucht, daß das Frühere - sei es nun eine rituelle Handlung, wie die über Jahrhunderte hinweg bestehende Verehrung eines für einen Augenblicksgott gehaltenen Meteoriten407 oder der Name eines Lokaldämonen - neben oder innerhalb späterer Kontexte in seiner äußeren Form bestehen bleibt. In dieser Weise wurde USENER auch von DIETERICH und RADERMACHER verstanden.

407

S. dazu oben S. 57f.

Ein zauberhaftes Archiv Zu Albrecht Dieterichs Rekonstruktion ursprünglicher Denkformen

Spuren der Vergangenheit Wer die Ausgabe der Papyri Graecae Magicae von Karl PREISENDANZ1 in die Hand nimmt, wird in der Einleitung von einer Bemerkung des Herausgebers überrascht, die eine - nicht nur subtil ausgetragene - Auseinandersetzung zwischen Vertretern des Klassizismus (,»zünftigen Philologen", denen sich die Auseinandersetzung mit ästhetisch wertlosem Material verbietet) und dem damaligen Leiter des Heidelberger Seminars, Albrecht DIETERICH, vermuten läßt: „Albrecht Dieterich", heißt es da, „ließ im Sommer 1905 die Mitglieder des Heidelberger Oberseminars .ausgewählte Stücke aus griechischen Papyri' behandeln. Unter diesem Decknamen gingen im Vorlesungsverzeichnis der Ruperto-Carola die griechischen Zauberpapyri. Denn es empfahl sich damals noch nicht für den zünftigen Philologen, sich öffentlich zur Beschäftigung mit so tiefstehenden Erzeugnissen ungebildeter Volksschichten zu bekennen, Erzeugnissen krassen Aberglaubens, denen der Name ,Literatur' nicht zukam. Im einzelnen Ausnahmefall, der ein Verwerten der Zauberpapyri und Fluch-Bleitafeln in größerem Zusammenhang für höhere Zwecke entschuldigte, mochte der Verkehr mit Abraxas und Genossen noch hingenommen werden, wenn auch nicht ganz ohne Stirnrunzeln jener klassisch Gerichteten, die mit François Lenormant2 in allen magischen Dokumenten der nachchristlichen Zeit nur den ,fromage gnostique' rochen." 3

Die Härte des Urteils, wie es noch 23 Jahre nach dem Ereignis mit dem Unterton der Entrüstung von dem einstigen Seminarteilnehmer PREISENDANZ

2

3

Papyri Graecae Magicae (PGM), 2 Bde., hrsg. von K. Preisendanz, Leipzig/ Berlin 1928, 1931, neu hrsg. von A. Henrichs, Stuttgart 1973, 1974. Von François LENORMANT, dem Autor des bis heute immer wieder (zuletzt 1974/ 1983) aufgelegten Werks über Magie und Wahrsagekunst der Chaldäer, Jena 1878 (deutsche, stark revidierte Übersetzung der frz. Originalausgabe von 1874), lesen wir in seinem Catalogue d'une collection d'antiquités égyptiennes, Paris 1857, 87 (über den sogenannten Großen Pariser Zauberpapyrus, Pap. Bibl. Nat. suppl. gr. 574 = PGM IV): „En tête sont trois pages de copte, qui débutent par l'histoire d'un fromage mystique pour la composition du quel s'associent Osiris, Sabaoth, Io, Jésus et tout les autres éons. Le fromage n'est autre que la gnose." PGM, Bd. 1,V.

Spuren der Vergangenheit

97

wiedergegeben wird, läßt ahnen, mit welchen Schwierigkeiten USENERs Nachfolgegeneration innerhalb des Konflikts zwischen einer konservativen, alles krude ablehnenden, klassizistischen Ästhetik und der von USENER inaugurierten kulturwissenschaftlichen Orientierung der Philologie zu kämpfen hatte.4 Albrecht DIETERICH (1866-1908), zu dessen Schülern neben Karl PREISENDANZ auch Ludwig DEUBNER, Richard WÜNSCH, Friedrich PFISTER, Eugen FEHRLE, Hugo HEPDING und Otto WEINREICH 5 zählen, war 1886 zu Hermann USENER nach Bonn gegangen, wo er drei Semester später, im August 1888, mit einer Arbeit über den Pap. magica Lugdun. Batav. J 384 promoviert wurde.6 Nach der Habilitation in Marburg (1891)7 wurde er dortselbst 1895 zum außerordentlichen Professor für Klassische Philologie ernannt, bevor er zwei Jahre später in Gießen eine ordentliche Professur übernahm.8 Noch im selben Jahr, 1897, schloß er sich der .Hessischen Vereinigung für Volkskunde' an, einer Organisation, die mehr als 700 Mitglieder umfaßte und Teil einer Bewegung war, die sich seit Beginn der 90-er Jahre mit der Gründung zahlreicher Gesellschaften und Vereine die Etablierung der Volkskunde auf ihre Fahnen geschrieben hatte.9 Zum 1.4. 1903 wechselte er an die Universität Heidelberg, wo ihn fünf Jahre später, 1908, sein früher Tod jäh aus der Arbeit riß. Die geplanten Abhandlungen über Die Formen des Zauberritus, Die Formen göttlicher Offenbarung und Die Formen der Vereinigung des Menschen mit Gott, die DIETERICH 1905 im Vorwort von Mutter Erde angekündigt hatte und als deren Vorarbeiten und „praktische Erprobung" er die genannte Studie wie auch die Arbeit über Eine Mithrasliturgie (1903) betrachtete, konnten nicht mehr vollendet, geschweige denn veröffentlicht werden. 4

5

6

7

8 9

Ein Beispiel dafür ist U. von WILAMOWITZ, Der Glaube der Hellenen, Berlin 1931, Bd. 1, 9f.: ,,[E]s ist auffallend, daß die modernen Religionshistoriker für die Olympier wenig übrig haben; sie scheinen wirklich den Verfall der Religion da anzusetzen, wo die historische Zeit anfängt, und ihr Interesse beginnt erst wieder, wenn die alte Religion in Verwesung ist und der wüste Aberglaube der Zauberpapyri sich an ihre Stelle drängt, der eben nicht Religion ist." Vgl. auch unten S. 103, Anm. 29. Vgl. dazu H. J. METTE, Nekrolog einer Epoche. Hermann Usener und seine Schule, Lustrum 22, 1979/1980, 72f. Der genaue Titel der Arbeit lautete Papyrus magica Musei Lugdunensis Baiavi, quam C. Leemans editit in papyrorum Graecarum tomo II (V), denuo edidit commentario critico instruxit, prolegomena scripsit Albrecht Dieterich. Erweiterte Dissertation, Jahrbücher f. klass. Philol. Suppl. Bd. 16, 1888, 749-830. Die Prolegomena sind wiederabgedruckt in: DIETERICH, Kleine Schriften, hrsg. von R. Wünsch, Berlin/ Leipzig 1911, 1-47. De hymnis Orphicis capitaula quinqué (1891), in: DIETERICH, Kleine Schriften, 69110, s. dazu H. J. METTE, Nekrolog einer Epoche, 61.71. Vgl. DlETERICHs Personalakte (PA 1472) im Archiv der Universität Heidelberg. Unter anderen gegründet wurden 1890 der ,Berliner Verein für Volkskunde', 1894 die .Schlesische Gesellschaft für Volkskunde', 1897 die .Sächsische Gesellschaft für Volkskunde', 1895 der .Verein für österreichische Volkskunde', 1896 der .Verein für böhmische Volkskunde', 1897 das .Archiv für Volkskunde der Schweizerischen Gesellschaft'.

98

Albrecht Dieterich

Das Interesse an den „noch ungehobenen Schätzen der Zauberpapyri",10 mit dem DIETERICH auch die Teilnehmer des von PREISENDANZ erwähnten Seminars begeistern konnte, war früh erwacht. Von USENER1 1 auf die Bedeutung des , scheinbar Unbedeutenden' aufmerksam gemacht und während der Dissertation durch die Arbeit an dem Leidener Papyrus darin bestätigt, sah es DIETERICH von Anfang an als seine Aufgabe an, diese Texte in (zunächst einzelnen) Editionen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und auf ihren wissenschaftlichen Wert hinzuweisen. Neben der notwendigen editorischen Aufbereitung ging es ihm vor allem darum, das Material in Fragestellungen einzubinden, in deren Zusammenhang es bis dahin nicht beachtet worden war, für deren Bearbeitung es aber von großem Nutzen schien. Die 1891 veröffentlichte Abhandlung über Abraxas. Studien zur Religionsgeschichte des späteren Altertums (1891) beruhte auf der Entdeckung einer in ein Zauberbuch eingegliederten gnostisch-synkretistischen Kosmogonie, die DIETERICH (im wahrsten Sinne des Wortes) aus ihrem magischen Umfeld ,herauspräparierte'. Ein ähnliches Verfahren wandte er in seinem noch lange umstrittenen, gleichwohl immer wieder aufgelegten Buch über Eine Mithrasliturgie an.12 Hier war es, wie der Titel schon ankündigt, eine Liturgie des Mithraskultes, die DIETERICH, und zwar in dem Großen Pariser Zauberbuch Pap. Par. 574, gefunden hatte - eine religiöse Anweisung für bestimmte Anrufungen, die über mehrere Visionen schließlich zur Begegnung mit dem Gott selbst führt.13

10

"

12

13

K. PREISENDANZ, PGM, Bd. 1, V. USENER arbeitete 1886, als DIETERICH nach Bonn kam, noch an seiner Studie Das Weihnachtsfest, die er im Dezember 1888 publizieren sollte (Impressum: 1889). Die Vorbereitung der Götternamen, u.a. mit der wiederholt gehaltenen und auch von DIETERICH besuchten Vorlesung über Mythologie (vgl. dazu oben S. 79, Anm. 327), in der er das theoretische Fundament dafür entwickelte, war in vollem Gange. DIETERICH, Eine Mithrasliturgie, Leipzig/ Berlin 1903/1910/1923; vgl. dazu K. PREISENDANZ, PGM, Bd. 1, V. Die Mithrasliturgie wurde auch außerhalb der philologischen Fachkreise gelesen, so von C. G. JUNG, der sie in der 2. Aufl. (1910) vor sich hatte. Den Fall, in dessen Zusammenhang er DIETERICHs Buch erwähnt, beschreibt er unter dem Titel Ein Beispiel in seinem Aufsatz Der Begriff des kollektiven Unbewußten (= The Concept of the Collective Unconscious, Journal of the Athenian Society St. Bartholomew's Hospital, London, 1936/1937, 46-49, 64-66, dt.: Übers.: DERS., Gesammelte Werke, Bd. 9/ I, 55-66; hier zitiert nach: DERS., Archetypen, hrsg. von L. Jung, München 1999, 45-56, 53-56). 1906 war JUNG von einem an Schizophrenie leidenden Patienten berichtet worden, er würde, sobald er in die Sonne blinzele, einen „Sonnenpenis" sehen: ,,[W]enn ich meinen Kopf hin und her bewege, so bewegt er [sc.: der .Sonnenpenis'] sich ebenfalls, und das ist der Ursprung des Windes." Bei der Analyse dieser merkwürdigen Erscheinung berief sich JUNG auf die in der Mithrasliturgie beschriebene Vision einer „von der Sonnenscheibe" „herabhängenden Röhre", die „Ursprung des diensttuenden Windes" sei (Eine Mithrasliturgie, 6, Z. 14f.). Der Patient galt als größenwahnsinnig: Er war „Gott und Christus in einem" (JUNG, a.a.O., 54). Daß er DIETERICHs Buch gelesen haben könnte, konnte JUNG nahezu ausschließen. Die einzige Erklärung schien ihm zu sein, daß es universelle Symbole gebe, die sowohl in der Religion als auch in psychotischen

Spuren der Vergangenheit

99

Unter USENERs Schülern darf DIETERICH wohl als der ihm nahestehendste und engste gelten. Kein anderer Schüler - allenfalls WARBURG - arbeitete so konsequent und radikal an der Aufhebung der ästhetischen Grenzen, wie sie in USENERs Arbeiten - etwa den Italischen Mythen - vorbereitet worden war. Dennoch war DlETERICHs engagierte Aufarbeitung der Zauberpapyri und die intensive Verwendung von antiken wie modernen volkskundlichen Zeugnissen keine provokative Opposition gegen vorherrschende Mechanismen im Umgang mit der Antike und damit Ausdruck einer antiklassizistischen Ästhetik. Wiewohl er, wie USENER, nicht zuletzt in einer Tradition steht, die sich bewußt davon verabschiedet hatte, die griechische Religion in der homerischen Götterwelt zu suchen, und die damit begonnen hatte, die Zeugnisse des Volksglaubens wissenschaftlich ernst zu nehmen,14 macht sein Begriff der Volkskunde doch deutlich, daß er keineswegs so weit ging, sich, wie zuweilen vermutet wurde, die Nobilitierung des Aberglaubens auf die Fahnen zu schreiben,15 sondern daß er vielmehr gerade die Ausblendung ästhetischer Kritierien zu seinem obersten Prinzip erhob und die Auseinandersetzung mit allem Volkstümlichen als wissenschaftliche Notwendigkeit verbuchte:

Wahnvorstellungen auftreten, vgl. dazu H. F. ELLENBERGER, The Discovery of the Unconscious. The History and Evolution of Dynamic Psychiatry, London 1970, 705. Zu denjenigen, die sich mit der Beschaffenheit der vorhomerischen, sogenannten pelasgischen Religion beschäftigt haben, gehörten schon Georg ZOËGA, Friedrich CREUZER und Karl Otfried MÜLLER. Unter DlETERICHs Zeitgenossen hat sich am nachhaltigsten Erwin ROHDE mit dem Volksglauben auseinandergesetzt (Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, 2 Bde., Freiburg i. Br./ Leipzig/ Tübingen 1890/1894; 2. Aufl. 1898, repr. Darmstadt 1991); vgl. dazu A. HENRICHS, Welckers Götterlehre, in: Friedrich Gottlieb Welcker. Werk und Wirkung, hrsg. von W. M. Calder III/A. Köhnken/W. Kullmann/G. Pflug, Stuttgart 1986, 195f.: „Dieses Abrücken von der neuhumanistischen Überschätzung Homers, das mit F. A. Wolfs .Prolegomena ad Homerum' (1795) begann und dann von Welcker energischer als je zuvor von der Literaturgeschichte auf die Religionsgeschichte übertragen wurde, markiert nun gerade auf dem Gebiete der Religionsforschung einen entschiedenen Neuansatz, der schließlich im ersten Band von Erwin Rohdes .Psyche' (1890) voll zum Tragen kam." Vgl. schon O. CRUSIUS, Erwin Rohde, Leipzig/ Tübingen 1902, 44. Zur Wirkungsgeschichte von ROHDEs Psyche als eines sowohl von NIETZSCHE-Jüngern als auch von Religionswissenschaftlern gleichermaßen viel gelesenenen Buches vgl. R. SCHLESIER, „Arbeiter in Useners Weinberg": Anthropologie und antike Religionsgeschichte in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, in: DIES., Kulte, Mythen und Gelehrte, Frankfurt a.M. 1994, 193-241. 213. Zu DlETERICHs Ausschluß der homerischen Epen als einer Ausgangsbasis für die Erforschung von Religion vgl. DERS., Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion, Leipzig 1905, 36: „Bei Homer freilich dürfen wir nicht beginnen. Wir können von vornherein wissen, daß diese dem Volksglauben und Volksbrauch bewußt abgewandte, in eine damals wunderbare Höhe freier Aufklärung gehobene Ritterpoesie schwerlich Zeugnis von einer Volksreligion ... geben wird. Wohl erkennen wir deutlich ... daß da eine starke Unterwelt der Religion in die höhere Sphäre hineinragt." Der Vorwurf der .Nobilitierung des Aberglaubens' gehörte zum Repertoire der Gegner einer von Philologen betriebenen Völkerkunde, etwa W. F. OTTO und U. von WILAMOWITZ, vgl. R. SCHLESIER, „Arbeiter in Useners Weinberg", 215.

100

Albrecht Dieterich

„Jede geschichtliche Forschung, die ihre Probleme tiefer faßt, führt zu diesem Untergrund, jede Philologie, die wirklich nach dem Werden und der Entwicklung der Religion, der Rechts- und Staatsformen, des Liedes und der Poesie überhaupt und nach deren ursprünglichsten Formen fragen will, muß die zu der Kultur, die sie erforscht, gehörige Volkskunde betreiben. Je fließender die Grenzen des volkstümlichen Glaubens und Dichtens und der geschichtlichen Religion und Poesie sind, desto notwendiger muß jeder Philologe die Grenze nach unten überschreiten, die Grenze des unmittelbaren Volkstums."16

In einer von PREISENDANZ im Vorwort der PGM zitierten, apologetisch anmutenden Bemerkung soll DIETERICH das Fehlen einer leicht zugänglichen, allgemein lesbaren und umfassenden Edition der verstreut auffindbaren Zaubertexte für den Umstand verantwortlich gemacht haben, daß der wissenschaftliche Wert der Papyri bis dato übersehen oder ignoriert worden war.17 In der Tat existierten zwar seit Beginn des 19. Jahrhunderts diverse Forschungsarbeiten zu einzelnen Zauberpapyri,18 nicht aber das von DIETERICH genannte Desideratum einer großen Ausgabe:19 1830 hatte Caspar Jacob Christiaan REUVENS erste Vorarbeiten für eine Edition des (von DIETERICH später unter dem Titel Abraxas herausgegebenen) Leidener Papyrus J 395 (PGM XIII) geleistet. Charles William GOODWIN gab 1853 den Pap. Brit. Mus. XL VI (jetzt: PGM V) heraus.20 Weitere Ausgaben folgten 1865 (Pap. Berol. 5025 und 5026, jetzt: PGM I, II Gustav PARTHEY), 1885 (PGM XII, XIII Conrad LEEMANS), 1888/1889 (PGM III, IV, V, Carl WESSELY) und 1893 (PGM VII-X, Carl WESSELY und, davon unabhängig: Frederick George KENYON).21 16

" 18

"

20

DIETERICH, Über Wesen und Ziele der Volkskunde, in: DERS., Kleine Schriften, 287311. 293f. Vgl. K. PREISENDANZ, PGM, VI. Eine Zusammenstellung dieser Arbeiten s. K. PREISENDANZ, Bibliographie der Zauberpapyri, Archiv für Papyrusforschung 8, 1926, 109-115, 132-165. Zum zeitgenössischen Forschungsstand vgl. die Abhandlung von W. KROLL, Antiker Aberglaube, Hamburg 1897 (= Sammlung wiss. Vorträge, hrsg. von Virchow-Holtzendorff, N. F. XII, Heft 278), der ebenfalls darauf aufmerksam macht, daß es zwar vereinzelte Studien (O. JAHN, Der Aberglaube des bösen Blicks bei den Alten, 1855; H. USENER, Italische Mythen, 1875; E. ROHDE, Psyche, 1890/1894; A. DIETERICH, Abraxas, 1891, u.a.), nicht aber eine zusammenfassende Darstellung des antiken Aberglaubens gibt. C. W. GOODWIN, Fragment of a Graeco-Egyptian Work upon Magic: From a Papyrus in the British Museum, ed. for the Cambridge Antiquarian Society, with a Translation and Notes, Publications of the Cambridge Antiquarian Society 2, Cambridge 1852. GOODWIN gab dem Text eine englische Übersetzung und sachliche Erklärungen bei. G. PARTHEY, Zwei griechische Zauberpapyri des Berliner Museums, Philologische und historische Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1865, 109-180; C. LEEMANS, Papyri graeci musei antiquarii publici Lugduni-Batavi. Regis augustissimi jussu edidit, interpretationem latinam, annotationem, indicem et tabulas addidit C. L., 2 Bde., Leiden 1843/1885; C. WESSELY, Griechische Zauberpapyri von Paris und London, Denkschriften der Akademie der Wissenschaften in Wien, philos.-histor. Klasse 36, 1888, 27-208 (Eine überarbeitete Fassung legte WESSELY 1889 in: DERS., Zu den griechischen Papyri des Louvre und der Bibliothèque nationale, Fünfzehnter Jahresbericht des K. K. Staatsgymnasiums in Hernais,

Spuren der Vergangenheit

101

Die Gründe für die von DIETERICH eingeschlagene Forschungsrichtung allein in einem forschungsgeschichtlichen Anlaß, namentlich in dem Fehlen einer umfassenden Ausgabe, zu suchen, griffe aber zu kurz.22 Es versteht sich von selbst, daß das Vorwort der Ausgabe einen versöhnlichen Ton anschlägt und den (potentiellen) Kritikern wohlwollend unterstellt, die bisherige Ignoranz gegenüber den Papyri gehe allein zu Lasten der Umstände, daß erst mit der vorliegenden Ausgabe alles Material verfügbar geworden sei. Gefragt werden muß nicht nur, warum DIETERICH diesen Weg wählt, sondern vor allem auch, wozu. Ich möchte daher eine Lektüre von DlETERICHs Ansatz versuchen, die das Projekt Hermann USENERs, mit dem das Spektrum philologischer Arbeit und das Verhältnis von Philologie und Geschichtswissenschaften neu bestimmt und um die Dimension einer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung erweitert wurde, in die Würdigung seines Lebenswerks miteinbezieht. Unbestritten gab es noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts trotz der in Kunst, Musik und Literatur zunehmend an Bedeutung gewinnenden Besinnung auf Irrationalismus und Archaik23 immer wieder starke Ressentiments gegen Textmaterial, das die im Klassizismus gepflegte Verherrlichung der Antike und ihren - unter anderem im Zeichen einer Konzentration auf das attische 5. Jahrhundert stehenden - Vorbildcharakter in Frage stellen konnte. Anders als in der kreativen Auseinandersetzung mit der Antike löste jedoch die Wahrnehmung von Zeugnissen, die auf Ursprüngliches und Unvollkommenes oder gar Abstoßendes und Häßliches hinwiesen, in der gelehrten Fachwelt keineswegs Gefühle der Faszination aus. Nicht einmal USENER hat sich jemals von der Tradition NIETZSCHES anstecken lassen,24 sondern berief sich

22

23

24

Wien 1889, 2-23, v, vgl. die Rezension von A. DIETERICH in: Berliner Philologische Wochenschrift 11, 1891, 9f.); C. WESSELY, Neue griechische Zauberpapyri, Denkschriften der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften zu Wien, philos.-histor. Klasse 42, 1893, 2. Abhdl.; F. G. KENYON, Greek Papyri in the British Museum, Bd. 1, London 1893. Offen bleiben müßte dabei auch die Frage, warum nicht schon die Kenntnis von Texten der,hohen' Literatur, angefangen von Homers Odyssee über Theokrit bis zu Horaz und Seneca (Horn. II. 13, 22; 14, 225; Od. 5, 333; 8, 274; 12, 40; 19, 457; vor allem die Kirke-Episode im 10. Buch der Odyssee, bes. 10, 210. 233. 280. 302. 316. 431; Apoll. Rhod. 4, 1635ff.; Theocr. Idyll 2 passim; Verg. Ecl. 8, 64, Aen. 4, 450ff.; Hör. Serm. 1, 8; Ep. 1, 5; Sen. Med. 670ff.; Lucan 6, 413ff. - um nur einige zu nennen) die Frage nach dem Volksglauben hatte aufdrängen müssen. Noch 1863 vertrat Otto HIRSCHFELD in seiner Dissertation trotz der Vielfalt der lange vor das 5. Jahrhundert zu datierenden Zeugnisse magischer Glaubensvorstellungen die Meinung, die Existenz von Zauberei und Magie bei den Griechen sei Folge der Perserstürme gewesen. Vgl. dazu zuletzt Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert, hrsg. von B. Seidensticker/ M. Vöhler, Stuttgart/ Weimar 2001. Im Gegenteil. Am 25. 10. 1872 schreibt NIETZSCHE an Erwin Rohde, USENER habe gegenüber seinen Studenten über Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik verlauten lassen: „es sei der baare Unsinn, mit dem rein gar nichts anzufangen sei: jemand der so etwas geschrieben habe, sei wissenschaftlich todt". Tatsächlich bedeutete die Veröffentlichung der Geburt der Tragödie für NIETZSCHE den wissenschaftlichen ,Tod', vgl. dazu C. P. JANZ, Friedrich Nietzsche Biographie, Bd. 1, München 1981,

102

Albrecht Dieterich

auf ein Verständnis von Philologie, das deren Aufgabe von den Geschichtswissenschaften her bestimmt sah und daher notwendig, vor allem aber „mit der Sorgfalt des Philologen" auf diese Zeugnisse rekurrieren müsse - ein Anspruch, der sich nicht explizit gegen ästhetische Normen wandte und mit dem er sich daher trotz intensiver Verwendung traditionell aus dem Blickfeld verbannter Materialien seinen guten Ruf als eines weithin geachteten Gelehrten bewahren konnte. Die Relativierung der ,Antike' als einer nicht nur durch das Wahre, Schöne und Gute bestimmten, sondern als einer als Teil eines kulturgeschichtlichen Prozesses aufzufassenden Qualität erschien unter seinen Zunftgenossen vor allem als etwas Bedrohliches, das diese um ihren lange Zeit geltend gemachten erzieherischen Wert oder, wie WILAMOWITZ (nicht ohne Stolz) bemerkte - „Die Antike als Einheit und als Ideal ist dahin"25 - , gar um ihre wesenhafte Existenz zu bringen drohte. Anders als bei WILAMOWITZ, dessen Absage an eine Beschäftigung mit den „Niederungen griechischer Literatur" ästhetisch begründet war,26 scheint DlETERICHs //Zuwendung zur Volkskunde alles andere als das Werk einer ästhetischen Neuorientierung zu sein. Gerade die von einigen seiner Schüler in den Zeiten des Nationalsozialismus vorgenommene Umdeutung seines Forschungsansatzes als eines Beitrags zur Aufwertung der Lebensformen der unteren Volkschichten27 findet keine Anhaltspunkte in DlETERICHs Schriften, 474f.; zugleich hat die wissenschaftliche Tabuisierung dazu geführt, daß die „auf Nietzsche zurückgreifende[n] antiaufklärerische[n], rauschhaften[n] Impulse um so mächtiger gesellschaftlich zum Zuge [kamen] und ... sich ungehemmt entfalten" konnten (R. SCHLESIER, „Arbeiter in Useners Weinberg", 212f.). U. von WILAMOWITZ, Der griechische Unterricht auf dem Gymnasium (12. Veihandlungenüber Fragen des höheren Unterrichts. Berlin 6.-8. Juni 1900, Halle 1901, 205217), in: DERS., Kleine Schriften, 6 Bde., Berlin 1935-1972, Bd. 6, 77-89. 79. Das Zitat: „Die Antike als Einheit und als Ideal ist dahin; die Wissenschaft selbst hat diesen Glauben zerstört", bezieht sich auf den Umbruch von der „ästhetischen" zur „geschichtlichen Betrachtung", vgl. dazu F. PAULSEN, Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. 2, Berlin 1921, 742; L. CANFORA, Wilamowitz und die Schulreform, in: Wilamowitz nach SO Jahren, hrsg. von W. M. Calder III/ H. Flashar/ Th. Lindken, Darmstadt 1985, 632-648. 641. Zu WILAMOWITZ' Ignoranz diesen Texten gegenüber in Der Glaube der Hellenen (Berlin 1931) vgl. K. PREISENDANZ, Die giechischen Zauberpapyri, Archiv für Papyrusforschung 8, 1927, 105. Vgl. dazu H. CANCIK, Antike Volkskunde 1936, in: AU 25, 1982, Heft 3, 80-99. 8789: Die Berufung auf Albrecht Dieterich. Vgl. auch die in diese Richtung gehende Würdigung durch den Dieterich-Schüler Friedrich PFISTER (F. PFISTER, Albrecht Dieterichs Wirken in der Religionswissenschaft. Zu seinem 30. Todestag, ARW 35, 1938, 180-185), der wie Eugen FEHRLE zu denjenigen Schülern gehörte, die DlETERICHs Volkskunde in eine Rassenkunde transformierten. FEHRLE, der der NSDAP als Ministerialrat im Badischen Kultusministerium diente, war einer der Wortführer der .Deutschen Volkskunde' und ab 1926 Mitherausgeber der frisch gegründeten Zeitschrift ,Volk und Rasse'. PFISTER sorgte (zusammen mit Otto WEINREICH in Tübingen) für die Gleichschaltung des .Archivs für Religionswissenschaft' (dessen Schriftführer er ab 1936 war) zum Organ der .Völkischen Religionsforschung', vgl. dazu R. SCHLESIER, „Arbeiter in Useners Weinberg", 221, Anm. 64.

Spuren der Vergangenheit

103

in denen er - im Gegenteil - seinen persönlichen Abscheu gegenüber den Scheußlichkeiten primitiver Vorstellungen mehr als einmal deutlich artikuliert.28 Im folgenden möchte ich zeigen, daß DlETERICHs Interesse an den Ausdrucksformen der unteren Volksschichten weder von ästhetischen noch primär politischen Ambitionen getragen war, sondern zweierlei verschiedenen (wenn auch in eine ähnliche Richtung weisenden) Zielen galt, und daß dabei zwischen der Arbeit an den spätantiken Zauberbüchern auf der einen Seite und der ganz allgemeinen Einbeziehung volkskundlichen Materials auf der anderen Seite unterschieden werden muß. DlETERICHs Arbeit an den Zauberbüchern, so meine These, galt dem Nachweis, wie sehr Volksglaube und hohe Religion bzw. Literatur ineinandergreifen und schließlich miteinander verschmelzen. Der Bergung von Hymnen und Liturgien, die, leicht verändert, in die Zauberbücher integriert waren und wiederum Spuren alten Volksglaubens zeigten, hat er sich in der ursprünglich als Habilitationsschrift geplanten29 Abhandlung Abraxas. Studien zur Religionsgeschichte des späteren Altertums (1891) und Eine Mithrasliturgie (1903) verschrieben. Das Erkenntnisziel, das DIETERICH wiederum zur Heranziehung von volkskundlichem Material bewog, stand ganz in der Tradition der Frage nach den ursprünglichen Vorstellungen des Menschen,30 wie sie ähnlich von USENER, nicht nur in den Götternamen, verfolgt worden war, sowie nach der Fortexistenz des Volkstümlichen in neuen Deutungssystemen. Von den größeren Schriften ist hier vor allem die 1905 erschienene Abhandlung Mutter Erde zu nennen, deren Forschungsziel, die „Grundformen religiösen Denkens" zu „erkennen",31 sich unmittelbarer als alle anderen Werke an USENER anschließt. 28

29

30

31

DIETERICH, Eine Mithrasliturgie, 28-31, spricht von „abergläubischen Formeln und wahnwitzigen Rezepte[n], die von den gar armseligen, kläglich stotternden Winkelpropheten herrühren"; das Pariser Zauberbuch nennt er einen „abschreckenden Schutthaufen", 31. In Abraxas. Studien zur Religionsgeschichte des späteren Altertums, Leipzig 1891, spricht er von „Winkelweisheit" (S. 2) und „liederlichen, verständnislosen Schreiber[n] der Zauberbücher" (S. 3), von „mystischen Sudlern" und von der „dunklen Stickluft der Mystik" (S. 84). DIETERICH sah davon ab, die daraufhin unter Titel Abraxas publizierte Edition des Leidener Papyrus J 395 als Habilitationsschrift einzureichen, weil „damals noch die Ansicht [existierte], daß philologische Arbeit, an einem Texte geleistet, der nicht der Kunstliteratur angehörte, nicht genüge, um den Verfasser als Philologen auszuweisen." (R. WÜNSCH, Albrecht Dieterich, in: DIETERICH, Kleine Schriften, IX-XLII. XV). Der Gedanke, daß sich insbesondere im volkstümlichen Bereich Relikte einer früheren Kulturstufe greifen ließen, wurde seit Jacob GRIMM (Deutsche Mythologie, Göttingen 1835) in der Volkskunde thematisiert und zur theoretischen Grundlage volkskundlicher Methoden erhoben, s. dazu oben S. 39-41, unten S. l l l f . Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Volksbräuchen ist damit nicht mehr an ästhetische Konzepte oder an die Fiktion einer .wahren Geschichtsschreibung' gebunden, sondern durch ein romantisches Interesse an vorgeschichtlichen und ursprünglichen Denkformen begründet, wie es in der Volkskunde schon seit langem vorbereitet worden war. DIETERICH, Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion, Leipzig 1905, 1.

104

Albrecht Dieterich

Dieterichs Begriff der, Volkskunde ' „Man pflegt begreiflicherweise aus dem Namen der ,Volkskunde' deren Wesen zu entwickeln: sie sei Kunde vom Volke. Und Volk sei eben hier die Bezeichnung der unteren Schichten des Gesamtvolkes, vulgus, nicht populus. Das mag richtig sein. Freilich müssen wir wohl bedenken, daß es sich immer auch um alles das .Volkstümliche' handelt, das in allen Schichten, auch den höchsten Schichten des populus, hier mehr dort weniger, lebt und wirkt."32

Dieser am 24. Mai 1902 vor der ersten Generalversammlung der .Hessischen Vereinigung für Volkskunde' in Frankfurt vorgetragene Aufruf zu einer Revision des Begriffs .Volkskunde' ist programmatisch fur DlETERICHs gesamtes Werk. Nicht nur, weil hier sein Selbstverständnis als eines sich durch alle Schichten hindurqhgrabenden .Archäologen' deutlich wird („das Volkstümliche" „lebt und wirkt" „in allen Schichten"); sondern vor allem deshalb, weil DIETERICH mit der Entkoppelung der beiden Begriffe ,Volk' und .volkstümlich' eine Differenzierung vornimmt, die ebenso kritisch wie eindringlich davor warnt, das Volkstümliche mit einer spezifischen Schicht zu identifizieren: DIETERICH fuhrt nicht nur eine seiner fundamentalen Implikationen vor Augen, daß nämlich das Volkstümliche, vom individuellen Schöpfungsakt noch unberührte, in allen Schichten mehr oder weniger zäh weiterlebt; indirekt gelingt es ihm auch, sein Projekt, dem aufgrund seines Forschungsgegenstandes der Geruch des Subversiven anzuhaften droht, nicht als einen Angriff auf traditionelle ästhetische Nonnen vorzuführen, sondern als eine Ergänzung zum Verständnis höherer Kulturschichten darzustellen und damit in traditionelle Interessensgebiete einzugliedern. Denn daß das Volkstümliche „in allen Schichten, auch in den höchsten Schichten des populus" weiterlebt, mußte jeden an der antiken Gesamtkultur Interessierten aufmerksam machen. Daß DIETERICH (zumal vor seinen Frankfurter Zuhörern) darum bemüht ist, den Eindruck einer Umkehrung traditioneller Werte und Hierarchien zu vermeiden, zeigt seine ausdrücklich beigefugte Differenzierung von vulgus und populus, zeigt aber auch das nachstehende Zitat, aus dem hervorgeht, daß er den Begriff .Volk' weder dehnen noch inhaltlich aufwerten will: „Volk ist... die Bezeichnung der Unterschicht der Kultumationen, in dem Sinne, den ich im Anfang meiner Darlegung zu bestimmen suchte. Volkskunde ist ... Erforschung und Erkenntnis der ,Unterwelt' der Kultur."33

Was DIETERICH statt dessen herausstellt, ist der Gewinn, den die Erforschung dieser „Unterwelt", „aus deren Mutterboden alle individuelle Gestaltung und persönliche Schöpfung herausgewachsen ist", für den Wissenschaftler, naDIETERICH, Über Wesen und Ziele der Volkskunde. Vortrag gehalten in der ersten Generalversammlung der Hessischen Vereinigung für Volkskunde zu Frankfurt am Main am 24. Mai 1902 (Hessische Blätter für Volkskunde 1, 1902, 169-194), in: DERS., Kleine Schriften, 287-311. 289. DIETERICH, Über Wesen und Ziele der Volkskunde, 293.

Dieterichs Begriff der Volkskunde

105

mentlich den Philologen, „der ein Gesamtvolksleben erfassen will",34 bedeutet. Der Klassische Philologe, als dessen Aufgabe DIETERICH im Anschluß an USENERs wegweisende Rede über Philologie und Geschichtswissenschaft (1882) die „Kunde von der Gesamtkultur der antiken Völker" bestimmt, stoße „fortwährend in seiner Forschung, sei es in Literatur oder Recht oder Religion, auf eine Schicht von Erscheinungen, die er nicht dadurch in ihrem Wesen erkennen kann, daß er sie in einzelne Akte geschichtlichen Tuns, in die Handlungen einzelner Individualitäten zerlegt."35

Wiewohl DIETERICH - anders als USENER, der zumindest für die ersten Entwicklungsphasen der vorgeschichtlichen Zeit von unbewußt gesteuerten Prozessen ausgegangen war und die individuelle Gestaltungskraft damit auch theoretisch ausgeblendet hatte - die Frage offen läßt, ob an all „den Schöpfungen eines fur uns ungeschichtlichen Untergrundes der Kultur die Individuen beteiligt waren", hält er doch immerhin daran fest, daß es sich bei diesem „Untergrund" um eine „organisch zusammengehörige Unterschicht alles geschichtlichen Volkslebens handelt" und die geschichtliche Religion erst durch die „große Persönlichkeit" ermöglicht worden sei.36 Aus dieser Perspektive avanciert die Untersuchung des Volkslebens, vorneweg die Untersuchung der allen seinen Bereichen eng verbundenen Volksreligion,37 zu einer Methode, den präindividuellen Entwicklungsphasen - und das bedeutet für DIETERICH wie schon für USENER: auch der „vorgeschichtlichen Zeit" - nachzuspüren. Wie USENER setzt DIETERICH eine gedankliche Zäsur zwischen dem (wie er sich vorsichtig ausdrückt) „unmittelbaren religiösen Denken" der vorgeschichtlichen ,Epoche' und der durch individuelle Gestaltung geformten Ausprägung von Sitte und Brauch, Recht und Dichtung etc.;38 doch weitaus vehementer 34 35 36 37

Ebd., 293. Ebd., 292. Ebd., 293. Ähnlich wie USENER geht DIETERICH bei den frühen Entwicklungsphasen von der Universalität des Religiösen aus, vgl. Über Wesen und Ziele der Volkskunde, 293: ,Jn jener unteren Schicht des Lebens sehen wir, wie die Sprache Form und Mittel eines reicheren Werdens ist, wie das religiöse Denken zunächst überhaupt alles Denken ausmacht, und sich nur ganz langsam und allmählich ζ. T. überhaupt erst in geschichtlich faßbarer Zeit Sitte und Brauch, soziale Gestaltung und die Formen des Lieds und der fest überlieferten Erzählung aus diesen Gedanken als selbständigere Erscheinungen loslösen."; ebd., 307: „Freilich wird das primitive Denken in gewissem Sinne immer und überall .religiös' sein." Ähnlich hatte auch USENER argumentiert, s. oben S. 56. H. USENER, Über vergleichende Sitten- und Rechtsgeschichte, Vortrag, gehalten bei der 42. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner 1893 (Hessische Blätter f. Volkskunde, 1. 3, 1902, 195-228), in: DERS., Vorträge und Aufsätze, hrsg. von A. Dieterich, Leipzig/ Berlin 1907, 103-157. 1 lOf. (zitiert oben S. 46f.). Zu USENERs Differenzierung in eine vorgeschichtliche Phase der Unbewußtheit und Triebhaftigkeit, in der alle geistigen Prozesse nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten (z.B. von der Anschauung des Konkreten hin zur Systematisierung und Abstraktion) verlaufen, und einer Phase der Bewußtheit, in der der einzelne Mensch oder eine Nation schöpferisch und bewußt das Gegebene gestaltet, s. oben S. 35ff., bes. 43ff.

106

Albrecht Dieterich

als dieser betont er das Fortleben der präindividuellen Schöpfungen in geschichtlicher Zeit. Ohne die präindividuellen Schöpiungen zu beachten, könne man auch die geschichtliche Zeit nicht angemessen erfassen. Umgekehrt gewähre vor allem die geschichtlich faßbare Volkskultur einen Einblick in die vorgeschichtliche Zeit, da gerade dort die während dieser Phase entwickelten Ausdrucksformen mit besonderer Zähigkeit weiterlebten. Freilich läßt DIETERICH in besagtem Vortrag auch verlauten, daß es eine Aufgabe der Volkskunde sei, „den Riß zwischen Volk und Gebildeten, zwischen den Ständen eines Volkes zu mildern."39 Mit Polemik hält er durchaus nicht zurück und wettert gegen den „Bildungspöbel", gegen den Parvenu, nicht zuletzt gegen den Gebildeten, der „sich bewußt verachtend ... von allem Treiben des ungebildeten Volkes" trenne „und mitleidvoll ... auf Altweibergeschichten, Bauernsitten und den unglaublichen, der aufgeklärten Zeiten unwürdigen Aberglauben" herabsehe.40 Doch dienen seine Forschungen auf dem Gebiet der Volkskunde nicht ausschließlich der politisch-sozial motivierten41 Produktion einer Kommunikationsgrundlage zwischen einzelnen Schichten. Die Analyse - sei es gegenwärtiger oder antiker volkstümlicher Bräuche findet auch ihre Berechtigung in den Anforderungen, die sich dem Forschenden stellen, wenn er ein Verständnis des populus im Sinne einer alle Schichten umfassenden Einheit verlangt. In seinem Buch Mutter Erde, das DIETERICH 1905 publizierte, wird er dem wissenschaftlichen Wert einer Kenntnis der Volkskunde - mit ähnlichen Argumenten wie Ludwig RADERMACHER - dadurch Unterstützung verleihen, daß er den Eingang der Volkskultur in die hohe Literatur anschauungsreich nachweist. Daß die Kenntnis des Volksglaubens und entsprechender Bräuche auch umgekehrt dem „Gebildeten" den Zugang zu sich selbst42 und zum „Volk" verschafft und eine Annäherung der unterschiedlichen Schichten bedeutet, verbucht DIETERICH allenfalls als „Nebenziele oder praktische Nebenergebnisse" seiner Arbeit, und es ist nicht auszuschließen, daß die schwungreich vorgetragenen Vorteile einer „Lehre vom Wissen des Volkes"43 wenig mehr als 39 40 41

42

43

DIETERICH, Über Wesen und Ziele der Volkskunde, 290. Ebd., 290f. Diesen Aspekt betont vor allem H. CANCIK, Antike Volkskunde 1936, 87, der DIETERICHs Verständnis von Volkskunde auf der Basis von dessen Vortrag Über Wesen und Ziele der Volkskunde, 290f., als nicht unwesentlich politisch legitimiert betrachtet. DIETERICH, Über Wesen und Ziele der Volkskunde, 289: „... daß die .Gebildeten' des .Volkes' ihres Volkes wieder ,kundig' werden, aus dem sie ja doch alle als aus dem mütterlichen Boden emporgewachsen sind, das ist desto notwendiger, je mehr sich die Wege der Bildung verirren und verwirren, von Natur und Leben zu pedantischer Systematik und totem abstraktem Denken." DIETERICH, ebd., 298, stellt die Bedeutung des Terminus klar: Aus dem Englischen .folklore' (wie es von William John THOMS, Athenäum vom 22. 8. 1846, 862f., eingeführt worden sei) übertragen, meine es „the lore of the people" und umfasse laut Definition „the traditional beliefs, legends and customs, current among the common people", „manners and customs, observances, superstitions, ballads and proverbs".

Dieterichs Begriff der Volkskunde

107

rhetorisches Kalkül sind - eine werbewirksame Konzession des Vortragenden an die Zuhörer der Ersten Generalversammlung der erst wenige Jahre zuvor gegründeten und um die Etablierung eines Selbstverständnisses bemühten .Hessischen Vereinigung'.44 Denn mehr als deutlich kommt DIETERICH zu dem Schluß, daß das Hauptziel der Volkskunde „wissenschaftliche Ziele ... Ziele der Forschung und der Erkenntnis" sein müßten.45 Als wissenschaftliche Ziele' stehen DIETERICH im wesentlichen zwei Dinge vor Augen: Die Rekonstruktion des ursprünglichen Denkens und des Fortwirkens dieser Denkform46 nach Abschluß ihrer Entstehungsbedingungen. Zwischen den beiden Forschungsanliegen besteht ein enger innerer, die Interessen wechselseitig tragender Zusammenhang; zugleich aber verbindet sie auch ein hermeneutisches Problem, dem schon USENER begegnet war und dem auch dieser nur dadurch entgehen konnte, daß er seinen empirischen Analysen spekulativ entwickelte Überlegungen vorschaltete, die er diskursiv mit den einzelnen Befunden abzugleichen suchte: Die Relikte ursprünglichen Denkens sind als solche erst erkennbar, wenn Gewißheit über die Qualität des ursprünglichen Denkens besteht. Da aber das ursprüngliche Denken nur reliktär bezeugt ist, kann seine Beschaffenheit allenfalls über das Erkennen und die Analyse dieser Relikte bestimmt werden. Nur historisch greifbare Zeugnisse, DIETERICH, ebd., 291f., fuhrt eine Reihe von Situationen aus, in denen eine „Kenntnis der Volkskunde" für den „Gebildeten" von „mancherlei Nutzen" ist: „.Manche theologische Richtung - sie mag noch so sehr den Beifall Gebildeter verdienen - würde sich nicht einbilden, das religiöse Empfinden des Volkes nähren und befriedigen zu können, wenn die abstraktionsfreudigen Herrn der Katheder die geringste wirkliche Volkskunde besäßen. Der Arzt, der nicht weiß, wie das Volk über Gesundheit und Krankheit denkt und über Hilfe des Doktors, läßt sich die wirksamsten Kräfte entgehen, die ihm zu Gebote stehen. Die .Volksmedizin' stößt meist nur auf die plumpe Entrüstung des gebildeten, aber einsichtslosen Arztes. Ich will nicht von den einzelnen Fällen reden, in denen der Jurist das Recht nicht findet, weil er volkstümlicher Kenntnisse bar ist. Vor kurzem wurde ein Bauer in der Mark, der einen Baum vor seiner Hofraite angebohrt und mit einem Pflock wieder verstopft hatte, vor unverdienter Strafe allein dadurch bewahrt, daß der Verteidiger zufallig von dem Volksbrauch wußte, in einem Baum die Krankheit oder aber was mit der Krankheit in Berührung gewesen sein muß wie den Holzpflock einzubohren, um sie verwachsen, vergehen zu lassen." 45 44

Ebd., 292. DiETERICHs Begriff der „Denkform" schließt an Wilhelm MANNHARDTs Konzept einer Rekonstruktion der „mythischen Denkform" an, s. W. MANNHARDT, Wald- und Feldkulte, Bd. 2: Antike Wald- und Feldkulte aus nordeuropäischer Überlieferung erläutert (Berlin 1877), Darmstadt 1963, XI; vgl. dazu W. RIEDEL, Archäologie des Geistes. Theorien des wilden Denkens um 1900, in: Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998, hrsg. von J. Barkoff/ G. Carr/ R. Paulin, Tübingen 2000, 467-485, bes. 468fT. 473. Aufgetaucht war der Terminus bereits im Idealismus, s. dazu H. G. MEIER, Denkform, in: Historisches Wörterbuch, hrsg. von J. Ritter u.a., Bd. 2, Basel 1972, Sp. 104-107, und in der Völkerpsychologie, namentlich bei H. STEINTHAL, Die Classification der Sprachen dargestellt als die Entwickelung der Sprachidee, Berlin 1850, vgl. dazu R . SCHLESIER, Religion als Gegenbild: Zu Eduard Meyers Geschichtstheorie, in: DIES., Kulte, Mythen und Gelehrte, 65-122. 107, Anm. 138.

108

Albrecht Dieterich

d.h. die Produkte einer Zeit, die das ursprüngliche Denken längst überwunden zu haben glaubt, stellen das Material, das dem Gelehrten zur Verfügung steht. Ob es DIETERICH gelingt, diesem methodischen Zirkelschluß zu entkommen, soll an dieser Stelle noch offen bleiben. Zunächst stellt sich wohl die Frage, mit welcher Berechtigung er als Philologe sich dieses Erkenntnisziels überhaupt annimmt und worin das wissenschaftliche Interesse', von dem er in dem oben erwähnten Zitat sprach, eigentlich besteht. Vor allem aber muß gefragt werden, welchen Vorteil sich DIETERICH davon verspricht, die Betrachtung des Ritus in den Vordergrund zu stellen und dabei (weitaus radikaler als USENER) die (dem ,Klassischen Philologen' traditionell gesetzten) geographischen und zeitlichen Grenzen aufzuheben. Denn schon ein oberflächlicher Blick auf seine Schriften genügt, um festzustellen, daß er sich anders als USENER 1) nicht auf Mythen oder gar auf einen ,religiösen Begriffsapparat' (Götternamen) stützt und weniger den Weg der Sprachanalyse wählt als vielmehr sein Augenmerk auf primitive47 und magische Handlungen legt; und daß die in seine Analyse einbezogenen Riten 2) in weitaus üppigerer Zahl nicht nur aus dem antiken, griechisch-römischen, sondern aus dem gesamten indogermanischen Raum sowie aus der Moderne stammen.

Ritus versus Mythos Zunächst einmal weist DlETERICHs Projekt mit USENERs Arbeiten - trotz der Verschiebung des Arbeitsfeldes von Sprache zu Ritus - nicht nur strukturelle Ähnlichkeiten, sondern auch zahlreiche Übereinstimmungen hinsichtlich der theoretischen Voraussetzungen und des Erkenntnisziels auf. Beide, USENER und DIETERICH, gehen von der Kontinuität primitiver Paganismen aus und zeigen ein starkes Interesse daran, die Übergänge von Antike und Christentum aufzuzeigen.48 Beide üben damit eine indirekte, wenn auch deut-

48

Der Begriff des Primitiven als ästhetische Kategorie ist zu trennen von der Verwendung durch die Anthropologie, wie er von DIETERICH aufgegriffen wird. Im Sinne einer .primitiven Kultur' wurde er vor allem durch die Arbeiten von Edward B. TYLOR und Theodor WAITZ etabliert. DIETERICH, Die Hauptprobleme der Religionswissenschaft, Vorlesung, gehalten im Sommersemester 1905, unveröffentlichte Vorlesungsnachschrift von H. Gropengiesser (MS: Univ. Heidelberg, Seminar für Klassische Philologie), 5, definiert ein primitives „Naturvolk" als ein Volk, in welchem „sich eine Kultur nicht entwickelt hat und keine historischen Persönlichkeiten aufgetreten sind". Vgl. vor allem DIETERICH, Nekyia. Beiträge zur Erklärung der neuentdeckten Petrusapokalypse, Leipzig 1893. DlETERICHs Hauptthese gilt der Beobachtung, daß die in der Petrusapokalypse zum Ausdruck gebrachten Vorstellungen nicht genuin christlich, sondern schon in der frühesten griechischen Auffassung vom Jenseits vorhanden sind, was er an etlichen Elementen demonstriert. Das Problem der Petrusapokalypse war hochaktuell, nachdem 1886/1887 in Akhmim die griechische Grundlage der bis dahin nur im Koptischen vorliegenden altchristlichen und apokryphen Schrift gefunden war, wurde a-

Ritus versus Mythos

109

lieh zum Vorschein kommende Kritik an der Einteilung in Epochen.49 Vor allem mit dem Versuch, über das Geschichtliche hinaus zu einer Anschauung des Ungeschichtlichen zu gelangen und die nicht- bzw. präindividuellen entwicklungsgeschichtlichen ,Leistungen' zu würdigen, steht DIETERICH eindeutig in der Tradition des Bonner Gelehrten. Nicht zuletzt verbindet beide natürlich die Überzeugung, daß die Bearbeitung dieser Probleme Sache der Philologie ist. Gleichwohl bedeuten DlETERICHs Arbeiten aber auch eine deutliche Kritik. Zwar bleibt er der rationalistisch orientierten Weltanschauung seines Lehrers treu und kommt auf dieser Basis nicht zu einer grundlegend neuen Deutung primitiven Denkens. Magisches Denken ist auch für ihn ein vorwissenschaftliches, prälogisches. Die Distanz jedoch, mit der die Gelehrtenwelt auf USENERs Götternamen reagierte, teilt auch DIETERICH. Dabei geht sein Unbehagen über eine rein sprachwissenschaftlich bestimmte (auf Einzelheiten bezogene) Kritik hinaus und setzt bei USENERs Verständnis von Mythos als wesentlicher Implikation der Untersuchung an. Während USENER noch zwischen den Mythen als narrativén Sequenzen und dem Mythos als Begriffssysstem hatte unterscheiden wollen, streitet DIETERICH die Rekonstruierbarkeit eines unabhängig von der erzählerischen Einbindung bestehenden ,Mythos', der ohne das bewußte Gestalten des Menschen ent- oder gar òesteht, deutlich ab. Für DIETERICH ist jede narrative Sequenz immer schon , Verfälschung' bzw. eine auf interpretatorische, d.h. auf intellektuelle Eingriffe zurückgehende Überformung ursprünglicher Denkformen, von der auch die einzelnen ihn konstituierenden Elemente, wie die Götternamen, nicht unberührt geblieben sein können.50

49 50

ber bis dahin nur unter theologischen Aspekten und im Hinblick auf seine Gattungszugehörigkeit und Echtheit diskutiert (vgl. A. von HARNACK, Bruchstücke des Evangeliums und der Apokalypse des Petrus, TU 9/2, Leipzig 1893, 16-20), während DIETERICH den Text auf die (paganen) Ursprünge der Vision hin befragt, die darin geschildert wird, den Text also nicht als ein geschlossenes Ganzes betrachtet, sondern gewissermaßen in einzelne Strukurelemente zerlegt und diese auf einer vertikalen Zeitebene verortet. Vgl. dazu oben S. 93f. DIETERICH, Mutter Erde, 1. Zu diesem Problem s. auch H. G. GADAMER, Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft, in: DERS., Gesammelte Werke, Bd. 8: Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage, Tübingen 1993, 180-188. 182: „Freilich stellt solches mythisches Urwissen der historischen Forschung besondere Schwierigkeiten entgegen. Es gilt hier eine Überlieferung zu rekonstruieren, die überhaupt nicht direkt zugänglich ist und die immer schon, soweit wir überhaupt von ihr wissen, durch philosophische und dichterische Einflüsse hindurchgegangen ist. Der Mythos ist seinem eigensten Wesen nach niemals in ursprünglicher Reinheit greifbar... [Schließlich hatte die historisch-kritische Forschung, im Wettbewerb mit der vergleichenden Religionswissenschaft, Wege zu suchen, wie man historische Methoden auf ein Material anwenden konnte, das als originaler Inhalt der mythischen Erfahrung zwar den Gegenstand bildete und doch nur in literarischer Form, und das heißt in dichterischer Gestaltung und Deutung, überliefert war."

110

Albrecht Dieterich

An USENERs Verfahren der Sprachanalyse modifizierend anzuschließen, erübrigt sich für ihn damit ebenso wie überhaupt jeder Ansatz - etwa der der ,Naturmythologischen Schule - , der sich anschickt, das einzelne Wort als Repräsentanten einer Vorstellung zu nutzen:51 „Neues Leben kam dann in die Mythologie der klassischen, germanischen und indischen Mythologie durch die erwachende Sprachwissenschaft mit dem Aufblühen der Sanskritgrammatik. Zwei Dinge sind es da: Zuerst verglich man, und zwar im wesentlichen die Namen der Götter und göttlichen Gestalten. Bis auf Kleinigkeiten ist das alles zusammengebrochen; denn wie kann man glauben, dass in irgend einer getrennten Entwicklung eines Volkes der Name eines Gottes das Wesen eines Gottes auch nur im Entferntesten noch bezeichnen kann? Zuerst eine unendliche Vielheit, dann ein Aufsaugen der vielen von Einem; reiner Zufall - Zufall richtig verstanden! - dass in irgend einem Eckchen der Name der ursprünglichen Eigenschaft des Gottes bleibt. Aber das ging bei jedem Volk anders; ganz absehen wollen wir davon, dass ein Gottesname, der so entstanden ist, wohl selten infolge seiner Undurchsichtigkeit richtig erklärt werden kann. Es stecken noch viel Grundirrtümer in diesen Ansichten ... Im ganzen war die Berührung mit der Sprachwissenschaft doch etwas Wichtiges; denn die Sprache ist ja die erste Äußerung des inneren Menschen."52

Den archivalischen Charakter, unter dessen Voraussetzung USENER einzelne Namen hatte herausgreifen und als Überbleibsel früherer Entwicklungsstufen gelten lassen wollen, bestreitet DIETERICH zwar sehr deutlich - freilich nicht ohne mit dem Ritus auch einen neuen Forschungsgegenstand ins Spiel zu bringen, der an die Stelle der Sprache gesetzt werden könnte. In den Einleitungssätzen zu Mutter Erde (1904) schreibt er: „Wer Volksreligion erforschen will, wird immer zuerst und vor allem den Volksbrauch zu befragen haben. Weder die mythische Erzählung, die vom Ritus mehr und mehr losgelöst ihre eigenen, immer freieren Entwicklungsformen ausgestaltet, noch die Deutungen, die das Volk selbst mit dem Wechsel religiöser Hauptanschauungen und mit dem Schwinden der Erinnerung an verlorenen und vertriebenen Glauben fortwährend verändert, können uns den Aufschluß über Grundformen religiösen Denkens geben, den die allezeit am zähesten festgehaltene ,heilige Handlung', soweit sie durch scharfe Beobachtung und zuverlässigen Bericht jedem Zweifel und jedem Schwanken enthoben werden kann, allein noch zu bringen imstande ist. Wenn der Glaube, der ihn schuf, längst abgestorben ist, bleibt der Ritus Jahrhunderte lebendig in dem, was wir kurzerhand, ohne einstweilen Mißverständnis zu furchten, , Volksbrauch' nennen."53

Was USENER - etwa zeitgleich - in seinem Aufsatz über Heilige Handlung ansatzweise durchgespielt hatte (der Nachweis, daß sich in der heiligen

DIETERICH, Über Wesen und Ziele der Volkskunde, 297: „Die vergleichende Mythologie, die in ein paar genialen Hochbauten und einer Menge Strohhütten eilends sich anzusiedeln begann, ist zum großen Teil von den Bodenerschütterungen in der wissenschaftlichen Welt der Folgezeit umgeworfen worden. Ja, der Name erregt manchem noch ein gelindes Gruseln. Leute wie [Friedrich] Max Müller waren auch gar zu unsolide Baumeister, als daß sie auf der unsicheren Stätte hätten neu aufbauen können." Gegen die Naturmythologen hatte seinerzeit schon USENER gewettert, s. dazu oben S. 26-29 zu USENERs Kritik an Adalbert KUHN und Friedrich Max MÜLLER. DIETERICH, Probleme der Religionswissenschaft, 3f. DIETERICH, Mutter Erde, 1.

Archäologie der religiösen Grundformen

111

Handlung früheste Ausdrucksformen bewahrt hätten)54, wird bei DIETERICH zur Grundlage einer Methode, mit der er das in USENERs Götternamen formulierte (aber seiner Ansicht nach auf der Basis unzureichender Prämissen angestrebte) Erkenntnisziel neu angehen will - mit allerdings einer nicht unwesentlichen Beschränkung: Hatte USENER mit seiner Lehre der Begriffsbildung gerade die Entwicklung des Geistes im Sinne gehabt, so steht bei DIETERICH eindeutig die Suche nach den „Grundformen religiösen Denkens" im Vordergrund, da dié Wissenschaft nicht in der Lage sei, einzelne Entwicklungsschritte konkret erfassen zu können.55 Diese Tendenz, die dynamischen Elemente des ursprünglichen Denkens von vorneherein zugunsten einer als monolithisch verstandenen Ursprünglichkeit auszublenden und auf eine Erkenntnis von ,Grundformen' zu pochen, hat - im Verein mit den (berechtigten) Zweifeln an der Unverfalschtheit des Mythos - dazu beigetragen, daß DIETERICH den Blick nunmehr ganz auf den Ritus lenkt. Auf der Basis des Vergleichs von Riten aus den unterschiedlichsten Kulturen kommt DIETERICH zu dem Schluß, daß der Ritus (gegenüber dem Mythos) ein formal konstantes und über die Einbettung in neue Deutungssysteme sich hinwegsetzendes Ausdrucksverhalten aufweise und die Grundformen des religiösen Denkens infolgedessen am zuverlässigsten anhand ritueller Ausdrucksformen erforscht werden können.

Archäologie der religiösen Grundformen. Zu Dieterichs , Mutter Erde ' „Im geschichtlichen Leben der Kulturnationen ist das Ältere in Glaube und Brauch in der Regel unten zu liegen gekommen, wo es sich mit unausrottbarer Zähigkeit, oft für uns nur noch an schwachen Lebenszeichen erkennbar, festgeklammert hat."56

Daß das Ursprüngliche nicht gänzlich untergeht, sondern in den „unteren Schichten" einer Kultur, wo man es nur ausgraben muß, weiterlebt, ist eines der zentralen Dogmen in DlETERICHs Ansatz und hatte auch in USENERs Arbeiten eine große Rolle gespielt, als er, von der empirischen Synchronizität entwicklungshistorisch entstandener Ausdrucksformen (d. h. der Namen von Augenblicks-, Sonder- und Persönlichen Göttern) überzeugt, gerade unter den marginalen göttlichen Wesen Spuren frühreligiöser Vorstellungen zu finden hoffte. Der Gedanke einer von Tiefenschichten oder Atavismen durchdrungenen Gegenwart, den DIETERICH in seiner Arbeit an Mutter Erde

54 55 56

Vgl. dazu oben S. 83-85. DIETERICH, Mutter Erde, 3f. Ebd., 2.

112

Albrecht Dieterich

voraussetzt,57 erinnert an die Metaphorik der Archäologie oder Geologie und nicht zuletzt der Psychoanalyse, in der das Unbewußte als ein die ontogenetische Frühgeschichte konserviererender und archivierender ,Untergrund' des Ichs firmiert, der sich (um im Bild zu bleiben) allenfalls dem ,Ausgräber' erschließt, dem es gelingt, die einzelnen Schichten freizulegen.58 In der Religionswissenschaft war die von Edward TYLORs Begriff des survivals' vorbereitete Metapher einer Strukturanalogie von Volkskunde und Geologie bereits vor DIETERICH (und USENER) formuliert worden, namentlich bei dem von 59 DIETERICH hoch geschätzten Wilhelm MANNHARDT im zweiten Band von dessen Wald- und Feldkulten (1877).60 DIETERICH sieht die Koexistenz verschiedener Entwicklungsstadien dadurch gegeben, daß sie innerhalb einer (wie auch immer definierten) Einheit nebeneinander bestehen. Die Prozesse, auf die er seine Beobachtung eines kontinuierlichen Fortbestehens früherer Elemente zurückführt, sind zu unterscheiden in (1) den Vorgang der Inkorporation und (2) den .Vorgang' der Konstanz. Konstanz bedeutet dabei im wesentlichen, daß bestimmte Ausdrucksformen auch nach der Überwindung der ihr zugrunde liegenden Denkform, d.h. über den Zeitpunkt ihrer Entstehungsbedingungen hinaus, weiterexistieren. So gehen etwa zahlreiche aus Angst vor höheren Mächten entstandene magische Handlungen (etwa dem Toten das mitzugeben, was er besessen hat) in die Sitte ein, ohne daß die zentrale Bedeutung der Handlung (die Vorstellung, daß es nach dem Tod so weiter geht wie zuvor) später noch verstanden werden muß. Inkorporation dagegen bedeutet die Konstanz von Handlungsformen unter der Bedingung, daß ihr ursprünglicher Ausdrucksgehalt zugleich eine explizite Umbestimmung erfährt. Unter ,Inkorporation' ist die Übernahme beispielsweise primitiver Paganismen durch das Christentum zu rubrizieren, sofern sie sich dabei auf formale Handlungs- oder Erzählstrukturen, etwa den Ablauf eines paganen Ritus oder einer paganen Liturgie beschränkt, ihre Inhalte jedoch in einem neuen, christlichen Sinne gedeutet werden. Der für die Genese eines Zeichens, einer Handlung oder Erzählung ursprünglich verantwortliche Ausdruckswille wird in diesem Fall seiner Autorität als eines feststehenden Deutungshinweises enthoben. Das Zeichen selbst figuriert nicht mehr als Träger einer klar bestimmbaren und eindeutig eingrenzbaren Vorstellung;

58 59 60

Vgl. schon Friedrich CREUZER, Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen (1810/1812), Bd. 1: Leipzig/ Darmstadt 1836, repr. Hildesheim/ New York 1973, 137, der die Verehrung von chthonischen Mächten als ein frühes, im Volksglauben weiterlebendes Stadium der Religionsentwicklung bezeichnet, s. dazu R. SCHLESIER, Olympische Religion und chthonische Religion: Creuzer, K. O. Müller und die Folgen-, in: DIES., Kulte, Mythen und Gelehrte, 21-32. 22. Zu den Strukturanalogien s. W. RIEDEL, Archäologie des Geistes, 478ff. DIETERICH, Über Wesen und Ziele der Volkskunde, 296f. S. dazu oben S. 39-41.

Archäologie der religiösen Grundformen

113

sondern entfaltet nunmehr ein Sinnpotential, das mit der Integration in einen neuen Kontext sowie durch dessen ästhetische oder religiöse Nonnen erneut eingegrenzt und koordiniert wird. Der Vorgang der Inkorporation toleriert also das Fortbestehen von Zeichen nur, indem es deren ursprünglichen Bedeutungsgehalt negiert und sie innerhalb eines neuen Bedeutungssystems neu positioniert. Den Vorgang der Inkorporation hatte USENER am deutlichsten in seiner Studie über das Weihnachtsfest (1889) demonstriert; für DIETERICH sollte er vor allem in den Arbeiten bedeutsam werden, in denen er sich mit den Liturgien beschäftigte, die in Zauberritualbüchern eingebettet und damit in einen neuen, magischen Kontext inkorporiert worden waren (Eine Mithrasliturgie; Abraxas). In Nekyia, der Arbeit über die sogenannte Petrusapokalypse, zeigt er, in wie vielen einzelnen Bildern die christliche Eschatologie an den Bildern der uralten und „zähen" paganen Vorstellung von einem Land des ewigen Lichts und der Seligkeit61 festgehalten hat - angefangen vom Bild des Gartens, über die Beschreibung der Farben des Sonnenlandes und der Charakterisierung der Lichtgottheiten bis zu der Vorstellung von Gerechtigkeit und dem himmlischen Lobgesang der Seligen. Im Zusammenhang mit der Frage nach den „Grundformen des religiösen Denkens" jedoch 62 hält DIETERICH das Phänomen der Konstanz, wie es USENER beispielsweise bei Lokalgottheiten vorausgesetzt hatte, für weitaus relevanter. Denn Konstanz bedeutet, daß nicht bestimmte Handlungen in ein neues Bezugssystem eingebunden werden, sondern ihr ursprünglicher Ausdruckswille entweder mehr oder weniger bewußt bestehen bleibt, oder aber der vollständige Verlust eines sinnbestimmenden Kontexts überhaupt eintritt. Der vollständige Verlust eines sinnbestimmenden Kontexts überhaupt bedeutet, daß die als Ausdruck einer bestimmten Denkform generierten Zeichen, z.B. eine magische Handlung, in ihrer Form erhalten bleiben, ihre ursprüngliche Bedeutung jedoch verlieren, ohne daß ihr Ausdruckspotential durch eine konkrete Neueingrenzung alternativ genutzt werden würde. Sie degradieren zu bloßen Relikten eines vergangenen Entwicklungsstadiums, gleichsam zum Archiv einer überwundenen Kulturstufe. Nur in dem Fall, daß auch diejenigen Vorstellungen, auf die die Entstehung dieser Zeichen zurückgeht, noch präsent sind, wenn sich also zeigt, daß der Gebrauch der entsprechenden Zeichen zugleich ihre Entstehungsbedingungen (re-)aktiviert, ließe sich von Gegenständen der Erinnerung sprechen, oder falls sie bewußt und mit der Zuversicht

61 62

DIETERICH, Nekyia, 19-37. 33 (Hesperidengarten, Elysium, Hyperboreer). Von der Vokabel „Ursprung" nimmt DIETERICH bewußt Abstand, vgl. Mutter Erde, 3f.: „Das Nacheinander freilich des Entstehens solcher Gedanken und solcher Bräuche in zeitlicher Ordnung festlegen zu wollen und von mehr oder weniger Ursprünglichem zu reden, sollte sich in solchen Fragen einstweilen überhaupt niemand vermessen." Allerdings wendet sich DIETERICH mit dieser Kritik nicht gegen USENER, sondern gegen die verschiedenen Versuche, einen bestimmten Kult als Ausgangspunkt für Religion auszuweisen.

