Literatur und Musik im Künstevergleich: Empirische und hermeneutische Methoden 9783110630756, 9783110627886

The relationship between literature and music, whether in song, opera, or in a formal perspective, is intermedial. The s

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Literatur und Musik im Künstevergleich: Empirische und hermeneutische Methoden
 9783110630756, 9783110627886

Table of contents :
Vorbemerkung
Inhaltsverzeichnis
Einleitung – Modellbildung und Methoden des Künstevergleichs: Literatur und Musik
Klang und Emotionsperzeption in Gedichten: Drei empirische Beispielstudien
Melodie
Empirische Zugänge zur Erforschung sprachlicher Rhythmen in der Literatur
„Oh, God said to Abraham, Kill me a son“: Macht Musik Dylans Texte poetisch?
Musik – Theorie: Probleme und Qualitäten eines intermedialen Verhältnisses
Jean-Philippe Rameaus Hippolyte et Aricie: Musikdramatisches Arrangement und kollektive Verflechtung in der tragédie lyrique
Opernphantasien: E.T.A. Hoffmann, Dichter und Komponist
Zu hell? Zu glatt? Heines „Neue Liebe“ in der Vertonung von Felix Mendelssohn Bartholdy
Hoffmanns Erzählungen erzählen oder: Oper als Erzählung
Papier-Musik: Über Musiker und Musikalisches in Lothar Meggendorfers Bildern und Büchern
Auf der Suche nach einer neuen Tonalität beziehungsweise Schreibweise: Arnold Schönberg und James Joyce
Parsifal in Witebsk
Angaben zu den Autorinnen und Autoren
Index

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Literatur und Musik im Künstevergleich

spectrum Literaturwissenschaft/ spectrum Literature

Komparatistische Studien/Comparative Studies Herausgegeben von/Edited by Moritz Baßler, Werner Frick, Monika Schmitz-Emans Wissenschaftlicher Beirat / Editorial Board Sam-Huan Ahn, Peter-André Alt, Aleida Assmann, Francis Claudon, Marcus Deufert, Wolfgang Matzat, Fritz Paul, Terence James Reed, Herta Schmid, Simone Winko, Bernhard Zimmermann, Theodore Ziolkowski

Band 63

Literatur und Musik im Künstevergleich Empirische und hermeneutische Methoden Herausgegeben von Pascal Nicklas

ISBN 978-3-11-062788-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-063075-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062858-6 ISSN 1860-210X Library of Congress Control Number: 2019938388 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorbemerkung Dieser Band ist Angelika Hoffmann-Maxis gewidmet, die nicht nur unter ihrem nom de plume ‚Corbineau-Hoffmann‘ Wichtiges zur Erforschung des Verhältnisses von Literatur und Musik und noch viel mehr zur Komparatistik überhaupt beigetragen hat. Entstanden ist dieser Band zum Teil im Jahr 2018 während der Zeit des Herausgebers als Fellow des Institute of Advanced Study der Durham University, dem der Herausgeber für die Unterstützung sehr dankbar ist. Finanziell gefördert wurde die Drucklegung des Bandes durch das Institut für Mikroskopische Anatomie und Neurobiologie der Universitätsmedizin Mainz, das dem Herausgeber seit vielen Jahren beste Bedingungen für wahrhaft interdisziplinäre und empirische Arbeit bietet. Dank für die Unterstützung bei der Drucklegung des Bandes gilt Tim Domke. Pascal Nicklas Mainz, im März 2019

https://doi.org/10.1515/9783110630756-201

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung

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Pascal Nicklas Einleitung – Modellbildung und Methoden des Künstevergleichs: Literatur und Musik 1 Maria Kraxenberger Klang und Emotionsperzeption in Gedichten: Drei empirische Beispielstudien 17 Mathias Scharinger Melodie 35 Christine A. Knoop Empirische Zugänge zur Erforschung sprachlicher Rhythmen in der Literatur 58 Pascal Nicklas, Tim Domke und Arthur M. Jacobs „Oh, God said to Abraham, Kill me a son“: Macht Musik Dylans Texte poetisch? 77 Andreas Käuser Musik – Theorie: Probleme und Qualitäten eines intermedialen Verhältnisses 105 Linda Simonis Jean-Philippe Rameaus Hippolyte et Aricie: Musikdramatisches Arrangement und kollektive Verflechtung in der tragédie lyrique Edgar Pankow Opernphantasien: E.T.A. Hoffmann, Dichter und Komponist Friederike Wissmann Zu hell? Zu glatt? Heines „Neue Liebe“ in der Vertonung von Felix Mendelssohn Bartholdy 163

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VIII

Inhaltsverzeichnis

Nicola Gess Hoffmanns Erzählungen erzählen oder: Oper als Erzählung

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Monika Schmitz-Emans Papier-Musik: Über Musiker und Musikalisches in Lothar Meggendorfers Bildern und Büchern 197 Norbert Bachleitner Auf der Suche nach einer neuen Tonalität beziehungsweise Schreibweise: Arnold Schönberg und James Joyce 209 Jan Völker Parsifal in Witebsk

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Angaben zu den Autorinnen und Autoren Index

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Pascal Nicklas

Einleitung – Modellbildung und Methoden des Künstevergleichs: Literatur und Musik 1 Literatur und Musik: Die Sinne und die Wahrnehmung Literatur und Musik haben eine lange geteilte kulturelle und ästhetische Geschichte und sind in der physiologischen Wahrnehmungstruktur und neuronalen Signalverarbeitung des Menschen engstens verbunden. Die wie auch immer gelagerte Bestimmung dessen, was Literatur ist, bezieht sich zwar auf die Buchstäblichkeit des Mediums, also darauf, dass das Geschriebene Literatur ist, aber Sprache und ihre spezifisch literarischen Merkmale lassen sich in keiner Weise mit dem Geschriebenen als solchem, also dem Visuellen oder gar allein dem Objekt der visuellen Buchstabenerfassung gleichsetzen. Ursprung und Wirkung des Literarischen liegt im Auditiven: Erzählung heißt, dass da eine Stimme ist, die erzählt. Apollo war Gott der Musik und Poesie, während Homer, als blinder Sänger, den Punkt des Übergangs von oraler zu schriftlicher Tradition bildet, wobei die auditiven und visuellen Dimensionen dieser unterschiedlichen Traditionstechniken gleichwohl form-, wirkungs- und mediengeschichtlich untrennbar im Literarischen erhalten bleiben. Die optische Anordnung auf dem Papyrus, Pergament, Papier, Bildschirm, eReader oder iPad ist eine wichtige, aber keineswegs die ausschließliche oder gar eine autonome Sinndimension des literarischen Textes. Der Reim beispielsweise, der dem Alltagsverstand kardinales Kennzeichen poetischer Rede ist, lebt nur klanglich, nicht optisch, so ist auch die Ausnahme, nämlich der Sichtreim, bei dem sich die geschriebenen Buchstaben reimen, aber nicht die Aussprache, nur ein dürres Abbild des Reims. Bei erzählerischer Prosa ist in der Regel die Anordnung auf der Seite so gleichgültig, dass im eReader oder iPad ohne Schaden die Buchstabengröße den Bedürfnissen der alternden Augen angeglichen werden kann. Das Lesen selbst ist lange Zeit vorwiegend ein lautes Lesen, dessen auditive Qualität ebenso geschätzt wird wie der kommunikative Vorteil, dass andere am Gelesenen teilhaben können. Stilles Lesen wird für Geheimnisse verwendet und ist verdächtig. Plutarch erzählt in den Moralia anekdotisch, wie Alexander zur Verwunderung seiner Soldaten still eine Botschaft der Mutter liest und dem Hephaistion, der, ihm über die Schulter schauend, mitgelesen hat, seinen Siegelring auf die Lippen drückt, um ihn zum Schweigen zu verpflichten. In den Confessiones berichtet Augustinus von der Sonderlichkeit des Ambrosius, der https://doi.org/10.1515/9783110630756-001

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Pascal Nicklas

immer nur still liest. Heute feiert das Hörbuch in seiner digitalen Verfügbarkeit überraschenden Erfolg und greift als medienkonvergentes Phänomen quasi atavistisch auf die stammesgeschichtlich früheste Form oraler Literatur (ja, ein Widerspruch in sich!) zurück. – Literatur ist, entgegen seines aus dem Buchstäblichen herstammenden Begriffes nicht auf den Buchstaben zu reduzieren, sondern lebt als sprachliches Kunstwerk von den musikalischen Qualitäten Stimme, Klang, Rhythmus, Melodie und das nicht nur in übertragener Bedeutung.

2 Forschungstradition und Modellbildung Die Erforschung des Verhältnisses von Literatur und Musik ist traditionellerweise aus zwei Blickwinkeln erfolgt: Aus musik- und aus literaturwissenschaftlicher Sicht. Eine medienwissenschaftliche Perspektive hat keine lange Tradition und die vielversprechende Erforschung aus der Sicht empirischer Ästhetik steht erst am Anfang, auch wenn die empirische Ästhetik ihre Begründung schon im ausgehenden 19. Jahrhundert mit Fechners Vorschule der Ästhetik (1876) findet. In dem hier vorgelegten Band kommen vor allem Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler zu Worte, womit die auf Oskar Walzels wechselseitige Erhellung der Künste (1917) zurückgehende komparatistische Forschungstradition des Künstevergleichs, der Comparative Arts, der Interart Studies und die Intermedialitätsforschung als wissenschaftliche und methodologische Heimat aufgerufen werden. Systematisch ist in den Dekaden seit Mitte der achtziger Jahre das Modell von Scher prägend gewesen, wenn auch methodologisch noch immer gilt, dass es keine allgemeine oder verbindliche Methodik bei der Behandlung von Literatur und Musik gibt. Klage ist darüber, seit Wais 1936 von der „methodischen Ziellosigkeit“ (Wais 1936, 7) geschrieben hat, Legion, Besserung kaum in Sicht, wenn auch verdienstvolle Arbeiten wie das bezeichnenderweise in der Reihe der Handbücher zur kulturwissenschaftlichen (!) Philologie von Nicola Gess und Alexander Honold unter Mitarbeit von Sina Dellʼ Anno herausgegebene Handbuch Literatur und Musik oder das von Gabriele Rippl edierte Handbook of Intermediality einen gewissen Überblick verschaffen. Schers Typologie war lange Zeit methodologisch vorherrschend hinsichtlich des im Zentrum seines Modells stehenden musikliterarischen Studiums (vgl. auch Gier 1995, 69 ff.). Heutige Re-Lektüre der Einleitung und auch mancher Aufsätze des Bandes von Scher zeigt, wieviel mehr als nur Zeit vergangen ist seit der Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts und wie sich Grundlegendes verändert hat: Das sind teilweise Haltungsfragen und teilweise erkenntnistheoretische Orientierungen. So bekundete der erst vor wenigen Jahren, 2014, verstorbene Ulrich Weisstein damals seinen Horror vor einem

Einleitung – Modellbildung und Methoden

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Methodenpluralismus (Weisstein 1984, 60), der heute Standard in den Literaturwissenschaften ist. Überhaupt ist viel von „Grenzgebieten“ und „Niemandsland“ die Rede, der Kalte Krieg steckte den komparatistischen Professoren1 der Vorwendezeit ganz offenbar tief in den Knochen, und fachliche Identität wurde vor allem durch Abgrenzung gegenüber anderen Disziplinen gewonnen, wohingegen heute schier vergessen scheint, dass Interdisziplinarität auch Disziplinarität voraussetzt. Während nun komplizierte Verhältnisse der Diversität prägend sind und Identität als bestenfalls prozesshaft begriffen wird, ging es damals um Demarkierungen und Legitimitäten. MUSIK

LITERATUR

(Musikwissenschaft)

(Literaturwissenschaft)

musikliterarisches Studium

Literatur in der Musik

Programmusik

Musik und Literatur

Vokalmusik

Musik in der Literatur

Wortmusik

musikalische Form- und Strukturparallelen

„verbal music“

Abb. 1: Steven Paul Schers Modell der Beziehung von Literatur und Musik im Künstvergleich (Scher 1984, 14).

Schers Modell (Abb. 1) lässt sich bestenfalls als Teilaspekt eines für die heutige Forschung relevanten Modells verwenden. Es ist erkenntnistheoretisch problematisch und eigentlich schon 1984 veraltet: Geprägt ist Schers Modell von einer Objektbezogenheit, die literaturtheoretisch auch damals schon längst verabschiedet war (vgl. Jannidis et al. 2009). Das Verhältnis von Literatur und Musik wird weder vom Autor noch vom Rezipienten aus betrachtet, sondern vom Werk her. Dabei werden weder die Folgen des Todes des Autors noch rezeptionsästhetische Theorieentwicklungen, geschweige denn kulturwissenschaftliche 1 Im Band von Scher ist keine einzige Professorin vertreten!

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Pascal Nicklas

oder gar anthropologische Perspektiven, in die Betrachtung einbezogen, noch finden sich wie auch immer geartete zeichentheoretisch inspirierte Überlegungen oder medientheoretische Ansätze, die auch damals schon zur Verfügung gestanden hätten. Im Zentrum des Modells findet sich das Studium eines emphatisch begriffenen Werkes, das entweder mehr musikalisch oder mehr literarisch ist, wenn es nicht, wie im Lied, von beiden Künsten geprägt ist. Schon allein die Terminologie der ‚Künste‘ wird ganz unproblematisch gehandhabt, so dass die Frage, was die Literatur oder die Musik denn überhaupt sei, nicht berührt wird. Schon ein Jahr früher als der Sammelband von Scher erschien 1983 Terry Eagletons Weltbestseller Literary Theory. An Introduction, in dem Studierenden jegliche Sicherheit in solchen Fragen ausgetrieben wurde. Eagletons Buch ist einerseits Ergebnis einer damals schon länger geführten Debatte, die in die zeitweilige Vorherrschaft der Theorie in den Literaturwissenschaften (jeweils unterschiedlich stark in den Einzelphilologien und teilweise erbittert bekämpft, insbesondere im deutschsprachigen Raum) mündete, aber das Buch ist auch Teil einer Etablierung des Standards methodischen Pluralismus, der heute weniger theoriegetrieben, aber gleichwohl herrschend ist. Schers Position erscheint deswegen in doppelter Weise abgehängt: weder nimmt sie Bezug auf die theoretischen Entwicklungen seit den sechziger Jahren, noch blickt sie in eine Zukunft befreiten methodologischen ernsten Spiels. Der historische Blick auf die Theorie- und Methodenentwicklung ist hilfreich beim Verstehen der heutigen Situation, in der die Fächergrenzen und interdisziplinären Methodenmischungen ebenso wie der generelle Methodenpluralismus zu einer gewissen Unübersichtlichkeit führen. Gess und Honold ebenso wie Rippl sind im Versuch, die heutigen sich rasch ändernden Positionierungen zu kartographieren, vorbildlich und auf sie sei hier verwiesen. Auch Monika Schmitz-Emans arbeitet sich in ihrem Beitrag zum Handbuch Literatur und Musik (2017) an der Fachgeschichte ab: Sie zeigt eindringlich, in welcher Weise zwar weiterhin eine auch schon von Scher geübte Gegenstandsbeschreibung einen gewissen Nutzen hat, diese aber immer unter einem diskursiven Horizont steht, so dass der Gegenstand durch die Beschreibung ein anderer wird: Insgesamt ist der jeweils dominierende ästhetische Diskurs (bzw. das jeweils als Bezugshorizont gewählte ästhetische Paradigma) erstens entscheidend dafür, auf welchen Ebenen und unter welchen Vorzeichen Text-Musik-Bezüge wahrgenommen werden – gerade solche des Transfers und der Transformation –, zweitens aber auch dafür, was an musikalisch-literarischen Transfer- und Transformationsprozessen in einem bestimmten historisch-kulturellen Umfeld überhaupt zustande kommt. Die Theorie und ihre jeweilige Sprache inspirieren und stimulieren die künstlerische Praxis (vgl. dazu Käuser 1999). (Schmitz-Emans 2017, 136)

Einleitung – Modellbildung und Methoden

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Neben dem Aspekt, dass die Gegenstandsbeschreibung von seiner diskursiven Kontextualisierung abhängig ist, sind noch zwei weitere Gesichtspunkte für unseren Zusammenhang wichtig: Zum einen die Benutzung der auch bei SchmitzEmans zu findenden Terminologie von ‚Transformation‘ und ‚Transfer‘, zum anderen die Erweiterung des Blickwinkels durch Einbeziehung eines Modells der Adaption. Nach Auffassung des Herausgebers stellt die Theorie der Adaption (Hutcheon 2013) eine wichtige und innovative Methodologie zur Verfügung. Der ästhetische Diskurs der Adaption bedarf weiterer Betrachtung und kann sich für die Frage nach musikliterarischer Methodologie sehr fruchtbar erweisen: In dem hier vorgelegten Band erscheint die Adaption nur am Rande und so bildet der in dieser Einleitung gegebene Impuls eigentlich eher einen Ausblick in eine Zukunft, die hier nicht eingelöst wird. Die Begrifflichkeit der Transformation, die von Joachim Paech schon im Blick auf Fotografie und Film entwickelt worden war, wird besonders von Nicola Gess in ihrem Aufsatz in der Poetcia von 2010 für den von ihr abgelehnten Begriff des Medienwechsels (Rajewski 2002, 22) verwendet. Insbesondere für das Verhältnis von Literatur und Musik ist die Vorstellung eines Wechsels des Mediums nicht sonderlich hilfreich, da es so gedacht etwas geben muss, das diesen Wechsel vollzieht. Ähnlich wie vielfach bei Vorstellungen zur Adaption, die sich unbedacht auf die Analogie der ‚Verfilmung‘ beziehen, bei der der ‚Inhalt‘ eines Buches zum ‚Inhalt‘ eines Filmes wird, sind dies meistens semantische Gehalte, die mit Figuren und Handlungsverlauf zu tun haben. Da die Musik aber keine solche semantische Dimension hat, ‚verschwindet‘ der ‚Inhalt‘, wenn er vom Text in die Musik wechselt. Nicola Gess schlägt deshalb den Begriff der Transformation vor, der allerdings auch nicht ohne Tücken ist, da dann zu fragen ist, was die Übertragung der Form von einem Medium in ein anderes ist: Ähnlich wie der Begriff der Struktur ist der der Form an sich problematisch, da die Form nicht für sich allein besteht, sondern immer an bestimmte Gegenstände (Wolf 2015, 467) beziehungsweise die Materialität der Repräsentation (Ryan 2004, 2) gebunden ist. Aber besser als eine lediglich an Inhalte gebundene Vorstellung des Medienwechsels ist der Transformationsbegriff im Verbund mit der Vorstellung eines Transfers allemal. Definitorisch hält Gess fest: „[. . .] der literarische Text konstituiert sich im Bezug auf das andere Medium, indem er dieses bzw. eines seiner zentralen Charakteristika oder Verfahren übernimmt und zugleich transformiert.“ (Gess 2010, 143) Literaturwissenschaftlich bedeutet die Rekonstruktion und Interpretation dieser Transformation nicht, eine Genealogie zu erstellen, sondern einerseits zu begreifen, wie die veränderten Elemente nun als literarische charakterisiert sind und vor allem, welche Funktion sie für den literarischen Text selbst und in ihrem „fremdmedialen Bezug“ haben (vgl. ebd.). Gess

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Pascal Nicklas

unterscheidet typologisch drei Formen literarisch-musikalischer intermedialer Bezüge, wenn es um den Transfer von Literatur in Richtung Musik geht: a) Transformation des ‚Inhalts‘ von Text in Musik, b) Transformation literarischer Verfahren in Musik, c) Transformation nicht-medienspezifischer Kennzeichen der Literatur (vgl. ebd.). Diese Typologie ist natürlich nicht erschöpfend, zeigt aber die Stoßrichtung und Relevanz einer terminologischen Neubestimmung gegenüber der Begrifflichkeit des Medienwechsels.

3 Literatur und Musik: Adaptionen Hier soll nun auf einen Begriff aufmerksam gemacht werden, der in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft entweder nur sehr restriktiv für die früher ‚Verfilmung‘ genannte Verarbeitung eines literarischen Vorwurfs in einen Film benutzt wird oder grundsätzlich gemieden wird, während in der angloamerikanischen Forschung sich geradezu ein eigener Industriezweig in den vergangenen zwanzig Jahren etabliert hat – von ‚Adaption‘ oder ‚Adaptation‘ wird trotz der hohen begrifflichen Anschlussfähigkeit allzu selten im deutschsprachigen Forschungszusammenhang Gebrauch gemacht. Begriffsgeschichtlich steht das französische adapter mit dem rhetorischen aptum in Zusammenhang und verweist auf die wohl wichtigste Dimension des Adaptierens, nämlich auf das Einpassen in einen neuen medialen, kulturellen oder semantischen Zusammenhang. Die Angemessenheit bezieht sich, rhetorisch gesehen, auf alle drei ästhetischen Zuordnungsbereiche: auf den Redner (Autor, Komponist, Regisseur etc.), die Rede (das Werk) und den Zuhörer (Leser, Zuschauer, Betrachter). In jedem dieser drei Bereiche ist künstlerisches Scheitern möglich, wenn davon auch literaturwissenschaftlich oft nicht die Rede ist. Für den literarischen Kinogänger aber beispielsweise wird über dieses Scheitern ritualisiert Klage geführt: Die filmische Adaption entspricht nicht dem, was man sich bei der Lektüre vorgestellt hatte. Und nicht nur beim Konsumenten scheint die Treue zum ursprünglichen Werk eine zentrale zu erwartende Eigenschaft der Adaption zu sein, sondern lange hat diese Forderung im Rahmen des ‚fidelity‘-Diskurses die theoretische Debatte und die Taxonomien der Adaptionen (von ‚treu‘ bis ‚frei‘) beherrscht. Mit der seit Hutcheons Theory of Adaptation (2006 und 2013) noch einmal verstärkten theoretischen Reflexion der Adaptation Studies, ist die Frage der Treue weitgehend erledigt (siehe auch Leitch 2008), wenn sie auch in der Fankultur unvermindert ein zentrales Wertungskriterium bleibt (Hutcheon 2013, xxvi). Ästhetisch relevant

Einleitung – Modellbildung und Methoden

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ist aber weiterhin die Frage der Angemessenheit: plumpe Aneignungen oder Plagiate unterliegen dem Verdikt des Scheiterns ebenso wie Trittbrettfahrten, bei denen ohne ästhetischen Ehrgeiz an einen kommerziellen Erfolg angeknüpft werden soll, sei es als prequel oder sequel oder als Fanfiction. Im Zuge der Medienkonvergenz und den dadurch veränderten, heute transmedialen, Bedingungen der Adaption löscht sich das schon zuvor kritisierte binäre Verhältnis von ‚Original‘ und Adaption dahingehend aus, dass nun transmediale Präsentationen von story-worlds keinen zentralen Ursprungsort adaptiver Forsetzung haben, sondern gleichzeitig multimedial in Erscheinung treten und durch adaptive Extensionen dieser Welten im Laufe der Zeit erweitert werden (siehe auch Parody 2011 und O’Flynn in Hutcheon 2013, 195 ff.). Der Begriff der Adaption bietet sich nicht für alle Zusammenhänge von Literatur und Musik an, aber doch für eine größere Anzahl und vor allem an strategisch entscheidender Stelle: Die Vertonung eines Gedichtes im Lied gilt schon Scher als die systematisch zentrale Verbindung der beiden Schwesterkünste und hier handelt es sich um nichts anderes als eine Adaption, für deren ästhetisches Gelingen genau die Kategorie der Angemessenheit, des aptum, in Anschlag gebracht wird, um die sich rezeptionsästhetische Erwartungen ebenso wie das produktionsästhetische Ringen drehen. Wolf hebt hier insbesondere den Bezug zur modernen und gegenwärtigen Praxis hervor: The most common variant of intermedial transposition in contemporary culture does not, however, apply to elements of specific media but to entire works, in particular to their content, as happens in filmic adaptations of novels. (Wolf 2015, 462)

Wolf sieht hier die Bedeutung der produktionsästhetischen Dimension, verkürzt aber die Bedeutung des Adaptionsprozesses, wenn er meint, dass die intermediale Qualität vor allem im „space between the two works“ (ebd.) lokalisiert sei, im Entstehungsprozess, aber nicht im Produkt. Hutcheon hat, so wie es in der biologischen Auffassung der Adaption seit Darwin üblich ist, Adaption in seiner Doppeltheit als Prozess und Produkt theoretisiert. Das eine lässt sich nicht vom anderen trennen, auch wenn das gelungene Werk, also das Produkt, Eigenständigkeit hat, und auch ohne das adaptierte Werk verständlich sein muss. Doch erst, wenn eine Adaption als Adaption rezipiert wird, entfaltet sich das produktive Spannungsverhältnis, das dem Entstehungsprozess eigen ist, im Rahmen aktiver Rezeption und hier wird die komparatistische Deutung besonders relevant. Deshalb soll nun, in gebotener Kürze, ein dynamisches Modell (Abb. 2) vorgestellt werden, das die systematischen Kategorien von Scher und Wolf aufnimmt, aber in einen größeren, sowohl rezeptionsästhetisch wie produktionsästhetisch reflektierten Rahmen stellt.

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Pascal Nicklas

Gegenstandsbereich

Prozessierung

Musik Literatur in Musik Musik und Literatur Musik in Literatur Literatur

Rezeption Als Musik (als Adaption)

auditiv rhythmisch



semantisch melodisch visuell

Ästhetik Comparative Arts (als Adaption) Als Literatur (als Adaption)

Adaption Abb. 2: Dynamisches Modell des Verältnisses von Literatur und Musik im Künstevergleich.

Dieses Modell versucht keine Vollständigkeit, sondern Übersichtlichkeit zu erreichen und die Dynamik der involvierten Prozesse anschaulich zu machen. Im Gegenstandsbereich, der werkästhetisch definiert ist, werden die verschiedenen Typologien des Verhältnisses von Musik und Literatur relevant. Auch Wolfs Modell der Intermedialität nimmt die von Scher formulierten Grundbezüge auf, kann sie aber durch die intermediale Begrifflichkeit weiter auflösen und inbesondere durch die Einführung der Kategorie der Transmedialität und der transmedialen Transposition, die er unter der extracompositional intermediality subsumiert, neue typologische Charakterisierungen gewinnen. Der Vorteil der von Wolf entwickelten Intermedialitätstypologie besteht, neben der kleinteiligeren Strukturierung, in der Anwendbarkeit auch auf andere Intermedialitätsverhältnisse wie das von Bild und Literatur. Insofern ließe sich diese Typologie vielleicht im Gegenstandsbereich anstelle derer von Scher nutzen. Die hier gewählte Typologie von Scher mit ihrer bi-polaren Gegenüberstellung von Musik und Literatur nimmt dagegen eher eine Dimension der rezeptionsästhetischen Wahrnehmung auf, bei der Musik als Musik (Töne) und Literatur als Literatur (Buchstaben) wahrgenommen wird, ohne dass dabei rezeptionsästhetisch relevant ein intermedialer Bezug hergestellt würde. Auch bei Wolf findet sich eine solche Gradierung der Wahrnehmung, wenn er unter die Baumgrafik einen Keil steigender perceptibility of intermediality setzt, der musik-literarisch seinen höchsten Ablesewert beim Verhältnis von Musik und Literatur, also dem auch von Scher privilegierten Lied, hat. Hier wird die semiotische Einheit, das Lied, plurimedial (oder genauer bi-medial). Der Bereich der Prozessierung ist sowohl rezeptions- wie produktionsästhetisch zu verstehen; denn Kreativität setzt auch Bekanntschaft mit dem Gegenstand beziehungsweise der entsprechenden kulturellen Praxis voraus,

Einleitung – Modellbildung und Methoden

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so dass – gerade wenn von einer Vorherrschaft der Adaption in der menschlichen Imagination ausgegangen wird (Hutchen 2013, 177) – die physiologischen Voraussetzungen, die Wahrnehmung, der Vorgang einer kulturellen Kontextualisierung und überhaupt der ästhetischen Erfahrung nicht nur eine Rolle für den Rezipienten allgemein spielen, sondern auch wichtige Voraussetzung der Weiterverarbeitung in einem eigenen Werk sind. Dieser Bereich der Prozessierung steht in einem direkten Zusammenhang mit dem nächsten Bereich, dem der Rezeption. Beide Bereiche sind jedoch systematisch auch voneinander trennbar, denn Kunstwahrnehmung wird ebenso wie die Wirklichkeitswahrnehmung überhaupt (vgl. Schrott und Jacobs 2011) von teils gelernten, teils angeborenen Mechanismen geprägt, die einer bewussten Wahrnehmung vorgelagert und für diese in vielerlei Hinsicht bestimmend sind. Insofern sind die beiden Bereiche der Perzeption und Rezeption systematisch zu trennen und auch mit unterschiedlichen Instrumentarien zu erforschen: Der Bereich der Perzeption lässt sich eben auch mit physiologischen Mitteln, wie Pupillomerie, Eye-Tracking oder fMRT untersuchen, wobei der Zugang zu den Wahrnehmungsweisen der Musik und Literatur sozusagen am Bewusstsein vorbei erfolgt. Während beispielsweise Fragebogen-Untersuchungen immer mit der Problematik konfrontiert sind, dass Probanden sozial erwünschte Antworten eher zu geben gewillt sind als abweichende, kann zum Beispiel mit der Messung neuronaler Korrelate gezeigt werden, welche differenten Netzwerke aktiviert werden, wenn Stimuli unterschiedlich wahrgenommen werden. Dieser Hinweis soll natürlich auch als Plädoyer für eine empirische Ästhetik der Literatur und Musik verstanden werden! Im Bereich der Rezeption spielt sich das gesamte Spektrum der intentionalen und bewussten ebenso wie der produktiven Wahrnehmung und Weiterverarbeitung ab: Dies reicht von der konsumentenhaften Praxis des Opernbesuches bis zur Abfassung eines komparatistischen Aufsatzes, der Verwendung von Werken in der akademischen Lehre oder dem Drehen eines eigen Opernfilms oder Verfassen eines Romans. Die eigentliche adaptive Praxis ist jedoch mit der Vorstellung eines Artefaktes verbunden, das weniger im wissenschaftlichen oder journalistischen Bereich seinen Ort hat, sondern im Bereich des Ästhetischen. Die künstlerisch produktive Rezeption – wie zum Beispiel prototypisch Benjamin Brittens Lektüre der Kriegsgedichte von Winfried Owen und das Abfassen des War Requiems – wird ihrerseits wieder zum Gegenstand einer Perzeption und Rezeption, so dass sich in einem zweiten Zyklus die (in Klammern stehende) Wahrnehmung (eigentlich sowohl perzeptiv wie rezeptiv) des Werkes als Adaption abspielen kann. In diesem Szenario ist der Wiedholungsaspekt und die Wiedererkennung von größter ästhetischer Bedeutung. Denn die wiederholte Rezeption eines Gedichtes nun als ‚Libretto‘ oder Liedtext weckt die Erinnerung an die erste Lektüre und verbindet diese mit dem

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Musikeindruck. So kann es zu Neubewertungen des Alten kommen, die nun wiederum zurückstrahlen auf eine mögliche Re-Re-Lektüre des Gedichtes. Durch diese Verkettungen kommen zahlreiche Effekte zustande, die erst unter dem Horizont einer Theorie und Ästhetik der Adaption erkennbar werden. Die Adaption ist dabei immer Altes und Neues zugleich und ein dynamisches Verhältnis der beiden, eben Produkt und Prozess. Die von Britten komponierte Musik als Neues setzt sich in ein sie selbst konstituierendes Verhältnis zum vorhandenen Text und tritt damit in das Spiel der Ökonomie des Textes ein – als Ergänzung, Interpretation, Erweiterung und so weiter. Es ist, wie sich formelhaft ausdrücken lässt, das gleiche nochmal nur anders. Diese Produktionsästhetik ist kennzeichnend für viele, wenn auch vielleicht nicht alle Werke, in denen Musik und Literatur miteinander verbunden werden. Das Lied als Paradigma des Musik-Literarischen ist jedenfalls regelmäßig als Adaption zu erkennen. Generell muss es sich noch nicht einmal immer um die Adaption eines ganzen Werkes handeln. Von dieser Bestimmung haben sich die adaptation studies gerade in letzter Zeit verabschiedet, da nun transmedial entstehende Werke, die einen auto-adaptiven Mechanismus erkennen lassen, die Adaption von Details in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rücken. Diese ‚Mikro-Adaptionen‘ können einer Figur oder einem Attribut einer Figur, einer Wendung der Geschichte oder dem Ausstattungsdetail einer story-world gelten. Diese Mikro-Adaptionen können auch beipielsweise als ‚Zitat‘ oder ‚Anspielung‘ bezeichnet werden, aber sie gehorchen gleichwohl den ästhetischen Rahmenbedingungen einer Anagnorisis wie sie sich am besten im Rahmen einer Theorie der Adaption beschreiben und erklären lassen. – Das hier vorgeführte Modell ist mehr Arbeitsauftrag denn schon dessen Erfüllung und soll insofern als ein Versuch verstanden werden, einen neuen Impuls im Rahmen der in diesem Band vorgestellten und diskutierten methodischen Ansätze zu geben.

4 Zusammenfassung der Beiträge Im Zentrum aller Beiträge dieses Bandes steht die Frage nach der Methode des – altertümlich gesprochen – Künstevergleichs: An einer Fülle von Beispielen wird weniger die Typologie der möglichen Verhältnisse von Literatur und Musik im Sinne Schers, Giers oder Wolfs diskutiert, sondern die Methode der Behandlung dieser verschiedenen Verhältnisse. Dabei spielt bei der Wahl der Methode auch die Natur des jeweiligen Verhältnisses eine Rolle. Methode steht nicht monolithisch, sondern immer in einem die Wahl der jeweiligen Methode begründenden Verhältnis zu ihrem Gegenstand. Dies scheint dem

Einleitung – Modellbildung und Methoden

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Herausgeber dieses Bandes einer der stärksten Punkte des herrschenden Methodenpluralismus zu sein: Es kann nicht mit jeder Methode alles erklärt werden, sondern es besteht ein dynamisches Verhältnis zwischen Gegenstand, Methode und Erkenntnis und so lassen sich keine kategorialen Demarkierungen in die Forschungslandschaft einzeichnen. Dies entspricht auch dem – häufiger geforderten als eingelösten – interdisziplinären Vorgehen, das moderne akademische Erkenntnisprozesse charakterisiert. Deshalb ist es auch nur folgerichtig, dass die seit neuerem wieder stärker beachteten empirischen Methoden der Literatur- und Musikwissenschaft oder allgemeiner gesagt, die Methoden der empirischen Ästhetik hier ein Forum finden. Nach den wichtigen Öffnungen durch Konzepte der Intermedialität und Transmedialität, scheinen nun die innovativsten Impulse aus diesem Bereich zu kommen. Die erste Gruppe der hier versammelten Beiträge sind diesem Innovationsschub, der durch die empirische Ästhetik in die Literaturwissenschaften kommt, verpflichtet. Auch wenn hier nicht alle Aspekte versammelt werden konnten, so sind die Aufsätze von Maria Kraxenberger, Christine Knoop und Mathias Scharinger zu Klang, Rhythmus und Melodie ebenso wie die gemeinsame Arbeit von Pascal Nicklas, Tim Domke und Arthur M. Jacobs zur Literarizität der Songtexte von Bob Dylan doch repräsentativ für die neueren Bemühungen, dem Verhältnis von Literatur und Musik empirisch und experimentell auf die Spur zu kommen. Der Klang der Sprache ist eine Dimension der Literatur, die erst im gesprochenen Text zur Geltung kommt. Der papierne Text klingt genauso wenig wie die Notationen der Partitur, wenn auch das stille Lesen immer eine Aktivierung der Artikulationsorgane mit sich bringt. Dem Klang der Literatur und hier besonders der Lyrik eignet ebenso wie der Musik immer eine Dimension der Performanz, bei der es auch nicht unerheblich ist, wer dem Text Stimme verleiht. Gleichzeitig wendet sich diese Dimension der Performanz wiederum produktionsästhetisch, indem der Lyriker in der Schriftlichkeit auf die Klanglichkeit rekurriert. Maria Kraxenberger widmet sich in ihrem Beitrag der besonderen Verbindung von Klang und emotionaler Wirkung der Texte. Der Klang wird erzeugt durch die musikalischen Elemente des Textes, die grundlegend für die Erzeugung der ‚wahrnehmbaren Klanggestalt‘ der Texte sind. Kraxenberger stellt in ihrem Beitrag drei Experimente vor und diskutiert die Möglichkeiten und Begrenzungen empirischer Untersuchungen literarischer Phänomene. Die Melodie, die ein wichtiges Element bei der Erzeugung des Klangs in der Musik, aber auch in der Sprache, ist, besteht aus der zeitlichen Abfolge von Tönen in der Musik und der Veränderung der Stimmhöhe beim Sprechen. Sie lässt sich ebenso wie der Rhythmus als isoliertes Klangphänomen nicht nur beschreiben, sondern auch quantifiziert erfassen. Mathias Scharinger zeigt in seinem Beitrag sowohl die Methoden der quantitativen Analysen als auch die neuronale

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Prozessierung der Melodie und die Lokalisation der für die Wahrnehmung der Melodie zuständigen Hirnregionen. Solche Forschung gibt Aufschluss über die physiologischen Grundlagen der Melodiewahrnehmung und über ihre Bedeutung bei der emotionalen Wirkung von Literatur und Musik, zugleich zeigt sich aber auch, dass solche Erkenntnisse nicht möglich sind ohne eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Linguistik, Literatur- und Musikwissenschaft, die sich gemeinsam einer neurologisch-radiologischen Methodik zur Messung der neuronalen Aktivität durch EEG und fMRT bedienen. Ein weiteres Element des sprachlichen Klangs ist der Rhythmus, der jedoch als geradezu ubiquitäres Phänomen gelten kann: von Rhythmus ist die Rede, wenn bestimmte, als solche zu identifizierende Merkmale oder Teile eines Ganzen immer wieder in gleicher Weise zeitlich auftreten. So bilden das Ein- und Ausatmen einen Rhythmus oder Helligkeit und Dunkelheit im Ablauf von Tag und Nacht. Bei den Ähnlichkeiten von Musik und Literatur spielt der Rhythmus eine besondere Rolle, da hier offenbar, wie schon Schrott und Jacobs 2011 gezeigt haben, in der literarischen wie in der musikalischen Rhythmusrezeption die Informationsübermittlung hinter die emotionale Stimmungsregulation zurücktritt. Christine Knoop zeigt in ihrem Beitrag die entsprechenden Forschungsstrategien und -desireate ebenso wie sie die sich hier emprisch eröffnenden Erkenntnisperspektiven diskutiert. Die Verleihung des Literaturnobelpreises 2016 für Bob Dylans Songtexte hat die zuvor schon lange im Raume stehende Frage nach der Literarizität von Dylan-Texten noch einmal in schärferer Form gestellt: Taugen die Texte etwas auch ohne die Musik? Oder vielleicht noch präziser: ohne die Stimme von Dylan? Dieser Frage gehen Pascal Nicklas, Tim Domke und Arthur M. Jacobs nach, indem sie die Frage als solche diskutieren, die Metaphorizität von ausgewählten Liedern Dylans analysieren und eine empirische Befragung als Vorstudie einer weiterführenden empirischen Untersuchung durchgehführt haben und von den Ergebnissen berichten. Ein in der künstevergleichenden Forschung von Literatur und Musik eher seltener, aber gleichwohl zu grundlegenden Erkenntnissen führender Ansatz ist die kritische Reflexion des Diskurses zur Musik. Hier wird metatheoretisch nachgedacht über die Bedingungen und Widersprüche der Art und Weise, wie sich über Musik geäußert wird. Der Beitrag von Andreas Käuser stellt insofern einen Übergang von den empirischen Arbeiten zu den folgenden chronologisch nach den Untersuchungsgegenständen geordneten Aufsätzen dar, indem hier das Verhältnis von Musik und Theorie – auch über den rein universitären Diskurs hinaus – in seiner Widersprüchlichkeit historisch betrachtet und die Musik als Ursprung verschiedenster reflektierender

Einleitung – Modellbildung und Methoden

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Literaturformen anhand von begrifflichen Gegenüberstellungen in den Fokus gerückt wird. Linda Simonis wählt Rameaus Hippolyte et Aricie als Beispiel für ihre medienwissenschaftlich inspirierte Betrachtung der visuellen Dimension der Oper. Das Visuelle wird dabei zum intermedialen Konvergenzpunkt des Musikalischen und Literarischen. Die medienanalytische Perspektive kann dabei vor allem zu Tage bringen, dass in dieser Oper nicht intentionales Handeln von Akteuren zur Schau gestellt wird, sondern vielmehr das Kollektiv zum Agenten wird: Hierin spiegelt sich die kollektive Praxis der musiktheatralen Aufführungspraxis wider. Die Doppel- oder Mehrfachbegabung von E.T.A. Hoffmann ist an sich schon ein komparatistischer Untersuchungsgegenstand, der von Edgar Pankow jedoch nicht als biographisches Detail behandelt wird – und sei das Thema historisch oder psychologisch auch noch so interessant. Pankow arbeitet stattdessen die komplexen Widesprüche heraus, die sich am Beispiel von Hoffmanns romantischer Zuspitzung des Verhältnisses von Musik und Literatur zeigen. Sah Hoffmann sich selbst auch zuerst als Komponist, so ist doch rezeptionsgeschichtlich der Autor weit bedeutsamer. Das Selbstbild Hoffmanns steht in engstem Zusammenhang mit seiner Musiktheorie, die das Musikalische weit höher einstuft als die Literatur. Während die Musik sich reflexionslos dem Erhabenen, dem Unendlichen anzunähern vermag, bleibt die Dichtung bestensfalls Stichwortgeber. Die Instrumentalmusik ist für E.T.A. Hoffmann die romantischste aller Künste und doch sah er seine Oper Undine als das wichtigste seiner Werke an; die Vereinigung der Musik und der Literatur muss nach Hoffmann immer zu Ungusten der sprachlichen Reflexion verlaufen und ein synästhetisches Gesamtkunstwerk bilden, bei dem sich die Künste hin zur Musik entgrenzen. Die Oper erträumt sich Hoffmann damit als absolutes Ereignis. Gleichwohl aber blieben seine eigenen Kompositionen konventionell und boten weiteren musikalischen Innovationen keinen Ansatzpunkt. Stattdessen aber wählte beispielsweise (wie der Beitrag von Nicola Gess zeigt) Offenbach die Erzählungen Hoffmanns als Inspirationsquelle der eigenen musikalischen Schöpfung. Ein Gegenmodell zu E.T.A. Hoffmanns radikaler Privilegisierung der Musik gegenüber der Dichtung im Sinne von Salieris „Prima la musica“ bilden die musik- und literaturtheoretischen Implikationen des Liedschaffens von Mendelssohn Bartholdy. Friederike Wissmanns Beitrag nimmt eine musikwissenschaftliche Perspektive ein und versucht die etablierte Forschungstradition und Bewertung der Lieder Mendelssohns mit einem transmedialen Ansatz zu brechen. Mit ihrer Analyse der präzise die prosodischen Merkmale der Dichtung musikalisierenden Lieder tritt Wissmann einer traditionell Mendelssohn Batholdy kritisch gegenüberstehenden Musikwissenschaft entgegen. Warf man ihm einst vor, eindimensional zu sein, ist er heute allzu ‚hell‘. Eine transmediale Deutung

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kann dagegen herausarbeiten, dass es Mendelssohn – im Kontrast nicht nur zu Hoffmann, sondern auch zu Schumann – um eine Interpretation der Lyrik, um ein ‚Herauslesen‘ von deren Gehalt, und nicht um die Behauptung eines hierarchischen Verhältnisses geht. Methodisch bedeutet die transmediale Interpretation der Lieder damit auch eine Abwendung von der herrschenden Abwertung von Mendelssohns Liedschaffen und den damit implizierten methodologischen Vorgaben. Erst in neuester Zeit haben sich musikwissenschaftliche Stimmen zu Wort gemeldet, die eine solche Neubewertung vorschlagen. Am Beispiel der Heine-Vertonungen entwickelt Wissmann eine Herangehensweise, die die Lieder in ihrer diskursiven und kulturellen Einbettung versteht. Eine besondere narratologische Methode stellt Nicola Gess vor, indem sie Offenbachs Oper Les Contes d’Hoffmann (UA 1851) daraufhin untersucht, wie der musikalische Part der Oper eine erzählerische Funktion erfüllt. Anders als das Drama verfügt die Oper über eine weitere Ebene der Erzählung, indem Libretto und Musik als zwei disparate Instanzen begriffen werden. Das Libretto verliert als Verarbeitung der Hoffmannschen Erzählungen deren Erzählstimmen. Diese kehren erst über die Musik wieder ins Werk zurück, was in einer narratologischen Betrachtung rekonstruiert werden kann. In der von Gess in Anschlag gebrachten narratologischen Begrifflichkeit lässt sich so die komplexe Erzählstruktur der Oper entwickeln, die der ursprünglichen Erzählstruktur der Texte entspricht und genauso wie die Erzählungen Hoffmanns eine phantastische Perspektivierung erzeugt. Mit der Präsentation von Lothar Meggendorfers innovativen Buchkunstwerken aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich als Proto-Comics verstehen lassen, zeigt Monika Schmitz-Emans ein selten erforschtes Randgebiet der Intermedialität. Unter den vielen von Meggendorfer in seinen Papierkunstwerken bearbeiteten Themen spielt die Musik eine besondere Rolle zumal er selbst als Künstler und Lehrer eine große Affinität zur Musik hatte. Es handelt sich dabei zum einen um eine visualisierte Musik, zum anderen um die Möglichkeit für den Betrachter die leise raschelnden Bücher wie ein Instrument selbst zu spielen. So wie die Buchkunstwerke eine Existenz zwischen Malerei, Buchhandwerk beziehungsweise Buchkunst, Bastelarbeiten und Literatur führen, ist auch die historische, mediale wie hermeneutische Beschäftigung mit den Werken zwischen den akademischen Disziplinen angesiedelt. Es geht um Musik und um Literatur, um Noten, Bilder und Texte, aber auch die materiale Erscheinung und Nutzungmöglichkeiten der Werke, so dass ein methodenpluralistisches Verfahren, das auch der dichten Beschreibung bedarf, vom Gegenstand gefordert wird. Ungeschulten oder unvorbereiteten Hörerinnen und Hörern sind die Werke von Schönberg ab 1921 ebenso schwer begreiflich oder gar unangenehm wie Leserinnen und Lesern die späten Werke von James Joyce. Die

Einleitung – Modellbildung und Methoden

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Innovationsbemühungen der Gipfelwerke des Modernismus haben sich nicht in der Breite durchgesetzt. Bemerkenswert aber ist, wie historisch synchron in Musik und Literatur diese grenzwertigen Werke geschaffen wurden. Norbert Bachleitner versucht diesem Phänomen in Ermangelung von genetischen Einflüssen mit einem Verfahren der Analogiebildung auf die Spur zu kommen: Inwiefern gleichen sich Sprache und Musik, dass sie in so ähnlicher Weise von jeweils Schönberg und Joyce in einem Versuch der Erweiterung und des Ausmessens des Gestaltungsraumes erforscht wurden? Die Verfahren der beiden Künstler gleichen sich darin, so Bachleitner, dass sie die Oberfläche (den signifiant), in den Vordergrund rücken. Dadurch wird interessanterweise die Ausdrucksmöglichkeit des Künstlers allerdings eher beschnitten als erweitert, da so das Verfahren selbst zum eigentlichen Gegenstand der künstlerischen Äußerung wird. Philosophie als Methode herauszufinden, welche Fragen sich uns stellen, kann ein Weg sein, zu bestimmen, was große Kunst ist und in welchem Verhältnis wir heute zur großen Kunst stehen. Jan Völker entwickelt an Alain Badious Schrift zum ‚Fall Wagner‘ die Frage nach der Zeremonie im Parsifal. Dabei spielen die Kategorien der Reinheit, Einheit und Größe entscheidende Rollen. Völker verfolgt diese Begrifflichkeiten in Badious Schrift und stellt Zusammenhänge zu Brechts Massnahme und Müllers als Antwort auf Brechts Stück geschriebenes Drama Mauser her: In jeweils unterschiedlicher Weise wird hier die Frage nach der Zeremonie ignoriert oder gestellt. Für Badiou jedenfalls aber bleibt der Parsifal ein Appell zur Einmischung, die neuen Zeremonien zu gestalten. Das Spektrum der hier vorgstellten und reflektierten Methoden ist im heutigen Umfeld des Methodenpluralismus nur ein kleiner Ausschnitt, zeigt aber die Richtigkeit der Einsicht, dass die jeweiligen Fragestellungen zu Literatur und Musik ihrer jeweils angemessenen Methodik bedürfen und es nicht die eine richtige Methode gibt: Die traditionsreiche Klage über diese alte Unübersichtlichkeit erscheint in diesem Lichte als wenig zielführend. Die Komparatistik als besondere Disziplin des Vergleiches aber scheint in vielen Fällen die richtige Perspektivierung zu ermöglichen.

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Klang und Emotionsperzeption in Gedichten: Drei empirische Beispielstudien 1 Einleitung Die literarische Gattung der Lyrik stellt eine Art des Sprachgebrauchs dar, der sich insbesondere durch die Verwendung musikalischer Elemente (zum Beispiel Klang- und Lautwiederholungen, Rhythmus, Melodie) auszeichnet. Der Einsatz solcher Elemente trägt, wie auch in der Musik, in substantieller Weise zu der wahrnehmbaren Klanggestalt eines Gedichtes bei und führt zu einer besonderen ästhetischen und emotionalen Perzeption von Gedichten (Obermeier et al. 2013). Hierbei wurde angenommen, dass die grundlegende und allgemeine Wahrnehmung der Klanggestalt stets durch die Gesamtheit als auch das Zusammenspiel der verschieden segmentalen und supra-segmentalen Einheiten sowie durch deren Anordnung geprägt und bestimmt ist (vgl. Von Ehrenfels 1937). Zudem wird der Klangdimension in Gedichten eine besondere Prominenz und Bedeutung zugesprochen, sowohl von Seiten der theoretischen (siehe zum Beispiel: De Beaugrande 1978; Jakobson und Waugh 2002 [1979]; Schrott und Jacobs 2011; Shklowski 2012 [1919]; Wolf 2005) als auch der empirischen Erforschung der Lyrik (siehe zum Beispiel: Aryani et al. 2016; Menninghaus et al. 2014; Obermeier et al. 2013). Dem allgemeinen Forschungskonsens folgend kann davon ausgegangen werden, dass Gedichte eine Position zwischen Musik und Sprache einnehmen, die sowohl formals auch funktionsgebunden erscheint (Darwin 1981, 336). Während die formbedingte Zwischenposition durch den charakteristischen Einsatz musikalischer Elemente im sprachlichen Ausdruck bedingt wird, ist es einer der primären Funktionen von Musik als auch von Gedichten „Emotionen zu vermitteln: sie zu ihrem Thema zu machen, auszudrücken und im Leser [beziehungsweise Rezipienten] hervorzurufen“ (Winko 2003, 9; vgl. auch Hegel 1986; Lüdtke et al. 2014; MeyerSickendiek 2011). Konsequenter Weise werden demnach wenn „in kunstvoller [. . .] Rede lebhafte Gefühle [. . .] ausgedrückt werden, [. . .] instinktiv musikalische Kadenzen und Rhythmen gebraucht“ (Menninghaus 2011, 116). Aber bestimmt auch in Gedichten der Ton die Musik, oder besser: der Klang das Gefühl? Wird die emotionale Färbung eines Gedichtes alleinig durch dessen Semantik bestimmt, oder nehmen auch bestimmte Klangelemente hierauf Einfluss? Die Frage, ob und inwiefern in Gedichten Bedeutungsaspekte (einschließlich emotionaler Aspekte, beziehungsweise der Emotionsperzeption der LeserInnen) https://doi.org/10.1515/9783110630756-002

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und klangliche Elemente in Relation zueinander stehen, ist seit der Antike ein, wenn auch oft umstrittener, Gegenstand theoretischer Forschung (Plato 1892; für einen historischen Überblick siehe Genette 1995 [1976]). Der vorliegende Beitrag verfolgt hingegen einen empirischen Ansatz. Dies ist zum einen darin begründet, dass die systematische Untersuchung von Effekten poetischer Lautlichkeit auf die konkrete Wahrnehmung von LeserInnen letztlich nur empirisch möglich erscheint. Anders als textimmanente Untersuchungen von impliziten oder Experten-LeserInnen, können die Perzeptionen empirischer LeserInnen messbar und quantifizierbar gemacht werden. Zum anderen ermöglicht der empirische Ansatz die Möglichkeit, an aktuelle Forschungsergebnisse aus verwandten Disziplinen wie etwa der (Psycho-) Linguistik oder der experimentellen (Sozial-)Psychologie anzuschließen und auch, deren Methoden für eine primär geisteswissenschaftliche Fragestellung nutzbar zu machen. Eine solche Ergänzung literaturwissenschaftlicher Analysen um eine systematische Rezeptionsperspektive bedeutet in der Folge jedoch nicht, die klassischen Methoden der Geisteswissenschaften zu ignorieren oder ersetzten zu wollen; Ziel des paradigmatischen Fokus’ ist vielmehr, mithilfe anderer Methoden neue Antworten zu ermöglichen – Antworten, die im besten Fall eine komplementäre Ergänzung und Feindifferenzierung bestehender theoretischer Annahmen traditioneller Forschung repräsentieren. Innerhalb der empirischen Literaturwissenschaft untersuchte der Großteil der durchgeführten Studien zu der zumeist als bilateral verstanden Relation von Emotionsperzeption und Klang in Gedichten hinsichtlich der klanglichen Seite die Auftretenshäufigkeiten von einzelnen Phonemen oder Phonem-Klassen.1 Beispiele hierfür sind etwa die Studien von Albers (2008) und Auracher und Kollegen (2010). Beide Studien kamen zu dem Ergebnis, dass sich freudige Gedichte durch ein überhäufiges Auftreten der Plosive /p/, /b/, /t/ und /d/ auszeichnen. Gedichte, die als traurig eingeordnet wurden, zeigten hingegen eine höhere Anzahl der Nasale /m/ und /n/. Ein Vergleich dieses Resultats mit den Ergebnissen anderer Studien auf dem Gebiet der Klang-Emotion Relationen zeigt jedoch Unstimmigkeiten: Fónagy (1961) beispielsweise berichtete über einen Zusammenhang von /t/ und aggressiven – und folglich negativ valenten – Gedichten. Whissell (1999) zeigte in einer Studie, dass Plosive wie /t/, /b/, und /d/ tendenziell häufiger in Wörtern auftraten, die als unangenehm empfunden wurden (und dementsprechend ebenfalls eine negative Valenz aufweisen). Als Begründung solch gegensätzlicher Resultate wird die als nicht hinreichend umfassende Operationalisierung der Klangdimension gesehen (Aryani et al. 2016).

1 Für einen anderen statistischen Zugang zum sogenannten „basic affective tone“ eines Textes oder Gedichtes in Abhängigkeit von dessen gesamten phonemischen Material, siehe Aryani et al. (2016).

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Im Anschluss an diese disparate Forschungslage stellt der vorliegende Beitrag drei empirische Studien überblicksartig vor, die verschiedene Aspekte des Klanges in Gedichten berücksichtigen und anhand verschiedener Methoden operationalisieren (vgl. auch Kraxenberger 2017). Hierzu zählen auf segmentaler Sprachebene phonologische Analysen des Lautinventars, sowie strukturale Analysen von Figuren phonologischer Rekurrenz, Betonungsgipfeln und Wortpositionierung. Zudem wurden auch suprasegmentale – also lautübergreifende, prosodische Merkmale wie Tonhöhe. Lautstärke und Tempo – bei der Gedichtrezitation und deren akustischen Rezeption untersucht. Hierbei ist anzumerken, dass die präsentierten Studien eine allumfassende, extensiven Analyse weder bieten können noch wollen, sondern vielmehr hypothesengeleitet bestimmte Klangaspekte exemplarisch in den Fokus rücken. Im Hinblick auf die Emotionsperzeption von Gedicht-RezipientInnen sind, ebenfalls im Anschluss an den aktuellen empirischen Forschungsstand, die beiden „Wappentieren des Gefühlslebens“ (Damasio 2003, 161), die Basisemotionen Freude und Traurigkeit, beziehungsweise deren Perzeption, Untersuchungsgegenstand.2 Die erste hier angeführte Untersuchung (Kraxenberger und Menninghaus 2016a) widmet sich in Form einer Replikationsstudie der Frage, ob die Auftretenshäufigkeiten bestimmter konsonantischer Phoneme in einem Zusammenhang mit der Bewertung der Freude und Traurigkeit von Gedichten steht. Zudem wurde überprüft, inwieweit die Auftretenshäufigkeiten bestimmter vokalischer Phoneme mit der Einordnung eines Gedichtes als hell, beziehungsweise als dunkel, zusammenfällt. Auch wurde getestet, ob phänomenologische Beschreibungskriterien von Freude und Traurigkeit in Relation mit der emotionalen Klassifizierung von Gedichten als freudig oder traurig eine Relation aufzuzeigen. Eine zweite Studie (Kraxenberger und Menninghaus 2016b), in deren Rahmen eine Unterstreichungsaufgabe, Textanalysen als auch eine kurze Fragebogenstudie kombiniert wurden, widmet sich der Erforschung von Effekten verschiedener Figuren der phonologischen Rekurrenz, Betonungsgipfel und Wortpositionierung in Gedichten auf die explizite Identifikation besonders freudiger oder trauriger Textstellen durch StudienteilnehmerInnen. Die dritte hier skizzierte Untersuchung (Kraxenberger et al. 2018; Kraxenberger 2017, 76f.) umfasst zum einen eine Produktionsstudie zur Validierung bestimmter supra-segmentaler Parameter bei der Gedichtrezitation, welche zu

2 Alle Studien entstanden im Rahmen des kumulativen Dissertationsprojektes der Verfasserin des vorliegenden Beitrages (vgl. Kraxenberger 2017) und wurden bereits einzelnd veröffentlicht. Stellenweise wurden die Originalaufsätze für den vorliegenden Beitrag ins Deutsche übertragen und angepasst, vgl. Kraxenberger und Menninghaus 2016a, b; Kraxenberger 2017; Kraxenberger et al. 2018.

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spezifischen akustischen Profilen des emotionalen verbalen Ausdrucks wesentlich beitragen sollen. Zum anderen wird eine Online-Studie berichtet, in welcher die zuvor validierten Parameter systematisch manipuliert wurden. Ziel hierbei war die Untersuchung des Einflusses von emotionaler Prosodie auf die Emotionswahrnehmung von StudienteilnehmerInnen mit und ohne semantischen Zugang zu den akustisch prästierten Gedichten

2 Emotionsperzeption und phonemische Auftretenshäufigkeiten 2.1 Zielsetzung und Fragestellung Ausgangspunkt der ersten hier vorgestellten Studie war die oben skizzierte, in weiten Teilen konträre Ergebnislage empirischer Untersuchungen von Klang-Emotion Relationen in Gedichten auf Basis von Auftretenshäufigkeiten bestimmter konsonantischer Phonemklassen unterschiedlicher Artikulationsmodi. Daher wurde eine Replikation der Resultate von Auracher et al (2010) vorgenommen. Zudem war es ein Ziel dieser Studie, zu überprüfen ob Auftretenshäufigkeiten bestimmte Vokale und die Wahrnehmung von tonalem Kontrast (die Wahrnehmung eines Textes als hell, beziehungsweise dunkel) in einem Zusammenhang stehen. Basierend auf einer Differenzierung der Vokale gemäß deren Artikulationsort (zum Beispiel Vorderzungen- vs. Hinterzungenvokale), wurde diese Annahme von Theodor Gustav Fechner bereits 1897 erstmals empirisch untersucht und von theoretischer als auch empirischer Forschung immer wieder aufgegriffen (Jakobson und Waugh 2002 [1979]; Moos et al. 2014; Tsur 1992, 1997; Wrembel 2009). Zusammenfassend wurde erwartet, dass Gedichte, die als freudig wahrgenommen werden, sich von als traurig wahrgenommenen Gedichten hinsichtlich der Auftretens-Frequenzen von Plosiven und Nasalen unterscheiden. Im Detail wurde hierbei überprüft, ob freudige Gedichte höhere Auftretenshäufigkeiten von Plosiven aufweisen als traurige Gedichte. In traurigen Gedichten wurde hingegen eine höhere Anzahl an Nasalen erwartet. Auch wurde untersucht, ob als hellklingend eingestufte Gedichte eine höhere Auftretenshäufigkeit von Vorderzungenvokalen zeigen als Gedichte, die als dunkel klingend wahrgenommen werden – beziehungsweise, ob Letztere eine höhere Anzahl von Hinterzungenvokalen aufweisen als Gedichte, die als hell klingend wahrgenommen werden.

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2.2 Vorgehensweise Obgleich innerhalb der Empirischen Literaturwissenschaft des Öfteren mit manipulierten, das heißt dezidiert für die jeweilige Forschungsfrage systematisch veränderten, Texten gearbeitet wird (beispielsweise in Menninghaus et al. 2015; 2017; Obermeier et al. 2013; Van Peer 2007), verwenden die hier skizzierten Studien ausschließlich unveränderte Gedichte. Grund hierfür sind eine höhere ökologische Validität und Anbindungsmöglichkeit der zu erbringenden Ergebnisse. Ziel der Gedichtauswahl war die Kompilation eines möglichst heterogenen Korpus, das eine vergleichsweise große Spannweite an poetischen Stilen und Eigenschaften als auch Variationen hinsichtlich Textlänge und Gedichtformen aufweist.3 Neben dieser Heterogenität sollten die ausgewählten Gedichte zudem die genretypischen Erwartungen der (nicht professionellen, beziehungsweise wissenschaftlich ausgebildeten) LeserInnen erfüllen; daher wurden zeitgenössische, poetisch besonders innovative Gedichte nicht berücksichtigt. Um jedoch den zeitlichen Abstand zwischen Gedicht und LeserIn zu minimieren und beispielsweise die Möglichkeit von linguistischen Missverständnissen aufgrund von archaischen Ausdrücken weitgehend zu umgehen, wurden fast ausschließlich Gedichte gewählt, die im 20. Jahrhundert verfasst wurden. Zudem wurde bei der Korpuskompilation darauf geachtet, keine Gedichte aufzunehmen, die ambivalente Emotionen wie etwa Melancholie oder Nostalgie zum Gegenstand haben oder eine klare Umkehrung innerhalb des emotionalen Inhalts aufweisen (beispielsweise Gedichte die freudig beginnen jedoch traurig enden). Gemäß dieser Vorüberlegungen wurden 24 freudige und 24 traurige deutsche Gedichten durch einen Abgleich ihres jeweiligen Themas mit phänomenologischen Beschreibungen emotionaler Qualitäten (vgl. Demmerling und Landweer 2007; Schmitz 1969) ausgewählt. Da die Mehrzahl der aufgenommenen Gedichte in einer gut rezipierten Anthologie versammelt ist (Reschke 1992; vgl. Gernhardt 2012), kann die vorgenommene Textauswahl zudem als annähernd repräsentativ betrachtet werden, auch, wenn freudige Gedichte innerhalb der Lyrik sicherlich keinen prävalenten Status innehaben. Alle 48 Gedichte wurden von insgesamt 128 deutschen StudienteilnehmerInnen zweimal leise gelesen und mit Hilfe verschiedener Items geratet.4

3 Bezüglich der durchzuführenden statistischen Analysen wurde die Unterschiedlichkeit der einzelnen Gedichte der verwendeten Korpora durch die Verwendung von Mehrebenenemodelle mit random intercepts (auf Gedichts- als auch Partizipantenebene) berücksichtig. 4 Jeder Studienteilnehmer las und bewertete 6 Gedichte. Folglich wurde jedes Gedicht von 16 verschiedenen TeilnehmerInnen geratet. Gedichte und Items wurden hierbei in randomisierter Reihenfolge ausgewählt und präsentiert. Die 7-Punkte Items, die für die im Folgenden berichteten Ergebnisse analysiert wurden lauteten: Wie positiv ist der Inhalt des Gedichtes? (gar

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Anschließend wurden alle Gedichte phonologischen Analysen unterzogen und normalisierte sowie relationale Auftretenshäufigkeiten der für die Studie relevanten Phonemklassen gebildet (für eine detaillierte Darstellung, siehe Kraxenberger und Menninghaus 2016a).

2.3 Resultate Die statistische Auswertung der Phonemauszählung und der Befragung ergab, dass die StudienteilnehmerInnen der vorab vorgenommenen Einteilung der Gedichte als entweder vorwiegend freudig oder traurig zustimmten. Ein Vergleich der beiden Gedichtgruppen (freudig vs. traurig) zeigte, dass freudige Gedichte als heller klingend und traurige Gedichte als dunkler klingend wahrgenommen wurden. Die Bewertungen des tonalen Kontrastes der Gedichte oder ihrer jeweiligen dominanten Emotionalität durch die StudienteilnehmerInnen zeigte jedoch keinen Zusammenhang zwischen Auftretenshäufigkeiten von Vorder- und Hinterzungenvokalen, beziehungsweise von Plosiven oder Nasalen. Vielmehr ergab ein Vergleich des Phoneminventars von freudigen und traurigen Gedichten, dass die untersuchten Phonemklassen annähernd identisch in freudigen und traurigen Gedichten verteilt sind.

3 Potentielle Effekte von Figuren phonologischer Rekurrenz, Wortpositionierung und Betonungsgipfeln auf die Emotionsperzeption 3.1 Zielsetzung und Fragestellung Aufbauend auf diesen Befunden widmete sich die zweite hier vorgestellte Studie nicht der Untersuchung des phonologischen Inventars, sondern vielmehr der Anordnung des phonologischen Materials in Gedichten. Hierbei wurde die Hypothese überprüft, dass Figuren der phonologischen Rekurrenz nicht positiv (1) – äußerst positiv (7)); Wie negativ ist der Inhalt des Gedichtes? (gar nicht negativ (1) – äußerst negativ (7)); Wie lässt sich die durch das Gedicht ausgedrückte Emotionalität beschreiben? (insgesamt eher als freudig (1) – insgesamt eher als traurig (7)); Wie klingt das Gedicht? (hell (1) – dunkel (7).

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(Reim, Alliteration, Assonanz, Konsonanz), Betonungsgipfel als auch verschiedene Parameter der Wortpositionierung (Wortposition in der Verszeile und Versposition im Gedicht) die Emotionswahrnehmung von LeserInnen, beziehungsweise deren Auswahl von besonders freudigen und traurigen Gedichtpassagen, beeinflussen. Ausgangspunkt dieser Untersuchung waren im Hinblick auf Figuren der phonologischen Rekurrenz vor allem empirische Studien zu emotionsbezogenen Effekten von Reim (Menninghaus et al. 2014, 2017; Obermeier et al. 2013, 2016) und Lautwiederholungen (Lea et al. 2008). Anstelle einer Untersuchung des Metrums lag der Fokus auf Betonungsgipfel innerhalb metrisch-prosodischer Einheiten der Verszeile (Jespersen 1933; Liberman und Prince 1977; Selkirk 1984). Die Auswahl von Betonungsgipfel als Untersuchungsgegenstand liegt darin begründet, dass rein metrische Betonungen beispielsweise in jambischen und trochäischen Versen zu metrischen Hebungen auf jedem polysyllabischen Wort führen. Betonungsgipfel werden gleicherweise durch syntaktisch-bedingte Wortpositionierung innerhalb von Sätzen (oder Versen) als auch durch die jeweilige Semantik der betreffenden Äußerungen bestimmt. Auch wenn Betonungsgipfel aufgrund positionsbedingter Bedeutungsänderung variabel sind und in unterschiedlichen Positionen derselben metrisch-prosodischen Einheit auftreten können, unterliegen sie dennoch den jeweiligen grammatikalischen Bedingungen. Zudem repräsentieren Betonungsgipfel allgemein eine weit selektivere Betonungsqualität welche durch den notwendigen Zusammenfall von Phrasen-, beziehungsweise Satzakzent und metrischer Betonung gleichsam eine doppelte Hervorhebung in ihrer unmittelbaren linguistischen Umgebung erfährt. Des Weiteren wurde untersucht, inwieweit Parameter der Wortpositionierung Einfluss auf die Identifikation besonders freudiger und trauriger Gedichtpassagen haben. Diese Fragestellung ist durch rhetorische Theorien zu Kadenzen und Clausulae (Aristoteles 2005 [ca. 335 BC]; Lausberg 2008 [1960]; Quintilian ca. 1953 [ca. 95 CE]) begründet. Zudem konstituieren sich Figuren der phonologischen Rekurrenz über die zeitliche Abfolge eines Gedichtes (für eine detaillierte Darstellung der Analysekriterien der jeweiligen Gedichte, siehe Kraxenberger und Menninghaus 2016b).

3.2 Vorgehensweise Für die zweite hier vorgestellte Studie wurden acht Gedichte aus dem Korpus der ersten Studie ausgewählt. Diese Gedichte wiesen aufgrund ihrer Länge (jeweils 10–16 Verszeilen), dem durchgängigen Auftreten von Endreimen (kreuz- oder paargereimt) und einem jeweils dominant jambischen Versmaßes eine relative, formale Vergleichbarkeit auf. Diese Gedichte wurden von

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insgesamt 48 StudienteilnehmerInnen in randomisierter Reihenfolge zunächst still gelesen und mithilfe eines Frageitems geratet. Hierbei sollten die StudienteilnehmerInnen angeben, inwieweit sie das jeweilige Gedicht als eher freudig oder traurig einordneten. Danach waren die StudienteilnehmerInnen aufgefordert, diejenigen Passagen der Gedichte mit Farbmarkern zu unterstreichen (vgl. Van Peer 1986), die sie als besonders freudig (in rot) und/oder als besonders traurig (in blau) identifizierten. Auf Textebene analysierten zwei Experten unabhängig voneinander und den Ergebnissen der Unterstreichungsaufgabe alle Gedichte und identifizierten Reim, Alliteration, Assonanz und Konsonanz sowie Betonungsgipfel innerhalb metrisch-prosodischer Texteinheiten auf Silbenebene. Auch wurden die Position eines jeden Wortes innerhalb des jeweiligen Verses, als auch die Position des Verses im Gedicht kodiert (für eine detaillierte Beschreibung, siehe Kraxenberger und Menninghaus 2016b).

3.3 Resultate Da eine Inspektion der Unterstreichungsaufgabe zeigte, dass keiner der StudienteilnehmerInnen eine linguistische Ebene unterhalb der Wortebene unterstrichen hatte (beispielsweise einzelne Grapheme oder Interjektionen), wurden in einem ersten Schritt die auf Silbenebene vorgenommenen Textanalysen auf die Wortebene transponiert. Weitere Analysen der unterstrichenen Wörter ergaben, dass Wörter, die Alliteration, Assonanz und Konsonanz (gemeinsam in eine Variable zusammengefasst) konstituieren, von den StudienteilnehmerInnen überhäufig als besonders freudig identifiziert wurden. Ebenso stellten sich Wörter die Betonungsgipfel trugen, als prädestiniert heraus, um als besonders freudig und traurig unterstrichen zu werden. Reimwörter hingegen zeigten keine signifikanten Effekte. Wörter in späteren Positionen innerhalb einer Verszeile, sowie eine spätere Position der Verszeile im Gedicht wiesen jedoch eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit für die Identifikation als freudig oder traurig auf als Wörter in späteren Positionen. Insgesamt betrachtet veranschaulichen und betonen die Ergebnisse dieser Studie, dass bestimmte Figuren der phonologischen Rekurrenz, Betonungsgipfel und Wortpositionierung für die Wahrnehmung und Identifikation besonders emotionaler Gedichtspassagen von erheblicher Bedeutung sind. Dies betont das kunstvolle Zusammenspiel verschiedener textueller Parameter in Gedichten, welche hierbei nicht nur in einer starken Beziehung zueinander stehen, sondern vor allem im Zusammenspiel die Klanggestalt eines Gedichtes konstituieren und die Emotionsperzeption der LeserInnen beeinflussen.

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4 Einfluss von prosodischen Merkmalen und semantischem Zugang auf die Emotionsperzeption 4.1 Zielsetzung und Fragestellung Aufgrund der Negativbefunde der hier an erster Stelle berichteten Studie zu phonemischen Auftretenshäufigkeiten in freudigen und traurigen Gedichten (Kraxenberger und Menninghaus 2016a) untersucht die letzte hier vorgestellte Studie (vgl. Kraxenberger et al. 2018; Kraxenberger 2017) alternativ bestimmte Parameter emotionaler Prosodie bei der Gedichtrezitation als auch bei der akustischen Präsentation. Dies liegt darin begründet, dass die Emotionswahrnehmung in gesprochener Dichtung sowohl durch den semantischen Inhalt als auch durch Emotions-unterstützenden Klangprofile beeinflusst sein kann. Ausgangspunkt hierzu waren Studien zu supra-segmentalen Merkmalen emotionaler Prosodie bei der Expression und Perzeption von Freude und Traurigkeit (Banse und Scherer 1996; Kaiser 1962; Pell et al. 2009; Scherer 1986, 2013; Stolarski 2015; Van Bezooijen 1984; Ververidis und Kotropoulos 2006). Im Rückgriff auf diese vorhergehende Forschung wurde eine Produktionsstudie zur Validierung der bisher als besonders einflussreich angenommen Parametern emotionaler Prosodie – mittlere Tonhöhe, Geschwindigkeit und Lautstärke – durchgeführt. Hieran anschließend wurden speziell die Tonhöhe und die Geschwindigkeit von eingesprochenen deutschen Gedichte systematisch manipuliert. Dies ermöglichte es, die eingesprochenen Gedichte entweder mit einer als neutral, oder einer als freudig und einer als traurig definierten Prosodie in einer Perzeptionsstudie zu präsentieren. Mithilfe eines sprachübergreifenden Designs der online durchgeführten Studie, an welcher deutsche StudienteilnehmerInnen und TeilnehmerInnen ohne Deutschkenntnisse teilnahmen, konnte der Einfluss von emotionaler Prosodie auf die Emotionswahrnehmung in Kombination als auch unabhängig vom semantischen Zugang der StudienteilnehmerInnen auf den semantischen Inhalt der Gedichte untersucht werden.

4.2 Vorgehensweise Für die Validierungsstudie wurden zunächst die acht Gedichte, die bereits in der vorhergehend beschriebenen Studie verwendet worden waren, von 23 StudienteilnehmerInnen still gelesen, erneut mit Freude- und Traurigkeitsratings

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bewertet5 und anschließend laut vorgetragen. Die in einer geräuschisolierten Kammer mithilfe eines Kopfmikrophones (DPA, d:fine) aufgenommen Gedichtvorträge wurden digital aufgezeichnet (Sampling Rate: 44,1 kHz, Amplituden Auflösung: 16 bits). Für die Analyse dieser Aufnahmen wurde zunächst die Silbenebene aller Einsprechungen auf Basis von WebMaus (Reichel 2012; Reichel und Kisler 2014) annotiert und die Artikulationsrate pro Sekunde (ohne Sprechpausen) für jeden einzelnen Vortrag berechnet (vgl. Pfitzinger 2001). Mittlere Lautstärke und Tonhöhe wurden mithilfe des Programmes Praat (Boersma und Weenink 2015) analysiert (für eine detaillierte Beschreibung, siehe Kraxenberger 2018; Kraxenberger 2017). In einem nächsten Schritt wurden alle Gedichte von einem professionellen Sprecher eingesprochen und jeweils drei systematisch manipulierte Versionen erzeugt. Eine Version wurde hinsichtlich Tonhöhe und Tempo auf ein Mittelmaß reduziert und als „neutrale“ Prosodie definiert. Für eine weitere, „freudige“ Version wurden Tonhöhe und Tempo erhöht. Die dritte, „traurige“ Version der manipulierten Einsprechungen zeichnete sich durch eine geringere Tonhöhe und ein reduziertes Tempo aus. Diese Versionen wurden in einer anschließenden Onlinestudie StudienteilnehmerInnen ohne Deutschkenntnissen und einer deutschen Kontrollgruppe präsentiert. Die StudienteilnehmerInnen hörten hierbei entweder alle acht Gedichte in der neutralen Version, oder aber mit freudiger und trauriger Prosodie und bewerteten die Gedichte daraufhin erneut mithilfe von Freude- und Traurigkeitsitems.

4.3 Resultate Die Ergebnisse der Validierungsstudie stimmen mit der bisherigen Forschungslage überein. Entsprechend den auf dem aktuellen Forschungsstand basierenden Erwartungen zeigte sich eine starke Korrelation von suprasegmentalen, prosodischen Merkmalen während der Gedichtrezitation und den erhobenen Gedichtratings. Die Ergebnisse der Perzeptionsstudie zeigten außerdem, dass freudige und traurige Prosodie die Gedichtbewertung der nicht deutsch sprechenden StudienteilnehmerInnen signifikant beeinflusste. Jedoch zeigten die durchgeführten Analysen auch, dass die nicht-deutsch sprechenden StudienteilnehmerInnen anscheinend noch weitere, innerhalb der Studie nicht kontrollierte

5 Die 7-Punkte Items, die für die im Folgenden berichteten Ergebnisse analysiert wurden lauteten: Wie freudig ist das Gedicht? (gar nicht freudig (1) – äußerst freudig (7)); Wie traurig ist das Gedicht? (gar nicht traurig (1) – äußerst traurig (7)).

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prosodische Merkmale für ihre Gedichtratings heranzogen (für eine detaillierte Beschreibung, siehe Kraxenberger et al. 2018; Kraxenberger 2017). Dieser Befund legt nahe, dass noch weitere, höchstwahrscheinlich Melodie-bezogene Parameter für die Emotionsperzeption größerer sprachlicher Einheiten wie etwa Gedichten von Bedeutung sind. Somit zeigt die vorgestellte Onlinestudie auch die Grenzen des Einflusses der untersuchten prosodischen Parameter auf. Des Weiteren zeigte die Perzeptionsstudie, dass die Einteilung in freudige und traurige Gedichte der stärkste Prädiktor für die Ratings der deutschen StudienteilnehmerInnen war. Es kann demnach davon ausgegangen werden, dass Deutschsprechende StudienteilnehmerInnen für ihre Ratings vorwiegend semantische Aspekte heranzogen. Dementsprechend ist festzuhalten, dass der semantische Zugang für die Emotionswahrnehmung in der Dichtung von großer Bedeutung ist und sprachübergreifende KlangEmotion-Assoziierungen hiervon substantiell beeinträchtigt und einschränkt werden. Insgesamt betrachtet können die Ergebnisse der durchgeführten Studie nichtsdestotrotz aber als partielle Bestätigung der Hypothese für eine Prosodie-basierte Verbindung von Emotionsexpression/Emotionsperzeption und bestimmten Klangqualitäten betrachtet werden.

5 Zusammenfassung Zusammenfassend zeigen die hier kurz skizzierten Studien, dass von KlangEmotion Relationen in Gedichten grundlegend ausgegangen werden kann. Diese Relationen sind aber nicht, wie innerhalb der Forschung bisher immer wieder angenommen, durch Auftretenshäufigkeiten bestimmter Phoneme bedingt. Vielmehr erscheint der Zusammenhang zwischen emotionalem Textinhalt eines Gedichts (freudig vs. traurig) und der Wahrnehmung von tonalem Kontrast (hell vs. dunkel) von Seiten der StudienteilnehmerInnen phänomenologisch und letztendlich vorwiegend semantisch bestimmt zu sein. Eine Untersuchung der Anordnung des phonologischen Materials von Gedichten zeigte hingegen einen signifikanten Einfluss auf die Identifikation besonders emotionaler Textstellen. Im Detail weisen die Ergebnisse der an zweiter Stelle präsentierten Studie darauf hin, dass Figuren phonologischer Rekurrenz (Alliterationen, Assonanzen, Konsonanzen) überhäufig als besonders freudig wahrgenommen werden. Zudem geben die erbrachten Ergebnisse mehr als Anlass zu der Annahme, dass spätere Wortpositionen innerhalb der Verszeile und im gesamten Gedicht, sowie auch Betonungsgipfel innerhalb metrisch-prosodischer

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Einheiten im Zusammenhang mit der expliziten Identifikation von besonders freudigen und traurigen Wörtern in Gedichten stehen. In der dritten hier präsentierten Studie konnte des Weiteren gezeigt werden, dass suprasegmentale Merkmale emotionaler Prosodie (mittlere Tonhöhe, Lautstärke und Tempo) bei der muttersprachlichen Rezitation von Gedichten in Relation zu Freude- und Traurigkeitsratings stehen. In Übereinstimmung mit diesem Ergebnis zeigte es sich zudem, dass bei der akustischen Präsentation von Gedichten bestimmte Parameter der emotionalen Prosodie die Emotionswahrnehmung von StudienteilnehmerInnen ohne semantischen Zugang signifikant beeinflussen. Neben diesen eher allgemein sprachlichen Prosodie-Effekten der Emotionserkennung, kann aufgrund der hier präsentierten Befunde gefolgert werden, dass Klang-Emotion Relationen in Gedichten, vorwiegend semantisch motiviert sind. Demnach sind sie primär von der linguistischen Kompetenz der LeserInnen und deren Möglichkeit des Textverständnisses abhängig. Zusätzlich hierzu werden Klang-Emotion Relationen in Gedichten durch Figuren der phonologischen Wiederholung, durch Betonungsgipfel und durch Parameter der Wortpositionierung beeinflusst – welche gleichwohl in Abhängigkeit zur Semantik und grammatikalischen Normen stehen. Auch wenn hiermit die grundlegende Frage des vorliegenden Beitrages nach einem Zusammenhang zwischen Klang und Emotionsperzeption in Gedichten auf affirmative Weise beantwortet werden kann, ist bislang ungeklärt, warum solche Klang-Emotion Relationen in Gedichten von RezipientInnen wahrgenommen werden. Daher wird im letzten Abschnitt des vorliegenden Beitrages, ausgehend von möglichen Gemeinsamkeiten des stillen und lauten Lesens, eine mögliche Erklärung der Klang-Emotion Relationen in Gedichten vorgeschlagen. Diese Erklärung, beziehungsweise der Versuch einer solchen, ist hypothetischer Natur und bedarf ihrerseits einer empirischen Überprüfung. Bis zu einer solchen Testung ist sie daher als vorläufige Annahme zu verstehen.

6 Ausblick: Hypothetische Erklärung der KlangEmotion Relationen in Gedichten Es erscheint mehr als wahrscheinlich, dass stilles und lautes Lesen aufgrund prosodischer Eigenschaften bestimmte Gemeinsamkeiten aufweisen. Diese Annahme gründet auf Ergebnissen aktueller empirischer Forschung: Mehrere Studien berichteten, dass während des stillen Lesens automatisch phonologische Information auf Grundlage des visuell präsentierten Wortes generiert wird (zum

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Beispiel: Braun et al. 2009; Conrad et al. 2009; Ziegler und Jacobs 1995; Ziegler et al. 2000; 2001). Dieser Prozess wird allgemeinhin als phonologische oder prosodische Rekodierung von Geschriebenem während des stillen Lesens bezeichnet (für einen Überblick, siehe Jacobs und Grainger 1994). Die Annahme über den Prozess der phonologischen oder prosodischen Rekodierung unterstützt zudem die sogenannte Hypothese der impliziten Prosodie (implicit prosody hypothesis, Fodor 2002). Gemäß dieser Hypothese bilden LeserInnen während des stillen Lesens phonologische und prosodische Informationen, Repräsentationen von Satzintonation, Phrasierung, Betonung und Rhythmus. Diese liefern den LeserInnen Informationen über die sub- und suprasegmentalen Klang- und Lauteigenschaften, sowie auch zu deren Struktur und Anordnung (Clifton 2015; für eine Überblicksdarstellung zu diesem Thema, siehe Breen 2014). Obwohl solche mentalen, phonologischen Textrepräsentationen weder notwendigerweise bewusst erfahrbar sein müssen, noch Voraussetzung eines erfolgreichen Leseprozesses sind, ist fast allen LeserInnen diese Form der Rekodierung bekannt – als „innere Stimme“ die den Leseprozess oftmals begleitet und unterstützt. Im Anschluss an die Forschung zur prosodischen und phonologischen Rekodierung können die Ergebnisse der oben berichteten Validierungsstudie von suprasegmentalen Merkmalen emotionaler Prosodie bei der laut artikulierten Gedichtrezitation, zumindest in hypothetischer Form, auf das stille Lesen übertragen werden (vgl. Kraxenberger 2018). Wie berichtet, können die Resultate der oben skizzierten Rezitationsstudie mit deutschen MuttersprachlerInnen als starker Hinweis auf eine Relation von suprasegmentalen Parametern emotionaler Prosodie und der Emotionswahrnehmung bei der Gedichtrezitation verstanden werden. Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass die verbale Realisation von Gedichten durch LeserInnen und deren Wahrnehmung der vorherrschenden emotionalen Tonalität von Gedichten in einem engen Zusammenhang stehen. Es erscheint hochwahrscheinlich, dass linguistisch kompetente LeserInnen auch beim stillen Lesen ihre innere, lediglich mental repräsentierte Prosodie in Abhängigkeit zur Emotionswahrnehmung des jeweiligen Gedichtes anpassen und modulieren. Eine solche Anpassung von emotionaler Prosodie an die dominante emotionale Textfärbung könnte demnach ein möglicher Erklärungsgrund für die immer wieder erfahrenen und berichteten Klang-Emotion Assoziierungen in Gedichten sein. Und zwar unabhängig davon, ob ein Gedicht still oder laut (vor)gelesen wird – solange nur der semantische Zugang zum jeweiligen Gedicht gegeben ist. Gesetz dem Falle, dass die jeweilige dominante, semantisch bedingte, emotionale Textfärbung eines Gedichts bei den LeserInnen auch zu einer Anpassung der emotionalen Prosodie beim stillen Lesen führt, sollte bedacht werden, dass phonologische und prosodische Rekodierung beim Lesen jedweder Textsorte

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auftreten kann. Nichtsdestotrotz kann davon ausgegangen werden, dass das Phänomen der Rekodierung speziell im Falle der Gedichtrezeption eine besonders bedeutende Rolle spielt (Schrott und Jacobs 2011). Auch De Beaugrande (1978) hat bereits die Bedeutsamkeit verschiedener Prozessierungsstrategien und -priorit äten bei der Gedichtrezeption hervorgehoben. Hinsichtlich des literarischen Genres der Lyrik geht De Beaugrande davon aus, dass aufgrund von spezifischen Erwartungen und letztlich erlernten Strategien der Textverarbeitung LeserInnen der Klangdimension eines Gedichts besondere Aufmerksamkeit schenken, ohne sich dieser Priorisierung notwendigerweise bewusst zu sein. Das Merkmal der Fokussierung auf den Klang bei der Rezeption von Gedichten kann, hypothetisch betrachtet, in der Folge dann zu einem Anstieg der Qualität und Quantität von phonologischer und prosodischer Rekodierung führen. Gleichwohl führt dies zu einer besonders „lauten“ inneren Stimme, die speziell beim Lesen von Gedichten häufig auftritt, gegebenenfalls als bewusste Komponente für LeserInnen erfahrbar ist, und einen festen Bestandteil des genrespezifischen Rezeptionsprozesses konstituiert. Diese hypothetische Erklärung für Klang-Emotion Relationen in Gedichten entspricht auch der formalistischen, beziehungsweise strukturalistischen Literaturtheorie, besonders in ihrer russischen Ausprägung. Diese geht, wenn auch wenig konkret werdend, davon aus, dass künstlerische Sprachformen zu einer besonders gearteten Prozessierung führen, die von den Verarbeitungsprozessen nicht-künstlerischer Sprache abweicht (Shklowski 2012 [1919]). Eine solche, vorwiegend genre- und im weitesten Sinne Sprach/Textspezifischen Erklärung weist auf beträchtliche Unterschiede der Relation von Klang und Emotionswahrnehmung in Lyrik und Musik hin. Obgleich hinsichtlich der verbalen Emotionsexpression und – Wahrnehmung durch Liedtexte (Lyrics) gleiche oder zumindest sehr ähnliche Erklärungen herangezogen werden können und dies die Anfangs angesprochene Zwischenfunktion von Gedichten zwischen Sprache und Musik bekräftigt, sind im Hinblick auf nonverbale Emotionskommunikation durch klangliche Elemente andere Wirkmechanismen anzunehmen. Für den Vergleich von alltäglichen sprachlichen Äußerungen und Gedichten kann hingegen in Anlehnung an Jakobson und Waugh (2002 [1979]) davon ausgegangen werden, dass sich die Lyrik vor allem durch die besondere Rolle des Klanges und einer damit potentiell einhergehenden qualitativ wie quantitativ besonders prominenten Rolle der phonologischen und prosodischen Rekodierung von anderen Sprach- und Textformen differenzieren lässt.