114

Albrecht Dieterich

des Bewahrens weitergegeben oder gar zum Gruppenabzeichen erhoben werden, von Gegenständen der Tradition,63 wobei im letzten Fall ihre gesellschaftlich-kommunikative Funktion in der identitätsstiftenden Wirkung gesehen werden müßte, wie sie sich durch einen gemeinsamen und bewußten Gebrauch von Handlungen einzustellen vermag. In allen Fällen - sei es, daß eine kulturelle Objektivation als Archiv, als Erinnerung oder als Tradition auftritt - fungieren ihre Zeichen anders als in ihrem ursprünglichen Kontext nicht als Ausdruck einer universell präsenten, d.h. der gegenwärtigen Entwicklungsstufe entsprechenden Denkform. Sie erscheinen vielmehr als Träger eines in der Vergangenheit objektivierten Denkens, das nunmehr lediglich durch die ursprünglich gesetzten Zeichen entweder konserviert oder aktiviert, in jedem Fall aber greifbar ist. Das Ausbleiben von Umdeutungsprozeß und Rekontextualisierung bedeutet (sofem es sich nachweisen läßt) gerade für die empirisch vorgehende Rekonstruktion ursprünglicher Vorstellungen eine unübertreffliche Forschungsgrundlage: Während nämlich der Vorgang der Inkorporation das genuine Verhältnis von Denk- und Ausdrucksform verdunkelt, indem es bestimmte Zeichen für sich vereinnahmt, bleibt im Falle der Konstanz das genuine Verhältnis unangetastet. Zwar ist auch dann stets zu klären, inwieweit eine ursprüngliche Vorstellung noch bewußt wahrgenommen wird, doch scheint in jedem Fall mit der Existenz der Ausdrucksform zugleich der umittelbare Zugang zu deqenigen Vorstellung gegeben, die ihr usprünglich zugrunde lag. Gerade die Riten der (präliteralen) Landbevölkerung, noch unberührt von den großen Veränderungen der Städte, von Aufklärung, Deutungsversuchen und Kulturwandel und daher - wie auch USENER in seinem Aufsatz zur Heiligen Handlung sowie in einigen Bemerkungen in den Götternamen64 deutlich gemacht hatte - besonders zäh und konstant, galten DIETERICH als hervorragende Quelle ursprünglichen Brauchtums. Am zuverlässigsten schienen ihm dabei, worin sich übrigens auch die spätere Forschung noch einig ist, Zauberriten bzw. die schriftliche Fixierung dieser Riten in den sogenannten Zauberritualbüchern.65 Ohne literarischen Anspruch, sondern lediglich in der 63

64

65

Vgl. A. ASSMANN, Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hrsg. von A. Assmann/ D. Harth, Frankfurt a.M. 1991, 13-35. 27. Vgl. H. USENER, Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Bonn 1896, 117f., der von dem „landvolk" spricht, das „bis in unsere tage bei der alten einfalt erhalten blieb" und bei dem „die alten Überlieferungen" noch greifbar seien. Darüber hinaus macht USENER auf das drohende Vergessen aufmerksam: „Die zeit drängt. Die letzten jahrzehnte haben überall grossen umschwung herbeigeführt und vieles alte ganz zurücktreten lassen; schon heute wird man sich an alte mütterchen wenden müssen." Vgl. dazu W. RIEDEL, Archäologie des Geistes, 481, und oben S. 83-85. G. FOWDEN, The Egyptian Hermes. A Historical Approach to the late Pagan Mind, Cambridge 1986, 79-87. Zu DIETERICH vgl. DERS., Abraxas, 162; S. femer Α. ABT, Einleitung zu: DERS. (hrsg.), Apologie des Apuleius von Madaura, R G W 4. 2, 1908. Th. HOPFNER, Griechisch-ägyptischerer Offenbarungszauber. Seine Methoden, 2 Bde.,

Archäologie der religiösen Grundformen

115

Absicht verfaßt, bisher mündlich Tradiertes (und mehr oder weniger Geheimes)66 zu konservieren, habe gerade letzteren selbst ihre oft späte schriftliche Fixierung nichts anhaben können.67 Zeigen konnte DIETERICH dies an dem Vergleich von zahlreichen antiken und modernen Zauberritualbüchern, die oft bis in den Wortlaut hinein identisch waren und an einer Fülle weltweit nachgewiesener Zauberbräuche, für deren Handlungsmuster dasselbe galt. Sofern Diffusion ausgeschlossen war,68 konnte DIETERICH davon ausgehen, daß es sich um „Grundformen" handelte, die „tief in der menschlichen Seele sitzen und immer die gleichen sein werden und immer wieder von unten hervorkommen. «69 „Wenn ganz konkrete Zauberbräuche in allen wesentlichen, sehr leicht kontrollierbaren und von jeder Deutung unabhängig festzustellenden Einzelheiten (sogar öfter die Hauptformeln und Wendungen der Zaubersprüche) in unserem Volksbrauch, im Volksbrauch der alten (von deren Zauberbüchern wir wieder viele besitzen) und im Brauche etwa der Malayen von Malakka, der Neger am Kongo, der Indianer von Nordamerika übereinstimmen, wenn gegenseitige Übernahme bis auf ganz verschwindende Einzelheiten und einige ganz zurücktretende Möglichkeiten ausgeschlossen ist ... so müssen an solchem Material bestimmte Formen zu erforschen sein, die das menschliche Denken auf einer bestimmten Stufe durchgemacht hat."70

Damit nähern wir uns ein wenig DlETERICHs Lösungsstrategie, die ihm angesichts des oben angesprochenen Problems, unter verschiedenen koexistenten Ausdrucksformen das Ursprüngliche, Konstante herauszufiltern, abverlangt werden mußte. Denn das Verfahren des Vergleichs71 wendet DIETERICH auch in Mutter Erde in breitem Maße an. In Mutter Erde, in der er als die „Zentralpunkte religiösen Denkens" die „Grunderlebnisse und Grundrätsel des menschlichen Lebens": „Geburt, Hochzeit, Tod"72 herausarbeitet und in der Tradition Friedrich CREUZERs, Karl Otfried MÜLLERs und Johann Jakob BACHOFENS (freilich ohne damit auch dessen Mutterrecht übernommen zu haben)73 die entwicklungsgeschichtlichen Anfange der Religion in einer

66 67

68

69 70 71 72 73

Bd. 1: Frankfurt a.M. 1924 (repr. Amsterdam 1983); Bd. 2: Leipzig 1924 (= Studien zur Palaeographie und Papyruskunde, hrsg. von C. Wessely, Bd. 23. 1/2; F. GRAF, Gottesnähe und Schadenszauber. Die Magie in der griechisch-römischen Antike (frz. Orig.: La magie dans l'antiquité gréco-romaine, Paris 1994), München 1996, 205. S. dazu F. GRAF, Gottesnähe und Schadenszauber, 11. Vgl. z. B. DIETERICH, Abraxas, 161, Anm. 3: ,,[I]n diesen Dingen [sc.: der Magie], in denen ja das Volks so zäh und konservativ ist wie in nichts anderem. - Nun gar im heutigen Griechenland giebt es Zauberbücher, noch ganz wie die alten!" D. h., wenn die „Übereinstimmimg" „weder durch Urverwandtschaft einer bestimmten Gruppe von Völkern ... noch durch Übertragung von einem Volke zum anderen" erklärt werden kann. (DIETERICH, Mutter Erde, 30). DIETERICH, Die Hauptprobleme der Religionswissenschaft, 64. DIETERICH, Über Wesen und Ziele der Volkskunde, 307. S. dazu oben S. 25-48 passim. DIETERICH, Mutter Erde, 3, F. CREUZER, Symbolik und Mythologie der alten Völker, Bd. 1, 137; Bd. 2, 188f.; J. J. BACHOFEN, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Struktur, Stuttgart 1861.

116

Albrecht Dieterich

chthonischen „Mutterreligion" ausmacht, gilt das ganze erste Kapitel einer Zusammenstellung von Bräuchen, Zaubersprüchen und Märchen, die, aus der gesamten (auch nicht-indoeuropäischen) Welt und aus einem Zeitraum von der Antike bis ins 19. Jahrhundert stammend, darauf hinweisen, daß „das Geheimnis des Menschenanfanges und des Menschenendes", das „Erzeugtwerden und Sterben", die „Zeugungskraft" und das „Todesgrauen,... das auch der starke Mann nie völlig zu bannen vermag" die zentrale Grundlage für zahlreiche Schutz- und Abwehr-, Reinigungs- und Weiheriten ist. „Hier sind die größten Geheimnisse nicht nur, hier sind die Mächte, die den ganzen Menschen, sein Empfinden und Wollen im Innersten erregen, hier glaubt nicht nur der primitive Mensch das Wirken göttlicher Wesen besonders unmittelbar zu erkennen, in den Schauem der Angst vor den Unfaßbaren, die versöhnt und verscheucht werden müssen, und in dem Drängen nach der Hilfe der Unberechenbaren, die gelockt und gezwungen werden müssen." 74

Die Tatsache, daß die Bräuche an den verschiedensten Punkten der Erde miteinander übereinstimmen, fuhrt DIETERICH aber nicht nur zu einem der Rassischen' Ergebnisse der Ethnologie, daß es sich nämlich infolgedessen um ein notwendiges und, da bei den Naturvölkern noch nachweisbar, auch frühes Stadium in der Entwicklung der Religion handeln müsse, sondern hat insbesondere auch umgekehrt Folgen fur die Analyse einer ganzen Reihe literarischer Texte aus der Antike. Im zweiten Kapitel des Buches, nachdem er über mehr als dreißig Seiten hinweg Belege aus Bayern, Schlesien und Hessen, aus Rußland, Mexiko und Armenien, aus dem Nil-Delta, aus Westafrika und Nordamerika, aus der Antike, dem Mittelalter und der Neuzeit angeführt hat, kommt DIETERICH auf das Wiederauftauchen dieser ursprünglichen' religiösen Vorstellungen in der hohen Literatur zu sprechen: „Mit dem, was uns diese Prolegomena [sc. K a p . l ] durch die Analogien weit verbreiteten Volksbrauches und Volksglaubens bereits gelehrt haben, ausgerüstet, treten wir in die griechische Welt. Es soll nun von keinerlei kulturlosen Völkern und von keinem deutschen Aberglauben mehr die Rede sein; der aufmerksame Leser wird beurteilen können, wieweit die bisherigen Betrachtungen zum besseren Verständnis vereinzelter griechischer Zeugnisse von Nutzen sind, ohne daß ihrer einfachen Interpretation das geringste Fremdartige hinzugetan werden soll." 75

Auch wenn DIETERICH vor den Auswüchsen der Vergleichenden Methode warnt,76 ist es doch faktisch das Verfahren der Vergleichs, mit dem es ihm gelingt, dem anfangs erwähnten hermeneutischen Zirkelschluß zu entgehen.

74 75 76

K. O. MÜLLER, Eleusinien, 1848. Zu K. O. MÜLLER als Vorläufer BACHOFENs s. A. BAEUMLER, Das mythische Weltalter. Bachofens romantische Deutung des Altertums, München 1965, 149-158. R. SCHLESIER, Olympische Religion und chthonische Religion: Creuzer, K. O. Müller und die Folgen, 21-32. DIETERICH, Mutter Erde, 4. Ebd., 36. Ebd., 3, wamt davor, sich auf der Basis eines „entsprechenden Brauches" eines anderen Volkes dazu hinreißen zu lassen, die Lücken des eigenen Forschungsgegenstandes zu füllen.

Archäologie der religiösen Grundformen

117

Was sich in den Texten der hohen Literatur als Überbleibsel aus dem Volksbrauch deuten läßt und damit letztlich die Grundlage für die Behauptung darstellt, daß die im Volksbrauch archivierten Vorstellungen infolge ihrer formalen Persistenz auch in die hohe Literatur eingegangen sind, bestimmt DIETERICH anhand einer global angelegten Untersuchung, in deren Verlauf er vor allem die Naturvölker als Repräsentanten einer frühen Kulturstufe sehr ernst genommen hatte, um aus dem reichhaltigen Angebot der verschiedenen, zeitgleich nebeneinanderher bestehenden religiösen Ausdrucksformen das .Ursprüngliche' zu sondieren: „Wenn wir gewisse Tatsachen des Volksglaubens und der Volksbräuche in den unteren Schichten unseres Volkes feststellen, da wo wir sie in unseres eigenen Volkes Leben am sichersten erkunden und in ihren Hauptformen erfassen können, wenn wir die gleichen Tatsachen in eben diesen klar erkennbaren Hauptformen für das Volksleben eines geschichtlichen Kulturvolkes, also z.B. der Griechen und Römer, als geschichtlich bezeugt vorfinden, und wenn wir endlich die gleichen Tatsachen in den wiederum klar erkennbaren Hauptformen für sogenannte Naturvölker an weit voneinander entfernten Punkten der Erde einwandfrei und zweifellos erforscht, bezeugt und klar gestellt bekommen, so stehen wir - falls in eben den vorliegenden Fällen gegenseitige Übertragung im gewöhnlichen Sinne mit Sicherheit auszuschließen möglich ist (und das ist in zahlreichen Fällen möglich) - so stehen wir, sage ich, vor dem Material zur Erfassung von Gesetzen der Entwicklung des menschlichen Denkens."77

Einer der Gründe dafür, daß DIETERICH das Verfahren des Vergleichs weitaus offensiver einsetzt als USENER, liegt in der unterschiedlichen inhaltlichen Besetzung des von beiden Gelehrten gebrauchten Ausdrucks der „Gesetze der Entwicklung des menschlichen Denkens". Wie oben schon betont wurde, hatte USENER darunter die dynamischen Prozesse der Begriffsbildung verstanden, während es DIETERICH auf nicht mehr und nicht weniger als auf die „Grundformen des religiösen Denkens", das heißt: auf das „Denken und Empfinden des primitiven Menschen" bezieht. Von den Versuchen, „das Nacheinander ... des Entstehens solcher Gedanken und solcher Bräuche in zeitlicher Ordnung festlegen zu wollen und von mehr oder weniger Ursprünglichem zu reden"78 nimmt DIETERICH deutlich Abstand. Seine Unvoreingenommenheit gegenüber der Vergleichenden Methode zeigt letztlich seinen (beinahe auf Walter F. OTTO vorausweisenden)79 ,Respekt' vor der Unergründbarkeit des Ursprünglichen, der es ihm verbietet, die ersten Ursprünge in ihren einzelnen Entwicklungsschritten aufzuschlüsseln, es sehr wohl aber zuläßt, auf universell gültige und gesetzmäßig zu durchlaufende Grundformen hinzuweisen. Eine dieser Grundformen ist die in Mutter Erde behandelte Vorstellung von der Erde, die alles erzeugt und in die alles vergeht. Der ursprüngliche Mensch, den das Geheimnis des Lebens und des Todes beherrscht, der sich nicht vor77 78 79

DIETERICH, Über Wesen und Ziele der Volkskunde, 307. DIETERICH, Mutter Erde, 3. Vgl. W. F. OTTO, Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes, Frankflut a.M. 1929, 21.

118

Albrecht Dieterich

stellen kann, daß etwas entsteht und vergeht, sondern nur, daß ,etwas' .irgend etwas anderes' gewesen ist, und der beobachtet, wie aus der Erde alles sprießt und wächst und schließlich in ihr vergeht, bringt die Erde mit seinem eigenen Werden und Vergehen in Zusammenhang und stellt sich vor, daß die Kinder aus der Erde kommen, wohin die Toten zurückgehen, und daß die Ahnengeister der Toten aus der Erde zurückkehren und in ihre Enkel eingehen: Die Erde ist die Mutter, in der alles, auch das eigene Leben, wächst und entsteht. Diese „Denkform", wie sie DIETERICH in Mutter Erde unter den Begriff der „Metathese" faßt und anhand zahlreiche·· Bräuche nachweist - etwa dem Kind den Namen des Großvaters zu geben, dessen Ahnengeist in das Kind zurückkehrt, oder das Neugeborene auf die Erde zu legen, aus der es gekommen ist80 - , entspricht der uns Heutigen vor allem aus der Psychoanalyse vertrauten ,Übertragung',81 bei der Vertretungsrelationen als Identitätsbeziehungen genommen werden.82 Das Nichterkennen der Differenz von Zeichen und Sache (Bezeichnetem), d.h., das fehlende Durchschauen des Als-Ob, wie es Friedrich Th. VlSCHER unter dem Begriff der „Transsubstantiation" für den Träumenden beschrieben hatte83 und von Aby WARBURG als Charakterisierung des magischen Denkens (unter dem Begriff des fehlenden ,Denkraums') wiederaufgegriffen werden sollte,84 hat später CASSIRER85 - und zwar mit einem Fußnotenvermerk auf USENERs Heilige Handlung - als Wesensmerkmal des Ritus ausgemacht:

80 81

82

83

84

85

DIETERICH, Mutter Erde, 6-25. S. FREUD, Die Traumdeutung, in: DERS., Studienausgabe, hrsg. von A. Mitscherlich u.a., Frankfurt a. M. 1989, Bd. 2, 348ff. In Entspechung zu dem in FREUDs Traumsemantik vorherrschenden Pansexualismus heißt dies, daß „alle in die Länge reichenden Objekte" das männliche, alle „hohlräumlichen" das weibliche Genitale symbolisch darstellen. W. RIEDEL, Archäologie des Geistes, 474f. RIEDEL, ebd., 475f. macht aufmerksam auf die engen Parallelen zwischen FREUDs Theorie der Sexualsymbolik und der klassischen Rhetorik: „Schon die Kategorien, mit deren Hilfe [Freud] die Funktionsweise dieser Symbolik als .Übersetzung', .Übertragung', .Vergleich' oder auch .Rätsel' beschreibt, sind genuin rhetorisch (epiphora/ metaphora, verbum translatum, analogia, tropus), und sie weisen alle in den Kontext der .uneigentlichen' oder .übertragenen' Redeweise." F. Th. VlSCHER, Das Symbol (in: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem ßnfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet, Leipzig 1887, 151-193), in: DERS., Kritische Gänge, hrsg. von R. Vischer, Bd. 4, 2. Aufl., München 1922, 420-456, bes. 441444, s. dazu W. RIEDEL, Archäologie des Geistes, 474. Zur „Transsubstantiation" s. F. Th. VlSCHER, ebd., 425. Vgl. A. WARBURG, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philosoph.-histor. Klasse, eingegangen am 25. Oktober 1919, 26. Abhandlung, Heidelberg 1920), in: DERS., Ausgewählte Schriften und Würdigungen (ASW), hrsg. von D. Wuttke, BadenBaden, 2. Aufl., 1980, 199-304. 202f. (zitiert unten S. 157). Das Phänomen faßt Emst CASSIRER unter den (schon von F. Th. VlSCHER, Das Symbol, 425, verwendeten) Begriff der „Transsubstantiation", vgl. DERS., Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken (1924), Darmstadt 1994, 51f.

119

Archäologie der religiösen Grundformen

„Es ist mit Recht betont worden, daß im Verhältnis von Mythos und Ritus der Ritus das Frühere, der Mythos das Spätere ist. Statt das rituelle Tun aus dem Glaubensinhalt, als einem bloßen Vorstellungsinhalt, zu erklären, müssen wir vielmehr den umgekehrten Weg einschlagen: wir müssen das, was am Mythos der theoretischen Welt angehört, was an ihm bloßer Bericht oder geglaubte Erzählung ist, als eine mittelbare Deutung desjenigen verstehen, was unmittelbar im Tun des Menschen und in seinem Affekt und Willen lebendig ist. So gefaßt aber haben alle Riten ursprünglich keinen bloß .allegorischen', nachbildenden oder darstellenden, sondern durchaus realen Sinn: sie sind in die Realität des Wirkens derart eingewoben, daß sie einen unentbehrlichen Bestandteil von ihr bilden."86

Gegenüber dem Mythos, der die Differenz von „Bild" und „Sache" noch nicht kenne, bei dem also die Identifikation im Bereich von Objekt und Bezeichnung stattfindet - „Das ,Bild' stellt die , Sache' nicht dar - es ist die Sache", gelinge im Ritus nicht einmal die Differenzierung in darstellendes Subjekt und Darstellung: „Es ist kein bloßes Schaustück und Schauspiel, das der Tänzer ... auffuhrt; sondern der Tänzer ist Gott, wird zum Gott."87 DIETERICH hätte CASSIRER wohl auch in der Konsequenz zugestimmt, die dieser daraus zieht, daß nämlich der Ausdruck des , Analogiezaubers", der ja ein Differenzdenken sowie die Vorstellung von einem mit der Sache selbst nicht identischen .Mittel' voraussetzt, nicht präzise ist: ,,[D]enn wo wir ein bloßes Zeichen sehen, da ist für das magische Bewußtsein und sozusagen für die magische Wahrnehmung vielmehr der Gegenstand selbst gegenwärtig."88 Er spricht in diesem Zusammenhang daher von einer sinnlichen „Anschauung des Unbekannten unter dem Bilde des Bekannten" (,Metathese").89 Das Körperliche, Sinnliche, das dem Menschen Vertraute ist das, was er sich vorstellen kann und in dessen Bildern er die Welt erfaßt. So deutet DIETERICH den bekannten Fruchtbarkeitsritus, bei dem die geschlechtliche Vereinigung von Mann und Frau auf einem Ackerfeld die Erde fruchtbar machen soll, als die Anschauung einer .Analogie', die allerdings zugleich eine „Identität der Vorgänge" voraussetzt: „Man redet in solchen Fällen von Analogiezauber. Und in der Tat werden je zwei Vorgänge auch hier in all den Bräuchen, um die es sich handelt, in Analogie gesetzt, die an einem Punkte der Proportion miteinander verbunden werden. Saat und Frucht bei der Erde, Zeugen und Gebären beim Menschen sind die Glieder der Proportion. Menschliche Begattung auf dem Ackerfeld bewirkt ein Schwangerwerden der Erde, Samenkörner ins Grab, in die Erde geworfen, bewirken die Neugeburt des in die Erde gelegten Toten aus der Erde und so fort in reziproker Wirkung. Die ursprüngliche Anschauung sieht aber hier nicht nur Analogie, sondern Identität der Vorgänge, die sich einander sozusagen zwingen zu geschehen. Wasser auf die Erde gießen ist identisch mit Regnen: tut man es, so zwingt man den Regen herbei. Hauchen und Pfeifen ist Wind: es macht Wind, zwingt den Sturm herbei."90

86 87 88 89 90

E. CASSIRER, Das mythische Denken, 51. Ebd., 51 und ebd., 52. Ebd., 53. DIETERICH, Mutter Erde, 34; Die Hauptprobleme der Religionswissenschaft, DIETERICH, Mutter Erde, 99.

58.

120

Albrecht Dieterich

Obwohl DIETERICH dem vor allem von J. G. FRAZER91 lancierten (heute weitgehend angezweifelten)92 Grundsatz folgt, daß Analogie- und sympathetischer Zauber dem modernen logischen Denken insoweit strukturell nahestiinden, als sie mit - wenn auch als vollkommen willkürlich erscheinenden - synthetischen Urteilen (d.h. mit Assoziationsgesetzen und kausalen Zusammenhängen) operierten,93 macht er gegenüber FRAZER doch einen entscheidenden Unterschied aus: Das ursprüngliche Denken hat, so DlETERICHs These, keinen Begriff von Zeit, Raum oder Endlichkeit. Es kennt keine topographisch oder zeitlich begrenzten Erscheinungen: Die Erde, die gebiert, gebiert immer wieder neu: „Der Schoß der einen Mutter Erde ist überall da, wo ein Pflug die Furche reißt, wo ein Menschenkind geboren und wo ein Gestorbener eingebettet wird."94 Statt einer Vorstellung von Neuentstehen und Vergehen gebe es allenfalls die Vorstellung von Metathese und Metamorphose (das Neugeborene ist der wieder ins Leben getretene Ahn): Statt von der Vorstellung der Assoziation zweier Dinge oder Handlungen werde das ursprüngliche Denken von der Vorstellung beherrscht, daß die Dinge/ Handlungen miteinander identisch seien: Der Regen ist der menschliche Same, die Erdengrube

91

92

94

Vgl. J. G. FRAZER, The Golden Bough (1890), dt. Übers.: Der goldene Zweig (übersetzt auf der Grundlage der gekürzten Ausgabe London 1922), Hamburg 1989, 70-87. 70, über Magie und Wissenschaft: „Beide eröffnen eine scheinbar endlose Reihe von Möglichkeiten für denjenigen, der die Ursachen der Dinge und die geheimen Triebfedern kennt, welche das ungeheuer verwickelte Getriebe der Welt in Bewegung setzen." Nach FRAZER gebührt der Zauberei neben den Wissenschaften das Verdienst, dem Streben nach Erkenntnis einen enormen Auftrieb (und Antrieb) gegeben zu haben. Der Fehler, den die Zauberei begehe, liege nicht in der Annahme von Gesetzmäßigkeiten, sondern in den irrigen Vorstellungen von dem Wesen dieser Gesetzmäßigkeiten (z. B. führt die Vorstellung der Assoziation gleichartiger Ideen durch Ähnlichkeit oder Berührung, falsch angewendet, zur imitativen oder homöopathischen Magie, richtig angewendet, zur Wissenschaft). Vgl. dazu H. G. KIPPENBERG, Magie, in: Handbuch der religiösen Grundbegriffe, Bd. 4: hrsg. v. H. Cancik/ B. Gladigow/ K.-H. Kohl, Stuttgart/ Berlin/ Köln, 1988, 86-88. Vgl. dazu E. E. EVANS-PRITCHARD, The Intellectualist Interpretation of Magic Bulletin of the Faculty of Arts, Fuad I University, Cairo 1.2, 1933, 1-21, wiederabgedruckt in: Journal of the Anthropological Society of Oxford 4.3, 1973, 123-142; P. WINCH, Was heißt ,eine primitive Gesellschaft verstehen' (Ethics and Action, American Philosophical Quaterly 1964, dt. Übers, in: Sprachanalyse und Soziologie, hrsg. von R. Wiggershaus, Frankfurt a.M. 1975), in: Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, hrsg. von H. G. Kippenberg/ B. Luchesi, Frankfurt a.M. 1995, 73-119; S. J. TAMBIAH, Form und Bedeutung magischer Akte. Ein Standpunkt (engl. Orig. in: Modes of Thought, hrsg. von R. Horton/ R. Finnegan, London 1973, 199-230), in: Magie, hrsg. von H. G. Kippenberg/ B. Luchesi, 259-296. DIETERICH, Mutter Erde, 99: „Das Denken beginnt mit falschen synthetischen Urteilen, mit falscher Abstraktion der accidentellen Eigenschaften. Ein ,Sympathiegesetz', das wir als gänzlich willkürlich erkennen, gilt solchem Denken wie uns das Naturgesetz." Ebd., 100.

Perlen in einem Schutthaufen"

121

ist der weibliche Schoß - und umgekehrt: der Zeugungsvorgang ist die Fruchtbarmachung der Erde.95 Die hohe Literatur der klassischen Zeit, der DIETERICH vor allem das zweite Kapitel des Buches widmet, vor allem aber die christliche Religion, auf die er im siebten Kapitel zu sprechen kommt, sind von dieser ,Denkform' natürlich nicht mehr geprägt. Gleichwohl findet DIETERICH Spuren, die auf das Weiterleben ihrer rituellen und sprachlichen Äußerungen hinweisen. Was der ursprünglichen Denkform entsprach: das „Eine unter dem Bilde des Anderen zu erfassen",96 ist von der Fähigkeit, in Vertretungsrelationen zu denken, überholt worden. Ihre Ausdrucksformen aber, die ursprünglich dieser Denkform entstammende Handlung oder Redeweise, namentlich die Vorstellung von einer ,Mutter Erde',97 leben als bloße Gepflogenheit (etwa in dem athenischen Brauch, die Ehe dem Oupavoc und der Γη zu weihen98) oder als zum Bild, als zur Metapher erstarrter Ausdruck (παμμήτωρ γη u. ä.99) beispielsweise in der Tragödie fort.

„Perlen in einem Schutthaufen". Zu Dieterichs, Abraxas ' und,Eine Mithrasliturgie ' Während in Mutter Erde vor allem die Konstanz ursprünglicher Ausdrucksformen von Bedeutung gewesen war und DIETERICH eine Fülle verstreut aufgefundener Zaubersprüche und -riten zusammengetragen hatte, um aus diesen Bruchstücken ein Bild der Grundformen des religiösen Denkens zu gewinnen, lagen ihm bei der Arbeit an Abraxas und Eine Mithrasliturgie ganze Zauberbücher vor, deren jeweiliger Zustand zwar den Textkritiker herausfordern mochte, aber doch immerhin so gut war, um erkennen zu lassen, daß in die magischen Anweisungen auch nicht-magische Texte (antike Hymnen und Liturgien) eingeflossen waren.

95 96 97

98 99

Ebd., 101. Ebd., 33. Ebd., 118 erinnert an die christliche Vorstellung einer „Mutter aller Gläubigen", die diese in ihrem „alleinseligmachenden Schoß" au&immt und „zu neuem Leben gebiert." Ebd., 45 mit Hinweis auf Proklos zu Plat. Tim. 293. [Α.] Prom. 90. Um eines der von DIETERICH angeführten Beispiele zu nennen: In A. Cho. 124ff. betet Elektra zu den Mächten der Tiefe, u. a. zur Erde, von der sie sagt (127f.): „Und auch die Erde selbst, die alles gebärt und von dem, was sie genährt hat, wieder den Keim empfangt." (καί γαίαν αυτήν, ή τα πάντα τίκτεταιΙ θρέψασά τ ' αύθις τώνδε κΰμα λαμβάνει), eine Stelle, die DIETERICH vor allem deswegen als eine untrügliche Reminiszenz an alte Vorstellungen wertet, weil κΰμα die Frucht im Mutterleib bezeichnet.

122

Albrecht Dieterich

Die Zauberbücher durften als ein untrügliches Zeugnis magischer Vorstellungen gelten100 und waren wegen ihrer Detailfreudigkeit eine wahre Fundgrube. Darüber hinaus wiesen einige der in ihnen enthaltenen Bemerkungen darauf hin, daß die wenigen überlieferten Bücher keine Einzelfálle waren, sondern Teil einer versunkenen, seinerzeit lebhaft betriebenen ,Literatur': Ihre Verfasser zitieren sich untereinander (und erheben umgekehrt auch schon mal den Vorwurf des ,Diebstahls'),101 sie verweisen in Einzelheiten auf Varianten oder nennen hin und wieder ausdrücklich die Titel (und Verfasser) anderer Zauberbücher - hinreichend Anlaß dafür, eine vielfaltige Bücherfabrikation und einen regen Austausch untereinander zu vermuten102 und diesen Texten neben ihrer inhaltlichen Relevanz auch einen repräsentativen Wert beizumessen. Zweitens waren, anders als bei den einzelnen in Mutter Erde zusammengetragenen magischen Sprüchen und Bräuchen mit den Zauberbüchern zugleich die in sie eingebetteten Texte mit ans Licht gekommen,103 die, unabhängig von ihrem literarischen Wert, vor allem deshalb für den Religionswissenschaftler von hohem Interesse sind, weil sie die unterschiedlichsten religiösen Vorstellungen in sich vereinigen und zudem daraufhinweisen, daß auch umgekehrt die hohe Literatur/ Religion von der magische Zeremonie (ähnlich wie zuweilen das ,Vater Unser' von Zaubersprüchen) vereinnahmt wird. Für DIETERICH erweist sich die Entdeckung der Zauberbücher daher in mehrfacher Hinsicht als bedeutungsvoll: 1) Überlieferungsgeschichtlich: Zahlreiche Kulthymnen oder Liturgien sind nur deshalb erhalten, weil sie in die Zauberritualbücher integriert wurden und darin überlebten. 2) Religionswissenschaftlich·, a) Die Zauberbücher als ganze sind Zeugnisse früher (magischer) Denkformen, b) Die in die Zauberritualbücher eingeflossenen, unabhängig von ihrer späteren Eingliederung in einen magischen Kontext 100

101

102 103

Die Inhalte der erst zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert n. Chr. schriftlich fixierten Zauberritualbücher galten und gelten infolge der Jahrhunderte langen starren und nur auf bestimmte Kreise beschränkten Weitergabe als ,unmittelbare Zeugnisse', vgl. dazu G. FOWDEN, The Egyptian Hermes. A Historical Approach to the late Pagan Mind, 7987. Vgl. auch oben S. 115. Als Beispiel für eine solche Rivalität verweist DIETERICH, Abraxas, 165, auf Buch I, 12 des Zauberbuchs (wiederabgedruckt in der von DIETERICH am Ende von Abraxas, auf den Seiten 167-205 gegebenen vollständigen Edition, 170. Jetzt: PGM XIII, col. I, 15f.): έκ δε ταύτης τη[ς] βίβλου Έρμης κλέψας τά έπιθύματα ζ' προσφερώνησεν έαυτοΰ ίεράι βίβλωι έπικαλουμένηι Πτέρυγι (,Aus diesem Buch stahl Hermes die [Liste mit den] sieben Räucherstoffen für sein Buch .Flügel'"). DIETERICH, Abraxas, 165f. Die zahlreichen Hymnen (u.a. an die Allgötter, an Helios, Typhon, Apoll, Daphne, Hermes), die in die Zauberritualbücher eingewoben waren, hat PREISENDANZ am Ende der PGM, Bd. 2, 237ff., zusammengestellt und gesondert abgedruckt. Einige waren bereits vor DlETERICHs Publikationstätigkeit bearbeitet worden, s. Α. MEINEKE, Drei orphische Hymnen, Hermes 4, 1870, 56-68; C. DILTHEY, Über die von E. Miller herausgegebenen griechischen Hymnen, RhM 27, 1872, 375-419.

Perlen in einem Schutthaufen"

123

entstandenen religiösen Texte dokumentieren unter anderem auch zahlreiche religiöse frühgriechische Vorstellungen. 3) Religionsgeschichtlich: Die Inkorporation nicht-magischer Gebetsformen zeigt den Einfluß ,hoher' religiöser Formen auf die spätantike Magie (etwa deren Rückbesinnung auf das synkretistisch-gnostische Weltbild). Wie DIETERICH dabei vorging, soll abschließend (und exemplarisch) an seiner 1891 publizierten Studie Abraxas gezeigt werden. In Abraxas behandelt DIETERICH eine Kosmogonie, die (formal) in die magischen Beschwörungen eines (heute in Leiden aufbewahrten 104 ) Zauberpapyrus (J 395) eingefügt worden war und (inhaltlich) eine Reihe von Elementen der unterschiedlichsten Religionen und Vorstellungskreise in sich aufgenommen hatte.105 Als Editor des Textes konnte DIETERICH auf einige Vorarbeiten zurückgreifen. Nachdem der Papyrus 1830 erstmals von dem Holländischen Philologen Caspar Jacob Christiaan REUVENS beschrieben worden war,106 hatte Karl Otfried MÜLLER durch eine Übersetzung dieser Notizen in Deutschland auf ihn aufmerksam gemacht;107 vierzig Jahre später legte Conrad LEEMANS eine Publikation der Edition vor, die REUVENS vorbereiten, aber nicht mehr hatte zuende führen können.108 Der gesamte Text, der in der Zählung von Karl PREISENDANZ unter der Nummer PGM XIII firmiert, umfaßt 1077 Verse und besteht aus drei verschiedenen Versionen einer in Briefform gekleideten109 magischen Unterweisung (A: Z. 1-343; Β: Z. 343-645; C: Z. 646-734) sowie einer Reihe einzelner Zaubersprüche (Z. 734-1077).110 Die uns heute vorliegende Form

105

106

107

'10

Der Papyrus, wahrscheinlich in einem Grab im ägyptischen Theben gefunden (vgl. dazu Fleckeisens Jahrbücher, Suppl. 16, 750), war von dem schwedischen Gesandten in Alexandria, Jean d'Anastasy, von Arabern gekauft und zusammen mit einer Reihe weiterer Papyri im Jahre 1830 der niederländischen Sammlung übergeben worden. Zur Sammlung Anastasy s. K. PREISENDANZ, Papyrusforschung und Papyrusfunde, Leipzig/ Berlin 1933, 91-93. G. FOWDEN, The Egyptian Hermes. A Historical Approach to the late Pagan Mind, 168-172. PGM XIII 64-209. Eine neuere (englische) Übersetzung von M. SMITH findet sich bei H. D. BETZ, The Greek Magical Papyri in Translation, Chicago/ London 1986, 172ff. C. J. C. REUVENS, Lettres à M. Letronne, sur les Papyrus bilingues et Grecs, et sur quelques autres Monuments Gréco-Egyptiens du Musée d'Antiquités de l'Université de Leide, Leiden 1830. Vgl. H. D. BETZ, The Greek Magical Papyri in Translation, 1, Anm. 19. C. LEEMANS, Papyri greci musei antiquarii publici Lugduni-Batavi. Regis augustissimi jussu edidit, interpretationem latinam, annotationem, indicem et tabulas addidit C. L., 2 Bde., Leiden 1843/1885. LEEMANS Ausgabe beruhte auf REUVENS Vorarbeiten, vgl. Κ. PREISENDANZ, Zur Überlieferungsgeschichte der spätantiken Magie, Aus der Welt des Buches. Zentralblatt für Bibliothekswesen, Beiheft 75, Leipzig 1951, 223240. 225, Anm. 13. Zur Briefform als einer für das Genre der sakralen und mystischen Unterweisung typischen Form siehe DIETERICH, Abraxas, 161 f. Vgl. dazu M. SMITH, The Eights Book of Moses and How It Grew (PLeid. J 395), Atti del XVII Congresso intemazionale di papirologia (Centro Internazionale per lo studio di papiri ercolanesi), Neapel 1984, 683-693.

124

Albrecht Dieterich

stammt vermutlich aus dem 3. oder 4. nachchristlichen Jahrhundert. Die drei Versionen des magischen Ritus sind jeweils überschrieben als Heiliges Buch, genannt Monas oder Das achte Buch Moses111 und jeweils eingeteilt in eine τελετή, in der die Vorschrift formuliert wird, wie Opfer und Beschwörung der Götter zu vollziehen seien, und in eine Anzahl von χρειαι, in denen Angaben darüber gemacht werden, für welche Zauberhandlungen die Weihe gebraucht werden könne; eingefügt zwischen jenen Teilen ist in der ersten und zweiten Fassung die heilige Kultlegende, die Kosmogonie.112 Inhaltlich ist sie der letzte Bestandteil der τελετή: nach dem Vollzug etlicher Reinigungsriten, Opfer und Gebete wird der Zauberer aufgefordert, zum Abschluß die große Beschwörung zu sprechen. Die editorische Herausforderung bei der Wiederherstellung der ursprünglichen Form bestand zum einen in der Kollationierung der höchst divergenten zwei Versionen der Kosmogonie: Der Verfasser - in DlETERlCHs Worten „einer der dümmsten Winkelpropheten"" 3 - hatte beim Abfassen der Kosmogonie, wenn die Erzählung auch letztlich wohl auf eine einzige (von der Einbindung in den magischen Kontext noch .unbefleckte') Form zurückging, mindestens zwei (im Wortlaut voneinander abweichende) Vorlagen benutzt. Die beiden Versionen unterscheiden sich nicht nur im Wortlaut, sondern auch durch etliche (den einen oder anderen Text betreffende) Kürzungen und in der Anordnung der einzelnen Bestandteile.114 Zum anderen blieb der Text der Kosmogonie von dem Umfeld, in dem er überlebt hatte, nicht unbeschadet und war durchdrungen von zahlreichen Zauberworten nicht-griechischen Ursprungs. Dennoch zeigt sich DIETERICH zuversichtlich: „Wir haben die Möglichkeit, den ursprünglichen Text, den die liederlichen, verständislosen Schreiber der Zauberbücher auf verschiedenste Art verdarben, verkürzten und veränderten, mit großer Sicherheit wiederherzustellen." 115 Der rekonstruierte ,Ur'-Text, wie ihn DIETERICH unter dem Titel Κοομοποιία vorlegt, umfaßt 134 Zeilen und beschreibt die Entstehung der Welt in der Form eines Hymnus an den allerhöchsten, alles erschaffenden Gott: „Ich preise Dich, in jeder Sprache und in jedem Dialekt," heißt es zu Beginn der Anrufung, „wie einst Helios Dich pries, dem Du alle Gewalt anvertraut hast und der ... in göttlichem Licht

'1

"2 113 114

"5

βίβλος ιερά έπικαλουμένη Μονάς ή όγδόη Μωϋσεως. Moses galt schon in der Antike, vgl. Plinius Ν. H. 30, 11, als einer der großen Magier. Ihm wurden daher zahlreiche magische Texte zugeschrieben, vgl. J. GAGER, Moses in Greco-Roman Paganism, Nashville 1972, 134-161; M. SMITH bei H. D. BETZ, The Greek Magical Papyri in Translation, 172. Einen Zusammenhang mit der Kabbala (namentlich einem ihrer theoretischen Teile: der im Sepher Jesira enthaltenen Geschichte der Schöpfung) vermutet DIETERICH, Abraxas, 161, Anm. 3. Den genauen Ablauf, eine Art Inhaltsangabe gibt DIETERICH, Abraxas, 157-163. Ebd., 16. Eine Übersicht gibt DIETERICH, ebd., 156f. Ebd., 3.

Perlen in einem Schutthaufen"

125

den Kosmos schuf." Das Kernstück des Textes ist die Erzählung seiner siebenfachen Emanation, die eigentliche Kosmogonie:116 Gott, heißt es da, lacht siebenmal und erschafft die sieben Götter." 7 Beim siebten Lachen entsteht Psyche, „und die Erde krümmte sich und gebar den Pythischen Drachen, der alles vorher wußte." Der erschrockene Gott schnalzt, und es erscheint gewappnet Phobos. Wieder erschrickt der Gott. Er spricht ,,Ίάω", und aus dem Schall entsteht der μέγκτοο 0eóc, der, der „geordnet hat, was in der Welt vordem war und was sein wird" (oc τά τε προόντα έν τώι κχκμωι καί τα μέλλονταΙ εοτηοε).118 Als sich Phobos und der μέγκτοο θεόο um die höchste Macht streiten, gibt Gott beiden hohe Gewalt und dem μέγκτοο θεόο Gewalt über alle Götter. Neben Elementen aus dem ägyptischen Mythos und aus der Stoa, aus der Astrologie und aus jüdisch-orphisch-gnostischen Kulten vereinigt die (von 119 DIETERICH „vorläufig" auf das 2 . Jh. n. Chr. datierte ) synkretistische 120 Weltentstehungslehre Elemente, mit denen frühe griechische Vorstellungen (wieder)aufgenommen und in das Gesamtgefüge inkorporiert werden. Im folgenden seien zwei Beispiele herausgegriffen, an denen DIETERICH demonstriert, wie eine frühe (den Grundformen des religiösen Denkens zuzuschreibende) Vorstellung, nachdem sie in der späteren Religion verändert oder vernachlässigt wurde, in der Kosmogonie ihre ursprüngliche Bedeutung wiedererlangt, mit späteren Elementen verschmilzt und in diesem Kontext zu neuem Leben erwacht. Das achte Kapitel von Abraxas ist der Geschichte des pythischen Drachens gewidmet, die im Anschluß an die Entstehung der sieben κοομοκράτορεο, der Herrscher über den Kosmos, erzählt wird. Ihr Wesensgehalt ist die Infragestellung und (anschließende) Festigung der Macht: Die Erde gebiert ein eigenes Wesen, den Πύθνοο δράκων, der alles „vorher weiß", sich bis zum Himmel hinaufbäumt und die Ordnung des Kosmos bedroht, dessen Bedrohung aber schließlich gebannt wird, als der vom Schöpfergott aus dem Schall gerufene μέγκτοο Geóc die alte Ordnung wieder herzustellen ver-

116

117

1.8 1.9 120

121

Vgl. dazu auch. K. RUDOLPH, Die Gnosis, 3. Aufl., Göttingen 1990, 76-98 (Kosmologie und Kosmogonie). Er lacht das erste Mal, und es entsteht das Licht und der Gott des Kosmos und des Feuers. Er lacht das zweite Mal, und es entsteht das Wasser und die Erde, und er teilt das Feuchte in drei Teile. Beim dritten Mal entsteht Nous, genannt Hermes, beim vierten Mal entsteht die Zeugung (Γέννα), beim fünften Mal Moira, und es kommt zu einer Auseinandersetzung mit Nous um die Gerechtigkeit, die Gott mit den Worten schlichtet: „Aus beiden wird die Gerechtigkeit erscheinen, aber alles in der Welt wird unter dir [sc.: Moira] stehen!". Auf das sechste Lachen hin erscheint Kronos. DIETERICH, Abraxas, 19 (PGM XIII, 541). Ebd., 83. Zu Gnosis und Synkretismus vgl. W. H. C. FREND, The Rise of Christianity, Philadelphia 1984, 195-218, 274-281. DIETERICH, Abraxas, 19 (PGM XIII, 193-206/ 530-541).

126

Albrecht Dieterich

Die Beobachtungen, die DIETERICH im Zusammenhang mit dieser Episode macht, gelten zum einen der narrativen Struktur der Geschichte, zum anderen den inhaltlichen Elementen, die in sie eingegangen sind. Die Struktur der Erzählung - ein (Licht)gott kämpft und beweist sich gegen die Schlange der Finsternis122 - weist DIETERICH als ein uraltes und in den unterschiedlichsten inhaltlichen Belegungen in der theogonischen Dichtung der Welt auftauchendes Motiv aus. Unter den als .Parallelen'123 verbuchten Mythen 124 nennt DIETERICH - im übrigen unter der an USENER geschulten Voraussetzung, daß es sich dabei tatsächlich um eine .Lichtgestalt' handelt,125 und in Vorwegnahme seiner Konzeption des .Chthonischen' in Mutter Erde126 - auch die Geschichte des Lichtgotts Apoll, der den pythischen Drachen („den weissagenden göttlichen Erdgeist")127 überwindet.128 Der Vorgang, den DIETERICH anhand der Python-Episode macht, ist der der Inkorporation. Er stellt fest, daß die Kosmogonie den Python fiir sich vereinnahmt, indem sie zwar an der äußeren Charakterisierung129 - der Beziehung zur Erde (ή γη ... έγέννηοεν 'ίδιον ζώιον δράκοντα Πύθιον) 130 und der prophetischen Kraft (τα πάντα προήιδει) 131 - festhält und zudem die

123

124

125 126

127 128

129

130 131

Ebd., 112: „Der Hauptgedanke schon der ersten theogonischen Dichtung ist es, daß der Lichtgott siegt über die Gewalten, die sich von unten gegen ihn auflehnen." Die genaue Differenzierung in polygenetisch auftretende und durch Diffusion weitergegebene Motivkerne ist eher das Metier des Usener-Schülers Ludwig RADERMACHER, s. dazu unten S. 148ff. DlETERICHs Materialsammlung dient vorläufig dem Nachweis einer narrativen Grundform, ohne daß er die einzelnen gestalterischen Ausprägungen präzise zueinander in Beziehung setzen wollte. Dazu zählt DIETERICH, Abraxas, 111-126, den Kampf des Horns gegen die Schlange (Ägypten) oder den Kampf der siebenköpfigen Schlange der Nacht gegen die Mächte des Lichts (Altbabylonien). Aus dem griechischen Raum erwähnt er neben einer Vielzahl von Mythen das Typhoeus-Lied (Hes. Theog. 820-868), die Erzählung vom Kampf des in der Wiege liegenden Herakles mit der Schlange u.a. In der christlichen Eschatologie findet sich die Erzählung im Kampf des Erzengel Michael gegen den Drachen. Vgl. bes. USENER, Götternamen, 202, sowie oben S. 18. Implizit arbeitet DIETERICH in Mutter Erde mit der seit Friedrich CREUZER, K. O. MÜLLER und J.'BACHOFEN vertretenen Dichtomie von ,chthonisch' und .olympisch' (wie sie auch in dem obigen Beispiel zum Ausdruck kommt), allerdings ohne ihr Verhältnis als eine unüberwindbare Antinomie zu beschreiben, wie das W. F. OTTO in den Göttern Griechenlands (s. dazu unten S. 202f.) tun wird und wie es DlETERICHs Modell der Religionsentwicklung auch völlig widersprechen würde. Vgl. dazu oben S. 115f. DIETERICH, Abraxas, 115. Python, dem Sohn der Erde, war geweissagt worden, daß ihn der Sohn der Leto töten werde. Als Leto von Zeus geschwängert wird, verfolgt er sie, um sie zu töten. Leto gelangt auf das Eiland Ortygia, wo sie unter dem Schutz Poseidons, Apoll gebärt. Am vierten Tag nach der Geburt nimmt Apoll Rache. Er tötet Python und übernimmt später das Orakel der Erdgöttin Ge, das dieser bewacht hatte (Hyg. Fab. 140). Vgl. dazu neben DIETERICH, Abraxas, 114, auch E. ROHDE, Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube bei den Griechen, Bd. 2, 57f. DIETERICH, Abraxas, 19 (= PGM XIII, col. 13/ 39f.). Ebd. (= PGM XIII, col. 13/ 40).

Perlen in einem Schutthaufen"

127

Struktur der Erzählung bewahrt, die Figur des Python aber inhaltlich neu besetzt und ihr (gegenüber späterer griechischer Vorstellung) eine exponierte Stellung einräumt. Der .chthonische' ,Aufbäumer' gegen den olympischen Apoll wird an der Seite des größten Gottes einer synkretistisch-gnostischen Weltentstehungslehre zur tragenden Figur des eschatologischen Kampfes. Der Vorgang ist insofern der einer Inkorporation, als er die äußeren Strukuren konstant läßt, die Figur selbst aber in ein neues Deutungssystem integriert. Ein anderes Beispiel für die Inkorporation einer frühen Ausdrucksform ist das Auftauchen der als Φόβοο bezeichneten Gestalt, die - nach DlETERICHs Textversion132 - nach dem Aufbäumen des Python und auf das Schnalzen des Schöpfergotts hin erscheint und den Schöpfergott so in Furcht versetzt, daß er den μέγκτοο 6eóc herbeiruft. Auch hier geht DIETERICH sowohl der Struktur der Geschichte wie auch der Figur selbst nach - mit dem Resultat, daß nicht etwa erst in der vorliegenden Kosmogonie beides miteinander verbunden, sondern Phobos schon in sehr frühen Zeugnissen als persönlicher, zuweilen sogar dem Zeus ebenbürtiger Gott vorgestellt worden sei.133 Später zu einem Gespenst oder Dämon herabgesunken, von dem sich griechische Vorstellung die Vertreibung von bösen Geistern erhoffte,134 sei Phobos als Gott im Volksglauben dennoch nie vergessen worden.135 Der Vorgang ist also ein ähnlicher wie bei der Figur der pythischen Schlange: Eine ursprünglich bedeutende, existentielle Vorstellung sinkt herab, um in der Kosmogonie in einer exponierten Funktion wiederaufzutauchen.

m

134 135

In der ersten Fassung der Kosmogonie wird Phobos an der zu erwartenden Stelle, PGM XIII, 187-206, nicht genannt; auf das Schnalzen des Schöpfergottes hin erscheint ein nicht namentlich bezeichneter „Gewappneter". In der zweiten Fassung taucht auf das „Schnalzen des Gottes hin" der „gewappnete Phobos" auf (vgl. PGM ΧΙΠ, 529), allerdings erscheint er vor dem Erscheinen des Python. Die beiden Fassungen zugrunde liegende Textfassung erschließt DIETERICH aus der Struktur der ersten Fassung in Kombination mit der Namensnennung in der zweiten Fassung (vgl. Abraxas, 19, Ζ. 92ί). DIETERICH, Abraxas, 92. Die herangezogenen Belege, Plutarch, Erotikos XVIII; Philodem, De Pietate, ed. Gomperz, 35, 21; Sextus Emp. IX 186, sind freilich nicht alle zwingend. Plutarch spricht davon, daß die gottlosen Philosophen die Göttlichkeit des Phobos nicht anerkennten, und dokumentiert die Bedeutung damit e negativo. Eine Inschrift aus dem 5. Jh. v. Chr. aus Selinunt (Röhl, IGA 515, p. 149) exponiert zwar den Phobos neben Zeus, indem sie diese beiden, wie DIETERICH argumentiert, an den Beginn einer Aufzählung setzt und nur ihnen einen Artikel zugesteht, aber die Liste der zum Sieg verhelfenden Götter vereint neben Zeus und Phobos eben auch ein so buntes Gemisch wie Herakles, Apollon, Poseidon, die Tyndariden, Athene, Malaphoros und Pasikrateia - also gewiß nicht nur große Götter. Die Gestalt des Phobos war schon von H. USENER, Götternamen, 364-375, in einem etwas ratlos anmutenden Kapitel über Abstráete gottesbegriffe, in dem er mehr als drei Seiten allein dem Phobos widmet, behandelt worden, allerdings mit der gebotenen Vorsicht, vgl. ebd., 368f.: „Wir müssen uns also in die thatsache finden, dass die erregbare religiöse empfmdung des alterthums auch abstracte begriffe ohne weiteres zu göttlichem rang zu erheben vermochte." DIETERICH, Abraxas, 89-91. Ebd., 91 : „Das Volk hat auch den Gott nie vergessen."

128

Albrecht Dieterich

In Abraxas bricht DIETERICH mit den ,Systemzwängen', denen sich in seinen Götternamen ausgesetzt hatte. Das Bild einer linearen, .fortschrittsoptimistischen' religiösen Entwicklung konnte DIETERICH durch zwei Beobachtungen korrigieren: 1) durch die Beobachtung, daß sich das Alte (vor allem in Krisenzeiten)136 erneut seine Bahnen bricht und das Spätere durchdringt137 - das konnte DIETERICH anhand der Kosmogonie feststellen; und 2) durch die Beobachtung, daß entgegen der evolutionistischen These eines Übergangs von Magie zu Religion (und entgegen der weithin vertretenen These einer empirischen Differenz von Religion und Magie)138 auch spätere religiöse Formen in die magische Praxis Eingang finden konnten - das hatte die Inkorporation der synkretistischen Kosmogonie in das Zauberritualbuch gezeigt. Allerdings ist DlETERICHs Textlektüre eine kulturelle, keine literarische. DIETERICH betrachtet den Text nicht als eine in sich geschlossene Einheit; er betreibt keine Quellenforschung; er schreibt keinen Kommentar, der das Verständnis des Textes als Textes fördern soll. Seine Lektüre ist vielmehr eine auf die vertikalen Ebenen gerichtete Lektüre, die den Text selbst als eine Quelle liest und einzelne Details in einen religionsgeschichtlichen Zusammenhang bringt. DIETERICH unterscheidet demnach auch nicht oder nur sehr unpräzise zwischen bewußt gestalteter literarischer Produktion (Text als Erinnerung) und nicht-intentional .gewordenen' Zeugnissen (Text als Archiv) und verwischt dadurch Fiktionales mit Nicht-Fiktionalem. Literarische Motive oder dramaturgisch inszenierte Darstellungen werden in eins gesetzt mit in den Text eingegangenen Spiegelungen tatsächlicher religiöser Glaubensvorstellungen. Insofern nimmt DIETERICH WARBURGs .Bildgedächtnis' einiges vorweg - freilich mit dem Unterschied, daß WARBURGs Mnemosynebegriff explizit von unbewußten Rekursen auf die antike Formenwelt ausgeht und damit sozusagen aus einer inneren Konsequenz heraus die Fiktionalität von Bildtexten ausblendet. Im eigentlichen Sinne die Fiktionalität von Texten berücksichtigt hat unter Hermann USENERs ,Schülern' erst Ludwig RADERMACHER, dem es gelingen sollte, die religionswissenschaftliche Frage nach den Ursprüngen des Denkens und seines Weiterlebens mit einem literaturwissenschaftlichen Ansatz zu verbinden. Ihm soll das nun folgende Kapitel gelten. USENER

137

138

Vgl. dazu die Einleitungsseiten zu Abraxas, If., wo DIETERICH politische Instabilität etc. für das Bedürfnis nach eschatologischen Gedanken und infolge dessen auch für das erneute Hereinbrechen von Magie, Geheimkulten u.ä. verantwortlich macht. Vgl. ebd., 93: ,,[W]as die Volksseele einmal sich geschaffen und geglaubt, das bricht immer wieder so oder so hervor, mag es auch lange schlummern, und vergeht nur mit ihr selber. Bis das Volk stirbt, sind seine Götter sterblich." Vgl. zu dieser Diskussion K. BETH, Religion und Magie bei den Naturvölkern, Leipzig/Berlin 1914, 16-31; G. WIDENGREN, Religionsphänomenologie, Berlin 1969, 1-19: H. S. VERSNEL, Some Reflections on the Relationship Magic-Religion, Numen 38, 1991, 177-197.

Kontinuität und Erzählung Zu Ludwig Radermacher als Erzählforscher

Ursprünge von Mythos, Stoff, Motiv Am 15. Oktober 1930 legt Ludwig RADERMACHER (1867-1952) der Akademie der Wissenschaften Wien einen Kommentar zum homerischen Hermeshymnus vor.1 Das Programm dieser Arbeit entnehmen wir den ersten Seiten, in denen der Autor eine gegenüber früheren Kommentaren zu diesem Text modifizierte Fragestellung dokumentiert und deren Notwendigkeit begründet. Ihm liegt, wie daraus hervorgeht, an einer „Herausschälung" weniger von „ältere[r], im vorliegenden Text untergegangene[r] Dichtung" als von Stoffen, „die als Bausteine der Dichtung ... verwendet wurden."2 Zum anderen, so lesen wir weiter, sind die Erläuterungen demnach nicht mehr formal oder textkritisch orientiert; vielmehr zieht die Erklärung und Untersuchung des Hymnus „in ziemlich reichem Ausmaß ... volkskundliches Material heran. Dies entspricht meiner Überzeugung, daß die Volkskunde, auch die vergleichende, wertvolle Beihilfe vor allem zum Verständnis der klassischen griechischen Epik, der Lyrik und der alten Komödie, aber auch der Tragödie und der älteren Prosa liefern kann."3 RADERMACHER stellt die Volkskunde in einen Funktionszusammenhang: Eine Volkskunde, die sich als Beitrag zur,hohen' Literatur versteht, begründet sich durch den Wert der Literatur, die sie begreiflich macht. Und wenn dieser Äußerung im folgenden eine Kritik gegenübersteht, die an der durch die traditionelle Philologie vorgenommenen Segmentierung antiker Wirklichkeit in einzelne Personen und Individuen Anstoß nimmt, bedeutet dies noch nicht die Aufgabe einer funktionsgebundenen Volkskunde: Zwar hat nicht nur die ,Leistung einzelner großer Männer', sondern auch die Fo/fopoesie - und hier rekurriert RADERMACHER explizit nicht nur auf Johann Gottfried HERDER und Jakob GRIMM, 4 sondern überhaupt auf die jüngeren Schwesterwissenschaften' -

3 4

Die Arbeit wurde 1931 publiziert: RADERMACHER, Der homerische Hermeshymnus, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Berlin, Bd. 213, 1. Abhdlg., Wien/Leipzig 1931. RADERMACHER, Der homerische Hermeshymnus, 5. Ebd., 6. Vgl. dazu auch die Ausführungen in RADERMACHER, Die Vergleicher, in: DERS.: Mythos und Sage bei den Griechen (Brünn/ München/ Wien 1938), Darmstadt 1968,

130

Ludwig Radermacher

einen Eigenwert. Doch gilt ihr dieser Eigenwert nicht primär als einer (historischen) Tatsache, die es lediglich aufgrund ihrer bloßen Existenz verdiene, von der Wissenschaft wahrgenommen zu werden: Er begründet sich eben nicht vom Standpunkt eines historiographischen Programms etwa einer Geschichtsschreibung als Geschichtswissenschaft, die einen Verzicht auf beispielsweise organizistische Strategien5 anstrebt oder zugunsten einer objektiven, .wahren' Geschichtsschreibung ästhetisch bedingten Absichten bewußt eine Absage erteilt; ihren sogenannten Eigenwert bezieht die Volkspoesie vielmehr gerade a) unter dem Blickwinkel einer ästhetischen Norm, nämlich aufgrund ihrer .Schönheit', und b) durch ihre Eingliederung in die Gesamtheit .schöpferischer Leistung' unter dem ordnenden Prinzip der Kontinuität, d.h. ihres beständigen Fortlebens in anderen Literaturformen: ,/wischen den Gedanken Herders, der den Sinn für die Schönheit der vermeinten Volkspoesie erweckte, und dem Wirken der Gebrüder Grimm besteht ein ursächlicher Zusammenhang. Für die Begründer der Germanistik war es eine leichtere Aufgabe, das Wirken des Einzelnen wie das Leben der Masse mit gleicher Aufmerksamkeit zu umfassen, weil ihre Arbeit dem Volke gewidmet war, aus dem sie hervorgegangen sind, das sie kannten, weil sie seine Kinder waren. In Ansehung der antiken Griechen, die uns so fem sind, ist der Zusammenhang zwischen den Leistungen der Großen und ihrem Volkstum schwerer zu ergründen, obwohl er zweifellos bestanden hat. Was wäre ein Dichter, dessen Wesen nicht der gesteigerte Ausdruck der Volksseele ist. Und was wäre ein Denker, dessen Gedanken nicht im Boden der Umwelt wurzeln, mögen sie auch noch so weit ausgreifen. Niemand kann aus seinem Sein die Stelle austilgen, an dem seine Wiege stand."6

Sofern RADERMACHERs Erkenntnisziel von einer Suche nach .Ursprünglichem' getragen ist, bezieht sich dieses Interesse nicht auf vorstufige im Sinne überholter Denkformen, sondern auf den Beginn einer sich perpetuierenden Wiederkehr beständiger Motive und Stoffe. Die theoretische Voraussetzung eines Kontinuums, das in der Volkspoesie, in Mythos, (Zauber-)märchen und Sage, seinen Anfang hat und bis in die hohe Literatur und in altchristliche Texte dringt, erlaubt das Mittel der Kompositionsanalyse, d.h. die Zerlegung literarischer Ausgestaltungen in einzelne der Volkspoesie entnommene Bestandteile. Diese .Dekomposition' historisch greifbarer Texte bedient sich zweitens nichtabendländischer Stoffe, und zwar auf der Basis der Annahme, daß bestimmte Stofferwe lokal und zeitlich auch unabhängig voneinander auftreten (Polygenese) und erst in einem zweiten Schritt durch entsprechende Additionen und Modifikationen historischen oder sozialen Umständen angepaßt

5

27-46. 27: „Herder [übte] stärksten Einfluß durch sein Eintreten für die Volksdichtung aus. Der Anstoß jedoch, der zu einem Erwachen wahrer Sammelleidenschaft führte, kam nicht vom Lied her. Eine der ersten Gaben des 19. Jahrhunderts waren die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm." „Der Organizist sucht die im historischen Feld wahrgenommenen Einzeldinge als Momente eines synthetischen Geschehens zu schildern", H. WHITE, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M. 1994, 2931. 30.

6

RADERMACHER, Der homerische Hermeshymnus, 7.

Ursprünge von Mythos, Stoff, Motiv

131

werden. Erst durch den Vergleich abendländischer und nichtabendländischer bzw. antiker und moderner Stoffe gelingt es also, im eigentlichen Sinne ,ursprüngliche' Stoffe ,herauszupräparieren'. Zur Zeit der Abfassung des Kommentars und seines Programms ist R A D E R M A C H E R (nach Stationen an den Universitäten Greifswald und Münster) Professor für Klassische Philologie in Wien und kann bereits auf ein 45 Jahre währendes Gelehrtenleben zurückblicken.7 Sein Projekt ist zu diesem Zeitpunkt gereift, das in seinem Kommentar zum homerischen Hermeshymnus formulierte Programm und seine Durchführung statuieren daher ein repräsentatives Exemplum für ein theoretisches und methodisches Modell, wie es spätestens seit 1898 in zahlreichen Einzelpublikationen entwickelt, erprobt und durchgespielt worden ist.8 Dabei ist R A D E R M A C H E R S Projekt nicht nur auf der Basis seiner eigenen Schriften zu verstehen. Gefordert ist auch eine Lesart, die seine akademische Herkunft einbezieht und vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit methodischer und theoretischer Umbrüche, aber auch die der modifizierten Fragestellung begreiflich macht. R A D E R M A C H E R studierte neben Albrecht D I E T E R I C H , mit dem ihn offensichtlich eine mindestens akademische Freundschaft verband, in Bonn, wo er 1891 mit der Arbeit Observationes in Euripidem miscellae bei Hermann U S E N E R promovierte.9 Neben einer Dokumentation des eigentlichen Konzepts verlangt ein Verständnis von R A D E R M A C H E R S Werk daher vor allem die Skizzierung der Traditionen und Auseinandersetzungen, in deren Spannungsfeld seine Arbeiten zu beurteilen sind. Der Versuch, sogenannte ,nicht-literarische' Texte wissenschaftlich fruchtbar zu machen, ist innerhalb der , Religionswissenschaftlichen

7

8

9

Nach seiner Habilitation 1897 folgt RADERMACHER 1903 einem Ruf nach Greifswald, 1906 nach Münster und schließlich 1909 (als Nachfolger von Theodor GOMPERTZ) nach Wien. (Während dieser Zeit wird er, 1915, ordentliches Mitglied der österreichischen Akademie der Wissenschaften. Zusammen mit Albert Einstein wird ihm von der Universität Glasgow das juristische Ehrendoktorat verliehen.) In Wien wird er 1937, sechzigjährig, „unter merkwürdigen Verhältnissen" emeritiert, s. K.-G. WESSELING, Ludwig Radermacher, Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 7, 1994, Sp. 1226-1228. Zur Biographie vgl. A. LESKY, Ludwig Radermacher. Nachruf (Almanach der Österreichischen Akademie der Wiss. 102, Wien 1953, 290-323) in: DERS., Gesammelte Schriften. Aufsätze und Reden zu antiker und deutscher Dichtung und Kultur, hrsg. von W. Kraus, München/ Bern 1966, 672-688. Nach seiner Dissertation 1891 (s. Anm. 9) widmete sich RADERMACHER zunächst vor allem sprachlichen und metrischen Einzeluntersuchungen. 1898 setzte sich sein Interesse an der Volkskunde erstmals durch, vgl. Euripides und die Mantik, RhM 53, 1898, 497510, bevor es seit 1903 mit der Arbeit Das Jenseits im Mythos der Hellenen. Untersuchungen zum antiken Jenseitsglauben, Bonn 1903, zu einem der bestimmenden Themen seiner Forschungen avanciert. Der ζ. T. in die Heidelberger Seminarbibliothek eingegangene Nachlaß A. DlETERICHs verzeichnet mehrere mit entsprechenden Widmungen versehene Sonderdrucke: RADERMACHER, Observationes in Euripidem Miscellae, Diss. Bonn 1903; DERS., Jahrb. f. class. Philologie 41, 1895, Bd. 151, 235-256, Sonderdruck mit der Widmung ,,τά νυν δ' ούκέτι πόρρω διθυράμβων".

132

Ludwig Radeimacher

Schule' in unterschiedlicher Weise durchgeführt und begründet, zuletzt vor allem von Walter F. OTTO heftig kritisiert worden.10 Dabei konzentrieren sich die Arbeitsfelder in Entsprechung zu den jeweiligen Erkenntniszielen, Theorien und Methoden der Autoren zum einen (wie schon in USENERs Konzeption) auf das Zeugnis der Sprache bzw. den (noch nicht literarisierten) Mythos, zum anderen auf das Zeugnis der rituellen Handlung, insbesondere der magischen und religiösen Praktiken. Letzteres gilt besonders für die Forschungsarbeiten Albrecht DlETERICHs und seiner Schüler. Die Auswahl der Arbeitsfelder erfolgt dabei, sofern das Interesse den Grundlagen der verschiedenen Ausdrucksformen gilt, diese also nur mittelbare Verwendung finden sollen, vor allem nach dem Kriterium, inwieweit das jeweilige Ausdrucksmedium von Überformungen u.ä. hat frei bleiben können.