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Mathias Scharinger

Melodie 1 Einführung Der Begriff „Melodie“ hat seine Ursprünge im Griechischen und geht auf das Wort „μέλος“ (Lied, Weise) zurück. Die Begriffsgeschichte des Wortes beginnt ebenfalls im Griechischen. In der hellenistischen Wortbildung kommt bereits zum Ausdruck, dass „Melodie“ nicht auf die Domäne der Musik beschränkt ist, sondern auch in der Sprache Anwendung findet. Dies ist nachweisbar am Vorkommen des Wortstamms „μέλ“ etwa in den Wörtern für Sänger, Gesang, und Liederschreiber auf der einen Seite und für Liederdichtung, Liedersetzen und die Kunst der Lieddichtung auf der anderen Seite (vgl. Hüschen 1961). Auch wenn der Begriff „Melodie“ mehrere ausdifferenzierte, teilweise nur geringfügig unterschiedliche Bedeutungen hat, kann von einer Grundbedeutung ausgegangen werden, wonach der Begriff die geordnete Folge von Tönen in der Zeit bezeichnet – oder wie es Rousseau ausgedrückt hat: „[la] Succession de sons tellement ordonnés selon les loix de rhythme et de la modulation qu’elle forme un sens agreable a l’oreille.“ (Rousseau 1768) Für dieses Kapitel ist obige – relativ weit gefasste – Definition vorteilhaft, weil sie die Grundeinheiten (nämlich Tonverläufe) sowohl in der Musik als auch in der Sprache umfasst. Die folgende Gegenüberstellung der Begriffe soll die Gemeinsamkeiten der musikalischen und der sprachlichen Melodie verdeutlichen. Es ist dies keineswegs ein erschöpfender Katalog, sondern vielmehr eine Skizzierung für die im Verlauf des Kapitels wichtigen Diskussionsgrundlagen.

1.1 Melodie in der Musik Musikalische Melodien sind geordnete Folgen von diskreten Tönen in der Zeit. Ton wird definiert als Schallereignis, dem ein perzeptuelles Korrelat zugeordnet ist, das insbesondere durch eine mehr oder weniger exakte Höhe oder Lage (Tonhöhe) charakterisiert ist. Die Tonhöhe (im Englischen: pitch) entspricht bei einem Sinuston dessen Grundfrequenz, während bei komplexeren Tönen die Tonhöhe auch in Abwesenheit einer Grundfrequenz gehört werden kann. Die wesentlichen akustischen Tonmerkmale sind neben der Tonhöhe die Tondauer (zeitliche Ausdehnung), die Tonintensität (korrelierend mit der wahrgenommenen Lautstärke) sowie die Klangfarbe. Die Klangfarbe ergibt sich durch das https://doi.org/10.1515/9783110630756-003

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Spektrum eines Tones – also durch unterschiedliche Intensitäten der Teilfrequenzen, aus dem sich ein komplexer Ton zusammensetzt. Alle vier Merkmale tragen zur Wahrnehmung von Melodie bei. Allerdings lässt sich eine Hierarchie der Salienz dieser Merkmale ausmachen, die bereits in der Notation von Melodien zum Ausdruck kommt: Melodien sind hier insbesondere durch Tonhöhenverläufe (Konturen) und Tonhöhenabstände (Intervalle) definiert. Beide Eigenschaften spielen insbesondere für das Melodiegedächtnis eine wichtige Rolle, doch kommen sie auch bereits bei der Melodieerkennung und verarbeitung zum Tragen (vgl. Dowling 1978; Zatorre und Baum 2012). Für die Erkennung und die Verarbeitung von Melodien reicht es nicht aus, dass zwischen zwei benachbarten Tönen ein Tonhöhenzusammenhang besteht und er als solcher erkannt wird (Lee und Noppeney 2014). Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Melodien durch Konturen charakterisiert sind. Konturen verleihen Melodien die Eigenschaft einer Gestalt im Sinne von Wertheimer (Wertheimer 1924) und machen sie damit zu einem akustischen oder auditiven Objekt. Möglicherweise bedingt durch diese Gestalthaftigkeit können Melodien auch dann erkannt werden, wenn sie in unterschiedliche Tonlagen transponiert werden. In einer aufschlussreichen Studie zum Melodiegedächtnis haben Schellenberg und Kollegen gezeigt, dass eine Konsolidierung über den Verlauf einer Woche ausreicht, um sich Melodien korrekt zu merken, selbst wenn sie in einer anderen Tonlage oder in einem anderen Tempo getestet werden (Schellenberg und Habashi 2015). Zur Melodie gehören also keine absoluten Tonhöhen, sondern vielmehr die relativen Tonhöhenunterschiede über die Zeit. Obwohl die oben zitierte Studie von Schellenberg nahelegt, dass Melodien relativ unabhängig vom Tempo sind, in dem sie präsentiert werden, weisen Narmour und Kollegen darauf hin, dass die relative Betonungen gewisser Töne in der Zeit (der „Beat“), wesentlich für die Melodieerkennung ist (Narmour 1989, 1990). Melodie ist daher nicht nur die statische Verteilung von Tonhöhen über die Zeit, sondern gleichzeitig die Verteilung unterschiedlicher Tondauern und Betonungs- bzw. Intensitätsmuster in der Zeit. Innerhalb der Musik gehört zur Melodie außerdem ein tonales System, innerhalb dessen sie gehört und interpretiert wird. Tonale Systeme wie jenes der westlichen Musik basieren auf der Oktaväquivalenz, also der perzeptuellen Ähnlichkeit zwischen einem Ton und dem entsprechenden oktavierten Vergleichston (vgl. Dowling und Harwood 1986). Die Ähnlichkeit basiert auf den spektralen Eigenschaften von zwei Tönen, die in einem Oktavverhältnis zueinander stehen: Sie teilen sehr viele Obertöne und Resonanzeigenschaften. Die Oktaväquivalenz führte auch dazu, dass gleiche Tonhöhenstufen innerhalb einer Oktave mit den jeweils gleichen Buchstaben gekennzeichnet werden (z.B. C, D usw.). Töne mit der gleichen Buchstabenbezeichnung haben ein gleiches sogenanntes Chroma, auch wenn sich die absolute Tonhöhe zwischen den Tönen,

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zum Beispiel aufgrund eines Oktavabstands, unterscheidet. In der Musik unterschiedlicher Kulturen gibt es innerhalb einer Oktave eine begrenzte Anzahl von Tönen (meistens 5 oder 7, Gill und Purves 2009; Patel 2010). Es wird vermutet, dass diese Zahl darauf beruht, dass im menschlichen Arbeitsgedächtnis maximal zwischen 5 und 7 Objekte abgelegt und verarbeitet werden können (Miller 1956). In der wohltemperierten Stimmung wird die Oktave in 12 Halbtonschritte eingeteilt. Schließlich ist die musikalische Melodie relativ unabhängig von der Klangfarbe des Instruments, auf dem sie gespielt wird – wir erkennen Melodien auf dem Klavier genauso wie gesungene Melodien. Allerdings bereitet ein Klangfarbenwechsel Schwierigkeiten bei der Erkennung von neu gelernten Melodien (Schellenberg und Habashi 2015). In ihrer Studie berichten die Autoren, dass eine Veränderung der Klangfarbe die Erkennung von neu gelernten Melodien signifikant beeinträchtigt. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels liegt der Fokus innerhalb der Musik auf vokalen Melodien und den Singstimmen romantischer und strophenförmiger Lieder.

1.2 Melodie in der Sprache Generell fällt die Sprachmelodie unter den Begriff der Prosodie. Prosodie subsummiert all diejenigen lautlichen Eigenschaften von Sprache, die über den Einzelsprachlaut hinausgehen. Dazu gehören Sprechgeschwindigkeit, Rhythmus, Akzentuierung, Tongebung und Intonation. Die prosodischen Spracheigenschaften, insbesondere Tongebung und Intonation, tragen zur Sprachmelodie bei. Sprachmelodie kann definiert werden als Tonhöhenverlauf in gesprochener Sprache durch Variation der Grundfrequenz einzelner (stimmhafter) Sprachlaute. Stimmhafte Laute, insbesondere Vokale, haben nicht nur ein charakteristisches spektrales Profil, anhand dessen zum Beispiel „a“ und „o“ voneinander unterschieden werden können (Stevens 1998). Diese Laute sind auch durch die Grundfrequenz gekennzeichnet, die durch die Schwingung der Stimmlippen während der Produktion dieser Vokale erzeugt wird (Lehiste und Peterson 1961). Neben dieser impliziten Vokalhöhe kann die Intonation aber auch relativ unabhängig zum sprachlichen Material moduliert werden und so eine typische Tongebung einzelner stimmhafter Laute oder eine typische Intonationskontur im Satz erzeugen. Tongebung und Intonation dienen wesentlich der nonverbalen Kommunikation von Emotionen und Affekten (Nygaard und Queen 2008). Xu und Kollegen beschreiben ein generelles Modell der kommunikativen Funktion von Tongebung in der Sprache (Xu 2005), das auf melodisch kleinsten und silbenbasierten Einheiten basiert.

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Typische Intonationskonturen in Sätzen können im Deutschen anhand der Frageintonation illustriert werden. Eine solche Frageintonation ist dadurch gekennzeichnet, dass die Stimme am Satz- oder Phrasenende „nach oben geht“: die Grundfrequenz erhöht sich. In anderen Sprachen, beispielsweise dem Chinesischen, ändert sich die Bedeutung ein und desselben Wortes, je nachdem wie der Vokal in diesem Wort intoniert wird, das heißt, ob er eine hohe oder tiefe Grundfrequenz aufweist. Diese Beispiele zeigen, dass die Intonation einmal lokal, also über Tonhöhenvariation auf einzelnen Lauten (Vokalen) realisiert werden kann und einmal als Tonhöhenkontur über den Zeitverlauf ganzer Phrasen oder Sätze. Sprachmelodie wird zumeist mit letzterem konturbasiertem Phänomen in Verbindung gebracht. Hier kann die Sprachmelodie auch spezifische dialektale Merkmale kodieren, so zum Beispiel in einigen deutschen Dialekten, die eine besonders markante Modulation der Tonhöhen in gesprochenen Sätzen aufweisen (Zimmermann 1998). Dabei ist es wichtig, dass die Sprachmelodie gesprochener Sprache nichts mit der Singstimme gemeinsam hat. Die Singstimme würde vielmehr die musikalische Melodie realisieren.

1.3 Unterschiede von musikalischer Melodie und Sprachmelodie Neben der generellen Vergleichbarkeit von musikalischer Melodie und Sprachmelodie unterscheiden sich beide essenziell in einigen wichtigen Aspekten. Ein grundlegender Unterschied zeigt sich dabei in der Art der Tonhöhen: Die musikalische Melodie basiert auf diskreten Tonhöhen, während die Sprachmelodie eher kontinuierlich ist (Zatorre und Baum 2012). Tonhöhenverläufe in der Sprache können sogar innerhalb eines stimmhaften Lautes realisiert werden (sogenannte „upglides“ oder „downglides“) und werden in der Regel nicht als Folge diskreter Töne wahrgenommen. Allerdings können als Annäherung einer musikalisch vergleichbaren Sprachmelodie die mittleren Tonhöhen einander folgender Silben herangezogen werden (s. folgende Abschnitte und Patel, Iversen und Rosenberg 2006). Ein weiterer Unterschied bezieht sich auf das Toninventar. In der Musik unterschiedlicher Kulturen stammen Tonhöhen, wie bereits erwähnt, aus einer begrenzten Menge von Tönen (meistens 5 oder 7, s. Gill und Purves 2009; Patel 2010), die innerhalb einer Oktave angeordnet sind. Diese Töne erlauben dann unterschiedliche Intervall-Relationen in den jeweiligen penta- oder diatonischen Tonleitern. Ein Äquivalent zu Tonmengen und Tonleitern in der Sprache ist nicht vorhanden (Zatorre und Baum 2012).

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Des Weiteren sind die Töne einer Tonleiter innerhalb der Musik hierarchisch geordnet und haben eine funktionale Bedeutung in vielen musikalischen Systemen (z. B. Tonartverwandtschaften). Dieses Prinzip der Tonalität (Krumhansl 1990) ist in der Sprache nicht vorhanden. Musik und Sprache unterscheiden sich auch in der Genauigkeit, in der Intervalle zwischen benachbarten Tönen kodiert werden: In der Musik werden minimale Abweichungen von Intervallen registriert (Warrier und Zatorre 2002), was für die Frequenzrelationen im Tonhöhenverlauf der Sprache nicht der Fall ist. Schließlich ist der Tonumfang der musikalischen Melodie gewöhnlich größer als der der Sprachmelodie, insbesondere, wenn man die instrumentale Melodie mit der Sprachemelodie vergleicht. Doch selbst vokale Melodien unterscheiden sich im Tonumfang vom Umfang der Tonhöhen in der Sprachmelodie: Der Umfang der Singstimme liegt im Durchschnitt bei ungefähr zwei Oktaven (Fischer 1993), während der Umfang der Sprechstimme bei ungefähr einer Oktave liegt (Fant 1956).

2 Empirische Melodieanalysen Die vorangegangenen Abschnitte über Ähnlichkeiten und Unterschiede von Melodie in Musik und Sprache sind auf einer beschreibenden Ebene geblieben. Allerdings bedient sich die Melodieforschung neben solchen beschreibenden Ansätzen auch empirischer Methoden. Empirische Ansätze können auf das akustische Signal selbst (das heißt die akustische Repräsentation der Melodie) angewandt werden oder dienen der Erforschung von Melodieverarbeitung sowie deren neuronalen Grundlagen. Die Forschung in der Musikkognition stützt sich dabei zumeist auf statistische Melodieanalysen und bringt diese mit Verhaltensmaßen oder bildgebenden Verfahren in Beziehung (Dowling und Harwood 1986; Krumhansl 2000; Müllensiefen und Frieler 2007; Patel 2010 ; Müllensiefen und Halpern 2014). In diesem Kapitel soll eine signaltheoretische statistische Melodieanalyse vorgestellt werden. Darüber hinaus werden überblicksartig die wichtigsten bildgebenden Verfahren vorgestellt, mit denen die neuronalen Grundlagen der Melodieerkennung erforscht werden können. Abschließend werden die wichtigsten neuronalen Grundlagen und kortikalen Verarbeitungszentren für die Melodiewahrnehmung skizziert. Wenn von der allgemeinen Definition von Melodie als Folge unterschiedlicher Töne über die Zeit ausgegangen wird, dann lässt sich diese Verteilung von Tönen auf unterschiedliche statistische Weisen beschreiben. Dabei können die Tonmerkmale Tonhöhe (Frequenz), Tondauer (Zeit) und Tonintensität (Lautstärke) im Vordergrund stehen. Im Folgenden soll es aber nur um die Tonhöhe

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und die perzeptuelle Entsprechung, den sogenannten pitch, gehen. Die Analyse wird anhand eines Beispiels aus der Sprache und anhand eines Beispiels aus der Musik vorgestellt. Für das Sprachbeispiel wird zunächst beschrieben, wie der Tonhöhenverlauf der Sprechstimme extrahiert werden kann.

2.1 Extraktion von Sprachmelodie Bei der Extraktion der Sprachmelodie aus gesprochener Sprache ist es zunächst erforderlich, das Sprachsignal als komplexes Schallereignis zu digitalisieren. Dabei werden die den Schall ausmachenden minimalen Luftdruckschwankungen über ein Mikrofon in kleinste Spannungsschwankungen umgewandelt, die von einem Computer aufgezeichnet und verarbeitet werden können. Das Sprachsignal wird dazu in der Regel mehrere tausend Mal in der Sekunde abgetastet und die Lautstärkeschwankungen über die Zeit als digitaler Code abgespeichert. In dieser digitalen Repräsentation kann das Signal als Wellenform dargestellt werden. Das Sprachbeispiel ist in dieser Form in Abb. 1 dargestellt. Es geht hierbei um das dreistrophige Gedicht „Das Tal“ von Ludwig Uhland, das 1811 entstanden ist. Es wurde von einem professionellen Sprecher und Sänger vorgetragen und digital aufgenommen. Aus der Wellenform sind die Lautstärkeschwankungen über die Zeit klar ersichtlich. In manchen Fällen lassen sich Wort- und Silbengrenzen erkennen, wenn diese mit Ruhephasen im Signal zusammenfallen. Gerade bei schnell artikulierter Sprache ist das aber relativ selten der Fall, und Silbengrenzen in der Wellenformdarstellung sind nicht eindeutig sichtbar. In diesem Beispiel sind die Silbengrenzen „phonetisch“ akkurat eingetragen und mit der entsprechenden orthografischen Transkription versehen worden. Diese Repräsentation der akustischen Information lässt zwar Rückschlüsse über Silbendauern und Intensitätsänderungen (das heißt Dynamik) zu, nicht aber über den eigentlichen Verlauf der Tonhöhen. Um die Grundfrequenz des Sprachsignals zu berechnen, wird ein Algorithmus angewandt, der im Prinzip die Grundfrequenz stimmhafter Laute bestimmt, die durch das quasiperiodische Schwingen der Stimmlippen entsteht. Im vorliegenden Sprachbeispiel ist ersichtlich, dass sich bei stimmhaften Lauten, insbesondere bei Vokalen, diese quasiperiodische Schwingung in der Wellenform anhand der regelmäßigen Veränderungen der Lautstärke bestimmen lassen. Über den Abstand der jeweiligen Gipfel, das heißt der Amplitudenmaxima, lässt sich so die Grundfrequenz des entsprechenden Sprachlautes approximieren. Prinzipiell ist das die Funktionsweise des Algorithmus zur sogenannten pitch-Bestimmung bzw. zur Extraktion des Tonhöhenverlaufs. Der Tonhöhenverlauf des ersten Verses des gesprochenen Gedichtes „Das Tal“ ist unterhalb der Wellenform in Abb. 1 dargestellt.

Abb. 1: Illustration von Sprachmelodie und musikalischer (vokaler) Melodie. A: Wellenform-Darstellung einer Aufnahme des Gedichts „Das Tal“ von Ludwig Uhland. Die Wellenform trägt die Amplitude des Signals über die Zeit ab. Für die erste Zeile sind die Silbengrenzen in der Wellenform markiert. Darunter ist die Extraktion des Tonhöhenverlaufs in stimmhaften Lauten illustriert (F0 – Grundfrequenz in Hertz). Die Tonhöhen zeigen keine diskreten Werte, sondern vielmehr Konturen. B: Die Mittelwerte der Tonhöhen pro Silbe lassen sich zusammen mit der Silbendauern in eine musikalische Notation bringen. Diese musikalische Notation kann dann mit den gleichen statistischen Methoden analysiert werden wie originär musikalische Melodien. C: Beispiele für Vertonungen des Gedichts „Das Tal“ von Ludwig Uhland. Die Unterschiede dieser Vertonungen und der Zusammenhang mit dem sprachlichen Ausgangsmaterial werden im Haupttext besprochen.

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Dort ist zu sehen, dass die Tonhöhe nur für stimmhafte Laute bzw. Vokale abgebildet ist und außerdem selbst innerhalb einzelner Silben variiert (in Form sogenannter „pitch glides“). Bisherige Forschung an der Schnittstelle zwischen Sprache und Musik legt aber nahe, dass in 90% aller Silben von einer gemittelten Tonhöhe ausgegangen werden kann, weil die Tonhöhenveränderung innerhalb der Silbe unterhalb einer gewissen Wahrnehmungsschwelle bleibt (vgl. Patel et al. 2006). Diesem Ansatz ist auch hier gefolgt worden. In jeder Silbe wurde in initialer, mittlerer und finaler Position die jeweilige Tonhöhe (in Hertz) bestimmt und über die drei Positionen gemittelt. Um diesen Wert weiter an eine musikalische Repräsentation anzunähern, ist er auf die nächste Halbtonstufe innerhalb der wohltemperierten Stimmung abgebildet worden. Die Silbendauer wurde ebenfalls auf einen diskreten Wert abgebildet. Dieser Wert leitet sich aus der Praxis der Notendauer-Bezeichnung ab: Eine ganze Note würde in diesem System einer Sekunde entsprechen, eine halbe Note einer halben Sekunde (oder 500 Millisekunden) und so weiter. Die kleinste Dauer, der noch eine sinnvolle Silbendauer entspräche, ist eine Sechzehntel-Note, die unter diesen Voraussetzungen die zeitliche Ausdehnung von 62,5 Millisekunden hätte. Wenn die Tonhöhenverläufe aus der Sprache solchermaßen umgewandelt werden, lässt sich eine quasimusikalische Notation erstellen, die unterhalb des Tonhöhenverlaufs in Abb. 1 dargestellt ist. Zur besseren visuellen Erkennung wurden die Tonhöhen um zwei Oktaven nach oben oktaviert. Diese Art der Notation erhebt nicht den Anspruch auf einen musikalisch anerkannten Tonsatz, sondern dient vielmehr als Ausgangspunkt weiterer statistischer Melodieanalysen, die damit parallel für Sprache und Musik angewendet werden können.

2.2 Deskriptive Statistik von Tonhöhen und Intervallen Die Verteilung von Tonhöhen in der Zeit lässt sich mit statistischen Methoden beschreiben. Dies ist in bisheriger Forschung vor allem zur Bestimmung von Melodieähnlichkeiten praktiziert worden (vgl. Müllensiefen und Frieler 2007; Müllensiefen und Halpern 2014). Im vorliegenden Beispiel wird die Sprachmelodie des Gedichts „Das Tal“ von Ludwig Uhland mit der Melodie der Singstimme zweier Vertonungen desselben Gedichts verglichen. Dabei ist die Sprachmelodie, wie im vorigen Abschnitt beschrieben, aus der gesprochenen Version des Gedichts extrahiert und auf diskrete Notenwerte abgebildet worden. Die Melodien der Vertonungen wurden aus der Notation der jeweiligen Singstimme gewonnen und gemäß der MIDI-Konvention in Tonhöhen- und Tondauer-Werte übersetzt.

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Eine naheliegende beschreibende Kenngröße von Melodien ist deren Tonumfang, also der Abstand zwischen dem tiefsten und dem höchsten Ton. Für alle drei Melodien im vorliegenden Beispiel wurde der Tonumfang in Halbtonschritten bzw. Halbtönen bestimmt. Für den Text liegt der Umfang bei 13 Halbtönen, also etwa bei einer Oktave. Den gleichen Umfang zeigt die Vertonung von Conradin Kreutzer. Die damit bestehende Ähnlichkeit von Kreutzers Vertonung zur Sprachmelodie lässt sich auch aus Abb. 1 ablesen. Die Tonhöhenverläufe der ersten Zeile ähneln denen der extrahierten Sprachmelodie sehr. Die Vertonung von Richard Strauss unterscheidet sich dagegen und weist einen Umfang von 22 Halbtönen auf, also etwa zwei Oktaven. In Bezug auf den Tonumfang ist damit die Kreutzer-Vertonung näher am typischen Sprachmelodie-Umfang und die Strauss-Vertonung näher am typischen Musikmelodie-Umfang. Ein weiteres Maß für die Tonhöhenverteilung ist die mittlere Abweichung vom Tonhöhenmittelwert (Standardabweichung der Tonhöhen). Die Sprachmelodie zeigt mit 2,8 Halbtönen eine relativ kleine Abweichung. Die Vertonung von Kreutzer liegt mit 3,4 Halbtönen im Mittelfeld, und die Vertonung von Strauss weist mit 5 Halbtönen die größte Abweichung auf. Diese Abweichungsverhältnisse deuten an, dass die Sprachmelodie relativ kleine Intervalle zwischen benachbarten Tönen bevorzugt, während die Intervalle in der Musik größer sind. Dies lässt sich sehr einfach anhand der mittleren Intervallgröße zwischen zwei benachbarten Tönen für die drei Beispiele berechnen. In der Tat liegt die mittlere Intervallgröße in der Sprachmelodie bei 2,2 Halbtönen, in der Vertonung von Kreutzer bei 2,5 Halbtönen und in der Vertonung von Strauss bei 2,7 Halbtönen. Ein weiteres informatives Maß ist die Bestimmung des häufigsten Intervalls zwischen zwei benachbarten Tönen. In der Sprachmelodie ist dies genau ein Halbton, während es in den beiden Vertonungen jeweils zwei Halbtöne sind. Das größte Intervall zwischen zwei benachbarten Tönen ist für alle drei Beispiele relativ ähnlich und liegt für die Sprachmelodie bei 10 Halbtönen, für Kreutzer bei 11 Halbtönen und für Strauss bei 9 Halbtönen. Schließlich sind aus den 204 Silben des Gedichts bei Kreutzer 279 und bei Strauss 235 Töne entstanden. In beiden Fällen ist damit im Durchschnitt einer Silbe mehr als ein Ton zugeordnet worden, nämlich 1,37 Töne pro Silbe bei Kreutzer und 1,15 Töne pro Silbe bei Strauss.

2.3 Quantifizierung von Intervall und Kontur Für die Berechnung von Melodieähnlichkeit hat Müllensiefen einen Katalog von mehr als 50 Merkmalen vorgeschlagen (2009). Diese Merkmale lassen sich in Merkmale mit einem Fokus auf die Intervallstruktur und in Merkmale mit einem

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Fokus auf die Kontur der Melodie einteilen. Wir haben in unserer Arbeitsgruppe ein Maß abgeleitet, das beide Aspekte – also Intervall und Kontur – gleichermaßen berücksichtigt (Scharinger und Menninghaus 2016). Dieses Maß basiert auf einer Autokorrelationsanalyse der Toneigenschaften Tonhöhe, Tondauer, und Tonintensität. Hier soll es allerdings nur um Tonhöhe gehen. Eine Autokorrelation ist die Korrelation eines Signals mit sich selbst zu unterschiedlichen (früheren) Zeitpunkten. Im Prinzip wird dazu eine Zeitreihe um unterschiedliche Intervalle (von 0 bis zur Länge der Zeitreihe weniger 1) gegenüber der Originalzeitreihe verschoben. Für jede Verschiebung (oder für jeden Abstand) wird dann die gemittelte Korrelation zwischen den entsprechenden Werten (hier: Tonhöhen) berechnet. Anhand von Autokorrelationen können so wiederkehrende Muster in Zeitreihen erkannt und quantifiziert werden (vgl. Korotkov et al. 2003). Dies wird insbesondere auch zur automatischen Analyse von Musik genutzt (Toiviainen und Eerola 2006; Cocco und Bavaud 2015). Wenn Autokorrelationsanalysen mit Tonhöhen berechnet werden, lassen sich damit wiederkehrende Töne über größere Abstände hinweg bestimmen. Wir haben das Maß der Autokorrelation so angewandt, dass wir zunächst die Autokorrelationen für alle Tonabstände der originalen Zeitreihe (also der originalen Tonhöhenverläufe) bestimmt haben und dann die Autokorrelationen von permutierten Zeitreihen, in denen die Töne in zufällige Reihenfolgen gebracht wurden. Wir haben insgesamt 10.000 solcher Zeitreihen mit zufälligen Tonabfolgen generiert und für jeden Tonabstand den Korrelationswert bestimmt. Damit können wir berechnen, ob der Korrelationswert der originalen Zeitreihe sich signifikant von dem einer zufälligen Anordnung von Tönen unterscheidet. Im nächsten Schritt haben wir die Proportion der signifikanten Autokorrelationen berechnet, indem wir die Anzahl der signifikanten Autokorrelationen durch die Anzahl der Abstände teilten. Das resultierende Maß ist ein Quotient zwischen 0 und 1. Er reflektiert damit die Wiederkehr von gleichen oder nahe beieinanderliegenden Tönen über unterschiedliche Abstände hinweg. Wenn dieser Wert 1 ist, würden alle Korrelationswerte signifikant sein und die Melodie damit aus ein und demselben Ton bestehen. Dies ist in der Regel nicht der Fall. Gleichzeitig kann die Visualisierung der Autokorrelationen pro Abstand Aufschlüsse über die Ähnlichkeitsstruktur von Tonhöhenverläufen geben. Da die Ähnlichkeitsstruktur Wiederholungen abbildet und Wiederholungen ein wesentliches Merkmal von Melodien sind (Bradley 1971; Margulis 2013; Nunes, Ordanini und Valsesia 2015), ist das Maß eine besonders informative, statistische Darstellung von Melodien. Abb. 2 illustriert das Maß der Autokorrelation für zwei Musikbeispiele. Im ersten Beispiel sind die (notierten) Tonhöhen des Volksliedes „Der Mond ist aufgegangen“ mit der Melodie von Johann Peter Abraham Schulz

Abb. 2: Illustration des Autokorrelationsmaßes für zwei unterschiedliche Musikbeispiele. A: Das Volkslied „Der Mond ist aufgegangen“ mit der Melodie von Johann Peter Abraham Schulz (3 Strophen) zeigt eine sehr regelmäßige Abfolge von Autokorrelationskoeffizienten. Ein besonders hoher Autokorrelationswert besteht zwischen Strophenabständen nach ungefähr 40 Tönen. B: Krebskanon aus Johann Sebastian Bachs Musikalischem Opfer (BWV 1079). Die Umkehr der Melodie ist anhand der Autokorrelationen erkennbar: Nach ungefähr der Hälfte werden die Autokorrelationen negativ. Eine Strophenstruktur wie in A. ist nicht ersichtlich.

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analysiert worden (Abb. 2 A). Die Autokorrelationsrepräsentation zeigt einen sehr regelmäßigen Wechsel von positiven und negativen Korrelationen über die verschiedenen Tonabstände hinweg. Ein sehr hoher Korrelationswert markiert die Position der Strophe: Über Strophen hinweg wiederholen sich die Töne und resultieren daher notwendigerweise in einer hohen Korrelation. Doch auch innerhalb der Strophe wiederholen sich Motive und Tonhöhen, insbesondere über die beiden Strophenhälften hinweg, die sich nur durch die Töne auf den Reimworten („klar“ – „wunderbar“) unterscheiden. Negative Korrelationen geben an, dass ein hoher Ton mit einem tiefen Ton über einen bestimmten Abstand hinweg korreliert. So treten im Abstand von 10 Tönen jeweils ein relativ tiefer und ein relativ hoher Ton auf. Beispielsweise kontrastiert der Ton auf dem beginnenden „der“ mit einem wesentlich höheren Ton auf „Stern-“. Im zweiten Beispiel sind die Tonhöhen eines Krebskanons von Johann Sebastian Bach (BWV 1079) in eine Autokorrelationsrepräsentation überführt worden. Ein Krebskanon ergibt vorwärts und rückwärts die gleiche Melodie und ist damit gewissermaßen ein musikalisches Palindrom. Diese Struktur wird anhand der Autokorrelationen visualisiert (Abb. 2 B). Ungefähr an der Mittelposition werden die Autokorrelationen negativ und markieren damit den Symmetriepunkt des Kanons. Eine Strophenstruktur ist hier nicht erkennbar. Das Autokorrelationsmaß wurde eingangs als Quantifizierung von Intervallen und Konturen vorgestellt. In der Tat können Intervall- und Kontureigenschaften von Melodien über die Zeitreihe der Korrelationen beobachtet und beschrieben werden. Das Maß der Proportion signifikanter Autokorrelationen ist dabei ein globales Maß der Selbstähnlichkeit von Melodien, während einzelne Autokorrelationskoeffizienten die Selbstähnlichkeit über Strophenpositionen hinweg angeben können. Im folgenden Beispiel werden die bereits erwähnten Gedichtvertonungen in Bezug auf ihre Autokorrelationsstruktur noch einmal miteinander verglichen.

2.4 Tonhöhenautokorrelationen in Sprache und Musik Die anhand Abb. 1 beschriebene Transformation von kontinuierlichen Tonhöhen in der Sprache zu diskreten Tonhöhen ermöglicht dieselbe Autokorrelationsanalyse von Sprachmelodie und musikalischer Melodie. Diese Analysen wurden für das gesprochene Gedicht „Das Tal“ von Ludwig Uhland sowie für die Vertonungen von Kreutzer und Strauss (jeweils anhand der Singstimme) durchgeführt. In der Autokorrelationsrepräsentation der Sprachmelodie ist zunächst ein relativ hoher Korrelationswert an der Position des Tonabstands zu erkennen, der dem Strophenabstand entspricht (Abb. 3 A). Dieser Befund ist bemerkenswert,

Abb. 3: Illustration der Autokorrelationsrepräsentation für Sprache und Musik. A. Autokorrelationen der diskreten Tonhöhen, basierend auf einer gesprochenen Version von Ludwig Uhlands „Das Tal“. Vergleichbar mit dem einführenden Musikbeispiel korrespondiert ein hoher Autokorrelationswert mit dem Tonabstand, der die Strophenabstände markiert. Innerhalb der Strophe korrespondiert des Weiteren ein relativ hoher Korrelationswert mit dem Tonabstand, der die Reimabstände markiert. Tonabstände in diesem Beispiel sind gleichbedeutend mit Silbenabständen. B. Autokorrelationsrepräsentation der Tonhöhen der notierten Singstimme von Conradin Kreutzers Vertonung. Sehr deutlich ist die hohe Autokorrelation zum Strophenabstand zu erkennen. C. Autokorrelationsrepräsentation der Tonhöhen der notierten Singstimme von Richard Strauss’ Vertonung.

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denn im Gegensatz zum Musik-Beispiel des Strophenlieds, in dem das gesamte Tonmaterial über die Strophen hinweg wiederholt wird, ist bei gesprochener Sprache von strophenartigen Gedichten zunächst nicht unbedingt von einer Wiederholung der Tonhöhen auszugehen, zumal die Tonhöhen eigentlich unabhängig vom Sprachmaterial moduliert werden können. Die Interpretation dieses Befundes ist, dass das Maß sensitiv auf eine genuine Sprachmelodie reagiert, die sich direkt mit der musikalischen Melodie vergleichen lässt (Scharinger und Menninghaus 2016). Interessanterweise besteht auch ein Zusammenhang zwischen dem Autokorrelationsmaß der Tonhöhen gesprochener Gedichte und der Wahrscheinlichkeit einer späteren Vertonung dieser Gedichte. Scharinger und Menninghaus (2016) konnten zeigen, dass Gedichte mit einer hohen Tonhöhenautokorrelation eher vertont wurden als solche mit einer niedrigen Tonhöhenautokorrelation. Außerdem wird eine hohe Tonhöhenautokorrelation in gesprochenen Gedichten als melodisch bewertet (Scharinger und Menninghaus 2016). Das deutet darauf hin, dass dieses statistische Melodiemaß perzeptuelle Relevanz hat. In der Vertonung von Kreutzer ist die Autokorrelation am Strophenabstand ebenfalls sehr gut zu erkennen und aufgrund der Tonwiederholung in den drei Strophen auch deutlich ausgeprägter (Abb. 3 B). Die Ähnlichkeit der Strophenstruktur zwischen dem Text und der Vertonung wird in der Autokorrelationsrepräsentation gut sichtbar. Im Kontrast dazu spiegelt die Autokorrelationsrepräsentation der Vertonung von Strauss Symmetrien wieder, die so nicht in der Sprachmelodie oder der Vertonung von Kreutzer zu finden sind (Abb. 3 C). Es ist eine gewisse Dreiteilung der Autokorrelationen zu erkennen, die mit den drei Strophen übereinzustimmen scheint. Ungefähr im ersten Drittel sind die Korrelationen positiv, im zweiten Drittel negativ, bevor sie dann im letzten Drittel wieder positiv sind. Auf jeden Fall unterscheidet sich die Autokorrelationsrepräsentation der Strauss-Vertonung sowohl von der gesprochenen Textvorlage als auch von der Kreutzer-Vertonung. Ein Blick auf die Proportionen signifikanter Autokorrelationen bestätigt das: Für das gesprochene Gedicht liegt der Wert bei 0,29, für die Vertonung durch Kreutzer bei 0,27 und für die Vertonung durch Strauss bei 0,53. Die Melodie bei Strauss ist damit durch mehr Selbstähnlichkeit in Bezug auf den Tonhöhenverlauf gekennzeichnet.

2.5 Zwischenstand Melodie als geordnete Folge von Tönen in der Zeit hat ihren Ursprung in der Musik, weist aber bereits in ihrer Begriffsgeschichte einen sehr engen Bezug zur Sprache auf. Neben einem deskriptiven Vergleich von Melodie in Musik

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und Sprache wurde in diesem Kapitel die empirische Erfassung von Melodiekenngrößen skizziert. Diese Kenngrößen ergänzen und komplementieren die aus dem deskriptiven Vergleich gewonnenen Erkenntnisse. Einige der Kenngrößen unterstreichen die Ähnlichkeiten zwischen Sprachmelodie und musikalischer Melodie, während einige andere Kenngrößen die jeweiligen spezifischen Eigenschaften von Sprachmelodie und musikalischer Melodie hervorheben. Im abschließenden Teil dieses Kapitels soll neben der deskriptiven und empirischen signalorientierten Ebene auch die Ebene der kortikalen Verarbeitung von Melodie besprochen werden. Diese Ebene fällt in den Bereich der Melodiewahrnehmung und der Musikkognition und wird zum Beispiel in Patel (2010) ausführlicher beschrieben.

3 Neurobiologische Untersuchungen der Melodiewahrnehmung Sprachmelodie und musikalische Melodie werden gleichermaßen über die auditive Modalität, also das menschliche Hörsystem wahrgenommen.

3.1 Überblick Prinzipiell überführt das menschliche Gehör Schallwellen in neuronale Aktivität und neuronale Aktivitätsmuster. Im Einzelnen regen die Schallwellen, die auf einer akustisch übermittelten Melodie basieren, das menschliche Trommelfell am Ende des Gehörgangs zu Schwingungen an. Diese Schwingungen werden über die Gehörknöchelchen auf das Innenohr übertragen und dort in elektrische Potentialdifferenzen umgewandelt. Aus dem Innenohr werden diese Potentialdifferenzen über den Hörnerv, einen Strang von Nervenfasern, an weitere Verarbeitungszentren übermittelt. Dies geschieht über die sogenannte Hörbahn, die letztlich im menschlichen Gehirn bzw. in den dortigen hörspezifischen Regionen endet. Die Verarbeitungszentren umfassen in aufsteigender Reihenfolge zunächst den Hirnstamm, dann den auditiven Thalamus und schließlich den sogenannten Hörkortex oder die Hörrinde (Moore 2012, vgl. Abb. 4). Der Hörkortex ist eine Region in den Temporallappen des menschlichen Gehirns und umfasst die sogenannten Heschl-Windungen (Heschl’s Gyrus, Gyrus transversalis). Der Begriff „Windung“ wird verwendet, um die Struktur des Gehirns zu beschreiben und in unterschiedliche strukturelle Typen einzuteilen.

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Abb. 4: Schematische Übersicht über die wichtigsten kortikalen Verarbeitungsregionen von akustischer Information.

So gliedert sich das Gehirn in Windungen, die an der Oberfläche sichtbar sind und die von den sogenannten Furchen (sulci) abgetrennt werden. Am posterioren Ende des Hörkortex befindet sich das Planum temporale, am anterioren Ende das Planum polare. Der Hörkortex ist Teil des Gyrus temporalis superior und befindet sich in dessen posteriorem Teil (s. Abb. 4).

3.2 Methoden der Messung neuronaler Aktivität Neuronale Aktivität, die der Wahrnehmung akustischer Signale zugrunde liegt, kann auf mehrere Arten gemessen werden. Die zwei wichtigsten nichtinvasiven Methoden sind die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) sowie die Elektroenzephalographie (EEG). Bei der funktionellen Magnetresonanztomographie macht man sich die magnetischen Eigenschaften von unterschiedlichen Sauerstoffkonzentrationen im Blut zunutze. Es wird dabei angenommen, dass der Sauerstoffgehalt des Blutes mit neuronaler Aktivität korreliert, weil aktive Neuronen mit relativ mehr Sauerstoff versorgt werden müssen (Buxton 2009). Damit kann neuronale Aktivität zwar nur indirekt nachgewiesen werden; die Methode erlaubt aber eine sehr gut räumliche Auflösung, die bis zu 1 mm in jeder Dimension reicht. Funktionelle MRT-Aufnahmen werden daher bevorzugt zur genauen Lokalisierung von Prozessen im Gehirn benutzt.

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Auf der anderen Seite erlaubt das EEG ein direktes Abgreifen neuronaler elektrischer Aktivität von der Kopfoberfläche. Dabei wird die summierte Aktivität einiger Zehntausend Neuronen im Vergleich zu einem elektrisch neutralen Punkt mit Hilfe von Elektroden bestimmt, die auf der Kopfoberfläche angebracht werden. Das EEG-Rohsignal stellt eine Spannungsänderung über die Zeit dar und ähnelt dem Aktivitätsmuster einzelner Neuronen. Allerdings wird für ein EEG-Experiment nicht das Rohsignal, sondern ein gemitteltes Signal über mehrere Wiederholungen einzelner Reize hinweg verwendet. Dieses ereignisabhängige, gemittelte Signal wird als ereigniskorrelierte Potential (EKP) bezeichnet. Im Gegensatz zur fMRT-Analyse ist das EEG räumlich relativ ungenau, dafür aber zeitlich hochauflösend. Zur Lokalisierung von Gehirnaktivität, die der Verarbeitung von Melodien zugrunde liegt, wird daher weniger EEG als vielmehr fMRT verwendet.

3.3 Verarbeitungszentren von Tönen und Melodien Bisherige fMRT-Studien zur Verarbeitung von Musik im Allgemeinen und zur Verarbeitung von Melodien im Speziellen sind sich einig darüber, dass die initiale Tonanalyse im Hörkortex stattfindet. Insbesondere Teile der Heschl-Windungen werden als wichtiges Zentrum der Tonhöhenanalyse betrachtet (Patterson et al. 2002; Hall und Plack 2009). In diesem Teil des Gyrus temporalis superior befinden sich Neuronen, die auf spezifische Frequenzen akustischer Reize reagieren. Die Anordnung dieser Neuronen ist nicht zufällig, sondern folgt dem Verlauf ansteigender bzw. abfallender Frequenzen. Diese sogenannten tonotopischen Karten repräsentieren damit Tonhöhenunterschiede in Form von Positionsunterschieden im Temporallappen und spiegeln die Anordnung frequenzspezifischer Regionen im Innenohr wider (Romani, Williamson und Kaufman 1982; Humphries, Liebenthal und Binder 2010; Saenz und Langers 2013). Hyde, Peretz und Zatorre (2008) machten die interessante Beobachtung, dass die Auflösung von Tonhöhenunterschieden im rechten Hörkortex, insbesondere im Planum temporale, besser ist als im linken Hörkortex. Diese Beobachtung reiht sich ein in eine Vielzahl von Befunden, die nahelegen, dass die rechte Gehirnhälfte während der Verarbeitung von Musik tendenziell stärker aktiviert ist als zum Beispiel während der Verarbeitung von Sprache. Allerdings hat sich auch gezeigt, dass diese Asymmetrie sehr von der verwendeten Aufgabe und von den verwendeten (musikalischen und sprachlichen) Reizen abhängt. Detaillierte Studien legen nahe, dass die rechtshemisphärische Präferenz für musikalische Reize damit zu tun hat, dass die Hörareale in der rechten Hemisphäre geeigneter für spektrale Analysen akustischer Signale sind, während die

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entsprechenden Areale in der linken Hemisphäre eher die temporalen Analysen der Signale unterstützen (Zatorre, Belin und Penhune 2002). Einen sehr interessanten Befund berichten Schindler, Herdener und Bartels (2013) in ihrer fMRT-Studie zu kurzen Melodien. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass die Hörareale in den Heschl-Windungen und im Planum temporale auf Tonhöhenveränderungen reagieren, aber unabhängig von der Tonart und unabhängig von der Klangfarbe der verwendeten Töne. Die Autoren interpretieren dies als Nachweis für die Verarbeitung melodischer Gestalt in primären kortikalen Hörregionen. Andere Studien zeigen eine funktionelle Differenzierung von kleineren Regionen im Temporallappen. Warren et al. (2003) zum Beispiel manipulierten absolute Tonhöhen und Tonhöhenunterschiede innerhalb einer Oktave (Chroma) unabhängig voneinander. Die Autoren zeigten, dass absolute Tonhöhen im posterioren Teil der Hörrinde (im Planum temporale) verarbeitet werden, während die Verarbeitung von Chroma-Unterschieden vom anterioren Teil der Hörrinde (Planum polare) unterstützt wird. Angulo-Perkins et al. (2014) argumentieren, dass anteriore Teile im Gyrus temporalis superior präferenziell bei der Extraktion von Melodie rekrutiert werden. Einen eher anterioren Schwerpunkt innerhalb der Hörareale für Melodieverarbeitung zeigt auch die Studie von Patterson et al. (2002). All diese Studien demonstrieren, dass sich mit ansteigender Komplexität akustischer Reize die Schwerpunkte ihrer Verarbeitung von den primären Hörregionen entfernen. Während diese Entfernung zumeist entlang der anterior-posterioren Richtung zu beobachten ist, gibt es auch Beispiele für eine Entfernung entlang der superiorinferioren Richtung. In einer Studie zu bekannten Melodien zeigten Herholz, Halpern und Zatorre (2012), dass ein Verarbeitungszentrum im Gyrus temporalis medius liegt. Der Gyrus temporalis medius liegt unterhalb des Gyrus temporalis superior und damit in inferior Entfernung der primären Hörareale. Dieselbe Verlagerung kortikaler Aktivität mit steigender Stimuluskomplexität zeigt sich übrigens auch für Sprachlaute (Obleser und Eisner 2009; Okada et al. 2010) und weist damit auf eine Parallele in der Verarbeitung von Sprache und Musik hin. Diese Parallelen werden auch deutlich, wenn man Studien betrachtet, die sich mit der Verarbeitung prosodischer Sprachaspekte sowie der Sprachmelodie beschäftigen. Ethofer et al. (2009) untersuchten gesprochene Wörter, die entweder eine neutrale Prosodie hatten oder mit einer Prosodie realisiert wurden, die Verärgerung ausdrückte. Unterschiede in dieser affektiven Prosodie wurden im Gyrus temporalis medius beobachtet, der wie zuvor gezeigt auch musikalische Melodie verarbeitet. Wildgruber et al. (2005) verwendeten mehr als zwei Kategorien affektiver Prosodie und fanden, dass der posteriore Teil des rechten Sulcus temporalis superior auf diese Prosodie-Unterschiede reagierte. Befunde aus fMRT-Studien stimmen zumeist darin überein, dass prosodische Aspekte

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gesprochener Sprache – und damit auch die Sprachmelodie – präferenziell die rechtshemisphärischen Hörareale rekrutieren (Sammler et al. 2015). Parallelen zur Sprachverarbeitung werden auch auf höheren Ebenen deutlich, etwa wenn es um die hierarchische Anordnung von Wörtern auf der einen und Tönen auf der anderen Seite geht. Lerdahl und Jackendoff (Lerdahl und Jackendoff 1983) leisteten Pionierarbeit und übertrugen eine linguistisch basierte, generative Syntaxtheorie auf tonale Musik. Ihre Arbeit suggeriert, dass die Verarbeitung von hierarchisch angeordnetem Tonmaterial dieselben Gehirnareale rekrutieren sollte, die auch bei Verarbeitung sprachlicher Syntax eine Rolle spielen. Die klassische Region zur Verarbeitung linguistischer Syntax umfasst das sogenannte Broca-Areal und befindet sich im Frontallappen des menschlichen Gehirns, genauer: im Gyrus frontalis inferior (vgl. Abb. 4; Friederici 2002, 2012). Viele der oben zitierten Studien zur Melodieverarbeitung berichten interessanterweise auch Aktivierung innerhalb des Gyrus frontalis inferior (z. B. Herholz et al. 2012, vgl. auch Janata et al. 2002; Koelsch 2011). Die Studie von Kunert et al. (2015) vergleicht die syntaktische Integration von sprachlichem und musikalischem Material in direkter Weise. Die Autoren berichten einen Interaktionseffekt von Sprache und Musik im linken Broca-Areal, also im Gyrus frontalis inferior. Dieser Befund deutet darauf hin, dass Sprache und Musik in der Tat Verarbeitungsressourcen teilen, die nicht primär mit der akustischen Verarbeitung zu tun haben. In einigen Studien zur Melodieverarbeitung geht es auch darum, wie die primäre Verarbeitung vom Melodiegedächtnis beeinflusst wird. Die Autoren dieser Studien sind zumeist daran interessiert, welche Gehirnregionen diesem Melodiegedächtnis zugrunde liegen. Einige Autoren argumentieren, dass der Gedächtnisabruf durch Areale im Frontallappen unterstützt wird bzw. dass sich das Melodiegedächtnis im Frontallappen befindet (z. B. Janata 2005; Watanabe, Yagishita und Kikyo 2008; Herholz et al. 2012). Relativ wenige Studien beschäftigen sich explizit mit dem Langzeitgedächtnis in Bezug auf Melodie. Diese Studien deuten aber auch darauf hin, dass sich das Langzeitgedächtnis für Melodien in frontalen Regionen, insbesondere im rechten Gyrus frontalis inferior, befinden könnte (Groussard et al. 2009; Groussard et al. 2010). Einige Autoren argumentieren allerdings, dass sich das Melodiegedächtnis wahrscheinlich nicht an einer Stelle verorten lässt, sondern vielmehr durch die Interaktion von Aktivität in temporalen und frontalen Regionen charakterisiert ist (Zatorre, Evans und Meyer 1994; Janata 2005). Eine Besprechung von Gehirnstudien, die auf weitere Aspekte der Melodieverarbeitung eingehen und zum Beispiel die Semantik berücksichtigen, ist an dieser Stelle leider nicht möglich. Sehr gute Überblicke findet man allerdings bei Patel (2010) und bei Koelsch (2011).

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4 Ausblick Melodie in Musik und Sprache ist ein komplexer Gegenstand – akustisch wie perzeptuell. Dieser Beitrag hat versucht, einige Möglichkeiten der Beschreibung von Melodie in Musik und Sprache aufzuzeigen und mit empirischen Analysemethoden auf der Ebene der Akustik zu komplementieren. Gleichzeitig sollte der kurze Überblick über Methoden der Hirnforschung zur Melodieverarbeitung demonstrieren, dass einige der deskriptiven Eigenschaften von Melodie tatsächlich neurobiologische Relevanz haben. Obwohl in den letzten Jahren ein großer Fortschritt im Bereich der neuronalen Grundlagen von Melodiewahrnehmung zu verzeichnen gewesen ist, sind noch längst nicht alle Aspekte der Melodiewahrnehmung und Verarbeitung geklärt. Die methodische Vielfalt, die durch die Gehirnforschung ermöglicht wird, setzt auch voraus, dass viele Fragen und Ansätze präzisiert werden, um damit die Menge der Daten aus diesem Forschungsbereich sinnvoll zu interpretieren. Zukünftige Gehirnstudien sollten viele der statistischen Maße aus der Musikkognition berücksichtigen und zum Beispiel versuchen, die Selbstähnlichkeitsstruktur von Melodien über das Maß der Autokorrelation mit der Aktivierung in temporalen und frontalen Regionen zu korrelieren. Dies ist nur ein Beispiel von sehr vielen Möglichkeiten, die sich in der interdisziplinären Forschung zur Melodie anbieten.

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Empirische Zugänge zur Erforschung sprachlicher Rhythmen in der Literatur 1 Einleitung Rhythmus ist ein zentrales Charakteristikum einer Vielzahl kosmologischer, physikalischer und biologischer Prozesse. Der Begriff bezeichnet Ordnungsmuster, die über das strukturierte, sukzessive Auftreten von Elementen des gleichen Typs charakterisiert sind. Rhythmen bestimmen nicht nur zahlreiche physiologische Vorgänge und motorische Routinen wie die Atmung oder den Gang, sondern beeinflussen auch maßgeblich die Wahrnehmung (vgl. z. B. Dilley und McAuley 2008; ten Oever et al. 2017). Auch in der Sprache ist Rhythmus präsent und bildet schon vor der Geburt die Grundlage für die sprachliche Entwicklung. So gehört Prosodie zu den sprachlichen Informationen, die das Individuum am frühesten, nämlich bereits im Mutterleib, wahrnimmt und verarbeitet. Studien mit Neugeborenen belegen die Salienz solcher früh erworbenen prosodischen Muster: Die Schreie von Säuglingen können bestimmten rhythmischen Ordnungsmustern zugeordnet werden, die der vorrangingen lexikalischen Betonungsverteilung in der Muttersprache entsprechen (Mampe et al. 2009). Darüber hinaus sind neugeborene Kinder in der Lage, die mutterspachlichen prosodischen Muster von nichtmuttersprachlichen zu unterscheiden (Mehler et al. 1988) Der Begriff des Sprachrhythmus ist terminologisch ambig (Jassem et al. 1984; siehe auch Bruhn 2000): Einerseits wird er eingesetzt, um ein prosodisches Strukturprinzip zu beschreiben, das aus Intervallstrukturen und Betonungsmustern besteht, also aus rekurrenten formalen Merkmalen sprachlicher Äußerungen. Andererseits bezeichnet er ein performatives Phänomen, nämlich die individuelle Realisierung und Repräsentation in der Produktion und Rezeption sprachlicher Äußerungen (vgl. Henke 1993; Wagner 2008, 3). Wichtig gerade für die Interessen der Literaturwissenschaft ist dabei, dass Rhythmus nicht nur beim Sprechen und Hören realisiert wird, sondern eben auch beim stillen Lesen, wobei es die rhythmischen Muster der inneren Stimme sind (Huey 1908, 122), die dabei die implizite Prosodie des Textes realisieren. Natürlich genießen individuelle Sprecher keine absolute Intonationsfreiheit; vielmehr unterliegen sowohl das Strukturprinzip als auch das performative Phänomen einer Vielzahl linguistischer Beschränkungen. Danksagung: Mein herzlicher Dank gilt Stefan Blohm für zahlreiche wertvolle inhaltliche Hinweise und Diskussionen, die entscheidend zur Gestaltung dieses Aufsatzes beigetragen haben. https://doi.org/10.1515/9783110630756-004

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Diese Beschränkungen betreffen die Struktur der Worte selbst (lexikalische Prosodie), ihre Anordnung (Syntax) sowie ihre konzeptuelle Prominenz (Informationsstruktur) (vgl. Selkirk 1984; Selkirk 1995; Wagner 1999; Schmitz und Wagner 2006; Baumann 2006). Im Rahmen dieser Beschränkungen stehen allerdings häufig verschiedene Optionen zur Verfügung (beispielsweise, was die Wortwahl oder Satzstellung betrifft), die einen unterschiedlichen Grad an Regelmäßigkeit in der Rekurrenz von Elementen des gleichen Typs aufweisen können. Bereits in nicht-literarischer Sprache zeigt sich dabei eine tendentielle Präferenz für rhythmisch möglichst regelmäßige Varianten. Ein besonderes Maß an Rhythmizität wird häufig bei denjenigen sprachlichen Objekten angenommen, denen literarischer Wert zugeschrieben wird. Wenn allerdings bereits die sogenannte ‚Alltagssprache‘ rhythmisch sein kann und sogar eine Präferenz für ein möglichst hohes Maß an Rhythmizität nachweisbar ist, was ist dann die Besonderheit literarischer Rhythmen? Welcher Methoden bedarf es, um sie zu identifizieren? Mit welchen Mitteln können wir sie nach Gattungen (und gegebenenfalls nach Autoren oder Epochen) differenzieren? Und wie können wir sie vergleichbar machen, beispielsweise um die Rhythmen eines Romans, eines Prosagedichts und einer Ballade einander gegenüberzustellen? Theorie und Analyse lyrischer Rhythmen bilden traditionell einen festen Bestandteil literaturwissenschaftlicher Arbeit; lyrische Rhythmen werden meist auf der Basis poetischer Metren (oder ihres Fehlens) definiert und beschrieben. Dagegen wurde die Annahme, dass auch literarische Prosaformen rhythmisch geprägt sind, bisher nur am Rande untersucht. Der Literaturwissenschaft fehlt nicht nur ein umfassendes Konzept des Prosarhythmus, sondern auch ein verlässlicher methodischer Zugang, um Prosarhythmen fassbar, messbar, überprüfbar und analysierbar zu machen. Nicht zuletzt steht eine literaturwissenschaftliche Herangehensweise an literarische Rhythmen auch vor einem fachspezifischen Problem: Die moderne Literaturwissenschaft ist bei der Analyse von Texten durch ein beinahe ausschließliches Interesse an objektseitigen Eigenschaften und Funktionen geprägt. Das heißt, dass das Studium der Rezeptionserfahrung tatsächlicher Leserinnen und Leser, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle spielt; eine Ausnahme bildet das Studium von historischen Lektürezeugnissen, doch ist in diesem Fall eine kleinteilige Erfassung von Rezeptionserfahrungen in der Regel gar nicht mehr möglich. Dieser Mangel an empirischen Erfahrungswerten stellt die Literaturwissenschaft vor das Dilemma, dass die mentale Repräsentation, ohne die die Konzepte Prosodie und Sprachrhythmus gar nicht denkbar sind, der Forschung (mit Ausnahme von Selbstberichten) im Wesentlichen unzugänglich bleibt. Im Folgenden soll eine empirisch-experimentelle Perspektive eingenommen werden, die versucht, Rhythmus sowohl als Strukturprinzip als auch als

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performatives Phänomen zu fassen. Die Argumentation fußt auf der These, dass die literaturwissenschaftliche Rhythmusanalyse von Erkenntnissen aus benachbarten Disziplinen profitieren kann, um geeignete Konzepte und Methoden zu entwickeln: Die Erforschung und Beschreibung prosodischer Eigenschaften der Sprache und ihre Generalisierung sind traditionell Gegenstand der Phonologie; die Analyse melodischer Strukturen ist Gegenstand der Musikwissenschaft. Doch auch eine interdisziplinäre Vernetzung mit Computerphilologie und Computerlinguistik, mithilfe derer Verteilungsmuster von rhythmischen Rekurrenzen in größeren Korpora untersucht werden können (also Rhythmus als Strukturprinzip), kann den Erkenntnisinteressen der Literaturwissenschaft dienen, ebenso wie die Berücksichtigung von neurowissenschaftlichen und psychologischen Studien, die physiologische Korrelate von Rhythmusverarbeitung in den Blick nehmen (also Rhythmus als performatives Phänomen). Eine interdisziplinäre Herangehensweise, die diese Ansätze zu integrieren und ihr methodisches Potential für literaturwissenschaftliche Fragestellungen auszuloten versucht, steht im Zentrum der folgenden Überlegungen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass eine solche Diskussion angesichts der Vielfältigkeit der Ansatzmöglichkeiten notwendigerweise unvollständig bleiben muss.

2 Sprachrhythmus und literarische Rhythmen Sprache ist immer und untrennbar an individuelle Repräsentation gebunden: die Idee von Sprache ohne Sprecher, Hörer oder Leser ist, wie Hermann Paul feststellt, „eine abstraktion ohne alle realität“ (Paul 1877, 323; siehe auch Osthoff und Brugmann 1878, iii–xx). Eine solche ‚lebende‘ Sprache ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass ihre Sprecher, Hörer und Leser eine tendentielle Präferenz für rhythmische Ordnungsprinzipen haben. Sprachrhythmus im engeren Sinne entsteht durch die regelhafte Abfolge betonter und unbetonter Silben (Libermann und Prince 1977). Kontrast ist dabei das Wesen des Rhythmus: Präferiert werden Konstellationen, in denen sich adjazente Silben hinsichtlich ihrer Prominenz unterscheiden (Henrich et al. 2014; siehe auch Bohn et al. 2011). Vor allem in Bereichen, die linguistische Gestaltungsmöglichkeiten einzelner Sprecherinnen und Sprecher betreffen, zeigt bereits die sogenannte ‚Alltagssprache‘, die keinen künstlerischen Anspruch erhebt, einen starken Drang zu rhythmischen Ordnungsmustern. Diese Tendenz wird beispielsweise daran deutlich, dass Wortstellung zugunsten rhythmischer Ordnung verändert wird (Vogel et al. 2015), dass teilweise sogar grammatische Strukturen geändert bzw. angepasst werden, wie Julia Schlüter am Beispiel des Englischen ausführlich darstellt (Schlüter 2005), oder dass

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präferierte rhythmische Muster (im Deutschen z. B. der Trochäus) innerhalb bestimmter Kontexte auch entgegen der üblichen lexikalischen Prosodie durchgesetzt werden (Cutler 2012; Wiese und Speyer 2015). Die Präferenz für rhythmisierte Sprache, also prosodische Parallelismen, scheint sich beim Sprechen und beim Lesen stark zu gleichen (Wiese 2016). Im weiteren Sinne schließt der Sprachrhythmus auch andere Aspekte mit ein: Interpunktion und daraus folgende Zäsuren, die das Auftreten von Rhythmus erst ermöglichen (vgl. z. B. Goldman-Eisler 1958; Molbaek-Hansen et al.1993; Misono und Kiritani 1990; Steinhauer 2003), Silben-, Wort-, Satz- und Absatzlängen sowie semantische Betonungsmuster, die häufig syntaktisch markiert sind, beispielsweise durch die oben genannte veränderte Wortstellung, also durch syntaktische Inversion. Welche Aufschlüsse nun erlauben diese Erkenntnisse für die Beschreibung von Rhythmen in künstlerischer Sprache? Zunächst ist Literatur in erster Linie Sprache; daher ist davon auszugehen, dass die lexikalische Prosodie auch in literarischer Sprache weitgehend erhalten bleibt und die gleichen oder ähnliche Rhythmus-Regeln gelten wie in der sogenannten ‚Alltagssprache‘. Im Sinne der Theorie Roman Jakobsons hat künstlerische Sprache aber eine verstärkte poetische Funktion, das heißt, literarische Sprache ist potentiell reicher an poetischen Merkmalen als Alltagssprache (Jakobson 1960, 357). Die Struktur poetischer Sprache lebt nach Jakobson insbesondere von der Etablierung parallelistischer Ordnungsmuster (Jakobson 1960, 368). Rhythmus gehört zu den prominentesten unter diesen Ordnungsmustern, insbesondere, wenn eine metrische Struktur vorliegt. Man könnte demnach mit Jakobson annehmen, dass (a) in literarischer Sprache die bereits im alltäglichen Sprechen angelegte Bereitschaft, zugunsten des Rhythmus die lexikalische Prosodie zu beugen oder die Wortstellung zu verändern, noch stärker ausgeprägt ist, und dass (b) diese Ausprägung weiter steigt, wenn es sich zusätzlich um metrisierte Sprache handelt. Doch sind diese Annahmen empirisch validiert? In Bezug auf die metrisierte Verssprache der Lyrik sind rhythmische Strukturen vergleichsweise gut beschrieben; bereits seit der Antike werden die Begriffe des Metrums und des Rhythmus zueinander in Bezug gesetzt (vgl. z. B. Buchheim 1989, 8–9; Alexiou 2010, 52). Während Metren festgelegte phonologische ‚Schablonen‘ darstellen, mit Hilfe derer die Abfolge zwischen betonten und unbetonten Silben und die Länge der einzelnen Versfüße ex ante festgesetzt und dadurch generalisierbar wird, entsteht Rhythmus aus einer regelhaften oder überwiegend regelhaften Abfolge starker und schwacher bzw. betonter und unbetonter Silben, die aber keiner festgelegten Schablone folgen muss. Der Rhythmus eines (korrekt gelesenen) lyrischen Textes ist also immer die Verwirklichung des metrischen Schemas, kann aber auch kleine Abweichungen davon beinhalten, wie Victor Žirmunskij darlegt:

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[. . .] meter has to do with general laws governing the alternation of strong and weak sounds, while rhythm concerns specific, concrete cases of the application of these laws and of variations on the basic metrical scheme. (1966, 17)

Der Rhythmus metrisierter Texte wird zusätzlich verstärkt durch parallelistische Merkmale, die bestimmte Positionen innerhalb des Metrums gesondert markieren, wie Reim, Alliteration, Anapher oder syntaktische und teilweise syntaktischprosodische Parallelismen (Menninghaus et al. 2017). Neben solchen, potentiell positionsverstärkenden phonologischen Merkmalen können auch zentrale semantische Einheiten an Betonungspositionen stehen und diese zusätzlich verstärken (Kraxenberger und Menninghaus 2016) – im Sinne der Theorie Fechners, die davon ausgeht, dass unterschiedliche künstlerische Merkmale einander durch Kookkurrenz „ästhetische[] Hülfe und Steigerung“ bieten, sich also gegenseitig verstärken (Fechner 1876, 50–53). Der Effekt des Metrums ist jedoch auch in Abwesenheit anderer parallelistischer Strukturen stark, was insofern nicht überrascht, als metrische Regelmäßigkeit nicht nur eine strenge formale Einschränkung darstellt, sondern den Rhythmus des Gedichtes in der Regel durchgängig bestimmt. Empirische Methoden zur Erfassung metrischer Rhythmen in der Lyrik umfassen sowohl computationelle als auch experimentelle Ansätze. Im computationellen Bereich geht es primär um den Versuch, die metrische Struktur lyrischer Texte und Abweichungen von dieser Struktur zu beschreiben und elektronisch zu erfassen, und zwar (auch) über größere Korpora hinweg, so dass es möglich wird, die historische Entwicklung bestimmter metrischer Formen bei bestimmten Autoren oder in bestimmten lyrischen Genres nachzuzeichnen. Ein Programm, das dies für deutsche Lyrik möglich macht, ist der von Klemens Bobenhausen und Benjamin Hammerich entwickelte Metricalizer (Bobenhausen und Hammerich 2017; Bobenhausen 2011), der Reimschema, Metrum und Strophenform von Gedichten automatisiert feststellen sowie ihr Auftreten in zwei großen Korpora analysieren kann (dem TextGrid mit ca. 50.000 Belegen und der Freiburger Anthologie mit ca. 1.500 Belegen). Insofern erlaubt das Programm eine Zuordnung von Metren, die über das hinausgeht, was man problemlos händisch annotieren könnte. Zusätzlich erfasst der Metricalizer, wo metrische Hebungen konträr zu erwartbaren lexikalischen Betonungen stehen und so den Rhythmus des Textes beeinflussen (ergänzt um eine Prosodieanalyse, die Aufschluss über die teilweise ebenfalls abweichende historische Aussprache gibt). Die relativ hohe Genauigkeit der computationellen Analyse wird anhand eines Vergleichs mit zwei Standardwerken zu Strophenformen deutlich, die weniger Information über die historische Entwicklung poetischer Strukturen enthalten als sich aus den mit Hilfe des Metricalizers gewonnenen Daten ableiten lässt (Schlawe 1972; Frank 1993). Ähnliche computationelle Vorstöße gibt es auch für andere Sprachen.

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Auch in der Literaturwissenschaft gibt es einige, allerdings nicht-computationelle Versuche, Betonungsmuster in der Prosa durch die Zuweisung von Akzenten zu erfassen. Der berühmteste Vertreter dieser Vorgehensweise ist vermutlich noch immer George Saintsbury (Saintsbury 1922), dessen Ansatz darin bestand, individuelle Rhythmuserfahrungen theoretisch zu konzeptualisieren, basierend auf einem eher intuitiven, händischen Annotationsverfahren von Betonungen. Aus den dergestalt gewonnenen Daten leitete er Hypothesen über das Vorkommen und die Positionierung metrischer Füße und prosodischer Gruppen in englischer Prosa ab. Diese Herangehensweise bleibt, wenn auch statistisch nur begrenzt belastbar, bis heute unter den wenigen Versuchen, empirische Analysen von Betonungsmustern literarischer Prosa in theoretische Konzepte zu überführen. Eine ähnliche Vorgehensweise, wenngleich philologisch deutlich weniger elaboriert, wurde unter anderem auch von Karl Marbe für das Deutsche und von Albert Thumb für das Griechische angewandt (Marbe 1904; Thumb 1913). Ergänzt werden solche Überlegungen zu silbenbasierten Betonungsmustern durch intervallbasierte Konzepte wie das von Fucks (Fucks 1956), und darauf aufbauend, von Best (z. B. Best 2002). Letztere gehen davon aus, dass rhythmische Einheiten in der Prosa sich durch typische Längen und Längenverteilungen auszeichnen, die sich aus Informationen zur Verteilung von Wort- und Satzlängen ableiten lassen. Die beschriebenen Methoden behandeln Rhythmus als formale Eigenschaft des Textes, bieten aber natürlich nur eine theoretische Annäherung an tatsächliche Realisierungen des Phänomens. Experimentelle Studien dagegen untersuchen die Verarbeitung rhythmischer Strukturen in literarischen Texten durch empirische Leser. Der Fokus auf den empirischen Leser geht mit offensichtlichen Limitationen einher: Zur Verfügung stehen ausschließlich zeitgenössische Leser, was im Hinblick auf literaturwissenschaftliche Arbeit, die eher an historischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen interessiert ist, oft als Einschränkung empfunden wird; und die analysierten Leseerfahrungen entstehen meist in einem Laborsetting, das einer normalen Lesesituation bestenfalls teilweise ähnelt. Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass sich das menschliche Gehirn über die Geschichte der Literatur hinweg nicht nennenswert verändert hat. Der kulturelle Erfolg rhythmischer Strukturen in unterschiedlichen Texten und vergleichbare Reaktionen auf diese Strukturen über unterschiedliche Personengruppen hinweg lassen daher die Annahme plausibel erscheinen, dass die Verarbeitung rhythmischer Information relativ stabil ist. In experimentellen Lyrikstudien wird das Metrum in der Regel gemeinsam mit dem Rhythmus untersucht, da es experimentell schwierig ist, die beiden voneinander zu trennen (Müller 2000, 80). In einer Studie von 1983 zeigen Frederick Turner und Ernst Pöppel, dass das Gehirn eine Präferenz für metrisierte über nicht metrisierte Poesie hat (Turner und Pöppel, 1983); weitere Studien

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belegen, dass metrisierte Poesie besser erinnert wird als Prosa (wobei theoretisch ein Teil dieses Effektes weniger auf das Metrum als auf die Versstruktur zurückzuführen sein könnte) (Tillmann und Dowling 2007). Die spezifische rhythmische Struktur ist außerdem mitverantwortlich für weitere Effekte metrisch gebundener Lyrik: Sie beeinflusst die Intensität der emotionalen Erfahrung (Kraxenberger und Menninghaus 2016; Obermeier et al. 2013) und die Einschätzung von Schönheit und Klangqualität der Texte (Menninghaus et al. 2017), kann den Eindruck von Humor verstärken (Menninghaus et al. 2014) und erleichtert die kognitive Verarbeitung (Obermeier et al. 2016). Violationen des metrischen Schemas dagegen führen zu Irritation (Rothermich et al. 2010; Breen und Clifton 2011). Die metrische Schablone repräsentiert also eine ordnende Superstruktur, die Einfluss auf die erwartete Prosodie hat; die perzeptuelle Bedeutung von Rhythmus kann insofern besonders deutlich an Metren und ihren Verletzungen betrachtet werden. Schwieriger wird es allerdings bereits im Bereich der sogenannten „freien Rhythmen“, ein Begriff, der breite Verwendung genießt, aber zunächst keinen Aufschluss über die Natur des jeweiligen Rhythmus erlaubt. Das Konzept der freien Rhythmen wurde im Deutschen von Klopstock etabliert. Der Eindruck von Rhythmus entsteht hier in Abwesenheit festgelegter Betonungsmuster und Verslängen ausschließlich aus anderen formalen Parallelismen, die trotz geringerer zeitlicher Regelmäßigkeit oder Wiederholungsfrequenz den Eindruck von Alternanz erwecken können, wie zum Beispiel Wortwiederholungen, syntaktische Parallelismen und kunstvoll gespannte semantische Bögen. Die Strukturierung in Verse mag ebenfalls zu einem gewissen Grad den Eindruck von Rhythmizität erwecken, auch wenn die Verse unterschiedlich lang sind. Die Wiederholungen freirhythmischer Lyrik sind nur scheinbar regelhaft, es gibt also keine a priori festgelegte Länge rhythmischer Einheiten. Das legt nahe, dass hier der Rhythmus, anders als bei den computationell erfassbaren, von zählbaren Einheiten repräsentierten metrischen Schablonen, ausschließlich perzeptueller Natur sein könnte, wie auch Oliver Niebuhrs Studie zu nichtliterarischer Prosa suggeriert (Niebuhr 2009). Das Konzept der „freien Rhythmen“ in nicht-metrisierter Lyrik legt weiterhin nahe, dass jede Art literarischer Sprache, die sich nicht dem durch Opitz festgeschriebenen Metrenzwang unterworfen sieht, dennoch rhythmisch sein kann; und dass literarische Sprache auch dann als rhythmisch wahrgenommen wird, wenn sowohl die Längen rhythmischer Einheiten als auch die wiederkehrenden Merkmale, an denen Rhythmizität festgemacht wird, innerhalb eines Werks unterschiedlich sind. Aus dieser Sicht, und mit Hinblick auf George Saintsburys Erkenntnisse, scheint es nur sinnvoll, auch in literarischer Prosa von der Existenz freier Rhythmen auszugehen.

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Allerdings gibt es bisher für literarische Prosa keine empirische Evidenz, die dem Forschungsstand zur Lyrik entspräche und die darauf hindeuten würde, dass Jakobsons Vorstellung von erhöhter Parallelität poetischer Sprache sich auch bei Prosa in erhöhter Rhythmizität gegenüber der sogenannten ‚Alltagssprache‘ niederschlagen würde (vgl. z. B. Nolan und Jeon 2014). Während einige Studien die These unterstützen, dass eine Etablierung von Rhythmen beim Lesen dem Leser eine gewisse formale Vorhersehbarkeit auf der Satz- und Absatzebene erlaube (Newman 1946; Kurz 1999), kommen andere zu dem Schluss, dass Vorhersehbarkeit rhythmischer Entwicklungen anders als in der Lyrik bei Prosa schlicht keine Rolle spiele (Bolinger 1972). Für die Erforschung von Rhythmen in literarischer Prosa könnte dies zum einen bedeuten, dass ein verstärkter Fokus auf Syntax zu erwägen wäre, genauer gesagt, auf Inversionen; nicht nur, weil Inversionen rhythmische Ordnungsmuster etablieren können, sondern auch, weil Begriffe durch syntaktische Umstellungen in semantisch relevante Betonungspositionen gelangen können. Es wäre interessant zu betrachten, inwieweit in literarischer Prosa Inversionen eingesetzt werden, um dieses Zusammenfallen zu begünstigen. Auch weitere syntaktische Figuren könnten auf diesen Aspekt hin betrachtet werden, wie beispielsweise Ellipsen, Polysyndeta und Asyndeta. Zweitens wäre zu untersuchen, an welchen Stellen Silben aufeinanderstoßen, die laut lexikalischer Prosodie betont sein müssten (also Fälle von sogenanntem Hebungsprall oder Hochtonhiatus). Solche Positionen sind in der Versdichtung oft zusätzlich metrisch markiert, beispielsweise im Pentameter, wo in der dritten und vierten Silbe zwei gehobene Silben direkt aufeinanderfolgen; ein Zusammentreffen, das spürbar wird, da eine gleich starke Realisierung der beiden Betonungen nur durch Einlegen einer kleinen Pause möglich wird, die im Metrum als Zäsur markiert ist. In der Prosa dagegen sind in Abwesenheit metrischer Regelhaftigkeit Abweichungen in der mentalen (oder verbalen) Realisierung der Betonungen durch den Leser möglich; ein Hebungsprall kann deswegen leichter vermieden und die Präferenz für Alternanz aufrechterhalten werden. Eine computationelle Studie von Anttila und Heuser zum Englischen und Finnischen zeigt entsprechend auch, dass das Phänomen des Hebungspralls in Lyrik prominenter ist als in Prosa, während in der Prosa Reihungen von Senkungen häufiger auftreten (Anttila und Heuser 2016). Eine dritte mögliche Herangehensweise betrifft Wort-, Satz- und Absatzlängen und ihr Verhältnis zueinander. Die Länge von Sätzen und Absätzen steht in direktem Verhältnis zum Auftreten von Pausen unterschiedlicher Länge, die in Prosa häufig, aber nicht immer, mit Interpunktion zusammenfallen und rhythmische Einheiten begrenzen (vgl. O’Callaghan 1984). Viertens existieren auch in literarischer Prosa metrische Gruppen, obschon diese nicht regelhaft und

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schon gar nicht über das gesamte Material hinweg auftreten. Gleiches kann übrigens auch in nicht-literarischer Sprache der Fall sein, bei deren Verfassen ästhetische Aspekte keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt haben dürften; ein Beispiel dafür ist ein Satz aus William Whewells Elementary Treatise on Mechanics, der aufgrund seiner metrischen Regelmäßigkeit als leicht bearbeitetes objet trouvé seinen Weg in Gedichtsammlungen gefunden hat: And so no force, however great, Can strain a cord, however fine, Into a horizontal line That shall be absolutely straight.

(William Whewell war freilich wenig erfreut, seine Wissenschaftsprosa als Lyrik zitiert zu sehen und entfernte den Satz in der folgenden Ausgabe (Whewell 1847, 88; N. N. 1971, 218)). Es ist anzunehmen, dass solche Reihungen in literarischer Prosa mit voller ästhetischer Absicht eingesetzt werden, insbesondere an spezifischen hervorgehobenen Positionen, die das Interesse des Lesers binden oder einen semantischen Höhepunkt anzeigen sollen. George Saintsburys Studien legen beispielsweise eine erhöhte metrische Regelmäßigkeit in Satzendpositionen und an Stellen nahe, die aus semantischen Gründen auch phonologisch markiert sind (1922, 452); Saintsbury identifiziert in diesem Kontext eine Reihe unterschiedlicher Versfüße aus der antiken Lyrik, die häufig in englischer Prosaliteratur auftreten, zwar nicht durchgängig, aber miteinander zu Mustern kombiniert: We have occasionally noted [. . .] that many of the most attractive rhythm-groups in prose appear to be founded on a sort of foot-extension, and the foot-retraction, of feet related to each other in composition or cadence – monosyllable, iamb, amphibrach, third paeon, dochmiac – dochmiac, paeon, amphibrach, trochee, with a final monosyllable, or not, according to a provision which corresponds to catalexis in verse. (1922, 450–451)

Die Identifikation solcher quasi-metrischen Reihungen in Abhängigkeit von Position wäre auch für die Beschreibung von Prosarhythmen in der deutschen Literatur zu untersuchen. Alle vier Ansätze erlauben sowohl eine computationelle als auch eine experimentelle Herangehensweise; in der Tat wäre hier eine Verbindung aus beiden der Königsweg: Nur die experimentelle Herangehensweise kann sicherstellen, dass die durch computationelle Ansätze identifizierten Aspekte perzeptuell relevant sind; und nur die computationelle Herangehensweise kann sicherstellen, dass die experimentellen Ergebnisse auf Phänomene rekurrieren, die regelhaft und mit einer gewissen Dichte auftreten.

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3 Musikrhythmus und literarische Rhythmen Eine andere Möglichkeit, sich dem Phänomen literarischer Rhythmen empirisch zu nähern, entsteht aus ihrer Nähe zur Musik. Musik und Literatur gehören beide zu den temporalen Künsten: Die Kunstwerke entstehen in einer durch die Struktur des Kunstwerks vorgegebenen Reihenfolge im Bewusstsein des Rezipienten. Anders beispielsweise als bei der Betrachtung eines Bildes, die ebenfalls nach und nach geschehen kann, wird der Rezipient mit einem klar intendierten zeitlichen Ablauf konfrontiert. Zwar kann man beim Lesen im Sinne Roland Barthes’ selber bestimmen, ob man das Buch von Deckel zu Deckel liest oder kreuz und quer, ob man Passagen überspringt oder wiederholt (Barthes 2002, 6), und manche Texte, wie beispielsweise B.S. Johnsons The Unfortunates, verweigern eine eindeutige Reihenfolge einzelner Elemente. (Vergleichbar, wenn auch wohl seltener, ist das Überspringen oder Wiederholen bestimmter Passagen beim privaten Musikhören.) Dennoch aber bleibt klar, in welcher Reihenfolge die Rezeption intendiert war, und dass die inkrementelle Sinnentnahme in der vorgegebenen Reihenfolge nicht nur die Norm ist, sondern schlicht nicht vollständig aufgehoben werden kann – jeder Teil, der rezipiert wird, ist in sich wiederum inhärent temporal gegliedert, wie Stanley Fish herausstellt: „In an utterance of any length there is a point where the reader has only taken in the first word, and then the second, and then the third, and so on [. . .]“ (Fish 1970, 27). Diese inkrementelle Erfahrung wird durch eine Reihe von Ordnungsmustern gegliedert, deren vielleicht prominentestes der Rhythmus ist. Obwohl aber Rhythmus ein Bindeglied zwischen den temporalen Künsten darstellt, gibt es seit Olivier Messiaens Traité de rythme kaum noch Versuche einer theoretisch fundierten gemeinsamen Definition (Messiaen 1994–2002). In der Musikwissenschaft ist die Forschung zum Rhythmus deutlich weiter fortgeschritten als in der Literatur- und Sprachwissenschaft. Das ist kein Zufall: In der Beschreibung und Strukturierung musikalischer Werke ist Rhythmus neben Harmonie, Melodie, Dynamik und Tempo einer der zentralen Parameter. In der Beschreibung und Strukturierung sprachlicher Äußerungen dagegen stehen typischerweise diejenigen formalen Parameter im Vordergrund, die den praktischen Funktionen menschlicher Kommunikation dienen, also der Vermittlung referentieller Bedeutung (Jackendoff 1984, 39). Dennoch zeigen bestehende Studien, dass die rhythmische Ordnung von Musik und Sprache nicht unabhängig voneinander abläuft (vgl. Sievers 1912, 46). Die Beeinflussung scheint dabei beiderseitig zu sein: Der Einfluss sprachlicher Rhythmen auf musikalische ist offenbar so groß, dass die Prosodie der Muttersprache eines Komponisten Einfluss auf die Rhythmik seiner Kompositionen nimmt (Abraham 1974; Wenk 1987; Patel und Daniele 2003; Patel et al. 2006);

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umgekehrt werden lyrische Texte eher vertont, wenn sich die prosodische Struktur des Textes leicht in musikalische Ordnungsprinzipien integrieren lässt (Palmer und Kelly 1992). Diejenige literarische Gattung, die sich den stärksten rhythmischen Limitationen unterwirft, nämlich die Lyrik, gewinnt unter anderem dadurch melodische Qualitäten, die sie in die Nähe der Musik rücken; es ist kein Zufall, dass die Sangbarkeit lyrischer Texte seit der Antike ein zentrales Thema ist. Jüngere Studien aus der Hirn- und Gedächtnisforschung legen nahe, dass es generelle Ähnlichkeiten in der Verarbeitung und der Erinnerbarkeit von Lyrik und Musik gibt, die auch auf rhythmische Strukturen zurückzuführen sein könnten (Chandrasekaran et al. 2009; Patel und Daniele 2003; Patel et al. 2006; Tillmann und Dowling 2007), und unterstützen die Hypothese, dass sprachliche und musikalische Kompetenz einander verstärken (Magne et al. 2016). Gerade versgebundene Sprache wird offenbar nicht nur als semantisches Phänomen prozessiert, sondern bedingt gerade durch ihre spezifischen rekursiven Merkmale eine besondere Art der Verarbeitung. So zeigen Zeman und Kollegen, dass bei der Lektüre lyrischer Texte, nicht aber bei der Lektüre von Prosa, Gehirnregionen aktiviert werden, die ebenfalls bei der Verarbeitung komplexer musikalischer Muster aktiv sind (Zeman et al. 2013). Schrott und Jacobs stellen die Hypothese auf, dass sowohl bei Musik als auch bei metrisierter Lyrik die Informationsvermittlung sekundärer Natur ist, dass aber „Modulation von Tempo und Taktarten [. . .] körperlich spürbare [] Erregungskurven“ in uns auslösen. Metrische Verssprache wäre demnach, so ihre Position, „eine auf ihre emotionale Ebene reduzierte Sprache, die sich auf unsere Motorik überträgt, um uns Stimmungen vorzugeben“ (Schrott und Jacobs 2011, 320) – ebenso wie die Musik. Was lässt sich daraus für die Erfassung von Rhythmen in der Literatur ableiten? Zunächst entsteht eine realistische Einschätzung der zu erwartenden Ergebnisse: Die Einsicht, dass lyrische Rhythmen musikalischen ähneln und deutlich größeren Einfluss auf die Verarbeitung haben als Prosarhythmen, legt nahe, dass rhythmische Strukturen primär in der Lyrikrezeption erwartet, erkannt und als entscheidendes Merkmal prozessiert werden. Dies ist mehr als eine überflüssige empirische Bestätigung der banalen Erkenntnis, dass hinter der stärkeren Formalisierung von Lyrik vermutlich menschliche Präferenzen stecken; vielmehr lässt sich daraus eine Überlegung zur Einteilung poetischer Genres ableiten. Wenn wir annehmen dürfen, dass das rhythmische Profil die emotionale Erfahrung in Poesie deutlich stärker beeinflusst als in Prosa, und wenn wir weiter annehmen, dass beide Dichtungsarten emotionale Kraft besitzen, dann stellt sich die Frage, was dies für die vielfältigen lyrischen Formen bedeutet, die freirhythmisch und daher nicht metrisch markiert sind. Eine mögliche Hypothese wäre, dass solche Gedichte zwar regelhafte Eigenschaften von Lyrik besitzen, aber

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kognitiv eher wie Prosa verarbeitet werden, oder dass die Verarbeitung mit abnehmender rhythmischer Regelmäßigkeit stufenweise der Prosa angenähert wird. Eine solche Hypothese würde dafür sprechen, die Unterteilung in metrisierte und nicht-metrisierte lyrische Formen genauer zu untersuchen und zu beschreiben, da ein scheinbar rein formaler Unterschied hier eine radikal andere kognitive Repräsentation bedeuten könnte, die mit einer besonderen emotionalen Reaktion einhergeht – also mit einem der wichtigsten angenommenen Effekte von Lyrik. Weiterhin würde es sich in diesem Rahmen lohnen, die Debatte um den Begriff des „Prosagedichts“, übernommen von dem französischen Begriff „poème en prose“, neu aufzurollen. Während große Teile gerade der romanistischen Forschung mit dem Begriff des Prosagedichts arbeiten, um in Strophen eingeteilte Prosaformen (etwa von Baudelaire und Mallarmé) zu untersuchen, lehnen andere Lyrikforscher das Konzept strikt ab und verweisen darauf, dass nur ein in Verse eingeteiltes Konstrukt als Gedicht gelten könne (Lamping 1993, 36–41; Fabb 2015, 5). Wenn wir aber annehmen, dass zwischen den Polen der metrisierten Lyrik einerseits und der narrativen Prosa andererseits Abstufungen bestehen, die regelhafte rhythmische Strukturen graduell mehr oder weniger verwenden, und dass entsprechend auch die kognitive und emotionale Verarbeitung der rhythmischen Strukturen graduell angepasst sein könnte, so könnte man untersuchen, ob das sogenannte Prosagedicht als Übergangsform, die Strophen und rhythmisch regelmäßige prosodische Gruppen kennt, aber nicht in Verse eingeteilt ist, in der Tat insofern ein Gedicht sein könnte, als es zumindest zu einem gewissen Grad rhythmische Strukturierungen enthält, die für narrative Prosa unüblich sind. Diese Hypothese von graduell abnehmender Rhythmizität und ihrem Einfluss auf die Verarbeitung in den unterschiedlichen lyrischen Genres ist allerdings bislang nicht empirisch überprüft worden – ein wichtiges, aber kompliziertes Desiderat für zukünftige interdisziplinäre Forschung. Sollten sich aus solchen Studien regelhafte Unterschiede in wahrgenommener Rhythmizität zwischen den Genres ergeben, könnte man umgekehrt von computationeller Seite die Verteilung der rhythmischen Einflüsse untersuchen, die jenseits von Metrum und gegebenenfalls Reim die Konstruktion prosodischer Gruppen in unterschiedlichen lyrischen Genres beeinflussen. Für die Erfassung von Prosarhythmen ergibt sich aus der zu Musik und Lyrik gewonnenen Erkenntnis, dass starke Rhythmizität offenbar die Emotionalität der Verarbeitung beeinflusst, aber den Fokus auf die Mitteilung verringert, möglicherweise zweierlei. Einerseits wäre zu untersuchen, ob rhythmische Alternanz besonders in Passagen genutzt wird, die den Leser emotional an den Text binden sollen. So gibt es eine Reihe hoch metrischer Textanfänge in der Literatur (berühmte Beispiele wären etwa Kafkas „Jémand músste Jósef K.[á]

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verléumdet háben“ oder Sabatinis „He was bórn with a gíft of láughter / and a sénse that the wórld was mád“), aber bislang keine gesicherte empirische Evidenz, dass rhythmische Gruppen hier überzufällig häufig auftreten. Ebenfalls zu testen wäre die Hypothese, dass vielleicht gerade informationsarme Passagen, wie beispielsweise Landschaftsbeschreibungen im Roman, besondere Rhythmizität aufweisen könnten, um Stimmungen besser zu etablieren oder die vorübergehende Handlungsarmut durch emotionales Erleben aufzuwiegen. Ausgehend von einer gegenläufigen Hypothese könnte man aber auch betrachten, ob vielleicht im Gegenteil handlungsreiche Passagen durch besondere Rhythmizität auffallen, um so zusätzlich an emotionaler Kraft zu gewinnen. Auch in diesem Bereich gibt es bislang keine einschlägige Forschung.