Radermacher im Kontext der,Religionswissenschaftlichen Schule ' Die Interessen von U S E N E R und DIETERICH - und darin sollte ihnen folgen - galten weniger dem Volksglauben als solchem als den Spuren des Ursprünglichen, wie sie im Volksglauben nachweisbar seien. USENER schaltete seine Rekonstruktion der religiösen Begriffsbildung über eine Analyse der Wortbildungsprozesse und die Untersuchung von Namen (lokaler) Götter und Heroen, da er vermutete, daß sie ursprüngliche Vorstellungen bewahrt hätten. DIETERICH betrachtete dagegen vor allem die Prozesse des rituellen Handelns als Zeichen und Ausdrucksmittel dieser Vorstellungswelten, ein Ansatz, der durch USENERs 1904 publizierte Studie zur Heiligen Handlung vorbereitet worden war. In der Heiligen Handlung war USENER davon ausgegangen, daß bestimmten Handlungen zwar in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Deutungen beigemessen wurden, ihr formales Äußeres jedoch weitgehend unverändert blieb und so als Reflex ursprünglichen Denkens gewertet werden konnte. USENERs Arbeiten, so sehr sie auch im einzelnen kritisiert worden sein mögen, lieferten doch einen entscheidenden Beitrag dazu, die wissenschaftsrelevante Bedeutung des scheinbar Marginalen zu würdigen und regten seine Schüler auf fruchtbare Weise dazu an, die Begriffe von Mythos und Ritus, Magie und Religion systematisch aufzuschlüsseln und zueinander in Beziehung zu setzen. Letztlich hat USENER, wie die Arbeiten DlETERICHs zeigen können, auch der Erforschung der antiken Magie den Weg geebnet. Magische Praxis galt DIETERICH als eine Ausdrucksform ursprünglichen Denkens, die neben höher entwickelten „Denkformen" vor allem in den unteren Schichten des Volkes unverändert fortexistierte und deshalb ein zentraler Ausgangspunkt für seine Rekonstruktion der Grundformen RADERMACHER

10

Vgl. unten S. 185-225, bes. 220-255.

Radermacher im Kontext der,Religionswissenschaftlichen Schule'

133

des religiösen Denkens war. Die Beschäftigung mit historisch faßbarer magischer Praxis ließ sich vor diesem Hintergrund mit einem Interesse an frühen Denkformen rechtfertigen. DlETERICHs Schüler griffen in der Folge dieses Modell auf und konkretisierten ihre Interessen durch die Edition von Zaubertexten11 und zahlreiche Einzeluntersuchungen in den von ihnen zum Teil herausgegebenen Publikationsorganen, dem ,Archiv für Religionswissenschaft' 12 und den ,Religionsgeschichtlichen Versuchen und Vorarbeiten'.13 Was USENERs Schüler trotz der in verschiedene Richtungen hin modifizierten Fortschreibung seines Modells verband, war der Sinn für die Bedeutung des Details, die Würdigung des neben der ,homerischen Götterwelt' bestehenden Volksglaubens, die Abwendung von einer ästhetischen Textbetrachtung und der unbedingte Wille, das scheinbar Unbedeutende, Niedrige für ein Verständnis der Religion und ihrer Ursprünge fruchtbar zu machen. Ein Großteil von ihnen hält zudem an den rationalistischen und evolutionistischen Voraussetzungen seines Ansatzes fest. Eine erste entscheidende Modifikation verzeichnet der Forschungsansatz des zur Generation von DIETERICH und RADERMACHER gehörenden Aby WARBURG, der die von USENER und DIETERICH implizierte Überwindung des Magisch-Ursprünglichen durch die Beobachtung eines konstant bis in die Gegenwart präsenten polaren Spannungsverhältnisses von Magie und Logik anhand seiner kunstwissenschaftlichen Studien korrigiert. Grundlegende Kritik erfährt USENERs Modell dann durch seinen Schüler Walter Friedrich OTTO. OTTO nimmt deutlich Anstoß an der Universalisierung eines rationalistischen, dem modernen, „technischen" Denken entstammenden Wirklichkeitsbegriffs.14 Er distanziert sich von den theoin diese Richtung hat vor allem der früh verstorbene Richard WÜNSCH (1869-1915) weitergewirkt, vgl. DERS., IG II/ III, Corpus Inscriptionum Atticorum: Appendix continens defixionum tabellas in Attica regione repertas, Berlin 1877. Das ARW wurde 1898 von Thomas ACHELIS gegründet, zur Geschichte der Zeitschrift vgl. C. M. SCHRÖDER, Thomas Achelis. Ein Bremer Religionswissenschaftler, Jahrbuch der Wittheit zu Bremen 2, 1958, 187-203, und wurde ab 1904 zum „konkurrenzlosen Publikationsorgan der Usener Schule" (R. SCHLESIER, „Arbeiter in Useners Weinberg". Anthropologie und antike Religionsgeschichte in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, in: DIES., Kulte, Mythen und Gelehrte, Frankfurt a.M. 1994, 205f.). S. ferner M. DÜRKOP, ,Jir wird sehen, dass das Archiv wirklich ein Geschäft ist, wenn es richtig behandelt wird". Wissenschaftlicher und wissenschaftlicher Existenzkampf des ARW 1919-1939, Archiv für Religionsgeschichte 1, 1999, 107-126. Die 1903 von Albrecht DIETERICH und Richard WÜNSCH gegründeten R G W gaben heraus: WÜNSCH und Ludwig DEUBNER bis 1915, Otto WEINREICH und Ludolf MALTEN bis 1939, Friedrich PFISTER ab 1936, vgl. R. SCHLESIER, „Arbeiter in Useners Weinberg", 335. Walter F. OTTOs Ausführungen zur antiken Magie erscheinen auf den ersten Blick als fürsprachlich. In Wirklichkeit hat OTTO ein sehr kritisches Verhältnis zur Magie und schließt sie keineswegs in seinen missionarischen Eifer mit ein. Doch mit der Betonung von Magie als einer mit wissenschaftlichen Kriterien nicht zu bemessenden Geisteshaltung und Denkweise ruft er sie gleichsam in den Zeugenstand gegen eine Universalität modemer (christlicher oder dem technischen Zeitalter entnommener) Kategorien (etwa der Zweckrationalität). Hinter OTTOs Darstellung von Magie steht die exemplarisch

134

Ludwig Radermacher

retischen Grundlagen des Evolutionismus und findet, nicht zuletzt inspiriert durch den Philhellenismus der Goethezeit und unter dem Eindruck von Friedrich NIETZSCHE (und später Martin HEIDEGGER), ZU einem Verständnis von Mythos, Religion und Magie, das sich deutlich von dem Projekt seines Lehrers abgrenzt. Seine hermeneutisch bedeutsame Absage an die Applikation moderner Referenzsysteme führt zu der Forderung, daß das frühe (auch magische) Denken nicht als eine im Verhältnis zur modernen Wissenschaft vorstufige und falschsichtige Denkform klassifiziert werden dürfe. Zugleich entbindet ihn die Forderung nach einer systemimmanenten Beurteilung davon, mithilfe eines vergleichenden Verfahrens substantielle Aussagen über frühe Glaubensformen zu treffen: Da Zeugnisse für die - anderen USENER-Schülern als Rechtfertigung für ihre Arbeit dienende - vorgeschichtliche' Periode nicht in der notwendigen Fülle vorhanden sind, bricht mit OTTO das ungebändigte Edieren und Publizieren von Zauber- und anderen magischen Texten zugunsten einer völlig neuen Perspektivierung von Mythos, Magie und Religion ab. Mit Ludwig RADERMACHER, der bis 1891 bei USENER studierte, gewinnen wir einen ersten Einblick in die theoretischen und methodischen Veränderungen innerhalb der ,Usener-Schule', wie sie in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts - unterschiedlich motiviert und orientiert - auftraten. Anders als bei dem Gros der Schüler DlETERICHs, deren Leistung im wesentlichen weniger in einer theoretischen Überarbeitung als in einer konkreten Weiterführung des Projekts ihres Lehrers bestand, liegen mit RADERMACHERs Konzept nicht nur gravierende Veränderungen in Theorie und Methode, sondern, damit einhergehend, auch signifikante Modifikationen in Arbeitsfeld und Erkenntnisziel vor. Zudem präsentiert sich RADERMACHER bedingt auch als Theoretiker. Die entsprechenden Überlegungen sind nicht nur als Implikationen in sein Werk eingegangen und müssen daher nicht ausschließlich aus konkreten Arbeitsprozessen herausgelesen werden. RADERMACHER stellt vielmehr einem Großteil der Schriften die Begründung seiner Arbeitsweise, zuweilen auch der Fragestellung, voran. So widmet er fast die gesamte erste Hälfte seiner 1943 publizierten Arbeit zu Mythos und Sage bei den Griechen theoretischen und

dokumentierte Haltung gegen die von seiten des Evolutionismus verkannte Problematik des Verstehens fremden Denkens, eine Haltung, die auch in der neueren Magieforschung vertreten wird, vgl. S. J. TAMBIAH, Form und Bedeutung magischer Akte. Ein Standpunkt (1970), in: Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, hrsg. von H. G. Kippenberg/ B. Luchesi, Frankfurt a.M. 1995, 259: „Magische Akte sind rituelle Akte, und rituelle Akte wiederum sind performative Akte, deren positive und schöpferische Bedeutung nicht verstanden werden kann und deren Gültigkeit falsch beurteilt wird, wenn sie einer Methode der Verifikation, die der wissenschaftlichen Tätigkeit zugehört, unterworfen werden. Weder Magie noch Rituale sind angewandte Wissenschaft im engeren Sinn."

Gattungsfragen

135

methodischen Vorfragen,15 um sein Ergebnis erst dann anhand zweier Versuche, nämlich der Figuren Iason und Theseus zu präsentieren.16 Dabei wird schnell klar, daß bei RADERMACHER nicht mehr das auf die Natur des Menschen gerichtete Interesse vorherrscht, von dem USENERs Ü berlegungen zu psychologischen Gesetzmäßigkeiten getragen waren und das auch später die dazu kontroversen Äußerungen OTTOS bestimmen sollte. Was RADERMACHER interessiert, ist weder die Frage nach Ursprung und Grundform des mythischen Denkens (bzw. der religiösen Vorstellungen) noch die Herausarbeitung von oder Werbung für eine systemimmanente Betrachtung antiker Lebens- und Glaubenswelt, sondern das Aufzeigen einer Kontinuität von Erzählmotiven. Die Annäherung an den Mythos vollzieht sich nicht auf sprachanalytischer Grundlage, sondern in Orientierung auf narrative Strukturen und Handlungsmotive. Der Begriff der ,Entstehung' bezieht sich damit primär auf einen historisch greifbaren Raum. Im Blickfeld steht nicht die Generation von Motiven als Ausdruck bestimmter Vorstellungen, sondern die erneute Kontextualisierung bestehender Motive in neue Räume, d.h. die , Moti vwara/erM«g'17 in entstehungsfremde Gattungen oder in das Umfeld anderer, insbesondere religiöser Gedankenwelten. In einem solchen Zusammenhang wird nicht nur die Gattungsfrage zu einer zentralen Diskussion in RADERMACHERs Werk und ist eine klare Abgrenzung von Mythos, Sage, Märchen und Legende gefordert. Es ist auch von bestimmender Wichtigkeit, zu klären, wie sich RADERMACHER angesichts der von ihm implizierten Kontinuitätsidee zur Dependenztheorie und zur Vergleichenden Methode stellt und wie er zweitens die von ihm selbst in die Waagschale geworfenen Möglichkeiten, das Auftauchen von Motiven zu erklären - Motiv als „originale Schöpfung", als „zugewandertes Gut", als „Erbgut aus Zeiten gemeinsamen Lebens"18 - , letztlich ausbalanciert.

Gattungsfragen „Phantastisch mutet uns heute, um ein Beispiel zu geben, der Versuch Otto Seeks an, die griechische Urreligion darzustellen, wie es im zweiten Bande seines Werkes vom Untergang der antiken Welt geschehen ist. Der Fehler liegt darin, daß zwischen Mythos, Sage, Märchen ein Unterschied überhaupt nicht gemacht wird. Alles ist da ,Mythos' oder ist es 15

16

17

Der darin enthaltene forschungsgeschichtliche Überblick wird noch bei F. GRAF, Einfährung in die Mythologie, München 1991, empfohlen. Weitere explizite Äußerungen zu theoretischem Fundament, Erkenntnisziel und Methode von R A D E R M A C H E R S Arbeiten enthält seine Studie Das Jenseits im Mythos der Hellenen. Untersuchungen über antiken Jenseitsglauben ( 1 9 0 3 ) . Vgl. R A D E R M A C H E R , Herkunft und Alter, in: Mythos und Sage bei den Griechen, 11836.

18

118.

RADERMACHER,

Herkunft und Alter,

119.

136

Ludwig Radermacher

dies wenigstens einmal gewesen. Freilich darf niemand von uns grundsätzlich Neues erwarten, doch wenn wir Begriffsbestimmungen zugrundelegen, die sich schon seit längerem aus gründlicher Überlegung ergeben haben, so bleibt doch möglich, dem Problem die eine oder andere neue Seite abzugewinnen. Wir beschränken nun zunächst den Kreis, in dem die Begriffe Mythos, Sage, Märchen gelten sollen, auf Dinge, die irgendwie und irgendwann erzählt worden sind."19

Die Kritik, die RADERMACHER hier an Otto SEEK festmacht, hätte er bedingt auch an USENER üben können. Denn USENER hatte nicht nur eine Narrativität des vorbegrifflichen Mythos ausgeschlossen, sondern auch die Erzähl/ör/we« des narrativen Mythos nicht differenziert. Was USENER im Zusammenhang mit der Entstehung des Mythos interessierte, war das Motiv im Sinne eines mehrdeutigen mythisches Bildes 20 , das aus dem Begriff, diesen veranschaulichend, entstehe und wiederum „die wunderbare triebkraft ... in der ausgestaltung zu my then" 21 sei. Dargelegt hatte USENER seine Theorie des Motivs in den 1899 publizierten Sintfluthsagen, einer Art Nachtrag zu den Götternamen. Wenn RADERMACHER sich nunmehr die Notwendigkeit von Erzählforschung auf seine Fahnen schreibt, ist darin weniger ein Vorwurf an die Implikationen von USENERs Mythosverständnis zu lesen als der Versuch, ein Versäumnis nachzuholen. Ein offen kritisches Wort gegen seinen Lehrer ist jedenfalls kaum zu finden. RADERMACHER versucht, eine Lücke zu füllen, indem er die Bedeutung des Narrativen in den Vordergrund seiner Forschungen rückt. Gleichwohl bleibt zu konstatieren, daß sein Mythosbegriff wesentlich verschieden ist von demjenigen USENERs, insofern nämlich, als RADERMACHER sehr wohl von einer genuinen Bindung des Mythos an das Narrative ausgeht. Zwei Fragen müssen an R A D E R M A C H E R S Texte gestellt werden. 1 ) Was versteht er unter dem Mythos als solchem? und 2) wie versteht er dessen Entstehung? Die Ausführungen zum griechischen Jenseitsglauben lassen vermuten, daß R A D E R M A C H E R in einer geographisch-historisch bedingten Entstehung von Vorstellungswelten 22 kein generell problematisches Erklärungsmuster sieht. Im Gegenteil scheint er nicht abgeneigt, Vorstellungen wie 1

20

21 22

RADERMACHER, Mythos, Sage, Märchen, in: Mythos und Sage bei den Griechen, 6788. 69. USENER, Die Sintfluthsagen, 182: „[Das mythische Motiv ist] das einfache bild, unter welchem das mythenbildende volk eine eindrucksvolle Wahrnehmung oder lebenserfahrung auffasste und festhielt. So ist der Wechsel von tag und nacht unter dem bilde des kampfes und der veijagung oder tödtung angeschaut worden ... Das mythische motiv theilt mit allen bildern die beiden eigenschaften der Vielfältigkeit und der mehrdeutigkeit." Ebd., 194. Trotz der starken Differenzierung von Glaube/ Vorstellungen und Mythos, wie er sie in den Einleitungsseiten zu Das Jenseits im Mythos der Hellenen, 13, trifft und seines Zugeständnisses, daß vom Mythos nicht auf den Glauben geschlossen werden kann, spricht RADERMACHER immer wieder von .Vorstellungen', die sich hinter bestimmten Textpassagen verbärgen, impliziert also die Möglichkeit, mittels einer Kompositionsund Motivanalyse einzelne Vorstellungen aus einem literarischen Mythos im Sinne einer .Composition' bzw. eines .gegliederten Kunstwerks' herauslösen zu können.

Gattungsfragen

137

beispielsweise die Unterweltsvorstellungen auf den seine Umwelt beobachtenden Naturmenschen und dessen Phantasie zurückzuführen.23 Mythos bedeutet nicht nur die Generierung neuer Wirklichkeiten, er ist auch Reflexion. Die Umwelt und die möglichen Variationen einer Auseinandersetzung mit ihr sind mannigfaltig - und nicht nur das: Das Überschauen der Quellenlage führt RADERMACHER ZU dem Schluß, daß der Umgang mit dem Mythos offenbar sehr unbefangen (und undogmatisch)24 war, daß man „verschiedene Vorstellungen verband und vermischte".25 Zugleich geht RADERMACHER aber von einem festen MythenÄern aus, wie er topographisch und soziokulturell bedingten Modifikationen oder Additionen zugrunde liegt und unabhängig von jeglichen äußeren Umständen polygenetisch auftritt. Ein genaueres Bild seines Mythosbegriffs zeichnet RADERMACHER in der oben bereits angesprochenen Abhandlung zu Mythos, Sage, Märchen (1943), in der er neben einer Differenzierung dieser Gattungsformen auch den Versuch unternimmt, die Entstehung des Mythos zu begründen. „[Wir geben dem Mythos eine] besondere, durch das Symbolhafte bestimmte Funktion. Danach erteilt Mythos Antwort auf ein Was? Wieso? Warum? angesichts der Rätsel unseres Daseins und des Weltgeschehens, Antwort freilich, nicht vom strenge prüfenden Verstand,26 sondern von der Phantasie geboten, die versucht, Dunkles, Erregendes, Drohendes oder Erheiterndes in menschlich naheliegende Schau umzusetzen. Daraus folgt, daß auch der Mythos nicht freischwebend ist, wie das Märchen,27 sondern gebunden durch den Gegenstand, von

24

25 26

27

RADERMACHER, Das Jenseits im Mythos der Hellenen, 85f. Ebd., 32: ,,[D]as Volk nahm an solcher Verwirrung keinen Anstoss, weil seine Phantasie gleichfalls an dogmatische Schranken nicht gebunden war." Ebd., 31. Hierin liegt die Differenz zum Logos, vgl. RADERMACHER, Mythos, Sage, Märchen, 70. Die Charakterisierung des Märchens als ,freischwebend' erfolgt unter dem Gesichtspunkt, daß das Märchen anders als Mythos und insbesondere Sage auf Personen-, Ortsund Zeitbestimmungen verzichtet [„Es war einmal eine schöne Königstochter in einem fernen Land ..."], vgl. RADERMACHER, Mythos, Sage, Märchen, 69: „Das Märchen erscheint uns gekennzeichnet durch die Tatsache, daß Begebenheiten in freiem Spiel der Phantasie und wesentlich um dieses Spieles willen vorgetragen werden, losgelöst von bestimmtem Ort, bestimmter Zeit und Person, aber auch von den Gesetzen des natürlichen Geschehens." Die Annahme einer solchen Formungebundenheit ist nicht unumstritten. So formulierte (zeitgleich zu dieser Publikation) M. LÜTHI, Das europäische Volksmärchen (1947), Tübingen/ Basel 1997, 24, eine Deutung, die gerade die formalen Bestimmungen des Märchens betont: „Das Märchen verzichtet auf räumliche, zeitliche, geistige und seelische Tiefengliederung. Es verzaubert das Ineinander und Nacheinander in ein Nebeneinander. Mit bewundernswerter Konsequenz projiziert es die Inhalte der verschiedensten Bereiche auf ein und dieselbe Fläche: die Körper und Dinge als Figuren, die Eigenschaften als Handlungen, die Beziehungen zwischen einzelnen Wesen als äußerlich sichtbare Dinggaben; verschiedene Verhaltensmöglichkeiten werden verschiedenen Figuren zugewiesen (dem Helden und dem Unhelden), geistige oder seelische Entfernung wird durch äußere Entrückung dargestellt." Die bereits 1928 veröffentlichte, aber erst 1958 ins Englische übersetzte (und M. LÜTHI, geschweige denn RADERMACHER, nicht bekannte, von ersterem jedoch in der 10. Auflage des europäischen Volksmärchens gewürdigte) Studie des russischen Formalisten V. PROPP, Morphologie des Märchens, Frankfurt a.M. 1975, geht schließlich so weit, inhaltliche

138

Ludwig Radermacher

dem er etwas aussagt. Wirkende Person bei einem mythischen Vorgang muß keineswegs ein Gott sein; wesentlich ist aber die Bildlichkeit. Mythische Konzeption ist erste Regung des Triebes zum Wissen, mag man dieses nun kindliche Phantasie oder Naturlehre oder sonstwie, je nach dem Gegenstand des Mythos nennen. Allein es ist eine im eigentlichen Sinne poetische Form des Verstehens, weil aus Eingebung geboren. Nicht sowohl um ein Denken handelt es sich, als vielmehr um ein willkürliches Gestalten. Der Mensch aber, der Mythen ersinnt, besitzt in Ansehung des Kosmos ein Einsgefiihl, er steht der Natur nicht gegenüber, sondern er gehört ihr an. Weit mehr als es heute auch nur möglich, wirkt er dabei als das Maß aller Dinge, insofern als sein eigenes Erleben, Fühlen die einzige Grundlage bildet, um das Erlebnis des Weltganzen zu begreifen."28

Mythosentstehung ist demnach, ganz anders als bei U S E N E R , der sie auf ein ,unwillkürliches werden' zurückführte, willkürliches Gestalten'. Eine Bestimmung des Schaffensprozesses als .unwillkürlich' läßt RADERMACHER allenfalls unter dem Etikett der .Phantasie' gelten. Der Mensch oder seine Phantasie .ersinnt' den Mythos, er gestaltet ihn nach seinem eigenen Dafürhalten, und vor allem: Er ersinnt weniger Götter oder Begriffe als vielmehr Bilder.29 Während USENER den Mythos aus der Begriffsbildung, also aus der begrifflichen Artikulation von Indifferenzen erklärt hatte, impliziert R A D E R M A C H E R S Konzept die Deutung des Mythos als Transformation menschlichen Erlebens in Prozesse. Gewissermaßen liegt damit die Forderung nach einem Ganzen vor, das Anfang, Mitte und Ende hat. Nur so wird verständlich, warum RADERMACHER den Mythos nicht innerhalb einer Abfolge oder Koexistenz von Denkformen faßt, sondern unter die Kategorie der Gattung1 subsumiert. Mythos ist nicht Ausgestaltung von Begriffen, sondern immer schon Handlung, Geschehen, und zwar offensichtlich: bewußt durch den Menschen, das einzelne Subjekt, den .Dichter', gestaltete Handlung. Die Annahme einer willkürlich oder bewußt gestaltenden Phantasie als Motor des Schaffensprozesses bedeutet zwar nicht zugleich RADERMACHERS Absage an eine entwicklungsbedingte, zeitliche Bindung von Mythenentstehung. Doch ist Mythenbildung nicht fixiert auf eine frühe Form des Denkens, sie ist vielmehr an eine spezifische Denkform überhaupt nicht gebunden, sondern jederzeit möglich, eine These, die jedenfalls für die Erzählformen Märchen, Sage und Legende auch in der modernen Volkskunde und Erzählforschung noch vertreten und durch zahlreiche Beispiele der Gegenwart belegt wird.30

28 29

Merkmale überhaupt auszuschließen und in der Struktur sowie einer bestimmten Anzahl von Motivemen (z.B. .Schädigung', ,Mangel', .Behebung des Mangels') die einzige Konstante zu sehen. Das von RADERMACHER behauptete .freie Spiel der Phantasie' erscheint in dieser Perspektive nur bedingt gültig. RADERMACHER, Mythos, Sage, Märchen, 70f. Als mythisches Bild etwa ist der auf seinen Schultern den Himmel tragende Atlas zu verstehen, vgl. RADERMACHER, Mythos, Sage, Märchen, 72, also keine Person, sondern ein ins Bild gesetztes Geschehen. Vgl. L. RÖHRICH, Sage und Märchen. Erzählforschung heute, Freiburg/ Basel/ Wien 1976; G. BENNETT, Legend: Performance and Truth, in: Perspectives on Contemporary Legend III, hrsg. von P. Smith, Sheffield 1988, 13-36; D. BUCHAN, The Modern

Gattungsfragen

139

An einem Beispiel, das RADERMACHER selbst nennt,31 sei dies kurz demonstriert. Das mythische Bild der als Vögel emporsteigenden Totenseelen taucht bei Sophokles (O.R. 175ff.), bei Euripides (Suppl. 1142; Hipp. 828), später bei Vergil (Aen. 6, 309ff.) und nicht zuletzt in der Historia Lausiaca (Kap. 21) wieder auf. Während für die klassisch antiken Stellen eine Motivwanderung alles andere als auszuschließen ist, erscheint der Verweis auf die Historia Lausiaca interessant. Zum einen handelt es sich hier um eine Vision, möglicherweise um das Ergebnis eines Traums, zum anderen um eine Vision, die im Jahre 420 n. Chr. von einem Mönch in Ägypten niedergeschrieben wurde.32 Antonius, gleichfalls ein einfacher Mönch, berichtet dort folgendes: „Ich sah eine gigantische Gestalt, die bis in die Wolken ragte, schwarz, die Hände reckte sie ausgebreitet zum Himmel und unter ihren Füßen schaute ich einen See so weit wie das Meer. Seelen sah ich, die emporflogen wie Vögel. Und die über seine Hände hinausflogen und über sein Haupt, die waren gerettet. Die aber von seinen Händen geschlagen wurden, stürzten in die See." 33

Mit der Tatsache, daß RADERMACHER hier eine dem griechisch-antiken Raum ferne Niederschrift eines Traums unter die Kategorie mythischer Bilder subsumiert, zeichnet sich ein wesentlicher Aspekt seines Mythosverständnisses ab. l)Die Entstehung identischer Myihsnkerne kann an historisch und topographisch in keinerlei Beziehung zueinander stehenden Räumen erfolgen. 2) Eine Erzählung bestimmt sich nicht durch den Ausdruck einer, zumal nicht ursprünglichen oder vorstufigen Denkform als Mythos, sondern durch ihren Gegenstand. Klar zeigt sich dieser Ansatz auch in der Abgrenzung von Mythos und ätiologischer Legende: „Als Mythos soll alle Erzählung gelten, in der Gegenständliches oder Gedachtes, das an die Problematik unseres Daseins rührt, in Form eines leicht faßbaren, menschlichen Geschehens begriffen und dargestellt erscheint.

Legend, in: Language, Culture and Tradition, hrsg. von A. E. Green/ J. D. A. Widdowson, Sheffield 1981, 216-25. RADERMACHER, Mythos, Sage, Märchen, 72. Die Historia Lausiaca ist Lausus, einem Kammerherrn am Hof von Theodosius II., gewidmet und verzeichnet mehrere Biographien von Mönchen, die ihr Autor, Palladius, der, 367 n. Chr. geboren, 388 nach Ägypten gekommen war und dort seit 390 ein Mönchsleben führte, entweder in persönlicher Begegnung oder durch Berichterstattung Dritter kennengelemt hatte, vgl. C. BUTLER, The Lausiac History of Palladius. A Critical Discussion together with Notes on Early Egyptian Monachism, Hildesheim 1967, 3. Palladii Helenopolitani Episcopi Historia Lausiaca, Patrologiae Graecae, Bd. 34, 1067 [= Kap. 26]: „ K a i έθεασάμην μακρόν γίγαντα μέλανα ύψούμενον μέχρι των νεφελών, τάς χείρας έκτεταμένας έχοντα εις τον ούρανόν. Kai ήν ύποκάτω αύτοΰ λίμνη θαλάσσης έχουσα μέτρον, καί έώρων ψυχάς άνιπταμένας ώς ορνεα. Και οσαι μεν ϋπερίπταντο αύτοΰ των χειρών καί της κεφαλής, διεσώιζοντο ύπό άγγέλλων. οσαι δέ παρά τών χειρών αύτοΰ έκοσσίζοντο, ένέπιπτον εις την λίμνην."

140

Ludwig Radermacher

Ätiologische Legende sondert sich, weil sie auf Dinge geht, die vom Menschen selbst einmal gesetzt worden sind und hingenommen, doch auch geändert werden können, oder weil sie Phänomene deutet, die zwar eine Frage wecken, aber andererseits so belanglos sind, daß die Phantasie sozusagen mit ihnen spielen darf."34

Während sich die Legende auf im weitesten Sinne Artiflzielles bezieht, ist Mythos „Auseinandersetzung mit beunruhigendem Weltgeschehen".35 Sein Inhalt ist von dem der Sage oder des Märchens grundsätzlich verschieden. Seine Form dagegen ist variabel, anders als Erzählungen, die sich im wesentlichen durch ihre Erzählform bestimmen, wie Novelle36 oder volkstümlicher Schwank37. Die Unterscheidung in gegenstandsbezogene und /onwbestimmte

35 36

37

RADERMACHER, Mythos, Sage, Märchen, 75. Ebd., 75. Ebd., 78: „[Die Novelle ist] Darstellung einer bedeutsamen Begebenheit bei beschränktem Umfang und strenger Geschlossenheit des Aufbaus. Sie ist weder dem Inhalt nach gebunden noch ist sie es durch persönliche, sachliche oder zeitliche Beziehung, sie kann auch rein symbolisch sein. Von Märchen und Sage unterscheidet sie sich wohl durch das rein Menschliche der dargestellten Begebenheiten; auch wo Götter Träger der Handlung sind, handeln sie wie Menschen. Von der Geschichte trennt sie die Tatsache, daß ihre Wahrheit nicht die der geschilderten Ereignisse, sondern die der poetischen Forderung ist." Die rückwirkende Applikation eines der italienischen Frührenaissance (BOCCACCIOS II Decamerone, 1349/1353) entwickelten Gattungsbegriffs auf den antiken Raum ist insbesondere deshalb problematisch, als die Novellentheorie in sich äußerst strittig ist. Die .geschlossene Form' ist bereits von A. W. SCHLEGEL, Vorlesungen über Schöne Litteratur und Kunst, 3. Teil (1803/1804), in: Dt. Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts in Neudrucken, Bd. 19, hrsg. von B. Seuffert, 1884, als gattungsbestimmend formuliert worden. Hinter der von RADERMACHER ins Feld geführten ,poetischen Forderung' steckt möglicherweise der „grundsätzliche Vorrang des Ereignisses vor den Personen und den Dingen". „[D]ie Novelle hat keinen Helden; ihre Personen sind nur wichtig, insoweit sie die Begebenheiten verursachen, nur gut gezeichnet, insoweit uns durch sie das Ereignis den Eindruck des Wahrhaftigen macht." (B. v. WIESE, Novelle, Stuttgart 1982, 4), vgl. auch J. W. von GOETHE, Gespräch mit Eckermann, 29.1. 1827: „... denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte [sc. ,noch nie gehörte'] Begebenheit". Dagegen legt RADERMACHERs Definition offensichtlich keinen Wert auf das formbestimmende Element einer .dramatischen Spitze' (F. SCHLEIERMACHER, Ästhetik, 1931, 275f.). Eine Ausgabe griechischer Novellen, die RADERMACHER geplant hatte, kam, da er starb, nicht mehr zustande. In seinem Nachlaß (Seminarbibl. Wien) erhalten ist allerdings ein zehnseitiges Manuskript, das als Vorwort dazu gedacht war, und von dem A. LESKY, Aus dem Nachlasse Ludwig Radermachers, Wien 1955, 15f., eine Kurzfassung gegeben hat. Wie aus dieser Fassung hervorgeht, ist hier das Verhältnis von Novelle und Zyklus, d.h. reihender Kompositionsweise (vgl. die Apologoi der Odyssee im Gegensatz zur Ilias mit ihrem .festen Handlungskem') angesprochen. Ob auch die .einzelne Novelle' behandelt ist, geht aus LESKYS Schrift nicht hervor. RADERMACHER, Mythos, Sage, Märchen, 76: „[Der volkstümliche Schwank ist] eine nicht unbedingt komische, sondern zuweilen auch ernst gehaltene Kurzgeschichte mit überraschendem, zum Lachen bringendem Abschluß, dem Inhalt nach kann auch er der Geschichte, der Sage, dem Märchen angehören." Über die Komik als ein bindendes Element des Schwanks ist in der Forschung vielfach diskutiert worden, vgl. dazu E. STRASSNER, Schwank, Stuttgart 1978, 4ff. Relativ einhellig scheint jedoch seit der Dissertation von L. F. WEBER, Märchen und Schwank. Eine stilkritische Studie zur Volksdichtung, Diss. Kiel 1904 (vgl. bes. 24), davon ausgegangen worden zu sein, daß

Gattungsfragen

141

Gattungen oder Erzähltypen demonstriert RADERMACHER an der Erzählung von Polyphem: „Die Erzählung von Polyphem, dem Unhold, den Odysseus blendet, ist dem Inhalt nach Märchen; denn Gestalten wie der einäugige Riese haben in Wirklichkeit nie gelebt [dies ist nach L. R. der Unterschied zur Sage, A.W.]38. Der Form nach ist es jedoch ein Schwank,39 der auf Trug durch den falschen Namen mit der Pointe ausläuft: ,Wenn niemand dich geblendet hat, was beklagst du dich dann?'"

Wenn die Differenzbestimmungen der einzelnen Gattungen auch niemals wirklich präzise formuliert werden,40 und wenn auch offen bleibt, in welchem nicht nur chronologischen, sondern auch hierarchischen Verhältnis das Auftauchen der einzelnen Gattungen zu beurteilen ist,41 so zeigen die Ausführungen doch, daß RADERMACHERs Interesse am Mythos kein kulturwissenschaftliches, ja nicht einmal ein primär anthropologisches-ethnologisches, sondern wenn überhaupt ein literaturwissenschaftliches ist. Mythos wird nicht als das Produkt einer zu qualifizierenden Unbekannten (bei USENER der

38

39

40

mit dem Schwank nicht eigentlich eine eigene, zumindest formbestimmte Gattung vorliege, sondern dieser vielmehr durch seine Stoffe (menschliches Leben/ Tabuzonen) gekennzeichnet sei und in unterschiedlichen Erzählformen auftreten kann (anders H. BAUSINGER, Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen, in Fabula 9, 1967, 118-136). Zu RADERMACHERs ,Schwank'begriff vgl. auch den kurz vor seinem Tod von ihm herausgegebenen Band Altgriechische Liebesgeschichten, Historien und Schwanke, Berlin 1987 (= Schriften und Quellen der Alten Welt, Bd. 29), eine Zusammenstellung (Text und Übersetzung) angeblicher antiker Schwänke, und DERS., Volkstümliche Schwankmotive bei Aristophanes, Wien. Stud. 35, 1913, 193-6 . Vgl. RADERMACHER, Mythos, Sage, Märchen, 69: „Sage stellt sich als eine von Mund zu Mund fortgepflanzte Erinnerung aus vergangenen Tagen dar, als Nachhall irgendeiner wirklichen oder als wirklich gesetzten Begebenheit. So manche Schicksale ihr auch im Laufe des Daseins Zuwachs und Wandlung eingebracht haben mögen, so tritt sie doch gebunden auf, sei es an eine bestimmte irdische Person, sei es an einen Ort, die beide mit Namen sind, unter Umständen auch an eine ausdrücklich bezeichnete Epoche. Vor allem wirkt die Persönlichkeit sagenbildend, dem heldenhaften Manne folgt unsere Anteilnahme ... Was wir von althellenischer Sage wissen, ist durchweg Heldensage." Mit der Betontung der Formgebundenheit („der Form nach ...") stellt RADERMACHER sich gegen die communis opinio seiner Zeit, s. oben S. 140, Anm. 37. Auch die Beispiele - die magische Flucht des Odysseus vor Polyphem sei „märchenhaft", die Aiolosepisode „aitiologische Legende", Skylla und Charybdis „aitiologische Ortssage" und die Kalypsogeschichte „novellistisch" (s. RADERMACHER, Die Erzählungen der Odyssee, Sitzungsberichte der Kais. Akad. der Wissenschaften in Wien, phil.-histor. Klasse, Bd. 178, 1. Abhdlg., Wien 1915, 16-27) - verhelfen dem Leser nicht zu einem klaren Verständnis dieser Differenzierung. So hat sich W. WUNDT, Märchen, Sage und Legende als Entwickelungsformen des Mythus, ARW 11, 1908, 200-22, dieser Frage gestellt. V. PROPP hat später die Beziehung von Mythos und Märchen als eine „von vorher zu nachher, von ursprünglich zu abgeleitet", C. LÉVI-STRAUSS als eine der .synchronen Koexistenz' bestimmt, vgl. W. MENNINGHAUS, Lob des Unsinns, Frankfurt a.M. 1995, 214f.

142

Ludwig Radermacher

den Rekonstruktionsversuchs funktionalisiert.42 Er wird vielmehr phänomenologisch als eine inhaltlich oder thematisch, bedingt auch formal bestimmte Erzählung gelesen. Wiewohl auch bei RADERMACHER von einer Funktionalisierung des Mythos gesprochen werden muß, ist deutlich zu sehen, daß sein Erkenntnisziel in eine andere Richtung weist und sein Interesse an der Mythenforschung unter anderen Vorzeichen steht, als dies bei USENERs Analyse der Götternamen und DlETERICHs kritisch daran anknüpfenden Untersuchungen zu Mythos, Ritus und Magie der Fall war. RADERMACHERs Perspektive ist die eines Erzählforschers, der die Entwicklung volkstümlicher Motive, ihre Rekontextualisierung innerhalb neuer Erzählstrukturen und ihre Integration in christliches Textmaterial im Blick hat. Magische Texte interessieren nicht als Archiv oder Erinnerung einer sich in ritueller Praxis manifestierenden „ursprünglichen Vorstellung", sondern in ihrer sich perpetuierenden Weiterverwendung, ihrer Lebendigkeit und ihrer offensichtlich aus einer gewissen „Unverwundbarkeit" gewonnenen Bedeutung.43 Mit der Abkehr von der romantischen Suche nach Ursprünglichkeit legt RADERMACHER den Akzent seines Erkenntnisziels auf einen historisch greifbaren Zeitrahmen. An die Stelle eines allgemein gültigen, überindividuellen ,unbewußten werdens', wie es USENER postulierte, tritt der (unbekannte, aber) individuelle Dichter, die Phantasie eines bewußt spielenden Subjekts. Wenn RADERMACHER von Mythos spricht, meint er letztlich ,Dichtung'.

Glaube und mythische Erzählung In seinem Buch zum Jenseits zieht RADERMACHER denn auch eine scharfe Grenze zwischen dem literarisch dargestellten Mythos als Konstruktion einer .inneren Geschlossenheit'44 und dessen Reflexionsgrundlage, dem tatsächlichen Glauben. Hinter der literarischen Ausgestaltung steht, wie er am Beispiel der homerischen, vergilischen und platonischen Jenseitsmythen zu zeigen versucht (für letztere sicherlich mit unbestrittener Gültigkeit), „philosophi-

43

44

Was W. MENNINGHAUS, Lob des Unsinns, 196, fur die ethnologische Märcheninteipretation des ausgehenden 19. Jahrhunderts dokumentiert, kann m. E. auch für die Mythendeutung seinerzeit konstatiert werden, daß sie nämlich von der Spurensuche nach Riten, zunächst nach denen, die den Tages- und Jahreszeiten bzw. speziellen Tagen (Neujahr etc.) zugeordnet waren, später nach denjenigen, die das soziale Leben regelten (z.B. Initiationsriten), bestimmt worden ist. Vgl. RADERMACHER, Schelten und Fluchen, ARW 11,1908, 11-22, eine Erkärung zu E. Or. 1225ff. und der Versuch, die von Nauck aufgrund von Σ E. Or. 1229 athetierten V. 1227-1230 unter Hinzuziehung verschiedener Beschwörungsliteratur zu retten; DERS., Berührungszauber, ARW 14, 1911, 314f.; Antiker Liebeszauber und Verwandtes, RhM 67, 1912, 139-141. RADERMACHER, Das Jenseits im Mythos der Hellenen, 13.

Glaube und mythische Erzählung

143

sehe Spekulation", die „sehr bewußte Absicht... ein gegliedertes Kunstwerk zu formen", nicht zuletzt die Heranziehung ganz „verschiedenartiger Motive". Diese in jeweils unterschiedlicher Form und Gewichtung eingesetzten Produktionsmechanismen zeichnen für eine Verzerrung verantwortlich, die dem Religionswissenschaftler einen Zugang zum tatsächlichen Glauben erschwert. Mythenforschung im Sinne USENERs erscheint als undurchführbar. Daß es nicht möglich ist, unmittelbar von Mythen auf das mythische Denken oder gar die dahinterstehenden religiösen Vorstellungen rückzuschließen, war innerhalb der ,Usener-Schule' kein neuer Gedanke. Auch DIETERICH hatte, wiewohl er implizit noch zwischen ,Mythos' und ,Mythen' differenzierte, dagegen protestiert, daß man aus vorhandenen Erzählungen den ,Mythos' (d.h. das Begriffssystem, aus dem, laut USENER, die ,Mythen' .herausgesponnen' worden seien) wieder rekonstruieren könne: Was geblieben sei, seien Mythen, dramatisch gestaltete Interpretationen', deren Ursprung nicht mehr erfahrbar sei. RADERMACHER geht nun noch einen Schritt weiter, wenn er die Existenz eines ,Mythos' grundlegend bestreitet: Der Mythos, so sein zentrales Dogma, existiert ausschließlich als mythische Erzählung; er sei nicht etwa aus einem Begriffssystem (schon gar nicht aufgrund sprachlicher Irritation, wie USENER behauptet hatte) entstanden, sondern als Erzählung von Einzelpersönlichkeiten bewußt geschaffen worden.45 Mythen, so RADERMACHER, sind auch nicht (wie DIETERICH behauptet hatte:) das Ergebnis einer freien, bewußten ,Interpretation'' von Begriffen. Vielmehr sind sie grundsätzlich, selbst in frühen Stadien, .Composition'.46 RADERMACHER hat daher den von DIETERICH als Alternative zu USENERs

Projekt eingeschlagenen Weg, anhand von magischer Praxis und Volksglauben (statt von mythischen Segmenten, also Götternamen) zu den Frühformen des Denkens vorzudringen, nicht verfolgt. Während DIETERICH bei dem von USENER angestrebten Erkenntnisziel blieb, sich jedoch gezwungen sah, auf einem anderen Untersuchungsfeld mit entsprechend modifizierten Methoden dorthin zu gelangen, scheint dieses Erkenntnisziel bei RADERMACHER völlig aufgehoben. Dennoch spielt sich auch bei ihm ein Großteil der Untersuchungen auf dem Gebiet des Volksglaubens, der Magie und Zauberei ab; dennoch schenktauch er-jedenfalls .offiziell', wie weiter unten gezeigt werden soll sein Interesse nicht dem Volksglauben per se, sondern sieht sich vielmehr zweierlei Forschungszwecken verpflichtet: zum einen dem Verständnis sogenannter höherer Literatur, zum anderen dem Verständnis des Christentums auch dies zwei zentrale Anliegen seines Lehrers USENER und seines Kommilitonen DIETERICH.

46

RADERMACHER, Mythos, Sage, Märchen, 67-88. 72. RADERMACHER, Das Jenseits im Mythos der Hellenen, 13.

144

Ludwig Radermacher

Pagane Volksdichtung und Christentum Mit seinem Anliegen, pagane Volkspoesie zum Verständnis höherer Dichtung, insbesondere aber als Quelle wesentlicher Elemente christlicher Texte heranzuziehen, tritt RADERMACHER - anders als in der Ursprungsfrage - ganz in die Fußstapfen seines Lehrers. U S E N E R s Rekonstruktion der vorgeschichtlichen Vergangenheit stand nicht nur im Zeichen der Erforschung des Christentums und seiner Entstehung. Auch umgekehrt hatte der Nachweis der epochenüberschreitenden Kontinuität paganer Ausdrucksformen dazu geführt, daß USENER ein besonderes Augenmerk darauf legte, wie Früheres in Späterem weiterlebt und dort archiviert oder inkorporiert wird. Daß das Frühere mit der Überwindung seiner Entstehungsbedingungen nicht einfach untergeht, sondern um- oder unbesetzt fortexistiert, ist ein zentrales Dogma nicht nur in den Götternamen, sondern auch in den Arbeiten über christliche Legenden und Heilige, wie dem Weihnachtsfest, der Geburt und Kindheit Christi, den Legenden der Pelagia, dem heiligen Tychon und den Sintfluthsagen41. Mit der Annahme, daß sich eine Vielzahl magischer oder volkstümlicher Paganismen unter anderen Vorzeichen im Christentum fortsetzten, waren ihm zahlreiche Schüler gefolgt. So versuchte DIETERICH 1893 mit seiner Nekyia (mit dem Untertitel Beiträge zur Erklärung der neuentdeckten Petrusapokalypsef% den Ursprungsnachweis für die in der sogenannten Petrusapokalypse formulierten Jenseitsvorstellungen und war dabei auf eine Unterschicht verschiedenster religiöser Vorstellungen, unter anderem aus dem Volksglauben, gestoßen, was ihn in seinem Urteil über die Relevanz der Volkskunde, vor allem aber über die Bedeutung der Konstanz und Inkorporation (primitiv-)paganer Elemente bestätigte. Und das betraf nicht nur das Christentum: Noch im selben Jahr offerierte DIETERICH der Wissenschaft einen Aufsatz, in dem er die Einweihung

H. USENER, Das Weihnachtsfest, Bonn 1889; Geburt und Kindheit Christi, Preuschens Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde des Urchristentums 4, 1903, 1-21 (wiederabgedruckt in: DERS., Vorträge und Aufsätze, 161-187); Legenden der Pelagia von Tarsos, Festschrift fur die 34. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner zu Trier 1879; Der heilige Tychon, Leipzig/ Berlin 1907, bes. 17ff.; Die Sintfluthsagen, Bonn 1899. A. DIETERICH, Nekyia. Beiträge zur Erklärung der neuentdeckten Petrusapokalypse, Leipzig 1893. Dem gleichen Anliegen sind auch DlETERICHs Arbeiten Die Grabschrift des Aberkios, Leipzig 1896, und Die Weisen aus dem Morgenland (Preuschens Zeitschr. für die neutestamentl. Wiss. und die Kunde des Urchristentums 3, 1902, 1-14), in: DERS., Kleine Schriften, hrsg. von R. Wünsch, Leipzig/ Berlin 1911, 272286, verpflichtet. Die letztgenannte Schrift versucht die Inspirationsquelle der Episode in dem Besuch, den der Heide Tiridates aus dem Partherland 66 n. Chr. Nero abstattete, zu finden. Auf sie bezieht sich auch USENERs in der selben Zeitschrift veröffentlichte Studie Geburt und Kindheit Christi.

Pagane Volksdichtung und Christentum

145

des Strepsiades in den aristophanischen Wolken als spöttische Reaktion auf die Einweihungszeremonien in Mysterienkulte deutete.49 Bei USENER ist (wie bei DIETERICH) die Beschäftigung mit ,niederer' Literatur und Kultpraxis noch ausdrücklich an ein höherstehendes Interesse geknüpft, das sich leicht rechtfertigen ließ, und es ist nur natürlich, daß ihm ein Schüler wie Walter Friedrich OTTO, dem es gerade um das Spezifische paganer Geisteswelt ging, hier nicht folgen konnte. RADERMACHER allerdings zeigt gerade hier besonderes Engagement, und es bleibt zu zeigen, wie sich aus dieser Perspektive sein Interesse an der Volkskunde begründet. Wie USENER sieht auch er den Rekurs des Christentums auf etliche Paganismen.50 So deutet er die durch die altchristliche Theologie formulierten Jenseitsvorstellungen als Vorstellungen, die „wenngleich von anderen Voraussetzungen ausgehend ... doch zuletzt mit dem Material gearbeitet [haben], das von der heidnischen Weisheit vorbereitet war." 51 Seine Forschungen akzentuieren jedoch den Bereich des Erzählten; rituelle Praxis zieht RADERMACHER vornehmlich zur Wiederherstellung des Textverständnisses heran. Aus welcher Sicht seine Bemühungen um Volkskundliches letztlich zu lesen sind, soll das folgende Beispiel kurz zeigen. In seiner akademischen Antrittsrede, die er am 12. Juni 1909 an seiner letzten Wirkstätte, in Wien, hielt,52 zeichnet er ein knappes Bild Forschungsgeschichte und äußert sich zugleich programmatisch zur Arbeit an altchristlichen Texten als einer der neu gestellten Aufgaben der Philologie. Dabei liest er die moderne Beschäftigung mit diesem Forschungsgebiet zunächst vor dem 49

50

51

A. DIETERICH, Über eine Szene der aristophanischen Wolken (RhM 48, 1893, 275283), in: DERS., Kleine Schriften, 117-124. Vgl. die von A. LESKY aus dem Nachlaß herausgegebene Abhandlung Vom Würfelspiel, Tod und Teufel·. „Der Übergang vom Heidentum zum Christentum hat sich im europäischen Raum, wie die Erfahrung lehrt, nicht einfach als ein Bruch vollzogen. Der Mensch hängt am Hergebrachten, und so blieb gar manches erhalten, das als Erbgut von den Ahnen her wertvoll geworden war. Freilich wurde man belehrt, die Welt mit anderen Augen anzuschauen, infolgedessen ist es häufig dazu gekommen, daß die überlieferte Form sich mit neuem Inhalt füllte. Um im Bilde zu reden: in die alten Schläuche war ein neuer Wein gegossen." So und in ähnlicher Weise beginnen mehrere Artikel, die in den 20-er und folgenden Jahren zur Frage der Kontinuität, und zwar vor allem im Bereich der Geschichte und Wirtschafts- und Sozialgeschichte, publiziert wurden, vgl. die bei P. E. HÜBINGER, Kulturbruch oder Kulturkontinuität im Übergang von der Antike zum Mittelalter, Darmstadt 1968, wiederabgedruckten Aufsätze von A. DOPSCH, Vom Altertum zum Mittelalter. Das Kontinuitätsproblem, Archiv für Kulturgeschichte 16, 1926, 159-182; P. KIRN, Zum Problem der Kontinuität zwischen Altertum und Mittelalter, Archiv für Urkundenforschung, 10, 1928, 128-144. Zur Kontinuitätsidee in der Volkskunde, vgl. W. BRÜCKNER, Kontinuitätsproblem und Kulturbegriff in der Volkskunde, in: Kontinuität? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem, hrsg. von H. Bausinger/ W. Brückner, Berlin 1969, 31-46. RADERMACHER, Das Jenseits im Mythos der Hellenen, 25. Darin ist sich RADERMACHER mit DIETERICH einig, vgl. oben S. 112ff. RADERMACHER, Die apokryphen Apostelakten und die Volkssage, Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 60, 1909, Heft 7, 673-83.

146

Ludwig Radermacher

Hintergrund einer im Zuge von Neuentdeckungen motivierten Ausweitung der Forschungsgegenstände - die Entdeckung von χ oder y führte zu einem Interesse an ζ - , und ohne Blick auf ästhetisch bedingte Interessensverschiebungen: „Wenn man die Arbeit der klassischen Philologen von heute mit der vor 100 Jahren vergleicht, gewahrt man eine beträchtliche Verschiedenheit. Die lebendige Teilnahme hat sich damals auf die klassische Epoche im eigentlichen Sinne fast alleine beschränkt, und noch mehr: hervorragende Vertreter des Fachs sahen ihre Aufgabe in einem rein formalen Verständnis der Literatur; es bedurfte eines mit Heftigkeit geführten Streites, in dem das Studium der Realien, der Altertümer, wie man zu sagen pflegt, sich seine Existenzberechtigung erkämpfte. Nun wandte sich das Interesse den Inschriften zu, ihre Kenntnis, von Männern wie Böckh und Mommsen gefordert, erschloß uns die Dialekte und eröffnete den Ausblick auf ganz neue Seiten des antiken Lebens. Verhältnismäßig früh richtet sich die Aufmerksamkeit auf den Hellenismus .... Aber man geht noch weiter und beginnt sich mit den Denkmälern der nachchristlichen Jahrhunderte energisch zu beschäftigen; man studiert nicht nur das ausgehende Heidentum, sondern auch das emporblühende Christentum und dringt ein in die fast unübersehbare Masse der kirchlichen Literatur. So dürfen wir Philologen wohl behaupten, daß sich uns der Gesichtskreis wesentlich geweitet hat."

Geschickt gliedert RADERMACHER die eigentlich inhaltliche Begründung aus den Einleitungssätzen heraus und beschränkt sich hier noch auf die Skizzierung der Forschungsentwicklung als einer sukzessiven Auflösung von , Materialzwängen'.53 Djes ist in der Tat ein Aspekt. So ist gerade bei den Zauberpapyri das Gros der Funddaten nicht vor Mitte des 19. Jahrhunderts anzusetzen. Selbst eine ästhetische Diskussion, die sich ausschließlich die nichtliterarischen antiken Texte zu Zauberei und Magie (d.h. exklusive des literarisch verarbeiteten Materials) hätte beziehen wollen, hätte also sinnvollerweise erst nach dieser Zeit beginnen können, die Funddaten sind sozusagen terminus post quem für ein Interesse, wie auch immer oder ob überhaupt es sich manifestiert. Für die altchristlichen Texte, deren seinerzeit verstärkt in Angriff genommene Bearbeitung innerhalb der Altertumswissenschaften RADERMACHER nach eben diesem Schema begründet, kann dies allerdings nicht unbedingt gelten. Hier muß konstatiert werden, daß RADERMACHER sich aus einer glaubhaften Begründung für das Interesse seiner Zeit heraushält. Was genau war der Anstoß für ein altertumswissenschaftliches Interesse an

Ein gewisser Rechtfertigungsdruck zeigt sich innerhalb der ,Religionswissenschaftlichen Schule' immer wieder. Vgl. die oben, S. 92, erwähnten Bemerkungen, die Hermann USENER anläßlich seiner Arbeit über die Legenden der Pelagio (1879) machte. Die polemischen Äußerungen, mit denen er die Forschungsgebiete der zeitgenössischen Philologie als Belanglosigkeiten und Kleinkrämerei abkanzelt, um auf dieser Folie die Novität seines eigenen Forschungsprojekts zu betonen, scheinen ebenso wie die trotzige Ankündigung, es dennoch „zu wagen", die Legenden der Pelagio „ohne Entschuldigung" vorzulegen, nicht nur dem Empfinden der Notwendigkeit geschuldet, „daß die Philologie auch diesen Ausläufern des klassischen Altertums ihre Aufmerksamkeit zuwende", sondern auch der Bemühung um ein schulbildendes Selbstverständnis der in seinem Umfeld arbeitenden Forscher. Vgl. auch die offizielle Begründung für die geplante Ausgabe der Papyri Graecae Magicae (s. oben, S. 96).

Kontinuitätsidee und Vergleichende Methode

147

Texten, die schon vor Eintreten des Interesses bekannt gewesen waren? Zunächst ist festzustellen, daß RADERMACHER, um die Brisanz und Bedeutung der Erforschung altchristlicher Literatur für die Altertumswissenschaft zu dokumentieren, ein Thema wählt, an dem er vor allem die Kontinuität von Volksdichtung und -motiven konkret durchspielen und glaubhaft machen kann, nämlich die apokryphen Apostelakten. Wäre es RADERMACHER um ein Verständnis der Apostelakten als eines Konglomerats paganer Volksdichtung gegangen, wäre an dieser Stelle der Wert der Apostelakten als solcher zu klären gewesen. Daß dies nicht der Fall ist, läßt vermuten, daß nicht eine bloße Erweiterung des Gesichtskreises innerhalb der Altertumswissenschaften der Grund für die Behandlung der Apostelakten ist und nicht etwa erst die Beschäftigung mit diesen Akten die Auseinandersetzung mit volkskundlichem Material rechtfertigt; sondern daß, umgekehrt, neben der Kontinuität von paganer und christlicher Welt vor allem a) die Bedeutung von paganer, , niedriger ' Volksdichtung und ihrer den zeitlichen Radius der Antike nachhaltig sprengenden Wirkung und b) der Nachweis eines Kontinuums als solcher im eigentlichen Mittelpunkt von RADERMACHERs Forschungen stand.

Kontinuitätsidee und Vergleichende Methode In seinem 1915 publizierten Aufsatz Παλινωιδίοΐ* behandelt RADEReine Szene der euripideischen Elektro, die auch heute noch das gelehrte Problembewußtsein zu Späßen reizt: Hatte Elektro große Füße? lautet der Titel eines im Jahre 1975 veröffentlichten Aufsatzes,55 der die auf den άναγνωρισμός der Aischyleischen Choephoren anspielenden Verse behandelt, in denen Elektra von ihrem Pädagogen dazu aufgefordert wird, ihren Fuß in die (am Grab des Vaters zurückgelassenen) Fußstapfen des Orest zu halten.56 Den Inhalt der Aufforderung des Pädagogen etikettierte die Philologie nicht nur mit ,Unspielbarkeit', da sich Elektra von dem Grab ihres Vaters weit entfernt aufhält. Die vermeintliche Implikation, Geschwisterschaft ließe sich anhand einer identischen Schuhgröße festmachen, ist - jedenfalls unter realistischen Aspekten - vor allem absurd. Die Stelle ist daher zunächst als ein Spiel mit Wirklichkeit und Text und als Parodie auf die entsprechende Choephorenpassage zu verstehen. RADERMACHER nähert sich einer Erklärung nun noch von einer ganz anderen Seite: Er vergleicht den Vorgang des Fußabdrucks mit einer Passage aus der Legende der Heiligen Barbara. Wie dort, so MACHER

54

56

RADERMACHER, Παλινωιδία, Zeitschr. für die Österreich. Gymnasien 66, 1915, 1-7. G. ROUX, Electre avait-elle de grands pieds? Eschyle, Choéphores 164sq et Euripide, Electre 523 sq, CH 20, 1975, 393-394. E. El. 532ff. mit Anspielung auf A. Cho. 205ff.

148

Ludwig Radermacher

führt er aus, könnte auch in der euripideischen Elektro als Stellvertreter des Fußabdrucks ein Faden oder eine Schnur fungiert haben, die der Pädagoge im Falle einer zugeständigen Antwort Elektras für sie bereitgehalten hätte. Den Vorgang interpretiert RADERMACHER darausfolgend als einen ,Akt der Übertragung von Zauberkraft'.57 Die Erklärung impliziert neben einem ganz beträchtlichen Anspruch auf theatralischen Realismus nicht nur eine Frage, die sich wohl kein Zuschauer der antiken Aufführung ernsthaft gestellt hat, und verkennt darüber hinaus, daß hier das transtextuelle Moment als Träger der Handlung bestimmend ist. Deutlich zeigt sich auch, daß es RADERMACHER als möglich (und nötig) erscheint, einen einer antike Textpassage entnommenen problematischen Vorgang durch Heranziehung einer zeitlich und topographisch völlig anders kontextualisierten Begebenheit zu klären. RADERMACHER ist also noch weit davon entfernt, sich von der Vergleichenden Methode zu distanzieren. Allerdings steht dahinter nicht die evolutionistische Implikation einer stereotypen Abfolge von Entwicklungsstadien. Die Legende der Heiligen Barbara wird nicht herangezogen, um eine Deutung vorzulegen etwa von der Art, daß in ihren Urhebern eine ebenso vorstufige Denkform weiterlebe wie der Glaube, auf den (angeblich) die entsprechenden Elektra-Verse verweisen. Der ,Akt der Übertragung von Zauberkraft' scheint ihm vielmehr ein Kern zu sein, der zu den unterschiedlichsten Zeiten an den unterschiedlichsten Orten und in den unterschiedlichsten Einkleidungen (wieder) auftaucht. Neben der Theorie einer Tradition und möglichen Diffusion von Motiven steht hier also das Prinzip der Polygenese,58 demzufolge eine Affinität von Motiven und Stoffen an verschiedenen Punkten der Erde zu verschiedenen Zeiten unabhängig voneinander bei verschiedenen Völkern auftreten kann. Die Polygenese wird dabei dahingehend verstanden, daß einer solchen Affinität zugleich ein Ausdruck ähnlicher oder gar identischer Vorstellungen zugrunde liegt, und nur insoweit relativiert, als erst die den Mythenkern erweiternden Additionen oder Modifikationen als eine Folge historischer oder sozialer Umstände, d.h. kulturspezifisch zu bewerten sind. Das zeigt nicht nur die eben genannte Untersuchung Παλινωιδία. Es wird auch deutlich in den Arbeiten über die Walfischmythen59 und die Erzählungen RADERMACHER, Παλινωιδία, 5: „Der abergläubische Zweck ... das Ganze ist ein Akt der Übertragung von Zauberkraft." Das Phänomen der Polygenese nimmt RADERMACHER als gegeben hin, ihre Erklärung gibt er als Aufgabe an die Psychologen weiter, vgl. Das Jenseits im Mythos der Hellenen, 1 : „Es ist unendlich schwierig, den Ursprung von Gedanken, die oftmals über die ganze Erde verbreitet sind, mit Sicherheit zu ergründen. Neben dem historischen Forscher hat hier auch der Psychologie] eine wichtige Aufgabe zu lösen, nämlich die, festzustellen, auf welcher Einrichtung des menschlichen Geistes es beruht, dass sich so viele Gebilde der Phantasie, so viele Grundsätze des Rechts, des Brauchs und der Sitte selbständig und unabhängig von einander immer wieder neu erzeugt haben." RADERMACHER, Walfischmythen, ARW 9, 1906, 248-252. Vgl. dazu auch DERS., Die Vergleicher, 30: „Zahlreich sind die Formen der Wandlung, in denen beispielsweise die

Kontinuitätsidee und Vergleichende Methode

149

der Odyssee, in denen RADERMACHER extensiv vom Vergleich mit identischen Motiven unterschiedlicher, und zwar möglichst unabhängiger Herkunft Gebrauch macht. In gleicher Weise geltend macht RADERMACHER seine Position in den Vorfragen zu Mythos und Sage bei den Griechen. Dort weist er hin auf „eine Reihe von Stoffen, die uralt und über die ganze Erde verbreitet, also im eigentlichen Sinne weitläufig sind."60 Auch die Studie zum Jenseits gründet sich auf die Überzeugung, daß es möglich sei, den Hintergrund eines Mythos mithilfe eines anderen, strukturell dazu analogen, aufzuklären.61 Die Herausarbeitung analoger Strukturmerkmale und Motive soll dabei aber vor allem einen Beitrag dazu leisten, die einzelnen (in der späteren literarischen Verarbeitung verwobenen) Schichten herauszupräparieren und chronologisch zueinander in Beziehung zu setzen. So führt die Prämisse einer Analogie von Argonauten-, Orest-62 und Theseussage mit dem russischen Märchen vom Prinzen Astrach, der von ebendort stammenden Sage von Digenis 63 sowie der Erzählung von Ilmarinen zu der Behauptung, daß das fundamentale (und ursprüngliche) Motiv dieser Sagen, ihre „Urform",64 der Raub eines Mädchens in Verbindung mit einer „Jenseitsfahrt"65 sei. Motive wie das Stehlen des goldenen Vließes (bzw. des artemisischen Götterbildes) und der Mord an Minotaurus sowie die jeweiligen

60

61

62

43 64 65

Sage von einem verschlungenen und lebend wieder ausgespieenen Menschen vorgetragen wird, dennoch ist der eigentliche Kem treu erhalten geblieben. Was aber die Einzelzüge anbetrifft, mit denen die Geschichte ausgestattet ist, so ist seltsam und beinah beunruhigend die Beziehung zwischen weit entfernten Punkten, indem ein einzelnes Motiv unter Umständen mit einem Zwischenraum von vielen Jahrhunderten an zwei Orten der Erde aufgezeichnet erscheint, von denen man glauben möchte, daß sie nie miteinander verbunden gewesen sind." RADERMACHER, Die Vergleicher, 29. Als Beispiele werden dort genannt: Die Sintflutsagen; der Bericht von einem Reisenden, der von einem Fisch verschlungen und wieder ausgespuckt wird; die Erzählung vom heimkehrender Gatten, der seine Frau von Freiern bedrängt sieht; die zusammenfahrenden Felsen; der Kampf zwischen Vater und Sohn (allesamt mit Literaturangaben). Bezüglich der Sintflutsagen knüpft RADERMACHER an USENERs Die Sintfluthsagen an. RADERMACHER, Das Jenseits im Mythos der Hellenen, 69, zu den Analogien zwischen der Argonautensage und einer Erzählung der Ilmarinen bzw. dem russischen Märchen vom Prinzen Astrach: „Die eine Geschichte kann uns Hilfe leisten, den mythischen Hintergrund der anderen aufzuklären." In der Orestsage ist dabei die Taurisepisode entscheidend, deren Gestaltung in der neueren Forschung gemeinhin Euripides (IT) zugeschrieben wird, laut RADERMACHER, Das Jenseits im Mythos der Hellenen, 50ff., aber in den genannten Kultlegenden ihre Vorläufer hat. Vgl. RADERMACHER, Das Jenseits im Mythos der Hellenen, 49f. Ebd., 72. Bewußt soll hier nicht einschränkend von einer Unterwelts- oder Höllen-, sondern von Jenseitsfahrt gesprochen werden: „Eine Vorstellung hat sich in ihnen [sc.: den genannten Sagen] treu erhalten, nämlich die, dass das Land der Götter und der Toten [sc.: Elysium und Hades] am westlichen oder östlichen Ende der Erde, meist jenseits des Ozeans, liegt." (RADERMACHER, Das Jenseits im Mythos der Hellenen, 72).

150

Ludwig Radermacher

geographischen Verortungen seien dagegen späteren Hinzufiigungen zuzuschreiben, die mit den ursprünglichen Motiven verwoben wurden. Methodisch schließt RADERMACHER auch hier wieder an USENER und DIETERICH an: So wie USENER und DIETERICH erzählerische oder dramatische Prozesse sezieren, um die Kontinuität (nicht etwa gestalterischer Ausdrucksformen, sondern) grundlegender Strukturelemente zu zeigen, so bezieht auch RADERMACHER das Prinzip der Kontinuität nur auf den Motivier«, nicht aber auf ganze Erzählungen. Dennoch gibt es einen entscheidenden Unterschied: Den Volksglauben hält er nicht ausschließlich für das ,sur-' oder ,revival' einer früheren Zeitstufe, sondern für stets und überall generierbar. Die Kontinuität liegt demnach nicht nur im Fortbestand archivierter, d.h. unoder umbesetzter Elemente, sondern auch im ständigen durch bewußte Schaffensprozesse vorgenommenen Rekurs, durch den bestimmte essentielle Motive immer wieder aufgenommen werden, sowie in der erneuten Produktion fixer Glaubensinhalte und Motive.

Glaube und Poetologie Mythos versteht RADERMACHER zunächst als mythische Erzählung. Da sein Erscheinen an Handlung, nicht an Begriffe gebunden ist, kann im Sinne einer entwicklungsgeschichtlichen Analyse zwischen Begriffsbildung und erzähltem Prozeß also kein Einschnitt postuliert werden: Mythische Erzählung ist nicht - wie von USENER angenommen - die auf eine ,Begriffsbildung' folgende, spätere Stufe, sondern das, als was Mythos ausschließlich erscheinen kann: dargestellte Handlung.66 Die Absage, die RADERMACHER an das von USENER formulierte ,Dreistufenmodell' und an das Postulat einer zum Mythos (als Götternamen verstanden) fuhrenden sukzessiven Generierung von Augenblicksgöttern, Sondergöttern und persönlichen Göttern, bedeutet gleichwohl keine grundsätzliche Ablehnung des Entwicklungsgedankens und schon gar 66

Vgl. auch RADERMACHER, Die Erzählungen der Odyssee, 35: „Die Frage ist jedenfalls stets dahin zu stellen, was ein Motiv [sc.: eines Mythos, eines Märchens, einer Sage usw.] innerhalb der Dichtung will, und wenn sich zeigt, daß es im Rahmen des Gesamtwerkes einen Zweck erfüllt, so dürfte es damit in der Regel auch genügend erklärt sein und nicht nach weiterer Deutung verlangen. Die Sache läge vielleicht anders, wenn wir beweisen könnten, daß das betreffende Motiv mit der Persönlichkeit innig und individuell zusammenhängt und ihr Wesen tatsächlich mitbestimmt: das Weben das Wesen der Penelope, die wunderbare Reise das Wesen des Odysseus. Dann könnten wir aus der Handlung der Person mit größerer Zuversicht einen Schluß auf ihren ursprünglichen, nunmehr verborgenen Charakter ziehen. Wo dergleichen nicht möglich oder nicht wahrscheinlich ist, tun wir wohl am besten, das Motiv zunächst rein als solches zu nehmen und seine Qualität nach seiner Stellung innerhalb des Kunstwerks und nach dem Vergleich mit Verwandtem zu beurteilen."