4 Ausblick Wie aus dem Vorangegangenen ersichtlich, spielt sich die Erfassung literarischer Rhythmen in einem Spannungsfeld ab zwischen den normativen syntaktischen, grammatischen und prosodischen Eigenschaften einer bestimmten Sprache einerseits und ihren kunstspezifischen, aus ihrer starken Formalisierung erwachsenden Klangstrukturen andererseits. Klar ist auch, dass sowohl die Erfassung als auch die Beschreibung und nicht zuletzt die Deutung sprachlicher Rhythmen in der hyperformalisierten metrisierten Lyrik deutlich einfacher ist als in der Prosa. Ein weiterer Weg, literarische Rhythmen zu erfassen, bleibt dabei aber noch offen, und es ist ein Weg, den die empirische Forschung bisher nicht beschritten hat und der eine andere Herangehensweise besonders an die Rhythmen der narrativen Genres erlauben würde: die Idee, literarische Rhythmen als semantisches Phänomen zu beschreiben. Italo Calvino identifiziert diesen Bereich als eine zentrale Komponente literarischer Rhythmuswahrnehmung: A child’s pleasure in listening to stories lies partly in waiting for things he expects to be repeated: situations, phrases, formulas. Just as in poems and songs the rhymes help to create the rhythm, so in prose narrative there are events that rhyme. (Calvino 1988, 36)

In diesem Rahmen wäre zu untersuchen, inwieweit semantische Aspekte Einfluss auf den wahrgenommenen Rhythmus eines Textes haben: die sukzessive Einführung von Figuren, dialogische Wechsel in wörtlicher Rede, die Frequenz von Ortswechseln, Zeitsprüngen oder Vernetzung von Handlungssträngen innerhalb des Narrativs gehören alle zu den Strategien, durch die Texte eine gewisse Rhythmizität gewinnen könnten. Gleiches gilt für repetitive Handlungsverläufe, wie

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die Beschreibung der drei zu erledigenden Aufgaben oder der drei zu lösenden Rätsel im Volksmärchen. Zwar handelt es sich dabei vermutlich nicht um streng angeordnete Muster, doch wäre herauszufinden, inwieweit sie trotzdem mentale Repräsentationen von Rhythmizität beeinflussen können, wie Calvino sie beschreibt. Eine solche Herangehensweise ließe sich in einem gemischt methodischen Ansatz computationell und experimentell überprüfen: Während eine computationelle Analyse die zu überprüfenden diskursiven Ereignisse identifizieren und ihre Frequenz beschreiben könnte, wäre ein experimenteller Ansatz notwendig, um zu überprüfen, inwiefern ihr quasi-regelhaftes Auftreten zu einer kognitiven Repräsentation von Rhythmizität beiträgt. Insgesamt lässt sich aus dem Vorangegangenen jedoch schließen, dass literarische Rhythmen keine Einheit darstellen, die sich mit den immer gleichen Methoden erfolgreich und in aussagekräftiger Weise fassen lässt. Vielmehr muss es darum gehen, die spezifischen rhythmischen Besonderheiten bestimmter Genres und Subgenres genauer zu konzeptualisieren, um die Anwendbarkeit und inhaltliche Relevanz der dargestellten Methoden überprüfen zu können – eine Aufgabe, deren Ergebnisse potentiell weitreichende Folgen haben könnte für Fragen der Genrezuschreibung und -begrenzung, für die Konzeption von literarischer Sprache nicht nur als semantisches Gefüge, sondern auch als Klangereignis, und generell für eine verstärkte Anerkennung der Bedeutung kognitiver Repräsentationen auch in der objektorientierten Literaturwissenschaft.

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„Oh, God said to Abraham, Kill me a son“: Macht Musik Dylans Texte poetisch? 1 Fragestellung und Methode Nicht erst mit der Verleihung des Literatur-Nobelpreises stellte sich die Frage, was die lyrics von Bob Dylan literarisch taugen. Dass Bob Dylan als Sänger eine Jahrhundertgestalt – und zwar des 20. Jahrhunderts – ist, lässt sich nicht allen Ernstes bezweifeln. Man kann darüber streiten, inwiefern seine Zeit als Neuerweckter Christ mit Jesus als Zentralfigur künstlerisch wertvoll ist oder ob seine neuerliche Ausrichtung auf Frank Sinatra ähnlich anspruchsvoll ist wie die frühen Werke, deren Wirkung historisch tief nicht nur in der amerikanischen Geschichte, sondern global verwurzelt ist. Ob aber das umfangreiche Werk an Texten Teil der Literatur ist oder nur in Verbindung mit der Musik oder vielleicht auch nur durch die Stimme des Interpreten seine Bedeutung gewinnt, das ist eine Frage, die auch das Verhältnis von Literatur und Musik methodologisch noch einmal anders erscheinen lässt. Methodisch ist diese Frage keineswegs einfach; denn es gibt verschiedene Wege, die zuvor zu beschreiten sind, um überhaupt zur literarisch-musikalischen Fragestellung zu gelangen. Hier scheint ganz Grundsätzliches berührt zu werden: Was ist Musik? Aber mehr noch: Was ist Literatur? Beides lässt sich im Tagesgeschäft einfach beantworten: Wenn wir bei Spotify einen Titel streamen, wissen wir, dass wir Musik hören, und wenn wir einen Band der Frankfurter Anthologie aus dem Regal nehmen, wissen wir, dass die darin besprochenen Texte Literatur sind. Grenzbereiche der Neuen Musik, in denen Geräusche benutzt werden, oder Handkes berühmte Verarbeitung der Aufstellung des 1. FC Nürnberg am 27.1.1968 dienen genau dazu, die Grenzen der Definitionen zu thematisieren, in Frage zu stellen oder zu erweitern. Insofern entsteht ein Ungleichgewicht im Falle Dylans: Dass sein Gesang und sein Gitarrenspiel Musik sind, lässt sich nicht sinnvoll bezweifeln, auch wenn der Stimmumfang ebenso eng begrenzt ist wie die technischen Fähigkeiten des Interpreten, aber dass die Texte Literatur sind, scheint strittig zu sein. Die Texte scheinen ihren Wert nicht an und für sich zu haben und werden in der Literatur zu Dylan regelmäßig ‚autonomen‘ Gedichten gegenübergestellt: Diese seien zum Lesen da, jene zum Hören in Verbindung mit der Musik. Generell scheinen sich die Geister an der Frage zu scheiden, ob Songtexte überhaupt ein würdiger Gegenstand der Literaturwissenschaft sind und die geringe Zahl an literaturwissenschaftlichen Publikationen, die sich mit https://doi.org/10.1515/9783110630756-005

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Songtexten befassen, kann als Beleg dafür dienen, dass die Zweifler in der Mehrheit sind.1 Bob Dylans Songtexte werden in der Diskussion dieser Frage häufig als Prüfstein verwendet und sind schon Mitte der sechziger Jahre literaturwissenschaftlich untersucht und diskutiert worden: „Seitdem Ralph Gleason, der Vater der US-Folk-, Rock- und Pop-Kritik, ihn am 30.11.1965 im San Francisco Chronicle ‚Amerikas größten Dichter‘ nannte, ‚lief der Interpretationsrummel bald auf vollen Touren.‘“ (Faulstich 1978, 68)2 Gleichwohl hat der Nobelpreis die Diskussion wieder angeheizt, ob bei Dylans Songtexten überhaupt von Literatur und im Besonderen von nobelpreiswürdiger Literatur die Rede sein könne. Hier vermischen sich methodologisch verschiedene Aspekte: zum einen scheint die Wertungsfrage eine Rolle zu spielen, zum anderen ist so etwas wie eine ontologische Dimension eröffnet und schließlich gibt es eine Genredebatte. Im Folgenden soll zunächst versucht werden, in aller Kürze diese literaturwissenschaftlichen Grundsatzfragen, wenn auch nicht endgültig, zu beantworten, aber doch ein Stück weit zu klären, um dann an ausgewählten Dylan-Songs zu diskutieren, inwiefern Metaphorizität als Kennzeichen von Literarizität dienen kann. Schließlich wird überlegt, in welcher Weise die Frage nach der literarischen Eigenständigkeit von Dylans Songtexten empirisch untersucht werden könnte, und eine pilotierende und noch inkonklusive Studie vorgestellt.

2 Wertung, Ontologie und Genre Im Sprachspiel, bei dem jemand emphatisch sagt, dass ein bestimmter Text Literatur sei, geht es in alltäglichen Zusammenhängen meist um eine Wertungsfrage. In diesem Sprachspiel ist allerdings die Messlatte, an der der Wert abgenommen wird, in der Regel unsichtbar. Dieses Alltagsverständnis von ‚guter‘ Literatur oder überhaupt ‚Literatur‘ lässt sich vielleicht folgendermaßen

1 Beispielsweise ist im Konferenzbericht des F.A.Z.-Feuilletons vom 15.6.2016 über die Leipziger Tagung Lyrik/lyrics. Über Songtexte und ihr Verhältnis zu Gedichten die Rede von einem doppelten Unbehagen der deutschen Literaturwissenschaft gegenüber der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Songtexten: einerseits würden die lyrics als Texte abgewertet und andererseits würde es als peinlich empfunden, „den eigenen Herzensgegenstand“ wissenschaftlich zu untersuchen. Zu Walter Erharts These, dass Lyrik und lyrics „grundverschieden“ seien, heißt es: „Während das Bemühen, Weltliteratur in Bob Dylans Versen zu erkennen, zwar meist gelinge, lasse es sich aber gerade nicht verallgemeinern, so Erhart, der diesen Befund anhand eines Liedes von Neil Young auch plausibel machte. Ohne Musik und ohne Stimme bedeuten manche Lyrics nichts, so sein Fazit, das für Diskussion und Widerspruch sorgte“, schreibt Jan Wiele. 2 Faulstich zitiert hier: Weissner, Carl. „Another Side of Bob Dylan. Der Größte seit Shakespeare?“ Sounds 3 (1976): 18–21.

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rekonstruieren: Einer Leserin3 gefällt ein Text, was zunächst eine Folge der affektiven Wirkung des Textes ist, denn der Text weckt Emotionen, berührt die Leserin und regt sie an, sich Gedanken in die eine oder andere Richtung zu machen. Im nächsten Schritt wird diesem Gefallen ein normatives Gewicht verliehen. Wenn die Leserin nun sagt, ‚das ist Literatur‘, bedeutet das, dass es sich für die Sprecherin in diesem Sprachspiel bei dem Text um ein sprachlichrhetorisch beeindruckendes Werk handelt, das sie als Leserin nicht nur mit Spannungsmitteln in seinen Bann zieht, sondern für sie sowohl von der Thematik wie der Bearbeitung des Stoffes her eine moralisch, gesellschaftlich und vielleicht sogar politisch relevante Botschaft trägt. Vielleicht ist es sogar so, dass der Text die Leserin affektiv abstößt, sie nun in dieser Abstoßung aber genau die für modernistische Texte kennzeichnende Verfremdung erkennt und von dieser Wirkung so beeindruckt ist, dass sie den Text für wertvoll hält. Diese Wertungsdimension wird regelmäßig aus dem akademischen Diskurs über Literarizität ausgegrenzt, da sie ein bloßes Geschmacksurteil abzubilden scheint. Gleichwohl aber ist diese Frage die für den allgemeinen Leser eigentlich entscheidende und stets präsent, da sie den Verkehr des gesellschaftlichen und kulturellen Kapitals regelt, dessen Mehrung und Verwertung oft ein wichtiges Ziel bei der Beschäftigung mit Literatur war und ist. Aber auch für den professionellen Leser ist Wertung im Umgang mit Literatur implizit in allen Zusammenhängen bestimmend. Schon die Textauswahl beim Griff ins Regal (und was überhaupt im Regal steht) ist genauso wie die Auswahl von Texten für ein Seminar, eine Lektüre im Lesekreis oder eine Veranstaltung des Shared Reading von einer Wertung abhängig, deren Kritierien häufig nicht metadiskursiv thematisiert werden. Die Kennzeichnung eines Textes als ‚Literatur‘ ist historisch bekanntlich wandelbar und, da der Literaturbegriff als solcher alles andere als klar ist, auch schwierig, vor allem da, wo ein historisch breiter Konsens fehlt. Bob Dylans lyrics sind offenbar ein solcher Grenzfall, wo das Fehlen des Konsenses bei der Kritik an der Verleihung des Nobelpreises für Literatur besonders auffällig geworden ist. Für die Wertung eines Textes gibt es zunächst den wichtigen Unterschied zwischen den Polen „der extremen Möglichkeiten des Entwurfs von Wert als absolutem Eigenwert (dignitias) und relativem Vergleichswert (pretium)“ (Grübel 2013, 24) zum anderen gibt es verschiedene und vielfältige Bereiche, in denen die Wertung stattfinden kann (Rippl und Winko 2013, 120–263). Sie kann

3 Die ‚Leserin‘ ist an dieser Stelle eine konkrete Person, die in diesem Beispiel weiblich ist, da es empirisch wohl mehr Leserinnen als Leser gibt. Wenn nur vom ‚Leser‘ die Rede ist, bedeutet das ‚der Leser als Modell‘ und nicht ‚als empirischer Leser‘ oder ‚empirische Leserin‘.

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durch die Autorenintention oder den Verlag, die Form der Veröffentlichung als ‚Roman‘ zum Beispiel, in Gang gesetzt werden. Es können aber auch die sich aus dem Kotext, Kontext und Paratext ergebenden Lesererwartungen sein, die sich rezeptionsästhetisch rekonstruieren lassen und die eine Prozessierung des Textes als literarischen im lesenden Hirn anstoßen. Methodisch am offensichtlichsten ist die Frage, ob der Text als Text eine besondere Qualität hat. Diese formalistische Definition der Literatur und der durch sie möglichen Bewertung hat klassischerweise das Problem, dass sich literarische Texte nicht per se von nicht-literarischen Texten hinsichtlich ihrer Verwendung von rhetorischen Mitteln unterscheiden lassen (vgl. beispielsweise schon Lodge 1977, 1–9). Gleichzeitig aber sind bestimmte formale Kennzeichen typischerweise als Auslöser einer literarischen Rezeption wirksam: Reime und Strophen lassen den Leser geradezu reflexartig literarisch gestimmt werden, solange es sich um Texte handelt, die nicht unmittelbar als Songtexte, Gebrauchslyrik wie Werbung oder Geburtstagsgedichte erkennbar sind. An genau dieser Stelle offenbart sich eine diskursiv bewegliche Grenze: Manch einer wertet Songtexte prinzipiell ab, da sie nicht für die Lektüre, sondern für die Performanz und damit das Hören geschrieben seien. Literarisch tauge das dann nichts oder es lasse sich überhaupt nicht bewerten. Wie stark die Wertung bei der Betrachtung von Dylans Werk eine Rolle spielt, kann beispielhaft an einigen Formulierungen von Dieter Lamping gezeigt werden: In seinem Essay, der in der Tat auch nicht als literaturwissenschaftliche Studie auftritt, „Bob Dylan. Mutmassungen über eine Maske“ (Lamping 2017a), gibt Lamping eine Einschätzung des Gesamtwerkes von Dylan. Polemisch hebt Lamping zunächst hervor, dass Dylan von manchen für den größten oder einen der größten Popmusiker der letzten 50 Jahre gehalten werde. In Wirklichkeit aber habe Dylan vor 50 Jahren „aufgehört, ein erstrangiger Künstler zu sein“ (Lamping 2017a, 60). Blonde on Blonde von 1966 sei mit Highway 61 Revisted (1965) und Bringing It All Back Home (1965) der Höhepunkt und das Ende der die amerikanische Popmusik grundlegend verändernden Leistung Dylans. Sie [die drei Alben] sind im Wesentlichen Dylans künstlerisches Vermächtnis, mit der einen oder anderen Zugabe. Alles, was nach ihnen kam, war schwächer, manches nur ein wenig, wie John Wesley Harding oder Blood on the Tracks, das meiste aber sehr viel schlechter. Einiges Spätere fiel sogar so sehr gegen das Beste ab, dass man kaum glauben konnte, dass alles von ein und demselben Künstler stammt. (Lamping 2017b, 60)

Die Kriterien, auf denen diese Werturteile beruhen, werden nicht benannt und ein detailierter Nachweis, was da so schlecht sei, wird nicht erbracht. Einzelne Lieder wie Desolation Row werden als „am Ende ästhetisch unbefriedigend“ bezeichnet, auch Like a Rolling Stone habe „Längen“ (Lamping 2017b, 60). Das eigentliche Projekt Dylans, das seinen Einfluss auf die populäre amerikanische

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Musik begründe, sei jedoch die „Verbindung von elektrisch verstärkter Musik in der Nachfolge des Rock ‘n’ Roll und literarisch ambitionierten Texten.“ (Lamping 2017b, 60) An anderer Stelle formuliert Lamping das so: „Dylans Verdienst ist es, die moderne Lyrik mit der populären Musik verbunden zu haben, und dies in der sozusagen orphischen Personalunion von Autor, Sänger und Musiker.“ (Lamping 2017b, 72) Lamping hält die Texte von Dylan offenbar also für literarisch und betont auch, dass dies von der Literaturwissenschaft schon lange entdeckt worden sei.4 – Lamping erkennt also in den lyrics die Lyrik und wertet sie damit im Sinne der dignitas als Literatur, wenn auch diese nicht im Sinne des pretii literaturnobelpreiswürdig ist: Die Schwedische Akademie hat, seit Dylan anfing, sich einen Namen zu machen, eine Reihe von großen Lyrikern und Lyrikerinnen ausgezeichnet, unter ihnen Pablo Neruda, Eugenio Montale, Czeslaw Miłos, Joseph Brodsky, Octavio Paz, Derek Walcott, Seamus Heaney, Wisław Szymborska und Tomas Tranströmer. Andere Dichter hätten die Auszeichnung schon seit langem verdient – wie etwa Lars Gustafson und Hans Magnus Enzensberger. Bob Dylan reicht als Lyriker an keinen von ihnen heran. (Lamping 2017b, 74)

Dylan fehlt das „literarische Gewicht“ (Lamping 2017b, 74), heißt es zur Begründung. Dies wird nicht weiter ausgeführt oder begründet, Argumente sucht man in den beiden hier zitierten Texten vergeblich, was wohl dem Genre von Lampings Äußerung geschuldet ist, dem Essay. Gleichwohl sind diese Äußerungen Wertungen und zwar solche, deren Maßstäbe verborgen sind. Die Zuständigkeit der Literaturwissenschaft für die lyrics von Dylan ist zwar vielleicht ein Indiz für die Literarizität der Texte, doch einerseits aufgrund der fachspezifischen Unklarheit darüber, was der Gegenstand der Literaturwissenschaft überhaupt ist, da der Literaturbegriff einer allgemeinen und geteilten Definition harrt, und andererseits durch die kulturwissenschaftlichen Weiterungen des Faches, das damit alles auch nur sprachlich Verfasste zum Gegenstand des Faches zu machen vermag, muss eine literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit letztlich gar nichts für die Literarizität oder gar eine literarische Qualität bedeuten. Lampings Bemerkung, dass die Literaturwissenschaft Dylan entdeckt habe, ist auch nur wieder im Sinne einer nicht

4 „Dass man ihn literarisch ernst nehmen muss, hatte sich aber ohnehin schon herumgesprochen. Die akademische Literaturwissenschaft, ebenso wie die Literaturkritik, hat Dylan schon vor Jahrzehnten entdeckt, ganz zu Recht.“ (Lamping 2017, 73) Gleichzeitig – und hier spielt die Wertung wieder eine Rolle –, sei von der literarischen Leistung her (also im Blick auf das pretium) Dylan viel schlechter als die Autoren, deren Name immer wieder für den LiteraturNobelpreis im Gespräch seien, weshalb nach Lamping die Wahl Dylans auch eine schlechte Wahl des Komitees ist.

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weiter begründeten Wertung zu verstehen – es gefällt, also ist es Literatur! Es ließe sich noch umfänglich darstellen, wie diese Art der wertenden Annäherung an Dylans literarischen Status umgekehrt durchaus zu dessen Ausschluss von der Liste auch akademisch zu behandelnder Autoren führen kann, was aber hier aus Platzgründen unterbleibt. Von der Frage der Wertung der Texte ist die nach dem ‚Wesen‘ der Texte abzugrenzen, auch wenn beides in einem Legitimationszusammenhang steht, der oberflächlich betrachtet wechselseitig zu sein scheint: Wer das Sprachspiel ‚Das ist Literatur‘ spielt, wertet, macht aber auch eine ontologische Aussage über das Wesen des Textes. Umgekehrt ist es natürlich noch viel evidenter: wenn etwas für Literatur gehalten wird, weil es spezifische strukturelle Charakteristika der Literarizität aufweist, eröffnet sich der Raum der vergleichenden Wertung. Wenn jemand den Werbespruch von IKEA „Wohnst du noch oder lebst du schon?“ mit Goethes „Alles geben die Götter, die unendlichen, ihren Lieblingen ganz/ Alle Freuden, die unendlichen,/ Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.“ vergleicht, dann wird mancher sagen, dass man das ja gar nicht vergleichen könne. Ja und nein. Vergleichbar sind beide Texte hinsichtlich ihrer Rhetorizität, aber nicht hinsichtlich ihrer Literarizität, wenn diese aus der implizierten Lesehaltung oder den Genrekonventionen gewonnen wird. Das heißt, der IKEA-Text hat einen Teil der strukturellen Charakteristika, ohne jedoch hinreichende weitere Charakteristika aufzuweisen, die eine Einordnung als literarischer Text konsensfähig machen würden. – Die hier eröffnete Argumentation hat offensichtlich ihre Schwachstelle darin, dass eben eine vollständige Beschreibung der Wesensmerkmale dessen, was Literatur ausmacht, nicht allgemeingültig für alle literarischen Texte gegeben werden kann. Winko, Jannidis und Lauer haben in ihrem Band Grenzen der Literatur (2009) vorbildlich diese Problematik erarbeitet. Die ontologische Frage bezieht sich also auf das Wesen der Literatur, das, was Literatur in der Weise ausmacht, so dass wir mit diesem Begriff auch Texte bestimmen können, die aus Kulturen stammen, die vielleicht gar keinen Literaturbegriff selbst kennen, oder die aus Zeiten stammen, in denen der damalige Literaturbegriff nicht die Texte abdeckte, die heute unzweifelhaft als Literatur gesehen werden (Winko et al. 2009). ‚Ontologisch‘ sollte hier natürlich in Anführungszeichen stehen, um der Unterstellung zu begegnen, dass der Begriff ohne historisierendes Grundverständnis gebraucht werde. ‚Ontologisch‘ oder ‚wesensmäßig‘ heißt hier selbstverständlich auch historisch wandelbar. Die Genrefrage ist mit den Fragen der Wertung und der Ontologie teilweise eng verknüpft, hat aber gegenüber den beiden anderen Fragen den großen Vorteil vergleichsweise überschaubar zu sein. Im Falle Dylans bedeutet diese Frage eine Stellungnahme dazu, ob man bereit ist, lyrics grundsätzlich überhaupt für literaturfähig zu halten. In seinem „Nachwort“ zur deutschen reclam-Ausgabe

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von Bob Dylans Lyrics (2008) geht Heinrich Detering mit einem gewissen didaktischen Anspruch auf die Genrefrage ein. Zunächst stellt er klar, dass es sich nicht um Lyrik, sondern um Lyrics (groß geschrieben!) handelt und spricht von Dylans literarischer Begabung, die sich auch in anderen Texten zeige. Die Lyrics seien keine „autonome Gedichte“, sondern es handele sich um eine „Einheit aus Text, Musik und performance, bis in die Tönung der Stimme, die Phrasierung des Vortrags hinein.“ (Detering 2008, 149) Der Leser dieses Satzes mag sich fragen, was denn nun in diesem reclam-Heft zu finden ist, wenn die Lyrics eine Einheit von Text, Musik und Performanz sind – denn abgedruckt ist ja nur der Text. Also sind die Wörter auf dem Papier nicht die Lyrics, sondern nur der Text der Lyrics, die erst zu Lyrics werden, wenn sie von Bob Dylan selbst gesungen werden? Gleichwohl heißt es ein wenig später: „Immerhin sind viele dieser lyrics [jetzt klein geschrieben!] aber doch auch lesbar als [kursiv im Originial!] Poesie.“ (Detering 2008, 149) Dieses ‚lesbar als‘ sei von Bob Dylan selbst lizensiert, da er als seine Schriften zunehmend nur noch seine lyrics veröffentliche. Diese sind, führt Detering weiter aus, „wie selbstverständlich“ (Detering 2008, 149) als amerikanische Dichtung anthologisiert und sind als Werk „Teil des amerikanischen Kanons.“ (Detering 2008, 150) Dylan habe sich da als Pontifex erwiesen, indem er mit seinem Werk eine Brücke „zwischen romantischer, symbolistischer und surrealistischer, sozialkritischer und Beat Poetry auf der einen und Popkultur auf der anderen Seite“ (Detering 2008, 149f.) gebaut habe. Also ähnlich wie Lamping sieht Detering die Leistung Dylans in der Verbindung von moderner Lyrik und Popkultur. In der Lektüre aber der Liedtexte sieht Detering einen uneigentlichen Gebrauch dieser Texte, die zu ihrem wirklichen Wesen erst finden, wenn sie von Bob Dylan musikalisch vorgetragen werden. In Deterings Argumentation verbinden sich also wieder Wertung, Ontologie und Genrefrage. Detering spricht den lyrics Literarizität nur in Anführungszeichen zu, denn „so ‚literarisch‘ sie im Einzelnen konzipiert sein mögen, auf weite Strecken [sind sie] geprägt von einer strukturellen Mündlichkeit.“ (Detering 2008, 150) Detering führt dies im Weiteren detailliert aus und konstruiert kontrastierend einen Lyrik-Begriff der „stillen Lektüre“ (Detering 2008, 150), der etwas seltsam anmutet, wo doch gerade die Lyrik im Klang des mündlichen Vortrages eine wichtige Wirkungsdimension entfaltet. – Deterings intensives Ringen damit, einerseits die Liedtexte Dylans dem Kanon zuzurechnen (welchem eigentlich? – dem der Literatur oder dem der Songtexte?) und andererseits zu zeigen, dass sie eben keine Gedichte sind, deren Existenz er wohl aus argumentativen Gründen hier auf die Papierexistenz reduzieren will, mutet etwas sinnlos an. Wäre es eine Abwertung der Lyrics, wenn sie sich tatsächlich auch als Gedichte lesen ließen? Manche besser, manche schlechter? Die von Dylan betriebene gründliche Edierung seiner Songtexte scheint darauf zu verweisen, dass es ihm als

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Autor auch wichtig ist, dass die Texte als Texte gelesen werden können. Wenn die teilweise im Vortrag schlecht verständlichen und auch gelegentlich veränderten Texte ihr eigentliches Leben erst und ausschließlich im Vortrag hätten, bräuchten sie nicht noch schriftlich veröffentlich werden,5 (wenn dies nicht vielleicht auch nur eine Maßnahme zur Gewinnmaximierung Dylans ist, der um den Marktwert solcher auch immer wieder in neuen Editionen erscheinenden Buchausgaben weiß). Und gerade weil Dylans Texte – ob im Vortrag oder in der Lektüre – oft ähnlich bedeutungsoffen sind wie die modernistische Lyrik, ließe sich ihnen doch auch eine Doppelexistenz zugestehen. Dies mag bei den einen Texten besser, bei den anderen schlechter funktionieren. Nüchtern lässt sich jedoch konstatieren, dass Songtexte oder lyrics sich durchaus als literarisches Genre begreifen lassen; denn es handelt sich um eine funktional genau umrissene Textsorte. Sie sind nicht Gedichte, die geschrieben werden, um für sich allein zu stehen, wenn sie sich auch trotzdem manchmal zum Vorteil des Textes und der Musik vertonen lassen – siehe Schuberts Winterreise, wo das Fortleben der Texte mehr durch die Musik als durch die Qualität der Verse gewährleistet wird. Songtexte sind von Anfang an dafür geschrieben, dass sie zusammen mit Musik veröffentlicht werden. Mit ihrem Schreiben ist die Arbeit also nicht getan. Genauso verhält es sich mit einem Libretto, das erst durch die Verwendung in einer Oper seinen Wert gewinnt. Songtexte sind als lyrics also keine Lyrik im gleichen Sinne wie ein Gedicht Lyrik ist, aber gleichwohl Literatur, weil es Texte sind, die zwar auf Mündlichkeit zielen und manchmal als schriftlich rezipierte keinen sonderlichen hedonischen oder semantischen Wert haben, sich aber nicht notwendig in der Mündlichkeit erschöpfen. Mancher Roman mag auch hinsichtlich der Rezeption als Hörbuch besser funktionieren und manches Drama lässt sich gut lesen, taugt aber für eine ‚getreue‘ Aufführung nichts. – Die literaturwissenschaftliche Forschung aber jedenfalls hat, auch wenn Werner Faulstich schon 1978 ein didaktisches Werk zum Unterricht von Songtexten vorgelegt hat, die Liedtexte als Genre immer stiefmütterlich behandelt.6 5 1981 schreibt Mark C. Booth bei der Bestimmung des Unterschieds zwischen Lyrik und lyrics den höchst problematischen Satz, „Song words are only given once in a performance and then are gone, carried along by the music and succeeded implacably by the next words“ (Booth 1981, 7): Dies stimmt noch nicht einmal für das Zeitalter vor der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes; denn die Worte bleiben sowohl beim Sänger wie beim Hörer im Gedächtnis. 6 In der Einleitung zu Lars Ecksteins 2010 veröffentlichten Dissertation, Reading Song Lyrics, wird der Grund für diese Vernachlässigung vor allem in der notwendig interdisziplinären Herangehensweise an das Textgenre gesehen: „Like few other art forms, lyrics fall between disciplinary chairs, which may explain why to this day hardly any veritable academic study has taken on song lyrics as its central subject.“ (Eckstein 2010, 11). Dem wäre jedoch entgegenzuhalten, dass

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Die Genrefrage ist also vergleichsweise leicht zu beantworten und ist in sich nicht problematisch: lyrics sind (auch literaturwissenschaftlich zu betrachtende) Texte, die in der Regel für die gesangliche Aufführung geschrieben werden, oft in Strophenform und häufig reimend, und manchmal nicht viel hergeben für die reine Lektüre – manchmal aber schon.

3 Literarizität Für den Begriff der Literarizität bedeutet die Diskussion der Wertung, Ontologie und Genrefrage, dass die Kontingenz dieses Begriffes in mancherlei Hinsicht prekär ist: Aus der reinen Textbeschaffenheit lässt sich bekanntlich nicht ablesen, ob es sich um ein Stück Literatur handelt oder nicht. Die Textbeschaffenheit kann zwar Hinweise geben, gewisse Plausibilitäten bieten, aber letztlich wird die Einigkeit darüber, ob ein Text Literatur ist oder nicht von der Leserin oder dem Leser, nämlich von den empirischen Menschen, die sich mit dem Text und dem Text gegenüber verhalten, und nicht von dem modellhaft im Text eingeschriebenen Leser erzielt. Insofern ist die Literarizität vielleicht weniger eine ontologische Fragestellung und nicht unbedingt eine Frage der Wertung (die dem erst nachgeordnet wäre), sondern eine der Handlungen und Sprachspiele, die mit bestimmten Texten zusammenhängen. Diese Definition von Literatur würde sich im Konzept eines pragmatischen Literaturbegriffs zusammenfassen lassen. Dieser gewinnt seine Bedeutung aus den kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Kontexten, in denen bestimmte Texte als Literatur durch die spezifischen mit ihnen verbundenen Handlungen gekennzeichnet werden, und aus den Funktionen, die diese Texte dann als Literatur zu erfüllen vermögen. Diese Kontexte und Funktionen sind historisch wandelbar und verhandelbar. Manche Kulturen kennen keinen Literaturbegriff, obwohl sie über Texte verfügen, die aus anderer Warte als Literatur zu bezeichnen wären (Simon 2009), und der Kanon lässt sich als Agon begreifen, in dem kontinuierlich die Maßstäbe verhandelt werden, nach denen Texte als literarische generell und als besonders wichtige im Speziellen beurteilt werden.

alle gemischten Künste wie Film und Oper ähnliche Probleme haben, gleichwohl aber bilden zum Beispiel die Adaptation Studies, die vor allem das Verhältnis von Buch und Film untersuchen, einen eigenen Industriezweig auch der Literaturwissenschaft. – Vielleicht liegt der Grund für die mangelnde wissenschaftliche Auseinandersetzung mit lyrics doch eher in der in der Wertung begründeten Geringschätzung popkultureller Produktion, zu der auch Dylans Werk gehört.

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In einem pragmatischen Literaturbegriff gewinnt also die Einbettung von Texten in den Lebensvollzug einzelner Menschen, die als empirische Leserinnen und Leser zu begreifen sind, die aber zugleich immer auch Teil einer lesenden und sich austauschenden Gemeinschaft sind, eine entscheidende Bedeutung bei der Definition dessen, was nicht nur vom Autor (dem Verlag, dem Buchhandel etc.) so intendiert Literatur ist, sondern auch auf der Rezipienseite so wahrgenommen wird. Die „interpretive community“ (Fish 1980) wird damit zu einem wichtigen Referenzpunkt, da sie als Sprachgemeinschaft auch die Voraussetzungen schafft, auf deren Grundlage Einzelmeinungen erst möglich werden. Dies entspricht dem Argument Wittgensteins gegen die Möglichkeit einer Privatsprache. Ein pragmatischer Literaturbegriff ruht damit nicht auf der Vorstellung einer homogenen Wertegemeinschaft, sondern einer die Heterogenität und Diversität beständig aushandelnden kommunikativen Gemeinschaft und deren Fähigkeit zu konsequenzenreichem Sprachhandeln, das unhintergehbar immer eines Gegenübers bedarf. Gleichzeitig erweitern sich die Pragmatik und die Einbettung des Literaturbegriffes in die materiale Welt der Dinge und praktischen Lebensvollzüge. Orte und Anlässe des Lesens, Körperhaltungen und Nahrungsaufnahme stehen in einem Zusammenhang mit der Lektüre: Hier werden Rituale und Ideale verhandelt, die das Lesen und den gelesenen Text in Handlungszusammenhänge stellen, die auch die Prozessierung des Textes als Stimulus kognitiv-affektiver Effekte verändern. Auch wenn ein pragmatischer Literaturbegriff die Dynamik der Verhandlungen über die Wertungen und das Wesen der Literatur zu integrieren vermag und offen zu sein scheint für alle möglichen Arten von Texten, so ist die Textform keineswegs gleichgültig. An den rhetorisch-formalen Charakteristika eines Textes entscheidet sich das Leseverhalten in scheinbar unmittelbarer Weise. Texte, die eine große Herausforderung für die lexikalischen Fähigkeiten von Leserinnen und Lesern bilden, wie das Spätwerk von Joyce beispielsweise, werden in anderer Weise Prozesse der Theory of Mind, Empathie oder Identifikation auslösen als leichter verständliche Texte, in denen die Figuren qua Darstellungsform für Leserinnen und Leser nachvollziehbarer sind. Dabei spielen auch Foregrounding und Backgrounding eine nicht unwichtige Rolle (Miall and Kuiken 1994). Die Art und Weise, wie ein Text aus Wörtern gemacht ist, erlaubt Leserinnen und Lesern sehr unterschiedliche Herangehensweisen und bestimmt im Rahmen der Bedingungen einer interpretive community vielfach die Modi der Prozessierung. Insofern sind Rhetorizität des Textes und physiologische Maßeinheiten in der Messung von Rezeptionsverhalten ebenso zumindest korreliert wie schon die antike Rhetorik den verschiedenen rhetorischen Figuren spezifische kognitiv-affektive Effekte zugeschrieben hat. Je schwieriger ein Text beispielsweise auf der Ebene von Syntax und Lexik ist, desto geringer ist die messbare Lesegeschwindigkeit. Das bedeutet

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nicht unbedingt, dass der langsamer lesbare Text zwingend der Text ist, dem ein höherer Grad an Literarizität zugebilligt wird. Dafür sind selbstverständlich eine Reihe verschiedener anderer Kriterien zu erfüllen, wie in vielen Fällen Fiktionalität beispielsweise. Dennoch ist die sprachliche Form als Marker der Literarizität funktional wichtig. In der Diskussion um den Status der Texte von Bob Dylans Liedern wurde, wie oben gezeigt, verschiedentlich darauf hingewiesen, dass er moderne Lyrik und Popmusik vereint habe. Was das genau heißen soll, insbesondere hinsichtlich des gleichzeitig konstatierten Einflusses verschiedenster Musikstile, beispielsweise der Folkmusik in seinem frühen Schaffen, soll hier nicht ergründet werden. Vielmehr soll versucht werden, anhand der Metaphorik zu zeigen, dass diese als ein besonderes Kennzeichen von Literarizität eine Binnendifferenzierung der Texte Dylans erlauben. Mit einer Auswahl von zwölf Liedern des frühen Dylan, die alle nicht zu den ‚Hits‘ gehören, wird im folgenden an der unterschiedlichen Metapherndichte gezeigt, dass die Texte eine sehr unterschiedliche textliche Qualität und Komplexität haben und so sehr unterschiedlich in ihrer Poetizität oder Literarizität zu beurteilen sind. Diese Untersuchung der Metaphern ist eine Vorstudie für einen empirischen Versuch, bei dem die Unterschiede zwischen Hören und Lesen versus Lesen allein hinsichtlich der Immersion und dem Literarizitätsrating gemessen werden sollen. Im letzten Teil dieser Studie wird von einem von Studierenden der FU Berlin entwickelten Versuch berichtet, zwei Lieder hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Poetizität empirisch zu untersuchen.

4 Metaphorizität Für die empirische Untersuchung der Literarizität von Bob Dylans Songtexten ist es wichtig, Kriterien zu entwickeln, anhand derer sich die Songtexte untereinander hinsichtlich ihrer Literarizität unterscheiden lassen, um dann im nächsten Schritt zu prüfen, inwieweit die Probandinnen und Probanden bei Texten, denen aufgrund der Textbeschaffenheit eine höhere Poetizität und damit Literarizität zuzusprechen ist, ihrerseits eine dementsprechende Wertung vornehmen. Es müssen sich also Texte aus demselben Corpus, Dylans lyrics, miteinander hinsichtlich eines Literarizitätsmarkers unterscheiden lassen, um damit eine Testung des Probanden-Urteils zu erlauben. Dafür eignet sich insbesondere das Vorkommen von Metaphern: Texte mit einer höheren Metapherndichte und einer höheren Komplexität von Metaphern könnten als stärker literarisch empfunden werden. ‚Metapherndichte‘ ist selbstverständlich kein absoluter Wert, aber in einem bestimmten Kontext – wie zum Beispiel bei Songtexten, die nicht per se als literarisch gelten – können sie als Signal dienen, den jeweiligen Text als stärker literarisch zu empfinden.

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Metaphern sind ein integraler Teil der Alltagssprache. Sie bestimmen unsere Wahrnehmung und unsere Wirklichkeit, wie Lakoff und Johnson in ihrem wegweisenden Werk Metaphors We Live By (1980) gezeigt haben. Insofern sind Metaphern als solche nicht literarisch, auch wenn sie zusammengenommen mit anderen Literarizitätsmarkern doch eine besondere ästhetische Aufmerksamkeit erzeugen. Hier gibt es insbesondere drei Funktionen, durch die Metaphern bei der Einschätzung eines Textes als besonders literarisch wirksam werden: der Habitualisierungsgrad der Metaphern (Lausberg 1990, 288), ihre Funktion bei der Erzeugung von Mehrdeutigkeit und drittens den Bezug der Sprache auf sich selbst, den ein literarischer Text durch Metaphorizität herstellt (Jakobson 1990, 129–132). Der in der Rezeption vielleicht entscheidende Faktor in der Bewertung der Literarizität von Metaphern, das heißt inwieweit die besondere Verwendung von Metaphern einen Text als Literatur kennzeichnet, ist der Habitualisierungsgrad. Dieser wird bestimmt durch die Bekanntheit einer Metapher. Je näher eine Metapher an einem licentius translata ist, beziehungsweise je weniger sie Teil der Alltagssprache ist, als desto literarischer wird die Metapher nach den Regeln der antiken Rhetorik, wobei sich Lausberg auf Aristoteles, Cicero und Quintilian bezieht, empfunden (Lausberg 1990, 288). In der Metapherndiskussion gibt es historisch gesehen drei dominante Modelle: die Vergleichstheorie, die Substitutionstheorie und die Interaktionstheorie. Die in der Antike vorherrschende Vergleichstheorie wird von Lausberg folgendermaßen rekonsturiert: die Metapher ist nach Quintillian die brevitasForm des Vergleiches, die aus einem einzelnen Wort oder einer metaphorischen Periphrase bestehen kann. Im Gegensatz zum Vergleich muss es eine Ähnlichkeit (similitudo) zwischen dem, auf das die Metapher sich bezieht und dem semantischen Gehalt des Wortes oder der Wörter, die als Metapher genutzt werden, geben (Lausberg 1990, 285). Die von Lausberg rekonstruierte Definition basiert auf der Vergleichstheorie, die so oder ähnlich in vielen Standardwerken der Rhetorik formuliert ist, reicht aber konzeptuell nicht aus, um die rhetorische und erkenntnistheoretische Funktion der Metapher zu erklären. Die Vergleichstheorie sieht jede Metapher als repräsentative Analogie, das heißt, es besteht eine Ähnlichkeit, die sich wiederum durch einen Vergleich ausdrücken lassen kann (‚A ist B‘ kann auch durch ‚A ist wie B‘ ausgedrückt werden) (Feng 2003, 17–18). Die Vergleichstheorie wird mittlerweile als Teil der Substitutionstheorie (Feng 2003, 17–18) verstanden, welche, wie David Lodge beschreibt, die Metapher als „Substitution anhand einer bestimmten Ähnlichkeit“ sieht (Lodge 2015, 75). Diese, schon auf Aristoteles zurückgehende Definition sieht die Metapher als Sprachmittel, in dem ein Wort durch ein anderes ersetzt werden kann, das etwas Ähnliches bedeutet (‚A ist B‘ kann auch als ‚A ist C‘ ausgedrückt werden) (Feng 2003, 17). Das verbum proprium muss dabei ein äquivalenter

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wörtlicher Ausdruck sein (Feng 2003, 17), der eine Assoziation mit dem eigentlichen Ausdruck erlaubt. Die dritte und mittlerweile vorherrschende Theorie ist die von Max Black eingeführte Interaktionstheorie. Black versucht mit seinem Ansatz das größte Problem der beiden früheren Theorien zu lösen: Vergleichs- wie Substitutionstheorie blicken nur auf den Text und begreifen ihn als Signifikanten (Saussure 2003 [1931]). Weder die Sprache als solche noch die Wirkung auf den Rezipienten werden in den Blick genommen. Der Text wird nicht als gesendete Botschaft (Bühler 1999, 27) betrachtet (Lodge 2015, 70 und Steen 2004, 1290). Dabei sind bei der Textrezeption Sprache und deren Wirkung auf den Empfänger entscheidend. Laut Black kommt es bei der Metaphererkennung zu multiplen interagierenden kognitiven Prozessen (‚A ist B‘ kann auch als ‚A ist C´‘ ausgedrückt werden, wobei ‚C´‘ für mehrere Assoziationen, die gleichzeitig projiziert werden, steht). Auf der Grundlage dieser Theorie, die Sprache und Wirkung ins Zentrum stellt, lässt sich eine empirische Untersuchung entwickeln, inwiefern die Rezipienten die Metaphern individuell einstufen und etwas aus ihnen schließen. Da Metaphern im direkten Zusammenhang zur Psychologie des Lesens stehen, muss man sich bei der Rezipientenanalyse über die Texthermeneutik hinaus den kognitiven Prozessen im Rezipienten zuwenden. Dementsprechend sieht Gerard Steen einen Text als Produkt von kognitiven Prozessen oder als deren Auslöser, aber nicht als von der Rezeption unabhängigen Gegenstand. Im Einklang mit der Reader Response Theory muss nicht nur der Text angeschaut werden, sondern auch die Rezipienten müssen in den Blick gerückt werden (Steen 2002, 183–186). Nicht nur muss bei der Analyse der Paratext und das Genre mit einbezogen werden, sondern auch die individuelle Vorprägung. Jeder Rezipient assoziiert andere Eindrücke mit einer Metapher, weswegen wir Metaphern nicht nur nach der von Black eingeführten Interaktionstheorie analysieren, sondern ebenfalls auf drei kognitiven Ebenen. Sprache wird im Gehirn auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig prozessiert. Da es in der Analyse und der empirischen Erfassung nicht möglich ist, all diese Prozesse gleichzeitig zu betrachten, wird hier auf das von Steen eingeführte „Metaphor Recognition Model“ (Steen 2002, 200–202) zurückgegriffen. Steen reduziert die sprachliche Prozessierung auf drei Verfahren: Zuallererst werden Metaphern rein linguistisch wahrgenommen, das heißt die Worte werden entsprechend linguistischer Kategorien unterteilt. Allein auf dieser Ebene haben sie noch keinerlei Aussage. Im nächsten Schritt werden die Konzepte innerhalb der Metapher analysiert, also in welchem Verhältnis diese zueinander stehen und ob die Konzepte innerhalb einer Metapher auch so außerhalb von Metaphern auftreten. Obwohl an dieser Stelle schon die Metapher als solche steht, hat sie noch keinerlei

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Funktion auf der inhaltlichen Ebene, da hier die Funktion der Konzepte als Übermittler von Botschaften des Senders an den Empfänger noch keine Rolle spielt. Dies geschieht erst auf der dritten und letzten, der kommunikativen Ebene, auf der die Konzepte und wie sie semantisch zueinander stehen analysiert werden, wodurch die sprachliche Botschaft empfangen wird. Zwar können alle diese Ebenen individuell betrachtet und auf ihre Metaphorizität überprüft werden – linguistisch könnte man zum Beipiel zeigen, welche Wortarten gehäuft in Metaphern vorkommen und welche nicht; konzeptuell, inwiefern bestimmte Konzepte alleine stehen oder nicht –, doch für unsere Zwecke ist eine Gesamtbetrachtung sinnvoll (Steen 2002, 198–199 und Steen 2004, 1299–1302), da sie es uns ermöglicht, die Metaphern und damit die Songtexte untereinander zu vergleichen, um eine Vorhersage zu treffen, welche Songtexte als literarischer eingestuft werden. Für unser Corpus haben wir Lieder unter diesen Kategorien auf ihre Literarizität überprüft und zwölf – sechs hoch literarische und sechs niedrig literarische – in das Corpus für die Untersuchung aufgenommen. Um die Unterschiede der Kategorien und die unterschiedlichen Literarizitätsansprüche durch die Unterschiede in der Metaphorizität beispielhaft vorzuführen, wird im Folgenden jeweils ein Lied aus jeder Kategorie betrachtet und dann werden die beiden miteinander verglichen: Bob Dylans I Want You und Corrina, Corrina sollen hier als Beipiele dienen. Beides sind Liebeslieder, bei denen es um Verlangen und Abwesenheit geht. Ihre textliche Gestaltung ist jedoch sehr unterschiedlich. Sie unterscheiden sich sehr durch ihre Metapherndichte. Während I Want You mindestens 14 Metaphern enthält, findet sich bei Corrina, Corrina eine einzige Metapher, die wiederholt wird. In ihrem Literarizitätsanspruch ist I Want You für die Zwecke dieser Untersuchung deshalb als hoch und Corrina, Corrina als niedrig eingestuft. I Want You The guilty undertaker sighs The lonesome organ grinder cries The silver saxophones say I should refuse you The cracked bells and washed-out horns Blow into my face with scorn But it’s not that way I wasn’t born to lose you I want you, I want you I want you so bad Honey, I want you

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The drunken politician leaps Upon the street where mothers weep And the saviors who are fast asleep, they wait for you And I wait for them to interrupt Me drinkin’ from my broken cup And ask me to Open up the gate for you I want you, I want you I want you so bad Honey, I want you How all my fathers, they’ve gone down True love they’ve been without it But all their daughters put me down ’Cause I don’t think about it Well, I return to the Queen of Spades And talk with my chambermaid She knows that I’m not afraid to look at her She is good to me And there’s nothing she doesn’t see She knows where I’d like to be But it doesn’t matter I want you, I want you Yes, I want you so bad Honey, I want you Now your dancing child with his Chinese suit He spoke to me, I took his flute No, I wasn’t very cute to him, was I? But I did it, though, because he lied Because he took you for a ride And because time was on his side And because I . . . I want you, I want you I want you so bad Honey, I want you

(Dylan 2016, 386)

In allen Strophen außer dem Refrain finden sich in I Want You im Unterschied zu Corrina, Corrina viele und teilweise rätselhafte Metaphern, die sowohl in ihrer Häufigkeit wie in ihrer Komplexität auf einen deutlich höheren Literarizitätsgrad schließen lassen. Die zweite Zeile der ersten Strophe, „the lonesome

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organ grinder cries“, besteht, auf der Ebene der linguistischen Analyse, aus den Wortarten Artikel, Adjektiv, Substantiv und Verb. In der konzeptuellen Analyse zeigt sich ein einsamer, weinender Leierkastenspieler. Erst in der kommunikativen Analyse wird die Komplexität dieses Bildes deutlich. Der Leiermann kann als romantisches Motiv in der Tradition Schuberts gesehen werden, so dass von einer Identifikation mit musikalisch-literarischen Vorbildern gesprochen werden könnte. Diese Bezugnahme ließe sich im Sinne einer literarischen Allusion schon als Literarizitätsmarker erkennen, was in der frühen literaturwissenschaftlichen Forschung zu Dylan-Texten ein Standardverfahren war, um den literarischen Wert seiner Texte zu etablieren (Faulstich 1978, 68–69). Hier wäre natürlich auch zu fragen, inwiefern dieses Motiv nicht einem Kitsch-Verdacht auszusetzen wäre, da die Metapher vom armen Leiermann als gesellschaftlich randständige Künstlerfigur, in der sich der abgelehnte Liebende spiegelt, in der romantischen Tradition recht abgegriffen ist,7 also einen hohen Habitualisierungsgrad aufweist. Andererseits kann der Leiermann auch als Stichwort für die Aktualisierung eines englischen Sprichwortes sehen: „Speak to the organ grinder not the monkey“, das jedoch in eine ganz andere Richtung deutet, da hier der Leiermann der Chef, der Affe der Untergebene ist, der nichts zu sagen hat. Doch diese Aufwertung des Leiermanns, der hier eben auch als weinender gezeigt wird, ist im Kontext des vollkommen rätselhaften seufzenden „guilty undertaker“, nicht plausibel. Der Bestatter und der Leiermann sind beides verachtete Randfiguren der Gesellschaft und zeigen ihre Trauer, das glänzende Saxophone spricht das Ich an und rät dazu, die Geliebte zurückzuweisen, während die „geborstenen Glocken“ und „ausgewaschenen Hörner“8 als Beschädigte nur Verachtung für den leidenden Liebenden haben. Es werden hier gegenüber dem Ich verschiedene Positionen eingenommen: Die einzigen selbst Unbeschädigten raten zur Trennung, die Randständigen jammern und laden zur Identifikation ein, die Beschädigten verachten die Jammernden. Das Ich steht zwischen diesen drei verschiedenen Positionen und macht schließlich ein Viertes: Der Sänger gibt nicht auf – „I wasn’t born to lose you“ (Dylan 2016, 386).9 Der weinende Leiermann ist also keine Identifikationsfigur für das Ich, sondern nur ein nicht wahrgenommenes Angebot zur

7 Siehe dazu beispielsweise den Eintrag in Metzlers Lexikon literarischer Symbole zum Stichwort ‚Spielmann‘! 8 Übersetzung Gisbert Haefs in: Dylan 2016, 387. 9 Tony Attwood belegt diese Deutung im Zusammenhang mit der musikalischen Gestaltung des Liedes: „Put another way, the song is a song of slipping downwards, for the first half, and then a resistance, and insistence on not falling eternally down, but of coming back a little to the midpoint.“ (https://bob-dylan.org.uk/archives/564.)

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Identifikation, das gleichwohl einen stark literarisierenden Effekt hat. Vielleicht ließe sich sogar so weit gehen, in dem Aufrufen des romantischen Klischees eine Re-Aktualisierung einer abgegriffenen Metapher zu sehen, wodurch der von Viktor Šklovskij in Die Kunst als Verfahren (1916) identifizierte Verfremdungseffekt erzielt wird (Šklovskij 1971 [1916]). In der ersten Strophe von I Want You lassen sich auf diese Weise viele weitere Metaphern identifizieren. In der fünften Zeile der auf den Refrain folgenden Strophe, spricht das lyrische Ich davon, dass es darauf wartet, daran gehindert zu werden, weiter aus seiner zerbrochenen Tasse zu trinken. „And I wait for them to interrupt/ Me drinkin’ from my broken cup“ („Und ich warte darauf, daß sie mich nicht/ Länger aus dem zerbrochenen Kelch trinken lassen“10). In der linguistischen Analyse finden wir Possessivpronomen, Verb, Adjektiv und Substantiv; in der Konzeptanalyse die Konzepte: ‚trinken‘, ‚Tasse‘, ‚zerbrochen‘ und ‚Besitz‘. Beides zusammen ermöglicht es uns, in der kommunikativen Analyse zu zeigen, dass das lyrische Ich auf die Erlösung wartet, dass es endlich aus seinem schäbigen Dasein befreit wird, nicht mehr aus seiner kaputten Tasse trinken muss – doch die Erlöser schlafen, während sie auf ihren eigenen Erlöser warten. Diese verwickelten biblischen Allusionen sind wiederum wie die Bezugnahme auf den Leiermann in der Strophe zuvor schon qua Allusion Literarizitätsmarker. Die schlafenden Erlöser warten auf ein „you“, das auf der offensichtlichen Referenzebene des Textes zunächst das „du“ ist, das gewollt ist: „I want you“; doch sind auch allgemeinere Lesarten möglich, die Erlöser warten auf Jedermann oder auch auf den Liebenden. Die offensichtliche Lesart jedoch wird in der darauffolgenden Zeile als präferierte deutlich, wo mit dem „and I wait for them“ ein referentieller Zusammenhang hergestellt wird: Sie warten auf dich, ich warte auf sie – also musst du kommen, damit sie mich erlösen können. Jedoch, wenn du kommst, findest du sie schlafend.11 Damit ist auch hier wieder die Selbstermächtigung des liebenden Sängers die einzige Möglichkeit der Erlösung, denn sie sollen ihn nicht nur daran hindern, 10 Haefs‘ Übersetzung „Kelch“ verweist vielleicht zurück auf die „Erlöser“ vorher, die (wie die neutestamentarischen Jungfrauen aus Jesu Gleichnis) fest schlafen, während sie auf den Liebenden/die Geliebte/Jedermann – „you“ – warten, und doch erscheint diese Überhöhung von „broken cup“ eher unpassend, denn das wiederum würde den Singenden vielleicht zu einem Priester machen. 11 Bekanntlich schlafen alle Jungfrauen, aber die einen haben vorgesorgt, indem sie einen Ölvorrat mitgebracht haben für ihre Lampen, die anderen nicht und nur die, die bereit waren, als der Erlöser kam, kamen ins Himmelreich. (Matthäus 25, 1–13) Das Schlafen als solches ist also nicht das Problem, sondern die mangelnde Bevorratung, und auch hat natürlich nicht der Erlöser geschlafen, sondern die zu Erlösenden. Gleichwohl scheint die Anspielung auf Mätthäus 25, 1–13, vorzuliegen.

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weiter aus seiner kaputten Tasse zu trinken, sondern ihn auch auffordern, das Tor für die Geliebte zu öffnen. Da kann er lange warten! Der Teufelskreis, dass hier jeder auf jeden wartet, und deshalb nichts passiert, wird durch die trotzige Aktivität des Sängers unterbrochen. Gleichzeitig arbeitet das Metapherngeflecht auch der komplexen Mehrdeutigkeit des Textes zu, die ein starker Literarizitätsmarker ist. In der fünften Strophe von I Want You findet sich eine hochgradig komplexe und rätselhafte Metapher: „Now your dancing child with his Chinese suit“. In der dreischrittigen Analyse nach Steen wird deutlich, wie schwierig diese Metapher ist. Einige Bob Dylan Kenner argumentieren, dass es sich hierbei um eine Referenz auf Brian Jones handeln könnte (zum Beispiel Gill 2009, 100). Doch auch ohne dieses Hintergrundwissen ist diese Metapher ein Marker für Literarizität: Durch die direkte Ansprache der Rezipienten können mehrere mögliche Deutungen bei den Rezipienten interagieren. Wieder kann hier entweder das lyrische Ich oder Bob Dylan selbst sprechen, doch die Anrede kann sich hier auf eine imaginäre Person, eine echte Person in Bob Dylans Leben oder aber die Rezipienten selbst beziehen. Metaphern wie diese und alle vorher genannten ziehen sich durch den gesamten Text in I Want You, wodurch das Lied im Gegensatz zu dem anderen Beispieltext, Corrina, Corrina, einen höheren Literarizitätswert aufweist, denn in diesem Songtext findet sich überhaupt nur eine Metapher, bei der noch nicht einmal wirklich klar ist, ob es sich überhaupt um eine solche handelt. Corrina, Corrina Corrina, Corrina Gal, where you been so long? Corrina, Corrina Gal, where you been so long? I been worr’in’ ’bout you, baby Baby, please come home I got a bird that whistles I got a bird that sings I got a bird that whistles I got a bird that sings But I ain’ a-got Corrina Life don’t mean a thing Corrina, Corrina Gal, you’re on my mind Corrina, Corrina Gal, you’re on my mind I’m a-thinkin’ ’bout you, baby I just can’t keep from crying. Corrina, Corrina

(Dylan 2016, 136)

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In Corrina, Corrina lässt sich möglicherweise der Vogel als Metapher lesen. Corrina als abwesende wird besungen und ihre Abwesenheit als Ursprung der Sorge des Singenden bezeichnet, der Corrina anspricht und bittet nach Hause zu kommen. Der Kontrast, dass der Sänger wohl einen singenden und pfeifenden Vogel hat, aber keine Corrina, lässt die Deutung zu, dass der Vogel doch kein wirklicher Vogel, sondern eine andere Frau ist, die zwar fidel singt und pfeift, aber eben keine Frau wie die wirklich geliebte Corrina ist. Der Vogel würde dann als Metapher für diese andere Frau dienen, was insofern nahe liegt, dass ‚bird‘ im Englischen eine saloppe Bezeichnung für ‚Frau‘ sein kann. Das Singen und Pfeifen ließen sich dann als die positiven und erfreulichen Affekte lesen, die diese Frau beim Sänger hervorrufen und die kontrastieren mit den Tränen, die er um die abwesende Geliebte vergießt. Dass die den Vogel/die Frau betreffenden Zeilen jeweils gedoppelt auftreten, kann als ein literarisierendes sprachliches Mittel gedeutet werden, wie die Wiederholung überhaupt die rhetorische Figur der Literatur ist (Lobsien 1995, 15) und ähnlich wie die Metapher die Aufmerksamkeit auf die Sprache selbst richtet und damit der poetischen Funktion der Sprache nach Jakobson entspricht. Durch diese Wiederholung und das Rätselhafte, das durch das Bild des Vogels in den Text eingebracht wird, gewinnt Corrina, Corrina einen gewissen literarischen Charakter, der aber im Vergleich zu I Want You deutlich geringer ausgeprägt ist. Die beiden Beispiele, I Want You und Corrina, Corrina, demonstrieren die Herangehensweise, die für alle 12 Lieder im Corpus verwendet wurde. Alle Lieder im Corpus wurden detailliert auf ihre Metaphern untersucht mit der Berücksichtigung der drei Untersuchungsebenen: linguistisch, konzeptuell und kommunikativ. Als Ergebnis dieser Untersuchung sind sechs Lieder als hoch literarisch eingestuft worden, das heißt, die Metaphern in den Texten weisen einen größtenteils geringen Habitualisierungsgrad auf und erlauben den Rezipienten vor allem auf der kommunikativen Ebene multiple kognitive Prozesse. Die sechs anderen Lieder, die hinsichtlich ihrer Literarizität als niedrig eingestuft worden sind, haben eine geringere Anzahl von Metaphern, beziehungsweise die Metaphern, die in den Liedern zu finden sind, haben einen hohen Habitualisierungsgrad.

5 Corpus Dylan Texte Abandoned Love ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Anzahl an Metaphern allein nicht genug ist, um einen Text literarisch werden zu lassen; denn hier finden sich zwar viele Metaphen, die aber einen hohen Wert im Bereich der Habitualisierung haben und deshalb zu einer niedrigen Einstufung des Songtextes führen.

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Titel

Literarizitätswert

Zahl der Metaphern Hoher/niedriger Habitualisierungsgrad

Prozentualer Anteil an Metaphern

Love Minus Zero

Hoch

/

.%

Train A-Travelin I Want You

Hoch

/

.%

Hoch

/

.%

If Dogs Run Free

Hoch

/

.%

Spanish Harlem Incident

Hoch

/

.%

You’re A Big Girl Now

Hoch

/

.%

Mozambique

Niedrig

/

.%

Abandoned Love

Niedrig

/

.%

Corrina, Corrina

Niedrig

/

.%

Sarah Jane

Niedrig

/

.%

Going, Going, Gone

Niedrig

/

.%

John Wesley Harding

Niedrig

/

.%

Während die beiden Lieder I Want You und Corrina, Corrina durch ihre individuellen Metaphern eindeutig kategorisierbar sind, gibt es in diesem Corpus auch ein Lied, das eine geringe Anzahl von individuellen Metaphern beinhaltet, aber durch die Textstruktur dennoch einen hohen Literarizitätswert zugeschrieben bekommen hat: Train A-Travelin’. Zwar hat Train A-Travelin’ mit seinen mindestens fünf Metaphern durchaus mehr als zum Beispiel Corrina, Corrina, allerdings kann eine Metapher wie „rollin’ through the years“, als Metapher mit einem hohen Habitualisierungsgrad gesehen werden. Was Train A-Travelin’ dennoch hoch literarisch macht, ist, dass der gesamte Text dadurch ein literarischer Concetto ist, dass die dominante Zug-Metapher sich in der textuellen Struktur des Songs findet: Die Anordnung der Wörter bildet selbst einen Zug. So heißt es in der zweiten Zeile der ersten Strophe „With a firebox full of hatred and a furnace full of fears“. Bei der linguistischen Analyse nach Steen lässt sich hier erkennen, dass sich die Substantiv-Adjektiv Folge der ersten Hälfte in der zweiten Hälfte der Zeile wiederholt. Als Konzepte werden hier der Feuerraum eines Zuges, Hass, Heizkessel und Ängste präsentiert, welche in der kommunikativen Analyse den Zug als Träger der Bigotterie, die durch das Land zieht, darstellt. Hierbei wird durch die gespiegelte Satzstruktur eine Fortbewegung innerhalb des Satzes suggeriert, die sich auf die Bewegung eines Zuges zurückführen lässt. Diese Metapher zieht sich dabei durch den gesamten Text und transformiert somit den Text selbst zur Metapher, was zu einer hohen literarischen Kategorisierung führt.

Macht Musik Dylans Texte poetisch?

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Bei dieser Kategorisierung von Songtexten, die als Corpus für eine empirische Untersuchung der Literarizität von Bob Dylans Songtexten dienen, ist der Fokus auf Metaphern und Metaphorizität gelegt worden, um im nächsten Schritt mit Probanden, deren Muttersprache Englisch ist, die von ihnen gebotenen Einschätzungen der Literarizität dieses Textcorpus zu überprüfen. Die oben gezeigte Tabelle ist somit für die Hypothesenbildung notwendig. Es soll insbesondere überprüft werden, ob die Wertung der Songtexte im Grad ihrer Literarizität sich verändert je nachdem, ob die Lieder gehört werden, während der Text gelesen wird, oder ob nur der Text gelesen wird. Die hier dargestellte und auf Steens Arbeit zurückgehende Bestimmung der Metaphorizität der Lieder Dylans ist ein erster Schritt in Richtung dieses empirischen Projektes. Gleichzeitig aber zeigt sich, dass, wenn Metaphorizität in der vorgeführten Weise als Literarizitätsmarker gesehen wird, die Songtexte von Dylan als Corpus durchaus von unterschiedlicher Qualität sind. Interessant ist dann zu prüfen, ob die Musik die Texte ‚literarischer‘ macht.

6 Fragestellung der empirischen Untersuchung Ein anderer Pilotversuch, der die Texte nicht zuerst auf ihre Metaphorizität hin untersucht, wurde schon an der FU Berlin unternommen: Die Pauschalkritik an der Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan – seine Lyrik sei ohne Musik nicht ästhetisch wertvoll – und Dylans Bemerkung im Brief an das Nobelpreiskommitee: „Not once have I ever had the time to ask myself, ‘Are my songs literature?’“,12 war Anlass im Wintersemester 2016/17 für eine empirische Auseinandersetzung mit der Frage, ob ästhetische Urteile über Dylan’s Texte anders ausfallen, wenn die Leserinnen und Leser gleichzeitig die Musik hören.13 Das Seminar sollte Studierende in einen relativ jungen Zweig der empirischen Literaturforschung, die sogenannte Neurokognitive Poetik, einführen, welche mittels neurokognitiver Modelle und Methoden Leserreaktionen auf literarische Texte untersucht (Jacobs, 2015b; Nicklas und Jacobs, 2017; Schrott und Jacobs, 2011; Willems und Jacobs, 2016). Haben die Texte von Bob Dylan auch ohne dessen unverkennbaren Gesang und musikalische Begleitung die gleiche Lyrizität, welche die Verleihung des Nobelpreises an ihn rechtfertigt? Hat die doppelte Modalität einen Einfluss auf das Gefallen der Lieder? Neurokognitive Studien sprechen dafür, dass das

12 https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2016/dylan/25424-bob-dylan-banquet-speech-2016/ 13 Projektseminar Prof. A Jacobs, Neurokognitive Poetik I: Skalenentwicklung beim literarischen Lesen.

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Gehirn Musik und Text weitgehend unabhängig voneinander verarbeitet, wenn man semantische und harmonische Aspekte von Opernarien mittels EEG untersucht (Besson et al. 1998; Stratton und Zalanowski, 1994). Allerdings gibt es auch Befunde, die die Alternativhypothese stützen (Seraphine et al. 1984) und für eine Interaktion zwischen phonologischer, lexico-semantischer und syntaktischer Verarbeitung mit harmonischer sprechen (Bigand et al. 2001; Fedorenko et al. 2009, Kolinsky et al. 2009; Poulin-Charronnat et al. 2005) beziehungsweise musikalischer und linguistischer Syntax und Semantik (Koelsch, 2005; Steinbeis und Koelsch, 2008). Insgesamt bietet die Forschungsliteratur also ein uneinheitlich-komplexes Bild (Schön et al. 2010). Mit dem Ziel, die Frage nach der lyrischen Qualität der Dylan-Texte explorativ anzugehen, entwickelten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminars eine Studie, in der zwei Texte von Bob Dylan – die in einer Vorauswahl als am besten geeignet angesehen wurden – mit und ohne Musik gelesen und danach bewertet wurden. Es handelte sich um die bekannten Stücke Like a Rolling Stone (397 Wörter) und Hurricane (880 Wörter). Außerdem wurden die Texte mittels modernster quantitativer narrativer Analysetechniken (QNA) zuvor einer Merkmalsanalyse unterzogen, um quantitative Vorhersagen bezüglich der Skalenurteile der Probanden zu machen. Solche Techniken wurden bereits erfolgreich bei Shakespeare-Sonetten, Gedichten von Eliot und Joyce oder poetischen Metaphern eingesetzt (vgl. Jacobs, 2018a und b; Jacobs und Kinder, 2017; Jacobs et al. 2017).

7 Hypothesen Sowohl die Befunde aus qualitativen Textanalysen durch Experten als auch diejenigen der QNA lassen die Annahme zu, dass Hurricane der Text mit dem größeren poetischen Potenzial ist (vgl. Steen, 2004). Im Rahmen des ‚Neurocognitive Poetics Model of literary reading‘ (NCPM; Schrott und Jacobs, 2017; 2015; Nicklas und Jacobs, 2017) kann man daraus die Hypothese ableiten, dass Hurricane höhere Ratings für ästhetische Qualität und gleichzeitig niedrigere für Immersion und Verständlichkeit bekommt.

8 Versuchsbeschreibung Die Datenerhebung im Rahmen des Seminars fand im Winter 2017 teils bei den Versuchsleitern zu Hause, teils in einem Laborraum im Untergeschoss der Freien Universität statt. Insgesamt wurden Fragebogen-Daten von 53 freiwilligen

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Teilnehmern (31 weiblich, 21 männlich und 1 undefiniert) zwischen 20 und 56 (Durchschnittsalter 25.8, SD = 7.5) erhoben. Die Fragebögen enthielten neben den eigentlichen Testitems (zum Beispiel „Der Text hat mich gefühlsmäßig berührt.“) auch Fragen zu demographischen Aspekten, wie nach dem höchsten Bildungsabschluß, Fragen zu den Lese- und Musikhörgewohnheiten (zum Beispiel „Ich höre regelmäßig bewusst Musik, die ich mir selbst aussuche, in Abgrenzung zu Radio im Hintergrund.“) und Persönlichkeitsmerkmalen (zum Beispiel „Ich suche selten nach der tieferen Bedeutung von Dingen.“). Außerdem wurden nach dem Lesen der Texte, jeweils mit oder ohne Musik, Verständnis- und Gedächtnisfragen gestellt,14 sowie eine Stimmungsfrage: „Hat der Text Ihre Stimmung beeinflusst? Wenn ja, wie?“ Mit Beginn des Versuches wurden alle Probanden aufgefordert den ersten Fragebogen auszufüllen, der demographische Daten erfasste. Darauf folgte die Datenerhebung zur Lesegewohnheit, zum Lesekonsum, zur Empathie und den Persönlichkeitsmerkmalen. Nach der vollständigen Bearbeitung der Items erhielt der Proband die Aufforderung sich an den Versuchsleiter zu wenden, um entweder den Text Like a Rolling Stone oder Hurricane in Kopie ausgehändigt zu erhalten. Je nach Versuchsgruppenzugehörigkeit wurde der Proband dann gebeten, den Text möglichst zeitgleich mit den gesungenen Worten des Liedes zu lesen. Nach Beendigung des Lesens wurde der Proband aufgefordert den Text ohne Musik im eigenen Tempo zu lesen. Im Anschluss wurde der Fragebogen zum Text ausgeteilt und vom Probanden bearbeitet. Im zweiten Teil des Versuchs folgte abhängig von der Gruppenzugehörigkeit der jeweils andere Liedtext mit beziehungsweise ohne Musik. Auch dieser sollte vom Probanden ein zweites Mal gelesen werden. Nach Rückmeldung erhielt der Proband den entsprechenden Fragebogen zum Text. Nach dem Ausfüllen des letzten Fragebogens wurde der Proband verabschiedet.

9 Ergebnisse und Diskussion Da noch nicht alle Daten vollständig ausgewertet werden konnten, sind die folgenden Ergebnisse als vorläufig zu betrachten. Eine erste explorative Faktorenanalyse der Fragebogendaten ergab eine 5-Faktorenstruktur, die insgesamt 14 Zum Beispiel wurden folgende Fragen gestellt: „Was bedeuten die folgenden Ausdrücke im übertragenen Sinne: ‚Middleweight crown‘ – ‚Draw the heat‘?“ oder „Kamen die folgenden Sätze wortgetreu im Text vor? ‚Where they try to turn a man into a mouse‘?“ oder „Wer hat die Idee, die Hauptfigur zu beschuldigen: Die Polizisten – Der Barkeeper?

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80% der Varianz aufklären. Der erste Faktor (Eigenwert: 8.1, Varianzaufklärung: 30.2%) steht in Zusammenhang mit sieben Rezeptions- und drei Evaluationsitems, die allesamt die Berührung und Fesselung durch den Text und sein Potenzial, reale Gefühle auszulösen, widerspiegeln (beispielsweise „Der Text hat mich gefühlsmäßig berührt“). Der zweite Faktor (Eigenwert: 2.03, Varianzaufklärung: 15.8%) steht in Zusammenhang mit lediglich zwei Evaluationsitems, die beide Textverständlichkeit widerspiegeln (beispielsweise „Ich musste einige Zeilen mehrfach lesen, um deren Inhalt zu verstehen“). Nur ein einziges Item („Der Text zeichnet sich durch eine bildhafte Sprache aus“) lud auf dem dritten Faktor (Eigenwert: 1.8, Varianzaufklärung: 10.4%), während Faktor 4 (Eigenwert: 1.3, Varianzaufklärung: 12.3%) mit Evaluationsitems zur ästhetischen Qualität in Zusammenhang steht („Die Sprache des Textes ist kunstvoll“). Faktor 5 schließlich (Eigenwert: 1.15, Varianzaufklärung: 11.9%) ist lediglich mit dem Item „Beim Lesen habe ich die Hauptperson als Vorbild empfunden“ verbunden. Da Faktoren, die nur mit einem Item zusammenhängen, als schwach und instabil angesehen werden, konzentrieren wir uns im Folgenden auf drei Faktoren und die dazugehörenden 14 Items: Faktor 1 (‚Immersion‘), Faktor 2 (‚Verständlichkeit‘) und Faktor 3 (‚Ästhetik‘). Die Befunde mehrerer inferenzstatistischer Varianzanalysen mit den unabhängigen Variablen (UV) TEXT (Hurricane vs. Rolling Stone) und UV MUSIK (‚mit‘ vs. ‚ohne‘) und den drei Faktorenladungen als abhängige Variablen (AV) können wie folgt zusammengefasst werden: der Hurrciane-Text wurde als signifikant immersiver eingestuft F(1, 98) = 15.1, p < .0014, R2adj. = .09), aber auch als weniger gut verständlich F(1, 98) = 6.4, p < .013, R2adj. = .05), wohingegen es keinerlei Hinweise dafür gab, dass er auch als ästhetisch wertvoller eingestuft wurde. Die UV MUSIK zeigte keinerlei signifikante Effekte auf die drei AVs. Diese vorläufigen Befunde dienen eher illustrativen Zwecken und erlauben noch keine Schlüsse bezüglich der Hypothese. Es deutet sich an, dass Hurricane zwar schwerer zu verstehen, aber auch fesselnder ist als Rolling Stone, jedoch nicht unbedingt ästhetischer. Sollten sich diese vorläufigen Befunde in weiteren Text- und Datenanalysen sowie erweiterten Replikationsstudien mit deutlich mehr Texten bestätigen lassen, wäre dies überaus erkenntnisfördernd, da sie die Vorhersagen des NCPM falsifizieren und damit eine Modellrevision erzwingen würden. Darüberhinaus sind unsere Befunde leider inkonklusiv, was den aus der Litarturkritik ableitbaren Haupteffekt der UV MUSIK angeht beziehungsweise eine mögliche Interaktion mit der UV TEXT: das gleichzeitige Hören des Liedes beeinflusste die Ratings der Probanden in keiner Weise. Inwiefern die ‚Musik im Kopf‘ der Leserinnen und Leser – das heißt die mehr oder weniger intensive Erinnerung an Melodie und Harmonie des Lieds, ausgelöst durch das leise Lesen – auch in der Bedingung ‚ohne Musik‘ eine Rolle gespielt hat, ist eine

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Frage für zukünftige Untersuchungen. Diese Frage kann jedoch nicht allein mit Ratings als AV beantwortet werden, sondern bedarf des Einsatzes neurokognitiver Methoden, insbesondere der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT), um sichtbar zu machen, inwieweit Hirnregionen, die mit der Musikwahrnehmung assoziiert sind, auch in der Bedingung ohne Musik aktiviert werden.

10 Schluss Für die Fragestellung, ob die Musik die Texte Dylans poetischer macht, bedeuten die vorangegangenen Überlegungen und Untersuchungen, dass die Songtexte Dylans zwar von unterschiedlich hoher literarischer Qualität sind, insgesamt aber ihre Genrezugehörigkeit zu ‚Lyrics‘ sie keineswegs von der Literatur als solcher ausschließt. Ein solcher Ausschluß erscheint als Folge einer bestimmten Wertungshaltung, die aber von keiner grundsätzlichen Bedeutung für die Texte und ihre Kategorisierung ist. Wenn das Poetische, das der Poetizität zugrundeliegt eine besonders hohe sprachlich-formale Qualität mit großen kognitiv-affektiven Effekten auf die Rezipienten bedeutet, so scheint dies bei manchen Texten deutlich stärker gegeben zu sein als bei anderen. Literarische oder biblische Anspielungen können als Literarizitätsmarker gelten, Mehrdeutigkeit und nicht-habitualisierte Metaphern ebenso wie die poetische Funktion der Sprache durch den Verweis auf sich selbst haben sich als starke rhetorische Mittel der Literarisierung und Poetisierung erwiesen. Die Songexte lassen sich also auch jenseits einer affektgesteuerten Wertung literarisch rezipieren. Ob aber diese Qualitäten der Songtexte noch einmal durch die Musik und den Gesang gesteigert werden, lässt sich empirisch bislang nicht belegen. Hier ist weitere Forschung notwendig. Sicher aber ist natürlich, dass eine stärkere Medialisierung der Texte durch Gesang und Musik eine weiteres Bedeutungsspektrum eröffnet, da der Hermeneutik dann nicht nur die textuelle Semantik zur Verfügung steht, sondern auch die affektive Rhetorik der Musik, die bestimmte Botschaften des Textes ermöglichen, verstärken oder auch konterkarieren kann. Hier unterscheidet sich die Präsentationsform der Songtexte mit Musik nicht von der musikalischen Adaption von Gedichten oder Libretti (die selbst schon häufig eine Adaption eines Dramas oder Romans sind). Dadurch werden Songtexte nicht das gleiche wie ‚autonome Gedichte‘ hinsichtlich der Autorenintention oder der Paratexte der Edition, aber Songtexte sind deshalb nicht weniger Literatur als Gedichte. In beiden Fällen gilt die Grundmaxime der Ästhetik der Adaption, dass der adaptierte Text das Gleiche noch mal nur anders ist und in dieser Differenz der Wiederholung liegt ein großes ästhetisches

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Potenzial. Die Songtexte Dylans werden in der gesanglich/musikalischen Performanz so zu etwas anderem, das aber vielleicht nicht unbedingt richtig mit dem Begriff des ‚Poetischen‘ beschrieben ist.

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Musik – Theorie: Probleme und Qualitäten eines intermedialen Verhältnisses 1 Musikalisierung und Theorie Die heutzutage stattfindende Musikalisierung der Lebenswelt, eine durch Medien geförderte ubiquitäre Berieselung durch Sounds der diversen Art oder eine in klassischer wie in populärer Musik stattfindende Eventisierung durch Konzerte und Festivals bewirkt zwiespältige Reaktionen der mit Musik beschäftigten Diskurse und Theorien. Im Folgenden sollen diese Resonanzen und Reflexionen thesenartig als konvergentes Verhältnis von Diskurs und Medium, theoretischer Reflexion und musikalischer Praxis behandelt werden. Zu den Besonderheiten der betrachteten musikalischen Diskursfom und für deren Analyse ist signifikant, dass sie neben der universitär etablierten Musikwissenschaft existiert, teilweise mit dem akademischen Diskurs verschränkt aber mitunter auch von ihm ausgeschlossen ist. Diese Entzweiung des Denkens und Schreibens über Musik gehört zum Sachverhalt, indem parallel zur Musikalisierung der Lebenswelt die Diskursform ebenfalls durch eine populäre Adressierung und Attitüde ausgezeichnet ist mit entsprechenden essayistischen Formaten. Die populäre Musik ihrerseits hat erst lange nach ihrer massenmedialen Verbreitung seit den fünfziger und sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts eine Form der wissenschaftlichen Diskursivierung erhalten, so bei Diederich Diederichsen und Karl Bruckmaier im Jahr 2014. Nicht nur reagieren die diversen Varianten musikalischer Reflexion, zu denen etwa die essayistischen Formen des Feuilletons gehören, sondern sie sind als eingezogene Diskurse ins musikalische Geschehen integriert, wodurch eine komplementäre intermediale Struktur der „wechselseitigen Erhellung“ (Oskar Walzel) nicht nur der Künste Musik und Literatur, sondern auch von Theorie und Musik entsteht. So ist es üblich geworden, die musikalische Aufführung der Bayreuther Festspiele zu loben, während die theatrale Inszenierung vom Feuilleton oft kritisiert wird. Richard Wagner selbst hatte durch seine Schriften wie auch seine Interpreten Friedrich Nietzsche und Theodor W. Adorno diese gegenläufige Parallelität von Text und Musik initiiert. Dabei deckt der musikkritische Diskurs politische und soziale Verstrickungen auf, welche die Musik allenfalls symbolisch widerspiegelt, weswegen sie dann doch als gelungen gilt und kontrafaktisch zur Intention des Komponisten inszeniert werden

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kann, etwa in berühmten Bayreuther Inszenierungen von Patrice Chéreau bis zu Frank Castorff.1

2 Kenner und Dilettant Diese widersprüchliche Konstellation von Diskurs und Medium, von feuilletonistischem Text und musikalischer Aufführung lässt sich historisch verlängern und theoretisch vertiefen. Auch wenn die Musik seit der Romantik um 1800 zur „absoluten“ (Dahlhaus 1978) erklärt und metaphysisch überhöht wird, so bleibt ihre gesellschaftliche Stellung prekär, was die diversen Diskurse über die Musik verdeutlichen. So tritt seit Hegel bis zu Adorno neben den „Kenner“ der „Dilettant“ (Adorno 1997a, 30). Jean Jacques Rousseau, der sein Geld mit dem Abschreiben und Kopieren von Partituren verdient, gilt gleichwohl als einflussreicher Musiktheoretiker und begründet dabei ein Genre musikalischer Prosa (Gülke 1984), das bis zu Thomas Bernhard reicht, der dem in einer Irrenanstalt lebenden einarmigen Pianisten und Bruder von Ludwig Wittgenstein Paul in Wittgensteins Neffe ein literarisches Denkmal setzt. Diese Prosa ist bevölkert mit scheiternden, gehandikapten oder suizidal gefährdeten Musikern. Wird die ursprünglich antike kosmologische Sphärenharmonie, die der Mythos Musik (Lubkoll 1995) repräsentiert, in der Moderne säkularisiert und immanentisiert, dann wird daraus eine Gewalt der Musik (Gess 2006), die wie in Heinrich von Kleists Novelle Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik zum Wahnsinn führen kann. Solche Widersprüche zwischen dem „Fetischcharakter in der Musik und der Regression des Hörens“, wie Adornos bekannter Aufsatz betitelt ist, entfalten offenbar eine musikalische wie literarische Kreativität, die die Musikalisierung der modernen Kultur und Lebenswelt

1 Die Musikkritik als eigenständiger Diskurs der Lenkung von musikalischer Rezeption und Versprachlichung von Inszenierung und Klang zeigt diesen Widerspruch als einen der Semantik des musikkritischen Diskurses selbst in der Hochschätzung der musikalischen und einer Abwertung der dramaturgischen Inszenierung: „Vollendet locker und dabei präzise bringt Christian Thielemann ‚Tristan und Isolde‘ zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele zum Klingen. Die Inszenierung von Katharina Wagner dagegen wirkt so zeit- wie zahnlos“ (Büning 2015a, 9). Zu dieser musikkritischen Semantik gehört die Aufwertung des Klangs wie der Wiederholung, denn Castorffs 2013 noch vehement kritisierte Inszenierung wird 2015 schon etwas milder beurteilt. „Man kann sich an vieles gewöhnen in Bayreuth. Nur nicht an den Zynismus des Regisseurs Frank Castorff, der nicht viel verändert für die Wiederaufnahme von seinem ‚Rheingold‘ und der ‚Walküre‘“ (Büning 2015b, 11).