Glaube und Poetologie

151

nicht eine Absage an das Bedürfnis, das Verhältnis von Mythos und .Vorstellungen' - in R A D E R M A C H E R S Terminologie: ,Glauben' 67 - irgendwie aufzuklären. Jedenfalls hat die im Jenseits formulierte Unmöglichkeit, in diesen Belangen Aufklärung zu schaffen, nicht dazu geführt, ausgehend von den Stoffen, wie sie in literarischen Texten verarbeitet wurden, auf .uralte Vorstellungen' zu schließen oder jene gar selbst als solche zu bezeichnen. Dennoch gibt es einen grundsätzlichen Unterschied zu U S E N E R , insofern nämlich, als R A D E R M A C H E R den Entwicklungsgedanken nicht auf die Vorstellungen bezieht, als deren Abschluß die religiösen Begriffe/ Götternamen zu gelten haben, sondern auf einzelne, erzählte Mythen, die er als Ausdruck jeweils verschiedenstufiger Glaubensinhalte und Vorstellungen versteht. Mythos bedeutet demnach nicht das Ende eines einmaligen Prozesses, sondern immer wieder neu geschaffenes Produkt. Die Produktion unterliegt dabei in einem ersten Schaffensprozeß lebendigem Volksglauben, in einem zweiten dem Dichter (ob nun namentlich genannt oder nicht) als Einzelperson und schöpferischem Subjekt. Dies bedeutet, daß eine Entwicklung zum einen in der Veränderung des ,Glaubens', und zwar parallel zur Entwicklung und Neugestaltung mythischer Erzählungen, zum anderen in einer zunehmend von Individuen beherrschten Produktion gesehen wird, die schließlich im subjektiv gestalteten und literarisch durchkomponierten, d.h. sich verschiedener Stoffe, darunter Mythen, Märchen und Sagen bedienenden Mythos kulminiert. Scheinbare Ungereimtheiten innerhalb der in der Literatur nachweisbaren Mythen sind demnach in zweierlei Hinsicht begründbar. Sie sind grundsätzlich entweder innerhalb eines vom Autor bewußt inszenierten .poetischen Zwecks' 68 zu beurteilen oder aber das Ergebnis einer Koexistenz von Glaubensvorstellungen zeitlich unterschiedlicher ,Stufen'. Ein Beispiel mag das näher erläutern: In den Vorüberlegungen zum eingangs erwähnten Kommentar zum homerischen Hermeshymnus führt R A D E R M A C H E R eine Szene aus dem 24. Buch der Odyssee an, „wo Athene im Glänze ihrer Göttlichkeit dem Odysseus erscheint, während Telemachos, der neben seinem Vater steht, die Göttin gar nicht wahrnimmt". 69 Die Deutung, die R A D E R M A C H E R zu dieser Episode vorlegt, zeigt, daß er selbst die Inszenierung mythischen Geschehens weniger 67

69

Der Begriff .Mythos' wird im folgenden, wenn nicht anders verzeichnet, in dem von RADERMACHER formulierten Sinn gebraucht. RADERMACHER, Der homerische Hermeshymnus, 11. Horn. Od. 24, 367ff. RADERMACHERs im homerischen Hermeshymnus gegebene Nacherzählung der Passage ist hier als Zitat wiedergegeben, da Athene genaugenommen nicht selbst in „göttlichem Glanz" erscheint, sondern vielmehr dem Laertes ein den Göttern ähnliches Aussehen verleiht, das Odysseus (Horn. Od. 2 4 , 373f.) mit den Worten kommentiert: ,,ώ πάτερ, ή μάλα τίς σε θεών αίειγενεχάωνΙ ειδός τε μέγεθος τ e άμείνονα θήκεν χδέσθαι", während sich Telemach darüber in Schweigen hüllt. Da es hier jedoch allein um'RADERMACHERs Methode geht, ist allein wichtig, wie er die Passage liest und und vor allem, was er daraus zu gewinnen sucht.

152

Ludwig Radermacher

in den Notwendigkeiten der Komposition als in der Tradition verschiedener Glaubensinhalte verortet. „Da hat denn ein Inteipret[70], der Kritik widersprechend, die eine Fuge wahrnahm, sich bei der Meinung beruhigt, daß Homer um seines poetischen Zwecks willen nicht anders handeln konnte, weil Telemach von den Absichten Athenes noch nichts wissen durfte, sonst wäre die Ökonomie der Handlung gestört worden. Aber auch um eines poetischen Zwecks willen darf ein Dichter nichts Widersinniges tun. Wenn er sagt, daß sich die Gottheit nicht jedermann zeige, so hat er damit ausgedrückt, was damals die Meinung aller gläubigen Seelen d.h. der allgemeinsten war ... Prinzipiell ist abzulehnen, daß Äußerungen antiker Dichter, die nichts weiter als eine größere Naivität in Anschauung der Natur, der göttlichen und menschlichen Dinge verraten, vom Standpunkt unserer vertieften Erkenntnis herhalten müssen, um einen kritischen Eingriff zu begründen. Vielmehr wird man sich in jedem Falle die Frage vorzulegen haben, ob nicht das, was sich im Fortschritt der Zeit als undenkbar oder unmöglich erwies, trotzdem für eine ältere Stufe zu glauben selbstverständlich war."71

Erst für eine spätere Zeit, so für Tragödie und Komödie, gewinnt die bewußte Konzeption poetischer Bilder und ihre erzähltechnisch funktionalisierte Integration in den Mythos gegenüber bloßer Tradition zuweilen72 Priorität, wenn auch hier niemals ausgeschlossen werden kann, daß der Dichter lediglich auf ein gattungsfremdes Motiv rekurriert hat, ohne es wirklich funktional einzubinden.73 In der Tat erlaubt die komplizierte Verwebung, Schichtung und Vernetzung verschiedener Motive zu einem Text nur bedingt eine Analyse, der es tatsächlich gelingt, einzelne Bestandteile oder Bilder als entweder Kontinuität oder Neuentwurf zu qualifizieren bzw. die Gewichtung beider Anteile zuverlässig zu bestimmen. Es ist RADERMACHER denn auch entgegenzuhalten, daß sein Versuch einer motivgeschichtlichen Analyse zuweilen in zu hohem Maße die Bindung eines Bildes an einen ,im Volk lebendigen Glauben' betont und darüber die poetologische Funktion vernachlässigt. Sein Vorhaben geht nicht so weit, die Kontextualisierung eines bestimmten, einer , älteren Stufe des Glaubens' entnommenen Motivs in einen bestimmten (späteren) Text zu deuten. Vielmehr changiert es zwischen der Bestimmung des Stoffs einerseits und der des textimmanenten Bedeutungsgehalts andererseits, ohne daß der Eingliederungsprozeß und die Bedeutung dieses Vorgangs für den Text geklärt wird.

70

71 72

Hier bezieht sich RADERMACHER auf C. ROTHE, Der augenblickliche Stand der homerischen Frage, Berlin 1912, 21: ,,[D]er Dichter brauchte einen nicht sehenden Telemachos." RADERMACHER, Der homerische Hermeshymnus, 11 f. Eine solche Priorität gilt eben nicht immer, vgl. z.B. RADERMACHER, Aristophanes' Frösche. Einleitung, Text und Kommentar, Sitzungsberichte der Akad. der Wiss. in Wien, phil.-hist. Klasse, Bd. 198, 4. Abhdlg. (vorgelegt am 27. April 1921), Wien 1921, 175ff.; DERS., Nachbarn, in: Beiträge zur Volkskunde aus dem Gebiet der Antike, Wien 1918, 3-17. Hier ist bereits der Titel der Aufsatzsammlung programmatisch. RADERMACHER, Der homerische Hermeshymnus, lOf. So ist beispielsweise, vgl. ebd., 12, nicht zu entscheiden, ob das Bild von Helios, „den die schillernde Nacht sterbend gebiert und abends im Feuer bestattet" (Soph. Trach. 94ff.) eine Erfindung des Sophokles oder ein altes Märchenmotiv ist.

Glaube und Poetologie

153

Dieses Defizit erstreckt sich auch auf die Untersuchung deijenigen Texte, deren Urheberschaft nicht auf eine feststehende, individuelle Dichterpersönlichkeit zurückgeführt werden kann. Denn auch hier müßte, wenn auch in einem anderen Ausmaß als in der von Einzelpersönlichkeiten .durchkomponierten' Dichtung, davon ausgegangen werden, daß ein Motiv die Übernahme in eine entstehungsfremde Gattung nicht ,unbeschadet' überlebt, sondern eine Verschiebung seines ursprünglichen Bedeutungsgehalts erfahrt. So hat Max LÜTHI in zahlreichen Abhandlungen und an mannigfachen Beispielen demonstriert, daß ein und dasselbe Motiv in Sage, Mythos, Legende, Märchen oder Schwank jeweils eine andere Funktion haben kann. Anders ausgedrückt: Der Bedeutungsgehalt eines jeden Motivs wird durch den Erzählra/zmen, in dem es auftaucht, reglementiert. Es erscheint demnach grundsätzlich problematisch, die einzelnen Gattungen, wie bei RADERMACHER geschehen, ausschließlich entweder nach formalen oder inhaltlichen Kriterien zu differenzieren. Vielmehr scheint es für die Bedeutung der einzelnen (gattungsspezifischen) Motive entscheidend, innerhalb welcher formalen Struktur ihr Inhalt erzählt wird. Man vermißt also - zumal angesichts der Tatsache, daß RADERMACHER stets, d.h. auch bei der Volkspoesie von einem (wenn auch anonymen) Dichter ausgeht - den Hinweis auf gelegentliches Spiel oder gar Bruch mit der Gattungstradition und entsprechende Deutung von Motiwerwendungen unter Berücksichtigung poetischer Intentionen oder Notwendigkeiten. Gegen RADERMACHER ist damit, soweit den Umgang mit der Volkspoesie betreffend, ein ganz ähnlicher Vorwurf zu erheben wie ihn schon sein Lehrer USENER sich hatte gefallen lassen müssen. Denn was fiir den Mythos gilt, daß er eben nie bloßes Begriffssystem, sondern immer schon Prozeß und Handlung ist, gilt in ähnlicher Weise auch für jedes Motiv: Beides ist aus seinem Zusammenhang niemals herauszubrechen.74 So wie USENER verkannt hatte, daß der Göttername nur in seiner Kontextualisierung innerhalb einer Erzählung zu lesen ist, so scheint RADERMACHER zu übersehen, daß sich ein Motiv ohne den Ort seiner Verwendung - oder mehr noch: ohne Berücksichtigung des Übergangsprozesses von einem Kontext in einen anderen nicht in seiner ganzen Bandbreite verstehen läßt, und zwar selbst dann, wenn sein Auftauchen nicht in der Verantwortung einer bewußt komponierenden Dichterpersönlichkeit steht.75 Die Skelettierung des Prozessualen, auf deren

L. RÖHRICH, Max Lüthi - Ein europäischer Märchenforscher, in: Märchen und Märchenforschung in Europa, hrsg. von D. Roth/ W. Kahn, Frankfurt a.M. 1993, 21. Zwar finden sich gelegentliche Hinweise auf dieses Problem, vgl. RADERMACHER, Die Erzählungen der Odyssee, 49: ,,[W]ir wissen nicht, wie weit die ordnende Hand des Dichters ursprünglich Zusammenhängendes verschoben und in neue Verbindung gebracht haben könnte", doch trifft dies noch nicht den Kern der Sache, da wohl nicht erst „die ordnende Hand des Dichters", sondern bereits der strukturgebende Rahmen als solcher auf die Gestaltung eines Motivs Einfluß nimmt.

154

Ludwig Radermacher

Grundlage USENERs strukturanalytisches Vorgehen beruhte, ist insofern auch ein Wesenszug von RADERMACHERS Ansatz. Eine Beschreibung von RADERMACHERs Arbeiten als Erzählforschung, die Bestimmung seines Interesses als eines literaturwissenschaftlichen, erscheint daher nur bedingt angemessen. Im Bereich der Mythen- und Legendenforschung handelt es sich jedenfalls zunächst um eine Form der Quellenforschung, als deren Hauptanliegen das Aufzeigen der Kontinuität und Persistenz bestimmter Motive gelten darf. Die Beschäftigung mit Volkspoesie und Volksglauben erhält von dort her ihren Sinn, und zwar einen Sinn, der sich durch das Postulat einer eindimensional verlaufenden Relation bestimmt: Der Glaube ist es, der die Erzählungen schafft - nicht umgekehrt. Mit einem solchen Postulat scheint RADERMACHER nicht nur die potentielle Wirkung zu verkennen, die eine volkstümliche Erzählung wiederum auf den Glauben auszuüben vermag. Es bleibt darüber hinaus unklar, wo genau er die Grenze zwischen volkstümlicher und literarischer Erzählung ziehen will (wo beginnt ,Literatur'?) und in welchen Wirkungszusammenhang er diese beiden Formen stellt. Der Versuch, volkstümliche Motive aus ihrem poetischen Kontext und damit aus ihrem strukturgebenden Erzählrahmen herauszulösen, suggeriert jedenfalls die fehlende oder nur geringe Einflußnahme literarischer' Texte auf die Volkspoesie, ganz zu schweigen von den Auswirkungen, die die Volkspoesie wiederum auf den Volksglauben ausübt. Zwar hatte RADERMACHER in der oben angegebenen Passage aus dem Jenseits eingeräumt, dass es unmöglich ist, ausgehend vom Mythos als „Construction einer inneren Geschlossenheit" auf den Glauben zu schließen, doch bezieht er sich hier vor allem auf die vergilischen oder gar platonischen S y then', nicht auf die Stufe des Mythos, deren Stoff angeblich auf den Glauben schließen läßt. Die Wechselwirkungen zwischen Glauben, Mythen und literarischer Konstruktion sind jedenfalls weitaus vielfältiger als dies RADERMACHERs Arbeitsweise vermuten läßt. Dabei sei allerdings eingeräumt, daß a) RADERMACHER sich dieser Wechselwirkungen in der Theorie jedenfalls bewußt ist,76 daß b) eine präzise Analyse kaum durchführbar wäre und c) RADERMACHER sich durchaus von einem religionswissenschaftlichen Ansatz, theoretisch, distanziert - oder anders gesagt: RADERMACHER hat sich niemals im eigentlichen Sinne als ,Religionswissenschaftler' verstanden. Sein Ausgangsanliegen war vielmehr immer die Analyse von Text und einzelnen Textschichten, im Sinne von Textbausteinen und Stoffen, geblieben. Erst von dort hat er den Blick auf den Glauben geworfen. 76

Vgl. RADERMACHER, Die Erzählungen der Odyssee, 14: „Eines ist sicher, nämlich daß die Polyphemerzählung der Odyssee als solche vom Volke aufgenommen, verbreitet und auch variiert worden ist, und so hätten wir, wenn wir der oben bezeichneten Hypothese folgen, den ziemlich komplizierten Vorgang anzunehmen, daß die Geschichte der Odyssee einesteils aus dem .Märchen' flöß und andemteils das .Märchen' wieder beeinflußte."

„Von der mythisch-fiirchtenden zur wissenschaftlich-errechnenden Orientierung des Menschen sich selbst und dem Kosmos gegenüber" Zu Aby Warburg Bei der Lektüre der von dem Kunstwissenschaftler Aby WARBURG (18661929) im Jahre 1920 der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vorgelegten Abhandlung Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten macht der Leser auf der letzten Seite eine Entdeckung, die ihn spätestens nach einem zweiten Lektüredurchgang nicht weiter verwundert, die er aber bei einem Autor, der in der Forschung vornehmlich als „bedeutender Kunsthistoriker,... als Begründer der ikonographisch-ikonologischen Methode [und] ... als Vorläufer der neuerdings immer stärker ins Bewußtsein rückenden Vertreter einer detaillierten, undoktrinär sozialgeschichtlichen .micro history'1 firmiert, nicht unbedingt erwartet hätte. Er liest dort: „Die Unzulänglichkeiten dieses Versuches [sc. der Abhandlung Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten] kannte der Verfasser [sc. Aby Warburg] selbst nur zu genau. Aber er meinte, daß das Andenken Useners und Dieterichs von uns fordert, dem Problem, das uns kommandiert (wie den Verfasser die Frage nach dem Einfluß der Antike) auch dann zu gehorchen, wenn es uns in Gebiete schickt, die noch nicht urbar gemacht sind. Mögen sich Kunstgeschichte und Religionswissenschaft, zwischen denen noch phraseologisch überwuchertes Ödland liegt, in klaren und gelehrten Köpfen, denen mehr zu leisten vergönnt sein möge, als dem Verfasser, im Laboratorium k u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e r B i l d g e s c h i c h t e an einem gemeinsamen Arbeitstisch zusammenfinden."2

Dem schon im Vokabular des Titels vorweggenommenen und im Schlußwort schließlich deutlich annoncierten Programm einer sowohl in horizontaler (Wort/ Bild) als auch vertikaler (Antike/ Reformation) Achse interdisziplinär angelegten Kulturwissenschaft steht ein Text gegenüber, der vor scheinbar unbedeutenden Details gerade am längsten verweilt und den Leser in die R. KANY, Die religionswissenschaftliche Forschung an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, Bamberg 1989, 8. A. WARBURG, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Philosophisch-historische Klasse, eingegangen am 25. Oktober 1919, 26. Abhandlung, Heidelberg 1920), in: DERS., Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hrsg. von D. Wuttke, Baden-Baden 1923 (im folgenden: ASW), 199-304. 268.

156

Aby Warburg

abgelegensten Winkel der Reformationszeit zu führen scheint. Ausgehend von einem bislang unbekannten Brief Philipp MELANCHTHONs an den Philosophen und „in astropolitischen Dingen sachverständigen Magus" Johann CARION (datiert vom 17. August 1531) und anhand einer unermeßlichen Reihe „ästhetisch nicht anziehender" „Kuriosa" aus der Buch- und Bilddruckkunst, ,,Gebilde[n] aus der halbdunklen Region geistespolitischer Tendenzliteratur",3 entwirft WARBURG nicht nur ein Bild der Reformation, sondern versucht neben dem Blick auf eine Epoche auch den Nachweis der Kontinuität antikpaganen Prodigienglaubens. In MELANCHTHON, dessen „quälende Sorge um die Erhaltung des Friedens [sc. zwischen dem Schmalkaldischen Bund und Karl V.] ... bei ihm einen akuten Anfall seiner kosmologischen Wundergläubigkeit" hervorruft,4 entdeckt WARBURG neben dem Humanisten und Theologen den astropolitischen Journalisten. Dem von seinem Sternenglauben durch und durch beseelten MELANCHTHON, dessen Astrologiegläubigkeit so weit ging, daß er die von dem italienischen Astrologen Lucas GAURICUS durchgeführte ,Rektifizierung' von LUTHERs Nativität (d.h. dessen Geburtskonstellation) ohne weiteres billigte, steht der Reformator selbst gegenüber, der sich gegen die willkürliche Einführung eines zweiten, heidnischastrologischen Geburtstags - statt auf das kalendarisch-historische Datum (10. November 1483) stützt GAURICUS die Nativität LUTHERs, nicht ohne astropolitische Folgen, auf den 22. Oktober 1484 - , und, damit verbunden: eines zweiten Geburtstagsschirmherrn - neben den deutsch-christlichen Hl. Martin tritt ein Paar heidnischer Planetendämonen, Saturn und Juppiter aufs heftigste verwehrte. Mit LUTHER findet sich in der tiefen Ablehnung von Astrologie und Nativitätsschriftstellerei und seiner strikten Absage an deren Anspruch auf die dämonische Übermenschlichkeit der Gestirne ein Repräsentant einer sich freilich noch in den Anfängen befindenden ,,innere[n] intellektuellefn] und religiöse[n] Befreiung des modernen Menschen".5 WARBURG geht es jedoch nicht um die Darstellung eines Konflikts zweier großer Männer. Der kirchenpolitisch feindselige astrologische Eingriff in der Geburtstagsfrage, dem, wie WARBURG (S. 214ff.) an zahlreichen Briefstellen nachweist, eine regelrechte Diskussion in der Gelehrtenwelt vorausging, bedeutet 3 4

5

WARBURG, Heidnisch-antike Weissagung, 201. Ebd., 207; vgl. auch den ebd., 204-206, zitierten Brief: „Ich werde nämlich nicht allein durch a s t r o l o g i s c h e V o r a u s s a g e n beeindruckt, sondern auch durch Weissagungen ... Haßfurt sagte auch dem Landgrafen die größten Siege voraus und ein Bürger von Schmalkalden ... hatte ein Wundergesicht über diese (politischen) Unruhen, eine Weissagung, auf die ich den größten Wert lege. Sie enthält die Voraussage auf eine glimpflich verlaufende Katastrophe, deutet aber doch an, daß unsere Gegner ... jenem Löwen [dem hessischen Landgrafen] weichen. Ein Weib in Kitzingen hat Schreckliches über Ferdinand vorausgesagt. Er werde Krieg gegen uns führen, der für ihn aber unglücklich verlaufen werde. In Belgien hat eine Jungfrau dem Kaiser auch geweissagt, was ich aber noch nicht genügend nachgeprüft habe." (ebd., 206). Ebd., 261.

Aby Warburg

157

vielmehr neben einem medienpolitischen Ereignis - neben dem Buchdruck trug nunmehr auch die international verständliche Sprache der Bilderdruckkunst zu einer umfangreichen Verbreitung von kosmologischen Sensationen bei - ein zähes Festhalten an heidnisch-astrologischer Praxis, das Überleben der „dämonischen Seite" paganer Kultur, und mehr noch: deren außerordentliche politische Bedeutung. Wiewohl LUTHER seine Abneigung gegen die astrologische Dämonenfurcht aufs deutlichste artikuliert - „Es ist ein dreck mit irer kunst" 6 urteilt der Reformator zusammenfassend und verärgert über die Einmischungsversuche der „heilosen und schebichten Astrologie"7 - zeigt auch er sich, nicht zuletzt von deren weiträumigen Folgen überwältigt, letztlich nicht ganz frei von antiker Dämonenfurcht.8 LUTHERs spezifischer Fall - gegen seine zweite Nativität zu opponieren, bedeutete ja für ihn konkret, gegen die (in der Reformationszeit geradezu im Mittelpunkt des Sternenglaubens stehende) Saturnfiirchtigkeit angehen zu müssen - fuhrt WARBURG denn auch zu seinem eigentlichen Ziel: einer Geschichte der Astrologie (hier: am Beispiel der Bedeutung des Saturn) und ihrer Kontinuität auf der „Wanderstraße vom Hellenismus her über Arabien, Spanien und Italien nach Deutschland" bis zu ihrer am Fall Martin LUTHERs demonstrierten Position als „stillschweigend geduldetes Nebenregiment" der christlichen Kirche9 und, damit in engem Zusammenhang stehend, der Polarität von Logik und Magie, einem Problem, das WARBURGs Arbeiten gleichsam wie ein Ariadnefaden durchzieht und in dessen Zusammenhang WARBURG den (mittlerweile zum Schlagwort avancierten) Begriff des ,Denkraums' einführt: In der Astrologie, in der sich „zwei ganz heterogene Geistesmächte zusammengetan" haben: „Mathematik, das feinste Werkzeug abstrahierender Denkkraft" und „Dämonenfurcht, ... die primitivste Form religiöser Verursachung",10 vereinigen sich „Logik, die den Denkraum - zwischen Mensch und Objekt - durch begrifflich sondernde Bezeichnung schafft und Magie, die eben diesen Denkraum durch abergläubisch zusammenziehende - ideelle oder praktische - Verknüpfung von Mensch und Objekt wieder zerstört."11 In der Astrologie zeigt sich, nicht zuletzt, indem es ihr gelingt, „unter dem Deckmantel der Gelehrsamkeit" aufzutreten, das polare Spannungsverhältnis von Magie und Logik: Der Astrologe kann „messen" und „zaubern". Die Astrologie ist gewissermaßen ein ,Dazwischen'. Gerade die Tatsache, daß sie entwicklungsgeschichtlich nicht determiniert ist, begründet wiederum ihre kulturwissenschaftliche Bedeutung: „Die Epoche,

6

7

8 9 10 11

M. LUTHER, Tischreden, in: DERS., Kritische Gesamtausgabe, 6 Bde., Weimar 19121921, 3. Abt.: Tischreden 1531-1546, hrsg. von. E. Kroker/ O. Brenner, Bd. 4, 613. Von WARBURG, Heidnisch-antike Weissagung, 214, zitiert nach: Luthers Tischreden d. Math. Sammlung, hrsg. von E. Kroker, Leipzig 1903, 177, Mathesius Nr. 292. WARBURG, Heidnisch-antike Weissagung, 261. Ebd., 202. Ebd., 221. Ebd., 203f.

158

Aby Warburg

wo Logik und Magie, wie Tropus und Metapher (nach den Worten Jean Pauls) ,auf einem Stamme geimpfet blühten', ist eigentlich zeitlos, und in der kulturwissenschaftlichen Darstellung solcher Polarität liegen bisher ungehobene Erkenntniswerte zu einer vertieften positiven Kritik einer Geschichtsschreibung, deren Entwicklungslehre rein zeitbegrifflich bedingt ist."12 Beide Themen: die Genese und Konstanz magischer Praxis, wie auch deren Verhältnis zu entwicklungsgeschichtlich höheren Denkformen waren zentrale Forschungsobjekte innerhalb der Diskussion der,Religionswissenschaftlichen Schule', auf deren exponiertesten Vertreter, USENER und DIETERICH, WARBURG am Ende seines Aufsatzes hinweist. Das Programm der religionswissenschaftlichen Schule bedeutete innerhalb der Philologie eine Art Befreiungsschlag gegen die ästhetisch orientierte Textbetrachtung und leitete mit der bedingungslosen Einbeziehung geistesgeschichtlich für bedeutsam erachteter paganer Primitivismen einen Perspektivenwechsel ein, der ihr in der späteren Forschung zuweilen (allerdings zu Unrecht) das Etikett einer auf die ,Nobilitierung des Aberglaubens'13 ausgerichteten ,Schule' eingebracht hat, in der Tat aber einem kulturwissenschaftlichen Impetus verpflichtet war: Im Vordergrund stand die Entgrenzung bzw. Neustrukturierung von Einzelwissenschaften mit dem Ziel, das philologische Instrumentarium in einem höheren Sinne zu nutzen und fruchtbar zu machen. Eines ihrer großen Themen war die Entstehung von Religion und das Weiterleben ihrer frühen sprachlichen und dramatisch-rituellen Ausdrucksformen an der Seite bzw. innerhalb neuer Deutungssysteme, sei es im Volksglauben, im Christentum oder in der sogenannten ,hohen' Literatur. Vor allem in den Forschungsarbeiten Albrecht DlETERICHs figurierte das auf vielfachen Ebenen greifbare magische Denken und Handeln als eine Ausdrucksform, die selbst, nachdem die ihr zugrunde liegenden, genuin wirksamen Vorstellungen durch entwicklungsgeschichtlich höhere Denkformen eingeholt sind, als um- oder unbesetztes Relikt weiterlebt und damit zu einem Medium geistesgeschichtlicher Forschung avanciert. Als Archeget der ,Religionswissenschaftlichen Schule' hatte sich zunächst USENER von den Methoden einer ,deskriptiven Mythologie' abgewandt, um an Stelle einzelner Götterbiographien und ,,eine[r] Geschichte der Göttergestalten, ihres allmählichen Hervortretens" und „ihrer Sonderentwicklung bei den einzelnen Völkern"14 eine Geschichte der Vorstellungen zu schreiben15 und auf dieser Basis zu den Gesetzmäßigkeiten', „nach denen die einzelnen Lebensäußerungen der Völker sich entwickeln und gegenseitig bedingen", bis

12 13 14

15

Ebd., 203. S. dazu oben S. 99. H. USENER, Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Bonn 1896, V. Vgl. H. USENER, Götternamen, V.

Begriffsbildung,

Aby Warburg

159

„zur Erkenntnis der menschlichen Natur selbst"16 vorzudringen. USENER reklamierte damit nicht nur einen seit J. St. MILL diskutierten und vor dem Hintergrund einer um das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaft geführten Debatte17 zu betrachtenden Anspruch, demzufolge es auch in den Geisteswissenschaften darauf ankomme, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen.18 Mit seiner Lehre von der religiösen Begriffsbildung versuchte er auch, eine Methode zu etablieren, die es erlauben sollte, anhand mikroskopischer Relikte die Geschichte des Geistes und seiner psychischen Entwicklung zu rekonstruieren und das Fortwirken der auf die jeweiligen Phasen zurückgehenden Strukturelemente weit über die Antike hinaus als das Ergebnis von Konstanz bzw. von Inkorporation und Rekontextualisierung nachzuweisen. Während das konkrete Modell einer in der Religionsentstehung sich manifestierenden psychischen Entwicklung, der zufolge die Vorstellungen des Menschen aus Angst vor inneren und äußeren Eindrücken der Natur zunächst Augenblicksgötter, später in einem Abstraktionsprozeß Sondergötter und erst in einem dritten und letzten Schritt persönliche Götter (und hernach den narrativen Mythos) hervorgebracht hätten, einem (auch im wörtlichen Sinne) logozentrischen Religionsbild verhaftet war, das in der Rezeption als weitgehend problematisch empfunden wurde, legte das Verfahren der Strukturanalyse, grundsätzlich ein Potential frei, das gerade für WARBURG von besonderem Interesse werden sollte: USENERs Arbeit war eine Arbeit am Detail - mit dem philologischen Instrumentarium der Wortanalyse gerüstet, versuchte er, die innerhalb der Fülle an Götternamen thesaurierten frühen Entwicklungssprozesse zu dechiffrieren - , und USENER ließ es sich nicht nehmen, die Kontinuität früher Ausdrucksformen, sei es im Christentum, in der hohen Literatur (darin folgte ihm vor allem Ludwig RADERMACHER) oder im Volksglauben - auf diesem Gebiet trieben vor allem Albrecht DIETERICH und seine Schüler die Forschung voran - ohne Rücksicht auf ästhetische Ansprüche zu analysieren. Dem ästhetisch Bedeutungslosen Bedeutung zukommen zu lassen und es nachgerade zum Ausgangspunkt einer Kritik an der Abgrenzung entwicklungsgeschichtlicher .Epochen' zu machen, war innerhalb der ,Religionswissenschaftlichen Schule' zu einem etablierten Verfahren avanciert -dergängigen Anschauung in den Kunstwissenschaften entsprach es nicht.19 Die Tatsache, daß WARBURG selbst den Einfluß der Religionswissenschaft' offen ausspricht - „Aus dem Kuriosum den geistesgeschichtlichen Erkenntniswert herauszuholen, liegt ... Religionswissenschaftlern von vornherein näher als der Kunstgeschichte"20 - und sich nicht zuletzt im Schlußwort eines

17 18

" 20

H. USENER, Philologie und Geschichtswissenschaft (1882), in: DERS., Vorträge und Aufsätze, hrsg. von A. Dieterich, Leipzig/ Berlin 1907, 1-35. 13. Vgl. H. von HELMHOLTZ, Vorträge und Reden I, Braunschweig 1896. Zu J. St. MILL und W. DILTHEY s. oben S. 1 If. Vgl. D. WUTTK.E, Aby Warburg und seine Bibliothek, Arcadia 1, 1966, 319-333. 322. WARBURG, Heidnisch-antike Weissagung, 201.

160

Aby Warburg

seiner bedeutendsten Aufsätze in USENERs und DlETERICHs Tradition stellt, legt es nahe, will man die Worte nicht als reine Höflichkeit gegenüber dem Heidelberger Ordinarius deuten, hier einen der Anstöße für seine Methode zu suchen.

Warburgs Begegnung mit der,Religionswissenschaftlichen Schule '. Biographische Bemerkungen Im Oktober 1886 war WARBURG als Student der Kunstwissenschaften und Archäologie nach Bonn gegangen. Dort hörte er neben dem Kunstgeschichtler Carl JUSTI, dem Archäologen Reinhard KEKULÉ VON STRADONITZ, dem Historiker Karl LAMPRECHT auch Hermann USENER. Bei USENER 2 1 besuchte er 1886/1887 die Vorlesung über Mythologie, eine der wichtigen Vorstudien zu den 1896 publizierten Götternamen, gewissermaßen das theoretische Fundament der Lehre von der religiösen Begriffsbildung.22 Nach Aufenthalten in München und Florenz und wiederum in Bonn geht WARBURG nach Straßburg, wo er mit Hubert JANITSCHEK einen sozialpsychologisch orientierten Kunsthistoriker hört, der Kunstgeschichte als „Ausschnitt aus der Geschichtskenntnis eines Volkes" versteht und der der Ästhetik als einer „den Königsweg zur Erkenntnis des Kunstwerks öffhende[n] Disziplin" eine deutliche Absage erteilt.23 jANITSCHEKs Ansatz ging in eine Richtung, mit deren Orientierung WARBURG schon im Bereich der Geschichtswissenschaften durch seinen Bonner Lehrer Karl LAMPRECHT konfrontiert worden war. LAMPRECHT hatte, ähnlich wie USENER, gegen die Vereinzelung der Geisteswissenschaften protestiert und demgegenüber eine interdisziplinäre Neuorientierung gefordert.24 Im Zusammenhang mit einer universalgeschichtlich aufgefaßten Kulturgeschichte, die auf der Basis eines syn- und diachron ausgerichteten Vergleichs danach strebte, Gesetzmäßigkeiten' zu erforschen, stand auch die Absicht, Kunstwerke sozialpsychologisch zu deuten. Der Idee wiederum, ein Ausdrucksphänomen als psychologisches Problem aufzufassen, war WARBURG vor allem durch USENERs Umgang mit dem Mythos begegnet.

22

23

Für Franz BÜCHELER, das zweite gewichtige Standbein der Bonner Philologie, scheint sich WARBURG, obwohl er dessen Vorlesungen besuchte, weniger interessiert zu haben. Dagegen hat der Philosoph Theodor LIPPS mit seinem Versuch, die empirische Methode in die Geisteswissenschaften zu integrieren, auf WARBURG offensichtlich Eindruck gemacht. Vgl. dazu B. ROECK, Der junge Aby Warburg, München 1975, 43. WARBURGs Mitschrift dieser Vorlesung ist aufbewahrt im Kollegbuch im Warburg Institute, London. Sie umfaßt die Wochen zwischen dem 28. 10. 1886 und dem 10. 12. 1886. Zu USENERs Vorlesung Mythologie s. oben, S. 80. B. ROECK, Der junge Aby Warburg, 68. H. SCHLEIER, Karl Lamprechts Universalgeschichtskonzeption, in: Karl Lamprecht weiterdenken, hrsg. von G. Diesner, Leipzig 1993, 145.

Warburgs Begegnung mit der ,Religionswissenschaftlichen Schule'

161

Der Anspruch einer auf kulturwissenschaftliche Interessen ausgerichteten Geisteswissenschaft trat WARBURG hiermit, in JANITSCHEK, LAMPRECHT und USENER, dreifach entgegen. Nicht zuletzt hat auch die von Jacob BURCKHARDT angestrebte Verschmelzung von Kunst- und Kulturgeschichte zu dem großen Ziel einer synthetischen Kulturgeschichte beigetragen.25 Auch der Einfluß Franz BOLLs, der 1908 in Heidelberg den Lehrstuhl Albrecht DlETERICHs übernahm und in dessen Forschungen die Astrologie als Thema eine zentrale Rolle spielte, ist nicht zu unterschätzen.26 Merkwürdigerweise wurde WARBURG in der Klassischen Philologie lange Zeit nur vereinzelt und auch dann nur ohne größere Konsequenzen für das Fach selbst wahrgenommen.27 Noch Mitte der 70-er Jahre kann der in Göttingen lehrende Germanist Dieter WUTTKE - Herausgeber der Ausgewählten Schriften und Würdigungen und einer der um WARBURG verdienstvollsten Forscher - bei einem in Hamburg vor deutschen Kunsthistorikern gehaltenen Vortrag zu Recht beklagen, daß „der neue Aufbruch in Richtung Kulturwissenschaft und Rezeptionsforschung innerhalb der Klassischen Philologie" vollzogen wird, „als hätte es Warburg nie gegeben."28 Dies erstaunt, zumal eine ganze Reihe Klassischer Philologen die vom Warburg-Institute installierten Publikationsorgane genutzt und mit dem Institut in Verbindung gestanden haben - in den Studien der Bibliothek Warburg veröffentlichten Eduard NORDEN {Die Geburt des Kindes. Geschichte einer religiösen Idee, 1924), Richard REITZENSTEIN (mit Hans Heinrich SCHAEDER: Studien zum antiken Synkretismus, 1926), und Rudolf PFEIFFER {Humanitas Erasmiana, 1931); in den Vorträgen der Bibliothek Warburg darüber hinaus etwa Ulrich von WILAMOWITZ-MOELLENDORFF {Zeus, 1926), Eduard FRAENKEL {Lucan als Mittler des antiken Pathos, 1927) oder Otto REGENBOGEN {Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas, 1930).29 Es erstaunt umso mehr, als der Kunstund Kulturwissenschaftler WARBURG nicht nur die Erforschung von Kontinuität, Brüchen und Weiterleben der heidnischen Antike zu einem seiner zentralen Ziele erklärt hat, sondern auch umgekehrt von der Klassischen Philologie, wie sie ihm in Bonn begegnete, beeinflußt und geprägt wurde.

26 27

J. BURCKHARDT, Die Kultur der Renaissance in Italien, Basel 1859. Vgl. WARBURG, Bildniskunst undßorentinisches Bürgertum (Leipzig 1902), in: ASW, 65-102. Zum Verhältnis BURCKHARDT-WARBURG vgl. Y. MAIKUMA, Der Begriff der Kultur bei Warburg, Nietzsche und Burckhardt, Königstein/ Ts. 1985. Vgl. WARBURG, Heidnisch-antike Weissagung, 225. Daß der Gnomon 1929 (E. FRAENKEL, Aby Warburg, Gnomon 5, 1929, 687-88) einen Nachruf druckte, oder die gelegentliche Notiznahme, etwa bei M. FUHRMANN, Die Antike und ihre Vermittler, Konstanz 1969 (Konstanzer Universitätsreden, 9), stellt diesen Eindruck nicht in Abrede. D. WUTTKE, Aby Warburgs Methode als Anregung und Aufgabe (1977), 3. Aufl., Göttingen 1979, 10. Vgl. auch DERS., Aby Warburg und seine Bibliotheken. Vgl. dazu R. KANY, Die religionswissenschaftliche Forschung an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg.

162

Aby Warburg

WARBURGs Forschungen nehmen nicht nur USENERs .Andacht zum Unbedeutenden' und die Forderung nach einer Entgrenzung der Einzelwissenschaften, namentlich ihre Einbindung in die religionswissenschaftliche Forschung, wieder auf. WARBURG reagiert auch auf die von USENER vorgetragene Konzeptualisierung einer Einzelwissenschaft, mit der dieser eine erneute Diskussion der Lektüre von sprachlichen und rituellen .Texten' gefordert und die ästhetische Betrachtung zugunsten eines strukturanalytischen Verfahrens verworfen hatte. Texte in ihrer Ganzheit aufzubrechen und in ihre einzelnen Strukturelemente zu zerlegen, diese Elemente wiederum in einen vertikalen, entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang zu bringen, um daraus Erkenntnisse über die Psychologie des Menschen zu gewinnen - das war WARBURG in Bonn gewissermaßen exemplarisch vorgeführt worden. Nicht zuletzt hat WARBURGs Methode des Bilderlesens und sein Interesse am ,Nachleben der Antike' auch von den Auseinandersetzungen um den Epochenbegriff und dem von USENER und seinen Schülern in verschiedenen Ausprägungen unternommenen Nachweis von .Kontinuität' profitiert. WARBURGs ,Nachleben der Antike' ist kein Projekt, das ausschließlich der Antike und ihrer Traditionen gilt, sondern versteht sich vor allem als ein Beitrag zur Erforschung des Menschen, der weder auf die „grenzpolizeilichen"30 Konstruktionen von Epochen noch auf geographische Grenzziehungen Rücksicht nehmen kann. Das Verhältnis ist in der WARBURG-Forschung natürlich nicht unbeachtet geblieben. Neben den Biographen ROECK und G O M B R I C H betont Salvatore S E T T I S 3 1 U S E N E R S Bedeutung; in den Kongreßakten Aspetti di Hermann Usener widmet Maria Michele S A S S I dem Einfluß U S E N E R S auf W A R B U R G einen ganzen Aufsatz.32 Die bisher umfangreichste Untersuchung hat 1987 der Theologe Roland K A N Y vorgelegt. In seiner mit dem Titel Mnemosyne als Programm überschriebenen Studie versucht K A N Y , eine Linie von U S E N E R über W A R B U R G bis hin zu Walter B E N J A M I N zu ziehen.33 Perspektivisch orientiert er sich dabei vornehmlich an der für alle drei maßgeblichen .Detailforschung': Auf jeweils unterschiedlichen Ebenen ( U S E N E R im Bereich des Mythos, W A R B U R G im Bereich des Symbols und B E N J A M I N im Bereich der

30 31

WARBURG, Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara (1912), in: ASW, 173-198. 185. S. SETTIS, Kunstgeschichte als vergleichende Kulturwissenschaft: Aby Warburg, die Pueblo-Indianer und das Nachleben der Antike, in: Künstlerischer Austausch - Artistic Exchange, Akten des XXVIII. Internationalen Kongresses fiir Kunstgeschichte, Berlin 15.-20. Juli 1992, Bd. 1, hrsg. von T. W. Gaethgens, Berlin 1994, 139-158. M. M. SASSI, Dalla scienza delle religioni di Usener ad Aby Warburg, in: Aspetti di Hermann Usener filologo della religione, hrsg. von G. Arrighetti u.a., Pisa 1982, 6591. R. KANY, Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburgund Benjamin, Tübingen 1987.

Warburg in der Warburg-Rezeption

163

Allegorie) habe jeder von ihnen den Versuch unternommen, anhand eines Mikrokosmos einen Makrokosmos zu entschlüsseln.34 Ein Jahr später, 1988, macht der Herausgeber des Schlangenrituals, Ulrich RAULE?, darauf aufmerksam, daß „das Problem des ,Nachlebens' von Elementen früherer Kulturen in späteren - das USENER nachhaltig beschäftigte und für WARBURG zum lebenslangen Problem werden sollte - nicht zuletzt von ethnologischen Erfahrungen und Lektüren inspiriert war."35 Mit seinem Vorschlag, „diese für Warburgs intellektuelle Biographie insgesamt höher [zu] bewerten, als es bislang geschehen ist", ist zugleich die Frage nach der Vermittlerrolle USENERS angesprochen. In eine ähnliche Richtung greift denn auch die wiederum von Roland KANY, auf einen Vortrag vom 6. Mai 1988 zurückgehende und 1989 veröffentlichte Schrift zur religionsgeschichtlichen Forschung an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, die die Bedeutung WARBURGs als eines Religionswissenschaftlers jedoch vor allem aus der Perspektive ihrer Wirkung an der KBW analysiert und daher nur rückblickend-skizzenhaft auf die Tradition eingeht, an die WARBURG selbst anknüpfen konnte.

Warburg in der Warburg-Rezeption Daß USENERs Bedeutung immer wieder gespürt und behauptet wurde, sich eine entsprechende, d.h. WARBURGs kulturwissenschaftliche Konzeption innerhalb der .Religionswissenschaftlichen Schule' kontextualisierende Lesart jedoch bislang nicht etablieren konnte, scheint ein Phänomen, das eng mit der Rezeption WARBURGs und ihren besonderen Umständen zusammenhängt. Die Besonderheit der Rezeptionsentwicklung und die Tatsache, daß Einfluß und Tradition der religionswissenschaftlichen Schule gegenüber biographisch orientierten Deutungen verhältnismäßig wenig Beachtung fanden, ist nicht nur vor dem Hintergrund der - sowohl in qualitativer wie quantitativer Hinsicht spezifischen Publikationssituation von WARBURGs Werk zu verstehen. Sie ist auch, zweitens, auf ein bis heute nicht erloschenes Interesse an WARBURG als eines ,auch biographisch aufsehenerregenden Falls' und eine durch entsprechende Dokumente geforderte biographische Perspektivierung zentraler 34

35

Der von R. KANY (s. Anm. 33) unternommene Versuch, die Arbeiten von USENER, WARBURG und BENJAMIN unter dem Aspekt ihrer detailorientierten Rekonstruktionsverfahren zu untersuchen, hebt hinsichtlich der Forschungsprojekte von USENER und WARBURG vor allem die methodischen Parallelen (etwa: Etymologie/ Ikonologie) hervor. Vor diesem Hintergrund ist es wohl auch zu verstehen, daß fast ein Fünftel der gesamten Abhandlung einer Darstellung der Geschichte der etymologischen Forschung gewidmet ist (Mythologie und Etymologie, a.a.O., 11-66). Dieses und das folgende Zitat in: WARBURG, Schlangenritual. Ein Reisebericht, hrsg. von U. Raulff, Berlin 1988, 75.

164

Aby Warburg

Forschungsanliegen zurückzuführen, die gerade in bezug auf WARBURGs Magieverständnis eine wissenschaftshistorische Kontextualisierung offensichtlich mitunter überflüssig erscheinen ließ.

Zur Publikationssituation Zunächst wird das bemerkenswerte Quantum an Forschungsarbeiten zu W A R B U R G , insbesondere aber das WARBURG-Bild von der Tatsache begleitet, daß W A R B U R G in nicht unbedeutendem Ausmaß auch durch seine unpublizierten Schriften gewirkt hat und seine Rezeption bereits zu einem Zeitpunkt eingesetzt hat, als ein Großteil seiner Arbeiten nur einem engen Kreis um die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg zugänglich und vertraut war. Das Verhältnis von unpubliziertem und publiziertem Material ist erstaunlich. Noch heute kommen auf eine publizierte Seite etwa zehn unpublizierte, und es finden sich nur gelegentlich hier und dort Briefe oder Notizen aus dem Archiv publiziert. Erst 1970 wurde mit der Intellektuellen Biographie Ernst G O M B R I C H S auch einer breiten Öffentlichkeit in das unveröffentlichte Werk Einblick gewährt: Die Intellektuelle Biographie verstand sich als eine Fortführung der unter der Herausgeberschaft von Gertrud B I N G 1932 begonnenen Gesamtausgabe und versuchte gewissermaßen, den unvollendeten Teil (die geplanten Bände 3-6) in einer erzählend-interpretierenden Form nachzutragen. Daß die Auswahl der Archivalien dabei den Interessen des Autors folgen mußte und eine intellektuelle Biographie' zudem eine Kontinuität der Darstellung verlangt, bei der es sich gattungsbedingt auf eine chronologische Entschichtung und auf eine Kontextualisierung des Materials nicht verzichten läßt, ist eine banale Beobachtung, deren Konsequenz primär in der Vollendung der Gesamtausgabe bestehen muß. Eine Art Wiederentdeckung erfuhr 36 W A R B U R G erst Ende der 70er Jahre, nachdem im Jahre 1969 Dieter W U T T K E in Zusammenarbeit mit Carl Georg H E I S E eine Auswahl der Schriften herausgebracht und dem Band zudem einen Anhang beigefügt hatte, der eine Reihe bislang verstreut publizierter Abhandlungen zu W A R B U R G versammelt. Im Zusammenhang mit dieser Renaissance sind auch die Veröffentlichung des 1923 entstandenen Kreuzlinger Vortrage zum Schlangenritual im Jahre 1988 und eine Reihe von Kongressen und Ausstellungen zu sehen, etwa die der Bildersammlung zur Geschichte von Sternglaube und Sternkunde In dem 1979 in den Kritischen Berichten (KB, 7, 1979, Heft 4/5, 5-15) veröffentlichten Aufsatz Kreuzlinger Passion machte Michael DIERS auf das Mißverhältnis von Rezeption und publizierten Schriften aufmerksam: „WARBURG genießt (richtig: wir genießen) seinen legendären Ruf. Seine Methode hat Schule gemacht, sie ist, wie [Martin] Wamke [KB 7, 1979, Heft 2/3, 41] schreibt, sozusagen der .internationale Stil' der Kunstwissenschaft geworden. In krassem Mißverhältnis (oder besser: gerade in dem Verhältnis, das Legendenbildung erlaubt) dazu ist der Stand der Veröffentlichung der Schriften."

Warburg in der Warburg-Rezeption

165

(1930) 1993 in Wien.37 Trotz dieser zahlreichen Bemühungen kann sich die Rezeption damit nach wie vor nur auf eine Auswahl von WARBURGs Schriften stutzen.

Theorie und Detailanalyse Hinzukommt, daß die Spuren, die WARBURG zu Lebzeiten neben den veröffentlichten Schriften hinterlassen hat, von wenig theoretischem Interesse zeugen.39 WARBURGs eigentliches Lebenswerk, die seit den ersten Studienjahren, ab 1901 dann systematisch zum Thema .Nachleben der Antike' aufgebaute, 1903 als solche gegründete Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (KBW),40 die 1933 mit 60.000 Bänden gerade noch rechtzeitig41 unter der

38

39

40

WARBURG, Bildersammlung zur Geschichte von Sternglaube und Sternkunde im Hamburger Planetarium, hrsg. von U. Fleckner u.a., Hamburg 1993. Zur Renaissance WARBURGs infolge dieser Ausstellung s. S. WEIGEL, A by Warburgs Schlangenritual. Korrespondenzen zwischen der Lektüre kultureller und geschriebener Texte, in: Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft, hrsg. von A. Assmann, Frankfurt a.M. 1996, 272. Zum Textmaterial s. F. JANSHEN, Spurenlesen. Um Aby Warburgs ,Schlangenritual ', in: Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft, hrsg. von S. Baumgart u.a., Berlin 1993, 86-103. Vgl. M. DIERS, Mnemosyne oder das Gedächtnis der Bilder. Über Aby Warburg, in: Memoria als Kultur, hrsg. von G. Oexle, Göttingen 1995, 87. Zur KBW vgl. F. SAXL, Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg in Hamburg, in: Forschungsinstitute. Ihre Geschichte, Organisation und Ziele, hrsg. von L. Brauer/ A. Mendelssohn-Bartholdy/ A. Meyer, Hamburg 1930, 355-358; T. von STOCKHAUSEN, Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg. Architektur, Entwicklung und Organisation, Hamburg 1992; H. BUCHTHAL, Persönliche Erinnerungen an die ersten Jahre des Warburg-Instituts in London, Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 45, 1992, 213-221. Zu Recht hat S. RADNÓTI, Das Pathos und der Dämon. Über Aby Warburg, Acta Historiae Artium Academiae Scientiarum Hungaricae 31, 1985, 92, daraufhingewiesen, daß der großbürgerliche Hintergrund Aby WARBURGS (er entstammte einer jüdischen Bankiersfamilie, die vor dem Ersten Weltkrieg in die kleine Gruppe der Hamburger Millionäre fiel, vgl. B. ROECK, Der junge Aby Warburg, 14; H. KROHN, Die Juden in Hamburg. Die politische, soziale und kulturelle Entwicklung einer Großstadtgemeinde nach der Emanzipation 1848-1918 [= Hamburger Beiträge zur Geschichte der Juden, Bd. 4], Hamburg 1974, 80, 135, Anm. 10) eine lebenslange finanzielle Unabhängigkeit und damit WARBURG nicht nur die Installation der berühmten Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg ermöglichte, sondern auch auf den akademischen Werdegang WARBURGs und die vermeintlich geringe Zahl an Publikationen Auswirkungen hatte: WARBURG war Privatgelehrter, „frei von der zur Jahrhundertwende bereits verknöcherten akademischen Norm der wissenschaftlichen Karriere: frei vom Habilitierungszwang, vom Leistungszwang, der sich in der Herstellung dicker Monographiewälzer, langer Publikationslisten manifestiert." Nach der Gründungslegende verkaufte Aby mit dreizehn Jahren an den Zweitältesten Bruder, Max, ,/licht für ein Linsengericht" (M. WARBURG, Rede, gehalten bei der Gedächtnis-Feier für Professor Warburg am 5. Dezember 1929, wiederabgedruckt in: Mnemosyne. Beiträge zum 50. Todestag von Aby M. Warburg, hrsg. von S. Füssel, Göttingen 1979, 26), sondern für die lebenslange Garantie, jedes gewünschte Buch zu bekommen, sein

166

Aby Warburg

Ägide von Fritz SAXL und Gertrud BING42 nach London gebracht werden konnte und dort noch heute (unter dem Namen,Warburg Institute')43 ansässig ist, weist ein höchst programmatisches Ordnungssystem auf,44 eine theoretische Abhandlung ersetzt sie nicht 45 Kennzeichnend für das Vorgehen WARBURGs ist auch, daß er allgemeine Ideen auf Notizzetteln zu notierten pflegte, während seine Publikationen einer faktenbezogenen und am Detail orientierten Beweisführung galten. Der Verzicht auf Überblick (jedenfalls im Sinne einer konventionellen ,Kunstgeschichte') gehörte für ihn geradezu zum Programm und besaß auch im pädagogisch-didaktischen Bereich durchaus Geltung.46 Sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht hat die Präsentation von WARBURGs Werk daher dazu geführt, daß seine Arbeiten einer zuweilen eigendynamischen Rezeption47 ausgesetzt waren: Die Rezeption ist, wie Michael DIERS treffend beobachtet, nicht „dem Muster der

41

42

43

44

45

47

Erstgeborenenrecht. Daß Max, der diesen Handel später gelegentlich bereuen wird („Ich sagte mir, daß schließlich Schiller, Goethe, Lessing, vielleicht auch Klopstock von mir, wenn ich im Geschäft wäre, doch immer bezahlt werden könnten und gab ihm diesen, wie ich heute zugeben muß, sehr großen Blankokredit", M. WARBURG, a.a.O., 26.), sein Wort nie brach, sicherte neben einem soliden Grundstein auch den ständigen Bücherzuwachs der Bibliothek. Ε. M. WARBURG, Die Rettung der Bibliothek Warburg in Hamburg durch Emigration nach London, in: Warburg und die Warburgs, hrsg. vom Kulturforum Warburg, Warburg 1988. Zu Fritz SAXL vgl. G. BING, Memoir, in: Fritz Saxl. A Volume of Memorial Essays from his Friends in England, hrsg. von D. J. Gordon, London 1957, Iff.; D. MC EWAN, Ausreiten der Ecken. Die Aby Warburg - Fritz Saxl Korrespondenz 1910-1919, Hamburg 1998; Zu Gertrud BING s. B. GÖTZ, College Bing und Fräulein Doktor, in: Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft, 19-26. Da es kein englisches Wort für .kulturwissenschaftlich' gab, mußte der ursprüngliche Name geändert werden. Geschäftssprache, jedenfalls die öffentliche Arbeit betreffend, war von nun an englisch. Die , Studien der Bibliothek Warburg' wurden in , Studies of the Warburg Institute' umbenannt, neugegründete Zeitschriften wie das 1937 hinzugekommene Journal of the Warburg Institute' (ab dem vierten Band: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes') bekamen englische Titel. Zahlreiche Vorträge der Institutsmitglieder an englischen Institutionen trugen dazu bei, das Warburg Institute in England bekannt zu machen und in das englische wissenschaftliche Leben einzugliedern, vgl. H. BUCHTHAL, Persönliche Erinnerungen an die ersten Jahre des WarburgInstituts in London, 214f. S. SETTIS, Warburg continuatus. Descrizione di una biblioteca, in: Quaderni Storici, N.F. 20, Heft 58, 1985, 3-38. Die Ordnung folgte dem „Gesetz der guten Nachbarschaft", vgl. dazu S. R A D N Ó T I , Das Pathos und der Dämon, 92; T. von STOCKHAUSEN, Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, 75-90. Zur KBW als einem WARBURGs theoretischem Ansatz „kohärenten Denkgebäude" vgl. S. WEIGEL, Aby Warburgs Schlangenritual, 282. A. WESSELS, Zur Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg als institutioneller Realisation von Warburgs Begriff der Kulturwissenschaften, in: Disciplining Classics - Altertumswissenschaft als Beruf, hrsg. von G. W. Most, Göttingen 2002, 169-190. D. WUTTKE, Aby Warburgs Methode als Anregung und Aufgabe, 47. Gerade durch den (vielzitierten) Erich PANOFKSKY wurde vielfach der Blick verstellt, s. dazu D. WUTTKE, Aby Warburgs Methode als Anregung und Aufgabe, 50.

Warburg in der Warburg-Rezeption

167

Schriften-Exegese" gefolgt, sondern den Weg über die „Diskussion und Fortschreibung seiner [sc. Warburgs] Thesen gegangen".48 Als Beispiel sei hier auf die Verwendung des Begriffs der Ikonologie verwiesen, eines Begriffs, als dessen ,Vater' gemeinhin (und zwar äußerlich zu Recht, in einem tieferen Sinne jedoch zu Unrecht) Erwin PANOFSKY gilt.49 PANOFSKY hatte ein dreiteiliges Schema entworfen, demzufolge es bei der Erfassung des Gegenstandes eines Kunstwerks drei Stufen gebe: die vorikonographische Stufe, die die tatsachenhaften und ausdruckshaften Eigenschaften des Sujets erfasse, die ikonographische Analyse, in deren Verlauf das nötige Vorwissen das Sujet richtig identifiziere, und die Ikonologie, deren Bemühen der eigentlichen Bedeutung und dem Gehalt des Sujets gelte und die er als Region des „Wesenssinns" definiert.50 Gegenüber der deskriptiv und analytisch vorgehenden Ikonographie, die das Material lediglich klassifiziert, geht die Ikonologie synthetisch vor: Sie untersucht Entstehung, Wandel und Bedeutung, den Einfluß theologischer, philosophischer und politischer Ideen, mit 48

M. DIERS, Mnemosyne oder das Gedächtnis der Bilder, 89; vgl. auch S. SETTIS, Zur Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Empfehlungen für eine Heimkehr, in: Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, Acta Humaniora, hrsg. von H. Bredekamp/ M. Diers/ Ch. Schoell-Glass, Weinheim 1991, 115-123. 115. Die spezifische Rezeptionssituation führt D. WUTTKE, Aby Warburg und seine Bibliothek, 321, auch auf den enormen Einschnitt zurück, den die Exilierung der KBW im Jahr 1933 bedeutete: „Nur in bedauerlicher Verzögerung und auf leidvollsten Umwegen und dann auch nur teilweise läßt sich in der Kulturarbeit Ausgleich schaffen, wenn Barbarei den günstigsten Augenblick einmal gestört hat. So stehen wir heute vor der Tatsache, daß Warburgs Nachruhm mehr auf Hörensagen als auf Kenntnis seines Werkes beruht, wie Gertrud Bing es im Vorwort der italienischen Ausgabe von Warburgs wissenschaftlichen Schriften formuliert." Anders Edgar WIND, The Eloquence of Symbols. Studies in Humanist Art, hrsg. von J. Anderson, Oxford 1983, 106, der die Rezeptionsund Lesesituation auf die Verehrung gegenüber WARBURG zurückführt: .Among W.'s followers it has become a tradition to regard his literary formulations as a sort of arcanum, as an exceedingly fine but highly concentrated elixir of learning which should not be served to British consumers without an ample admixture of barely water."

49

E. PANOFSKY, Einleitung zu Herkules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst, Leipzig 1930; DERS., Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst, Logos 21, 1932, 103-119; DERS., Iconography and Iconology (urspr. in: DERS., Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of Renaissance, 1939), in: DERS., Meaning in the Visual Arts, New York 1955, 26-41 (deutsch: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975, 36-50. 63-67). Zu PANOFSKY vgl. L. L. MÖLLER, Erwin Panofsky 1892-1968, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen, Bd. 14/15, Hamburg 1970. „ET wird erfaßt, indem man jene zugrundeliegenden Prinzipien ermittelt, die die Grundeinstellung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen oder philosophischen Überzeugung enthüllen, modifiziert durch eine Persönlichkeit und verdichtet in einem einzigen Werk ... Die Entdeckung und Interpretation dieser .symbolischen' Werte (die dem Künstler selber häufig unbekannt sind und die sogar entschieden von dem abweichen können, was er bewußt auszudrücken suchte) sind der Gegenstand dessen, was wir - im Gegensatz zur .Ikonographie' - .Ikonologie' nennen können." (E. PANOFSKY, Iconography and Icolonology, 40f.), vgl. P. SCHMIDT, Aby M. Warburg und die Ikonologie, Wiesbaden 1989, 13ff.

50

168

Aby Warburg

einem Wort: den kulturellen Kontext, aus dem das Kunstwerk entstanden ist. In der Tat hatte bereits WARBURG lange zuvor Forschungen in dieser Richtung betrieben. Seine Arbeitsweise wurde in den 20-er Jahren von dem Kunsthistoriker Godfridus Johannes HOOGEWERFF aufgegriffen und systematisiert.51 HOOGEWERFF entwickelte W A R B U R G s Verfahren auch in terminologischer Hinsicht weiter: Er entwarf eine Differenzierung von Ikonographie und Ikonologie und schuf so Grundlage und Vorbild für PAN O F S K Y s Konzept. W A R B U R G selbst hatte sein Vorgehen jedoch niemals terminologisch präzisiert und theoretisiert. In den persönlichen Notizkästen fand sich insgesamt eine achtmal häufigere Verwendung des Begriffs , Ikonologie' gegenüber,Ikonographie', wobei letztere nach 1908 nicht mehr auftritt.52 Eine Untersuchung des Sprachgebrauchs zeigt, daß WARBURG die Begriffe durchweg ohne Unterscheidung gebrauchte53 und es ihm weniger an einer Systematisierung dieser Begriffe als an der methodischen Praxis gelegen war. Zwar ist jede einzelne Untersuchung mikroskopischer Ausdruck eines methodisch konsequent durchgeführten Programms; die Präzision terminologischer Differenzierung stellt WARBURG diesem - höheren - Anspruch jedoch hintan. Damit birgt sie ein enormes Interpretationspotential und setzt einer um die Analyse des theoretischen Fundaments und einer um terminologische Klarheit bemühten Wissenschaft scheinbar wenig Schranken. Der Versuch, WARBURGs Programm über eine Begriffsanalyse zu dechiffrieren, erscheint, wenn auch als unvermeidbar, so doch als mindestens problematisch. P. SCHMIDT, Aby M. Warburg und die Ikonologie, 18; J. BIALOSTOCKI, Icolonography and Iconology, Encyclopedia of World Art 7, New York 1963, Sp. 769-785. Vgl. D. WUTTKE, Nachwort zu ASW, 601-639. 630; P. SCHMIDT, Aby M. Warburg und die Ikonologie, 24ff. P. SCHMIDT, Aby M. Warburg und die Ikonologie, 25. In seinem 1902 vor dem .Internationalen Kunsthistorischen Kongreß' in Innsbruck gehaltenen Vortrag über Wappen, Stammbäume und Inventare als methodische Hilfsmittel der Kunstgeschichte (in überarbeiteter Form publiziert unter dem Titel Flandrische Kunst und florentinische Frührenaissace. Studien [Jb. d. Königl. Preuß. Kunstsammlungen 23, 1902, 247-266], in: ASW, 103-124) verwendete WARBURG den Begriff der „kulturgeschichtlichen Ikonographie" im Sinne einer Einbeziehung kulturhistorischer Quellen (vgl. Offizieller Bericht über die Verhandlungen des VII. internationalen Kongresses in Innsbruck 9.-I2. September 1902, Berlin o. J., 92, 97). Zehn Jahre später ist das selbe Verfahren in dem Vortrag über die Fresken im Palazzo Schifanoja terminologisch unter dem Begriff der „Ikonologie" gefaßt. Praktisch jedoch löst WARBURG hier wie dort einen seit PANOFSKY unter dem Begriff der Ikonologie in ähnlicher Weise geforderten Anspruch ein. Noch 1926, drei Jahre vor seinem Tod, bezeichnet WARBURG ein analytisches, im Sinne PANOFSKYS also: ikonographisches Verfahren als „ikonologisch", s. D. WUTTKE, Nachwort zu ASW, 630. Daß WARBURG auf den von der .Internationalen Gesellschaft für Ikonographische Studien' organisierten .Internationalen Kunsthistorischen Kongressen' in Nürnberg (1898/1900), Innsbruck (1902), Darmstadt (1907) und München (1909), an denen er durchweg teilnahm und deren Anliegen gerade einer Entwirrung der Begriffe Ikonographie und Ikonologie galt, kein einziges Mal in die Diskussion eingriff, bedeutet ein Schweigen, das für sein Verhältnis zur Theorie geradezu symptomatisch ist.

Warburg in der Warburg-Rezeption

169

Schwierig für ein Verständnis von WARBURGs Arbeiten ist nicht primär die Tatsache, daß viel wichtiges Material lediglich archivalisch zugänglich ist - die wenn auch bedauerliche Situation, daß der Forschung zumeist nur ein Ausschnitt des Gesamtcorpus zur Verfugung steht, relativiert sich vor dem Hintergrund der mit dem Anspruch, das Programm stets in der Totalen zu erfassen, durchgeführten Detailanalysen. Vornehmliche Herausforderung für den Blick auf das Werk WARBURGs stellt vielmehr (oder zudem) die mannigfaltige und sich verselbständigende Rezeption der Konzepte dar, mit denen sein Name gewissermaßen identifiziert wird und identifikatorisch besetzt wird. Wenn WARBURGs Methode unter der Bezeichnung ,Ikonologie' firmiert, ist dies irreführend, weil der Begriff der Ikonologie gewissermaßen durch das PANOFSKYsche Programm besetzt ist. Ihn auf die Methode WARBURGs anwenden zu wollen, bedeutet, WARBURG mit PANOFSKY ZU lesen. WARBURGs ikonologische Methode ist jedoch, wie schon Roland KANY bemerkt, „nur in ihrer Einbindung in Warburgs umfassendes Konzept von Kulturgeschichte fruchtbar und bahnbrechend geworden."54 Während die ikonologische Methode für PANOFSKY bedeutet, Daten der Kulturgeschichte heranzuziehen, um das Wesen eines Bildes zu erfassen, gewinnt WARBURG umgekehrt Kulturgeschichte aus dem Bild. WARBURGs Erkenntnisinteresse als Suche nach einer (im PANOFSKYschen Verständnis) .perfekten' Ikonologie zu beschreiben, ist nicht nur nicht umfassend, sondern auch irreführend, weil es die eigentliche Bedeutung der ikonologischen Methode, d.h. ihre Kontextualisierung innerhalb eines kulturwissenschaftlichen Programms, verkennt. In seinem 1912 gehaltenen Vortrag über Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara, einer Arbeit, die mit der Frage nach der Bedeutung der Antike für die künstlerische Kultur der Frührenaissance ein seit der Dissertation über Sandro Botticellis „ Geburt der Venus " und „ Frühling " ( 1893) für WARBURG virulentes Problem aufgreift, zeigt WARBURG, wie sich anhand eines scheinbar unbedeutenden Details die in der mittelalterlichen Bildtradition noch wirksame ,Doppelherme der Antike' nachweisen läßt. Das Spannungsverhältnis von astraler und olympischer Götterwelt manifestiert sich anhand des JuliFreskos, eines der sieben (von ursprünglich zwölf) erhaltenen Monatsbilder, in dem die offensichtlich „schwächere künstlerische Persönlichkeit" des Malers statt des nach Manilius55 dem Monat Juli zugehörigen Götterpaares Jupiter/ Kybele die der spätantiken Planetentheorie entsprechende astrale R. KANY, Die religionswissenschaftliche Forschung an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, 8. WARBURG, Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara (1912), 179: „Manilius' Sterngedicht [sc.: 2, 439-447] gehörte seit 1416 zu den von den gelehrten italienischen Humanisten neu entdeckten und mit liebevollem Enthusiasmus wiedererweckten Klassikern ... er führt ja an einer berühmten Stelle die Schutzgötter der Monate in folgender Weise auf: [Zitat von Manilius, a.a.O.]".