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befördert und widerspiegelt. In der Popliteratur wird die Referenz auf die Popmusik zur narrativen Form; der moderne „polyphone“ Roman (Michail Bachtin) als „romantisches Buch“ (Helmut Schanze) erhält im Klang der Musik das Leitmedium seiner Poetik (Käuser 2016).

3 Avantgarde und Popkultur Insofern ist für den wichtigsten Musiktheoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts Adorno die Musik der Dialektik der Aufklärung als Ambivalenz der Moderne integriert und zeigt sich insbesondere am Widerstreit von Avantgarde und Populärkultur, die aber wiederum ein „konvergentes“ (Adorno 1997c, 637) Verhältnis eingehen. Während die Avantgarde bei Eisler, Dessau, Weill, Korngold u. a. schon früh in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts popularisiert wird, insbesondere durch die arbeitsteilige Korrespondenz zu neuen Medien wie Film und Radio oder in Brechts Opern, erfährt die kulturindustriell hervorgebrachte Pop-, Rock- und Jazzmusik eine Elaborierung innerhalb des Kultursystems. Wenn endlich 2016 Bob Dylan den Nobelpreis für Literatur (und nicht den für Musik) bekommt, dann reagieren die diversen Varianten des Musikdiskurses kakophonisch und bringen damit eher ihre jeweiligen diskursiven Elemente und Voraussetzungen zur Geltung, als eine – wie sonst übliche – einfache Akzeptanz des Preisträgers. Dieses spannungsvolle Verhältnis von Popkultur und Avantgarde, das im zwanzigsten Jahrhundert insbesondere in der Kunstform der Musik ausgetragen und von Adorno maßgeblich behandelt wird, kann im wechselvollen Verhältnis von Zerstörung und Kreation reflektiert werden. Wird das Klavier auch psychotechnisch und körpersprachlich zum Inbegriff bürgerlicher Musikkultur (Scherer 1989), so wird diese soziale Integration von Musik konterkariert durch eine avantgardistische und/oder konservative Kultur- und Medienkritik, die in „Klavierzerstörungen“ einen Ausdruck findet (Schmidt 2013). Gerade Musik scheint die Kunstform zu sein, die in der avantgardistischen oder der popkulturellen Variante eine kulturkritische Antihaltung zum gesellschaftlichen Mainstream einnimmt, die den Widerspruch von Künstler und Bürger hervorragend verkörpert und dies in theoretischen oder literarischen Texten widerspiegelt. Thomas Manns Doktor Faustus ist dabei der Gipfelpunkt, insofern der Widerspruch zwischen Zivilisation und Barbarei nicht nur konstatiert wird, sondern ein ursächliches Verhältnis zwischen der elaborierten Kunst der Zwölftonmusik und dem kulturellen Verfall im Nationalsozialismus behauptet und in der Romanfigur des Adrian Leverkühn gestaltet wird. Als Avantgarde oder in Sparten der Populärmusik („Woodstock“) wird Musik insofern kultur- und modernekritisch eingesetzt.

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4 Typisierung und Musiksoziologie Von Rousseau über E.T.A. Hoffmann, Nietzsche bis zu Thomas Mann gerinnt dieser Widerspruch zu einer literarischen Typenreihe, welche Adorno zur Methode seiner Musiksoziologie macht, die Grundlage einer allgemeinen Soziologie sein soll: „Da das Buch nicht nur in die Musiksoziologie, sondern in die soziologische Konzeption der Frankfurter Schule einleiten soll [. . .].“ (Adorno 1997b, 171/177). Insofern erhält Musik einen besonderen Stellenwert als Symptom für den Zustand der Gesellschaft. Die dort entworfene sozialanthropologische Skala musikalischer „Hörtypen“ (1997b, 178) zeichnet sich ebenfalls dadurch aus, dass der Mainstream einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft vermieden wird und ist stattdessen gekennzeichnet durch die extreme Typisierung in regressiv hörende Aphatiker und Soziopathen sowie progressiv hörende Spezialisten und Enthusiasten. Dementsprechend lässt sich eine polare Typenreihe von E.T.A. Hoffmann bis zu Thomas Bernhard beobachten, die das Ausgangsproblem von Diskurs und Medium personifiziert und durch intermediale Verweise ausgestattet ist. Im Künstleroman Alte Meister personifiziert die Aufspaltung in den Ich-Erzähler und seinen Dialogpartner Reger zugleich schematisierte ästhetische Positionen von Musik und Prosa, die in dialogischer Stimmenvielfalt ausgetragen werden, deren Opposition wiederum in kritischen Typisierungen pointiert wird: „Mit Stifter und Bruckner, hat er gesagt, dürfen Sie mir nicht kommen, jedenfalls nicht in Zusammenhang mit Kunst und was ich unter Kunst verstehe. Prosaverwischer, sagte er, der Eine, Musikverwischer der Andere.“ (Bernhard 1988, 78) Winfried Eckel stellt fest, dass Musik in Prosatexten figurale Formen annimmt, die etwa bei E.T.A. Hoffman in der Ich-Spaltung und Verdoppelung in wahnsinnige Musikenthusiasten und kleinbürgerliche Philister Ursprung von Ironie und Humor sind (Eckel 2015). Diese figurale Anordnung in der Darstellungsweise musikalischer Prosa, die Musik in Figuren überführt und in deren Oppositionen komisch gestaltet, findet sich noch bei Bernhard. Die Doppelbedeutung von Figur als literarischem Formprinzip und typisierter Personalisierung und Verkörperung kommt dabei zur Geltung.

5 Darstellung und Dissonanz Dabei spiegelt Musik insbesondere und vor anderen Künsten und Medien den widersprüchlichen Zustand der modernen Gesellschaft wider. Diese doppelten Dissonanzen (Adorno 1997d) von atonaler Musik und widersprüchlicher Gesellschaft machen Besonderheiten der Theorie erforderlich, welche zwischen „Methode“

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und „Sache“ (Adorno 1997b, 171), zwischen Gegenstand und Darstellungsweise nicht unterscheidet im Unterschied zu anderen gängigen Theoriemodellen und Wissenschaftstheorien. So orientiert sich der akademische Musikdiskurs oft an naturwissenschaftlichen Modellen der Physiologie und Akustik, die das musikalische Hören physiologisch und neurologisch messen und biometrisch vermessen, also in eine an Grafik und Zahl orientierte Notation überführen. Eine akademisch anerkannte und seriöse Musikphilosophie bestimmt Musik als „Autonomie des Klangs“, die durch „zusammenhängende Elementarbegriffe zu explizieren“ ist (Hindrichs 2014, 7); dem Problem, wie der immaterielle und zeichenlose Klang zu versprachlichen und zu bezeichnen ist, wird damit eine andere methodische Lösung gegeben. Demgegenüber betont Adorno den besonderen Theoriestatus dadurch, dass sein Text den Vortragscharakter aufrechterhält durch eine bewusst fragmentarische Darstellungsweise, die aber das genaue Zuhören erforderlich macht (Adorno 1997b, 171). Sowohl der dissonante Zustand der Gesellschaft wie die Dissonanzen der modernen Musik machen dieses Widerspiegelungsverhältnis von Musik und Theorie notwendig, um eine adäquate Plausibilisierung der doppelten Dissonanz zu erreichen, die zunächst eine angemessene Versprachlichung der Nonverbalität der Musik darstellt, die durch deren modernen Klangcharakter hervorgerufen wird. Durch nachgeahmte musikanaloge Mündlichkeit wird die Theorie musikalisiert und so abgegrenzt gegenüber anderen Theorieformen. Der „Zusammenhang von Theorie und fact finding“ (Adorno 1997b, 175) unterhält in der Musiktheorie ein besonderes Verhältnis „unsinnlicher Ähnlichkeit“ (Benjamin 1980a, 209), so dass die Theorie in ihrer Darstellungsweise musikanalog verfährt, indem die mündlich an einen „Zuhörer gerichtete Rede“ und das „kommunikative Wort“ eine Nähe zum musikalischen Gegenstand ausprägen, die sich textuell im Fragmentcharakter zeigt (Adorno 1997b, 174). Anders verankert Friedrich Kittler die Rockmusik und ihre gesellschaftskritische Attitüde, indem er auf den Ursprung der medialen und elektronischen Elemente der Rockmusik durch Radio, Grammophon und deren Sound in der Heeres-und Militärtechnologie verweist, die auch dazu führt den sprachähnlichen Charakter der Songs zu verändern, nämlich hin zu einer unmetrischen, aber rhythmisch-epischen „Reimlosen Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“ (Brecht), deren Ursprünge Kittler bei Nietzsche sieht (Kittler 2002).

6 Musikalisierung der Theorie In den Noten zur Literatur wird diese besondere Theorieform musikalischer Prosa zu einem relevanten Format der Literatur seit der Romantik um 1800, als deren End- und Höhepunkt Adornos Werk zu gelten hat. Interessant ist, dass er

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eine Tradition beendet, die beginnend mit Rousseau, Herder und Schlegel und fortgeführt von Nietzsche sowohl die Popularität der Theorie durch den mündlichen Vortragscharakter betont wie auch die dissonante Struktur durch die Form des Fragments hervorhebt. Beide diskursiven Strategien der Popularität und des Fragments sind inkompatibel mit anderen etablierten Theoriestandards und Darstellungsweisen. Den Zusammenhang haben maßgebliche Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts wie Nietzsche und Wittgenstein gesehen, indem sie den fragmentarischen Zustand ihrer Texte auf musikalische Ursprünge zurückgeführt haben (vgl. Käuser 2016). Ist es einerseits notwendig, Musik wegen ihres prominenten Status in der modernen Gesellschaft zum Ausgangspunkt von Theorie und Philosophie zu nehmen, so ist andererseits die Form dieses Diskurses prädisponiert zum Fragment, welches sich am Rezipienten als lesendem Hörer oder umgekehrt dem Leser als imaginärem Hörer orientiert. Beide Formmerkmale sind Kennzeichen musikalischer Prosa, einer literarischen Form, welche durch Musik seit 1800 eine Proliferation erfährt. Werden maßgebliche Musiktheorien etwa im Essay literarisch versprachlicht, so fördert dies eine latent unwissenschaftliche Subjektivierung und Poetisierung der Theorie, welche Herder enthusiastisch einfordert und Kant gegen Herder ebenso emphatisch kritisiert. Der „Darstellungsmodus“ (Zaminer 1985, 6) der Musiktheorie rückt damit an prominente Stelle. Die Diskursform verdankt dem fragmentarischen Charakter eine besondere Kreativität, die man bei Herder, Rousseau, Nietzsche und Adorno feststellt. Allerdings genügen Form und Methode etablierten akademischen Darstellungsweisen von Wissenschaft nicht, weder in der fragmentarischen noch in der literarischen oder essayistischen Variante musikalischer Prosa. Benjamin erläutert die Übergänge zwischen Musik und Prosa in seiner Fragmentsammlung Einbahnstraße: „Arbeit an einer guten Prosa hat drei Stufen: eine musikalische, auf der sie komponiert, eine architektonische, auf der sie gebaut, endlich eine textile, auf der sie gewoben wird.“ (Benjamin 1980c, 102)

7 Diskurs und Gesellschaft Die prekäre Integration der Musik in die moderne Gesellschaft zeigt sich an der Ambivalenz und Doppeltheit des Musikdiskurses sowie der ambigen Einschätzung seiner Autoren. So erfolgreich die Musik Wagners bis heute ist, so irritiert seine politische Wirkung sowie die antisemitische Phraseologie seiner Schriften über Musik. Beides aber scheint als konvergentes Verhältnis von Diskurs und Musik zusammen zu gehören; denn ähnlich widersprüchlich sind Einschätzungen über Nietzsche und Adorno oder die akademische Erfolglosigkeit und

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gleichzeitige intellektuelle Wirksamkeit von Herders Sprach- und Musiktheorie. So erhält der prekäre Diskurs über Musik einen Symptomwert für die Stellung der Musik in der Gesellschaft, die seit 1800 bis heute ihre Autonomie metaphysisch überhöht und andererseits dilettantisch unterhöhlt. Wird Musik einerseits kosmologisch zum Mythos in der Antike oder in der Romantik und erfährt dabei eine durch den Sound der Medien verstärkte Macht, so ist andererseits der Diskurs über Musik kulturkritisch, subjektiv unwissenschaftlich, fragmentarisch und essayistisch, aber ideologisch höchst wirkungsvoll. Mythos und Gewalt der Musik in der Moderne zeigen sich insbesondere bei auf die Musik fixierten Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Nietzsche, Thomas Mann und deren musikalischer Prosa. Musiksoziologie ist für Adorno in seiner berühmten Vorlesung Kern einer allgemeinen Soziologie als ein Beitrag zu Kulturkritik und Gesellschaft. Aber darin weicht er natürlich vom empirischen Positivismus der akademischen Soziologie um 1960 ab, die sich gerade als einflussreiches Universitätsfach dabei ist zu etablieren und mit der sich Adorno kritisch im Werk von Alphons Silbermann auseinandersetzt. Adornos Variante lässt sich in der Theorietradition der Anthropologie verorten, deren Diskurs- und Wissenschaftsgeschichte aber selbst einen prekären Sonderstatus innehat (Käuser 2006). Musiksoziologie, die „Erkenntnisse über das Verhältnis zwischen den Musik Hörenden, als vergesellschafteten Einzelwesen, und der Musik selbst“ (Adorno 1997b, 178) beibringt, hat dabei mannigfache methodische Probleme zu lösen, denen Adorno mit einer Untersuchung von „typischen Verhaltensweisen des musikalischen Hörens“ (Adorno 1997b, 178) begegnet.

8 Musik als Klang – die Welt als Klang Wird die Omnipräsenz der Musik in der modernen Kultur wesentlich durch den medial gestützten und erzeugten Sound etabliert, so spaltet sich eine Theorie des Klangs wie auch eine des komplementären Hörens in eine populäre Variante (Berendt 1985) und eine akademische. Wird Musik als Klang verstanden oder ist moderne Musik wesentlich Klang, so wird sie entweder zum sozialen medienkulturellen Phänomen oder es findet der Versuch statt, Musik und Klang zu identifizieren, um den Kunststatus als Ontologie zu retten. (Hindrichs 2014). Die Entdifferenzierung von Klang als Nichtmusik und Musik als Kunst hat wissenschaftstheoretische Probleme für das kulturelle Subsystem Musik/Kunst zur Konsequenz, welches Klang als medialen Sound entweder popkulturell inkludiert oder elitär exkludiert, auch um den Standard der mit Musik befassten Theorie zu sichern. Denn anders als das an die Notation gekoppelte traditionelle Schriftverständnis der europäischen Kunstmusik als Klangrede ist Musik als Sound an die

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Gegenwart ihrer Aufführung oder medialen Erscheinung gebunden. Sie tendiert dadurch zur „Rückführung der Negation des Systems ins System“ (Luhmann 1999, 479), was sowohl eine Negation des Kunstsystems durch die Hinzufügung von Klang wie auch eine hierdurch erfolgte Negation des Diskurses über dieses System meint: In der Musik findet man eine ganz ähnliche Entscheidung, die über die Ablehnung der Beschränkungen des tonalen Systems weit hinausgeht. Sie besteht in der Konzentration auf den im Augenblick aktuellen Klang [. . .] ein solches Programm [läuft] auf die Aufhebung der Differenz von Musik und Nichtmusik hinaus [und bedarf der] Autorisierung [. . .] um kenntlich zu machen, daß es sich um Musik handelt. (Luhmann 1999, 478)

Diese Autorisierung findet durch Personalisierung statt, indem der Künstler John Cage den Klang zur Musik nobilitiert. Auch Luhmann sieht in der Soziologie die geeignete Diskursform, um die vom Klang beherrschte moderne Musik adäquat zu behandeln. Wie ein Kommentar zu Hoffmanns musikalischen Außenseitern und Dilettanten liest sich die „künstlerische Negation der Kunst als Kunst“, die nicht mit „dem Kunstsystem, sondern mit dem Gesellschaftssystem“ durch die „Unterscheidung von Inklusion und Exklusion“ befasst sind (Luhmann 1999, 476). Diese Entgrenzung und Negation des traditionellen Systems von Musik durch die Hinzufügung und Inklusion von Klang blendet Hindrichs aus, indem er Musik und Klang gleichsetzt; die historische Entwicklung dieser Gleichsetzung, die seit der absoluten Instrumentalmusik um 1800 stattfindet, wird dabei durch eine un- bzw. überhistorische Ontologie der Musik ersetzt (Hindrichs 2014). Den Begriff der Resonanz wählt und elaboriert Hartmut Rosa, um die soziale und gesellschaftskritische Relevanz des Sachverhalts umfassend aufzuzeigen, der im Klang der Musik als sozialer Interaktion durch umfassende Reproduzierbarkeit (Adorno) eine Keimzelle hat und (musik-) soziologischer Reflexion bedarf (Rosa 2016).

9 Hören und Klang Wird Musik als Klang verstanden, so impliziert dies eine epistemologische und diskursive Verschiebung über Begriff und Methode von Musiktheorie und macht eine Neubestimmung des Diskurses der Musikwissenschaft notwendig, die zum einen den medialen Sound integriert und sich zum anderen der „Dimension des Auditiven“ zuwendet (Schlüter und Volmar 2014, 440). Wird intensiv an einer Bildtheorie und Bildwissenschaft gearbeitet und die Prädominanz des Sehens für die moderne digitale AV-Kultur immer wieder behauptet, so ist eine Kulturwissenschaft des Hörens und des Tons oder Klangs nicht über

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Anfänge hinausgekommen. Aspekte der Medialität von Musik sind der etablierten Musiktheorie nur schwer zu integrieren; auf die diskurshistorischen und wissenschaftstheoretischen Gründe für diese Ignoranz wird verwiesen (Schlüter und Volmar 2014). Herders aufs Hören fixierte Sprach- und Musiktheorie bleibt akademisch ebenso marginal wie die „Akusmatik“ Michel Chions oder die Akroamatik Manfred Riedels. Nicht nur die mediale Berieselung scheint Adorno kulturkritisch mit der Regression des Hörens im Blick zu haben, sondern auch die marginale theoretische Bemühung um den „akustischen Sinn und Modus“ (Plessner; Käuser 2006), eine Zweitrangigkeit der theoretischen Beschäftigung mit dem Hören, den etwa die Phänomenologie deutlich macht.2 Positiv gewendet könnte es sein, dass in der besonderen Diskursivität musikalischer Prosa diese Theorie des Hörens eher „implizit“ verborgen als „explizit“ formuliert ist (Dahlhaus 1985, 8–11), so dass der Mängelbefund zu relativieren ist. Zwar ist eine akademisch anerkannte Theorie des Hörens und Tons Desiderat, aber es existiert in der umfänglichen Literarisierung eine indirekte Theorieform, die wegen ihrer indirekten symbolischen Form den modern vermittelten, medialisierten Bedingungen von Kultur und Lebenswelt eher entspricht als eine akademisch-seriöse Philosophie und Theorie. Tendiert die Theorie zur Praxis des Musizierens und changiert das Genre musikalische Prosa zwischen Theorie und Poesie, so ist diese multimediale und intermediale Anlage Ausweis von Modernität und wird dementsprechend von traditionellen Puristen wie Hegel und Adorno als dilettantische Verunreinigung und „Ausfransung“ der Genres und Medien kritisiert.3 Herder hingegen stellt die kreativen Potentiale des Genres „musikalische Poesie“ fest, die insbesondere in der engen Affinität von Sprache und Musik bestehen, welche das Genre fragmentarisch darzustellen in der Lage ist: Und da dies empfindungsreiche Wesen der Musik von jeher so nahe an der Sprache gewesen: so ist hier die musikalische Poesie, über die wir kaum einen Versuch einer Theorie, wohl aber mehr praktische Muster haben, der große Vorhof zur Pforte der allgemeinen musikalischen Ästhetik. (Herder 1990, 564)

2 Die Prädominanz des visuellen Sinns und die Marginalisierung des akustischen Sensoriums zeigt sich an der phänomenologischen Theorievariante, die das Verhältnis von Leib und Sprache/Expressivität verkürzt um den akustischen, sprachlich-musikalischen Modus (vgl. etwa Schwering 2010). Die Aufwertung des akustischen Modus innerhalb einer anthropologischen Theorietradition von Herder bis zu Plessner findet wenig akademische Anerkennung, weil der anthropologische Diskurs selbst marginalisiert ist. 3 Vgl. zu Adornos Kritik an Gesamtkunstwerk, und Synästhesie in „Einige Relationen zwischen Musik und Malerei“, Frankfurt a.M. 1997 c S. 637: „Das Wagnersche Gesamtkunstwerk und seine Derivate waren der Traum jener Konvergenz [der Klangfarbe] als abstrakte Utopie, ehe die Medien selbst sie gestatteten. Es missglückte durch Vermischung der Medien [. . .].“

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10 Sprache und Musik Deswegen stellt die Musik und ihr besonderer Diskurs eine Herausforderung für eine moderne Soziologie und Anthropologie als „Ästhesiologie der Sinne“ (Helmuth Plessner), für eine „Logik der Sprachwissenschaften“ (Karl Bühler) oder der „Kulturwissenschaften“ (Ernst Cassirer) dar. Indem sich Musik dem mimetischen Bezug auf Sachen und Objekte entzieht, wird sie autonom, absolut und mimischselbstreferentiell vom Subjekt hervorgebracht, dessen gestischer Ausdruck ihre Referenz ist. Dieser besondere Bezug von Subjekt und Objekt stellt ein methodisches und wissenschaftstheoretisches Problem dar; positiv gewendet generiert dies den besonderen Status von Musiktheorie, wie er hier diskursanalytisch skizziert wird. Weil die autonome Musik keinen Objektbezug hat, wird sie zum Medium, das in der Aufführung des Musikmachens oder im Diskurs des Darüberschreibens einen Ausdruck findet, die dadurch ein konvergentes Wechselverhältnis eingehen. Die besonderen Anforderungen an den Diskurs entspringen der antimimetischen Abstraktion der Avantgarde, deren Entwirklichung Ästhetisierung und damit diskursive Reflexionsbereitschaft und Intellektualisierung freisetzt. Insbesondere ist ein spezifisches Verhältnis zwischen Musik und Sprache für diesen besonderen Theoriestatus verantwortlich. Denn Sprache bezeichnet nicht mehr nur mimetisch – nachahmend Objekte oder Sachverhalte, sondern folgt einem „mimetischen Vermögen“ und „Verhalten“ (Benjamin 1980b, 212) der onomatopoetischen Hervorbringung und Emergenz wie in der Musik. Dieser Musikdiskurs beginnt bei Rousseau und Herder und wird fortgesetzt von Reflexionen über Musik und Sprache bei Nietzsche und Adorno, die sowohl die „Sprachähnlichkeit“ der Musik (Wellmer 2009) wie die Musikähnlichkeit der Sprache betonen, nicht aber die Identität von Sprache und Musik behaupten, wie dies die ältere rhetorische Klangrede tat. Sowohl Diskurse wie literarische Texte über Musik sind diesem sprachtheoretischen Verhältnis integriert, dem sie ihre Ausbreitung seit dem achtzehnten Jahrhundert bis heute verdanken. Wenn Sprache und Musik keine Gegenstände und Sachverhalte repräsentieren, gewinnen sie eine kreative Expressivität, durch die Sprache und Musik als Medium und nicht als Zeichen von Bezeichnetem hervortreten. Sprachtheorie ist dann nicht mehr semiotisch und mimetisch, sondern magisch und mimisch (Benjamin 1980a, 208).

11 Mimesis und Medium So beginnt eine Geschichte des Begriffs Medium im Umfeld dieser Diskussionen um Musik und Sprache. Herders fragmentarische Musiktheorie im IV. Kritischen Wäldchen entwirft eine „Philosophie der Töne“, die sowohl die Hörbarkeit der

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Sprache wie der Musik umfassen soll und für die das Verhältnis von Musik und Literatur als „musikalische Poesie“ zentral ist. Insofern diese Tonlehre vom Hören und seiner Anschauung oder sinnlichen Wahrnehmung ausgeht und korrespondierend zur visuellen Farbenlehre bei Goethe entfaltet wird, versucht sie auch die Umwandlung des Hörens in Literatur, die Übersetzung von Mündlichkeit in Schriftlichkeit, von Klang in Prosa zu erklären. Diese Umwandlung bewerkstelligt das mimetische Vermögen, durch welches der Text zum Medium der Musik wird. Der Diskurs gleicht sich dabei der Sache an, beide werden aber nicht identisch oder assimilieren sich, was etwa Prosa und Musik auch niemals könnten. Diese Annäherung oder Mimesis hat zum Ergebnis musikalische Poesie oder musikalische Prosa, die zum maßgeblichen Genre der literarischen Moderne seit 1800 werden (Eckel 2015). Nachgeahmt oder bezeichnet wird kein Objekt, sondern mimetisch meint den Übergang von der Mündlichkeit des beseelten Singens und ausdrucksvollen Sprechens in die Schriftlichkeit des Textes. Es geht um die Transformation oder Medialisierung des Hörens und Sprechens ins Schreiben und Reflektieren: „Die bildende menschliche Seele, hat sie bei ihrer Würksamkeit nicht noch ein weit näheres Medium um sich, in welchem sie würket, aus welchem sie bildet [. . .] dies nähere Medium, diese Maße der Bildung, diese nächste Bestimmung der Gestalt.“ (Herder 1990, 671). Als „Ursache der Schönheit“ (Herder 1990, 671) wird die Übersetzung oder Medialisierung von – im Jargon Herders – Seele in Gestalt bestimmt, die im Falle der Musik die subjektive Kreativität energetisch und emergetisch transformiert in musikalische Werke. An der Prosa des Romans analysiert die Romantheorie Michail Bachtins, wie und dass Mündlichkeit als Stimmenvielfalt polyphon inszeniert und vom Leser imaginiert wird und so die kulturanthropologische Opposition von Oralität und Schriftlichkeit romanpoetologisch bestimmend wird. Ernst Cassirer wird unter Berufung auf Herder (Cassirer 1980, 12–15) dieses Projekt einer anthropologischen Ästhetik fortsetzen und Herders zentralen Ausdrucksbegriff ersetzen durch den Begriff der symbolischen Form, welche er als Medium bestimmt. Cassirer geht es dabei um den Befreiungsprozeß, den der ‚Geist‘ gegenüber der ‚Natur‘ zu vollbringen hat. Für diesen Prozeß bilden die einzelnen ‚symbolischen Formen‘: der Mythos, die Sprache, die Kunst, die Erkenntnis, die unentbehrliche Vorbedingung. Sie sind die eigentümlichen Medien, die der Mensch sich erschafft, um sich kraft ihrer von der Welt zu trennen und sich in eben dieser Trennung umso fester mit ihr zu verbinden. Dieser Zug der Vermittlung charakterisiert alles menschliche Erkennen, wie er auch für alles menschliche Wirken bezeichnend und typisch ist. (Cassirer 1980, 25)

Semiotisch und sprachtheoretisch beinhaltet dies die Ablösung von einer Objektreferenz zu einer Subjekt- oder Selbstreferenz der Zeichen sowie die

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kulturelle Installierung des homo symbolicus. Musiktheoretisch meint dies die Autonomisierung der Musik seit der Romantik um 1800, die es ermöglicht, dass Musik zu einer zweiten imaginären Welt wird, die sich von der ersten realen Welt abkoppelt (Valk 2008). Benjamin fügt als ergänzende Erklärung für das Verhältnis von Sprache und Musik das mimetische Vermögen und mimische Verhalten als „Medium“ hinzu, was auch die Körperlichkeit des Vorgangs als musikalische Gestik impliziert (Benjamin 1980a, 209).

12 Musikalisierung und Ästhetisierung Helmuth Plessner beruft sich bei seinem fragmentarischen Projekt einer Ästhesiologie oder Anthropologie der Musik auf Herder und dessen kritische Aufarbeitung von Lessings Fundierung einer Medienästhetik im Laokoon. Dabei führt die Differenzierung der Sinne und der korrespondierenden Medien zu einer Aufwertung des Hörsinns gegenüber der Prädominanz des Sehsinns. Plessner stellt wie Herder fest, dass einerseits eine Emanzipation der Musik durch die Autonomisierung des Klangs stattfindet und so der Grundsatz der ut pictura poesis durch denjenigen der ut musica poesis ersetzt werden muss. Andererseits ist dieser Aufwertung der Musik und des Hörens und Tons im Wettstreit der Künste keine zureichende und angemessene theoretische Behandlung gefolgt. Demnach hat die Musikalisierung der Lebenswelt deren Ästhetisierung einerseits und eine Reflexionsbereitschaft andererseits herbeigeführt, doch die Reflexionsbereitschaft ist nicht in akademisch anerkannte Diskurse eingegangen, sondern hat sich populäre, fragmentarische und literarische Formen der musikalischen Prosa gewählt wie den Essay oder den Roman. So wird ein ästhetischer Eskapismus beklagt, den sowohl die zweite Welt der autonomen Musik wie die Musikalisierung der Lebenswelt hervorbringen. Arnold Gehlen konstatiert eine „Ästhetisierung der Bildung, ihre Übersetzung ins Folgenlose und auch moralisch Unverbindliche [. . .] innerhalb eines völlig anderen Bezugssystems“ (Gehlen 1957, 33). Dieses Abdriften in eine imaginäre Scheinwelt, welches die Musik maßgeblich befördert oder repräsentiert, wird medientechnologisch gefördert. Der Modernisierung und sozialen Integration der Musik als Leitmedium korrespondiert eine „gegenläufige Primitivisierung“ (Gehlen 1957, 33) einschließlich eines Vordringens von Nonverbalität, Körperlich- und Begriffslosigkeit sowie irrationaler Elemente von Rationalitätskritik. Ist Abstraktion der Leitbegriff musikalischer Modernisierung im zwanzigsten Jahrhundert, so umfasst er beide Tendenzen eines Wirklichkeitsentzugs durch die mediale Herstellung zweiter Welten sowie die popkulturell und modernekritisch vorangetriebene Restitution und Reproduktion archaischer

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und primitiver Elemente. Dies war auch Leitgedanke der für die Avantgarde wirkungsvollen Dissertation von Wilhelm Worringer Abstraktion und Einfühlung von 1906. Unter Berufung auf Benjamin entwickelt Michael Taussig ein entsprechendes anthropologisches Projekt von Mimesis und Alterität.

13 Abstraktion und Alterität Ernst Cassirer hebt hervor, dass Musik als Medium zu einer autonomen Geistes-, und wie man ergänzen könnte Geisterwelt in der Moderne wird, etwa gefördert durch die die Wirklichkeit zerstörende Abstraktion der Avantgarde als deren Weltsprache (Klaus von Beyme) oder die Immaterialität des Klangs als Dominante der neueren Musik. Plessner und Gehlen werten dies kritisch als abstrakte Abgehobenheit der Weltflucht und des Eskapismus, die maßgeblich die Musik und deren Diskurse sowie Literatur und Feuilleton bewerkstelligt haben, wodurch Wirklichkeitsbezug sowie -veränderung eingeschränkt werden. Mit Blick auf die medienkulturelle Musikalisierung und Ästhetisierung wird man diesem Befund durchaus zustimmen können; die Eventisierung der Musik hat durch Festivals und Medien zwar auch deren soziale Integration befördert, aber als abgeschotteter insularer Bereich. Zudem kann eine relative Selbständigkeit des Musikdiskurses, eine Indifferenz gegenüber dem musikalischen Material festgestellt werden. Der Medienbegriff neuerer Medientheorien entspricht dieser durch die Musik vorgeprägten Transzendenz und Andersheit, die entweder eine medial hergestellte zweite Welt meinen kann oder eine künstliche Wiederherstellung archaischer und primitiver Zustände und Vermögen. Beiden Varianten des entweder metaphysischen oder archaischen Weltentzugs entspricht die Alterität des Mediums: „Es gibt Medien, weil es Alterität gibt. Alterität meint ein ‚Anderes‘, das sich dem Zugriff zunächst verweigert, das eines Dritten bedarf, um seine Vermittlung, seine Symbolisierung, Aufbewahrung, Übertragung oder Kommunizierung zu garantieren.“ (Mersch 2006, 9)

14 Esoterik und Exoterik Insofern ist zu unterscheiden zwischen einer esoterischen Musik, die im Material und der Musizierpraxis aufgeht, aber seit der atonalen Zwölftonmusik und dem Grundsatz der Abstraktion auch als unverständlich und insofern erläuterungs- und „kommentarbedürftig“ (Luhmann 1999, 476) gilt. Dies macht einen exoterischen Musikdiskurs notwendig, der sich als Literarisierung seit der absoluten Musik um 1800 durchsetzt und Verständnis- und Verständigungshilfen

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anbietet. Wenn Musik absolut dadurch wird, dass sie sich der Zeichenordnung einer Referenz auf Dinge und Realität widersetzt und stattdessen den selbstreferenten Subjektbezug musikalischer Zeichen profiliert, dann hat diese semiotische Ungegenständlichkeit eine hermeneutische Unverständlichkeit zur Folge. Stattdessen wird die subjektive Selbstreferenz des musikalischen Ausdrucks zum modernen Zeichenreferent der Musik; dieser wird erzeugt durch die Phantasie und erzeugt selbst das Imaginäre. Genau hierin finden die Bestimmungen der Musik und der Prosa zusammen, indem beide auf die Imagination und Projektion durch den Rezipienten verpflichtet werden (Pfeiffer 1999). Indem die musikalischen Prosaisten seit E.T.A. Hoffmann bis zu Thomas Mann auf die erzeugende Kraft der Imagination und Phantasie wie auf die rezeptive Kraft der Projektion setzen, findet eine Annäherung der „unsinnlichen Ähnlichkeit“ an die Musik statt, die sich den gegenstandslosen „tönend bewegten Formen“ (Eduard Hanslick) etwa im synästhetischen Zusammenspiel von Ton und Farbe (Wassily Kandinsky) verschrieben hat.

15 Musik – Anthropologie Musiktheorie in der hier skizzierten Weise hat trotz ihrer weitreichenden Einflussnahme eine schwierige disziplinäre Dignität. Diese ist prekär dadurch, dass die Gegenstandsbestimmung von Musik seit der Romantik um 1800 als alteritär und imaginär bestimmt wird. Sichert dies der Musik ihre soziale Stellung als halluzinierte zweite oder rückgeholte archaische Welt, so werden die theoretische Reputation und methodische Arbeit durch diese Bestimmung problematisch. Findet in Musiktheorie eine Affinität und Ähnlichkeit von Sache und Methode, von Gegenstand und Darstellung statt, die die Diskursform abspaltet von üblichen wissenschaftlichen Verfahrensweisen, die selbstverständlich die Trennung von Sachverhalt und Theorieform praktizieren, so etablieren sowohl der Diskurs wie dessen Gegenstand Musik Alterität als Differenzqualität. Diese doppelte Andersheit und Fremdheit haben sich parallel zur Emanzipation der absoluten Instrumentalmusik seit dem späten achtzehnten Jahrhundert die Theorieform der Anthropologie und später der Ethnologie zum Thema gemacht, so dass Musik und Anthropologie in eine enge Verschränkung geraten. Der prekären Stellung der Musik entspricht dabei die defizitäre disziplinäre und akademische Dignität der Anthropologie. Positiv gewendet könnte man sagen, dass dadurch Themen wie das Hören, der Klang oder die Körperlichkeit der Musik theoretisch behandelt werden, die aus dem Methodenraster normaler und anerkannter Wissenschaft herausfallen. Eine universitär etablierte kulturwissenschaftliche Theorie des Hörens oder des Tons und Klangs und auch die

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grundlegenden Aspekte der Körperlichkeit der Musik finden nur rudimentäre oder selektive Beachtung, obwohl die soziale Lebenswelt im Medium der Musik durch diese Phänomene etwa als Tanz, Rhythmus, Sound oder Stimme bestimmt wird. Die universitär erfolgreiche Diskursform der Phänomenologie, die den Körper als Leib und Ausdruck behandelt, marginalisiert akustische Phänomene im skizzierten Sinne weitgehend,4 während die musikalische Akustik das Hören in der graphischen Notation als Ergebnis physiologischer und neurologischer Messung als Bezeichnung resultieren lässt.

16 Ent- und Verkörperung der Musik Als Klang oder Sound wird Musik entkörpert, imaginär, abstrakt und alteritär, so dass Musik als Klang in einem zweiten Schritt der Verkörperung bedarf. Verkörperung findet statt zum einen in den Realisierungen des Klangs im Konzert oder der Inszenierung, aber auch den Medien der Reproduktion wie CD oder Schallplatte. Recht genau wird Musik in der Inszenierung verkörpert durch die Stimme oder die Geste des Dirigenten. Das „Prinzip des kombinierten Ausdrucks“, das Panofsky für das Verhältnis von Stumm- und Tonfilm geltend macht, belässt dem Ton oder dem Sound der Musik dabei die Eigenständigkeit, die der Film als moving picture ohnehin behält (Panofsky 1999, 28). Ganz ähnlich wird der isolierten Stimme im Radio die sichtbare Gestalt durch physiognomische Ausdruckswahrnehmung koexpressiv im Akt des Hörens durch den Radiohörer hinzugefügt (Meyer-Kalkus 2001). Entkörpert wird Musik als Klang in einem zweiten Schritt durch Entzifferung durch den Entzug der Zeichen, die Musik notieren oder überhaupt in Sprache umsetzen. Dies erklärt die Bemühungen um eine Semiotik der Musik bei Roland Barthes (Barthes 1990) oder Umberto Eco. Die verlorene Notation und Zeichenreferenz moderner Musik, hervorgerufen durch die Einschränkungen von Partitur und Notenschrift sowohl in der avantgardistischen Musik wie auch in der Jazz- und Rockmusik, wird von beiden im Akt semiotischer Reflexion um- und beschrieben. Schließt etwa der „Akt schöpferischer Improvisation“ (Eco 1977, 27) durch den Interpreten und das „Machen“ der Musik (Barthes/ Adorno) die Lücken, die der Komponist in seiner Partitur und Komposition lässt,

4 Vgl. Waldenfels 2000, dessen Aufwertung des Hörens anschreiben muss gegen seine Abwertung in der philosophischen Tradition, die unter den Diktaten des Rationalismus des Logos, der Moral, der Denotation und Kommunikation stattfindet oder beständige Referenzen vom Hören auf das Sehen vornimmt und es insoweit relativiert, so dass eine „Ästhesiologie, eine Theorie der Sinnlichkeit“ des Hörens (Waldenfels 2000, 388) wie schon bei Plessner Projekt bleibt.

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so bleibt als zweite Leerstelle die angemessene Versprachlichung dieser klanglichen Realisierung der Musik. Eco bestimmt sie als „epistemologische Metapher [. . .] als Umwandlung des Begriffs in Gestalt“ (Eco 1977, 46). Die maßgeblich durch die klangliche Realisierung der Musik freigesetzte „Gewalt der Musik“ wird etwa in den Rezensionen der Musikkritik versprachlicht und erhält so einen zweiten Modus der Realisierung des Klangs (Gess 2006).

17 Musikalische Prosa Nicht mehr das „Aufschreibesystem“ (Kittler) der Partitur und Notenschrift und deren mathematische Fundierung stellen das adäquate Zeichensystem moderner Musik bereit, sondern Formen musikalischer Prosa, zu denen auch die Essays der Musikkritik zu zählen sind, so dass maßgebliche Texte der Musiktheorie als Essay im Feuilleton verfasst wurden, so bei Hoffmann, Hanslick, Nietzsche und Adorno oder Barthes. Musikalische Prosa ist auch das angemessene Genre für die schriftliche Verkörperung des entkörperten Klangs, weil etwa die Individualisierung und Typisierung des Romans den Typisierungen der Musik entspricht, die die Musiktheorie und-soziologie bestimmt hat. Insofern ist Figuration ein wesentliches Mittel, um die Gestaltwerdung des Musikklangs zu literarisieren und damit zu versprachlichen. Aber auch die für die Inszenierung der Musik notwendige Individualisierung in Stars und Interpreten folgt diesem Strukturprinzip der Figuration. Eine Typologie von musikalischen Figuren ist demzufolge methodisches Darstellungsprinzip von Adornos Musiksoziologie oder der figuraltypologischen Opposition in den regressiven Strawinsky sowie den progressiven Schönberg in der Philosophie der neuen Musik. Der abstrakte und imaginäre Klang bedarf der Gestalt als Verkörperung und Personifikation und erhält diese in den Individualisierungen und Figurationen des Romans. Klang und Geste, die „Duplicität von Mimik und Musik“ (Friedrich Schleiermacher), treten so in ein semiotisches Verhältnis; dieses wird entdeckt und theoretisch virulent mit dem Aufkommen der absoluten Instrumentalmusik im späten achtzehnten Jahrhundert, die die parallel stattfindende Literarisierung der Musik semiotisch benötigt, welche in den letzten Jahren erforscht wurde. Die Behandlung von Verkörperungen des Klangs obliegt literarischen Prosaformen und populären Diskursformen wie der Anthropologie. Angesichts der ubiquitären Musikalisierung der Lebenswelt und Kultur kann auch von einer Weltfremdheit der wissenschaftlich anerkannten und universitär durchgesetzten Theoriemodelle gesprochen werden, die relevante Bereiche der Lebenswelt wie den Sound der Musik kaum behandeln. Umgekehrt sind die Beiträger zur Diskursform der Musikanthropologie universitär-akademisch ausgeschlossen geblieben wie Rousseau und Herder oder gescheitert wie

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Nietzsche oder haben nur eine zwiespältige Anerkennung erfahren wie Adorno und Plessner. Diese antimoderne oder modernekritische Attitüde der Diskursform resultiert aus den archaischen und regressiven Explorationen, die die Diskursform vornimmt.