170

Aby Warburg

Gottheit des Sol-Apollo verzeichnet.56 WARBURGs Bildlektüre, die das einzelne Bild nicht nur als Produkt eines künstlerischen und inteipretatorischen Schaffensprozesses, sondern auch als Träger unmittelbar darin eingegangener Ausdrucksformen liest, einzelne Bildelemente infolge dessen aus ihrem Gefuge herauslöst, dekontextualisiert und schließlich auf einer vertikalen Zeitachse verortet, zeigt nicht nur eine Parallele zu der Verfahrensweise Albrecht DlETERICHs, wie sie etwa in Abraxas, Eine Mithrasliturgie und im übrigen auch in Nekyia deutlich wird. Auch USENERs Methode findet bei WARBURG einen Nachhall darin, daß er ein winziges Detail - eine Gruppe betender Mönche symbolisiert Sol-Apoll 57 - als Signifikat einer allgemeinen psychologischen Disposition deutet und zum Ausgangspunkt eines auf die Totale gerichteten Blicks macht, der, allem voran, den Menschen ins Visier nimmt. In der Abschlußsequenz des Schifanoja-Vortrags macht WARBURG denn auch deutlich, daß es ihm nicht nur um die Etablierung einer Methode zur Bild-Erfassung, sondern allem voran um ein kulturwissenschaftliches Interesse, eine „historische Psychologie des menschlichen Ausdrucks" geht: „Die Auflösung eines Bilderrätsels ... war selbstverständlich nicht Selbstzweck meines Vortrage. Mit diesem hier gewagten vorläufigen Einzelversuch wollte ich mir ein Plädoyer erlauben zu Gunsten einer methodischen Grenzerweiterung unserer Kunstwissenschaft in stofflicher und räumlicher Beziehung. Die Kunstgeschichte wird durch unzulängliche allgemeine Entwicklungs-Kategorien bisher daran gehindert, ihr Material der allerdings noch ungeschriebenen .historischen Psychologie des menschlichen Ausdrucks' zur Verfügung zu stellen. Unsere junge Disziplin versperrt sich durch allzu materialistische oder allzu mystische Grundstimmung den weltgeschichtlichen Rundblick. Tastend versucht sie, durch die Schematismen der politischen Geschichte und den Doktrinen vom Genie ihre eigene Entwicklungslehre zu finden. Ich hoffe, durch die Methode meines Erklärungsversuchs der Fresken im Palazzo Schifanoja zu Ferrara gezeigt zu haben, dass eine ikonologische Analyse, die sich durch grenzpolizeiliche Befangenheit weder davon abschrecken lässt, Antike, Mittelalter und Neuzeit als zusammenhängende Epoche anzusehen, noch davon, die Werke freiester und angewandtester Kunst als gleichberechtigte Dokumente des Ausdrucks zu befragen, dass diese Methode, indem sie sorgfältig sich um die Aufhellung einer einzelnen Dunkelheit bemüht, die grossen allgemeinen Entwicklungsvorgänge in ihrem Zusammenhange beleuchtet. Mir war es weniger zu tun um die glatte Lösung, als um die Heraushebung eines neuen Problems, das ich so formulieren möchte: ,In wieweit ist der Eintritt des stilistischen Umschwunges in der Darstellung menschlicher Erscheinung in der italienischen Kunst als international bedingter Auseinandersetzungs-Prozess mit den nachlebenden bildlichen Vorstellungen der heidnischen Kultur der östlichen Mittelmeervölker anzusehen?'"58

Mit diesem ,Plädoyer' einer .methodischen Grenzerweiterung' liegt eine der wenigen öffentlich vorgetragenen Programmtexte vor, mit denen WARBURG seinen Entwurf einer Kunstgeschichte als Kulturgeschichte annonciert und begründet. Die terminologische Präzisierung der Begriffe .Ikonographie' und

56 57

58

Ebd., 181. Ebd.: „Schon seit 1445 sind in Süddeutschland diese frommen Beter als typischer Bestandteil der , Sonnenkinder' nachgewiesen." Ebd., 185.

Warburg in der Warburg-Rezeption

171

,Ikonologie' bleibt freilich PANOFSKYs bzw. HOOGEWERFFs Verdienst und hat in diesem Sinne in der Kunstwissenschaft in diesem Sinne gewirkt. Auf WARBURGs Methode sind sie nur bedingt applizierbar. Die Tatsache, daß WARBURG seinem Programm - jedenfalls in den publizierten Dokumenten - weniger auf dem Wege einer terminologischen Präzisierung und Theoretisierung als durch Detailanalysen Ausdruck verschafft und daß seine Schriften mitunter schon vor ihrer Publikation rezipiert und weitergedacht worden sind, führt dazu, daß die mit seinem Namen in Verbindung gebrachten Begriffe nicht ohne weiteres eine Lesehilfe bei der Lektüre der Schriften bedeuten. WARBURG muß gewissermaßen erst aus den mit ihm identifizierten und assoziierten Momenten .herausgelöst', die vielfach genutzten Potentiale als solche gekennzeichnet werden. Die Umstände, daß WARBURG selbst nur wenig publizierte, daß er auf theoretische Äußerungen weitgehend verzichtete und vor allem, daß er durch Vermittlung einer großen Anhängerschaft und besonders durch die von ihm gegründete KBW wirkte, hat zu einer Mystifizierung nicht nur seiner Person, sondern auch seiner intellektuellen Hinterlassenschaften gefuhrt, deren hagiographisierende Manier dem Verständnis seiner Schriften nicht immer gut getan hat.

Biographie Daß WARBURG eine über alle Fachgrenzen sich hinwegsetzende Rezeption erfahren hat, steht nicht nur im Zeichen der ungeheuren Potentialität, wie sie bereits früh und insbesondere durch die dem ,Warburg-Institute' nahestehenden Gelehrten unter Heranziehung unveröffentlichter Dokumente oder persönlicher Erinnerungen oder aber aufgrund der Herausforderung zur Systematisierung wahrgenommen wurde. Die mannigfaltige (und nicht ausschließlich) wissenschaftliche Bearbeitung von WARBURGs Werk ist nicht zuletzt auch eine Reaktion auf die inneren Spannungen, denen seine Persönlichkeit ausgesetzt war und die immer wieder zu einer Parallelisierung bzw. Identifizierung von Werk und Autor herausgefordert haben. Festzustellen ist, daß WARBURGs Biographie nicht selten zur primären Lesart seiner Werke avanciert. An der wachsenden Ambivalenz gegenüber seiner religiösen Tradition, die den einer jüdischen Bankiersfamilie entstammenden WARBURG bereits in seiner frühen Jugend in tiefe innere und äußere Konflikte stürzte, orientiert sich etwa Charlotte SCHOELL-GLASS in ihrer 1998 erschienenen Monographie Aby Warburg und der Antisemitismus.59 Der Ansatz von SCHOELLCh. SCHOELL-GLASS, Aby Warburg und der Antisemitismus, Frankfurt a. M. 1998. Vgl. dazu die Rezension von B. von REIBNITZ, in: NZZ 6. 2. 1999. Ähnliche Versuche, WARBURG in die Kulturgeschichte der Juden einzuordnen, finden sich bei H. LIEBESCHÜTZ, Aby Warburg (1866-1929) as Interpreter of Civilisation, in: Year Book of the Leo Baeck Institute 16, 1971, 225-236; H. KROHN, Die Juden in Hamburg. Die

172

Aby Warburg

GLASS geht dabei in erster Linie davon aus, daß „gerade zu Anfang unseres Jahrhunderts ... ein unpolitischer Kulturbegriff' nicht denkbar ist,60 und leitet daraus die Frage ab, „in welchem Ausmaß ... sich Aby Warburg mit dem Antisemitismus auseinandergesetzt - und wie ... diese Auseinandersetzung seine kulturwissenschaftlichen Forschungen, sein Lebenswerk geprägt" habe.61 Vor allem aber WARBURGs langjährige psychische Erkrankung hat eine Faszination ausgeübt,62 der sich nicht einmal die noch heute maßgebliche Intellektuelle Biographie Ernst GOMBRICHs entziehen kann. Daß WARBURG eine ausgiebige biographische (und selten auf einen Hinweis zu seiner psychischen Situation verzichtende) Dokumentation gefunden hat,63 hat nicht immer zu einer glücklichen Interpretation seines Denkens geführt. Noch 1994 läßt Roy CHERNOW in seiner mehr als 900 Seiten umfassenden Monographie Die Warburgs. Odys[s]ee einer Familie in dem denkwürdig überschriebenen Kapitel Der Gelehrte und die Schlangen über WARBURG verlauten: „Mit immer größerer Aufmerksamkeit spürte er antiken Riten nach, die oftmals versteckt in der Renaissance weiterlebten. Indem er ihnen die Maske herunterriß und ihre Symbole

60 61 62

politische, soziale und kulturelle Entwicklung einer Großstadtgemeinde nach der Emanzipation 1848-1918, 118ff., und P. GAY, Freud, Jews and Other Germans. Masters and Victims in Modernist Culture, New York 1978, 445-452. Ch. SCHOELL-GLASS, Aby Warburg und der Antisemitismus, 17. Ebd., 25. Vgl. M. DIERS, Professor V. Aby Warburgs Krankenakte, F A Ζ , 5. 8. 1992, N3; DERS. Kreuzlinger Passion, 5-15. Aby WARBURG war von Oktober 1918 bis zum Spätsommer 1924 in der Nervenheilanstalt Kreuzlingen bei Professor Ludwig BINSWANGER, einem Freund Sigmund FREUDS und dem ehemaligen Assistenten C. G. JUNGS, in Behandlung (vgl. dazu U. RAULFF, Nachwort zu: WARBURG, Schlangenritual, 62; F. JANSHEN, Spurenlesen, 87-91). Eine Beziehung zwischen WARBURGs psychischer Krankheit und seinem lebhaften Interesse an der dionysischen Seite der Antike bzw. der Behauptung eines beständigen Spannungsfelds von Magie und Rationalität wird immer wieder gesucht, vgl. etwa H. DILLY, Internationale und nationale Praxis, in: Révolution et ècolution de l'Histoire de l'Art de Warburg à nos jours (= L'Art et les révolutions, Section 5), hrsg. von H. Olbrich, Straßburg 1992, 93101. Die überproportionierte Wahrnehmung der Bedeutung von Warburgs psychischem Zustand für sein Werk fällt vor allem da auf, wo Warburg nur sekundär herangezogen wird, beispielsweise bei B. SCHELLEWALD, Sigurd Sigurdsson, ,Vor der Stille' - Die Kunst der Erinnerung, in: Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft, 286-303. Verführerisch scheint eine solche Annahme wohl insbesondere deshalb, weil der selbst sich als ,unheilbar schizoid' bezeichnende WARBURG in seinem kurz vor der Entlassung aus der Nervenheilanstalt Kreuzlingen gehaltenen Vortrag über das Schlangenritual (1923) auch die merkwürdige Koexistenz von Magie und Ratio/ Technik, „das Nebeneinander von logischer Zivilisation und fantastisch magischer Verursachung" bei den Pueblo-Indianern immer wieder als scheinbar .schizoid' bezeichnet (WARBURG, Schlangenritual, 10, 24) und auf diese Weise eine autobiographisch motivierte Sichtweise nahezulegen scheint, vgl. dazu unten S. 173. B. ROECK, Der junge Aby Warburg. Biographisch gut dokumentiert ist das Leben WARBURGs vor allem durch das lebhafte Interesse an der Familie als einer Repräsentantin jüdischen Großbürgertums, so bei R. CHERNOW, Die Warburgs. Odys[s]ee einer Familie, Berlin .1994; I. WARBURG-SPINELLI, Die Dringlichkeit des Mitleids und die Einsamkeit, nein zu sagen, Hamburg 1990.

Warburg in der Warburg-Rezeption

173

entschlüsselte, erkannte er, daß in den Tiefen der europäischen Zivilisation noch Überreste frühzeitlicher Barbarei lebendig waren. Er betrachtete die Entwicklung der westlichen Kultur als einen Konflikt zwischen dem rationalen und dem magischen Denken, der seine eigene gespaltene Psyche widerspiegelte. Die ihm vererbte Anlage zu Depressionen machte ihn in ungewöhnlichem Maße für die dunkleren Strömungen in der europäischen Kulur empfänglich ... Der Besuch bei den Pueblos sollte sich als Reise in die eigene Seele erweisen und eine Beschäftigung mit den widerstreitenden Kräften auslösen, die sein Leben gestalteten."64

Oder umgekehrt der ansonsten eher nüchterne Carlo GlNZBURG: „Das Studium der Astrologie und der Magie des 15. und 16. Jahrhunderts verflocht sich dramatisch mit dem Wahnsinn, dem er lange Jahre verfiel - als ob die Anstrengung, rational diese zweideutigen, halb mit der Wissenschaft und halb mit einer mysteriösen Welt in Beziehung stehenden Kräfte zu beherrschen, einen tragischen Ausgleich auf der Ebene der Biographie erfordert hätten."65

Zu einer Verknüpfung von Werk und Seelenleben hatte nicht zuletzt WARBURG selbst beigetragen. 1929 notierte er im Tagebuch der Bibliothek: „Manchmal kommt es mir vor, als ob ich als Psychohistoriker des Abendlandes die Schizophrenie des Abendlandes aus dem Bildhaften in selbstbiographischem Reflex abzuleiten versuche. Die ekstatische Nymphe (manisch) einerseits, und der trauernde Flußgott (depressiv) andererseits."66

Im Manuskript des Kreuzlinger Vortrags, der 1988 aus dem Nachlaß veröffentlichten Schrift zum Schlangenritual bei der Pueblo-Indianern, in der WARBURG seine symboltheoretischen Überlegungen entwirft - und eine Leistung, mit der er sich 1923 nach fast sechsjährigem Aufenthalt in der Nervenheilanstalt Kreuzlingen aus dieser gewissermaßen , freikauft' - , notiert er: „Ich will, daß auch nicht der leiseste Zug blasphemischer Wissenschaftelei in dieser vergleichenden Suche nach dem ewig gleichen Indianertum in der hilflosen menschlichen Seele gefunden werde. Die Bilder und Worte sollen für die Nachkommenden eine Hilfe sein bei dem Versuch der Selbstbesinnung zur Abwehr der Tragik der Gespanntheit zwischen triebhafter Magie und auseinandersetzender Logik. Die Konfession eines Schizoiden, den Seelenäizten ins Archiv gegeben".67

Beide Bemerkungen stammen jedoch bezeichnenderweise aus der Zeit nach WARBURGs Krankheit und scheinen eher dem Versuch stattzugeben, post eventum die stark vereinnahmende psychische Situation mit dem eigenen Werk zu harmonisieren. Es läßt sich kaum bestreiten, daß eine Reflexion auf dieser Ebene für WARBURG selbst zu diesem Zeitpunkt auf der Hand lag. Auch daß sich WARBURG aus gegebenem Anlaß gerade auf die Wahl eines 64

65

66 67

R. CHERNOW, Die Warburgs. Odysfsjee einer Familie, Berlin 1994, 95. Die Kapitelüberschrift bezieht sich auf WARBURGs Arbeit zum Schlangenritual, s. dazu unten S. 174, 179f. C. GlNZBURG, Kunst und soziales Gedächtnis. Die Warburg-Tradition (ital. Orig.: Da A. Warburg α Ε. H. Gombrich, Studi Medievali, Serie III, 7, 1966, 1015-1065), in: DERS., Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, aus dem Ital. von K. F. Hauber, Berlin 1983, 115-172. 116. E. GOMBRICH, Aby Warburg zum Gedenken, in: ASW, 465-477. 475. Ebd., 473.

174

Aby Warburg

solchen Themas verständigte, mag psycho-biographisch zu erklären sein. Die Reise nach New Mexico jedoch, auf deren Erfahrung die Arbeit am Schlangenritual basierte,68 lag bereits siebenundzwanzig Jahre zurück (1895/1896). Daß er diese Reise einst unternommen hatte, hat mit der später einsetzenden Krankheit praktisch nichts zu tun: In seinem Entwurf zum Kreuzlinger Vortrag (17. März 1923, S. 1) - auch dies ein Dokument aus der Zeit nach Krankheitsausbruch, gleichwohl ein Rückblick auf ein fast dreißig Jahre zurückliegendes Ereignis - deutet WARBURG die tieferliegenden Motive an, die ihn seinerzeit zu dem Unternehmen bewogen. Der Abstecher nach New Mexico, den er anläßlich der Hochzeit seines Bruders Paul in New York machte, scheint demnach primär dem Wunsch nach einer ethnologischreligionswissenschaftlichen Kunstwissenschaft gefolgt zu sein: „[Ich entschloß mich], das westliche Amerika sowohl als moderne Schöpfung wie in seinen spanisch-indianischen Unterschichten zu besichtigen ... Außerdem hatte ich vor der ästhetisierenden Kunstgeschichte einen aufrichtigen Ekel bekommen. Die formale Betrachtung des Bildes - unbegriffen als biologisch notwendiges Produkt zwischen Religion und Kunstausübung - . . . schien mir ein steriles Wortgeschäft hervorzurufen."6'

Auch Fritz SAXL beschreibt den inneren Anlaß der Reise in dieser Richtung. Ausgehend von den Prämissen der sogenannten Vergleichenden Methode hatte WARBURG ein primitives Volk aufgesucht, um auf diese Weise Aufschlüsse über das (dämonische) Heidentum zu gewinnen: „Die Frührenaissance hatte ihre Vorbilder in der heidnischen Antike gefunden: um Einblick in das antike Heidentum zu gewinnen, kann der Historiker nichts besseres tun, als sich in ein heidnisches Land zu begeben."

Fritz SAXL ist es denn auch, der WARBURGs Programm einer religionswissenschaftlichen Kunstwissenschaft und die Einbeziehung ethnologischer Forschungsmaterialien mit den Eindrücken in Verbindung bringt, die in Bonn auf den jungen Kunsthistoriker gewirkt haben. „Warburg war ja nicht nur Schüler der Kunsthistoriker Justi und Janitschek, sondern auch Useners, d.h. der Richtung der deutschen Religionsgeschichtsforschung, die - wie Frazer in England - versuchte, die antiken Texte und den Ursprung der griechischen und römischen Religion mit Hilfe noch existenten Heidentums zu begreifen."70

68

69 70

Zum genauen Reiseverlauf vgl. C. NABER, Pompeij in New Mexico. Aby Warburgs amerikanische Reise, Freibeuter 38, 1988, 88-97. 2000 organisierte der italienische Kunsthistoriker Salvatore SETTIS für das Getty Research Center eine Ausstellung über Aby Warburg im Südwesten der USA. E. GOMBRICH, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, 117. F. SAXL, Warburgs Besuch in Neu-Mexico (1929/1930), in: ASW, 317-326. 318. Im Schlangenritual bezieht sich WARBURG im übrigen auch wiederholt auf E. B. TYLOR, Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, and Language, Art and Custom, 2 Bde., London 1871 (vgl. etwa a.a.O., 53: „Überbleibsel"), J. E. HARRISON, Prolegomena to the Study of Greek Religion (1903), 3. Aufl., Cambridge 1922, und W. MANNHARDT, Wald- und Feldkulte, Bd. 2: Antike Wald- und Feldkulte aus nordeuropäischer Überlieferung erläutert, Berlin 1877.

Warburg als .Schüler' Useners

175

WARBURGs Aufgeschlossenheit für Ethnologie und Religionswissenschaften war die sachbezogene Weiterentwicklung eines groß angelegten Projekts, die Einzelwissenschaften aus ihrer Begrenztheit herauszuführen und für eine kulturwissenschaftliche Anthropologie fruchtbar zu machen, wie es WARBURG im Bereich der Philologie von USENER und DIETERICH vorgeführt worden war, keineswegs aber der selbsttherapeutische Versuch eines krankhaft von Dämonen Bedrohten. Zu Recht hat deshalb bereits 1979 Michael DlERS die Rede von der Bedrohung durch den „eigenen Dämon", von einem „psychologisch tief gefährdeten Menschen", der nicht „gegen dämonische Kräfte" gefeit sei, als einen Topos entlarvt und davor gewarnt, eine allzu enge Verknüpfung von „wissenschaftlicher und persönlicher Problematik" herzustellen:71 „Gewinnt dieses Verfahren die Oberhand, ist ein gewichtiger Zugang für die Rezeption von Warburgs Arbeit verstellt."72

Warburg als,Schüler ' Useners Der psycho-biographische Ansatz, jedenfalls in der Totalität, mit der er auf die Deutung des WARBURGschen Konzepts zuweilen Einfluß genommen hat, ist in der Tat vor dem Hintergrund von WARBURGs Bonner Studienjahren und seiner Prägung durch das von der religionswissenschaftlichen Schule praktizierte Forschungsprogramm problematisch. Schon WEIGEL räumt ein, daß die behauptete „Nähe zwischen Geschichtsdeutung und Selbstdeutung... die Korrespondenzen zwischen Gegenstand und Arbeitsweise in einer pathologisierenden Erklärung verdeckt."73 Abgesehen davon, daß wir von WARBURGs Krankheit nicht wirklich etwas wissen (die Krankenakten sind bis heute unter Verschluß), bedeutet die ,psycho-biographische' Lesart eine Pathologisierung WARBURGs, die nicht nur seinen Forschungen nicht gerecht wird, sondern U. Raulff, Nachwort zu WARBURG, Schlangenritual, 74f., macht auch auf die enorme Bedeutung von Heymann STEINTHAL aufmerksam, von dessen .Zeitschrift für Völkerpsychologie' WARBURG mehrere Bände besaß. M. DlERS, Kreuzlinger Passion, 5-15, mit Zitaten von: E. PANOFSKY (vgl. L. L. MÖLLER, Erwin Panofsky 1892-1968, 9), E. GOMBRICH (Aby Warburg zum Gedenken, zitiert nach: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen, Bd. 11, Hamburg 1966, 1527. 23) und L. L. MÖLLER (a.a.O., 17). Vgl. auch C. G. HEISE, Persönliche Erinnerungen an Aby Warburg, Hamburg 1959, 47, der mit Nachdruck eine Erforschung der Kreuzlinger Tagebücher, die WARBURG während seiner Krankheitsjahre verfasste, fordert; F. SAXL, Three Florentines ': Herbert Harne, Aby Warburg, Jacques Mesnil, in: DERS., Lectures, London 1957, B d . l , 331-344; G. BING, Vorwort zu: Aby Warburg, Gesammelte Schriften (1932), in: WARBURG, Gesammelte Schriften, Bd. 1.1, hrsg. von H. Bredekamp/ M. Diers, Berlin 1998,1-XIX. XI. M. DlERS, Kreuzlinger Passion, 6. S. WEIGEL, Aby Warburgs Schlangenritual, 282.

176

Aby Warburg

sein Werk auch als eine Idiosynkrasie mißversteht, ohne es auf seinen geistesgeschichtlichen Ort und auf seine innere Logik hin zu befragen. Freilich ist auch der geistesgeschichtliche Hintergrund vielfaltig. WARBURG steht unter dem Eindruck von Karl LAMPRECHTs Konzept einer Universalgeschichte;74 in den Kunsthistorikern JUSTI und JANITSCHEK findet er Vorbilder für eine anti-traditionelle Kunstwissenschaft. Daß WARBURGs gleichwohl durchaus eigenständiger Ansatz auch in dem intellektuellen Umfeld der religionswissenschaftlichen Schule eine Inspirationsquelle fand, zeigt sich (abgesehen von marginalen begrifflichen Spuren)75 vor allem in der Intensität, mit der er wesentliche Konstituenten ihres Programms in die Kunstwissenschaften übersetzt. Bei USENER begegnete WARBURG dem Verfahren von Dekontextualisierung und Strukturanalyse, dem Willen, anhand von menschlichen Ausdrucksphänomenen auf Grundformen der menschlichen Psyche zu schließen, der Idee, daß sich bestimmte Ausdrucksphänomene über Epochengrenzen hinweg fortsetzen, der Abwendung von einer ästhetischen Textbetrachtung, der Frage nach den Ursprüngen und ,Nachtseiten' von Religion und vor allem: der geglückten Verbindung einer traditionell auf Textexegese gerichteten Fachdisziplin mit den Religionswissenschaften und (dies vor allem bei DIETERICH) mit der Ethnologie. Daß WARBURGs Besuch des Bonner philologischen Seminars kein marginaler Ausflug in die Gräzistik war, überliefert seine

Bei Karl LAMPRECHT, dem Verfasser des Deutschen Wirtschaftslebens im Mittelalter (1886) hörte WARBURG die Vorlesungen über Rheinische Kulturgeschichte (SS 1887) und über Grundzüge der deutschen Kulturentwicklung im Mittelalter (WS 1887/1888), vgl. E. GOMBRICH, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, 55. Die Bedeutung Karl LAMPRECHTs ist, zumal angesichts seines 1909 gegründeten (der Leipziger Universität affiliierten),Königlich-Sächsischen Instituts für Kultur- und Universalgeschichte', leicht zu überschätzen. So nennt GOMBRICH ihn den einzigen Lehrer WARBURGS, „wenn es denn je einen Menschen gibt, den man als Werburgs Lehrer bezeichnen könnte" (a.a.O., 55), was etwas übertrieben ist, zumal LAMPRECHT trotz seiner Absage an eine „bloße internationale Politik-, Kriegs- und Beziehungsgeschichte" und seiner Ansicht, daß eine „universalgeschichtliche Interpretation nur auf kulturgeschichtlicher Basis wissenschaftlich sein konnte", trotz seines Versuchs zu einer „Theorie des Charakters und des Ablaufs der Kulturzeitalter" und der offensichtlichen Einbeziehung völkerpsychologischer Grundlagen ein recht ungenaues theoretisches Konzept hatte und seine geschichtsphilosophischen Ambitionen wenig ausgeprägt waren (vgl. H. SCHLEIER, Karl Lamprechts Universalgeschichtskonzeption, 147). Für WARBURG zweifellos bedeutsam war hingegen LAMPRECHTs Interesse an einer psychogenetischen Mechanik von Entwicklungsprozessen und Übergangsperioden, seine Hinwendung nicht auf das Individuell-Spezifische, sondern auf das Regelmäßige,,Gesetzmäßige' sowie seine unparteiliche, d.h. nicht an ästhetische Werte gebundene Einbeziehung aller Äußerungen von Kultur. Auch die Betrachtung von Kunst als ,Ausdruck eines Zeitalters' war von LAMPRECHT, nicht zuletzt natürlich von Jacob BURCKHARDT (s. dazu Y. MAIKUMA, Der Begriff der Kultur bei Warburg, Nietzsche und Burckhardt) vorbereitet worden, vgl. dazu WARBURG, Sandro Botticellis „Geburt der Venus" und „Frühling" (s. Anm. 102), in: ASW 47. WARBURG verwendet beispielsweise mehrfach USENERs Begriff der „Augenblicksgötter" (s. z.B. Heidnisch-antike Weissagung, 203, 225, 230).

Warburg als,Schüler' Useners

177

(freilich nicht ohne ironischen Unterton vorgetragene) Bemerkung: „Philosophie bekomme ich in dem Colleg von Usener genug."76

Symbol und Begriff In seinem 1896 erschienenen Hauptwerk Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung hatte USENER den Beginn der religiösen Begriffsbildung in der Angst vermutet.77 Der Mensch habe sich vor der ihm unbekannten Um- und Innenwelt gefürchtet und jede einzelne Erscheinung als ein göttliches Wesen identifiziert (Augenblicksgötter). Die Überwindung dieser Furcht beschreibt USENER als einen unbewußt verlaufenden Objektivierungsprozeß, der dazu geführt habe, daß - durch die Vorstellung von ursächlich wirkenden Wesen (Sondergöttern) - an die Stelle des Zusammenfallens das Auseinandertreten von Ding und Gott getreten sei. Nachdem die Namen dieser .Sondergötter' nicht mehr verstanden worden seien und man sie nicht mehr bestimmten Zuständigkeitsbereichen habe zuordnen können, habe man sich die dazugehörigen Wesen schließlich als persönliche, subjekthafte und willentlich agierende Wesen vorgestellt und versucht, sie durch Gebet zu beeinflussen. Bei WARBURG tauchen einige dieser Überlegungen wieder auf: der Zusammenhang von Furcht und Religionsentstehung, die Überwindung der Furcht durch Artikulation sowie das Problem des Übergangs von Identitätsrelationen zu Vertreterrelationen. Auf der Ebene der Bildproduktion übersetzt WARBURG USENERs Theorie der Objektivation in eine Theorie des Symbols, in der er die in den Symboltheorien von Friedrich Theodor VISCHER78 und Thomas CARLYLE 7 9 formulierte Spannung zwischen .magischer Ineinssetzung' und ,logisch-sonderndem Vergleich' mit der Aufgabe, sie in ein

76 77

78

79

E. GOMBRICH, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, 45. S. dazu oben S. 53ff. Zur langen Vorgeschichte der Entstehung der Götternamen s. oben S. 78ff., 85ff. Zur Zeit von WARBURGs Besuch von USENERs Kolleg (1886) war das Grundkonzept im wesentlichen ausgereift. F. Th. VISCHER, Das Symbol, in: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fiinfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet, Leipzig 1887, 151-193, wiederabgedruckt in: DERS., Kritische Gänge, hrsg. von R. Vischer, Bd. 4, 2. Aufl., München 1922, 420-456. 424f.: „Bild und Bedeutung wird [im Symbol] verwechselt ... Die religiöse Vorstellung [nimmt] das Symbol eigentlich, [sie macht] aus dem bloßen Vergleichspunkt ein substanzielles Einwohnen ... ein physisches ... Hineingehen der Wesenheit... Man kann dies Verwechseln in allen seinen Formen Transsubstantiation nennen." Den Begriff nimmt Ernst CASSIRER wieder auf, s. oben S. 118. Th. CARLYLE, Sartor Resartus, Leipzig 1855, 169-172. Zu WARBURGs Lektüre dieses Buches vgl. E. GOMBRICH, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, 99-105. 102f.

178

Aby Warburg

Evolutionsschema einzupassen, verknüpft.80 Was USENER unter dem Begriff der Sondergötter als das Auseinandertreten von Ding und Ursache beschreibt, faßt WARBURG als ein über die Zwischenstufe der heraldischen Skelettierung81 entstehendes Auseinandertreten von Zeichen und Bezeichnetem, als die Überwindung der unmittelbaren Bedrohung durch das Dazwischentreten des „Als Ob".82 Das Bild bedeute die Überwindung der Angst, indem es zwischen Zeichen und Bezeichnetem ,Denkraum' schaffe. In der ins Bild .gebannten' Bewegung, die sich als Gebärden-Formel oder in WARBURGs Terminologie: als ,Pathosformel'83 schließlich durch die Geschichte der Bildkunst zieht, d.h. in der zum Symbol gewordenen emotional aufgeladenen Ausdrucksgebärde, bewahrt sich aber zugleich die Spannung zwischen Affekt und Rationalität. Der Produzent des Bildes reduziert die phobische Qualität einer Erscheinung zugunsten ihrer symbolischen: Er ringt ihr ,Denkraum' ab, indem er die beängstigende Verknüpfung von Mensch und Objekt zerstört.84 Anders als in USENERs Modell der Begriffsbildung, demzufolge die frühen Ausdrucksformen der Identifikation von Gott und Erscheinung im Namensschatz zwar ungehindert weiterleben, die frühen bedrohlichen Vorstellungen selbst aber im wesentlichen durch das kausale und begriffliche Denken überwunden 80

81

82 83

84

Vgl. dazu B. BUSCHENDORF, Zur Begründung der Kulturwissenschaft. Der Symbolbegriff bei Friedrich Theodor Vischer, Aby Warburg und Edgar Wind, in: Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, hrsg. von B. Buschendorf/ H. Bredekamp, Berlin 1998, 227-248. E. WIND, Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung fiir die.Ästhetik (Vierter Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kulturwissenschaft. Beilageheft der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kulturwissenschaft 25, 1931, 163-179), in: ASW, 401-417; Ch. SCHOELL-GLASS, Aby Warburg und der Antisemitismus, 240; W. RIEDEL, Archäologie des Geistes. Theorien des wilden Denkens um 1900, in: Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998, hrsg. von J. Barkofft G. Carr/ R. Paulin, Tübingen 2000, 467-485. 472. Möglicherweise hat auch eine Auseinandersetzung mit F. CREUZER, Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen (1810/1812) hereingespielt. Vgl. dazu WARBURG, Schlangenritual, 13: „[Die heraldische Skelettierung] zerlegt den Vogel z.B. in seine wesentliche Bestandteile, und zwar so, daß er zum heraldisch geformten Abstraktum wird. Er wird zur Hieroglyphe, die nicht mehr geschaut, sondern gelesen sein soll. Wir haben eine Zwischenstufe zwischen Wirklichkeitsbild und Zeichen, zwischen realistischem Spiegelbild und Schrift. Man kann an dieser Art der Ornamentbehandlung solcher Tiere sofort sehen, wie diese Art des Sehens und Denkens zur symbolischen Bilderschrift führen kann." Ebd., 53. Zur „Pathosformel" vgl. S. SCHADE, Charcot und das Schauspiel des hysterischen Körpers. Die „Pathosformel" als ästhetische Inszenierung des psychiatrischen Diskurses - Ein blinder Fleck in der Warburg-Rezeption, in: Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft, 461-484; vgl. auch den Exkurs zur Pathosformel bei Aby Warburg, in: D. von HOFF, Ikonographie des Weiblichen - die Attitüde in der Goethe-Zeit am Beispiel von Ida Brun, in: Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft, 485-496. 486488. Gleiches gilt auch für eine frühe Stufe der Schriftentwicklung: die Bilderschrift, vgl. WARBURG, Schlangenritual, 13.

Warburg als .Schüler' Useners

179

werden, sieht WARBURG, wie schon eingangs bei der Besprechung seines Aufsatzes zur Heidnisch-antiken Weissagung gezeigt, die magisch-bindende Auffassung als eine sich perpetuierende, immer wieder von neuem zu überwindende Bedrohung. Darauf hatte ihn nicht nur seine Bildlektüre gestoßen. Auf ritueller Ebene beobachtet WARBURG einen ähnlichen Vorgang. Im Schlangenritual beschreibt er, wie die Pueblo-Indianer die Schlange, die sie (wegen ihrer blitzförmigen Gestalt) mit dem Blitz „magisch-kausal verknüpften]",85 im Zauber zu bezwingen suchen. Im Maskentanz wird der Mensch zum verursachenden Prinzip und tritt dem lebendigen, animalischen Symbol der Blitzes entgegen. Er verleibt sich die Schlange ein (indem er sie in den Mund nimmt), läßt sie wieder frei und zwingt sie, als Blitzerreger oder als Wassererzeuger zu wirken. Der Maskentanz ist „getanzte Kausalität": „Ich will zufrieden sein, wenn Ihnen diese Bilder aus dem täglichen und festlichen Leben der Pueblo-Indianer gezeigt haben, daß ihre Maskentänze keine Spielereien sind, sondern die primäre heidnische Form der Beantwortung der großen quälenden Frage nach dem Warum der Dinge: Der Unfaßbarkeit der Vorgänge in der Natur stellt der Indianer dadurch seinen Willen zur Erfassung entgegen, daß er sich in eine solche Ursache der Dinge persönlich verwandelt. Triebhaft setzt er für die unerklärte Folge die Ursache in größtmögliche Faßbarkeit und Anschaulichkeit. Der Maskentanz ist getanzte Kausalität. Wenn Religion Verknüpfung heißt, so ist das Symptom der Entwicklung aus diesem Urzustand heraus, daß die Verknüpfung zwischen Mensch und fremder Wesenheit auf Vergeistigung dadurch hindrängt, daß der Mensch sich mit dem Masken-Symbol nicht mehr zusammenzieht, sondern die Verursachung rein gedanklich vollzieht, d.h. zu einer systematischen sprachlichen Mythologie fortschreitet. Der Wille zur andächtigen Hingabe ist eine veredelte Form der Maskierung. Mit dem, was wir Fortschritt in der Kultur nennen, verliert das Wesen, das die Hingabe erheischt, immer mehr seine ungeheuerliche Erfaßbarkeit und wird schließlich zum geistigen, unsichtbaren Symbol."86

Zugleich beobachtet WARBURG (ähnlich wie schon in der Bildkunst) eine „schizoide" Koexistenz von Zivilisation und „fantastisch magischer Verursachung".87 Die Schlangenrituale wurden inmitten einer technischen Kultur praktiziert, in der neben spanisch-katholischen Einflüssen auch die nordamerikanische Erziehung hineingewirkt hatte, und wurden dennoch als eine existentielle Regelung des Daseins empfunden. Der mit der Schaffung des Symbols (als eines Mittels zur Abwehr oder Einverleibung des Unbekannten, Bedrohlichen) versuchte Aufklärungsakt reflektiert, so W A R B U R G s Folgerung, die Präsenz der ständigen Bedrohung, das die logische Denkweise begleitende Sich-Aufbäumen des Magischen. Erst im (verbalen oder piktoralen) Bild wird diese Bedrohung gebannt: „Du lebst und thust mir nichts".88 85 86 87 88

Ebd., 16. Ebd., 51 f. Ebd., 24. Vgl. dazu H. BREDEKAMP, „DU lebst und thust mir nichts". Anmerkungen zur Aktualität Aby Warburgs, in: A by Warburg. Akten des internationalen Symposions, Hamburg 1990, 1-10.

180

Aby Warburg

Zwei Dinge beschäftigten WARBURG im Zusammenhang mit dieser Beobachtung: Die Prägung und die Weitergabe dieser Symbole. Auch in dieser Doppelfrage ist das Erbe USENERs unverkennbar. WARBURG betrachtet das Bild in seiner religionswissenschaftlich-psychologischen Dimension und macht sich daran, aufzuzeigen, wie die „typische antike Gebärdensprache der antiken Kunst", die „Pathosformeln",89 d.h. die in das europäische Bildgedächtnis eingeschriebenen Formeln „gesteigerten körperlichen oder seelischen Ausdrucks"90 in die Bildgeschichte eingegangen und memoriert sind. Freilich sind die Unterschiede in der Beurteilung dieser Kontinuität eklatant: Die Wirksamkeit der Augenblicksvorstellungen sieht USENER durch die Entstehung höher entwickelter Vorstellungen größtenteils aufgehoben. Sein Begriff von Kontinuität weist auf die Kontinuität von Ausdrucksformen, nicht aber von deren Entstehungsbedingungen. Bei WARBURG dagegen besteht Kontinuität vor allem in dem bleibenden Spannungsverhältnis von Bedrohung und Überwindung. Seine ,Pathosformeln' sind kein inhaltsleeres Archiv oder, wie USENER von der Sprache sagt: eine „urkunde", sondern ganz im Gegenteil: aufgeladen mit „mnemischer Energie".

Kontinuität Das Bildgedächtnis, wie WARBURG es beschreibt, funktioniert zwar keineswegs im Sinne einer anthropologisch bedingten polygenetischen Symbolbildung, sondern als Rekurs auf einen bestehenden, in der Bildproduktion weitergegebenen Formelfundus - WARBURG spricht von der steten und un-/ bewußten Weitergabe der Bildformeln, den sogenannten „Wanderstraßen". Aber er betont eben auch das in diesen Bildformeln manifeste polare Spannungsverhältnis von Magie und Logik, wie es sich in der Astrologie und in ihrem durch mathematische Berechnung (d.h. Denkraum schaffenden) und Dämonenfiircht (d.h. diesen Denkraum wieder zerstörenden) gleichermaßen gekennzeichneten Wesen besonders pointiert ausdrückt. Dieses zweite Dogma, das USENERs Ansatz entscheidend modifiziert, beruht sowohl auf den ethnologischen Beobachtungen, die er im Schlangenritual zusammenfaßt, als auch auf dem an zahlreichen Bildmaterialien erbrachten Nachweis, daß „die Antike gleichsam in einer Doppelherme verehrt wurde, die ein dämonisch-finsteres Antlitz trug, das abergläubischen Kult erheischte, und ein olympisch-heiteres, das ästhetische Verehrung forderte."91 Während die Kontinuität dieser zweifachen Antike innerhalb der religionswissenschaftlichen Schule vor allem unter 89

90 91

Vgl. dazu M. DIERS., Die Erinnerung der Antike bei Aby Warburg oder Die Gegenwart der Bilder, in: Urgeschichten der Moderne, hrsg. von B. Seidensticker/ M. Vöhler, Stuttgart/ Weimar 2001, 40-65. 49ff. Zitate aus: WARBURG, Dürer und die italienische Antike, in: ASW 125-135. 126f. WARBURG, Heidnisch-antike Weissagung, 231.

Warburg als ,Schüler' Useners

181

den Stichworten eines ,starren Festhaltens' überholter Denkformen (Albrecht der dies vor allem für die sogenannten .niederen' Volksschichten geltend machte) oder der Inkorporation in neue Deutungssysteme (Hermann USENER, vgl. vor allem dessen Studie zum Weihnachtsfest) diskutiert wurde, steht bei Aby WARBURG vor allem die zeitlose Präsenz einer mit dem Ringen um Denkraum im Spannungsverhältnis stehenden, anthropologisch elementaren und darum zeitlosen Dämonenfurcht im Vordergrund. Während die ,olympische' Seite einen beachtlichen Siegeszug durch die Geschichte geführt habe - Warburg verweist hier bevorzugt auf die klassisch-veredelte, antike Götterwelt WlNCKELMANNs 92 - , habe auch die dämonische Seite, die heidnisch-astrologische Kosmologie auf den „Wanderstraßen vom Hellenismus über Arabien, Spanien und Italien" ihren Weg bis nach Deutschland gefunden - erinnert sei hier an WARBURGs These in der Heidnisch-antiken Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten. Auch auf den Fresken im Palazzo Schifanoja zu Ferrara macht WARBURG eine „zweifache mittelalterliche Überlieferung der antiken Götterwelt"93 aus: Auf den Wandbilderreihen, zwölf Monatsbildern, von denen sieben erhalten sind, finden sich neben den olympischen Göttern, wie sie seit Manilius den zwölf Monaten bzw. Sternkreiszeichen zugeordnet sind, auf einer darunter liegenden Reihe auch die entsprechenden Repräsentanten der astralen Götterwelt, wie sie aus dem hellenistischen Raum über Kleinasien nach Ägypten, von dort nach Indien, und schließlich über den arabischen Astrologen Abu Ma'schar nach Spanien und durch eine hebräische Übersetzung wiederum von dort nach England gelangten. An den Fresken des Palazzo Schifanoja läßt sich demnach „sowohl die Einwirkung der systematischen olympischen Götterlehre, wie sie jene gelehrten mittelalterlichen Mythographen von Westeuropa überlieferten, als auch der Einfluß astraler Götterlehre, wie sie sich in Wort und Bild der astrologischen Praktik ungestört erhielt, bis ins einzelne quellenmäßig klarlegen".94 Die Überwindung des Dämonischen setzt erst mit der humanistischen Vergeistigung ein. In Albrecht DÜRERs Melencolia I tritt an die Stelle des „babylonischen Geisteszustandes" - die Wahrsagekünste führt WARBURG (über die „Wanderstraßen") auf die Babylonier zurück - das „naturwissenschaftliche Interesse".95 DIETERICH,

„[Der] finstere Trübsinn des Saturn ... [wird] humanistisch vergeistigt in menschliche Nachdenklichkeit. Die tief in sich versunkene geflügelte Melancholia sitzt, den Kopf auf die Linke gestützt, einen Zirkel in der Rechten, inmitten technischer und mathematischer Geräte und Symbole; vor ihr liegt eine Kugel. Zirkel und Kreis (und also auch die Kugel) sind ... das alte Denksymbol der Melancholie. Bei Dürer wird also der Saturndämon unschädlich

92 93

94 95

Ebd., 202. WARBURG, Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara, 174. Ebd. WARBURG, Heidnisch-antike Weissagung, 255.

182

Aby Warburg

gemacht durch denkende Eigentätigkeit der angestrahlten Kreatur; das Planetenkind versucht sich durch eigene kontemplierende Tätigkeit dem ... drohenden Fluch des dämonischen Gestirns zu entziehen."96

Die Symbole, die der Melencolia im Bild beigefügt sind und sie bestimmen, bedeuten demnach einen Gewinn an Denkraum: „Wir sind im Zeitalter des Faust, wo sich der moderne Wissenschaftler - zwischen magischer Praktik und kosmologischer Mathematik - den Denkraum der Besonnenheit zwischen sich und dem Objekt zu erringen versuchte. Athen will eben immer wieder neu aus Alexandrien zurückerobert sein."97

Gerade der letzte Satz des Zitats zeigt noch einmal einen der virulentesten Modifikationen, die WARBURG gegenüber seinem Lehrer USENER vornimmt. WARBURG erkennt das konstante Spannungsverhältnis zwischen Magie und Logik als ein dauerhaftes, zeitloses Phänomen, das sich in der Bildtradition gerade im Detail, nämlich in der Tradition antiker Pathosformeln bis in die Gegenwart nachweisen läßt - in seinem unvollendeten Bilderatlas Mnemosyne98 zeigt WARBURG deren Nachwirken bis hin zu englischen Briefmarken. Während der Mythos in USENERs Konzept die ursprünglichen Vorstellungen und damit auch die (im Zusammenhang mit der furchterregenden Natur stehende) religionsbildende Angst des Menschen thesauriert und - da diese Stufe im mythisch-begrifflichen Denken nicht mehr präsent ist - nur als Potentialität in sich birgt, d.h. im eigentlichen Sinne archiviert, bleibt das Symbol für WARBURG immerzu energiegeladen und präsent: „[Das Symbol] ist eine aus Erinnerung an ursprüngliche sinnliche Erfahrung gespeiste und daher mit Geschichte aufgeladene Formel, die logische [d.h. Denkraum schaffende] Funktion besitzt, eine geformte Einheit, die abrufbereit im Gedächtnis liegt."99

Dem Archiv100 des USENERschen .Mythos' steht die ,mnemische Energie' des WARBURGschen Bildsymbols gegenüber. Dem Entwicklungsprozeß, wie er gemäß der von USENER postulierten Abfolge von Augenblicks-, Sonder- und persönlichen Göttern in der Systematisierung und Personifikation der Begriffe seinen Abschluß findet, setzt WARBURG ein permanentes und darum zeitloses Spannungsmoment gegenüber: das genuin menschliche Bedürfiiis, Denkraum zu gewinnen. Anders als bei den von USENER in den Blick genommenen Götternamen läßt sich bei WARBURG von dem Versuch sprechen, das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft aufzuschlüsseln, und zwar insofern, als die einzelnen Momente der 96 97 98

100

Ebd., 260f. Ebd., 267. WARBURG, Der Bilderatlas Mnemosyne (= DERS., Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Bd. 2.1), hrsg. von M. Warnke/ C. Brink, Berlin 2000. R. KANY, Mnemosyne als Programm, 150. Die Begriffe „Archiv", „Erinnerung", „Tradition" werden hier in Anlehnung an A. ASSMANN, Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hrsg. von A. Assmann/ D. Harth, Frankfurt a.M. 1993, 13-35, gebraucht.

Warburg als .Schüler' Useners

183

.Vergangenheit' als solche noch konkret erfahrbar sind. Während sich die von beschriebenen .religiösen Vorstellungen' wandeln, ihr ursprünglicher Ausdruckswille verdunkelt und in späteren Entwicklungsstadien nicht notwendig mitgedacht wird, bleiben die von WARBURG beobachteten bildlichen Ausdrucksformen innerhalb späterer Kontexte bedeutungskonstitutiv. Der Prozeß der Denkraumgewinnung verdichtet sich im Symbol, das Symbol wiederum wird zu einer aufgeladenen Formel, die abrufbereit im Gedächtnis liegt. Anders als die von USENER als solche beschriebenen religiösen Begriffe wird das Symbol zu einem elementaren Bestandteil der Deutung eines bildlichen Ausdrucks: Die Augenblicksgötter und die Sondergötter sind unter den Götternamen (etwa als Epitheta, Lokaldämonen oder Heroen) thesauriert, die dem Vorgang des Benennens zugrunde liegende und durch die Benennung schließlich gebannte Angst sind aber nicht mehr im eigentlichen Sinne präsent. WARBURG betrachtet den Prozeß der - um es in seiner Terminologie auszudrücken - ,Denkraumgewinnung' dagegen keineswegs als überwunden. Das Symbol, wenngleich auf ,Wanderstraßen' transportiert und nicht aufgrund einer polygenetischen Verursachung stets aufs Neue produziert, lebt von der permanenten und zeitlosen Spannung zwischen den - bei USENER chronologisch entschichteten und auseinandergezerrten - Polen Logik und Magie. Die Kontinuität der Pathosformeln, der bildhaft begrenzten, d.h. ins Bild gebannten Bewegung, gestaltet sich dabei als mal bewußt geübter, mal lediglich „im Geist der Antike" stehender101 Rekurs auf die antike Formenwelt. In der Dissertation zu Sandro Botticellis „Geburt der Venus" und „Frühling" (1893), in der WARBURG die Gestaltung des bewegten Beiwerks auf die bei Polizian geschilderte Geburt der Venus (Stanzen 99-103) zurückführt, geht er zum einen von Reflexion und theoretisch fundierter Wiederaufnahme des antiken Formenschatzes aus: USENER

„Polizian mag immerhin durch Albertis Hinweis [sc.: in dem 1435 abgeschlossenen libro della pittura fordert Alberti bezüglich des bewegten Beiwerks ein „Compromissproduct zwischen anthropomorphistischer Phantasie und vergleichender Reflexion"102] darin angeregt oder dazu bestärkt worden sein, die Wiedergabe des bewegten Beiwerks als künstlerisches Problem ins Auge zu fassen - wie auch eine damals schon vorhandene Ideenrichtung in den Florentiner Künstlerkreisen es ihm nahe gelegt haben konnte, die Figuren auf seinen Reliefs mit Bewegung in Haar und Gewandung erscheinen zu lassen - sicherlich giebt Polizian dieser Stimmung bewusst und selbständig dadurch einen neuen Rückhalt, dass er die Worte, um dieses bewegte Beiwerk zu schildern, den Worten, die er in antiken Dichtem - Ovid [sc. Met. 2, 873; Fasti 5, 607ff.] und Claudian [sc. De raptu Proserpinae 2, 229ff.] - gesucht hatte, getreu nachbildete."'03

101

102

103

Daß die Übernahme von Bildformeln auch ,unbewußt' verlaufen kann, hat M. DIERS., Die Erinnerung der Antike bei Aby Warburg oder Die Gegenwart der Bilder, anhand zahlreicher Beispiele aus der Moderne anschaulich demonstriert. Vgl. WARBURG, Sandro Botticellis „ Geburt der Venus " und „Frühling". Eine Untersuchung über die Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frührenaissance (Diss. Hamburg/ Leipzig 1893), in: ASW, 11-63. 20. WARBURG, Sandro Botticellis „ Geburt der Venus " und „ Frühling ", 21 f.

184

Aby Warburg

Zum anderen versteht er das Nachleben der Antike aber auch als ein von direkten Vorbildern unabhängiges Fortwirken: ,,[B]ei der Hervorhebung des bewegten Beiwerks in der Tracht der Zeitgöttinnen, welche die Venus empfangen, lässt sich ein direktes Vorbild nicht nachweisen. Man darf aber annehmen, dass der Dichter [sc.: Polizian] sich dem Geiste der antiken Dichter so recht nahe fühlte, indem er sich in dieser Ovidianisch-claudianischen Ausmalung der Beweglichkeiten erging·"'04

Anders als USENER, der von einer De- bzw. Rekontextualisierung ursprünglicher Ausdrucksformen ausgeht und die frühere Elemente auch außerhalb ihrer Entstehungsbedingungen un- bzw. «/«besetzt fortbestehen läßt, behauptet WARBURG die Existenz eines Bildgedächtnisses, das im Kontext des beständigen Ringens um Denkraum einen mehr oder weniger bewußt gestalteten Rekurs auf die antike Formenwelt erlaubt. WARBURG und USENER dagegen gemeinsam ist, daß beide den durch ihre vergleichende Strukturanalyse erbrachten Nachweis der Kontinuität bzw. des Fortlebens paganer Ausdrucksformen mit der Forderung zu einer Entgrenzung der Epochen verbinden, die dem Wunsch geschuldet ist, zu einer - wenn auch in unterschiedlicher Weise verstandenen - Psychologie des menschlichen Geistes vorzudringen. Daß WARBURG anders als USENER das Weiterleben der ,dämonischen Seite der Antike' im Kontext eines andauernden Spannungsverhältnisses beurteilt schon für die Antike selbst gilt ihm, daß die .„olympische' Seite der Antike ... ja erst der althergebrachten .dämonischen', abgerungen werden [mußte]"105 kann wohl kaum als das „Programm einer Selbstheilung"106 gelesen werden. Zu einem großen Teil jedenfalls ist es auch das Ergebnis seiner ethnologischen Forschungen und seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem von USENER eingeleiteten Perspektivenwechsel, der ihn die von diesem aufgeworfenen Fragestellungen neu überdenken ließ und zu einer religionswissenschaftlichen Kunstwissenschaft inspirierte.

104 105 106

Ebd., 24. WARBURG, Heidnisch-antike Weissagung, 202. U . RAULFF, Nachwort zu WARBURG, Schlangenritual,

83.

Göttlicher Ursprung Zum Neopaganismus bei Walter Friedrich Otto

Mythos und Wissenschaft „[Die] Kraft und Wirkung [des Mythos] hat sich als ungeheuer und einzigartig erwiesen, völlig verschieden von dem, was Vorstellungen oder Wünsche vermögen ... Wir unterscheiden diesen Glauben vom Wissen... weil er ein Wissen ganz besonderer Art ist und daher Wirkungen hervorbringt wie kein anderes Wissen und Vorstellen. Das kann nur das Wissen sein, in dem das Sein selbst sich offenbart. Und so kommen wir zu dem Schluß: der ursprüngliche und echte Mythos, wo und wie er auftreten mag, ist wahr."'

Der Duktus dieser Äußerung weist kaum darauf hin, daß sie aus der Feder eines Schülers von Hermann USENER stammt. Im Gegenteil: Der emphatische Stil und das religiös konnotierte Vokabular, die innere Teilnahme und der pastorale Überzeugungswille stehen in krassem Widerspruch zu der nüchternen Analyse und dem Streben nach Präzision, die die Schriften des Bonner Gelehrten ausgezeichnet hatten. Aber auch inhaltlich scheint keine Verbindung zu bestehen. Eine Anknüpfung an die von USENER geltend gemachten Prämissen: der Mythos als menschliche Vorstellung, das Unbewußte als formgebende Kraft dieser Vorstellungen, das in Einzelschritten sich entwickelnde mythische Denken - all das sucht man in den zitierten Zeilen vergebens. Mehr noch: Daß der Mythos auf menschliches Vorstellen zurückgehe, wird geradezu desavouiert. Ihr Autor, Walter Friedrich OTTO (1874-195 8),2 firmiert zudem vorrangig als ein Schüler BÜCHELERs.3 Die Aufnahme des Gelehrten OTTO in den Kreis

2

3

OTTO, Gesetz, Urbild und Mythos (Stuttgart 1951) in: DERS., Die Gestalt und das Sein, Darmstadt (1955) 1959, 25-90, 87. W.F. OTTO war 1892 fur zwei Semester ans Evangelisch-Theologische Stift nach Tübingen gegangen und hatte dann bei Otto CRUSIUS, Ludwig SCHWABE und Wilhelm SCHMID Klassische Philologie studiert, bevor er nach Bonn zu Hermann USENER und Franz BÜCHELER wechselte. Zu OTTOs Werdegang s. A. STAVRU, Die wissenschaftliche Laufbahn und der Nachlaß von Walter F. Otto. Ein Überblick, Mitteilungen des Marbacher Arbeitskreises für Geschichte der Germanistik, hrsg. von der Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik, 13/ 14, 1998, 48-52. Vgl. dazu F.G. JÜNGER/ M. HIMMELHEBER, Über den Verfasser, in: OTTO, Theophania. Der Geist der altgriechischen Religion (Hamburg 1956), hrsg. von F. G. Jünger/ M. Himmelheber, Frankfurt 1975, 133.

186

Walter F. Otto

der Usener-Rezipienten verlangt also eine Erklärung. OTTO kam nach einem abgebrochenen Theologiestudium am Tübinger Stift, das ihm mehr Abneigung als Sympathie diesem Fach gegenüber eingebracht hatte, und nach einem noch in Tübingen vollzogenen Wechsel zur Klassischen Philologie nach Bonn. Bonn galt seinerzeit neben Berlin als das Zentrum des Fachs, vertreten durch das , D i o s k u r e n p a a r ' USENER u n d BÜCHELER. Bei BÜCHELER v e r f a ß t er

1897 - ein Jahr nach USENERs Publikation der Götternamen - eine Dissertation über die Nomina propria latina oriunda a participiis peifecti.4 Daß BÜCHELER die Arbeit betreut hat, hat ihm nicht zu Unrecht den Ruf eingetragen, OTTOs Lehrer gewesen zu sein. Doch der Einfluß der beiden Lehrstuhlinhaber ist zum einen nicht immer deutlich zu trennen5 - die Zeiten des Ritschl-Streits, in den USENER anfangs noch verwickelt gewesen war, waren einer einigermaßen kooperativen Stimmung gewichen.6 Zum anderen weist gerade die Wahl des Themas darauf hin, daß OTTO sich auch mit USENER intensiv beschäftigt hatte. Denn die methodische Grundlage, auf die OTTO in seiner Dissertation zurückgreift - die Annahme, es sei möglich, Eigennamen einer systematischen etymologischen Analyse zu unterziehen - war schon fur dessen Götternamen fundamental gewesen. Auch zwölf Jahre später erscheint mit der Abhandlung über die Römischen Sondergötter noch eine Arbeit, der es kaum zu verhehlen gelingt, wer ihr den Weg gewiesen hat.7 Wiewohl die frühen Arbeiten OTTOs zweifellos eine enge innere Verwandtschaft mit der den Götternamen zugrunde liegenden Methodik aufweisen, hat sich OTTO seinen Stellenwert als , Schüler' USENERs doch vor allem durch die lebhafte Kritik verdient, mit der er in den 20-er Jahren das theoretische Fundament von dessen Begriffsbildungslehre auf den Kopf stellen sollte. Der an NIETZSCHE mahnende Werdegang vom Klassischen Philologen8 zum publikumswirksamen ,Modephilosophen' - OTTOs Bücher (vorzugsweise seine 1929 erschienenen Götter Griechenlands) gehörten zeitweise zum Pflichtinventar jedes bildungsbeflissenen Haushalts9 - war das Produkt einer 4 5

6

7

8

Die Arbeit wurde 1898 in Fleckeisens Jahrbüchern veröffentlicht. Vgl. dazu W. SCHMID (Hrsg.), Wesen und Rang der Philologie. Zum Gedenken an Hermann Usener und Franz Bücheler, Stuttgart 1969, VIII. Vgl. dazu K.-A. NEUHAUSEN, Hermann Usener (1834-1905) und Franz Bücheler (1837-1908). Kurzer Forschungsbericht mit Bemerkungen zu unbekannten lateinischen Briefen Büchelers an Usener, Gymnasium 97, 1990, 117-130. E. BICKEL, Das philologische Seminar unter Usener und Buecheler, in: Geschichte der Rheinischen Friedrich- Wilhelms-Universität zu Bonn am Rhein, Bd. 2, Bonn 1933, 197-210. RhM 64, 1909, 449-468, wiederabgedruckt in: W.F. OTTO, Aufsätze zur Römischen Religionsgeschichte, hrsg. von E. Heitsch/ R. Merkelbach/ C. Zintzen, Meisenheim am Glan 1975 (= Beiträge zur Klassischen Philologie, Heft 71), 72-91. Vgl. dazu vor allem B. von REIBNITZ, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik", Stuttgart 1992, 1-35. OTTO, Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes, Bonn 1929. Das Buch hat bis heute acht Auflagen erfahren (2. Aufl.: Frankfurt

Mythos und Wissenschaft

187

geradezu obsessiven Antihaltung gegenüber den Kontexten, aus denen heraus sein Projekt entwickelt hatte: die Anbindung des philologischen Interesses an eine theologisch orientierte Fragestellung, die analytische Sezierung heidnischer Religion mit dem Ziel, doch nur etwas über die Entstehung des Christentums zu erfahren, schließlich die von der Ethnologie übernommene Implikation, alles Ursprüngliche sei .primitiv', scheinen OTTO unendlich fremd. Er entschließt sich zu einer intellektuellen Verbrüderung mit dem Antipoden κατ* έξοχήν der Bonner Philologenhochburg: Er findet zu Friedrich NIETZSCHE. Daß in Philologenkreisen das Eis zwischen den Fronten noch lange nicht gebrochen war, zeigt NIETZSCHES Ausgrenzung aus den ,Zitierzirkeln'10 und umgekehrt die provokative Darstellungsweise, in der OTTO für seinen Verständnisansatz wirbt. Bis ins hohe Alter hinein geht seine positive Haltung gegenüber dem einstigen enfant terrible mit der Ablehnung philologischer Praxis und Darstellungsformen einher. Dabei beziehen sich die Animositäten weniger auf den philologischen Handwerker BÜCHELER, den OTTO sehr schätzt, als auf die philosophischen' Ansprüche USENERs und das dessen Methode zugrunde liegende Ineinandergreifen einer psychologisierenden Lesart mit der Überzeugung, eine nicht-christliche Religion auf diese Weise begreifen zu können. OTTO spielt die beiden Lehrstuhlinhaber gegeneinander aus. Er akzeptiert BÜCHELER, der in seinem Metier bleibt. USENER kritisiert er für die ,Hybris', mit der er sein Fach in die Dienste grundsätzlicher Fragen stellt, ohne aus dem Methodenfundus ernsthaft auszubrechen, den ihm die eigene Wissenschaft zur Verfügung stellt. Eine polemische Haltung gegenüber dem von USENER angestrebten Unternehmen, den Ursprung des menschlichen Denkens auf analytischem Wege zu rekonstruieren, zeigen fast alle Schriften OTTOs - selbst die, die auf eine konkrete Namensnennung verzichten. Das Bemerkenswerte daran ist, USENER

10

1933, ab der 3. Aufl. 1947 sind alle weiteren Auflagen unveränderte Nachdrucke, zuletzt: Frankfurt 1987). Das Buch wurde 1941 ins Italienische (I dei della Grecia, übers, von G. F. AIROLDI, Florenz), 1955 ins Englische (vgl. dazu H. J. ROSE, rez.: Walter F. Otto [trans. Moses Hados]: The Homeric Gods: The Spiritual Significance of Greek Religion, London 1955, CR N.S. VI.70, 1956, 162), später ins Griechische (vgl. K.I. MERENTITES, Walter F. Otto. O Bios kai to ergon autou, Athen 1959) und 1983 ins Französische übersetzt, vgl. H. CANCIK, Die Götter Griechenlands. Walter F. Otto als Religionswissenschafter und Theologe am Ende der Weimarer Republik (AU 27, 1984, 71-89), in: DERS., Antik-Modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte, hrsg. von R. Faber/ B. von Reibnitz/ J. Rüpke, Stuttgart/ Weimar 1998, 139163. 1953 bereitet OTTOs Freund Ernesto Grassi eine spanische Übersetzung der Götter Griechenlands (Veröffentlichungen der Universität Santjago de Chile; geplante Auflage: 2000 Exemplare) vor, vgl. E. GRASSI an Otto, 21. 12. 1953/ 13. 1. 1954 (Literaturarchiv Marbach). NIETZSCHE wurde noch in den 20er-Jahren zwar hin und wieder auch in philologischen Kreisen rezipiert, grundsätzlich aber nie ausdrücklich zitiert. Zu diesem Sachverhalt vgl. den kürzlich, zum 100. Todestag des Philosophen, erschienenen Artikel von B. von Reibnitz, Ein Wasservogel auf den Fluten der Gelehrsamkeit, NZZ, 26. 8. 2000.

188

Walter F. Otto

daß, bis auf eine noch heute nicht veröffentlichte ,Abrechnung' mit dem lakonischen Titel Usener,n eine direkte Auseinandersetzung nicht stattfindet. Der aus der Herausforderung zur Kritik gezogene Gewinn dieses .LehrerSchüler'-Verhältnisses wird von OTTO öffentlich weitgehend unterschlagen. So wird ausgerechnet in der Erinnerung an BÜCHELER, die OTTO am 18.7. 1937 in der Frankfurter Zeitung erscheinen ließ, das Lob auf den Geehrten von einer bis zum Spott gehenden Kontrastierung mit dem eigentlichen, doch namentlich nicht genannten12 Adressaten getragen: „Sein [sc.: Büchelers] Sinn für das Unmittelbare ließ ihn vor der Eigenmächtigkeit vielbewunderter Theorien erschrecken; und während andere kühne Gebäude aufrichteten, die keine Generation überdauern sollten, blieb er dem Lebendigen in fortwährender Beobachtung nahe. Dieses Lebendige war das wunderbare Phänomen des Sagens. Nicht dem Ursprung der Sprache oder dem gemeinsamen Grundbau der indogermanischen Sprachen glaubte er nachspüren zu müssen, auch nicht dem Wesen des Geistes und der Kultur, das sich in den sprachlichen Denkmälern offenbart. Nichts lag ihm ferner als ein offener oder versteckter Übergriff ins Philosophische."

Auch die Passage über BÜCHELERs Qualitäten als Lehrer entfaltet ihre ganze Wirkung aus der Negation: „Und so war er [sc.: Bücheler] ein Lehrer der vollkommensten Art: nicht durch Methode und Organisation, sondern durch die Überzeugungskraft und den Zauber der geistigen Persönlichkeit, mit deren Existenz allein sich die Frage nach dem absoluten Wert wissenschaftlichen Forschens beantwortet. Er hatte es nicht nötig, sich und anderen Rechenschaft zu geben. Und wie es geniale Kenner der Pflanzen und der Tierwelt gegeben hat, die so viel Anschauung besaßen, daß sie nicht an Theorien dachten, so machte ihm die unmittelbare Berührung mit dem Lebendigen den Verzicht auf Systematisierung und Spekulation, in denen andere glänzen mochten, leicht und bewahrte ihm zugleich die reine, verehrungswürdige Kindlichkeit, die bis zur Todesstunde ihre Frische und Wärme nicht verlieren sollte."13

Daß USENER hier zwar nicht direkt, aber dennoch mehr als deutlich angesprochen wird, zeigt das sorgfältig ausgewählte Vokabular. Die entscheidenden Schlagwörter, mit denen OTTO hier polemisiert, sind zum einen ,Methode' und Organisation' - eine Anspielung auf zwei in USENERs Rede über Philologie und Geschichtswissenschaft (1882) bzw. in seinem Aufsatz zur Organisation der wissenschaftlichen Arbeit (1884) tragende Begriffe - , zum anderen ,Systematisierung' und .Spekulation'. Gerade mit der ausgesuchten Zusammenstellung der Begriffe konnte OTTO eine empfindliche Stelle in USENERs Arbeiten treffen. Denn indem er das, was USENER wollte

Das Manuskript aus dem Nachlaß Walter Friedrich OTTOs (Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: Otto u3, 1-89) ist undatiert. S. dazu unten S. 221f. Erst gegen Ende wird, bei einem zwar inhaltlich hierfür unbedeutenden, formal jedoch ähnlichen Verglèich, der Name USENER genannt („Was seine [sc.: Büchelers] Seele bewegte ... pflegte er nicht unmittelbar auszusprechen, ganz verschieden hierin von seinem Freunde H. Usener"). Das folgende Zitat aus: W. F. OTTO, Franz Bücheler. Eine Erinnerung, Frankfurter Zeitung, 18. 7. 1937; wiederabgedruckt in: DERS., Mythos und Welt, hrsg. von Kurt von Fritz, Stuttgart 1962, 207-210. OTTO, Franz Bücheler, 208f.

Mythos und Wissenschaft

189

(Methode, Organisation, Systematisierung) und was er verachtete (Spekulation), in einem einzigen Atemzug nennt, suggeriert er die Zugehörigkeit aller Begriffe zu einem einheitlichen Programm. Der Seitenhieb gilt einer (im ersten Kapitel bereits erwähnten) ,methodischen Unschärfe' in USENERs Forschungsansatz. USENERs Problem war es gewesen, daß er sich zwar gerne mit aller Vehemenz gegen das Spekulieren' aussprach und es durch eine empirische Vorgehensweise ersetzen wollte, aufgrund der gelegentlichen Synchronizität des Materialbestands auf das , Spekulieren' aber gar nicht verzichten konnte; ohne ein strukturgebendes theoretisches Vorverständnis, auf dessen Grundlage sich die eruierten Daten in das System des , geistigen Entwicklungsprozesses' einspeisen und zeitlich richtig verorten ließen, war auch USENER nicht ausgekommen. Damit stand USENERs faktisches Vorgehen im Widerspruch zu seinen programmatischen Äußerungen: Seine Beschreibung der einzelnen Entwicklungsschritte der religiösen Begriffsbildung war nicht allein das Ergebnis einer empirischen Analyse, sondern beruhte vorrangig auf dem Postulat, daß es überhaupt einen Begriffsbildungsprozeß gegeben habe. Erst auf dieser Grundlage nämlich ließen sich die einzelnen Götternamen entwicklungsgeschichtlich in einen Begriffsbildungsprozeß eingliedern. Daß OTTO freilich gerade dem öffentlich monierten „Übergriff ins Philosophische" viel verdankt, zeigt die Tatsache, daß auch er, wenn auch auf eine andere, fast diametral entgegengesetzte Weise, diesen Weg gehen sollte. Auch OTTO wird nichts anderes tun, als nach den Ursprüngen von Sprache und Mythos zu suchen und sich dabei über die Grenzen der traditionell philologischen Praxis hinwegzusetzen. OTTOS Dissertation, die er 1898 publiziert, ist wie alle seine frühen Schriften noch durch und durch philologisch. Sie ist, anders als das für seinen späteren Ruhm maßgebliche Spätwerk, wissenschaftlich'. 14 Noch während der darauf folgenden zwanzig Jahre erscheinen zahlreiche religionswissenschaftliche Abhandlungen, die sich, wie Reinhold MERKELBACH es ausdrückt, durch die „seltene Verbindung von Genauigkeit und Präzision" auszeichnen. OTTO behandelt lexikologische, prosopographische und religionsgeschichtliche Themen. Er schreibt über den Kult der Juno (1905),15 über die Luperci und die Feier der Luperealien (1913)16 - beides erscheint im ,Philologus' - und über das Lustrum (1916)17; 1909 erscheint, im ,Rheinischen Museum', eine

is "

17

Der Terminus .wissenschaftlich' ist hier im Sinne von G. OEXLE, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen 1996, 18, gebraucht: .„Wissenschaft' kann man definieren als eine Form des Wissens, die sich von anderen Formen des Wissens ... darin unterscheidet, daß sie a) systematisch ist, das heißt: ihr Wissen ordnet und in Zusammenhänge bringt, und daß sie b) reflexiv ist, das heißt: über die Bedingungen ihres Wissens und dessen Zustandekommen reflektiert." OTTO, Iuno. Beiträge zum Verständnisse der ältesten und wichtigsten Thatsachen ihres Kultes, Philologus 64, 1905, 161-223. OTTO, Die Luperci und die Feier der Luperealien, Philologus 72, 1931, 161-195. OTTO, Lustrum, RhM 71, 1916, 17-40.

190

Walter F. Otto

ausführliche und, wenn auch kritische, so im Grundtenor doch an USENERs Projekt anknüpfende Arbeit über die Römischen Sondergötter,18 im selben Jahr publiziert er in dem für die religionswissenschaftliche Schule maßgeblichen Publikationsorgan, dem , Archiv für Religionswissenschaft' (1909/1911) die später um einen Nachtrag erweiterte begriffsgeschichtliche Abhandlung zu Religio und Superstitio (in der er im übrigen nicht ohne Zustimmung Edward TYLOR und James George FRAZER zitiert). Nicht zu vergessen sind die zahlreichen Artikel in den Bänden VI bis VIII von Pauly-Wissowas Realencylopaedie.19 Während der Jahre in München, wo er sich zwischen 1898 und 1911 aufhält20 und zunächst als Assistent am neugegründeten , Thesaurus Linguae Latinae' arbeitet21 und 1905 schließlich mit einer Arbeit über Juno habilitiert wird, liegen seine Interessen eindeutig im religionswissenschaftlichen Bereich, ohne daß die für das Spätwerk so eminent bedeutsame Abkehr von den Verfahrensweisen der Ethnologie22 und vergleichenden Religionswissenschaft, geschweige denn der spätere sprachliche Duktus schon deutlich erkennbar wäre. 1905 plant OTTO einen Vortrag über die Stadien der ReligionsentwicklungP Er hält Vorlesungen über Die Grundlagen der römischen Religion (WS 1905/1906), Die griechischen

Mysterien (SS 1906), Einleitung in die Re-

ligionswissenschaft (WS 1906/1907), Religion und Kultus der alten Römer 18

"

20

21 22

23

Vgl. dazu oben S. 74f. U.a. behandelt OTTO die Lemmata Fatum, Faunus, Fides, Fortuna, Genius, Ianus, Hersilia, Hirpi Sorani, vgl. R. MERKELBACH, Vorwort zu OTTO, Aufsätze zur Römischen Religionsgeschichte. Zu OTTOs Münchener Zeit vgl. H. CANCIK, Die Götter Griechenlands 1929, 146-150; DERS., Dionysos 1933. W.F. Otto, ein Religionswissenschaftler und Theologe am Ende der Weimarer Republik, (in: Die Restauration der Götter, Antike Religion und NeoPaganismus, hrsg. von R. Schlesier/ R. Faber, Würzburg 1986, 105-123), in: DERS., Antik-Modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte, 165-186. 181f. Vgl. dazu H. CANCIK, Die Götter Griechenlands 1929, 146. Ganz selten dringt aber auch ins Spätwerk noch Ethnologisches ein. Vgl. etwa die Ausführungen über, den Mythos von Himmel und Erde, dessen weit verstreute Parallelen und .Überbleibsel' Albrecht DIETERICH in Mutter Erde (Leipzig 1904) ausführlich behandelt hatte (s. OTTO, Die Götter Griechenlands, 44, im Zusammenhang mit der chthonischen Religion). U.a. bezieht sich OTTO, a.a.O., auf A. BASTIAN, Die heilige Sage der Polynesier, 1881, und A. LANG, Custom and Myth, London 1884. Von „Überbleibseln" des vorhomerischen Glaubens in den Gedichten Homers spricht er in Die Götter Griechenlands, 21. 1905 schreibt er an seinen Kollegen, den Latinisten A. KLOTZ: „Im Frühjahr soll ich hier im Volksbildungsverein einen Vortrag halten. Ich werde wohl über die Stadien der Religionsentwicklung reden ... Gegenwärtig lese ich das hochinteressante Werk von Spencer und Gillen [sc.: B. Spencer/ F. J. Gillen, The native tribes of Central Australia, London 1899] über die eingeborenen Stämme Zentralaustraliens, die noch ganz von europäischem und asiatischem Einfluß unberührt sind und daher eine gute Vorstellung primitiver Kultur geben." Der Brief ist in Auszügen abgedruckt bei K. KERÉNYI, Walter F. Otto. Erinnerung und Rechenschaft (Paideuma 7, 1. Juni 1959, 1-10), in: DERS., Wege und Weggenossen, München 1988, Bd. 2, 251-263. 254f.

Mythos und Wissenschaft

191

(WS 1907/08), Griechische Mythologie und Religionsgeschichte (WS 1909/10) und Mysterien und Mystik im alten Griechenland (WS 1910/11), in denen er die , Klassiker' der Religionswissenschaft, von Friedrich Max MÜLLER über Edward B. TYLOR bis zu Jane E. HARRISON zu Wort kommen läßt.24 In diese Zeit, OTTO ist mittlerweile in den Dreißigern, fallen aber auch seine Kontakte zu den Münchner Kosmikern um Ludwig KLAGES25 (Karl WOLFSKEHL, Alfred SCHULER), und zu den Kreisen um Stefan GEORGE26 und die erneute Begegnung mit seinem ehemaligen Tübinger Lehrer und den Betreuer seiner Habilitation, Otto CRUSIUS, der mittlerweile eine Biographie über den NIETZSCHE-Freund Erwin ROHDE verfaßt hat27 und NIETZSCHE geistig nahe steht. 1908 deutet sich bei OTTO ein erster Gesinnungswandel an. In einem Brief an den Latinisten (und Arbeitskollegen) A. KLOTZ, der sich nach wie vor der Schriftgelehrsamkeit verpflichtet fühlt, äußert er sein Unbehagen über die bisherige Arbeitsweise. Statt nach „wissenschaftlichen Zusammenfassungen" dränge es ihn danach, „das Leben ... zu bereichern", „das Geheimnis des Menschenlebens zu beleuchten" und über die „geographische und kulturelle

Vgl. H. CANCIK, Die Götter Griechenlands 1929, 148f. Daneben hat sich OTTO intensiv mit Wilhelm MANNHARDT, Wald- und Feldkulte, 2 Bde. (1875/1877) auseinandergesetzt, vgl. DLA Marbach A: Otto u7 (196) passim. KLAGES' philosophisches Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele, das 19291932 in Leipzig in drei Bänden erscheint und aus fünf (in Einzelveröffentlichungen zwischen 1917 und 1919 bereits publizierten) Büchern besteht (Sein und Wirklichkeit, Geist und Leben, Bewußtsein und Erlebnis, Die Lehre vom Willen und Die Wirklichkeit der Bilder), steht unter dem Einfluß (u.a.) der Lebensphilosophie H. BERGSONs und des Ansatzes von J. J. BACHOFEN (vgl. die Kritik am neuzeitlichen Entwicklungsgedanken in Das Mutterrecht, Stuttgart 1861). KLAGES vertritt die Ansicht, daß die Seele im „findenden Erleben" der Wahrheit zustrebe. Als „metaphysische richtungsgebende Macht" eröffne die Sprache erlebnishafte Welterkenntnis. Mit Oswald SPENGLER teilt KLAGES die negative Einschätzung von der Vorherrschaft des naturwissenschaftlichen Denkens, von Fortschrittsgläubigkeit und Zweckdenken - ein Ansatz, der sich durchaus in OTTOs späterem Werk wiederfindet. Gewirkt hat KLAGES auch auf Martin HEIDEGGER (vgl. H. KUNZ, Martin Heidegger und Ludwig Klages, Daseinsanalytik und Metaphysik, München 1976), mit dem sich wiederum OTTO ganz explizit in seinen Schriften auseinandersetzt, vgl. dazu unten, vor allem S. 211-221. Über die Münchner Kontakte berichtet der Germanist Max KOMMERELL (OTTOs Schwiegersohn, vgl. A. STAVRU, Die wissenschaftliche Laufbahn und der Nachlaß von Walter F. Otto, 50), der während OTTOs Frankfurter Zeit (ab 1914) zusammen mit Karl REINHARDT, W. F. OTTO, dem amtierenden Kurator der Universität Frankfurt Kurt RlEZLER und dem Historiker Ernst KANTOROWICZ zum sogenannten ,RiezlerKreis' gehörte (vgl. dazu P. KLUKE, Die Stiftungsuniversität Frankfurt a. Main 19141932, Frankfurt a.M. 1972, 478f. 778; H. CANCIK, Die Götter Griechenlands 1929, 157f.), in einem am 26. 10. 1940 an Hans Georg GADAMER gerichteten Brief (M. KOMMERELL, Briefe und Aufzeichnungen 1919-1944, hrsg. von I. Jens, 1967, 351356, in Auszügen abgedruckt bei H. CANCIK, Die Götter Griechenlands 1929, 150, Anm. 42): „In München saß [Otto] unendlich mit Klages zusammen, war vergnügt unter Strandgeplätscher der Wellen, die das große Gebaren der ins Horn stoßenden Tritonen Klages, Schuler, Derleth, Wolfskehl und des Oberhornisten George war." O. CRUSIUS, Erwin Rohde. Ein biographischer Versuch, Tübingen/ Leipzig 1902.

192

Walter F. Otto

Beschränkung" hinauszugehen.28 Das geistige Klima, dem er in München begegnet, der bayerische Philhellenismus, der Klassizismus der Gründerzeit und der pseudo-religiöse Impetus etwa der Kreise um Stefan George, verbunden mit der eigenen Sehnsucht, die Wahrheit zu empfinden und zu ,erleben', lassen in dem Latinisten und Religionswissenschaftler OTTO einen ersten, inneren Widerstand gegen die Bonner Tradition aufkeimen, in der er nach wie vor, äußerlich, steht. 1911 verläßt OTTO München. Er nimmt einen Ruf nach Wien an, dem 1913 ein Ruf nach Basel folgt, und wird 1914 schließlich ordentlicher Professor an der frisch gegründeten Universität Frankfurt.29 In Frankfurt, das sich in Abgedruckt bei K. KERÉNYI, Walter F. Otto. Erinnerung und Rechenschaft, 256: „,Ich habe mich der Religionswissenschaft ergeben, und bringe dabei nicht mehr heraus, als kleine Abhandlungen von geringer Anzahl, weil es mir statt großer wissenschaftlicher Zusammenfassungen immer mehr darum allein zu tun ist, etwas für den Menschen als solchen zu lernen, das Leben selbst, wenn es angeht, zu bereichein, an einem, wenn auch so kleinen Punkte das Geheimnis des Menschenlebens zu beleuchten. Vielleicht gelingt es mir in absehbarer Zeit, etwas dieser Art zustande zu bringen. Ein Vortragszyklus, den ich im Frühjahr im hiesigen Volksschulverein über griechische Religion halten muß, wird sich vielleicht auch als derartiges ausarbeiten lassen. Ich möchte gern mit jedem Satz mehr geben, als das Thema in seiner geographischen und kulturellen Beschränkung ankündigt.'" Vgl. auch den ebd. zitierten, undatierten Briefauszug an den selben Adressaten: „,Ich neige immer stärker zur philosophischen Betrachtung der Dinge, und die eigentliche Gelehrsamkeit rückt immer ferner und ferner.'" OTTO blieb 30 Jahre lang in Frankfurt, bevor er 1934 gezwungen wurde, sein Universitätsamt niederzulegen, und einem Ruf nach Königsberg an die Seite Willy THEILERs folgte (vgl. dazu M. LOSSAU, Walter F. Otto [1874-1959], in: Die Albertusr Universität zu Königsberg und ihre Professoren, hrsg. von D. Rauschnig/ D. von Nerée, Berlin 1993, 309-315). 1945 wurde während der Zerstörung Königsbergs seine gesammte Bibliothek vernichtet, einschließlich sämtlicher Briefe und einer Vielzahl von Manuskripten, vgl. A. STAVRU, Die wissenschaftliche Laufbahn und der Nachlaß von Walter F. Otto, 50. Nach dem Krieg versuchte das Frobenius-Institut, OTTO zurückzugewinnen (vgl. Adolf JENSEN an W. F. Otto, Frankfurt, 29. 11. 1945), was aber mißlang, vgl. den Brief von Adolf JENSEN (an W. F. Otto, Frankfurt, 8. 12. 1945; beide Briefe unveröffentl. DLA A: Otto, S. 7), der auf entsprechende Verhandlungen reagiert: „Dr. Keller [sc.: der stellvertretende Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für Kulturmorphologie] sagte mir noch einmal ausdrücklich, dass trotz vieler Erörterungen über diese Frage bisher keine eigentliche Hilfsmassnahme für die aus Ostdeutschland Geflüchteten bestehe ... Auch im höheren Schuldienst sieht Herr Stadtradt Dr. Keller z.Zt. keine Möglichkeit, für Sie etwas zu unternehmen, dagegen war er sehr gerne mit meinem Vorschlag einverstanden, dass wir Ihnen aus Mitteln der Deutschen Gesellschaft für Kulturmorphologie 600.- RM zur Verfügung stellen, wofür Sie uns eine Arbeit für die Zeitschrift Paideuma überlassen müssten." (Zu OTTOs Verhältnis zu A. JENSEN, dem späteren Leiter des frankfurter Instituts für Kulturmorphologie', vgl. W. BURKERT, Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, in: Les Etudes classiques aux XIXe et XXe siècles: Leur place dans l'histoire des idées [= Entretiens sur l'antiquité classique 26, Fondation Hardt], hrsg. von W. de Boer, Vandrœvres-Genève 1980, 190). OTTO liest während des Sommersemesters 1946 in Göttingen, bevor er Ende 1946 eine Gastprofessur in Tübingen annehmen kann und dort 1955, nach seiner Emeritierung, in den Lehrkörper aufgenommen wird, s. A. STAVRU, Die wissenschaftliche Laufbahn und der Nachlaß von Walter F. Otto, 50.

Mythos und Wissenschaft

193

den ausgehenden 20-er Jahren zu einer blühenden Universität entwickelt,30 schließt sich OTTO dem .Doorner Kreis' an.31 Auf Schloß Doorn treffen sich neben Karl REINHARDT und Kaiser Wilhelm II. auch dessen Schützling Leo FROBENIUS,32 der sein 1922 gegründetes .Institut für Kulturmorphologie' 1925 in Frankfurt angesiedelt hat33 und dessen (Feld)forschungen34 gewissermaßen die .ethnologischen Grundlagen' für die Arbeiten der Frankfurter Religionshistoriker liefern.35 Zugleich pflegt OTTO in diesen Jahren rege 30

31

32

33

34

35

Während OTTOs Universitätszugehörigkeit wirken dort u.a.: der Philosoph und Theologe Paul TILLICH, der Germanist Max KOMMERELL, der Historiker Emst KANTOROWICZ, der Gräzist Karl REINHARDT, der Wirtschaftswissenschaftler Adolf LÖWE, der Pädagoge Carl MENNICKE, der Soziologe Karl MANNHEIM, Max HORKHEIMER und der jüdische Religionsphilosoph Martin BUBER, zu dessen .Frankfurter Lehrhaus' OTTO lockere Beziehungen pflegt, vgl. H. CANCIK, Die Götter Griechenlands 1929, 151f. Größeren Einfluß auf „Ottos Weltbetrachtung" mißt K. KERÉNYI, Walter F. Otto. Erinnerung und Rechenschaft, 255, der Anthropologie Martin BUBERS zu. Auf Schloß Doom residierte seit 1918 Kaiser Wilhelm II. im Exil. Kaiser Wilhelm II. hatte gute Kontakte zu Leo Frobenius und beschäftigte sich auch selbst gerne mit mythologischen und archäologischen Themen, vgl. Kaiser Wilhelm II., Studien zur Gorgo, Berlin 1936. Zwischen 1936 und 1938 sollte auch Karl KERÉNYI, der sich OTTO 1929 auf einer Griechenlandreise angeschlossen hatte, an den Tagungen auf Schloß Doom teilnehmen, vgl. R. SCHLESIER, „Arbeiter in Useners Weinberg". Anthropologie und antike Religionsgeschichte in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, in: DIES.: Kulte, Mythen und Gelehrte. Anthropologie der Antike seit 1800, Frankfurt a.M. 1994, 193241. 216-218. Mit FROBENIUS, der vor allem als Afrikanist in der ethnologischen Forschung tätig war, verband OTTO die Überzeugung, daß „Ergriffenheit, nicht kaltes Fakten-Sammeln die wahre Voraussetzung geistigen Veistehens" sei (W. BURKERT, Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, 190). Vgl. N. HAMMERSTEIN, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule, Bd. 1: 1914-1950, Neuwied/ Frankfurt a.M. 1989, 71-78. Vgl. dazu OTTO, Leo Frobenius. Zum 29. Juni 1933 (Erdball 1931, Heft 2, Beilage), in: DERS., Mythos und Welt, 211-216. Zu FROBENIUS vgl. auch Leo Frobenius, dargestellt von seinen Freunden, Leipzig 1933, wo auch OTTOs Text wiederabgedruckt ist. Für die Berufung von Leo FROBENIUS an die Universität hatte sich OTTO, der ihn schon aus der Münchner Zeit kannte, eingesetzt, vgl. A. STAVRU, Die wissenschaftliche Laufbahn und der Nachlaß von Walter F. Otto, 49. Vgl. dazu R. SCHLESIER, „Arbeiter in Useners Weinberg", 217. Unter den Frankfurter Religionshistorikem, die bei OTTO studiert haben, sind neben Ludwig EUING (Die Sage von Tanaquil, 1933 [Frankfurter Studien 2]) und Carl KOCH vor allem Franz ALTHEIM (der sowohl in den von der Dieterich-Schule herausgegebenen ,Religionsgeschichtlichen Versuchen und Vorarbeiten' als auch in den von OTTO zwischen 1932 und 1938 herausgegebenen .Frankfurter Studien' publizierte (Griechische Götter im alten Rom, R G W 22.1, Gießen 1930; Terra Mater. Untersuchungen zur altitalischen Religionsgeschichte, R G W 22.2, Gießen 1931; Römische Religionsgeschichte I-III, zusammen mit C. Koch, Berlin 1931-1933; Epochen der römischen Geschichte, Bd. 1-2, Frankfurter Studien 9 und 12, Frankfurt a.M. 1934-1935) und Karl KERÉNYI (vgl. dazu die von K. KERÉNYI, Wege und Weggenossen, Bd. 2, zusammengestellten Aufsätze zu OTTO) hervorzuheben. Die noch heute gelegentlich gebrauchte Bezeichnung frankfurter Schule' als Bezeichnung fur die um OTTO versammelten Schüler (vgl. etwa

194

Walter F. Otto

Kontakte mit Mitgliedern des sogenannten ,Riezler-Kreises', so mit dem Althistoriker Ernst KANTOROWICZ und dem Germanisten Max KOMMERELL. In dieser Zeit, Anfang der 20-er Jahre, hat sich in den Schriften des mittlerweile fast fünfzigjährigen OTTO bereits ein ausgeprägt antiwissenschaftliches Ethos durchgesetzt, das nicht nur inhaltlich-konzeptionell und in der bewußten Abwendung von Textkritik, Paläographie, Papyrologie und Epigraphik zu Buche schlägt, sondern auch die Darstellungsweise in ein vollkommen anderes Fahrwasser lenkt. Die intensive Beschäftigung mit streng philologischen, religionswissenschaftlichen und ethnologischen Themen weicht der schon 1908 in dem Brief an KLOTZ vage angeklungenen Sehnsucht nach einem , tieferen' und umfassenderen Verständnis des Menschen. 1920 erscheint in der ,Tat. Monatszeitschrift für die Zukunft deutscher Kultur'36 (nach einer vieijährigen Publikationspause; zuletzt war im ,Rheinischen Museum' 1916 der Aufsatz Lustrum erschienen) ein erster Versuch. In dem Das Weltgefiihl des klassischen Heidentums überschriebenen Essay, mit dem OTTO schon im Titel einen neuen Ton anschlägt, entwirft er in rhetorisch-plakativen Gegenüberstellungen das Bild polarer .Gegensätze' zwischen „heidnischem" und „christlichem Menschentypus"37 und einer dem Heidentum entfremdeten Moderne.38

36

37

38

die Kapitelüberschrift bei R. SCHLESIER, „Arbeiterin Useners Weinberg", 215: W.F. Otto und seine .Frankfurter Schule") ist erstmals 1933, also ein Jahr, bevor OTTO 1934 Frankfurt verlassen mußte, nachweisbar, vgl. K. KERÉNYI, rez.: L. Euing, Die Sage von Tanaquil, 1933 [Frankfurter Studien 2], Gnomon 1934, 134-139. 134: „Eine Arbeit aus W.F. Ottos Frankfurter Schule". Der Begriff ist heute mißverständlich, nachdem er gemeinhin als Bezeichnung für die „Kritische Theorie" (Theodor W. ADORNO, Max HORKHEIMER, Herbert MARCUSE, Jürgen HABERMAS) gebraucht wird, also jene Gruppierungen, die aus dem 1923 von Felix WEIL gegründeten .Institut für Sozialforschung' hervorgegangen sind, und die ohnehin selbst in diesem Zusammenhang unscharf ist, vgl. J. HABERMAS, Drei Thesen zur Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, in: Die Frankfurter Schule und die Folgen, hrsg. von A. Honneth/ A. Wellmer, Berlin/ New York 1986; R. WIGGERSHAUS, Die Frankfurter Schule, München 1988, 9-15. Zum ,jung-konservativen" Impetus der Zeitschrift vgl. H. CANCIK, Die Götter Griechenlands 1929, 147. Daß OTTO in einer Zeitschrift ,für die Zukunft deutscher Kultur' publiziert, ist Teil des philhellenistischen Programms. Um der deutschen, nicht allein um der griechischen Kultur willen haben sich schon die Gräkomanen der Goethezeit ans Werk gemacht, vgl. dazu W. REHM, Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens (1936), 4. Aufl., München 1969, 256. OTTO, Das Weltgefuhl des klassischen Heidentums, Tat. Monatszeitschrift für die Zukunft deutscher Kultur 12, Heft 2, 1920/1921, 123ff.; wiederabgedruckt und hier zitiert nach: DERS., Mythos und Welt, 21-35. 24: heidnisch - christlich; männlich - weiblich; Würde des Menschen - Würdelosigkeit des Menschen; Aristokratie der geistigen Gesinnung - Demokratie der geistigen Gesinnung etc. Dem Essay ging im Erstdruck (S. 118ff.) das Gedicht von Karl BRÖGER: Phallos. Gesänge um den Mann, voraus, auf das OTTO in den Einleitungsworten Bezug nahm: „Karl Brögers voranstehendes Gedicht tritt mit seinem Freimut und seiner Naturandacht wie ein fremdes Wunder in unsere Kultur herein. Es ist durchaus männlich und durchaus heidnisch. Von beidem ist die neuzeitliche Kultur Europas das Gegenteil.

Mythos und Wissenschaft

195

In schwungvoller, zügiger Rede, ohne eine einzige Fußnote (auch formal deutet sich ein Bruch mit der traditionellen .Wissenschaft' an) und mit steter Berufung auf die deutschen Klassiker39 verwirft OTTO den Kontinuitätsgedanken, dem die religionswissenschaftliche Schule seit USENERs Weihnachtsfest (1889) verpflichtet war,40 und entzieht ihm mit dem dualistischen Konzept „zweier Welten"41 (der heidnischen und der christlichen) jegliche Grundlage - nicht das Pagane setze sich im Christlichen fort, sondern der christliche Blick erkenne im Paganen das Eigene. Der Einfluß NIETZSCHES, mit dessen Schriften sich OTTO anfangs ,privat', später auch öffentlich auseinandersetzt,42 entfaltet in der kleinen Schrift unübersehbar seine Wirkung. Schon in der Geburt der Tragödie und im Antichrist (mit dem Untertitel Fluch auf das Christentum)43 findet sich die Polarisierung in ein lebensbejahendes44 Heidentum und ein schwächlich

M

40

41 42

43

44

Sie ist weiblich und christlich." Diesen Wortlaut hat der Verlag beim Wiederabdruck entschärft und in eine Gegenüberstellung von männlicher Antike und weiblicher Moderne umformuliert. Zu OTTOs zahlreichen Bezügen auf GOETHE, HÖLDERLIN, SCHELLING und seinem an WlNCKELMANN mahnenden Sprachduktus vgl. H. CANCIK, Die Götter Griechenlands 1929, 141, 150. Daß OTTO sich intensiv mit diesen Autoren auseinandergesetzt hat, belegen nicht nur zahlreiche Aufsätze, sondern auch die umfangreichen Exzerpte u.a. aus SCHELLINGs Philosophie der Offenbarung und Philosophie der Mythologie (DLA A: Otto, Archivmappe w). Zu den philosophischen Grundlagen von OTTOs Werk s. die Dissertation von A. STAVRU über Mythos und Werk im Werk Walter F. Ottos (Neapel). Vgl. H. USENER, Das Weihnachtsfest, Bonn 1889; DERS., Heilige Handlung, ARW 7, 1904, 281-339; DERS., Legenden der Pelagio, Festschrift für die 34. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner, Bonn 1879. A. DIETERICH, Nekyia. Beiträge zur Erklärung der neuentdeckten Petrusapokalypse, Leipzig 1893. OTTO, Das Weltgefühl des klassischen Heidentums, 23. Besonders mit NIETZSCHES Die Geburt der Tragödie hat sich OTTO intensiv auseinandergesetzt (vgl. die Exzerpte in DLA A: Otto, A 1-5, D 12, E 2, Ζ 5, i 1, i 8, m 3, s 8, 14). Die erste Publikation, die sich explizit zu einer tiefergehenden Beschäftigung mit NIETZSCHE bekannte, basierte auf einem Vortrag, den OTTO 1934 vor dem NietzscheArchiv gehalten hatte (OTTO, Der junge Nietzsche, Vortrag, gehalten im NietzscheArchiv am 15. 10. 1934 anläßlich des 90. Geburtstages Friedrich Nietzsches, Wissenschaft und Gegenwart 10, 1936, 59-78; wiederabgedruckt in: DERS., Mythos und Welt, 159-178, vgl. dazu H. CANCIK, Dionysos 1933, 177f. 182-184). Bereits im Publikationsjahr des Dionysos (1933) hatte OTTO die Stellung als Sachverständiger des wissenschaftlichen Ausschusses der HGK (= F. NIETZSCHE, Werke und Briefe. Historischkritische Gesamtausgabe, München 1933ff.) erworben. Zwei Jahre später, 1935, sollte er zum Vorstand der Stiftung des Nietzsche-Archivs werden (vgl. D. M. HOFFMANN, Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs. Elisabeth Förster-Nietzsche, Fritz Koegel, Rudolf Steiner, Gustav Naumann, Josef Hofmiller. Chronik, Studien, Dokumente, Berlin/ New York 1991, 113f.). F. NIETZSCHE, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), KSA (= Kritische Studienausgabe, hrsg. von G. Colli/ M. Montinari, München 1988) 1, 9-156; DERS., Der Antichrist. Fluch auf das Christentum (Nachgelassene Schriften August 1888-Anfang Januar 1889), KSA 6, 165-253. F.NIETZSCHE, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, 35: „... ein üppiges, ja triumphierendes Dasein ... phantastischer Überschwang des Lebens".

196

Walter F. Otto

„demütiges"45 Christentum,46 die Kritik an der , interpretai io Christiana'47 und schließlich auch die paradoxe Verbindung von antichristlichem Pathos48 und stilistisch - „kryptoreligiöser Struktur", wie sie in Das Weltgefiihl des klassischen Heidentums wiederauftaucht49 Nicht zuletzt findet OTTO auch für seinen späteren Antievolutionismus in NIETZSCHE einen Paten.50 Seine Zuspitzung erfahrt das 1920 erkennbare antiwissenschaftliche und antichristliche Pathos in der wenige Jahre später, 1923, publizierten provozierend-polemischen Schrift Der Geist der Antike und die christliche Welt

46

47

48

49

50

F. NIETZSCHE, Der Antichrist, KSA 6, 172 („Man nennt das Christenthum die Religion des M i t l e i d e n s . - Das Mitleiden ... wirkt depressiv. Man verliert Kraft, wenn man mitleide"); ebd., 188 („Christlich ist die Todfeindschaft gegen die ... .Vornehmen' ... der Hass gegen ... Stolz, Muth, Freiheit... gegen die Freuden der Sinne"). Vgl. dazu OTTOs Wesensbestimmung des Christentums (Das Weltgefiihl des klassischen Heidentums, 24): „Würdelosigkeit des Menschen ... Mißtrauen gegen die Mächte, die das Menschenherz bewegen; Zweifel in sich selbst; Bedürfiiis der Selbsterniedrigung und bedingungslosen Hingabe an ein liebendes Wesen"; ebd., 27: „Der Stolz ist [sc.: im christlichen Weltbild] die Erzsünde und der Ursprung aller Sünde". NIETZSCHES Bestimmung des Christentums als weltvemeinender und asketischer Religion (Askese, Geistigkeit, Pflicht [vgl. Die Geburt der Tragödie, KSA 1, 34f.]) war inspiriert von dem Theologen Franz OVERBECK, mit dem er seit 1870 engen Kontakt hatte, vgl. B. von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik", 127. Die großen Vorläufer dieser Tradition, Heiden- und Christentum als polare Gegensätze zu betrachten, waren Johann Joachim WINCKELMANN und Jacob BURCKHARDT, vgl. dazu W. REHM, Götterstille und Göttertrauer, München 1951, 181. Zu OTTOs Bezug auf WINCKELMANN, vgl. unten S. 199, Anm. 68. F. NIETZSCHE, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, 34: „Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese Olympier herantritt und nun nach sittlicher Höhe, ja Heiligkeit, nach unleiblicher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei ihnen sucht, der wird unmuthig und enttäuscht ihnen bald den Rücken kehren müssen." Einer, der das versucht hatte, war Carl Friedrich NÄGELSBACH in seiner Homerischen Theologie (1840), vgl. dazu B. von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik", 125. Auch William Robertson SMITHs „sakramentale Deutung der Opfermahlzeit - implizit nach dem Vorbild der Eucharistie" und FRAZERs „Universalisierung des ,Dying God' - implizit nach dem Vorbild der Christus-Figur" (R. SCHLESIER, Prolegomena zu Jane Harrisons Deutung der antiken Religion, in: DIES., Kulte, Mythen und Gelehrte, 145-192. 148, Anm. 13) gehören hierher. Zu NIETZSCHES Antichristentum vgl. F. KUTZNER, Friedrich Nietzsches Antichristentum und Neuheidentum. Zu ihrer psychohistorischen Dimension, in: Die Restauration der Götter. Antike Religion und Neo-Paganismus, hrsg. von R. Schlesier/ R. Faber, Würzburg 1986, 88-104. Vgl. dazu M. S. SILK/ J. P. STERN, Nietzsche on Tragedy, Cambridge 1981, 354f. NIETZSCHES Stil und Vokabular ist nicht nur ,parachristlich' (wie OTTOs), sondern durchzogen von Bibelzitaten und protestantisch eingefarbtem Vokabular (vgl. dazu M. KAEMPFERT, Säkularisation und neue Heiligkeit. Religiöse und religionsbezogene Sprache bei Friedrich Nietzsche, Berlin 1971, 222f.). Vgl. F. NIETZSCHE, Der Antichrist, KSA 6, 171: „Die Menschheit stellt n i c h t eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der .Fortschritt' ist bloss eine moderne Idee, das heisst eine falsche Idee."

Mythos und Wissenschaft

197

(erschienen im Verlag Cohen, der auch USENERs Götternamen veröffentlicht hatte). Das schmale Buch brachte OTTO später den Ruf eines „Nietzsche Redivivus" ein,51 was übertrieben, aber insofern (ungewollt) treffend war, als die parareligiöse, predigthaft angelegte Textstruktur mit einem antichristlichen Zynismus einhergeht,52 mit dem es OTTO - weitaus mehr als noch 1920 darauf anlegt, die Gegenwart auf Paganes rückzubesinnen. Die provokative Streitschrift, in deren Publikationsjahr53 OTTO noch ein Werk der alten Schule erscheinen läßt - Die Manen, eine in der Fachwelt hochgelobte54 Untersuchung über die Urformen des Totenglaubens und der Versuch zu einer grundsätzlichen Revision von Erwin ROHDEs Standardwerk Psyche55 - markiert den endgültigen Wendepunkt in OTTOs intellektueller Biographie. Der eigentliche Auslöser für OTTOs Bruch mit der philologischen Tradition56 ist bis heute nicht klar. Hubert CANCIK datiert die ersten Anfänge einer Entwicklung, wohl zurecht, schon in die Münchner Zeit,57 als OTTO, obwohl er noch bis 1916 wissenschaftlich' publiziert, aus einer intensiven, aber zunehmend kritischer werdenden Auseinandersetzung mit der traditionellen Altertumswissenschaft die Nähe zu Kosmikern und Philhellenisten sucht, bevor er (wie man vermuten darf) in Frankfurt (und sicher auch unter dem Eindruck seines dortigen Umfelds) schließlich den Entschluß dazu faßt, beides, die fachliche Kritik und die Sehnsucht nach einer Anschauung des Griechentums, zu einem neuen .Projekt' zusammenzuführen. Demnach ging dem über die Fachwelt hereinbrechenden Ereignis eine lange Zeit der inneren Umkehr voraus. Aus der Perspektive der gänzlich unvorbereiteten, „völlig historisch gewordenen Altertumswissenschaft" aber war es der „Übergang zu etwas 51

52

53

54

55 56

57

Vgl. K. KERÉNYI, 1959 (Walter F. Otto. Erinnerung und Rechenschaft, 262): „Vor fiinfunddreißig Jahren schien es sogar, daß sich mit jenem schmalen Büchlein [sc.: Der Geist der Antike und die christliche Welt] in der Nachfolge berühmter Streitschriften ein Nietzsche Redivivus in der Reihe der klassischen Philologen meldete." KERÉNYI bezog das Diktum auf OTTOs Werdegang vom Philologen zum Philosophen. OTTO selbst hat die Schärfe der Schrift wohl später bereut, jedenfalls von einer erneuten Auflage des Büchleins bewußt abgesehen, s. K. KERÉNYI, Walter F. Otto. Erinnerung und Rechenschaft, 256; E. SCHMALZRIEDT, Bibliographie der Schriften Walter F. Ottos, in: OTTO, Das Wort der Antike, 383 („[Der Geist der Antike und die christliche Welt] wird auf Wunsch des Verfassers nicht mehr aufgelegt."). K. KERÉNYI, Walter F. Otto. Erinnerung und Rechenschaft, 256, sieht in dem zeitlichen Zusammentreffen der beiden so unterschiedlichen Publikationen, die ungeheure Bandbreite von OTTOs Schaffen: ,3eide Aspekte seines Geistes zeigten sich einander ergänzend in den zwei Schriften." H. CANCIK, Die Götter Griechenlands 1929, 147, nennt Die Manen, etwas treffender, einen „Nachzügler". Vgl. U. von WILAMOWITZ, Der Glaube der Hellenen (Berlin 1931), Darmstadt 1955, Bd. 1, 307. Vgl. dazu K. KERÉNYI, Walter F. Otto. Erinnerung und Rechenschaft, 254. K. KERÉNYI, Walter F. Otto zum 75. Geburtstag, Paideuma 3, 1949, Heft 6/7, 199206, wiederabgedruckt und hier zitiert nach: DERS., Wege und Weggenossen, München 1988, Bd. 2, 200-208. 201. H. CANCIK, Die Götter Griechenlands 1929, 147. Ebenso A. HENRICHS, Die Götter Griechenlands, Bamberg 1987, 27.

198

Walter F. Otto

Unerwartetem" 58 - und mußte als Folge eines („göttlicher Offenbarung" 59 analogen) ,Erweckungserlebnisses' aufgefaßt werden. Tatsächlich hat Karl KERÉNYI, der sich im übrigen selbst, der Schulphilologie überdrüssig geworden, für einen solchen Weg entschieden hatte, 60 OTTOs Wandel als plötzliche Identifikation von eigenem Erleben und Gegenstand beschrieben. OTTOs vormals analytischer Zugang schlage um in Begeisterung und den Glauben an eine innere Verwandtschaft von Interpreten und Interpretiertem, der sich der Auffassung von der „Unverfügbarkeit des Geistes" und der Notwendigkeit, sich „eben an dem Gegenstand [zu] entzünden" ganz hingebe.61 Die von nun an erscheinenden Schriften, selbst das im Pathos verhältnismäßig gemäßigte Hauptwerk {Die Götter Griechenlands, 1929) und das bis heute noch hochgelobte Buch über Dionysos (1933),62 wollen zweifellos nicht nur darstellen. Sie wollen auch überzeugen. Dem philologisch orientierten Leser von OTTOs Schriften müssen Stil und Sprache auf den ersten Blick schwülstig und überladen erscheinen; er vermißt konkrete Quellenangaben und Belegstellen und möchte allerorten die prophetischen Mutmaßungen gegen sie eintauschen. Die Texte scheuen keine eingängigen Wiederholungen, sie schrekken nicht immer davor zurück zu polemisieren, ihr Stil ist pathetisch, breit, zynisch und missionarisch, und sie machen es auch dem kritischen Leser, sofern er bereit ist, sich auf sie einzulassen, nicht unbedingt leicht, sich zu entziehen und zu distanzieren. OTTOs breitgefácherte und über die Fachkreise weit hinausgehende Leser- und Hörerschaft 63 bezeugt die Faszination, die gerade die späteren Schriften auf ein Publikum ausstrahlen, das zwar eine Alternative zum Christentum sucht, für die christlich-traditionellen Mittel der 58

55 60

61 62

63

K. KERÉNYI, Walter F. Otto zum 75. Geburtstag, 201: „In der mehr als fünfzigjährigen wissenschaftlich-literarischen Schaffenszeit Ottos bedeutete 1923 den Abschluß der ersten fünfundzwanzig Jahre und zugleich den Übergang zu etwas Unerwartetem." S. dazu unten S. 200-207, bes. 207. KERÉNYI hatte sich, nachdem er OTTO 1929 auf einer Griechenlandreise kennengelernt hatte, eng an dessen .Frankfurter Schule' angeschlossen, da er selbst „der Schulphilologie überdrüssig" geworden war, vgl. Th. MANN/ K. KERÉNYI, Gespräch in Briefen (1960), München 1967, 21. Das pseudoreligiöse Verhältnis zu OTTO spiegelt sich in dem Argument, mit dem KERÉNYI das Diktum vom „Nietzsche Redivivus" im selben Atemzug zurückzunehmen versucht: „Nichts vom Dämonischen, nichts vom .Philosophieren mit dem Hammer', von der inneren und äußeren Unruhe Nietzsches, besaß Otto: eher alles, was bei den Griechen die andere Bezeichnung [sc.: Theios] verdiente." (Walter F. Otto. Erinnerung und Rechenschaft, 262f.). Zu diesem Einschnitt in KERÉNYIs intellektueller Biographie, in deren Folge er sich zur Jungschen Archetypenlehre hinwendet s. A. HENRICHS, Die Götter Griechenlands, 28f.; W. BURKERT, Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, 191f. Κ' KERÉNYI, Walter F. Otto zum 75. Geburtstag, 202. H. CANCIK, Dionysos 1933, 166: „Ottos Meisterwerk", vgl. auch R. SCHLESIER, „Arbeiter in Useners Weinberg", 215 mit Anm. 52. Ahnlich urteilen P. McGlNTY, Interpretation and Dionysos. Method in the Study of a God, The Hague 1978, 141-180; Α. HENRICHS, Die Götter Griechenlands, 27f., und W. BURKERT, Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, 189ff. Mündliche Auskunft des Bearbeiters von OTTOs Nachlaß, A. STAVRU .

Mythos und Wissenschaft

199

.Bekehrung' aber durchaus aufgeschlossen und empfanglich ist. Weniger beeindruckt zeigte sich die Zunft der Fachgenossen. Daß die engagierte Kritik an der Vorherrschaft christlicher Kategorien nur schwer vereinbar ist mit den stilistisch stark pastoralen Zügen, ist ihr recht schnell aufgefallen. ROSE überschrieb sein Urteil über OTTOs Stil als „windy rhetoric".64 Noch härter (aber auch präziser) urteilt NILSSON in seiner Besprechung des 1933 erschienenen Dionysos: „Dieses Buch ist nicht Wissenschaft, wie ich Wissenschaft begreife und begreifen muß, sondern Prophetentum." 65 Daß OTTOs eigene Religiosität in der Fachwelt als das zentrale Problem empfunden wurde, zeigt vor allem NlLSSONs Besprechung der Götter Griechenlandsι ,,[W]er religiös ergriffen ist, [läuft] die sichere Gefahr ... seinen eigenen Glauben in seine Forschung hineinzutragen."66 OTTO selbst versteht seinen Stil als unbedingtes Medium, dem dargestellten Sachverhalt gerecht zu werden. HEIDEGGERS Sprachphilosophie wird später nicht nur zu einem Muster für OTTOs Theorie der menschlichen Sprache,67 sondern begründet auch den Impetus, die „Wahrheit des Seins", in einer dem Gegenstand angemessenen Sprache und Form zu vermitteln. Innerhalb der Philologiegeschichte steht OTTO in einer Tradition, die ausgehend von WlNCKELMANN 68 zu einer ,gestalthaften Anschauung des Altertums' zu gelangen suchte.69 Mehr noch als bei Karl REINHARDT, mit dem OTTO in Frankfurt eng zusammenarbeitete, Paul FRIEDLÄNDER, Werner JAEGER, Wolfgang SCHADEWALDT und Friedrich KLINGNER steht dieses Programm bei OTTO aber auch in deutlicher Wechselbeziehung zu der Wahl seiner Themen und dem Anliegen, ein umfassendes Weltbild zu vermitteln und durch eine ,Schau' auf die Antike zu fordern. Die Diskussion und Beantwortung grundsätzlicher Fragen soll einen Zugang zum Wesen des Paganen schaffen, der nicht zuletzt , erfühlt' ist und sich vollkommen von der zeitgenössischen Sichtweise befreit.

64

65 66

67 68

69

H. J. ROSE, rez.: Walter F. Otto [trans. Moses Hados]: The Homeric Gods: The Spiritual Significance of Greek Religion, London 1955, CR N.S. VI.70, 1956, 162. M. P. NILSSON, rez. Walter F. Otto. Dionysos, Gnomon 11, 1935, 177-181. 181. M. P. NILSSON, rez.: Walter F. Otto, Die Götter Griechenlands, Deutsche Literaturzeitung. 50, 1929, 1334-1337. 1335. S. dazu unten S. 211-213. Als Motto für das Kapitel Apoll und Artemis in Die Götter Griechenlands, 66, dient OTTO ein Satz, den WlNCKELMANN am 20. 3. 1756 in einem Brief aus Rom an J. M. FRANCICE schrieb: „Die Beschreibung des Apollo erfordert den höchsten Styl: eine Erhebung über alles was menschlich ist." (abgedruckt in: J. J. WlNCKELMANN, Ausgewählte Schriften und Briefe, hrsg. von W. Rehm, Wiesbaden 1948, 223). S. femer H. CANCIK, Die Götter Griechenlands 1929, 141, Anm. 8f., zu den Parallelen zwischen der Sprache WlNCKELMANNs und OTTOs. Zur WlNCKELMANNs Sprache s. W. REHM, Winckelmann: Gesetz und Botschaft, in: DERS., Griechentum und Goethezeit, 23-55; DERS., Götterstille und Göttertrauer, 101-182. B. von REIBNITZ, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik", 1.

200

Walter F. Otto

Mit dem Verzicht auf Parallelstellen und quellenorientierte Rekonstruktionsverfahren beschreitet OTTO einen Weg, der antirationalistisch ausgerichtet ist und den Leser durch die Anwendung einer der philologischen Tradition abgewandten Sprache auch emotional auf neue Inhalte vorbereitet.

Offenbarung und Entwicklung 1929 erscheinen im Vittorio Klostermann Verlag Frankfurt Die Götter Griechenlands, Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes. Das Buch war vorbereitet worden durch eine Reihe von Aufsätzen - Apollon und Artemis (1925), Die altgriechische Gottesidee (1925), Vom Wesensgehalt des altgriechischen Götterglaubens (1929) 70 - , von denen der erste in Die Götter Griechenlands hineingearbeitet wurde. Die lautstarken Angriffe auf Christentum und interpretatio Christiana, wie sie noch 1920 und 1923 zu hören waren, weichen einer mittlerweile tief verinnerlichten antimodernen und antichristlichen Haltung.71 An die Stelle provokativer Polemik tritt das Bedauern über eine der Antike entfremdete Moderne, die sich nach den alten, weltzugewandten Göttern sehnt und deren christlich geprägtes Vorverständnis die Erfüllung

70

71

OTTO, Apollon und Artemis, Die Antike 1, 1925, 338ff.; Die altgriechische Gottesidee, Vortrag, gehalten vor der Vereinigung der Freunde des .humanistischen Gymnasiums' (Berlin 1926), in: DERS., Die Gestalt und das Sein, 115-136; Vom Wesensgehalt des altgriechischen Götterglaubens, Forschungen und Fortschritte 5, 1929, 365f. Gleichwohl bleiben explizite Äußerungen gegen jegliche Relativierung der Einzigartigkeit der griechischen Religion nicht aus, vgl. etwa Die Götter Griechenlands, 5, gegen die Versuche, „in der griechischen Glaubenswelt... nach orientalischer Religiosität, in der Meinung, nach Religiosität überhaupt zu suchen" / „Wo immer Religion im höheren Sinne definiert wurde, [sc.: haben die christliche Religion und ihre Verwandten] und sie allein - das Muster abgegeben". Die Attacke richtet sich zum einen gegen die romantische Mythosforschung, die den Ursprung von Mythos und Religion in Indien beheimatet wissen wollte (vgl. etwa F. SCHLEGELs Sprache und Weisheit der Inder [1808], J. GÖRRES' Mythengeschichte der asiatischen Welt [1810], F. CREUZERs Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen [1810/1812]) und deren Verfahrensweise schon seinerzeit unter Philologen heftig umstritten war (VOSS, LOBECK, HERMANN, s. dazu oben S. 15), zum anderen gegen die (vorwiegend in Göttingen angesiedelte) .Religionsgeschichtliche Schule', die die Verbindung zu orientalischen Mysterienreligionen in den Blickpunkt rückte und die Besonderheit der Antike dadurch zu relativieren drohte, so etwa Richard REITZENSTEINs Die hellenistischen Mysterienreligionen, das 1927 in die dritte Auflage gekommen war. Zur .Religionsgeschichtlichen Schule' vgl. G. LÜDEMANN (Hrsg.), Die Religionsgeschichtliche Schule. Facetten eines theologischen Umbruchs. Frankfurt 1996. Zu REITZENSTEIN s. W. FAUTH, Richard Reitzenstein, Professor der Klassischen Philologie 1914-1928, in: Die Klassische Altertumswissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen. Eine Ringvorlesung zu ihrer Geschichte, hrsg. von J. Classen (= Göttinger Universitätsschriften, Ser. A, Bd. 14), Göttingen 1989, 178-196.

Offenbarung und Entwicklung

201

dieser Sehnsucht verwehrt.72 Daß das Buch diese Lücke unter Aufbietung aller möglichen (vor allem sprachlicher) Zugeständnisse an ein (noch) christliches Publikum zu füllen verspricht und den Leser wie ein verlorenes Schäflein an die Hand nimmt, ist das Geheimnis seines, den zahlreichen Wiederauflagen nach zu urteilen,73 ungeheuren Erfolgs. Die Götter Griechenlands sind ein „Sehnsuchtsbuch",74 nicht nur für „alle, die das Land der Griechen mit der Seele suchen",75 sondern auch für alle, die sich grundsätzlich nach religiöser Erfüllung sehnen. Seinen inneren Ort aber hat das Buch in der Gräkomanie der Goethezeit.76 Der Titel reminisziert Friedrich SCHILLERS gleichnamiges Gedicht,77 das Stilmuster ist das Johann Joachim WlNCKELMANNs,78 das Verhältnis zur griechischen Antike ist das einer ins Leidenschaftliche übersteigerten Sehnsucht nach dem Idealen, Einheitlichen, Einzigartigen und Vollkommenen, die Empfindung einer weiten Ferne und der Wunsch nach Revivifikation des Antiken, wie es (außer die schon Genannten) August Wilhelm SCHLEGEL, Friedrich HÖLDERLIN und Wilhelm von HUMBOLDT geprägt hatte.79 7

73 74 75 76

77

78 79

Vgl. die Einleitungssätze von Die Götter Griechenlands, 3: „Dem modernen Menschen ist es nicht leicht gemacht, das richtige Verständnis für die altgriechische Religion zu gewinnen. Er steht voller Bewunderung vor den Götterbildern der großen Zeit... Was er aber von diesen Göttern und von den Beziehungen zwischen ihnen und den Menschen hört, findet keinen Widerhall in seiner Seele." S. dazu oben S. 186. Den Ausdruck verwendet H. CANCIK., Die Götter Griechenlands 1929, 143. Ebd., 143. Vgl. dazu W. REHM, Gräkomanie: Leidenschaft und Gefahr, in: DERS., Griechentum und Goethezeit, 255-270. SCHILLERS Gedicht Die Götter Griechenlands, das 1788 im Märzheft des Teutschen Merkur, erschien, erhebt das Griechische ins Unbedingte, Hohe, aber auch in das für ewig Verlorene und Ferne (vgl. dazu auch seine Ästhetischen Briefe) und ist neben GOETHES Iphigenie aufTauris (1787) eines der bedeutendsten Zeugnisse des deutschen Griechenmythos; vgl. dazu W. FRÜHWALD, Die Auseinandersetzung um Schillers Gedicht ,Die Götter Griechenlands', Jb. der dt. Schillergesellschaft 13, 1969, 251-271. Zu SCHILLERS Gräkomanie s. W. REHM, Griechentum und Goethezeit, 191-228. 256; L. UHLIG, Schiller und Winckelmann, Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik, Folge 8, Berlin/ Weimar 1985, 7-24; zu OTTOs SchillerRezeption vgl. H. CANCIK, Die Götter Griechenlands 1929, 140, Anm. 6. S. dazu oben S. 199, Anm. 68. Vgl. vor allem A. W. SCHLEGEL, Vom Wert des Studiums der Griechen und Römer, 1794. Mit HÖLDERLIN befaßt sich OTTO in der Folgezeit auch in einer Reihe von Aufsätzen: Der griechische Göttermythos bei Goethe und Hölderlin, Berlin 1939 (wiederabgedruckt in: DERS., Die Gestalt und das Sein, 181-210); Der Ursprung von Mythos und Kultus. Zu Hölderlins Empedokles, Geistige Überlieferung 1, 1940 (wiederabgedruckt in: Die Gestalt und das Sein, 227-283); Hölderlin und der Ursprung von Kultus und Mythos, in: DERS., Der Dichter und die alten Götter, Frankfurt a.M. 1942, 39109; zu HÖLDERLINS 100. Todestag erscheint Die Berufung des Dichters, in: Hölderlin. Gedenkschrift zu seinem 100. Todestag, Tübingen 1943 (wiederabgedruckt in: Die Gestalt und das Sein, 285-311). Während seiner Tübinger Zeit verfaßt OTTO für das ,Hölderlin-Jahrbuch' 1948/1949 den Aufsatz Hölderlin und die Griechen-, zuletzt erscheint Hölderlin und das Göttliche, Das neue Forum 6, 1956/1957, 217ff.

202

Walter F. Otto

Im Mittelpunkt der Götter Griechenlands steht die hymnische80 und quasibiographische Würdigung fünf olympischer Götter - Athene, Apollon mit Artemis, Aphrodite und Hermes - , umrahmt von einem Kapitel über Religion und Mythos der Vorzeit und vier weiteren Kapiteln über Das Wesen der Götter. Sein und Gestalt, Sein und Geschehen im Lichte der Götteroffenbarung, Gott und Mensch und Das Schicksal. In Anlehnung an eine seit Friedrich CREUZER, Karl Otfried MÜLLER und Johann Jacob BACHOFEN kanonisch gewordene,81 freilich schon von Erwin 82 ROHDE verworfene Antithese unterscheidet OTTO zwischen chthonischen und olympischen Göttern. Die chthonischen Götter seien dem Element verhaftete, „in eine einzige große Wesenheit zusammenfließende", „weibliche" (ungeistige) Erd- und Totengottheiten,83 die olympischen seien die Unterwelt verabscheuende, „männliche" (geistige) und in ihrem Charakter fest umrissene, freiheitliche Gestaltwesen.84 OTTOs antithetisches Denken, das schon bei der Beurteilung von christlicher und heidnischer Religion dem Kontinuitätsmodell mit dem Entwurf polarer Gegensätze begegnete, schlägt zu Buche in dem Bild des ,Kampfes zweier Welten',85 aus dem die olympischen Götter als strahlende Sieger über die chthonische Religion hervorgehen.86 Die Erwähnung der sogenannten .chthonischen' Götter ist vor allem eine Konzession an das Antikebild der Goethezeit, in dem nicht nur die großen homerischen Götter, sondern auch eben jene Erdgottheiten ihren Platz finden.87 Keineswegs aber steht

80

81

82

83 84 85

87

Zu HUMBOLDT vgl. W. REHM, Griechentum und Goethezeit, passim. Gelegentlich, aber noch nicht so häufig wie in den späteren Texten ruft OTTO die deutschen Dichter und Denker auch explizit in den Zeugenstand (vgl. z.B. Die Götter Griechenlands, 116, 128 [Schiller]; 137 [Goethe], 205f. [Hölderlin] u.a.). Auf die hymnische Textstruktur („Prosa-Hymnus") hat H. CANCIK, Die Götter Griechenlands 1929, 141f., aufmerksam gemacht. F. CREUZER, Symbolik und Mythologie der alten Völker, 1810/1812; K. O. MÜLLER, Aischylos ' Eumeniden, Göttingen 1833: J. J. BACHOFEN, Mutterrecht, Stuttgart 1861, vgl. dazu A. BAEUMLER, Das mythische Weltalter. Bachofens romantische Deutung des Altertums, München 1965, 195-314. R. SCHLES1ER, Olympische Religion und chthonische Religion: Creuzer, K. O. Müller und die Folgen-, in: DIES., Kulte, Mythen und Gelehrte, 21-32. Vgl. auch DIES., Prolegomena zu Jane Harrisons Deutung der antiken Religion, 174-176. OTTO, Die Götter Griechenlands, 21, 25, 38. Ebd., 19, 25f„ 33, 43. Vgl. ebd., 24: „Das uralte göttliche Erdrecht protestiert gegen den neuen Olympischen Geist. Zwei Welten kämpfen gegeneinander." Als den dramatisch in Szene gesetzten Kampf zweier Weltordnungen und nicht etwa als ,Überbleibsel alter Glaubensvorstellung' (A. DIETERICH, Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion, Leipzig 1905, 36-41, bes. 39f.) deutet OTTO, Die Götter Griechenlands, 29ff., das Auftreten der Erinyen in Aischylos Eumeniden. Hier knüpft OTTO vor allem an HÖLDERLIN an; zu OTTOs Hölderlinbild s. DERS., Der Ursprung von Mythos und Kultus. Zu Hölderlins Empedokles (1940), 229: „Er nennt die Elemente, die großen Gestalten und Erscheinungen des Kosmos göttlich ... So ist es ein Gebet, wenn er sich an .Mutter Erde' wendet, an den .Meergott', den ,Vater Äther', den .Sonnengott'."

Offenbarung und Entwicklung

203

sie in irgendeinem Zusammenhang mit der Ursprungsdiskussion, unter deren Vorzeichen etwa Albrecht DIETERICH den alten erdverbundenen Glaubensvorstellungen eine tragende Rolle beimaß.88 Es zeigt sich eine Art ,RestEvolutionismus', wenn OTTO davon spricht, daß es bis auf wenige „Überbleibsel" und „Nachklänge" keine hinreichenden Dokumente mehr für den alten Glauben gäbe.89 Im Großen und Ganzen aber haben weder die chthonischen Götter noch das Entstehen der Olympier 90 in OTTOs Theologie einen Platz. Seine Welt und die Welt, die er vermitteln möchte, ist die Welt der strahlenden homerischen Göttergestalten, die sich dem Menschen offenbaren, die in ihrer ganzen „Fülle" und „Lebendigkeit" als sinnlich empfundenes Ereignis über ihn hereinbrechen und noch immer, heute, hereinbrechen können.91 Die Unterschiede gegenüber USENER sind eklatant: Kein defizitärer Anfang; keine menschlichen .Vorstellungen', in denen der Gott gleich einer ,Kopfgeburt' begrifflich gedacht und erst dann erst ,lebendig' wird;92 und vor allem: keine Evolution,93 sondern Offenbarung des in seiner ganzen Fülle gestalteten Seins; lebendige Götter, denen der Mensch im Mythos begegnet und auf die er im Kultus zugeht. 1933 erscheint in den von OTTO mitbegründeten .Frankfurter Studien' sein „Meisterwerk" 94 Dionysos. Mythos und Kultus.95 Das Herausgreifen des Dionysos als eines Gottes, der in den Göttern Griechenlands „fehlen mußte, weil er dem Kreise der echten Olympier, denen es gewidmet war, fernsteht", 96 steht in der Tradition von Johann Wolfgang von GOETHE, 88 89 90

"

92

93

94

95

96

A. DIETERICH, Mutter Erde (1905). OTTO, Die Götter Griechenlands, 20-22. OTTO, Die Götter Griechenlands, 20: „Über den geistigen Prozeß, der sich damals abgespielt hat, besitzen wir leider keine direkten Zeugnisse; nur das Gewordene selbst steht gewaltig vor uns." Vgl. OTTO, Der griechische Göttermythos bei Goethe und Hölderlin, 187: „Und Hölderlin hat angebetet, denn ihm hat sich die Gottheit in Gestalten geoffenbart, ihm allein, geoffenbart im eigentlichen Sinne des Wortes, nicht durch traumhafte Gesichte und Ahnungen, sondern mit solcher Unmittelbarkeit und Macht, daß er wie vom Blitz getroffen wurde und um Schonung bitten mußte, um nicht zu vergehen." OTTO, Theophania, 2f. Vgl. den offenen AngrifT auf USENER in dem 1926 erschienen Aufsatz über Die altgriechische Gottesidee, 119, wo er gegen das religionswissenschaftliche Postulat von Vorstellungen („kindlichen Wahnbildern und Wünschen") und „fremdartigen Begriffsbildungen" polemisiert. Nicht die Götter seien Personifikationen von Begriffen, sondern die Begriffe Abstraktionen von Göttergestalten (ebd., 72). Explizite Vorwürfe gegen den Evolutionismus finden sich bei OTTO, Dionysos (s. Anm. 95), l l f f . Vgl. auch DERS., Der griechische Göttermythos bei Goethe und Hölderlin, 187; Theophania, 9. H. CANCIK, Dionysos 1933, 165. Gelobt wird das Buch erst in der neueren Religionswissenschaft, vgl. dagegen das oben S. 199 erwähnte Urteil von M. P. NILSSON (1935). OTTO, Dionysos. Mythos und Kultus, Frankfurt 1933, hier zitiert nach der 3. Aufl., Darmstadt 1960. OTTO, Vorwort zu Dionysos, 5.

204

Walter F. Otto

Friedrich

Johann Jacob BACHOFEN, vor allem aber von Friedrich namentlich seiner Geburt der Tragödie und der Dionysosdithyramben.9S Das Buch besteht im wesentlichen aus zwei Teilen. Der zweite (mehr als drei Viertel des Buches ausmachende) Teil ist eine Interpretation des Wesens des Dionysos. OTTO gelangt darin zu seiner These von der „Doppelheit"99 des Gottes, die Widersprüchliches, Gegenteiliges in sich vereine. Dionysos, der „Gott des Verzückens und des Schreckens",100 ist ein Gott der ,Anti-Logik',101 in dem alle polaren Seinsbereiche: Lärm und Stille, Sinnlichkeit und Grausamkeit, Lebensspendendes und Zerstörendes, in sich zur Deckung gelangen.102 Der erste Teil des Buches ist eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Mythos und Kultus, in der sich OTTO von den traditionell überwiegend rationalistischen Deutungen distanziert und demgegenüber eine Mythos und Kultus synthetisierende Interpretation vorlegt, die sich - darin liegt die Beziehung zum zweiten Teil des Buches - am Kult und Mythos des Dionysos besonders deutlich exemplifizieren lasse.103 Das Thema hat OTTO auch in späteren Aufsätzen, vor allem in Der Ursprung von Mythos und Kultus. Zu Hölderlins Empedokles ( 1 9 4 0 ) , Hölderlin und der Ursprung von Kultus und Mythos ( 1 9 4 2 ) , Gesetz, Urbild und Mythos ( 1 9 5 1 ) und Der Mythos ( 1 9 5 5 ) , immer wieder aufgegriffen. Das Verhältnis von Mythos und Ritus hat in der religionswissenschaftlichen Diskussion eine große Rolle gespielt. Aufgeworfen wurde immer wieder die Frage, ob der Kultus oder der Mythos in der Entwicklungsgeschichte zuerst dagewesen sei.104 USENER, der noch in den Italischen Mythen ( 1 8 7 5 ) davon ausging, daß der Ritus lediglich ein Reflex des Mythos sei, revidierte diese Meinung später in der Heiligen Handlung ( 1 9 0 4 ) und kehrte das Verhältnis um. In den Götternamen ( 1 8 9 6 ) differenzierte USENER zwischen der CREUZER,

NIETZSCHE, 97

98

99

100 101 102 103 104

Vgl. dazu M. L. BAEUMER, Nietzsche and the Tradition of the Dionysian, in: Studies in Nietzsche and the Classical Tradition, hrsg. von J. C. O'Flaherty/ T. F. Seilner/ R. M. Helm, Univ. of North Carolina Studies in Germanic Languages and Literatures, Chapel Hill 1976/1979, 165-189; A. HENRICHS, Die Götter Griechenlands, 27. F. NIETZSCHE, KSA 1, 9-156; DERS., Dionysosdithyramben (Nachgelassene Schriften Anfang August 1888-Anfang Januar 1889), KSA 6, 375-410. Zu OTTOs zahlreichen Bezügen auf NIETZSCHE s. H. CANCIK, Dionysos 1933, 180. Zu NIETZSCHES Sprachduktus s. ebd., 178-180. Vgl. schon F. NIETZSCHE, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, 72: „In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur eines grausamen, verwilderten Dämons und eines milden sanftmüthigen Herrschers." Vgl. dazu B. von REIBNITZ,. Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik", 266-268. Vgl. OTTO, Dionysos, 62. H. CANCIK, Dionysos 1933, 170. Vgl. u.a. OTTO Dionysos, 85ff., 108f. (über den Kult der Agrionien in Orchomenos). OTTO, Dionysos, 42f. Vgl. dazu auch oben S. 83-85.

Offenbarung und Entwicklung

205

spontanen Verehrung eines Augenblicksgottes und dem eigentlichen auf der Empfindung eines religiösen Ehrgefühls beruhenden Ritus, der erst nach Ausbildung der persönlichen Götter habe entstehen können. Der Germanist Wilhelm MANNHARDT hatte die gesamte griechische Religion in seinem epochalen und vielgelesenen105 Werk über Antike Wald- und Feldkulte gänzlich aus den Riten um den Ackerbau erklärt. Am intensivsten war die Diskussion über dieses Problem in England unter den Cambridge Ritualists, die überwiegend dem Ritus gegenüber dem Mythos eine zeitliche Priorität einräumten.106 Jane E. HARRISON sprach von Mythos als ,ritual misunderstood'. William Robertson SMITH sprach immerhin davon, daß „in almost every case the myth was derived from the ritual, and not the ritual from the myth".107 Gegen die theoretischen Grundlagen dieser Kontroverse hat OTTO folgendes einzuwenden: 1) Mythos und Kultus stehen keineswegs in einem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang. Der Mythos ist weder Deutung des Kultus noch Erfindung der Dichter; der Kultus weder primitive Zweckhandlung noch bloße Darstellung eines narrativen Geschehens.108 2) Weder der in seiner Feierlichkeit über eine alltägliche Handlung hinausweisende Kultus109 noch der als Gesamterscheinung110 in seiner Großartigkeit alles menschlich Machbare übertreffende Mythos entstehen aus einer defizitären

105 106

107 108 109

Zu OTTOs Auseinandersetzung mit Wilhelm MANNHARDT s. oben S. 191, Anm. 24. W. Robertson SMITH, Lectures on the Religion of the Semites, Edinburgh 1889; J. G. FRAZER, The Golden Bough, London 1890; J. E. HARRISON, Mythology and Monuments of Ancient Athens. Being a translation of a portion of the ,Attica' of Pausanias by Margaret de G. Verrall. With an introductory essay and archaeological commentary by J. E. Harrison, London/ New York 1890; Vorläufer waren A. LANG, Custom and Myth, London 1884, und Ε. Β. TYLOR, Primitive Culture, 2 Bde., London 1871 (dt. Übers.: Die Anfänge der Cultur. Untersuchung über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Unter Mitwirkung des Verfassers ins Dt. übertragen von J. W. Spengel und F. Poske, Leipzig 1873). Vgl. dazu R. SCHLESIER, Prolegomena zu Jane Harrisons Deutung der antiken griechischen Religion, 145-192, bes. 149ff. R. ACKERMAN, The Myth and Ritual School: J. G. Frazer and the Cambridge Ritualists (= Theorists of Myth 2), New York/ London 1991; W. BURKERT, Stucture and History in Greek Mythology and Ritual, Berkely/ Los Angeles/ London 1979 (= Sather Classical Lectures 47); DERS., Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, 159-207, und oben S. 83-85. W. Robertson SMITH, Lectures on the Religion of the Semites, 18. OTTO, Dionysos, 16-25. Vgl. OTTO, Hölderlin und der Ursprung von Kultus und Mythos, 72: „[Wäre der Kult nur eine Form der allgemeinen Zweckmäßigkeit, so wäre] die Gesinnung, aus der er entspringt, das Ziel, dem er zustrebt ... in nichts unterschieden von den Gesinnungen und Zielen des praktischen Lebens."/ „Die Feststimmung ... zeugt von dem Außerordentlichen ... [die] festliche Erhobenheit... [ist], wo immer es wirkliche Feste gibt, von allem anderen Emst und aller anderen Freude verschieden." OTTO, Dionysos, 25, differenziert zwischen einzelnen Heldengeschichten, die von der einzelnen dichterischen Persönlichkeit erfunden sein mögen, und dem Mythos als einer Gesamterscheinung, die das dichterische Schaffen überhaupt erst ermöglicht.

206

Walter F. Otto

Disposition des Menschen.111 Die Kluft, die zwischen dem Menschen und dem Mythos bzw. Kultus besteht, kann daher nur durch einen „großen Schöpfungsakt"112 erklärt werden, in dem sich die Wahrheit des göttlichen Seins im Wort (Mythos) bzw. in der Handlung (Kultus) dem Menschen offenbart.113 3) Mythos und Kultus sind wechselseitig aufeinander bezogen."4 Im Kultus wendet sich der Mensch dem Göttlichen zu (das Gebet ist nicht .Bittgebet', sondern „Begrüßung und Lobpreisung");115 im Mythos, der „offenbar gewordene[n] Urgestalt der Weltwirklichkeit"116 wendet sich das Göttliche dem Menschen zu. In der „Vermenschlichung des Göttlichen" (Mythos) und der „Vergöttlichung des Menschen" (Kultus) treffen Mensch und Gott zusammen: „Der Mensch ist für einen Augenblick objektiv geworden".117 4) Erst durch die in Kultus und Mythos erfahrene Fülle des Seins

OTTO, Theophania, 105, über den Irrtum des Historismus des 19. Jahrhunderts: „Diese dem Darwinismus in seiner populärsten Form verfallene historische Wissenschaft nimmt auf das Wesen der Religion nicht die mindeste Rücksicht. Sie kümmert sich auch nicht um die tatsächlichen Wirkungen, die von ihr ausgehen. Denn sonst hätte sie mit der Verwunderung darüber anfangen müssen, daß die religiösen .Vorstellungen' um sie so zu nennen - die feierliche Großartigkeit der Kulte hervorbringen konnten." 1,2 OTTO, Dionysos, 30. 113 OTTO, Dionysos, 25ff. Vgl. dazu W. BURKERT, Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, 189. 1,4 Vgl. auch OTTO, Gesetz, Urbild und Mythos (1951), in: DERS., Die Gestalt und das Sein, 86f.: „Der tiefere Unterschied zwischen beiden ist, daß im Kultus der Mensch zum Göttlichen emporgehoben wird und gewissermaßen mit ihm gemeinsam handelt, im Mythos dagegen das Göttliche herabsteigt, sich als Wort in menschlicher oder menschlich verwandter Gestalt verleiblicht und menschenähnlich handelt." Vgl. auch DERS., Hölderlin und der Ursprung von Kultus und Mythos, 71: „[Mythos und Kultus sind] Erscheinungsformen desselben Prozesses". Beide bringen, wenn sie „die Distanz zwischen dem Ewigen und dem Menschen" doch auch nie völlig aufheben können, „das Unendliche dem Menschen näher"; ferner DERS., Die Zeit und das Sein (1950), in: Die Gestalt und das Sein, 4; DERS., Theophania, 19ff. Kultus und Mythos sind aneinander gebunden aber nicht miteinander identisch, wie etwa D. MACH, Die Wahrheit des Mythos. Zu drei Büchern von W. F. Otto und Josef Pieper, Kairos 8 1966, 246-257. 251 („Im Grunde sind Mythos und Kultus ein und dasselbe"), behauptet. 115 OTTO, Hölderlin und der Ursprung von Kultus und Mythos, 74. M6 OTTO, Der Mythos (Mit dem Untertitel Nach einem in Erlangen gehaltenen Vortrag erschienen in: Studium Generale 8, 1955, 263ff.), in: DERS., Mythos und Welt, Stuttgart 1962, 267-278. 272. 17 OTTO, Hölderlin und der Ursprung von Kultus und Mythos, 78: „[Bei der kultischen Wandlung] kann die Bewegung nur von der Innigkeit des menschlichen Subjekts mit der Objektivität des Übermenschlichen ausgegangen sein und durch Übermaß, Kampf und Wesenstausch den ungeheuren Moment der Einheit, der Verwirklichung des Göttlichen am Menschen selbst, herbeigeführt haben. Der Mensch ist für einen Augenblick objektiv geworden." Mit der Interpretation von Mythos und Kultus als .Aufhebung des Unterschiedes zwischen Subjekt und Objekt" nähert sich OTTO auf einer religiösen Ebene dem, was HEIDEGGER gefordert hatte: der Destruktion des Subjekts. Nichts weiter, schreibt OTTO, sei die Verdunkelung des wahren, ewigen .Seins' als die Folge der „Unterscheidung zwischen Natur und Geist, Sinnenwelt und Übersinnlichkeit" (Gesetz, Urbild und Mythos, 88).

Offenbarung und Entwicklung

207

118

„konstituiert sich Kultur und Volkstum". Kultus und Mythos sind kulturstiftend;1 19 ohne sie gäbe es keine Dichtung - nicht umgekehrt. Die Unterschiede zu USENERs Analyse der religiösen Ursprünge werden auch hier wieder deutlich: Nicht defizitärer Anfang, Angst, Vorstellungen, begriffliche Entwicklung, sondern Fülle des Anfangs, Entzücken, Erfahrung, ,schlagartige' Offenbarung. Nicht der Mensch schafft die Götter, sondern in der Begegnung mit Gott wird der Mensch zum Menschen. Bewußt vermeidet OTTO denn auch den von den Rationalisten benutzten Terminus ,Ritus', dessen mögliche Konnotationen (.Ritual', starrer Handlungsablauf)120 rationalistisch vorgeprägt sind und seiner Deutung ebenso zuwider laufen121 wie jede unter dem Blickwinkel der Zweckrationalität stehende Interpretation von Religion. OTTOs antievolutionistischer Impetus ist im Dionysosbuch, wo er sich erneut gegen den „aus der Biologie stammenden Entwicklungsbegriff' der Völkerkunde und-psychologie,122 explizit gegen USENER und deutlich, aber ohne Namensnennung auch gegen DIETERICH123 wendet, voll ausgeprägt. Der latente Evolutionismus der Götter Griechenlands, in denen sich der Offenbarungsbegriff ausschließlich auf die gestalthaften olympischen Götter, nicht aber auf den ,alten Glauben' bezieht, weicht der alle Bereiche des religiösen Lebens miteinschließenden Überzeugung, daß sich „das Produktive (Schaffende)... nicht aus dem Ohnmächtigen entwickelt haben" könne: „Immer steht am Anfang der Gott."124 Die zentrale These OTTOs, der sich noch 1923 gegen ein christliches Referenzsystem gewehrt hatte, führt den , Schöpfungsakt' nunmehr durch die Hintertür wieder ein.

118

OTTO, Dionysos, 31. Vgl. dazu W. BURKERT, Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, 191. 120 Auf dem Verständnis von Ritus als einer formal streng konstanten Ausdrucksform basierte das Konzept der .survivals'. Auf dieser Grundlage entwickelte A. DIETERICH im Anschluß an USENER seine Methode zur Rekonstruktion religiöser Grundformen, s. dazu oben S. 11 Off. 121 Vgl. dazu W. BURKERT, Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, 189. 122 OTTO, Dionysos, 11. 123 Ebd., 13: „Zu einem Begriff betet kein Mensch". Der Satz geht, wie auch von OTTO a.a.O. angemerkt, auf U. von WlLAMOWITZ, Der Glaube der Hellenen, 11, zurück und wird von diesem (wie auch von OTTO) gegen USENERs Begriffsbildungslehre verwendet. Dionysos, 16, zitiert OTTO WlLAMOWITZ' Polemik (Der Glaube der Hellenen, Bd. 1, 9f.) gegen DIETERICH, s. dazu oben S. 97, Anm. 4. 124 OTTO, Dionysos, 30. Vgl. auch ebd.: „Überzeugen wir uns endlich, daß es gedankenlos ist, das Produktivste auf das Unproduktive zurückzuführen, auf Wünsche, Ängste, Sehnsüchte; die lebendigen Ideen, die das rationale Denken erst möglich gemacht haben, auf Verstandesprozesse; die Erkenntnis des Wesenhaften, das dem zweckmäßigen Streben erst Raum und Richtung schafft, auf den Nützlichkeitssinn." 119

208

Walter F. Otto

Sprache und Sein 1951, OTTO hat mittlerweile eine Gastprofessur in Tübingen,125 erscheint Gesetz, Urbild und Mythos. Der Aufsatz, in dem OTTO die Idee des ,Schöpfiingsakts' differenziert und auf dieser Grundlage dessen transhistorische und universelle Wirkung näher begründet, ist nicht ganz zu Unrecht als seine philosophischste Schrift bezeichnet worden.126 Die Griechen treten in den Hintergrund, und ins Blickfeld rücken nun der Mythos, die Sprache, das Göttliche, der Mensch und, immer wieder: das Sein. OTTOs Griechensehnsucht verbindet sich mit dem Entwurf einer Philosophie des Seins, die seiner Anschauung der griechischen Religion zwar zutiefst verpflichtet ist, ihren Impetus aber aus einem Interesse nicht nur an der Antike, sondern vor allem an der Moderne bezieht. Das Bild der Begegnung von Mensch und Gott, das OTTO 1951 entwirft, ist das einer durch das Dasein der Dinge sich vermittelnden Erfahrung. Durch die Begegnung mit einem ,Vorbild', so OTTOs These, stoße der Mensch auf das ,Urbild'. Das ,Vorbild' helfe ihm, das ,Urbild' zu erkennen und zu erfahren. ,Urbild'127 - das ist das „Sein": das Göttliche, der „wahre" Mythos, die „wahre" Sprache., Vorbild' - das ist das „Seiende": die mythischen Heldengeschichten,128 die Gesetze, die Vielfalt der Sprachen, die menschlichen Organe.129 An die Seite der göttlichen Offenbarung tritt die Offenbarung des ,Seins' als ein in alle Lebensbereiche hineinwirkendes und auch heute noch erfahrbares Ereignis. Die Spannweite der Bereiche, in denen OTTO die Wirksamkeit von ,Ur'- und .Vorbild' erkennt, reicht von der Religion über die Moral130 bis hin zur organisch-physiologischen Disposition des Menschen131 125

Vgl. dazu oben S. 192, Anm. 29. Vgl. dazu K. KERÉNYI, Walter F. Otto. Erinnerung und Rechenschaft, 260. 127 OTTO, Gesetz, Urbild und Mythos, 31, bezieht sich auf GOETHEs Metamorphose der Tiere, 14f.: „Alle Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen] Und die seltenste Form bewahrt im geheimen das Urbild." (J. W. von GOETHE, Werke, hrsg. von E. Trunz, München 1999, Bd. 1: Gedichte und Epen I, 201-203. 201). GOETHE bezeichnet mit dem Begriff - in einem tierphysiologischen Kontext - die Gesetzlichkeit der inneren Organisation. Zu den Begriffen ,Urbild' und ,Vorbild' in der Goethezeit vgl. W. REHM, Gräkomanie. Leidenschaft und Gefahr, 254-270, bes. 266f. 128 Die Begriffe ,Ur-' und ,Vorbild', mit denen OTTO die Dynamik der Sprachentstehung terminologisch zu fassen sucht, spielen auch bei seiner Bestimmung von Wesen und Funktion des Mythos eine große Rolle. So wie die Sprache (Vorbild) den Menschen treffe und ihn das ,ewige Sein' (Urbild) erblicken lasse, so begegne dem Menschen im Mythos die ,ewige Sittlichkeit'. Durch den Mythos, den OTTO weitgehend mit ,Heldengeschichten' gleichsetzt, werde das ewig Sittliche wachgerufen und der Drang des Menschen zur Nachahmung evoziert (OTTO, Gesetz, Urbild und Mythos, 60). 129 OTTO, Gesetz, Urbild und Mythos, 72ff. 130 Vgl. ebd., 56-58. 131 Die Einbeziehung physiologischer Prozesse ist - gerade im Vergleich mit USENERs Ansatz - interessant, weil sie über den rein religiösen Bereich hinausweist, aber genau dadurch die These einer allmächtigen Schöpfungskraft des Göttlichen unterstützt: 126

Sprache und Sein

209

und dessen ontogenetischer Entwicklung. So sieht OTTO schon in den ersten Regungen des Neugeborenen die Vorwegnahme „höherer menschlicher Seinsart", die körperliche und geistige Anlage, Mensch zu sein, und exemplifiziert dies an menschlichen Spezifika wie der Körperhaltung132, dem Lächeln als eines Ausdrucks des Entzückens133 und schließlich der Sprache.134 Ähnlich wie bei der Magie135 unterscheidet OTTO auch bei der Sprache zwischen einer „wahren" und einer Verfallsform:136 Die Verfallsform der Sprache ist die alltägliche, moderne und zweckgerichtete Sprache, in der wir uns ausdrücken, um zu kommunizieren und uns mitzuteilen. Die eigenüiche, „wahre" Sprache aber (in OTTOs Terminologie: ihr ,Urbild') ist keinem USENER bediente sich einer an das Vokabular der Naturwissenschaften mahnenden (Metaphern)sprache (sprachliche „Fortpflanzungstriebe", „Gesetzmäßigkeiten", s. oben S. 43f.), um die wissenschaftliche Analysierbarkeit geistiger/ religiöser Ausdrucksformen zu suggerieren; OTTO zieht einen naturwissenschaftlichen Gegenstand (das erste Lächeln des Neugeborenen) in den Bannkreis seiner theologischen Betrachtung und benutzt dies als ein rhetorisches Vehikel, um, umgekehrt, die Allmacht des Göttlichen zu demonstrieren und sich mit diesem Argument einer wissenschaftlichen Analyse der Entstehungsprozesse zu entziehen:„Die Versuche, diese Anlage - die Anlage, Mensch zu sein - als Ergebnis einer Entwicklung zu verstehen, haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Am sinnvollsten erscheint es immer noch, sie auf einen Schöpfungsakt zurückzuführen; denn damit wäre wenigstens anerkannt, daß die Wissenschaft hier nichts mehr zu ergründen hat" (OTTO, Gestalt, Urbild und Mythos, 37f.). 132 OTTO, Gesetz, Urbild und Mythos, 37: „Das kleine Kind liegt auf dem Rücken", eine Lage, in der „schon der aufrechte Stand und Gang vorgezeichnet und gewissermaßen vorweggenommen" ist: „Der Mensch blickt über sich und erhebt sein Haupt der Sonne und den Sternen zu." 133 Das Phänomen des Lächelns deutet OTTO, Gesetz, Urbild und Mythos, 39, als ein Spezifikum, d.h. nicht nur als Ausdrucksmitte/, sondern als Ausdruck des Menschseins: „Die erste Äußerung, wodurch sich im Neugeborenen das Geistige selbst ankündigt, ist das Lächeln oder Lachen. Dieses merkwürdige Phänomen ist den alten Völkern als Zeichen der unverfälschten oder wiederhergestellten Menschennatur kostbar gewesen. Nach altem Glauben bleibt das verhexte Kind finster und stumm, bis es gelingt, es zum Lachen zu bringen; dann liegt plötzlich ein wohlgeratenes Menschenwesen in der Wiege.", ebd., 39. Vgl. auch DERS., Das lächelnde Götterkind, in: DERS., Das Wort der Antike, 42-52. 134 OTTO, Gesetz, Urbild und Mythos, 49f.: „Das Urbild muß in der Form des Vorbilds erscheinen, wenn das Kind von ihm getroffen werden und das Erstaunliche geschehen soll, daß die Sprache in ihm selbst als seine eigene Lebensäußerung erwacht. Durch das Urbild, das in ihm lebendig ist, hat das Vorbild die Kraft, das geistreiche Vermögen aus dem Kinde hervorzurufen, zu dem es als Mensch berufen ist." HS OTTO, Dionysos, 35-37, grenzt die „echte Magie" von ,jene[m] System absurder Praktiken" (ebd., 35) ab, das immer wieder im Sinne einer Mythos und Kultus vorausgehenden Lebensform als Grundlage einer Definition von ,Magie' herangezogen wird. Ähnlich Die Götter Griechenlands, 9f. 28f. 136 OTTO, Gesetz, Urbild und Mythos, 45: „[Die Sprache, m]ag sie auch noch so früh, wie so vieles Hochgeborene, zur praktischen Verwendung herabgesunken, also an die Stelle der tierischen Mitteilungslaute getreten sein, ihrem Ursprung und Wesen nach ist sie nichts anderes als Anrufung und Bezeugung des Seins, und das heißt: Zwiesprache mit dem Göttlichen." Vgl. auch ebd., 83: „[Die Sprache] ist längst, um eine Formel von Leo Frobenius zu gebrauchen, vom Ausdruck zur Anwendung herabgesunken."

210

Walter F. Otto

Zweck unterstellt; sie ist reiner Ausdruck des Seins. Wenn wir die „wahre Sprache" sprechen (also die, die OTTO spricht), halten wir Zwiesprache mit dem Göttlichen und bezeugen unser „Entzücken" über das Menschsein. Durch das Sprechen als solches werden wir zum Menschen. Der Gedanke einer präexistenten Sprache, zu der sich der Mensch, vermittelt durch ein Vorbild (die Sprache der Erwachsenen, die physiologische Veranlagung, sprechen zu können etc.), hinwendet, verbindet sich mit der an HUMBOLDTS Sprachtheorie mahnenden Vorstellung von der unbedingten Verknüpfung von Sprache und Denken, wonach das einzelne Wort, anders als der Tierlaut, eben nicht nur ein einzelnes Wort, sondern immer schon Teil der Sprache und ihrer Bauform ist. 137 Sprache ist „nicht nur der Ausdruck der Gedanken, sondern die aufgebaute Welt des Denkens selbst".138 Erst durch die Sprache wird der Mensch zu dem, was er ist, zu einem denkenden Wesen. Die Differenzen zu USENER sind eklatant. Sprache entsteht nicht aus Angst oder Not, sondern ¿sí;139 der Mensch wendet sich ihr zu. Sie obliegt keiner im menschlichen Unbewußten liegenden Entwicklung der Ausdrucksformen (vom einzelnen Wort über den Begriff bis hin zur narrativen Sequenz), sondern sie entfaltet sich in ihrem Sein. Sie ist kein Kommunikationsmedium, sondern Ausdruck der Begegnung mit dem Sein und Ausdruck des Entzückens über die Menschwerdung. In ihrer göttlichen Natur, als „reines Kind Gottes" und „Selbstbezeugung der Wahrheit des Seins in jenem Wunder der Verbindung von Gott und Mensch, wo das Anreden und Angeredetwerden eins ist", ist OTTOs Sprache' alles andere als das, was USENER mit dem nüchternen Blick des Religionshistorikers als eine „urkunde" bezeichnet hatte.140 Bei OTTO avanciert sie zum unnahbaren Zeugen göttlicher Existenz und, was sein eigenes Vorgehen betrifft, gleichsam zum Medium einer inneren Annäherung. Hatte USENER Forschungsgegenstand (Sprache) und Methode (Sprachanalyse) noch säuberlich voneinander geschieden, so führt der religiöse Impetus, mit dem sich 137

138

139 140

Ebd., 41: „[Selbst der einfachste Mitteilungssatz enthält] viel mehr ... als zu der im Augenblick beabsichtigten Aussage nötig wäre. Er muß sich einer vorgegebenen Bauform fügen, und diese Bauform fordert die Einbeziehung von Elementen, die im Sinne der bloßen Zweckmäßigkeit durchaus überflüssig sind." Ebd., 41. Vgl. auch OTTO., Der ursprüngliche Mythos, 232: „Denken und Sprechen sind eins. Wir sprechen nicht aus, was wir denken, als wenn das Denken ein selbständiger Akt wäre und die Sprache nur eine Bezeichnung, Verlautbarung des Gedachten. Wir denken, indem wir sprechen, wir denken in der Sprache." Während USENER, Philologie und Geschichtswissenschaft, 12, HUMBOLDTS (durchaus ambivalent lesbaren) Ansatz ausschließlich als einen historischen Beitrag zur Erforschung der (vor)historischen Sprachentstehung gewürdigt hatte, schließt OTTO an den bei HUMBOLDT formulierten Aspekt der transhistorischen Sprachgenese und des inneren Zusammenhangs von Sprache und Denken an. Vgl. auch K. KERÉNYI, Walter F. Otto zum 75. Geburtstag, 201. OTTO, Gestalt, Urbild und Mythos, 48; H. USENER, Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Bonn 1896, V.

Sprache und Sein

211

OTTO dem .göttlichen Wunder der Sprache' auf dem Wege nachempfindenden Erfiihlens zu nähern sucht, zu deren gefährlich-faszinierenden Verschmelzung. Zur Zeit der Abfassung von Gestalt, Urbild und Mythos steht OTTO bereits unter dem starken Einfluß der Sprachphilosophie Martin HEIDEGGERS, mit dem ihn seit spätestens 1935 persönliche Kontakte verbinden141 und dem er ein Jahr zuvor als einer der Beiträger fiir die 1950 erschienene Festschrift die schon im Titel auf ihren Adressaten anspielende Abhandlung Die Zeit und das Sein gewidmet hat.142 Bei HEIDEGGER finden sich nicht nur zahlreiche Aspekte von OTTOS Deutung der Sprache antizipiert.143 Mit HEIDEGGER verbindet OTTO auch die Verschmelzung von Gegenstand und Sprache, das spezifische Vokabular („Sein", „Seiendes") und nicht zuletzt die christlich geprägte Darstellungsform.144 Inhaltlich knüpft OTTO vor allem an zwei Aspekte an: die 1935 bezog OTTO als Mitglied des Wissenschaftlichen Ausschusses des Weimarer .Nietzsche-Archivs' (1933-1945) Martin HEIDEGGER in die mit Karl SCHLECHTA nach Maßgaben von E. FÖRSTER-NIETZSCHE geplante Herausgabe von NIETZSCHES Werken mit ein. 1942 verließ HEIDEGGER das Projekt, s. A. STAVRU, Die wissenschaftliche Laufbahn und der Nachlaß von Walter F. Otto, 50. Nachweisbar ist der persönliche Kontakt dann wieder für die Jahre 1950 (anhand der im Maibacher Literaturarchiv verwalteten Korrespondenz, vgl. die in OTTOs Nachlaß eingegangenen Briefe HEIDEGGERS vom 22. 2. 1950 und vom 4. 12. 1950 [unveröffentl.], die nicht nur den wechselseitigen Austausch von Sonderdrucken, sondern auch die persönliche Begegnung und eine gedankliche Auseinandersetzung belegen) und 1955 (vgl. G. NESKE, Erinnerungen an Heidegger, Pfullingen 1977, 294: „Martin Heidegger besuchte uns [sc.: den Autor] 1955 ... Ich holte ihn bei Walter Friedrich Otto in Tübingen ab."). Ob OTTO auch vor 1945 mit HEIDEGGER in brieflichem Kontakt stand, läßt sich derzeit nicht nachprüfen (OTTOs Briefe an Heidegger, die in Marbach liegen, sind noch nicht zugänglich, HEIDEGGERS Briefe wären, falls es welche gegeben haben sollte, dem Brand 1945 zum Opfer gefallen, vgl. oben S. 192, Anm. 29). Vgl. aber den auf den 24. 4. 1929 datierten Brief Martin HEIDEGGERS, in: Martin Heidegger/ Karl Jaspers. Briefwechsel 19201992, hrsg. von W. Biemel/ H. Saner, Frankfurt a.M./ München/ Zürich 1990, 62, aus dem hervorgeht, daß beide sich zu diesem Zeitpunkt schon begegnet waren. 142

143

144

OTTO, Die Zeit und das Sein, in: Anteile. Festschrift fiir Martin Heidegger, 1950, Iff., ist im Titel eine Umkehrung von HEIDEGGERS 1927 erschienener Schrift Sein und Zeit. Es fällt auf, daß OTTO HEIDEGGER zu diesem Zeitpunkt noch nicht öffentlich in die Diskussion einbezieht, ein Phänomen, das schon bei seiner Rezeption von Friedrich NIETZSCHE zu beobachten war. Erst in Die Sprache als Mythos, seinem im übrigen letzten und erst aus dem Nachlaß herausgegebenen Manuskript (veröffentlicht in: Gestalt und Gedanke, Bd. 5, hrsg. von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München 1959, 171ff., in: DERS., Mythos und Welt, Stuttgart 1962, 279-290. Zur Geschichte des Manuskripts s. Mythos und Welt, 311) beruft sich OTTO ebd., 280, auch explizit auf HEIDEGGER: „Die Sprache spricht, wie Heidegger bedeutungsvoll sagt. Sie spricht, um zu sprechen, - so wie die Rose blüht, um zu blühen, nicht, um in anderen Aufmerksamkeit oder Gegenäußerung hervorzurufen. Was man auch im übrigen über ihre Herkunft und ihr Wesen denken mag, sie ist sich selbst genug." Auf die christliche Prägung von HEIDEGGERS Sprachphilosophie hat H. G. GADAMER, Heidegger und die Sprache (1990), in: DERS., Gesammelte Werke, Bd. 10: Hermeneutik im Rückblick, Tübingen 1995, 14-30, aufmerksam gemacht hat. Der in katholischer Theologie ausgebildete HEIDEGGER („Die begriffliche Darstellung der Glaubensinhalte und der Glaubensüberlieferung des Christentums, wie es sich in der Heiligen Schrift

212

Walter F. Otto

Verwobenheit von Mensch-Sein, Sprache und Sein und die Kritik am Sprachgebrauch.145 Beides hatte in HEIDEGGERS Philosophie, namentlich in dem seit 1936 vorbereiteten und 1947 publizierten Brief über den Humanismus eine exponierte Rolle eingenommen.146 Die bei HEIDEGGER in der Metapher des Bewohnens formulierte Übereignung des Menschen an das Sein, dessen Haus, die Sprache, der Mensch hüte und bewahre,147 kehrt bei OTTO wieder im Bild des in der Sprache sein Mensch-Sein gewinnenden Menschen, der sich in Anschauung des .Urbilds der Sprache' dem Sein zuwende und darin aufgehe. HEIDEGGERS Kritik am Gebrauch der Sprache,148 die „unter der Herrschaft der neuzeitlichen Metaphysik der Subjektivität fast unaufhaltsam aus ihrem Element" herausfalle,149 steht im Zeichen seiner seit 1935 geforderten Destruktion der Metaphysik,150 die sich nicht auf die „Erstrecktheit" des Seins

145

146

147

148

149 150

und in der Tradition der Kirche herausgeformt hat, war die vorherrschende Form, in der der junge katholische Theologe Heidegger geschult worden war", ebd., 15) war im protestantischen Milieu der Universität Marburg auf Rudolf OTTO und dessen berühmte Abhandlung über Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (Breslau 1917) gestoßen, einer „Art phänomenologischer Annäherung an das Geheimnis des Göttlichen, was unter dem Titel ,das ganz Andere' bezeichnet wurde." (GADAMER, a.a.O., 16). Als einen „gottlosen christlichen Theologen"' hat Karl LÖWITH HEIDEGGER bezeichnet (K. LÖWITH, M. Heidegger und F. Rosenzweig. Ein Nachtrag zu ,Sein und Zeit', in: DERS., Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 1960, 83). Zu HEIDEGGERS christlichen Untertönen s. G. W. MOST, Heideggers Griechen, in: Merkur 56.2 (Februar 2002), 113-123. Hinzu kommen weitere Aspekte, etwa die Beziehung der Physiologie des Menschen auf ein höheres Sein, vgl. M. HEIDEGGER, Brief über den Humanismus (s. Anm. 146), 324, sowie der innere Bezug von Sprache und Denken, ebd., 361f. („Das Denken bringt ... in seinem Sagen nur das ungesprochene Wort des Seins zur Sprache."). M. HEIDEGGER, Brief über den Humanismus, in: DERS., Gesamtausgabe, Bd. 9: Wegmarken, hrsg. von F. W. von Hermann, Frankfurt a.M. 1976, repr.: Frankfurt 1996, 313-364. Der Inhalt des Briefes geht auf Überlegungen zurück, mit denen HEIDEGGER bereits 1936 beschäftigt war (vgl. Anm. 1 zur 1. Aufl.). 1946 ging er als Brief an Jean BEAUFRET (Paris) und wurde schließlich 1947 zusammen mit Piatons Lehre von der Wahrheit (Bern 1947) und dann als selbständige Schrift bei Vittorio Klostermann (Frankfurt 1949) publiziert. Ebd., 318. Vgl. auch ebd., 333: „[Die Sprache ist] das vom Sein ereignete und aus ihm durchfügte Haus des Seins. Daher gilt es, das Wesen der Sprache aus der Entsprechung zum Sein, und zwar als diese Entsprechung, das ist als die Behausung des Menschenwesens zu denken. Der Mensch ... ist nicht nur ein Lebewesen, das neben anderen Fähigkeiten auch die Sprache besitzt. Vielmehr ist die Sprache das Haus des Seins, darin wohnend der Mensch ek-sistiert, indem er der Wahrheit des Seins, sie hütend, gehört. " Ebd., 317: „[Die Sprache gerät] in den Dienst des Vermitteins der Verkehrswege, auf denen sich die Vergegenständlichung als die gleichförmige Zugänglichkeit von Allem für Alle unter Mißachtung jeder Grenze ausbreitet. So kommt die Sprache unter die Diktatur der Öffentlichkeit. Diese entscheidet im voraus, was verständlich ist und was als unverständlich verworfen werden muß." Ebd., 318. Vgl. M. HEIDEGGER, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953, s. dazu H. EßELING, Martin Heidegger, Hamburg 1991, 89ff.

Sprache und Sein

213

eingelassen und Sein nur als „präsentisches Anwesen" zugelassen habe,151 und wird von OTTO, wenn auch in ihrem Kontext ausgedünnt, so doch mit der Kritik an einer subjektorientierten und die Fülle des Seins rationalistisch verengenden Moderne wiederaufgenommen, die sich mit seiner zunehmend antievolutionistischen Hinwendung zum Ursprünglichen und Wahren trifft. Es verwundert nicht, daß beide, HEIDEGGER und OTTO, der Figur des Dichters eine besondere Rolle einräumen. HEIDEGGER sieht in der Dichtung die Chance zu einer Überwindung der Metaphysik.152 OTTO spricht überhaupt nur dem Dichter die Fähigkeit zu, als Künder des Wahren aufzutreten. Da sich der Zugang zum Wesen des Göttlichen und zur heiligsten Wahrheit zunehmend verdunkele, könne erst der Dichter153 wieder ins Werk setzen, was sich dem ursprünglichen, „vom göttlichen Strahl [g]etroffenen" Menschen offenbart habe.154 Erst die Sprache des Dichters, bei OTTO (wie bei HEIDEGGER) in ihrer vollkommensten Gestalt: die Sprache Friedrich HÖLDERLINS,155 entfaltet in ihrer feierlichen Nähe zum Göttlichen und in ihrer Erhabenheit über die Enge des Subjekts die Fülle des ewigen Seins. 151

H. EßELING, Martin Heidegger, 89. Vgl. M. HEIDEGGER, Brief über den Humanismus, 322-333. 322: „Die Metaphysik stellt zwar das Seiende in seinem Sein vor und denkt so auch das Sein des Seienden. Aber sie denkt nicht das Sein als solches, denkt nicht den Unterschied beider (vgl. Vom Wesen des Grundes [Halle] 1929, S. 8 [Sonderdruck], außerdem Kant und das Problem der Metaphysik [Bonn] 1929, S. 225; ferner Sein und Zeit [Jahrb. für Philosophie und phänomenologische Forschung, hrsg. von E. Husserl, Bd. 8, 1927], S. 230)"; ebd., 323: „Die Metaphysik verschließt sich dem einfachen Wesensbestand, daß der Mensch nur in seinem Wesen west, indem er vom Sein angesprochen wird. Nur aus diesem Anspruch ,hat' er das gefunden, worin sein Wesen wohnt. Nur aus diesem Wohnen ,hat' er .Sprache' als die Behausung, die seinem Wesen das Ekstatische wahrt." 152 M. HEIDEGGER, Brief über den Humanismus, 313: „Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung."; s. auch ebd., 314: „Die Befreiung der Sprache aus der Grammatik in ein ursprünglicheres Wesensgefüge ist dem Denken und Dichten aufbehalten." und ebd., 339. 153 OTTO, Gesetz, Urbild und Mythos, 83: „Die herrschende Denkweise erlaubt zwar nur wenigen, ihre Göttlichkeit [sc.: die der Gestalt als solche] anzuerkennen und zu benennen. Aber es fehlt doch nicht an bedeutenden Zeugen." 154 Nach OTTO, Gesetz, Urbild und Mythos, 85, verhüllt der Dichter die Kunde des Wahren, ,,[a]ber Hölderlin weiß, daß es eine Zeit und eine Menschheit gab, der das Göttliche in unmittelbarer Nähe entgegentrat, ohne daß es der Schonung bedurft hätte. Damals war es also nicht notwendig, die heiligste Wahrheit ins Lied zu verhüllen, damit, wie Hölderlin sagt, ,die Erdensöhne himmlisches Feuer ohne Gefahr' trinken möchten; und der vom göttlichen Strahl Getroffene brauchte nicht das Schicksal zu fürchten, vor dem es Hölderlin bangte. Die ergreifende Nähe der göttlichen Gestalt muß also von solcher Art gewesen sein, daß der Mensch durch sie die rechte Haltung fand, ihr zu begegnen. Und in der Tat! Von solcher Art war die göttliche Selbstoffenbarung im alten Mythos: sie verband sich aus innerer Notwendigkeit mit der kultischen Haltung, die den Menschen zum Göttlichen emporzieht; denn nur Göttliches kann dem Göttlichen gefahrlos begegnen." 155 Vgl. M. HEIDEGGER, Brief über den Humanismus, 320; OTTO, Die Berufung des Dichters, passim; DERS., Der Dichter und die alten Götter, Frankfurt a.M. 1942.

214

Walter F. Otto

Von seiner auf das transhistorische Ereignis der Sprache geweiteten Betrachtung des ,wahren Seins' aus gelangt OTTO über die Differenzierung zwischen Ursprünglichkeit und Verfall wenige Jahre später zurück zu einer auf die Historie bezogenen Beurteilung des Ursprünglichen, die auch hermeneutisch dadurch Relevanz gewinnt, daß sie den Ansprüchen des modernen Rationalismus die grundsätzliche Unergründbarkeit des Anderen (weil anders als in der Moderne: dem Göttlichen Nahestehenden) entgegenhält: ,,[D]as Argument der Unwissenheit des Menschen der Vorzeit [sc.: beruht] auf einem lächerlichen Vorurteil. Er besitzt freilich sehr wenig von dem Wissen, das uns das wichtigste ist; dagegen kennt er sich in Dingen und Regionen, wo unser Wissen versagt, so gründlich aus, daß wir uns als die Unwissenden bekennen müssen. Und wer wollte sich den Kopf zerbrechen über die Möglichkeit, seine mythischen Vorstellungen aus einer eigens dafür postulierten Mentalität zu entwickeln, solange noch nicht einmal ernstlich gefragt worden ist, ob ihnen nicht vielleicht echte Erfahrungen zugrunde liegen könnten. Dann würden unsere Theoretiker dem Taubgeborenen gleichen, der sich beim Anblick eines Symphonieorchesters Gedanken machte, was diese Spieler wohl mit ihren seltsamen Bewegungen meinen und bezwecken mögen[156.] ... Während wir [der früheren Menschheit] eine wirklichkeitsfremde, sozusagen künstliche Denkweise zutrauen, kommt uns gar nicht in den Sinn, in welcher durchaus künstlichen Welt wir selbst leben und unsere Erfahrungen machen." 157

Aus hermeneutischer Perspektive erscheint es als konsequent, daß OTTO die im technischen Zeitalter verfügbaren Kategorien als Verstehensgrundlage für den antiken Mythos ablehnt: Der antike Mythos, bestimmt als die Sprache höherer Seinsart, kann mit den Ausdrucksmitteln der Sprache der Moderne deshalb nicht gefaßt werden, weil die moderne Sprache aus dem ewigen Sein (um mit HEIDEGGER zu sprechen) herausgefallen', weil sie von ihrem Wesen her eine andere Sprache ist. Das hermeneutische Problem der Übersetzung des Mythos, dem OTTO durch die Rückbesinnung auf eine dem Ursprünglichen und Wahren äquivalente Sprache zu entgehen glaubt und das sich als solches schon in den Göttern Griechenlands andeutete,158 weitet sich in den 50-er Jahren, vor allem in den 1956 bei Rowohlt erschienenen Theophania159 zu einem Antievolutionismus, der das ,Anti-' nicht nur als ,gegen', sondern auch als gegenläufig' ausweist. Die Verherrlichung des Ursprünglichen, anfangs nur in der konkreten Form als Griechensehnsucht evident geworden,

156

157

iss

159

In Umkehrung von F. NIETZSCHE, Menschliches, Allzumenschliches I, 281 = KSA IV, 2, 234, der das Bild auf den religiösen Gelehrten bezieht. OTTO, Gesetz, Urbild und Mythos, 73. OTTO, Die Götter Griechenlands, 36f.: „Es ist dem Heutigen schwer, wenn nicht gar unmöglich, sich in diese seltsame Anschauung hineinzudenken, und er sollte sie lieber ganz auf sich beruhen lassen, als sie durch Aufdrängung seiner eignen Denkkategorien zu verfälschen ... Bei den heutigen Naturvölkern kann man sich davon überzeugen, wie verkehrt es ist, für die Frühzeit des menschlichen Denkens das, was wir .einfache' Begriffe nennen, vorauszusetzen, während gerade das Primitive das am wenigsten Einfache zu sein pflegt." Zum Titel vgl. F. G. JÜNGER/ M. HIMMELHEBER, Über den Verfasser, in: OTTO, Theophania, 131.

Sprache und Sein

215

steht von nun an im Zeichen einer Verstehensoperation, die sich die Achtung vor dem Anderen bewahren will und die Absage an ein von außen herangetragenes Referenzsystem nicht mehr nur für die Beurteilung der homerischen Götterwelt gelten läßt: Auch daß der mit,wahrer' Magie beschenkte Mensch dem Willen unterliege, die Welt zu beherrschen,160 ist, so OTTOs Quintessenz, nur die Projektion einer rationalistisch, utilitaristisch und technisch ausgerichteten Moderne.161

160

Nach OTTO ist die .wahre' Magie, anders als die Wissenschaft, kein Mittel der Zweckerfüllung, sondern Zeichen der Ergriffenheit (vgl. schon Dionysos, 34: „Gottesnähe"); sie kann daher nicht als eine methodisch unzureichende Vorwegnahme wissenschaftlichen Denkens disqualifiziert werden (vgl. zu derartigen Ansätzen oben S. 120, Anm. 91. Der Gedanke, daß der Magier das Sein nicht zwingt, sondern entfaltet, daß er also nicht etwas hervorbringt, sondern zum Vorschein bringt, zeigt erneut eine Affinität zu HEIDEGGER, der in den Einleitungssätzen seines Briefs über den Humanismus, 313, unter dem Terminus .Vollbringens' genau darauf aufmerksam gemacht hatte: „Wir bedenken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug. Man kennt das Handeln nur als das Bewirken einer Wirkung. Deren Wirklichkeit wird nach ihrem Nutzen geschätzt. Aber das Wesen des Handelns ist das Vollbringen. Vollbringen heißt: etwas in die Fülle seines Wesens entfalten, in diese hervorgleiten, producere. Vollbringbar ist deshalb eigentlich nur das, was schon ist. Was jedoch vor allem ,ist', ist das Sein." Vgl. beispielsweise OTTO, Theophania, 11 f., wobei etwa der folgende Satz (über K. TH. PREUSS, L. DEUBNER u.a. als Repräsentanten der Gegenwart) bei aller polemischen Form eine Grundstimmung in OTTOs Werk wiedergibt: „Im stolzen Besitz eines ungeheuren Tatsachenmaterials verlernten sie das Denken ganz und gar und urteilten über das, was sie ,primitiv' nannten, mit einer Leichtfertigkeit, die bewies, daß das Zeitalter der eigentlichen Primitivität jetzt eben angebrochen sei." Im Ergebnis nimmt OTTO freilich moderne Ansätze vorweg. Vgl. H. P. DUERR, Sedna oder Die Liebe zum Leben, Frankfurt a.M. 1990, 232: „Immer wieder haben die Ethnologen von .magischen Ritualen' geredet, mit denen diese Menschen angeblich ihr Geschick zu zwingen versuchten, und noch heute liest man etwa bei dem Philosophen Hans Blumenberg: ,1m Jagdzauber seiner Höhlenbilder greift der Jäger vom Gehäuse auf die Welt über und aus', ausgeliefert der .Herrschaft des Wunsches, der Magie der Illusion.' [sc. H. B., Arbeit am Mythos, Frankfurt 1979, 14]." Dagegen DUERR a.a.O., 233: „Wenn man glaubt, diese Völker hätten es in ihren Ritualen unternommen, auf ähnliche Weise in die Natur einzugreifen wie wir Heutigen - nur eben auf Grund falscher Anschauungen über die Zusammenhänge und wegen mangelhafter technischer Ausstattung .imaginär' und nicht ,real' - , mißversteht man das Lebensgefühl dieser Menschen grundlegend." Vgl. auch P. WINCH, Was heißt,eine primitive Gesellschaft verstehen'? (engl. Orig.: Ethics and Action, American Philosophical Quaterly 1964, dt. Übers, in: Sprachanalyse und Soziologie, hrsg. von R. Wiggershaus, Frankfurt a.M. 1975), in: Magie. Die sozial-wissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, Frankfurt a.M. 1995, 73-119; S. J. TAMBIAH, Form und Bedeutung magischer Akte. Ein Standpunkt (engl. Orig.: in: Modes of Thought, hrsg. von R. Horton/ R. Finnegan, London 1973, 199-230), in: Magie, 259-296.

216

Walter F. Otto

Technikkritik und Antimoderne „ [Ajiles, das zeigt, daß wir uns in einer durchaus nicht bloß technischen Sphäre befinden, wird von der wissenschaftlichen Theorie einfach ignoriert. Sie denkt sich den Magier als einen Vorläufer des technischen Menschen unserer Tage, von dem er sich nur dadurch unterscheidet, daß die Mittel, deren er sich bedient, unzureichend sind. Er glaubt nämlich, durch Umkehrung der natürlichen Kausalität, durch Bilder, durch Analogie und durch ähnliche Vermittlungen seine Zwecke mit derselben Notwendigkeit zu erreichen, wie der heutige Techniker. Da es sich nun also um Verstandesoperationen zur Herbeiführung bestimmter Nützlichkeiten handeln sollte, so erfand man ein ,prälogisches' Denken, in dem alles das möglich wurde, was der vernünftigen Erfahrung und Logik spottet. Und das sollte die Denkweise sogenannter Naturvölker sein, die wir doch in ihrem Leben so verständig und sinnvoll handeln sehen!"' 62

OTTOs Kritik an Werten und Kategorien des technischen Zeitalters ist im Kontext der Technologiedebatte zu betrachten, die seit 1918 literarisch und philosophisch äußerst präsent war und, ausgehend von Aristoteles' Nikomachischer Ethik,163, wiederum durch HEIDEGGER164 ins Blickfeld gerückt wurde.165 OTTOs stark symptomorientiertes, in gängigen Topen sich bewegendes 162 163

164

165

OTTO, Theophania, 12f. Arist. EN VI, 3. 4. Auf Aristoteles EN VI geht HEIDEGGERS Vorstellung von techne und aletheia als Weisen des , Entbergens' (άληθεύειν) zurück, wobei Heidegger den Zusammenhang von techne und aletheia auf die neuzeitliche Technik bezieht. Vgl. dazu W. BIEMEL, Heidegger, Stuttgart 1991, 114f. M. HEIDEGGER, Die Frage nach der Technik (Vortrag, gehalten am 18. November 1953 im Auditorium Maximum der Technischen Hochschule München, im Druck erschienen in den Jahrbüchern der Akademie München, Bd. 3, 1954 70ff., sowie in: Die Technik und die Kehre, 6. Aufl., Pfullingen 1985), in: DERS., Vorträge und Aufsätze, 7. Aufl., Stuttgart 1994, 9-40. M. HEIDEGGER, Die Frage nach der Technik, 15f.: „Alles liegt daran, daß wir das Her-vor-bringen in seiner ganzen Weite und zugleich im Sinne der Griechen denken. Ein Her-vor-bringen, ποίησις, ist nicht nur das handwerkliche Verfertigen, nicht nur das künstlerisch-dichtende zum-Scheinen- und ins-Bild-Bringen. Auch die φύσις ist das von-sich-her-Aufgehen, ist ein Her-vor-bringen, ist ποίησις. Die φύσις ist sogar ποίησις im höchsten Sinne. Denn das φύσει Anwesende hat den Aufbruch des Her-vor-bringens, z.B. das Aufbrechen der Blüte ins Erblühen, in ihr selbst (έν έαυτώι). Dagegen hat das handwerklich und künstlerisch Her-vor-gebrachte, z.B. die Silberschale, den Aufbruch des Her-vor-bringens nicht in ihm selbst, sondern in einem anderen (έν α λ λ ω ι ) , im Handwerker und Künstler. Die Weisen der Veranlassung, die vier Ursachen, spielen somit innerhalb des Her-vorbringens. Durch dieses kommt sowohl das Gewachsene der Natur als auch das Verfertigte des Handwerks und der Künste jeweils zu seinem Vorschein. Wie aber geschieht das Her-vor-bringen, sei es in der Natur, sei es im Handwerk und in der Kunst? Was ist das Her-vor-bringen, darin die vierfache Weise des Veranlassene spielt? Das Veranlassen geht das Anwesen dessen an, was jeweils im Her-vor-bringen zum Vorschein kommt. Das Her-vor-bringen bringt aus der Verborgenheit her in die Unverborgenheit vor. Her-vor-bringen ereignet sich nur, insofern Verborgenes ins Unverborgene kommt. Dieses Kommen beruht und schwingt in dem, was wir das Entbergen nennen. Die Griechen haben dafür das Wort α λ ή θ ε ι α . Die Römer übersetzen es durch .Veritas'. Wir sagen .Wahrheit' und verstehen sie gewöhnlich als Richtigkeit des Vorstellens.

Technikkritik und Antimoderne

217

Verständnis von Technik macht eine genaue Erfassung seiner Inspirationsquellen allerdings schwierig, und es wird kontrovers bleiben müssen, inwieweit die Parallelen tatsächlich auf seine Auseinandersetzung mit HEIDEGGER und nicht vielmehr auf eine - sich genauer Analyse entziehende - atmosphärische Grundstimmung zurückzuführen sind.166 So reduziert OTTO seinen Technikbegriff nicht nur auf den im Zeichen der Industrialisierung stehenden Zeitraum, das .technische Zeitalter', sondern setzt darüber hinaus Gestalt und Wirkung eines sichtlich als Epoche verstandenen Phänomens weitgehend mit den Charakteristika des Utilitarismus gleich, wie er weniger in der deutschen167 als englischen Philosophie vertreten worden ist.168 Während die Diskussion in England weithin ausstrahlte und Elemente des Utilitarismus selbst für das Magiekonzept etwa der Cambridge Ritualists169 konstitutiv werden ließ, geriet er im deutschen Raum zu einem zuweilen wenig fundierten

166

167

168

169

Wohin haben wir uns verirrt? Wir fragen nach der Technik und sind jetzt bei der ά λήθεια, beim Entbergen angelangt. Was hat das Wesen der Technik mit dem Entbergen zu tun? Antwort: Alles. Denn im Entbergen gründet alles Her-vor-bringen. Dieses aber versammelt in sich die vier Weisen der Veranlassung - die Kausalität [vgl. dazu W. BIEMEL, Heidegger, 11 Iff., AW] - und durchwaltet sie. In ihren Bereich gehören Zweck und Mittel, gehört das Instrumentale. Dieses gilt als der Grundzug der Technik. Fragen wir Schritt für Schritt, was die als Mittel vorgestellte Technik eigentlich sei, dann gelangen wir zum Entbergen. In ihm beruht die Möglichkeit aller herstellenden Verfertigung. Die Technik ist also nicht bloß ein Mittel. Die Technik ist eine Weise des Entbergens. Achten wir darauf, dann öffnet sich uns ein ganz anderer Bereich für das Wesen der Technik. Es ist der Bereich der Entbergung, d.h. der Wahrheit. Dieser Ausblick befremdet uns. Er soll es auch, soll es möglichst lange und so bedrängend, daß wir endlich auch einmal die schlichte Frage emst nehmen, was denn der Name .Technik' sage. Das Wort stammt aus der griechischen Sprache. Τεχνικόν meint solches, was zur τέχνη gehört. Hinsichtlich der Bedeutung dieses Wortes müssen wir zweierlei beachten. Einmal ist τέχνη nicht nur der Name fur das handwerkliche Tun und Können, sondern auch für die hohe Kunst und die schönen Künste. Die τέχνη gehört zum Her-vor-bringen, zur ποίησις; sie ist etwas Poietisches." Zu HEIDEGGERS Technikkritik vgl. S. VIETTA, Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik, Tübingen 1989. Zu HEIDEGGERS problematischer Fragmentarisierung griechischer Philosopheme in Einzelworte, s. G. W. MOST, Heideggers Griechen, passim. Vgl. H. G. GADAMER, Hegel und Heidegger, in: DERS., Hegels Dialektik. Fünf hermeneutische Studien, Tübingen 1971, 85: „Wie Hegel Deutschland und von ihm aus Europa eine Zeitlang ganz beherrschte und dann, Mitte des 19. Jahrhunderts, ein völliger Zusammenbruch folgte, so hat auch Heidegger als Denker die zeitgenössische Szene lange beherrscht". Vgl. aber die Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus bei W. DILTHEY, System der Ethik (1890), in: DERS., Gesammelte Schriften, Bd. 10, hrsg. von H. Nohl, 4. Aufl., Göttingen 1981, Abschnitt 1. Vgl. O. HÖFFE (Hrsg.), Einßhrung in die utilitaristische Ethik, 2. Aufl., Tübingen 1992. Vgl. etwa das Magieverständnis, wie es James George FRAZER in The Golden Bough äußert, s. dazu oben S. 120, Anm. 91.

218

Walter F. Otto

Schlagwort,170 dessen Verwendung - so etwa bei NIETZSCHE171 - bis zur denunziatorischen Degradierung des Begriffs führte, wie sie bei OTTO wiederkehrt.172 OTTO ist, indem er den Begriff der .Technik' auf sein instrumentales Moment beschränkt, von der kritischen Ambivalenz, wie sie etwa von HEIDEGGERS (an Aristoteles anschließender173) Vorstellung von Technik als Ent-bergung: ά-λήθεια 1 7 4 ausstrahlt, weit entfernt. HEIDEGGERS Kritik, soweit sie für OTTO greifbar ist,175 orientiert sich weniger an dem technischen Zeitalter als solchem - im Gegenteil: auch für die moderne Technik läßt er seine Deutung der τέχνη als eines Entbergens in einem erweiterten Sinne gelten176 - , schon gar nicht an den (utilitaristischen) ,Kategorien der Gegenwart' (in denen OTTO das Charakteristikum des technischen Zeitalters sieht), sondern vielmehr an der ,gängigen Vorstellung'177 von Technik als eines a) menschlichen Tuns und b) Mittels, bestimmte Zwecke zu erreichen. Einer solchen Bestimmung von Technik, wie sie etwa von GEHLEN178 vertreten 170 171

172 173

174

175

176 177

178

Vgl. O. HÖFFE, Einföhrung in die utilitaristische Ethik, 8. F. NIETZSCHE, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 225 (= KSA, 5, 160): „Ob Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus: alle diese Denkweisen, welche nach L u s t und L e i d , das heisst nach Begleitzuständen und Nebensachen den Werth der Dinge messen, sind Vordergrunds-Denkweisen und Naivetäten, auf welche ein Jeder, der sich g e s t a l t e n d e r Kräfte und eines Künstler-Gewissens bewusst ist, nicht ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird.", vgl. auch ebd., Nr. 174 (= KSA, Bd. 5, 103). OTTO, Theophania, 11-13. Im Winter-Semester 1924/1925 gab Martin HEIDEGGER in der Einleitung zu seiner Vorlesung über Piatons Sophistes eine Interpretation von Aristoteles EN VI, in deren Mittelpunkt die Deutung des άληθεύειν stand, vgl. W. BIEMEL, Heidegger, 33. Indem die Technik das Seiende der Verborgenheit entnimmt, es ent-birgt, ermöglicht sie erst den Umgang mit dem Seienden. Vgl. dazu H. HILDEBRANDT, Weltzustand Technik. Ein Vergleich der Technikphilosophien von Günther Anders und Martin Heidegger, Berlin 1990, 40. Die Frage nach der Technik wurde 1954, Die Kehre jedoch, wenn auch 1949 bereits als Vortrag gehalten, erst 1962, also nach OTTOs Tod 1958, publiziert. Freilich darf die Präsenz HEIDEGGERS für die zeitgenössische Philosophie nicht unterschätzt werden, vgl. oben S. 217, Anm. 166. M. HEIDEGGER, Die Frage nach der Technik, 18. Ebd., 9f.: „Jedermann kennt die beiden Aussagen, die unsere Frage [nach der Technik] beantworten. Die eine sagt: Technik ist ein Mittel für Zwecke. Die andere sagt: Technik ist ein Tun des Menschen. Beide Bestimmungen der Technik gehören zusammen. Denn Zwecke setzen, die Mittel dafür beschaffen und benützen, ist ein menschliches Tun. Zu dem, was die Technik ist, gehört das Verfertigen und Benützen von Zeug, Gerät und Maschinen, gehört dieses Verfertigte und Benützte selbst, gehören die Bedürfnisse und Zwecke, denen sie dienen. Das Ganze dieser Einrichtungen ist die Technik. Sie selber ist eine Einrichtung, lateinisch gesagt: ein instrumentum. Die gängige Vorstellung von der Technik, wonach sie ein Mittel ist und ein menschliches Tun, kann deshalb die instrumentale und anthropologische Bestimmung der Technik heißen." Die Anthropologie Arnold GEHLENs faßt mit ihrer an J. G. HERDER anknüpfenden Bestimmung des Menschen eines als Mängelwesens (vgl. A. GEHLEN, Der Mensch, Berlin 1940; s. dazu: H. JOAS, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a.M. 1996, 177f.) Technik als „Überbietung und Kompensation" der „Mängelausstattung" des Menschen auf, d.h. als ein Instrument zur „intelligente[n] Veränderung der beliebigen

Technikkritik und Antimodeme

219

worden war, spricht HEIDEGGER aber nur das Prädikat „richtig" zu,179 während als „wahr"180 erst die Bestimmung ihres Wesens gelten könne. Dieses Wesen der Technik beruhe im „Ge-stell",181 „[der] geschickhafte[n] Weise des Entbergens, nämlich [der] herausforderndefn]".182 Indem die Technik die Natur zu dem herausfordert, was sie ist, , entbirgt' sie deren Wesen. Der Unterschied zwischen τέχνη und der Technik des modernen, technischen Zeitalters geht dabei über ein rein quantitatives Moment hinaus: „Was ist", fragt HEIDEGGER, „die moderne Technik? Auch sie ist ein Entbergen." Die Differenz liegt in dem, was HEIDEGGER als das ,Bestellen' bezeichnet, das „Herausfordern, das an die Natur das Ansinnen stellt, Energie zu liefern".183 Anders als etwa eine einfache Windmühle die Luftströmung oder der Bauer das Ackerland, .bestellt' (im HEIDEGGERschen Sinne) die Förderung von Kohle das Erdreich, indem sie es herausfordert: „Das Erdreich entbirgt sich jetzt als Kohlenrevier." Das Bestellen (im gebräuchlichen Sinne) des Ackerlands aber qualifiziert sich in der Pflege, Kultur des Erdreichs. Ebenso bleibt der Rhein ein Strom der Landschaft, wenn eine Brücke die beiden Ufer verbindet, entbirgt sich aber als Wasserdrucklieferant, wird als solcher „bestellt", sobald ein Wasserkraftwerk in ihn „gestellt" ist. ,,[D]ie moderne Technik [ist] etwas ganz anderes ... als alle bisherige. Aber dieses andere gerade hat seine Wesensherkunft im griechischen Anfang des Abendländischen und nur hier. Ich weiß zu wenig, um zu entscheiden, ob diese Technik jemals hätte aus den beiden anderen Räumen der Achsenzeit [sc.: den chinesischen und indischen Jahrhunderten] herkommen können ... Mit der ιδέα Piatons beginnt, verborgenerweise, die Entfaltung des Wesens der Technik. Der Angriff auf das Seiende besteht schon darin, daß das Verhältnis zu ihm , Griff-Charakter bekommt, der sich neuzeitlich zur Vergegenständlichung entfaltet. Das Seiende wird gestellt; d.h. zur Rechenschaft vor dem Gerichtshof des Rechnens gezogen. Die Richter können dabei, vor- und unphilosophisch, die Meinung haben, sie beugten sich demütig vor der Natur. Aber diese von ihnen ontisch gemeinte Andacht ist ontologisch im Grunde An-griff."184

vorgefundenen Naturumstände", s. A. GEHLEN, Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Hamburg 1986, 95. M. HEIDEGGER, Die Frage nach der Technik, 10. Ebd., 11 : „Das Richtige stellt an dem, was vorliegt, jedesmal irgend etwas Zutreffendes fest. Die Feststellung braucht jedoch, um richtig zu sein, das Vorliegende keineswegs in seinem Wesen zu enthüllen. Nur dort, wo solches Enthüllen geschieht, ereignet sich das Wahre ... Die richtige instrumentale Bestimmung der Technik zeigt uns demnach noch nicht ihr Wesen."; vgl. auch ebd., 25. Ebd., 29. Ebd., 33. Ebd., 36. Brief HEIDEGGERS an K. Jaspers, Todtnauberg 21. 9. 1949, veröffentlicht in: Martin Heidegger/ Karl Jaspers. Briefwechsel 1920-1992, Nr. 134, 186f.

220

Walter F. Otto

OTTO setzt sich mit der .gängigen Vorstellung' von Technik überhaupt nicht bewußt auseinander. Vielmehr blendet er einen der beiden für sie konstitutiven Aspekte, den anthropologischen, d.h. das menschliche ,Tun', aus und konzentriert den Blick auf das instrumentale Moment der Technik unter besonderer Berücksichtigung der Symptome in der modernen, zeitgenössischen Theoriebildung. Mit seiner Definition von Technik als eines menschlichen Instrumentariums zu Organentlastung und -ersatz und als eines Mediums, die Natur zu beherrschen, geht er über das Konzept des technischen Humanismus, der dieses Instrumentarium mit der Zielsetzung der Bewältigung von menschlichem Leid verbindet,185 hinaus. Im HElDEGGERschen Sinne hat er damit das Wesen der Technik verfehlt: „Solange wir die Technik als Instrument vorstellen", schreibt HEIDEGGER, „bleiben wir im Willen hängen, sie zu meistern. Wir treiben am Wesen der Technik vorbei."186 Das Problem von OTTOs Technikverständnis ist, daß er nicht die ihm zugrunde hegende Definition von Technik in Frage stellt, sondern diese als gegeben und unumstößlich voraussetzt, um dann die Symptome einer solchermaßen verstandenen Technik anzugreifen. Genau genommen kritisiert er nicht, wie HEIDEGGER das getan hatte, den Umgang des Menschen mit der Technik, d.h. den Menschen, der zum Subjekt wird, indem er sein Tun Motiven unterstellt und ein Geschick der Natur, die Technik, den Diensten dieser Forderungen unterwirft; sondern er zieht die Technik selbst zur Verantwortung. Freilich liegt damit zwar eine Verflachung von HEIDEGGERS These, in seinem Ergebnis aber kein Widerspruch zu ihr vor. Auch hinter OTTOS Werk steht letztendlich wenn auch nicht die Destruktion, so doch ein Angriff auf die Subjekttheorie und den Cartesianismus, wie sie schließlich in ihrer markantesten Form in der Deutung der Magie mit der ,Heraus'dichtung des Subjekts aus dem magischen Geschehen und der Leugnung eines instrumentalisierenden Willens wiederkehrt.

Von den Sondergöttern zur Offenbarung. Ein Rückblick OTTOs intellektuelle Biographie hat einen Autor gezeigt, der mehr als zwanzig Jahre lang fast unverändert im Bannkreis der Bonner Tradition steht, um dann, nach außen hin völlig unvermittelt, öffentlich mit ihr zu brechen und einen gegenläufigen Weg einzuschlagen. Es darf außer Zweifel stehen, daß sich OTTO spätestens in München innerlich von der traditionellen Altertumswissenschaft lossagt, daß er die Nähe von philhellenistischen Kreisen und in NIETZSCHE einen Paten sucht und daß er später unter dem Einfluß von 185

186

Vgl. F. BACON, Novum Organum, (1620), dt. Übers.: Neues Organon der Wissenschaften, übers, und hrsg. von A. Th. Brück, Darmstadt 1971. M. HEIDEGGER, Die Frage nach der Technik, 36.

Von den Sondergöttem zur Offenbarung

221

Martin HEIDEGGER ZU einem über das Griechische hinausweisenden philosophischen Entwurf inspiriert wird. Den inneren Anlaß zu dieser Wende erklärt es nicht. Bei allen anderen hier behandelten .Schülern' Hermann USENERS war erkennbar geworden, daß sie sich von USENERs Projekt distanzierten, ihre Distanz aber gleichsam aus der Bindung an dieses Projekt gewannen. DIETERICH ,flüchtete' sich in die Beobachtung von Riten - blieb USENERs theoretischen Vorgaben aber gleichwohl weitgehend treu. RADERMACHER überführte das Projekt in ein literaturwissenschaftlich fruchtbares Modell; WARBURG übersetzte USENERs Vorgehen mit einigen Änderungen in sein eigenes Projekt von Kunst- und Kulturwissenschaften. Und OTTO? Recht spät, nämlich in den Theophania, deutet OTTO an, daß er von der kritischen Auseinandersetzung mit USENERs Lehre profitiert hatte: USENER habe seinen „Plan mit so viel Geist und so viel echtem Wissen ausgeführt, daß auch [seine] Irrtümer fruchtbar werden und [seine] Werke niemals ganz veralten können187 - möglicherweise (eine gewisse ,Altersgelassenheit' miteinberechnet) ein Hinweis darauf, daß er ihm doch mehr zu verdanken hat als es auf den ersten Blick erscheint? Die einzige offene Auseinandersetzung mit USENERs Götternamen hat in einem unveröffentlichten und wohl auch nie für eine Veröffentlichung bestimmten Manuskript mit dem lapidaren Titel Usener stattgefunden.188 Das Manuskript ist undatiert, kann aber aus sprachlichen und inhaltlichen Gründen mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit der Zeit vor 1920 zugewiesen werden; terminus post quem ist 1907.189 OTTO befindet sich in dieser Zeit in einer Phase der intensiven und kritischen Auseinandersetzung mit den Paradigmata der zeitgenössischen Religionswissenschaft. Das Liebäugeln mit einer neuen theologischen Weltsicht spiegelt sich noch ausschließlich in der (außeruniversitären) Suche nach Inspiration und koinzidiert mit der institutionellen Einbindung in ein traditionell wissenschaftliches', aber aufgeschlossenes Umfeld, zu dem etwa der Afrikanist Leo FROBENIUS gehört, mit dem er seit seiner Münchener Zeit regen Kontakt hat. Der Stil des Manuskripts ist sachlich, die Gedankenführung präzise, die Argumentation wird (trotz eines gelegentlich spöttisch-humorvollen Untertons) scharfsinnig und sorgsam aus einzelnen Details oder Widersprüchen der Götternamen heraus entwickelt. Zugleich sind die großen Linien der für das Spätwerk richtungsweisenden theoretischen Grundlagen deutlich erkennbar, 187 188

189

OTTO, Theophania, 11. OTTO, Usener, DL A A: OTTO, u 3, 1-89. Die wiederholten Anreden lassen auf ein Vortragsmanuskript schließen. OTTO bezieht sich mehrfach auf Lewis Richard FARNELLs Beurteilung von USENERs Götternamen, höchstwahrscheinlich auf dessen Aufsatz The Place of the Sondergötter in Greek Polytheism, der 1907 in den Anthropological Essays presented to Ε. Β. Tylor erschien und in dem FARNELL darauf aufmerksam machte, daß einige der Sondergötter späte Ausläufer des Polytheismus seien, vgl. dazu auch L. R. FARNELL, Outline History of Greek Religion, London 1921, 45, Anm. 4.

222

Walter F. Otto

ohne daß es das Anliegen des Autors wäre, die Darstellung seiner eigenen Interpretation der griechischen Religionsgeschichte in den Vordergrund zu rükken. Es ist ein Text, der dem Verständnis von USENERs Götternamen gilt und auf die Probleme ihrer theoretischen Grundlagen aufmerksam machen will. Vor diesem Hintergrund ist nicht ausgeschlossen, daß der Text ein gegen Ende des zweiten Dezenniums entstandenes Elaborat ist, einer Zeit, in der OTTO nichts publizierte außer einem einzigen (mittlerweile verschollenen) Aufsatz, den er als Beilage in der ,Allgemeinen Zeitung' unter dem Titel Polytheismus und Monotheismus veröffentlichte190 und mit dem er genau das Thema aufgriff, das USENER zur Abfassung der Götternamen motiviert hatte. Fällt das Manuskript tatsächlich in die Zeit zwischen 1907 und 1920 (was aus den genannten Gründen mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist), so ist es ein Dokument nicht nur für OTTOs intensive Auseinandersetzung mit USENERs Götternamen, sondern insbesondere für seine von sachlichen Erwägungen getragene Abkehr von USENERs Hermeneutik, die zunächst inhaltlich auf der Grundlage einer philologisch sauberen Destruktion der Sondergötter191 zu der als sachlich zwingend empfundenen Überzeugung gelangt, daß es für die frühmenschliche Vorstellung von unpersönlichen Göttern keine Beweise gibt, um dann auf methodischer Ebene in USENERs rationalistischer Analogisierung von Sprache/ Logik und Religion den „Zwang"192 zu erkennen, der diesen zur Annahme von begrifflich gedachten, unpersönlichen Sondergöttern gefuhrt habe. OTTO lehnt die Götternamen nicht durchweg ab. Er lobt USENERs stupende Materialbeherrschung und die analytische Präzision.193 Das historische bzw. logisch-psychologische Vorgehen würdigt er .als einen grundsätzlich „befriedigenden" Ansatz, allerdings - und genau hier (d.h. nicht bei der Hermeneutik und nicht bei dem Verständnis von Religion) setzt OTTOs Kritik an unter einer Bedingung: Es muß gelingen. Eine historisch vorgehende Begründung müsse den zwingenden Nachweis bringen, daß die römischen Indigitamentengötter und die in entsprechenden Sammlungen erwähnten litauischen , Sondergötter' tatsächlich einer Religionsstufe entstammen, aus der sich alle

191

192 193

Vgl. dazu die von E. SCHMALZRIEDT zusammengestellte Bibliographie der Schriften Walter F. Ottos, 383, Nr. 16, derzufolge der Artikel nach einer Notiz OTTOs unter dem Titel Polytheismus und Monotheismus als .Beilage zur Allgemeinen Zeitung' (zwischen 1920 und 1923, ohne genaue Datumsangabe) erschien, aber laut Angabe von E. SCHMALZRIEDT nicht auffindbar ist. Vgl. dazu auch OTTOs 1909 erschienenen Aufsatz über Römische Sondergötter, der die Varronischen Indigitamentengötter kritisch ins Visier nimmt (vgl. dazu auch oben S. 74f.). Der Schwerpunkt der Kritik liegt zum einen in der (Un)persönlichkeit der sogenannten Sondergötter, zum anderen darin, daß sich etliche Namen als verwandte Formen römischer Gentilnamen herausstellen. Einige der in dem MS angesprochenen Namen werden schon dort ausführlich behandelt, was dafür sprechen könnte, daß der Aufsatz vor dem Manuskript Usener verfaßt wurde. A: Otto, u 3, 72. A: Otto, u 3, 15, 45.

Von den Sondergöttem zur Offenbarung

223

persönlichen Götter der historischen Zeit haben entwickeln können; eine logisch-psychologische Begründung müsse wiederum nachweisen, daß diese Entwicklung von unpersönlichen zu persönlichen Göttern „denknotwendig" sei.194 Beides habe USENER nicht geleistet. Auf der historischen Ebene weist OTTO nach, daß unpersönliche und zugleich einer frühen Entwicklungsstufe entstammende Sondergötter nicht nachweisbar sind, da es sich entweder um späte Abstraktionen (d.h. um unpersönliche Wesen, aber keineswegs um „Überbleibsel allerältester Begriffsbildung") oder aber da, wo die Namen tatsächlich älter sind,195 um persönlich gedachte Wesen handelt. OTTO widerspricht zweitens USENERs Voraussetzung, daß ein Wesen erst dann als persönlich vorgestellt werden könne, wenn sein Name die sprachliche Transparenz verloren habe, und zwar (was eine humorvolle Spitze gegen USENERs vergleichendes Verfahren ist) mit dem Hinweis auf einige deutsche Eigennamen (Müller, Bauer etc.), die sich trotz ihrer begrifflichen Durchsichtigkeit keineswegs auf ein unpersönliches Wesen bezögen.196 Beide Argumente fuhren OTTO zu der Überzeugung, daß ein tatsächlicher Unterschied zwischen USENERs .persönlichen Göttern' und seinen ,Sondergöttern' überhaupt gar nicht besteht. Zu einem ähnlichen Ergebnis fuhrt seine Untersuchung der Augenblicksgötter: „Wenn man den klassischen Begriff des Augenblicksgottes mit den Beispielen, die [Usener] dafür gibt, nachsieht und ihn dann genauer prüft, so löst er sich in nichts auf."197 Für keine der von USENER unter die Augenblicksgötter gefaßten Gottheiten findet OTTO einen Nachweis dafür, a) daß sie einer noch vor den Sondergöttern anzusiedelnden Religionsstufe angehört bzw. b) daß sie als ein ganz konkretes, einmalig auftauchendes Wesen vorgestellt worden war. Alle Augenblicksgötter, in denen, anders als etwa in dem spontan geheiligten glückbringenden Schwert o.ä., etwas fest Bestehendes und immer Wiederkehrendes verehrt worden sei und die, laut USENER, gerade aufgrund ihres bleibenden Wesens zu einem späteren Zeitpunkt zu Sondergöttern avancierten, also Blitz, Erde, Sonne, Licht etc., seien von vorneherein als etwas Beständiges gedacht worden. Auch zwischen Augenblicksgöttern und Sondergöttern erkennt OTTO also keinen Unterschied. Auf der logisch-psychologischen Ebene unterstützt OTTO seine These, indem er den von USENER beschriebenen Übergang von persönlich über unpersönlich zu wiederum persönlich vorgestellten Wesen 194

"5 196

197

Vgl. A: Otto, u 3, 24: „Den sichersten Beweis würden natürlich beide Begründungen zusammen erbringen." A: Otto, u 3, 30 und 89. Genannt werden aus dem griechischen Bereich: Δέσποινα, Καιρός, Βασίλεια, Σώτειρα, aus dem Römischen: Ianus, der als pater verehrt worden ist, s. dazu auch OTTO, Römische Sondergötter, 85f. Vgl. dagegen B. GLADIGOW, Gottesnamen I, RAC 11, 1981, Sp. 1202-1238, der den Zusammenhang von sprachlicher Transparenz und fehlender Persönlichkeit grundsätzlich anerkennt, die römischen Sondergötter aber für eine spezifische Erscheinung der römischen Religion hält, die neben einem bereits ausgeprägten Polytheismus entstanden sei. A: Otto, u 3, 55.

224

Walter F. Otto

auch unabhängig von der historischen Argumentation als einen in sich nicht schlüssigen Vorgang aufweist: „Wie ist überhaupt eine religiöse Denkentwicklung vorzustellen, die von persönlich gedachten Wesen [sc. Augenblicksgöttern]198 weitergeht zu unpersönlich gedachten (Sondergöttern), um dann endlich wieder durch einen höchst seltsamen Vorgang die Persönlichkeit zurückzuerobern?"199 Die Kritik an U S E N E R s Modell der religiösen Begriffsbildung überführt OTTO in zwei Schlußfolgerungen, eine inhaltliche und eine methodische: Inhaltlich kommt OTTO auf der Basis eines logischen Grundsatzes zu dem Schluß, daß alle Götter persönlich sind: Wenn Β = C (Sondergötter = Persönliche Götter) und Α = Β (Augenblicksgötter = Sondergötter), dann A = C (Augenblicksgötter = Persönliche Götter). Mit der Identität der drei Stadien fallen zugleich die Voraussetzungen für die Annahme einer Entwicklung: Am Anfang stehen für OTTO ausschließlich persönliche Götter. Ihr Wesen neu zu begreifen und ihnen einen außerhalb der menschlichen Vorstellungen liegenden Platz einzuräumen,200 wird seine Lebensaufgabe. Dies führt unmittelbar zu der Konsequenz, die OTTO methodisch zieht. Methodisch erkennt OTTO die entscheidende Schwachstelle in der Analogie von Religion und logischer Begriffsbildung der Sprache, die U S E N E R dazu zwinge, das Material in einen Abstraktionsprozeß einzugliedern, wie er zwar bei der logischen Begriffsbildung stattfinde, für das religiöse Denken aber tatsächlich nicht nachweisbar sei. OTTO überführt diese Beobachtung in eine allgemeine Kritik an einem Verfahren, welches das „religiöse Erleben einer der anerkannten geistigen Tätigkeiten unterordnet", welches „zwar exakt arbeitet," in Wirklichkeit aber „nur mit den Mitteln exakter Forschung eine apriori gefaßte Idee" beweist.201 Die hermeneutische Kritik schließlich mündet in die große Vision einer Aufhebung von Forschungsgegenstand und innerem Erleben. Nur demjenigen könne sich die Religion erschließen, in dessen „richtigem Leben" sie eine „wesentliche Rolle" spielt. Zwei „Anschauungsweisen" hätten dies in wunderbarer Weise vorgeführt. Die erste, vertreten durch Ludwig FEUERBACH, 2 0 2 finde den Grund der religiösen Phänomene allein im Menschen und seinem Bedürfnis nach Vollkommenheit, das „aus ihm herausfließt, und, angeregt durch großartige Erscheinungen und Erlebnisse, das, was er selbst zu sein sich sehnt, außer sich in einer früheren Existenz sucht." Die zweite finde den Grund des religiösen Phänomens in der Wirklichkeit, für die 198

200 201 202

Wie USENER die Persönlichkeit der Augenblicksgötter beurteilte, wird in den Götternamen nicht ganz klar. Einerseits ist für USENER der Verlust der sprachlichen Transparenz die Bedingung für die Vorstellung von persönlichen Göttern; andererseits erwägt er im Zusammenhang mit der , Augenblicksgottheit' Eiresione, Götternamen, 285, daß sie offensichtlich persönlich vorgestellt wurde. A: Otto, u 3, 71. A: Otto, u 3, 1. 6. 9. A: Otto, u 3, 12. 14. 44. Vgl. L. FEUERBACH, Das Wesen der Religion, Leipzig 1846.

Von den Sondergöttern zur Offenbarung

225

der Mensch sich nur empfanglich zeigen müsse. „Von einer dritten, vielleicht der größten Anschauungsweise, in der diese beiden zusammenfließen, darf ich an diesem Orte nicht reden."203 Das geradezu mystische Schweigen, mit dem er nicht ohne Pathos auf die Offenbarungslehre verweist, hat OTTO schon wenige Jahre später gebrochen, als er damit begann, die Ursprungsfrage auf neuem Wege anzugehen. Denn daß sich das Wesen der frühen religiösen Formen dem logisch-begrifflichen Denken entzieht - daran hat er zwar festgehalten. Aber er hat auch die schärfsten Konsequenzen daraus gezogen, indem er eine neue sprachliche Form suchte, um aus dem begrifflichen Denken auszubrechen. Die Überzeugungen, die er während seines Forscherlebens gewann, etwa die einer Begegnung des Menschen mit gestalthaften Göttern und mit der Fülle des göttlichen Seins, mögen ebenso wie die Sprache, in der OTTO meinte, diese vermitteln zu müssen, nicht jedermann sympathisch sein. Der Blick auf Walter Friedrich OTTO vermag jedoch die Wirkungsgeschichte der Lehre von der religiösen Begriffsbildung noch einmal neu zu perspektivieren. Von keinem der in dieser Untersuchung zu Wort gekommenen Autoren existiert ein so umfangreicher Text, der sich mit einer solchen Intensität und Verstehensbereitschaft204 mit den Götternamen auseinandergesetzt hätte. Bemerkenswert ist zudem, daß keiner von ihnen in der Auseinandersetzung mit USENERs Projekt zu einer solch gegenläufigen Beurteilung des Ursprungs und Wesens der Religion gefunden hat wie OTTO, der in seinen späteren Schriften kaum, wenn überhaupt, noch als ein .Schüler' USENERs zu erkennen ist. Insofern weist gerade OTTOs intellektuelle Biographie auf USENERs eigentliches Vermächtnis hin. Die Lehre von der religiösen Begriffsbildung war, schon im Jahr ihres Erscheinens,205 als Theorie umstritten. Was USENER dagegen unbestritten erreicht hat, war die Einlösung seiner Forderung, die Philologie aus ihrer fachwissenschaftlichen Begrenzung herauszuführen und für einen Dialog mit den Methoden, Fragen und Zielen anderer Wissenschaften zu öffnen. Sein Vermächtnis sind seine ,Schüler' - und zwar besonders diejenigen, die sich von seinem Widerspruchsgeist, seiner Aufgeschlossenheit und seinem Mut zur Innovation dazu inspirieren ließen, den von USENER eingeschlagenen Weg kritisch und eigenständig weiterzugehen, und ausgehend von ihren Fachdisziplinen zu einer grenzüberschreitenden Forschungsarbeit beitragen konnten. Vor diesem Hintergrund ist USENERs Projekt auch heute wieder aktuell. 203

205

A: Otto, u 3, 12. Vgl. dazu die oben S. 14, Anm. 30, zitierten Äußerungen. Vgl. dazu die Rezensionen von E. MAASS, Deutsche Literaturzeitung 17, 1896, 326338, bzw. A. MILCHHOEFER, Berliner Philologische Wochenschrift 16, 1896, 12331238, 1251-1265, und die darauf Bezug nehmenden Äußerungen von Albrecht DIETERICH (zur philologischen Kritik), s. oben S. 71, Anm. 301, sowie oben S. 72f. (zu Erwin ROHDES Kritik an USENERs Methode).

Literaturverzeichnis1 A by Warburg. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, Acta Humaniora, hrsg. von H. Bredekamp/ M. Diers/ Ch. Schoell-Glass, Weinheim 1991. Ackerman, R., The Myth and Ritual School: J. G. Frazer and the Cambridge Ritualists (= Theorists of Myth 2), New York/ London 1991. Aspetti di Hermann Usener. Filologo della religione, hrsg. von G. Arrighetti/ R. Bodei/ G. Gambiano/ E. Campanile u.a., mit einem Vorwort von A. Momigliano, Pisa 1982. Assmann, Α., Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, 13-35. ASW = Warburg, Α., Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Bachofen, J. J., Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Struktur, Stuttgart 1861. Baeumler, Α., Das mythische Weltalter. Bachofens romantische Deutung des Altertums, München 1965. Belke, I., Moritz Lazarus und Heymann Steinthal: Die Begründer der Völkerpsychologie in ihren Briefen, Tübingen 1971. Betz, H. D., The Greek Magical Papyri in Translation, Chicago/ London 1986. Bickel, E., Das philologische Seminar unter Usener und Buecheler, in: Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn am Rhein, Bd. 2, Bonn 1933, 197-210. Biemel, W., Heidegger, Stuttgart 1991. Blumenberg, H., Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 1979. Bopp, F., Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache im Vergleich mit jenem der griechischen, persischen und germanischen Sprache, Frankfurt a.M. 1816. Bosch, L. van den, Friedrich Max Müller. A Life Devoted to the Humanities, Leiden/ Boston/ Köln 2002. Buchthal, Η., Persönliche Erinnerungen an die ersten Jahre des Warburg-Instituts in London, Wiener Jahrb. für Kunstgeschichte 45, 1992, 213-221. Burkert, W., Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne, in: Les Etudes classiques aux XIXe et XXe siècles: Leur place dans l'histoire des idées (= Entretiens sur L'Antiquité Classique 26, Fondation Hardt), hrsg. von W. de Boer, Vandrœvres-Genève 1980, 159-207. - Stucture and History in Greek Mythology and Ritual, Berkeley/ Los Angeles/ London 1979 (= Sather Classical Lectures 47).

Abgesehen von den im Text erwähnten Werken von H. Usener, A. Dieterich, L. Radermacher, A. Warburg und W. F. Otto sind ausschließlich diejenigen Titel aufgenommen, auf die mehrfach verwiesen wird.

Literaturverzeichnis

227

Cancik, H., Antik-Modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte, hrsg. von R. Faber/ B. von Reibnitz/ J. Rüpke, Stuttgart/ Weimar 1998. -Antike Volkskunde 1936, in: AU 25, 1982, Heft 3, 80-99. - Die Götter Griechenlands 1929. W. F. Otto als Religionswissenschaftler und Theologe am Ende der Weimarer Republik (AU 27, Heft 4, 1984 71-89), in: ders., Antik-Modern, 139-163. -Dionysos 1933. W. F. Otto, ein Religionswissenschaftler und Theologe am Ende der Weimarer Republik {Die Restauration der Götter, 105-123), in: ders., AntikModern, 165-186. Cassirer, E., Philosophie der symbolischen Formen. Bd. 1: Die Sprache (1923), Darmstadt 1994. -Philosophie der symbolischen Formen. Bd. 2: Das mythische Denken (1924), Darmstadt 1994. - Sprache und Mythos - Ein Beitrag zum Problem der Götternamen (Studien der Bibliothek Warburg 6, 1925), in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1994, 71-167. Creuzer, F., Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, Teil 1-4, Leipzig/ Darmstadt 1810-1812, 3. verb. Aufl., 6 Bde., Leipzig/ Darmstadt 1822-1843, Bd. 1: 1836, Bd. 2: 1841, repr.: Hildesheim/ New York 1973. Crusius, O., Erwin Rohde. Ein biographischer Versuch, Tübingen/ Leipzig 1902. Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft, 5. Kunsthistorikerinnentagung in Hamburg 1991, hrsg. von S. Baumgart/ G. Birkle/ M. Fend/ Β. Götz/ Α. Klier/ Β. Uppenkamp, Berlin 1993. Deubner, L., Hermann Usener, Bursian 141, 1908, 53-74. Die Restauration der Götter. Antike Religion und Neo-Paganismus, hrsg. von R. Schlesier/ R. Faber, Würzburg 1986. Diers, M., Die Erinnerung der Antike bei Aby Warburg oder Die Gegenwart der Bilder, in: Urgeschichten der Moderne, 40-65. - Kreuzlinger Passion, Kritische Berichte, Heft 4/5, 1979, 5-15. - Mnemosyne oder das Gedächtnis der Bilder. Über Aby Warburg, in: Memoria als Kultur, hrsg. von O. G. Oexle, Göttingen 1995, 79-94. Dieterich, Α., Abraxas. Studien zur Religionsgeschichte des späteren Altertums, Leipzig 1891. - Die Hauptprobleme der Religionswissenschaft, Vorlesung, gehalten im Sommersemester 1905, unveröffentlichte Vorlesungsnachschrift von H. Gropengiesser (MS: Univ. Heidelberg, Seminar für Klassische Philologie Heidelberg). - Eine Mithrasliturgie, Leipzig 1903. -Hermann Usener, ARW 8, 1905 I-XI. - Kleine Schriften, hrsg. von R. Wünsch, Leipzig/ Berlin 1911. -Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion, Leipzig 1905. - Nekyia. Beiträge zur Erklärung der neuentdeckten Petrusapokalypse, Leipzig 1893. - Papyrus magica Musei Lugdunensis Baiavi, quam C. Leemans editit in papyrorum Graecarum tomo II (V), denuo edidit commentario critico instruxit,

228

Literaturverzeichnis

prolegomena scripsit Albrecht Dieterich. Erweiterte Dissertation, Jahrbücher für die klassische Philologie, Suppl. Bd. 16,1888,749-830. - Über eine Szene der aristophanischen Wolken (Rheinisches Museum 48, 1893, 275-83) in: ders., Kleine Schriften, 117-24. - Über Wesen und Ziele der Volkskunde, Vortrag gehalten in der ersten Generalversammlung der Hessischen Vereinigung fur Volkskunde zu Frankfurt am Main am 24. Mai 1902 (Hessische Blätter für Volkskunde 1, 1902, 169194), in: ders, Kleine Schriften, 287-311. Dilthey, W., Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (1883), hrsg. von Bernhard Groethuysen, 4. Aufl. 1959 (1. Aufl. 1922), in: ders., Gesammelte Schriften, 21 Bde., Bd. 1-12: Stuttgart/ Göttingen, Bd. 13-21: Göttingen, 19141990, Bd. 1. Dopsch, Α., Vom Altertum zum Mittelalter. Das Kontinuitätsproblem (Archiv für Kulturgeschichte 16, 1926, 159-182), in: Kulturbruch oder Kulturkontinuität im Übergang von der Antike zum Mittelalter, hrsg. von P. E. Hübinger, Darmstadt 1968, 159-182. Droysen, J. G., Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte (1882), hrsg. von R. Hübner, 4. unver. Aufl., Darmstadt 1960. Fontenelle, B. Le Bovier de, De l'origine des fables (1691-1699), in: ders., Œuvres complètes (1818), hrsg. von G. B. Depping, Genf 1968, Bd. 2, 388-398. Fowden, G. The Egyptian Hermes. A Historical Approach to the late Pagan Mind, Cambridge 1986. Frazer, J. G., The Golden Bough, London 1890, 2. Aufl., 12 Bde., London 19071915, 3. Aufl., London/ New York 1911-1936, dt. Übersetzung auf der Grundlage der gekürzten Fassung London 1922: Hamburg 1989. Friedrich Gottlieb Welcker. Werk und Wirkung, hrsg. von W. M. Calder III/ A. Köhnken/ W. Kullmann/ G. Pflug (= Hermes Einzelschriften 49), Stuttgart 1986. Frisk, H., Griechisches Etymologisches Wörterbuch, 2 Bde., Heidelberg 1960/1970. Gadamer, H. G., Der Mythos im Zeitalter der Wissenschaft (in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Freiburg/Basel/Wien 1981, 2. Aufl., 20-29), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, 180-188. - Gesammelte Werke, Bd. 2: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode, Tübingen 1986, Bd. 4: Neuere Philosophie II. Probleme, Gestalten, Tübingen 1987, Bd. 8: Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage, Tübingen 1993, Bd. 10: Hermeneutik im Rückblick, Tübingen 1995. - Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), Tübingen 1990.. Gockel, H., Mythos und Poesie. Zum Mythosbegriff der Aufklärung und Frühromantik, Frankfurt 1981. Gombrich, E. H., A by Warburg zum Gedenken (Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen, Bd. 11, Hamburg 1966, 15-27), in: ASW, 465-477. Gombrich, E. H., A by Warburg. Eine intellektuelle Biographie (engl. Orig.: A by Warburg. An intellectual Biography, London 1970), Hamburg 1992.

Literaturverzeichnis

229

Graevenitz, G. von, , Verdichtung'. Das Kulturmodell der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, in: kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 12, 1999,19-59. Graf, F., Die Entstehung des Mythosbegriffs bei Christian Gottlieb Heyne, in: Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Roms (= Colloquium Rauricum, Bd. 3), hrsg. von F. Graf, Stuttgart/ Leipzig 1993, 284-294. - Einführung in die Mythologie, München 1991. - Gottesnähe und Schadenszauber. Die Magie in der griechisch-römischen Antike (frz. Orig. La magie dans l'antiquité gréco-romaine, Paris 1994), München 1996. Grimm, J., Deutsche Mythologie, Göttingen 1835, repr.: Frankfurt a.M. 1985. Gruppe, O., Geschichte der klassischen Mythologie und Religionswissenschaft während des Mittelalters im Abendland und während der Neuzeit, Suppl. 4, 1921 zu: W. H. Roscher/ K. Ziegler (Hrsg.), Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, 10 Bde., Leipzig 1894-1937. Handbuch der religionswissenschaftlichen Grundbegriffe, hrsg. von H. Cancik/ B. Gladigow/ K. H. Kohl, Stuttgart/ Berlin/ Köln, Bd. 1: 1988, Bd. 2: 1990, Bd. 3:1993, Bd. 4: 1998. Harnack, Α., rez.: Hermann Usener: Das Weihnachtsfest, Theologische Literaturzeitung 1889, 199-212. Heidegger, M., Brief über den Humanismus (Brief an Jean Beaufret [Paris], Herbst 1946; Bern 1947; Frankfurt 1949) in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 9,313-364. -Die Frage nach der Technik (Vortrag, gehalten am 18. November 1953 im Auditorium Maximum der Technischen Hochschule München, im Druck erschienen im Jahrbuch der Akademie, Bd. 3, München 1954, 70ff.; 6. Aufl. in: ders., Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1985), in: ders., Vorträge und Aufsätze, 7. Aufl., Stuttgart 1994, 9-40. - Gesamtausgabe, hrsg. von F. W. v. Hermann, Frankfurt a.M. 1977ff., Bd. 2: Veröffentlichte Schriften 1914-1970: Sein und Zeit, 1977; Bd. 3: Veröffentlichte Schriften 1910-1976: Kant und das Problem der Metaphysik, 1991; Bd. 9: Veröffentlichte Schriften 1914-1970: Wegmarken, 1976. Heise, C. G., Persönliche Erinnerungen an Aby Warburg, 2. Aufl., Hamburg 1959. Henrichs, Α., ,Der Glaube der Hellenen '. Religionsgeschichte als Glaubensbekenntnis und Kulturkritik, in: Wilamowitz nach 50 Jahren, Darmstadt 1985, 263-305. - Die Götter Griechenlands. Ihr Bild im Wandel der Religionswissenschaft, Bamberg 1987. - Welckers Götterlehre, in: Friedrich Gottlieb Welcker. Werk und Wirkung, 179229. Heyne, Chr. G., Apollodori bibliothecae libri tres et fragmenta, Bd. 2, Göttingen 1783. - Quaestio de caussis fabularum seu mythorum veterum physicis, Göttingen 1864. Hösle, V., Einleitung zu: G. B. Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsamen Völker, Bd. 1, XXXI-CCLXXV1I. Hopfner, Th., Griechisch-ägyptischer Offenbarungszauber. Seine Methoden, 2 Bde., Bd. 1: Frankfurt 1924 (repr.: Amsterdam 1983); Bd. 2: Leipzig 1924 (= Studien zur Palaeographie und Papyruskunde, hrsg. von C. Wessely, Bd. 23. 1/2.

230

Literaturverzeichnis

Horstmann, Α., Der Mythosbegriff vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, Archiv für Begriffsgeschichte 23, 1979, 7-54. -Mythologie und Altertumswissenschaft. Der Mythosbegriff bei Christian Gottlob Heyne, Archiv für Begriffsgeschichte 16,1972, 60-82. Humboldt, W. von, Einleitung in die Kawi-Sprache, in: ders., Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung, Berlin 1820 (= ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4,1-34). - Gesammelte Schriften, hrsg. von A. Leitzmann et al., Berlin 1903-1936, repr.: Berlin 1968. Jamme, Chr., Einführung in die Philosophie des Mythos, Bd. 2: Neuzeit und Gegenwart, Darmstadt 1991. - „Gott an hat ein Gewand". Grenzen und Perspektiven philosophischer MythosTheorien der Gegenwart, Frankfurt 1999. Janshen, F., Spurenlesen. Um Aby Warburgs ,Schlangeritual', in: Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft, 86-103. Kany, R., Christliche Antike. Zu einem Perspektivenwechsel bei einigen Historikern um 1900, in: ,Mehr Dionysos als Apoll'. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900, hrsg. von A. Aurnhammer/ Th. Pittrof, Frankfurt a.M. 2000,135-158. - Die religionswissenschaftliche Forschung an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, Bamberg 1989. - Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987. Kerényi, Κ., Walter F. Otto zum 75. Geburtstag (Paideuma 3, Heft 6/ 7, 1949, 199206) in: ders., Wege und Weggenossen, Bd. 2, 200-208. - Walter Friedrich Otto - Erinnerung und Rechenschaft (Paideuma 7, 1. Jun. 1959, 1-10), in: ders., Wege und Weggenossen, Bd. 2, 251-263. - Wege und Weggenossen, 2 Bde., München 1985/1988. Kippenberg, H. G., Die Entdeckung der Religionsgeschichte, München 1997. - Survivals. Conceiving of Religious History in an Age of Development, in: Religion in the Making. The Emergence of the Sciences of Religion, hrsg. von A. L. Molendijk/ P. Pels, Leiden/ Boston/ Köln 1998, 297-312. Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky, hrsg. von T. Borsche, München 1996. Kohl, K.-H., Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden, Frankfurt a.M. 1986. Krohn, H., Die Juden in Hamburg. Die politische, soziale und kulturelle Entwicklung einer Großstadtgemeinde nach der Emanzipation 1848-1918 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der Juden, Bd. 4), Hamburg 1974. Kuhn, Α., Die Herabkunft des Feuers und des Göttertranks. Ein Beitrag zur vergleichenden Mythologie der Indogermanen, Gütersloh 1886, 2. Aufl., repr.: Darmstadt 1968. Lafitau, J.-F., Allgemeine Geschichte der Länder und Völker von Amerika (Mœurs des sauvages Américains comparées aux mœurs des premiers temps, Paris 1723), 2 Bde., übers, von S. J. Baumgarten, Halle 1752. Landfester, M., Die hermeneutische Konzeption H. Useners, in: ders., Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und die hermeneutische Tradition des 19.

Literaturverzeichnis

231

Jahrhunderts (= Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert, 156-180), 160-163. Lang, Α., Custom and Myth, London 1884. Lesky, Α., Aus dem Nachlasse Ludwig Radermachers, Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wiss., Wien 1955, 15-23. Liebrucks, B., Sprache und Mythos II, in: ders., Sprache und Bewußtsein, Bd. 1 : Einleitung. Spannweite des Problems. Von den undialektischen Gebilden zur dialektischen Bewegung, Frankfurt a.M. 1964,405-418. Lossau, M., Walter F. Otto (1874-1959), in: Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren, hrsg. von D. Rauschnig/ D.v. Nerée, Berlin 1993, 309315. Lüdemann, G. (Hrsg.), Die Religionsgeschichtliche Schule. Facetten eines theologischen Umbruchs. Frankfurt 1996. Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens (1978), hrsg. von H. G. Kippenberg/ B. Luchesi, Frankfurt 1995. Maikuma, Y., Der Begriff der Kultur bei Warburg, Nietzsche und Burckhardt, Königstein/Ts. 1985. Mannhardt, W., Mythologische Forschungen, aus dem Nachlasse von Wilhelm Mannhardt, hrsg. von H. Patzig (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Vöker, Teil 51), Straßburg 1884. - Wald- und Feldkulte. 2 Bde., Berlin 1875/1877, repr.: Darmstadt 1963, Bd. 2: Antike Wald- und Feldkulte aus nordeuropäischer Überlieferung erläutert. Martin Heidegger/ Karl Jaspers. Briefwechsel 1920-1992, hrsg. v. W. Biemel/ H. Saner, Frankfurt a.M./ München/ Zürich 1990. Memoria als Kultur, hrsg. von O. G. Oexle, Göttingen 1995 Menninghaus, W,,Lob des Unsinns, Frankfurt 1995. Mette, H. J., Nekrolog einer Epoche. Hermann Usener und seine Schule. Ein wirkungsgeschichtlicher Rückblick auf die Jahre 1856-1979, Lustrum 22, 1979/1980. Mill, J. St., System der deduktiven und induktiven Logik, übertragen von J. Schiel, 6. Buch: Von der Logik der Geisteswissenschaften oder moralischen Wissenschaften, Braunschweig 1868. Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hrsg. von A. Assmann/ D. Harth, Frankfurt a.M. 1991. Möller, L. L., Erwin Panofsky 1892-1968, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen, Bd. 14/15, Hamburg 1970. Momigliano, Α., Hermann Usener (aus Neue Wege der Altertumsforschung im 19. Jahrhundert, engl. Orig.: New Paths of Classicism in the Nineteenth Century, History and Theory, Beiheft 21, 1982), in: d., Wege in die Alte Welt, Frankfurt a.M. 1995,201-222. Most, G. W., Heideggers Griechen, Merkur 56, Heft 2, Februar 2002, 113-123. Müller, F. M., Essays, Bd. 1: Beiträge zur Vergleichenden Religionswissenschaft, Bd. 2: Beiträge zur Vergleichenden Mythologie und Ethologie, 2. Aufl., Leipzig 1881.

- Vergleichende Mythologie (engl. Orig.: Essay on Comparative Mythology, 1856), in: ders., Essays, Bd. 2, 1-129. Müller, K. O., Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie, Berlin 1825.

232

Literaturverzeichnis

Naumann, Β., Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe, München 1998. Nietzsche, F., Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe (KSA), 15 Bde., hrsg. von G. Colli/ M. Montinari, München 1988. Oehler, K., Dilthey und die Klassische Philologie, in: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert, 181-200. Otto, W. F., Das Weltgefuhl des klassischen Heidentums (Tat. Monatszeitschrift für die Zukunft deutscher Kultur 12, Heft 2, 1920/1921, 123ff), in: ders., Mythos und Welt, 21-35. - Aufsätze zur Römischen Religionsgeschichte, hrsg. von E. Heitsch/ C. Zintzen/ R. Merkelbach, Meisenheim am Glan (= Beiträge zur Klassischen Philologie, Heft 71) 1975. -Das Vorbild der Griechen (Tübingen/ Stuttgart 1949), in: ders., Die Gestalt und das Sein, 137-159. -Das Wort der Antike, hrsg. von K. v. Fritz, Stuttgart 1962. -Der Dichter und die alten Götter, Frankfurt a.M. 1942. -Der griechische Göttermythos bei Goethe und Hölderlin (Berlin 1939) in: ders., Die Gestalt und das Sein, 183-210. -Der junge Nietzsche, Vortrag, gehalten im Nietzsche-Archiv am 15. 10. 1934 anläßlich des 90. Geburtstages Friedrich Nietzsches (Wissenschaft und Gegenwart 10, 1936, 59-78), in: ders., Mythos und Welt, 159-178. - Der Mythos (Mit dem Untertitel: Nach einem in Erlangen gehaltenen Vortrag, erschienen in: Studium Generale 8, 1955, 263ff.), in: ders., Mythos und Welt, 267-278. - Der ursprüngliche Mythos im Lichte der Sympathie von Mensch und Welt (Eranos-Jahrbuch 24, 1956, 303 ff.), in: ders., Mythos und Welt, 230-266. - Die altgriechische Gottesidee, in: ders., Die Gestalt und das Sein, 115-136. - Die Gestalt und das Sein. Gesammelte Abhandlungen über den Mythos und seine Bedeutung fiir die Menschheit, Darmstadt 1955,2. unver. Aufl.: 1959. - Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes (1929), 8. Aufl.: Frankfurt a.M. 1987. -Die Luperci und die Feier der Luperealien (Philologus 72, 1931, 161-195), in: ders., Aufsätze zur Römischen Religionsgeschichte, 158-192. - Die Sprache als Mythos (aus dem Nachlaß veröffentlicht in: Gestalt und Gedanke, Bd. 5, hrsg. von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München 1959, 171ff.) in: ders, Mythos und Welt, 279-290. - Die Zeit und das Sein (Anteile. Festschrift zu Heideggers 60. Geburtstag, Frankfurt 1950, 7-28), in: ders. Die Gestalt und das Sein, 1-23. -Dionysos. Mythos und Kultus (Frankfurt 1933), 3. unver. Aufl., Frankfurt 1960. -Franz Bücheler. Eine Erinnerung (Frankfurter Zeitung, 18. 7. 1937) in: ders, Mythos und Welt, 207-210. - Gesetz, Urbild und Mythos (Stuttgart 1951), in: ders. Die Gestalt und das Sein, 25-90. - Hölderlin und der Ursprung von Kultus und Mythos, in: ders. Der Dichter und die alten Götter, 39-109.

Literaturverzeichnis

233

- Iuno. Beiträge zum Verständnisse der ältesten und wichtigsten Thatsachen ihres Kultes (Philologus 64, 1905, 161-223), in: ders., Aufsätze zur Römischen Religionsgeschichte, 1-63. -Leo Frobenius. Zum 29. Juni 1933 (Erdball 1931, Heft 2, Beilage), in ders., Mythos und Welt, 211-216. -Lustrum (Rheinisches Museum 71, 1916, 17-40), in: ders., Aufsätze zur Römischen Religionsgeschichte, 193-216. -Mythos und Welt, hrsg. von K. v. Fritz, Stuttgart 1962. - Nomina propria latina oriunda a participiis perfecti, Fleckeisens Jahrbücher, 1898. -Römische Sondergötter (Rheinisches Museum 64, 1909, 449-468), in: ders., Aufsätze zur Römischen Religionsgeschichte, 72-91. - Theophania Der Geist der altgriechischen Religion (Hamburg 1956), hrsg. von F. Jünger/ M. Himmelheber, Frankfurt 1975. - Der Ursprung von Mythos und Kultus. Zu Hölderlins Empedokles (Geistige Überlieferung 1, 1940) in: ders., Die Gestalt und das Sein, 227-283. - Die Berufung des Dichters (Hölderlin. Gedenkschrift zu seinem 100. Todestag, Tübingen 1943), in: ders., Die Gestalt und das Sein, 285-311. -Hölderlin und das Göttliche, Das neue Forum 6, 1956/1957,217fT. -Hölderlin und die Griechen, Hölderlin-Jahrbuch 1948/1949. Paetzold, H., Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie, Darmstadt 1995. Panofsky, E., Iconography and Iconology (urspr. in: ders., Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of Renaissance, 1939; dt. Übers.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975, 36-50, 63-67), in: ders., Meaning in the Visual Arts, New York 1955, 26-41. Papyri Graecae Magicae, hrsg. von K. Preisendanz, 2 Bde., Leipzig/ Berlin 1928/1931, neu herausgegeben von A. Henrichs, Stuttgart 1973/1974. Paulsen, F., Geschichte des gelehrten Unterrichts, 2 Bde., 3. Aufl., Berlin 1919/1921. Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, hrsg. von H. Flashar/ K. Gründer/ A. Horstmann, Göttingen 1979. PGM = Papyri Graecae Magicae Radermacher, L., Altgriechische Liebesgeschichten, Historien und Schwänke, Schriften und Quellen der Alten Welt, Bd. 29, Berlin 1987. - Antiker Liebeszauber und Verwandtes, Rheinisches Museum 67, 1912, 139-141. - Aristophanes ' Frösche. Einleitung, Text und Kommentar, Sitzungsberichte der Akad. der Wiss. in Wien Phil.-historische Klasse, Bd. 198, 4. Abhdlg. (vorgelegt am 27. April 1921), Wien 1921,175ff. -Berührungszauber, ARW 14,1911, 314f. - Das Jenseits im Mythos der Hellenen. Untersuchungen zum antiken Jenseitsglauben, Bonn 1903. -Der homerische Hermeshymnus, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Berlin, Bd. 213,1. Abhdlg, Wien/ Leipzig 1931.

234

Literaturverzeichnis

- Die apokryphen Apostelakten und die Volkssage, Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 60,1909, Heft 7,673-683. - Die Erzählungen der Odyssee, Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien Phil.-historische Klasse, Bd. 178, 1. Abhdlg., Wien 1915. -Die Vergleicher, in: ders., Mythos und Sage bei den Griechen, 27-46. - Euripides und die Mantik, Rheinisches Museum 53,1898,497-510. -Hans Lietzmann, Almanach der Akademie der Wissenschaften in Wien 93, 1943, 269-280. - Mythos und Sage bei den Griechen (Brünn/ München/ Wien 1938), Darmstadt 1968. - Mythos, Sage, Märchen, in: ders., Mythos und Sage bei den Griechen, 67-88. - Nachbarn, in: Beiträge zur Volkskunde aus dem Gebiet der Antike, Wien 1918, 317. - Observationes in Euripides miscellae, Diss. Bonn 1891. - Παλινωιδία, Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 66,1915,1-7. - Schelten und Fluchen, ARW 11, 1908, 11-22. - Volkstümliche Schwankmotive bei Aristophanes, Wiener Studien 35, 1913, 193196. - Walfischmythen, ARW 9, 1906,248-252. Radnóti, S., Das Pathos und der Dämon. Über Aby Warburg, Acta Historiae Artium Academiae Scientiarum Hungaricae 31,1985. Rehm, W., Götterstille und Göttertrauer, München 1951. - Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens (1936), 4. Aufl., Bern/ München 1969. Reibnitz, B. von, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik", Stuttgart 1992. Riedel, W., Archäologie des Geistes. Theorien des wilden Denkens um 1900, in: Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998, hrsg. von J. Barkoff/ G. Carr/ R. Paulin, Tübingen 2000,467-485. Roeck, B., Der junge Aby Warburg, München 1975. Rohde, E., Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube bei den Griechen (Freiburg 1884), 2. Aufl., Freiburg i.Br./ Leipzig/ Tübingen 1898, repr. Darmstadt 1991. Rothacker, E., Einleitung in die Geisteswissenschaften, 2. Aufl., Tübingen 1930. Schelling, F. W. J., Einleitung in die Philosophie der Mythologie (1842), in: Schellings Werke, hrsg. von M. Schröter, Bd. 5, München 1959, 1-254: Einleitung in die Philosophie der Mythologie, 255-388: Philosophie der Mythologie. Erstes Buch: Der Monotheismus. Schelling, F. W. J., Philosophie der Mythologie. Nachschrift der letzten Münchener Vorlesungen 1841, hrsg. von A. Roser/ H.Schulten [= Schellingiana, Bd. 6], Stuttgart/Bad Cannstatt 1996. Schleier, H., Karl Lamprechts Universalgeschichtskonzeption, in: Karl Lamprecht weiterdenken. Universal- und Kulturgeschichte heute, hrsg. von G. Diesner, Leipzig 1993, 145-155.

Literaturverzeichnis

235

Schlesier, R. Olympische Religion und chthonische Religion: Creuzer, K.O. Müller und die Folgen-, in: dies., Kulte, Mythen und Gelehrte, 21-32 - Kulte, Mythen und Gelehrte. Anthropologie der Antike seit 1800, Frankfurt a.M. 1994. - Religion als Gegenbild: Zu Eduard Meyers Geschichtstheorie, in: dies., Kulte, Mythen und Gelehrte, 65-122. - „Arbeiter in Useners• Weinberg": Anthropologie und antike Religionsgeschichte in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, in: dies., Kulte, Mythen und Gelehrte, 193-241. - Prolegomena zu Jane Harrisons Deutung der antiken griechischen Religion, in: dies., Kulte, Mythen und Gelehrte, Frankfurt a.M. 1994,145-192. Schmalzriedt, E., Bibliographie der Schriften Walter F. Ottos, in: W. F. Otto, Das Wort der Antike, 383-386. Schmidt, P., A by M. Warburg und die 1Iconologie, Wiesbaden 1989. Schoell-Glass, Ch., A by Warburg und der Antisemitismus, Frankfurt a. M. 1998. Schwenck, Κ., Etymologisch-mythologische Andeutungen, nebst einem Anhang von Friedrich Gottlieb Welcker, Elberfeld 1823. Smith, W. Robertson, Lectures on the Religion of the Semites, Edinburgh 1889. Stavru, Α., Die wissenschaftliche Laufbahn und der Nachlaß von Walter F. Otto. Ein Überblick, Mitteilungen des Marbacher Arbeitskreises für Geschichte der Germanistik, hrsg. von der Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik, 13/ 14, 1998,48-52. Stockhausen, T. von, Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg. Architektur, Entwicklung und Organisation, Hamburg 1992. Tambiah, S. J., Form und Bedeutung magischer Akte. Ein Standpunkt (Orig.: Modes of Thought, hrsg. von R. Horton/ R. Finnegan, London 1973, 199-230), in: Magie, 259-296. Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hrsg. von M. Fuhrmann, München 1971. Trabant, J., Traditionen Humboldts, Frankfurt a.M. 1990. Tylor, Ε. B., Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, and Language, Art and Custom, 2 Bde. (1871), London/ New York 1920 (dt. Übers, in: ders., Die Anfänge der Cultur. Untersuchung über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Unter Mitwirkung des Verfassers ins Dt. übertragen von J.W. Spengel und Fr. Poske, Leipzig 1873). Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert, hrsg. von B. Seidensticker/ M. Vöhler, Stuttgart/ Weimar 2001. Usener und Wilamowitz. Ein Briefwechsel 1870-1905, hrsg. von H. Dieterich/ F. Hiller von Gaertringen, Leipzig/ Berlin 1934. Usener, H., Das Weihnachtsfest (Bonn 1888 [Impressum: 1889]), 3. Aufl., hrsg. von H. Lietzmann, Bonn 1911. - Die Sintfluthsagen, Bonn 1899. -Dreiheit. Ein Versuch mythologischer Zahlenlehre, Bonn 1903, repr.: Hildesheim/ New York 1966.

236

Literaturverzeichnis

- Geburt und Kindheit Christi (Preuschens Zeitschr. für die neutestamentl. Wiss. und die Kunde des Urchristentums 4, 1903, 1-21) in: ders., Vorträge und Aufsätze, 161-187. - Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Bonn 1896. - Göttliche Synonyme (Rheinisches Museum 53, 1898, 329-379), in: ders., Kleine Schriften, Bd. 4,259-306. - Heilige Handlung (ARW 7, 1904, 281-339), in: deis., Kleine Schriften, Bd. 4, 422-467. -Italische Mythen (Rheinisches Museum 30, 1875, 182-229), in: ders., Kleine Schriften, Bd. 4, 93-143. -Italische Volksjustiz (Rheinisches Museum 56, 1900, 1-28), in: ders., Kleine Schriften, Bd. 4, 356-382. -Kallone (Rheinisches Museum 23, 316-377), in: ders., Kleine Schriften, Bd. 4, 193. -Keraunos (Rheinisches Museum 60, 1905, 1-30), in: ders., Kleine Schriften, Bd. 4,471-497. -Kleine Schriften, Leipzig/ Berlin 1912-1914, Bd. 1-3: hrsg. von L. Radermacher/ K. Fuhr, Bd. 4: hrsg. von R. Wünsch, Leipzig/ Berlin 1913. -Legenden der Pelagia (Festschrift für die 34. Versammlung dt. Philologen u. Schulmänner, Bonn 1879). Einleitung zu den Texten I (Reue der Pelagia von Antiochia verfaßt vom Diakonus Jakob) und II {Legende der Pelagia von Tarsos) in: ders., Vorträge und Aufsätze, 189-215. -Mythologie (ARW 7, 1904, 6-32), in: ders., Vorträge und Aufsätze, 37-65. -Organisation der wissenschaftlichen Arbeit (Preußische Jahrbücher 53, 1884, 1, 25), in: ders., Vorträge und Aufsätze, 67-102. -Pasparios (Rheinisches Museum 40, 1894, 461-471), in: ders., Kleine Schriften, Bd. 4, 182-194. - Philologie und Geschichtswissenschaft. Rede, gehalten beim Antritt des Rektorats am 18. Oktober 1882, (Bonn 1882), in: ders., Vorträge und Aufsätze, 1-35. -Psithyros (Rheinisches Museum 59, 1904, 623f.), in: ders., Kleine Schriften, Bd. 4,467-469. - rez.: Tito Vignoli. Mythos und Wissenschaft (Leipzig 1880), Deutsche Litteraturzeitung 2, 1881,1065-1067. - Über vergleichende Sitten- und Rechtsgeschichte, Vortrag, gehalten bei der 42. Versammlung dt. Philologen und Schulmänner 1893 (Hessische Blätter für Volkskunde, 1.3, 1902, 195-228), in: ders., Vorträge und Aufsätze, 103-157. - Vorträge und Aufsätze, hrsg. von A. Dieterich, Leipzig/ Berlin 1907. Vico, G. Β., Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (ital. Orig.: Principi di una scienza nuova d'intorno alla comuna natura delle nazioni, 1725; dt. Übers, nach der 3. Aufl. 1744), hrsg. von V. Hösle/ Chr. Jermann, 2 Bde., Hamburg 1990. Vierkandt, Α., Philologie und Völkerpsychologie, ARW 1, 1889, 97-104. Vischer, F. Th., Das Symbol (in: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet, Leipzig 1887, 151-193), in: ders., Kritische Gänge, hrsg. von R. Vischer, Bd. 4, 2. Aufl., München 1922, 420-456.

Literaturverzeichnis

237

Völkerpsychologie - Versuch einer Neuentdeckung. Texte von Lazarus, Steinthal und Wundt, hrsg. von G. Eckardt, Weinheim 1997. Warburg Α., Ausgewählte Schriften und Würdigungen (ASW), hrsg. von D. Wuttke, Baden-Baden, 2. Aufl., 1980. - Bildersammlung zur Geschichte von Sternglaube und Sternkunde im Hamburger Planetarium, hrsg. von U. Fleckner et al., Hamburg 1993. -Bildniskunst undflorentinisches Bürgertum (Leipzig 1902), in: ASW, 65-102. - Der Bilderatlas Mnemosyne, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2.1. -Dürer und die italienische Antike (Verhandlungen der 48. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Hamburg vom 3. bis 6. Oktober 1905, Leipzig 1906), in: ASW, 125-135. - Flandrische Kunst und florentinische Frührenaissance. Studien (Jahrb. d. Königlichen Preußischen Kunstsammlungen 23, 1902, 247-266), in: ASW, 103124. - Gesammelte Schriften, hrsg. von H. Bredekamp/ M. Diers/ K. W. Forster/ N. Mann/ S. Settis / M. Wamke, Bd. 1.1/ 1.2: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, Reprint der von G. Bing unter Mitarb. von F. Rougemont edierten Ausgabe Leipzig/ Berlin 1932, hrsg. von H. Bredekamp/ M. Diers, Berlin 1998; Bd. 2.1 : Der Bilderatlas Mnemosyne, hrsg. von M. Warnke, C. Brink, Berlin 2000.

- Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Philosophisch-historische Klasse, eingegangen am 25. Oktober 1919, 26. Abhandlung, Heidelberg 1920), in: ASW, 199-304. - Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara (Atti del X congresso internazionale di storia dell'arte in Roma [1912], L'Italia e l°arte straniera, Rom 1922, 326-193), in: ASW, 173-198 - Sandro Botticellis „Geburt der Venus" und „Frühling". Eine Untersuchung über die Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frührenaissance (Diss. Hamburg/ Leipzig 1893), in: ASW, 11-63. - Schlangenritual. Ein Reisebericht, hrsg. von U. Raulff, Berlin 1988. Weber, M., Religiöse Gemeinschaften. Die Entstehung der Religion (entstanden 1913), in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften, hrsg. von H. G. Kippenberg in Zusammenarbeit mit P. Schilm unter Mitwirkung von J. Niemeier, Tübingen 2001 (= ders., Gesamtausgabe, hrsg. von H. Baier u.a., Abt. 1: Schriften und Reden, Bd. 22.2), 121-157. Weigel, S., A by Warburgs Schlangenritual. Korrespondenzen zwischen der Lektüre kultureller und geschriebener Texte (Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 1, 1994, 9-27), in: Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft, hrsg. von A. Assmann, Frankfurt a.M. 1996, 269288.

Welcker, F. G., Griechische Götterlehre, 3 Bde., Göttingen 1857/1860/1863. Wilamowitz nach 50 Jahren, hrsg. von W. M. Calder III/ H. Flashar/ Th. Lindken, Darmstadt 1985. Wilamowitz, U. von, Der Glaube der Hellenen (Berlin 1931), Darmstadt 1955.

238

Literaturverzeichnis

Winch, P., Was heißt,eine primitive Gesellschaft verstehen?' (engl. Orig.: Ethics and Action, American Philosophical Quarterly 1964; dt. Übers, zuerst in: Sprachanalyse und Soziologie, hrsg. von R. Wiggershaus, Frankfurt a.M. 1975), in: Magie, 73-119. Wuttke, D„ Aby Warburg und seine Bibliothek, Arcadia 1, 1966, 319-333. - Aby Warburgs Methode als Anregung und Aufgabe, Öffentlicher Abendvortrag aus Anlaß des XIV. Deutschen Kunsthistorikertages gehalten am 7. Oktober 1974 im Auditorium Maximum der Universität Hamburg, 3. Aufl., Göttingen 1979. - Nachwort zu ASW, 601-639.

Personenregister

Abaelard, P. 9 Abt, Α. 114 Ackermann, R. 83, 205 Adomo, Th.W. 55,194 Agahd, R. 70 Airoldi, G. F. 187 Altheim, F. 193 Anastasy, J. d' 123 Anderson, J. 167 Aristophanes 79 Aristoteles 216,218 Arnold, F. 44 Assmann, A. 14, 114, 165, 182 Assmann, J. 77 Auffarth, Chr. 87 Aurelius Augustinus 70 Aurnhammer, A. 91 Bachofen, J. J. 115, 116, 126, 191, 202, 204 Bacon, F. 37,220 Baeumer, M. L. 204 Baeumler, A. 115,202,204 Baier, H. 51 Banier, M. l'Abbè 35 Barkoff, J. 107,178 Bastian, A. 190 Baumgart, S. 165, 166,172, 178 Baumgarten, S. J. 38 Baumgartner, Η. M. 94 Bausinger, Η. 141,145 Beaufret, J. 212 Beidelmann, O. 84 Belke, I. 32 Benjamin, W. 14, 162, 163 Bennett, G. 138 Bergson, H. 191 Beth, Κ. 128

Betz, H. D. 123, 124 Bialostocki, J. 168 Bickel, E. 8, 186 Biemel, W. 205, 211, 216, 217, 218, 220 Biese, Α. 31 Bing, G. 164,166, 167,175 Binswanger, L. 172 Bissing, F. W. von 79 Bloch, L. 36 Blumenberg, H. 53-55,59 Boccaccio, G. 140 Bodei, R. 12,60 Boeckh, A. 32, 33,42, 71, 74,146 Boer, W. de 12,192 Boll, F. 161 Bopp, F. 15-17,20 Borchardt, R. 8,59 Borsche, T. 31 Bosch, L. P. van den 17, 18, 20, 56, 87 Brandis, C. 7 Brauer, L. 165 Braun, H.-J. 60 Bréal, M. 18 Bredekamp, H. 167, 175, 178,179 Bremmer, J. N. 7 Brenner, O. 157 Briggs,W.W. 7 Brink, C. 182 Bröger, K. 194 Brück, A. Th. 220 Brückner, A. 75 Brückner, W. 145 Buber, M. 193 Buchan, D. 138 Bücheler, F. 8,160,185-188 Bucher, S. 34

240

Personenregister

Buchthal, H. 165,166 Bumann, W. 31,32,33 Burckhardt, J. 161, 176, 196 Burkert, W. 12, 18, 83, 84, 192, 193, 198, 205-207 Burnouf, E. 17 Buschendorf, B. 178 Butler, C. 139 Buttmann, Ph. 20 Calder III, W. M. 7, 8, 20, 21, 79, 85, 102 Cancik, H. 1, 17, 55, 102, 106, 120, 187, 190, 191, 193-195, 197, 199, 201-204 Canfora, L. 102 Cardauns, B. 70 Canon, J. 156 Carlyle, Th. 177 Carr, G. 107,178 Carus, C. G. 44 Cassirer, E. 19, 49, 59-65, 118, 119, 177 Cellarius Chr. 94 Cesare, D. di 34 Chernow, R. 172,173 Classen, J. 200 Claudian 183, 184 Cohen, H. 60 Colli, G. 9, 195 Colpe, C. 3 Comte, A. 40 Condillac, E. 54 Conley, P. 64 Cornford, F. 84 Cox, G. W. 17 Creuzer, F. 15, 19, 20, 38, 86, 99, 112, 115, 126, 178, 200, 202, 204 Croce, B. 31 Crusius, O. 8, 99, 185,191 Curtius, G. 23 Derleth, L. 191 Descartes, R. 29 Deubner, L. 78, 79, 84, 97, 133,215 Diels, H. 8,59,79,90

Diers, M. 164-167, 172, 175, 179, 180, 183 Diesner, G. 154 Dieterich, A. 2-4, 8, 10, 12, 13, 32, 41, 51, 57, 59, 69, 71, 78-80, 82, 84, 85, 92, 93, 95, 96-128, 131-134, 142-146, 150, 155, 158, 159, 160, 161, 170, 175, 176, 181, 190, 193, 195, 202, 203, 207, 221 Dietrich, H. 7,73 Dilly, H. 172 Dilthey, C. 11,122 Dilthey, L. 11 Dilthey, W. 11,12,71,83,159,217 Dindorf, L. 28 Doellinger, I. 89,90 Dopsch, A. 94, 145 Dorson, R. M. 18 Droysen, J. G. 71,94 Duerr, H. P. 215 Dülmen, R. von 13 Dürer, A. 181 Durkheim, É. 52 Dürkop, M. 133 Ebeling, H. 212,213 Eckardt, G. 31 Einstein, A. 131 Ellenberger, H. F. 98 Ettelt, W. 42 Euing, L. 193 Euripides 139, 142, 147f. Evans-Pritchard, E. 40, 120 Faber, R. 1,187,190 Fabius Pictor 67 Farneil, L. R. 221 Fault, W. 200 Fehrle, E. 97,102 Ferrari, M. 60 Feuerbach, L. 224 Finnegan, R. 120,215 Flashar, H. 8,12,42,79 Fleckeisen, A. 7, 78,123 Fleckner, U. 165 Folkers, H. 14

Personenregister

Fontenelle, Β. de 38 Förster-Nietzsche, E. 211 Fowden, G. 114,122,123 Fraenkel, E. 161 Francke, J. M. 199 Frazer, J. G. 55, 83, 120, 174, 190, 196,205,217 Frend, W . H . C . 125 Fréret, Ν. 38 Freud, S. 118,172 Friedländer, P. 199 Frisk, H. 20,28,76 Fritz, Κ. von 188 Frobenius, Leo 193,221 Frühwald, W. 201 Fuhr, K. 9 Fuhrmann, M. 38,91,161 Füssel, S. 165 Fustel de Coulanges, N.-D. 52, 56 Gadamer, H; G. 11, 35, 60, 71, 109, 191,211,217 Gaethgens, T. W. 162 Gager, J. 124 Gauricus, L. 156 Gay, P. 172 Gehlen, A. 218,219 George, S. 191,192 Gigon, O. 9 Ginzburg, C. 173 Gladigow, B. 17, 55,120, 223 Gockel, H. 35,38,55 Goethe, J. W. von 140, 166, 195, 201,204,208 Gombrich, E. H. 31, 162, 164, 172177 Gompertz, Th. 131 Goodwin, Ch. W. 100 Gordon, D. J. 166 Gödde, S. 20 Görres, J. 200 Götz, G. 78, 166 Graevnitz, G. von 32 Graf, F. 36,38,115,135 Grassi, E. 187 Green, A. E. 139

241

Grimm, J. 16, 32, 36, 39, 48, 58, 86, 103,110,129,130 Grimm, W. 16,48,130 Gropengiesser, H. 108 Gründer, K. 12,42 Gruppe, O. 91 Habermas,! 194 Halbwachs, M. 77 Hammerstein, Ν. 193 Harnack, A. von 92, 93, 109 Harrison, J. E. 83,174, 191, 205 Harth, D. 14,182 Hartlich, R. 37 Härtung, W. 34 Hauber, K. F. 173 Hegel, G . F . W . 32,48,55,217 Heidegger, M. 5, 134, 191, 199, 206, 211-221 Heinze, R. 8 Heise, C.G. 164,168,175 Heitsch, E. 186 Helm, R. M. 25 Helmholtz, H. von 159 Henrichs, A. 8, 20, 21, 71, 79, 85, 87, 96, 99, 197,198,204 Hepding, H. 97 Herbart, J. F. 32,33 Herder, J. G. 16, 35, 36, 38, 39, 54, 55, 129,130,218 Hermann, C. F. 7 Hermann, G. 15 Hermann, W. F. 212 Hessen, J. 60 Heym, R. 21 Heyne, Chr. G. 16,35-39,55 Heyse, C. W. L. 32,33 Hildebrandt, H. 218 Hillebrandt, A. 18 Hiller von Gaertringen, F. 7, 73 Himmelheber, M. 185,214 Hinneberg, P. 18 Hirschfeld, O. 101 Hoff, D. von 178 Höffe, O. 217,218 Hoffmann, D. M. 195 Hölderlin, F. 195,201,213

242

Personenregister

Hölscher, T. 77 Holzhey, H. 56,60 Homer 101, 141, 152, 154,190 Honneth, A. 194 Hoogewerff, G. J. 168, 171 Hopfner, Th. 114 Horaz 101 Horkheimer, M. 55, 193, 194 Horstmann, A. 12, 15, 36,42, 55 Horton, R. 120,215 Hösle, V. 29-31 Howald, E. 15 Hübinger, P. E. 94, 145 Hübner, R. 94 Humboldt, W. von 16, 21, 32, 34, 35,38, 201,202,210 Hume, D. 55 Husserl, E. 213 Jaeger, W. 199 Jaeschke, W. 56 Jahn, O. 7, 8, 100 Jahnsen, F. 165, 172 Jamme, Chr. 19, 21, 37, 48, 54-56, 86 Janitschek, H. 160, 161, 174, 176 Janz, C. P. 101 Jaskiewics, W. C. 75 Jaspers, K. 211,220 Jens, I. 191 Jensen, A. 192 Jeimann, Chr. 29 Joas, H. 218 Jospe, A. 60 Jung, C.G. 98,172 Jung, L. 98 Jünger, F. G. 185,214 Justi, C. 160,174,176 Justi, F. 82 Kaegi, D. 60 Kaempfert, M. 196 Kahn, W. 153 Kaibel, G. 88,89 Kanne, J. A. 20 Kant, I. 29 Kantorowicz, E. 191, 193, 194

Kany, R. 1, 12-14, 20, 29-31, 60, 63, 75, 78, 83, 85, 91, 93, 155, 161-163, 169,182 Karl V. 156 Kayser, K. L. 7 Kekulé von Stradonitz, R. 160 Kenyon, F. G. 100,101 Kerényi, Κ. 190, 192-194, 197, 198, 208, 210 Kern, O. 72 Kessler, Η. Graf 8 Kippenberg, H. G. 17,37,39-41,48, 51,120, 134,215 Kirn, P. 145 Klages, L. 5,191 Klibansky, R. 64 Klingner, K. 199 Klopstock, F. G. 166 Klotz, A. 190,191,194 Kluke, P. 191 Knoppe, Th. 60 Knüfer, C. 35 Koch, C. 193 Kohl, Κ. H. 17,38,40,87,120 Köhnken, A. 20,85 Kommerell, M. 191,193,194 Körte, A. 8 Kraus, W. 131 Kreimendahl, L. 55 Kretschmer, P. 43 Krohn, H. 165, 171 Kroker, E. 157 Kroll, W. 100 Kuhn, A. 16, 17, 26-28 Kullmann, W. 20 Kunz, H. 191 Küppers, W. 90 Kutzner, F. 196 Lactanz 70 Lafitau, J.-F. 38,40,87 Lamprecht, K. 160, 161, 176 Lanczkowski, G. 87 Landfester, M. 12,29, 71, 74 Lang, A. 18,87,190,205 Lasicki, J. 75 Laubscher, M. 55

Personenregister Lazarus, M. 32, 33 Leemans, C. 100,123 Leeuw, G. van der 14 Leibniz,G.W. 34,35 Leitzmann, A. 16, 34 Lennep, D. 20 Lenormant, F. 96 Lesky, A. 131,140,145 Lessing, G. E. 166 Lévi-Strauss, C. 1,141 Liebeschütz, H. 171 Liebrecht, F. 56 Liebrucks, B. 26,31 Lietzmann, H. 9, 10, 92 Lindken, Th. 8,79 Lipps, Th. 160 Lobeck, Chr. A. 15,200 Lossau, M. 192 Löwe, A. 193 Löwith, K. 212 Luchesi, B. 120,134,215 Lüdemann, G. 3,200 Luther, M. 156,157 Lüthi, M. 137,153 Mach, D. 206 Macho, Th. 13 Maikuma, Y. 161,176 Malten, L. 133 Manilius 181 Mann, Th. 198 Mannhardt, W. 36, 37, 39, 41, 58, 68, 107, 110, 112, 174, 191, 205 Mannheim, K. 193 Marcuse, H. 194 Marquard, O. 55 McGinty, R. 198 Meier, H.G. 107 Meineke, A. 122 Melanchthon, Ph. 156 Mendelssohn-Bartholdy, Α. 165 Mennicke, C. 193 Menninghaus, W. 141,142 Merentites, Κ. I. 187 Merkelbach, R. 74, 186,189, 190

243

Mette, H. J. 1, 7, 9, 59, 72, 85, 90, 97 Meyer, A. 165 Meyer, E. 55 Meyer, H. 42 Michelet, J. 31 Mili, J. St. 11,159 Minucius Felix 70 Misch, C. 11 Mitscherlich, A. 118 Molendijk, A. L. 40 Möller, L. L. 167, 175 Momigliano, A. 1, 7, 8, 11, 12, 31, 56, 162 Mommsen, Th. 146 Montinari, M. 9,195 Most, G.W. 35,212,217 Müller, F. M. 16-21, 23-29, 48, 51, 55, 62, 76, 86, 87, 94, 110, 191 Müller, K. O. 20, 21, 27, 35-37, 99, 115, 116, 123,126,202 Murray, G. 84 Naber, C. 64,174 Nägelsbach, C. F. 196 Natorp, P. 9,60 Nauck, A. 142 Naumann, B. 61,62 Nerée, D. von 192 Neske, G. 211 Nestle, W. 38 Neubauer, H.-J. 32 Neuhausen, K. A. 186 Neumann, M. 59 Niederst, A. 38 Niemeier, J. 51 Nietzsche, F. 5, 9, 99, 101, 134, 186, 187, 191, 195-197, 204, 211, 214,218,221 Nilsson, M. P. 199,203 Nohl, H. 217 Norden, E. 8, 85, 91, 161 Oehler, K. 12,42 Oexle, G. 165,189 O'Flaherty, J. C. 204

244

Personenregister

Olbrich, H. 172 Oldenberg, H. 18 Orth, E.W. 60 Otto, R. 212 Otto, W. F. 3, 5, 8, 14, 49, 74, 75, 99, 117, 126, 132-135, 145, 185-218, 220-225 Overbeck, F. 196 Ovid 183, 184 Paetzold, H. 60,64 Pannenberg, W. 38 Panofsky, Ε. 166-169, 171, 175 Papanikolaou, A. D. 24 Parthey, G. 100 Patzig, H. 37 Paul, J. 158 Paulin R. 107,178 Paulsen, F. 74, 102 Pedersen, H. 16 Pels, P. 40 Penniman, K. 40 Pfeiffer, R. 161 Pfister, F. 97,133 Pflug, G. 20 Pictorius, G. 37 Pittrof, Th. 91 Plutarch 58 Pochât, G. 15 Polizian 183,184 Pongratz, L. J. 31 Porrée, G. de la 9 Poske, F. 39,205 Pott, A. 16,22 Preisendanz, K. 96-98, 100, 102, 122, 123 Preuss,K. Th. 215 Propp, V. 137, 141 Prutz, R. 32 Radermacher, L. 3, 4, 8, 9, 82, 93, 95, 106, 126, 128-154, 159, 221 Radnóti, S. 165,166 Ranke, L. von 71 Raulff, U. 32,163, 172, 175, 184 Rauschnig, D. 192

Regenbogen, O. 161 Rehm, W. 194, 196, 199, 201, 202, 208 Reibnitz, B. von 1, 171, 186, 187, 196, 199,204 Reinhardt, K. 14, 191,193, 199 Reitzenstein, R. 3,161,200 Reuvens, C. J. Chr. 100, 123 Riedel, W. 9 1 , 1 0 7 , 1 1 2 , 1 1 4 , 1 1 8 , 178 Riezler, K. 191 Rippel, Ph. 37 Ritsehl, F. 7,8,78 Ritter, J. 107 Robert, C. 8 Rodi, F. 11,42 Roeck, B. 160, 162,165, 172 Rohde, E. 72, 73, 99-101, 126, 191, 197, 202 Röhrich, L. 138, 153 Roscher, W. H. 91 Rose, H. J. 187,199 Roser, A. 35 Roth, D. 153 Rothacker, E. 12,15,71,83 Rothe, C. 152 Rousseau, J. J. 40, 54 Roux, G. 147 Rudolph, E. 60 Rudolph, Κ. 125 Rüpke, J. 1,187 Rüsen, J. 94 Sachs, W. 37 Saner, H. 211,220 Sassi, M. M. 12, 162 Saxl, F. 60,165,166,174,175 Schade, S. 178 Schadewaldt, W. 199 Schaeder, H. H. 161 Schaeffler, R. 60 Schäffiier, W. 13 Scheffler, R. 60 Schellewald, B. 172 Schelling, K. F. A. 36 Schelling, F. W. J. 17, 35, 36, 48, 86, 195

Personenregister

Scherer, W. 83 Schiel, J. 11, 159 Schildt, J. 34 Schiller, F. 166,201 Schilm, P. 51 Schlechtste. 211 Schlegel, A. W. 3 8 , 1 4 0 , 2 0 1 Schlegel, F. 1 5 , 3 8 , 4 8 , 2 0 0 Schleier, H. 6 0 , 1 7 6 Schleiermacher, F. 56, 140 Schlesier, R. 3, 20, 37, 38, 55, 83, 84, 86, 90, 99, 102, 107, 112, 116, 133, 190, 193, 194, 196, 198, 202, 205 Schmalzried, E. 197,222 Schmid, W. 185,186 Schmidt, P. 167,168 Schmidt, W. 9 , 8 7 Schmidt-Biggemann, W. 54 Schmitter, P. 34 Schneider, B. 42 Schneider, F. 34 Schneidewin, F. W. 7 Schoell-Glass, Ch. 167, 171, 172, 178, 179 Schröder, C. M. 133 Schröder, M. 3 Schröter, M. 3 5 , 3 6 Schuler, A. 191 Schulten, H. 35 Schuster, G. 8 Schwabe, L. 185 Schwartz, E. 8 , 9 1 Schwartz, F. L. W. 18 Schwenk, Κ. 2 1 , 8 6 Seek, O. 135,136 Seidensticker, Β. 1 0 1 , 1 8 0 , 1 8 3 Sellner, T. F. 204 Seneca 101 Servius 6 7 , 7 0 Settis, S. 162,166, 167, 174 Seuffert, B. 140 Sganzini, C. 32 Silk, M . S . 196 Smith, M. 123, 124 Smith, P. 138 Smith, W. R. 8 4 , 1 9 6 , 2 0 5

245

Sophokles 139, 152 Spencer, H. 4 0 , 1 9 0 Spengel, L. 7 Spengel, J. W. 3 9 , 2 0 5 Spengler, O. 94,191 Sprengel, F. 49 Stavni, A. 1 8 5 , 1 9 2 , 1 9 5 , 1 9 8 , 2 1 1 Steinthal, H. 31-33, 54, 107, 175 Stern, J. P. 196 Stockhausen, T. von 165,166 Strabon 88f. Straßner, E. 140 Suphan, Β. 55 Tambiah, S. J. 120,134, 215 Tertullian 70 Theiler, W. 192 Theokrit 101 Thorns, W . J . 106 Tillich, P. 193 Tournemine, R. J. 54 Trabant, J. 1 6 , 3 1 , 3 4 , 3 5 , 5 4 Trunz, E. 208 Tylor, Ε. B. 39-41, 51, 68, 108, 112, 174, 190, 191,205 Uhlig, L. 201 Usener, C. 89 Usener, H. 1-5, 7-13, 16, 18, 21-31, 33-35, 37-39, 41-95, 97-101, 103, 105, 107-114, 117, 119, 126, 127, 131-136, 138, 142146, 150, 151, 155, 158-163, 170, 174-178, 180-189, 195, 196, 203-205, 207-210, 221225 Vajda, L. 40 Varrò 7 0 , 7 4 , 2 2 0 Verbeek, J. 6 0 , 6 3 Versnel, H. S. 128 Vico, G. Β. 2 9 - 3 1 , 3 3 , 3 5 , 3 8 , 5 5 , 9 2 Viehmann, D. 49 Vierkandt, A. 3 3 , 8 6 Vietta, S. 217 Vignoli, T. 41 Vischer, F. Th. 6 4 , 1 1 8 , 1 7 7

246

Personenregister

Vischer, R. 64,118,177 Vöhler, M. 35,101,180,183 Völcker, K. H. W. 28 Voß, J. H. 15,200 Vossius, G. 37 Waitz, Th. 108 Waldner, K. 83 Warburg, A. 3-5, 8, 13, 14, 32, 39, 55, 59, 64, 65, 79, 93, 99, 118, 128, 133, 155-184, 221 Warburg, E. Warburg, M. 165, 166 Warburg, P. 22 Warburg-Spinelli, I. 172 Warnke, M. 164,182 Weber, L. F. 140 Weber, M. 51-53,76 Weigel, S. 13,165,166,175 Weil, F. 194 Weinreich, O. 97, 102, 133 Weischedel, W. 29 Weisse, Chr. H. 55,56 Welcker, F. G. 7, 20, 21, 28, 38, 69, 80, 85-87, 89 Wellmer, A. 194 Wenger, L. 56 Wesseling, K.-G. 131

Wessels, A. 166 Wessely, C. 100,115 White, H. 130 Widdowson, J. D. A. 139 Widengren, G. 128 Wieland, R. 35 Wiese, B. von 140 Wiggershaus, R. 120,215 Wilamowitz-Moellendorff, U. von 1, 7, 8, 49, 59, 71-75, 78, 84, 97, 99, 102, 161, 197, 207 Wilhelm II. 193 Winch, P. 120,215 Winckelmann, J. J. 181, 195, 196, 199,201 Wind, E. 167,178 Wissowa, G. 74,75 Wolf, F. A. 91 Wolfskehl, K. 191 Wulf, Chr. 37 Wundt, W. 33, 141 Wünsch, R. 2, 32, 97, 133 Wuttke, D. 13, 118, 155, 159, 161, 164, 166-168 Ziegler, K. 91 Zintzen, C. 186 Zoëga, G. 20,37,38