18 Archaik und Moderne Weder ist die Popmusik ohne CD und Schallplatte denkbar noch die avantgardistische Musik ohne maßgebliche Beteiligung des Rundfunks; diese Medien sichern der Musik ihre moderne Erscheinungsweise in der Aufführung der musikalischen Performanz des Showing oder generell der „Reproduktion“ (vgl. Adorno 1997b, 422 und 426) Die Abhängigkeit der modernen Musik von Medien sowie der Performanz und Inszenierung verbindet sie mit dem Diskurs der Anthropologie, der etwa für Adornos Theorie der musikalischen Reproduktion als leitend nachweisbar ist. Denn sowohl die Verkörperung der Musik im Klang der Aufführung wie deren Entkörperung im Hören der Rezeption sind Gebiete der anthropologischen Erforschung der Sinne und des Körpers wie auch die zentralen Realisierungsformen der Musik in der Moderne. Musik reproduziert damit ursprüngliche Archaik etwa in der mimisch-gestischen Hervorbringung, weswegen sie zur Moderne in einem zwiespältigen Verhältnis steht. Die Moderne im Spiegel des Primitiven wird nach Erhard Schüttpelz maßgeblich durch die Differenz von archaischer Oralität und moderner Schriftlichkeit ausgetragen. Adorno bestimmt mit Benjamin diese Dialektik der Aufklärung als Archaik und Moderne, welche gerade in der kulturindustriell hervorgebrachten Musik als Dissonanz ausgetragen wird. Wenn ein Prinzip von Modernisierung Beschleunigung (Hartmut Rosa) ist, so gibt es maßgebliche Tendenzen in der Zeitkunst Musik, die diesen Trend durch die Entschleunigung in einer „Ästhetik der Langsamkeit“ (Luhmann 1999, 477) konterkarieren. Neben Sound und Dissonanz treten Verlangsamung und Stillstand bei John Cage sowie die serielle Reproduktion in der minimal music, die sich medientechnisch übersetzen lässt in die beherrschenden Prinzipien von Remastern und Reproduzieren. Die serielle Wiederholung bestimmt so die Aufführungspraxis der Interpretation der immergleichen Partituren. Derzeitige Musikkultur widerspricht der Progression als modernem Grundprinzip durch Regression und ist vielleicht wegen dieser kulturkritischen Grundhaltung so erfolgreich als Musikalisierung der Lebenswelt, ihrer Verlangsamung und Entschleunigung durch Reproduzierbarkeit. An die Stelle der avantgardistischen Innovation tritt mit dem Prinzip der Reproduzierbarkeit der gestiegene Wert von Aufführung und Inszenierung, die durch verschiedene Interpreten und Aufnahmen im Machen der Musik den Klang differenzieren, während die Noten der Partitur als Text gleichbleiben.

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Jean-Philippe Rameaus Hippolyte et Aricie: Musikdramatisches Arrangement und kollektive Verflechtung in der tragédie lyrique 1 Intermediale Aspekte von Musik und Oper: Methodisch-konzeptionelle Überlegungen Musik gehört zu jenen Kunstformen, die seit ihren Anfängen in Zusammenhängen und Verbindungen vorkommen, die man, vom Standpunkt heutiger Diskussionen aus betrachtet, als ‚intermedial‘ bezeichnen würde. Dort, wo Musik in kulturellen und sozialen Kontexten auftaucht, ist sie häufig Teil eines Verbunds von Medien, deren Wirkungen sich nicht in der Erzeugung von Klang erschöpfen (Föllmer und Gerlach 2007). Auf diese reichere, komplexere Erscheinungsweise von Musik, die über die akustische Dimension hinausgeht, verweist bereits die alte, seit der frühen Neuzeit geläufige Bedeutung der musica als einer Kunst des „Singens und Spielens“.1 Schon diese Auffassung legt es nahe, die Musik als ein Zusammenwirken von Singstimmen und Instrumentalklängen, unter Umständen begleitet von Tanz oder rituellen Vollzügen, vorzustellen. Hier ist neben dem Klang auch die choreographisch-performative Dimension und, damit verbunden, vor allem die visuelle Erscheinungsweise in Rechnung zu stellen. Bezieht man diesen Aspekt der Darbietung und Aufführung von Musik mit ein, also den „Kontext ihrer Entstehung und Wirkung“ (Föllmer und Gerlach 2007), dann bietet es sich an, Musik als eine mehrdimensionale Kunstform zu begreifen, die neben der akustischen Dimension immer schon andere Wahrnehmungsmodi mit einschließt und insofern als ein Phänomen anzusprechen ist, das gleichsam von Haus aus intermedial verfasst ist (Föllmer und Gerlach 2007). Diese intermediale Disposition der Musik führt zudem, zumindest implizit, eine Perspektive des Vergleichs der Künste mit: Indem sie musikalische Töne und Klangfiguren, visuelle Darbietung und tänzerische oder körperlich-szenische Bewegungen zueinander in Beziehung setzt und miteinander verknüpft, fordert sie gewissermaßen dazu auf, nach Ähnlichkeiten und Unterschieden der unter ihrer Regie verbundenen Künste des Darstellens, Tanzens und Schauspielens zu

1 Diese Formel findet sich bereits in der Scolica enchiriadis de Musica (Torkewitz 1999, 34–35). https://doi.org/10.1515/9783110630756-007

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fragen. Eine solche Comparatio ist mitunter in der musikalischen Komposition selbst angelegt, etwa dort, wo ein Instrument als Echo einer Vokalstimme fungiert (Braun 1995) und sich so eine Konstellation abzeichnet, die als Dialog oder Wettstreit von Sänger und Instrumentalensemble gestaltet werden kann. Doch auch dort, wo man nicht von einer expliziten vergleichenden Reflexion im Prozess der musikalischen Aufführung ausgehen kann, haben wir es mit einer Form der Relationierung, des In-Beziehung-Setzens unterschiedlicher Künste und Medien zu tun. Der vorliegende Beitrag möchte die genannte intermediale Disposition der Musik genauer erkunden und dabei vor allem den visuellen und performativen Elementen des musikalischen Wirkungszusammenhangs besondere Aufmerksamkeit widmen. Die skizzierten Zusammenhänge sollen näherhin am Beispiel eines Genres entwickelt werden, in dem das in Rede stehende Zusammenspiel von Klang und visueller Dimension eine besonders markante und konstitutive Ausprägung erfährt – dem Musikdrama bzw. der Oper. Als zusammengesetzte Kunstform, die aus der Verknüpfung von Sprache, Musik und theatralischer Bühnenhandlung hervorgeht, kann die Oper als intermediale Form par excellence gelten, in der das der Musik inhärente Potenzial, sich mit anderen Medien zu verbinden, auf eindrucksvolle Weise manifest wird. Gegenstand der folgenden Fallstudie ist, genauer gesagt, eine spezifische Spielart des musikdramatischen Genres, nämlich die tragédie lyrique, die insofern besonders interessant ist, als sie neben Sprache, Gesang, Instrumentalmusik und Schauspiel auch den Tanz als rhythmisch-mimetische Visualisierungsform zum Einsatz bringt und ihn zu einem konstitutiven Element der künstlerischen Komposition avancieren lässt. Noch in einer anderen Hinsicht bietet sich die musikdramatische Form im Rahmen der hier zugrunde gelegten medienbezogenen Perspektive als ein besonders fruchtbarer Gegenstand an: Eine medienanalytische Zugangsweise, wie sie das Rahmenkonzept des Bandes vorschlägt und die sich auch der vorliegende Beitrag zu eigen macht, erfordert es schließlich auch, in verstärktem Maße auf die Wirkungsmechanismen und operativen Verfahrensweisen aufmerksam zu sein, durch die sich die betreffenden Medien und künstlerischen Formen zur Geltung bringen. Diesem Interesse für die ästhetischen Effekte sowie die performativen und – unter Umständen – machtbezogenen Wirkungen des musikalischen oder musikliterarischen Werks, dem eine mediensensible Untersuchung verpflichtet ist, kommt die musiktheatralische Gattung besonders entgegen, da wir es mit einer Kunstform zu tun haben, die vornehmlich Handlungen und deren Wirkungen zur Darstellung bringt. In der musiktheatralischen Form geht die Verbindung unterschiedlicher Medien und Kunstformen darüber hinaus Hand in Hand mit einem anderen Modus der Verflechtung, der

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Verknüpfung der Bewegungen, Handlungen und Verhaltensweisen der Opernfiguren zu einem fiktiven Dramengefüge, das seinerseits eingebettet ist in die technische Infrastruktur der Bühne, die Kulissen, Apparate und Requisiten, die auf vielfältige Weise mit den Äußerungen und Aktionen der dramatischen Personen und der Musik zusammenwirken. Unter diesem Blickwinkel liegt es nahe, nach den Implikationen zu fragen, die das hier skizzierte Modell der intermedialen und dramatischen Verflechtung für die Vorstellung und den Begriff des Handelns mit sich führt und so die musikästhetische und medienanalytische Perspektive in Richtung eines kulturwissenschaftlichen Erkenntnishorizonts zu erweitern. Denn womöglich haben wir es bei der frühneuzeitlichen Oper oder genauer: der tragédie lyrique, die ja von Haus aus eine EnsembleKunst, das Produkt einer kollektiven ästhetischen Hervorbringung, ist, mit einer Kunstform zu tun, die unser herkömmliches Verständnis von Handlung in Frage stellt. Statt Handeln primär oder ausschließlich als etwas zu denken, das einzelne (menschliche) Subjekte intentional und bewusst tun, zeichnet sich hier, wie wir sehen werden, eine Auffassung ab, die die Momente des mehr oder minder kontingenten Ineinandergreifens und der kollektiven Verkettung betont. Der damit berührte Zusammenhang von musikalischer und musikdramatischer Intermedialität, theatralischer Aufführungsdimension und kollektiver Handlungsdisposition des barocken Musikdramas soll in der Folge am Beispiel von Jean-Philippe Rameaus Hippolyte et Aricie entfaltet werden, einem Werk, das, obgleich es auf den ersten Blick innerhalb der europäischen Operntradition als eine sehr spezielle, nahezu idiosynkratische Spielart erscheinen mag, sich bei näherem Hinsehen als ein Fall erweist, an dem die oben genannten Verbindungen besonders prägnant hervortreten. Schauen wir uns dieses Beispiel genauer an.

2 Hippolyte et Aricie – eine Fallstudie Jean-Philippe Rameaus Hippolyte et Aricie ist ein Werk besonderer Art, das einer lange Zeit weitgehend vergessenen musiktheatralischen Tradition angehört. Es schreibt sich jenem Genre der tragédie lyrique ein, die der Komponist JeanBaptiste Lully in der Periode der französischen Klassik in bewusster Abgrenzung von der im weiteren europäischen Kontext vorherrschenden italienischen Oper entwickelt und erfolgreich als maßgebliche Form des höfischen Musiktheaters etabliert hatte (Calella 2000, 17–25). Als eine ihrer Herkunft nach dem späten 17. Jahrhundert angehörende, jedoch bis ins 18. Jahrhundert fortwirkende Gattung, verknüpft die tragédie lyrique dramatische und musikalische Elemente mit solchen des ballet de cour und der Pastorale (Schneider 1998, 704). Die tragédie

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lyrique ist vor allem eine höfische Form, deren Aufführung sich als ein prunkvolles Schauspiel vollzieht, an dessen Entfaltung neben Musik und dramatischer Dichtung gleichfalls Ballett und Choreographie sowie die Effekte der barocken Maschinenbühne mitwirken. Als Rameau im Jahr 1733 mit Hippolyte et Aricie seine erste Oper, d.h. seine erste tragédie lyrique komponiert, hat er sich bereits als Komponist zahlreicher Instrumentalwerke und Verfasser musiktheoretischer Traktate einen Namen gemacht (Bouissou 2002, 1226). Gleichwohl bedeutete das Debüt auf der Theater- und Opernbühne für den Komponisten ein Wagnis, da er eine sehr viel elaboriertere und nuancenreichere musikalische Formensprache verwendete als die der Tradition und seine Komposition insofern bei allem Anschluss an die Konventionen der tragédie lyrique als Bruch mit der Tradition Lullys empfunden werden konnte (Schneider 1998, 710). Von daher verwundert es nicht, dass das Werk bei der Uraufführung zunächst für Irritationen sorgte. Während es von den avancierteren Richtungen der musikalischen Szene zum Teil als zu ‚barock‘ und antiquiert wahrgenommen wurde, kritisierten es die Lullisten als ein zu gelehrtes und zu ‚modernes‘ Werk, das die Einfachheit der überlieferten Formen entstelle (Schneider 1998, 710). Die sich hier abzeichnende Disjunktion der Einschätzungen im Entstehungskontext der Oper wirft die Frage auf, inwieweit die von den Verteidigern wie Gegnern Rameaus gleichermaßen ins Feld geführten Unterscheidungen von alt/ neu oder traditionell/ modern im Blick auf das in Rede stehende Werk überhaupt stichhaltig und aussagekräftig sind. Womöglich haben wir es, so die hier vorgeschlagene und in den folgenden Analysen zu erprobende Arbeitshypothese, bei Hippolyte und Aricie mit einem musikdramatischen Stück zu tun, das die genannten Unterscheidungen grundsätzlich unterläuft oder sich diesen Kategorien entzieht. In den hier vorzunehmenden Untersuchungen gilt es neben der Auseinandersetzung mit den musikalischen und theatergeschichtlichen Konventionen überdies auch der Frage des Verhältnisses von Hippolyte und Aricie zu seiner wohl prominentesten literarisch-dramatischen Vorlage, der Phèdre Racines, nachzugehen. Dabei sind zunächst jene Unterschiede in Rechnung zu stellen, die mit der Differenz der Gattungen (Oper und Drama) zu tun haben (Lautschläger 2005, 739–740). Hier ist insbesondere der im Vergleich zum Drama geringere Anteil der Sprache im Gesamtgefüge der Verfahren und Ausdrucksmittel der tragédie lyrique zu berücksichtigen. Da der Text der Figurenrede insgesamt weniger umfangreich ist als in Racines Tragödie, haben die Figuren weniger Spielraum, sich sprachlich zu artikulieren. Damit aber ist gerade dasjenige Moment zurückgenommen, das Roland Barthes als das Spezifikum der Racineschen Phèdre herausgearbeitet hat (Barthes 1963, 115), deren „nominalistischer“ Grundzug, d.h. die Eigenart, Dinge

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oder Sachverhalte im Akt der Benennung, vor allem des Geständnisses2 allererst hervorzubringen. Dafür tritt in Hippolyte und Aricie freilich die Musik als ein zusätzliches Medium der Artikulation hinzu, das sich nicht zuletzt als ein wirkungsvolles Mittel der Evokation der Affekte erweist (Lautenschläger 2005, 739–745). Was an Reichtum und Komplexität der Racineschen Sprache verloren geht, wird mit anderen Worten ein Stück weit durch die Differenziertheit und Vielfalt des musikalischen Ausdrucks, wie er für Rameaus kompositorischen Stil charakteristisch ist, aufgewogen (Verba 2013, 27–28, 34–38). Die Musik, so ließe sich sagen, erscheint als ein Leitmedium, das den Rhythmus des Geschehens vorgibt und die Empfindungen der dramatischen Personen modelliert. Auch wenn Rameaus Oper mithin im Vergleich zu Racines Phèdre in mancher Hinsicht als das rückwärtsgewandtere, da stärker in den Konventionen der barocken Bühne verankerte Stück erscheinen mag, wird schon hier deutlich, dass die Unterscheidung barock/ modern bzw. rückschrittlich/ avanciert zu kurz greift und die Besonderheiten dieser tragédie lyrique nicht zu erfassen vermag. Auch der Verzicht auf eine vertiefte psychologische Durchdringung der dramatischen Figuren (Sadler 1992, 726), der auf den ersten Blick als Mangel erscheinen mag, erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine ästhetische Formentscheidung, die nicht weniger ausdrucks- und wirkungsmächtig ist als die ihr vermeintlich überlegene Option für eine ‚realistische‘ Psychologisierung. Gerade jene Züge, die dem heutigen Betrachter auf den ersten Blick fremdartig und antiquiert erscheinen, gewinnen eine neue Bedeutsamkeit, wenn nicht sogar programmatische Valenz, wenn man sie von einem Blickpunkt jenseits der Alternative von vormodern versus modern in Augenschein nimmt. Diese durchaus zeitgemäße Relevanz der tragédie lyrique wird nicht zuletzt im Horizont neuerer kulturwissenschaftlicher Diskussionen manifest, die Zweifel anmelden an hergebrachten Vorstellungen der Moderne als Epoche der Neuerung und Emanzipation (Latour 1991, 21–23 und Descola 2011, 30–42). Um den theoretischen und kulturphilosophischen Stellenwert von Rameaus Oper ermessen zu können, gilt es freilich, sie in ihrem a-modernen, barocken Grundzug ernst zu nehmen und diesen nicht als einen (von heute aus gesehen) Anachronismus zu begreifen, den es zu entschuldigen gäbe, sondern ihn als eine Stärke des Stücks zu erkennen. Dieser barocke Einsatz des Musikdramas bekundet sich vor allem in einer (im Vergleich zur Tragödie Racines) stärkeren Präsenz und Mitwirkung von Göttern und übernatürlichen Wesen, die als handelnde Figuren und Co-Akteure der menschlichen Dramenpersonen auftreten und an entscheidenden Stellen in das

2 Zur zentralen Bedeutung des Geständnisses in Racines Phèdre vgl. auch Balke 2009, 355–364, sowie, in Hinblick auf die dramatische Intrige, Dandrey 1999.

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dramatische Geschehen eingreifen. Der Raum von Rameaus tragédie lyrique stellt somit keine autonome menschliche Handlungssphäre dar, vielmehr ist der Aktionsraum der Menschen in vielfältiger Weise verschränkt und verflochten mit demjenigen der Götter und anderer nicht-menschlicher Wesen. In dem Maße, in dem die Bühne der Barockoper der Intervention von Göttern und mythischen Figuren Raum gibt, eröffnet sie zugleich die Möglichkeit einer plötzlichen Wende des Geschehens, einer Verkehrung der Tragödie in ein glückliches Ende, wie es in der tragédie lyrique zumeist üblich ist. In Hippolyte und Aricie geht diese gegenüber der Racineschen Vorlage sich abzeichnende Zurücknahme des tragischen Moments Hand in Hand mit einer Aufwertung der Liebeshandlung zwischen Hippolyte und Aricie, die von ihrer ursprünglichen Position als Nebenhandlung (in der Phèdre) zur Haupthandlung avanciert.

3 Die Infrastruktur der Barockbühne und die Verflechtung von Liebesdiskurs und Politik Betrachtet man die Handlungs- und Äußerungsformen, die auf der Bühne der tragédie lyrique zutage treten, so fällt auf, dass diese nicht nur in Form sprachlicher Äußerungen und körperlicher Bewegungen und Aktionen begegnen, sondern nicht selten mit Operationen einer technischen Apparatur verflochten sind, den Elementen der barocken Bühnen-Maschinerie, die die tragédie lyrique auf kunstfertige Weise ins Werk setzt. Vor allem die Götter beschränken sich nicht darauf, ihren Willen durch Worte zu bekunden und durch Sprechakte tätig zu werden. Sie machen vielmehr von einer eigenen Technologie Gebrauch, indem sie die Vorrichtungen und Apparaturen der barocken Kulissenbühne zum Einsatz bringen. Diese trianguläre Verknüpfung von Menschen-, Götterund Maschinenwelt hat vor allem durch eine neuere, viel diskutierte Aufführung von Hippolyte et Aricie, die die Dirigentin Emmanuelle Haïm und der Regisseur Ivan Alexandre zunächst in Toulouse (2009), dann in der Opéra Garnier in Paris (2012) veranstaltet haben, erneute Aufmerksamkeit gefunden.3 Diese Inszenierung war nicht nur in der musikalischen Umsetzung und der theatralischen Interpretation im barocken Stil gehalten; sie eröffnete überdies einen Raum, der in seiner Anlage und architektonischen Gestaltung ganz dem Modell der barocken Maschinen- und Kulissen-Bühne nachgebildet war. Dieser Einsatz der historischen Aufführung- und Bühnentechnik brachte die eigentümliche Verflechtung der göttlichen und mythologischen Figuren mit der 3 Siehe http://operabaroque.fr/RAMEAU_HIPPOLYTE.htm (31.10.2015)

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Maschinerie der barocken Bühne eindrucksvoll zur Geltung, die sich bereits im Prolog von Hippolyte und Aricie beobachten lässt4: Anders als bei Lully ist letzterer hier nicht als Loblied auf den (französischen) König und dessen Herrschaft gestaltet; es ist vielmehr die Göttin Diana, der hier durch den Chor eine feierliche Huldigung gesungen wird. Zum Abschluss des Balletts der Nymphen und Jünglinge, die sich dem Dienst Dianas geweiht haben, steigt die Göttin selbst in einer Schaukel vom Dach der Bühne herab, um die Schar ihrer Anhänger zu begrüßen. Dianas Handlungsmacht scheint somit eng verknüpft mit dem Maschinenzauber der barocken Theaterbühne, durch deren technische Vorrichtungen und Operationen hindurch sie sich artikuliert. Das Konzept einer verteilten Handlungsmacht, das sich in der Anlage des Musikdramas und dessen bühnentechnischem Arrangement abzeichnet, gilt es in der Folge vor allem im Blick auf jene beiden kulturellen Sphären genauer zu erörtern, deren spannungsreiches Zusammenwirken für den Bedeutungs- und Aktionsraum der tragédie lyrique bestimmend ist – der Bereich der Politik und der Liebe und Intimität. In methodischer und konzeptioneller Hinsicht schließen unsere Analysen hier zunächst an Vorstellungen und Begriffe an, die die frühneuzeitliche politische Theorie entwickelt hat und die insbesondere bei Jean Bodin und Thomas Hobbes ihre klassischen Formulierungen gefunden haben. Darüber hinaus gilt es, in historischer und machtgeschichtlicher Perspektive, jenen Veränderungen und Verschiebungen im Verhältnis von öffentlich-rechtlicher Sphäre und dem Raum des Privaten und Intimen Rechnung zu tragen, die sich einschlägigen historischen und kulturwissenschaftlichen Studien zufolge (Koselleck 1973) in jener Periode des Übergangs zwischen etwa 1600 und 1800 vollziehen. Die hier vorgestellten Untersuchungen lassen sich, was diesen Punkt betrifft, in ihrem methodischen Zugang vor allem durch die Überlegungen Michel Foucaults leiten, die dem sexuellen Begehren und der erotischen Erfahrung eine spezifische, konstitutive Bedeutung für die Genese neuzeitlicher Subjektivität zuerkannt, aber in Eins damit den in der neuzeitlichmodernen Ausformung des Begehrens zutage tretenden ‚Willen zum Wissen‘ als einen prekären Punkt ausgewiesen haben, an dem sich das Subjekt zugleich dem Zugriff der Macht aussetzt (vgl. Foucault 1976). Den folgenden Untersuchungen geht es freilich weniger darum, die genannten, nunmehr wohl bekannten Thesen Foucaults nochmals aufzugreifen und am Beispiel von Rameaus Oper erneut zu veranschaulichen. Anliegen ist es vielmehr zu erkunden, welche medialen Verfahrensweisen und musikalischen Ausdrucksformen

4 Der Prolog von Hippolyte und Aricie wird nach der Faksimile-Ausgabe der Erstfassung von 1733 zitiert (Rameau 1733/1997).

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im Fortgang der tragédie lyrique zum Einsatz kommen und inwiefern sie in ihrem Zusammenspiel als ein Medium dienen, das es erlaubt, Begehren und Affekte der beteiligten dramatis personae zu artikulieren. Hier ist insbesondere die Musik als ein Medium des Ausdrucks, der Evokation und Modellierung des Gefühls bzw. der Affekte (Braun 1994) in Betracht zu ziehen. Die Aufmerksamkeit gilt näherhin der Frage, in welcher Weise die sprachliche Rhetorik der Liebe und das Repertoire sprachlicher Ausdrucksmodi mit den musikalischen und visuellen Darstellungsformen der Oper zusammenwirken und welche Formen der Steigerung und Intensivierung, aber möglicherweise auch der wechselseitigen Modifizierung und Brechung dieses Zusammenwirken unterschiedlicher Medien und ästhetischer Formen hervorbringt.

4 Der Prolog als allegorisches Vorspiel und Miniaturmodell der tragédie lyrique Schon der Prolog von Rameaus tragédie lyrique bietet für die hier skizzierte Herangehensweise, die musik- und medienästhetische mit kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten verbinden will, einen fruchtbaren Ansatzpunkt. Auffallend ist hier zunächst die oben erwähnte Überlagerung der politisch-rechtlichen Sphäre mit dem Bedeutungs- und Begriffsfeld der Liebe: Sowohl das Huldigungslied der Gefolgsleute als auch die Antwort der Göttin bedienen sich einer Sprache und Begrifflichkeit, die dem Diskurs politischer Herrschaft nachgebildet ist. Der Gesang des Chors evoziert die Vorstellung der Souveränität als (uneingeschränkter) Herrschaft über ein bestimmtes Territorium und dessen Bewohner, einer Macht, die sich vornehmlich im juridischen Modus der Gesetzgebung zur Geltung bringt5: Accourez: Habitans des Bois, Rendez hommage à votre Reine. Qu’il est doux de suivre les Lois De cette aimable Souveraine !

(Rameau 1733/1997, 55)

Es sind die Bewohner der Wälder, die ihrer Königin im Chorlied die pflichtgemäße Huldigung entgegenbringen. Umreißt die tragédie lyrique somit den

5 Damit sind jene Merkmale angesprochen, die sich in der politischen Theorie in Anschluss an Jean Bodins Six Livres de la République (1576) als konstitutive Elemente des politischen Souveränitätsbegriffs etablieren. (Vgl. Beaud 1994, 120–130.)

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Wirkungsbereich der Göttin im Wortfeld des Politischen, kündigt sich in deren Bezeichnung als „aimable Souveraine“ indessen ein Moment an, das aus dem Register der politischen Herrschaft als rechtsförmiger Macht herausfällt und auf ein anderes, auf das Gefühl, die Affekte bezogenes, nicht minder wirkungsmächtiges Prinzip verweist. Die Antwort Dianas an ihre Untertanen verbleibt unterdessen vorerst im Bereich der politisch-rechtlichen Rede, wenn sie den Frieden als Signum ihres Regimes und als Ausweis der guten Herrschaft hervorhebt: Sur ces bords fortunez, je fais regner la Paix. Qu’elle verse sur vous des douceurs éternelles.

(Rameau 1733/1997, 55)

In der Folge tritt dann jenes andere, bereits erwähnte Prinzip auf den Plan, indem es in Gestalt des Gottes Amor auf der Bühne Einzug hält. Der Zuhörer und Zuschauer wird nun Zeuge eines Rechtsstreits, der sich zwischen Diana und Amor entspinnt, da die Göttin gegenüber dem Eindringling ihr Territorium verteidigt und auf dessen Unberührbarkeit und Unverletzbarkeit insistiert: Enchaîne à ton grés l’Univers; Mais, respecte les lieux, où je tiens mon Empire.

(Rameau 1733/1997, 56)

Freilich deutet sich schon hier an, dass wir es beim Element des Liebesgottes mit einer Kraft zu tun haben, die sich kaum in das Register territorialer Begriffe und ihrer Grenzziehungen einfassen lässt, da sie in den Momenten des gefühlsmäßigen Innen und des erotischen Begehrens einen Bereich adressiert, der außerhalb der politisch-rechtlichen Sphäre und ihres Herrschaftsgebiets angesiedelt ist. Die Sensibilität des Herzens entzieht sich der Gesetzgebung des Souveräns: „Mais, peut-on s’empêcher d’avoir un cœur sensible,/ Quand on voit un Dieu si charmant?“ (Rameau 1733/1997, 56) lautet folgerichtig das Fazit, das der Chor der Nymphen und Schäfer ertönen lässt. Der Streit zwischen Diana und Amor, der sich unterdessen mit unverminderter Schärfe fortsetzt, wird gleichwohl im Medium des Rechts, in der Sprache des juridischen Diskurses ausgetragen. In ihrer Not appelliert Diana an die höchste Rechtsinstanz, den Göttervater Jupiter, der als ‚souveräner Schiedsrichter‘ angerufen wird: Arbitre souverain du Ciel & de la Terre, Dieu puissant, dont je tiens le jour, Pourras-tu souffrir que l’Amour Jusqu’aux lieux où je regne ose porter la guerre ?

(Rameau 1733/1997, 56)

Bemerkenswert ist hier, dass Diana in den „lieux où je regne“ nicht nur einmal mehr die raumhafte Dimension politischer Ordnung, das Territorium als basale

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Bezugsgröße von Herrschaft (Poirat 2003, 1474–1476), beschwört, sondern ihren Gegenspieler Amor zugleich als Anstifter und Vehikel des Kriegs anklagt. Das Treiben Amors ist somit Diana zufolge der Ratio guter Regierung entgegengesetzt, die, der Staatstheorie der frühen Neuzeit zufolge, vor allem der Stiftung und Bewahrung des Friedens gelten soll (Merindol 1996, 345–352). In Anbetracht der Stringenz des Plädoyers, das die Göttin führt, mag es erstaunen, dass Jupiter ihrem Anliegen nicht stattgibt, sondern letztlich zugunsten Amors entscheidet. Denn obgleich er, so Jupiter, bereit sei, ihre Rechte gegen jeden noch so mächtigen Angreifer zu verteidigen, sei er doch nicht imstande, sich den Beschlüssen des Schicksals zu widersetzen, die ihm in diesem Fall ein anderes Gesetz vorgäben: Mais, le Destin, sous qui tout tremble, Vient de nous préscrire ses Loix. Il ne veut pas que l’on conspire Contre le doux penchant des cœurs.

(Rameau 1733/1997, 57)

Das zitierte Fazit von Jupiters Rede, durch das dieser zugleich sein Urteil im skizzierten Streitfall verkündet, ist im Blick auf die hier interessierende Problematik des musikdramatischen Raums und Handlungskonzepts der tragédie lyrique in zweifacher Hinsicht aufschlussreich: zunächst einmal bestätigt die Lizenz, die Jupiter dem Liebesgott einräumt, die Beobachtung, dass der Raum, den die musikdramatische Fiktion der tragédie lyrique eröffnet, nicht mehr ausschließlich der öffentlich-rechtlichen Macht der Politik unterliegt. Vielmehr macht sich, verkörpert in der mythischen Gestalt des Liebesgottes, ein neues, außerjuridisches Machtprinzip geltend, das über das Begehren und das Gefühl seine Wirkung auf die Subjekte auszuüben beansprucht und sich anschickt, auf unmerkliche, verborgene Weise deren Gedanken, Wünsche und Handlungen zu steuern. In einer ersten, noch vorläufigen Annäherung ließe sich somit der Prolog und, wie noch zu zeigen sein wird, auch der Hauptteil des Stücks, auf der Schwelle jenes Übergangs ‚vom Recht zur Norm‘ situieren, den Michel Foucault in seinen Studien so nachdrücklich herausgearbeitet hat (Foucault 1999, 90–96). Es geht, anders gesagt, um den Wechsel von einer primär in rechtlichen Begriffen gedachten Ordnung zu einer Form der Regierung und Machtausübung, die den Körper und die Affekte der Subjekte in ihren Kompetenzbereich miteinschließt und dabei statt am Konzept des Gesetzes, an dem einer Norm des Verhaltens orientiert ist (Legrand 2007, 26–28). Auf eine solche Norm nimmt auch Jupiter in seiner Rede Bezug, wenn er den Spielraum, den er dem Liebesgott erteilt, durch den Rahmen der Hochzeit und Ehe zu mäßigen und einzugrenzen empfiehlt: „Le Destin [. . .] t’accorde [. . .] un jour,/ Mais, un jour que l’Hymen éclaire“ (Rameau 1733/1997, 57).

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Noch in einer anderen Hinsicht sind der Prolog des Stücks und vor allem die abschließende concessio Jupiters bemerkenswert: Die Macht, die der höchste Olympier gewissermaßen malgré lui dem Liebesgott einzuräumen sich genötigt sieht, weckt zugleich Zweifel an der Vorstellung einer überlegenen und autonomen Handlungsmacht, die man mit dem Herrscher des Olymps zu verbinden gewohnt ist. Doch nicht nur Jupiter erweist sich von einer fremden, äußeren Macht bestimmt, auch die menschlichen Subjekte, die sich eine in Analogie zur göttlichen Autonomie gedachte Handlungskompetenz zuzuschreiben pflegen, geben sich, in dem Maße, in dem Amor sie in seinen Bann zieht, als, zumindest zu einem Teil, heteronom gesteuerte Wesen zu erkennen.

5 Das Liebesmotiv und seine musikalische, dramatische und bühnentechnische Entfaltung Die Dimension des Gefühls, der Empfindungen und Affekte, die hier als eine eigene Form der Artikulation der Subjekte hervortritt6 und deren Implikationen Rameaus Oper zu erkunden sucht, erweist sich näherhin als ein Moment, das durch eine grundlegende Ambivalenz charakterisiert ist. Denn in dem Maße, in dem die Empfindung in die Sprache und die musikalische Äußerung eintritt, sich im discours artikuliert, erlaubt sie es den Figuren des Dramas zum einen, eine ‚Wahrheit‘ über sich selbst zu bekunden und sich aus dieser Selbstbeziehung heraus als Subjekte zu konstituieren (Foucault 2014, 13–17). Zum anderen aber geben sie auf diese Weise auch etwas von sich preis, exponieren ihr Innen vor äußeren Instanzen, die in Gestalt gesellschaftlicher Praktiken oder politisch-juridischer Verfahrensweisen auf jenes zugreifen (Foucault 2001). Die damit berührte Problematik wird in der tragédie lyrique nicht zuletzt in der eigentümlichen Doppelgesichtigkeit Amors greifbar, d.h. in Form der schon im Prolog aufgeworfenen Frage, ob der Liebesgott als Agent der Befreiung der von ihm affizierten Subjekte oder nurmehr als ein Vehikel ihrer Versklavung und Unterwerfung wirksam wird. Die liberté des cœurs, die sich in der Spontaneität des Gefühls und im Akt der Liebeswahl geltend zu machen sucht, wird dabei in doppelter Hinsicht von der Gefahr einer heteronomen Indienstnahme heimgesucht: Nicht nur setzt sich

6 Zwar verbindet sich mit dem Liebesaffekt in Hippolyte et Aricie noch nicht jenes Moment radikaler Subjektivierung und Individualisierung, wie es etwa für die Liebesbeziehung Marcels und Albertines in Prousts Recherche charakteristisch ist (vgl. Corbineau-Hoffmann 1998, 70–71), aber gleichwohl gewinnt das Gefühl eine Eigendimension, die es als eine spezifische Seinssphäre, einen eigenen Modus der Existenz, geltend macht.

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das Gefühl, das in den Raum des Diskurses eintritt, dem Einflussbereich fremder Mächte und damit deren Beobachtung und Kontrolle aus; sein liberativer Impetus ist auch durch das Subjekt selbst bedroht, wenn jenes rückhaltlos seinem Begehren folgt und sich von diesem beherrschen lässt. Dieses Spanungsfeld einander gegenläufiger Wirkungen und Potenzen, die sich mit der Figur Amors verbinden, entfaltet sich in Rameaus Stück in der Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher, gegensätzlicher Liebesformen: dem unstatthaften und zugleich maßlosen Begehren Phädras, die ihren Stiefsohn Hippolyte liebt, wird die ‚unschuldige‘ und in den Grenzen der vertu eingefasste (wechselseitige) Liebe von Aricie und Hippolyte entgegen gesetzt. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich vorwiegend auf die Liebesbeziehung der Hauptfiguren, um nachzuzeichnen, wie sich diese im Verlauf der tragédie lyrique artikuliert und konstituiert. Die Liebe wird hier, so ein Leitgedanke der zu entwickelnden Analysen, als ein Medium wirksam, das es den Figuren ermöglicht, einen eigenen Modus der Existenz7 zu entwerfen, der weder in der politisch-juridischen Ordnung vorgezeichnet ist, noch sich allein einem Rekurs auf ‚Natur‘, auf ein durch den Instinkt bestimmtes Leben, verdankt. Die Herausbildung der neuen Existenz vollzieht sich dabei, anders als man aus der Perspektive späterer literarischer und musikliterarischer Werke erwarten könnte, nicht oder nicht primär auf dem Wege einer Autonomisierung der Subjekte, d.h. in Bezug auf ein inneres Prinzip des Denkens, Wollens oder Fühlens, aus dem heraus es sich selbst zu bestimmen und zu entwerfen gelte. So sehr sich Hippolyte und Aricie auf die Kraft ihres Gefühls und die Reinheit ihres Herzens berufen, es ist nicht ihr Inneres allein, dem sie sich anvertrauen. Es sind vielmehr die Göttin Diana und, damit verbunden, ein ganzes Ensemble mythischer Wesen, die hier als Beschützer und Helfer der Liebenden angerufen werden. Die Gegenhandlung, die schließlich das Anliegen von Hippolyte und Aricie ins Werk setzt, geht aus dem Zusammenwirken einer Vielzahl unterschiedlicher Kräfte hervor; erst in der komplexen Verflechtung von menschlichen Akteuren, Göttern und technischen Apparaturen der barocken Bühne bildet sich jener Verbund verteilter Handlungspotenzen heraus, als deren Effekt die Verbindung der Hauptfiguren in der Schluss-Szene erscheint. Diese Verknüpfung der Hauptfiguren, ihrer Handlungen und Äußerungen mit einem Geflecht göttlicher und mythischer Wesen zeigt sich bereits zu

7 Mit dem hier vorgeschlagenen Begriff eines ‚Modus der Existenz‘ folge ich in den Grundzügen dem von Bruno Latour entwickelten Konzept des ‚mode d’existence‘. Latour versteht darunter, vereinfacht gesagt, eine spezifische, von anderen Perspektiven distinkte Artikulationsweise des Sozialen, die durch eine eigene Tonalität des Auffassens und der Annäherung an das Sein charakterisiert ist. Vgl. Latour 2014, 22–23, 27–29.

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Beginn des ersten Akts, der mit einer Szene am Tempel der Göttin Diana einsetzt.8 Aricie, Schwester der Pallantiden, die sich einst gegen die Herrschaft von König Theseus aufgelehnt hatten, soll auf dessen Geheiß als Priesterin in den Tempel Dianas aufgenommen werden und ein Gelübde der Keuschheit ablegen. In ihrer die Szene eröffnenden Arie begrüßt Aricie die ihr verordnete priesterliche Existenz zunächst als ein willkommenes Refugium, das ihr Ruhe und Schutz vor den Anfechtungen eines „cœur agité“ (Rameau 1757, 5), eines erregten und unruhigen Herzens, bietet. Als ein heiliger, abgesonderter Ort, der vom Bereich der profanen Dinge getrennt und dem gewöhnlichen Gebrauch entzogen ist, ist der Tempel, so Aricie, geeignet, ihr Asyl zu bieten. Die Schutzfunktion des Asyls (Balke 2013, 81–92), die hier evoziert wird, gilt dabei freilich weniger der Abschirmung gegen ein feindliches Außen, gegen die Gefahr politischer Verfolgung; sie wird vielmehr als Heilmittel gegen einen inneren Impuls, als Schutz vor einer, wie es heißt, unglücklichen Liebe, in Anspruch genommen: „daigne servir d’asile/ contre un amour trop malheureux“ (Rameau 1757, 5). Die Bereitschaft, die ihr verordnete klösterliche Lebensform anzunehmen, die Aricie in ihrer Arie bekräftigt, birgt also von vornherein ein ihr gegenläufiges Moment in sich, steht sie doch in einem gewissen Spannungsverhältnis zu jenem Liebesgeständnis, das die Protagonistin, wenn auch zunächst nur in einsamen Selbstgespräch, vorbringt. Die Vorstellung des Geliebten wird dabei nicht zufällig in Form des Bildes, als visuelle Figur, evoziert, deren Eindruck auf Aricie gewissermaßen gegen deren Willen weiterhin fortwirkt: „Et toi, dont malgré moi je rappelle l’image“ (Rameau 1757, 5). Den sich hier auftuenden Widerspruch zwischen ihrer Liebe und dem ihr bevorstehenden Eintritt in den Diana-Tempel vermag Aricie erst noch aufzulösen, indem sie das Objekt ihres Begehrens, Hippolyte, und die Göttin, deren Dienst sie sich weihen soll, aufeinander bezieht bzw. miteinander verschmelzen lässt: „si mes vœux ne te sont pas offerts, du moins, j’en apporte l’hommage à la déesse que tu sers“ (Rameau 1757, 5). Der Umstand, dass auch Hippolyte ein besonderes Verhältnis zur Göttin Diana unterhält, bringt eine Operation der Verschiebung hervor, die es Aricie erlaubt, die Huldigung und das Treuegelöbnis, die sie der Göttin darbringt, zugleich als Zeichen ihrer Anerkennung für Hippolyte und die verborgene Gemeinsamkeit mit jenem aufzufassen. Die Figur der Sublimierung der Liebe wird indessen in dem Moment durchkreuzt, in dem Hippolyte die Bühne betritt und das Verfahren der Initiation Aricies, das er dort beginnen sieht, in Frage stellt. Der Eingriff Hippolytes in das Aufnahmegeschehen

8 Für den Hauptteil der tragédie folge ich, in Anschluss an eine neuere Aufführungstradition, dem Libretto in der Fassung von 1757: Rameau 1757.

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vollzieht sich freilich nicht auf dem Wege einer öffentlichen oder politischen Intervention, sondern durch einen Akt des Geständnisses, in dem er seinerseits (wenngleich zunächst ohne es zu wollen) Aricie seine Liebe zu ihr offenbart. Es ist die Dynamik des Dialogs oder Wechselgesangs, die Hippolyte dieses Bekenntnis schrittweise entlockt. Wenn dieser auf Aricies Auskunft, sie sei bereit, ihr Leben dem Dienst Dianas zu widmen, antwortet: „vous les immolez, ces jours si précieux“ (Rameau 1757, 6), tritt er bereits ein Stück weit aus der Rolle des politischen Akteurs heraus, die seine Stellung als Königssohn und künftiger Herrscher erwarten lässt. In der Folge steigert sich dieser Ausdruck des Bedauerns zur offenen Parteinahme für Aricie: Hippolyte wehrt nämlich die Vorstellung der Feindschaft, die er, wie Aricie in Erinnerung ruft, ihr als Angehörige der Pallantiden gegenüber hegen müsste, ab, indem er ein Gefühl bekennt, das sich kaum auf die Dimension des Mitleids, der „pitié“, die er als Motiv anführt, eingrenzen zu lassen scheint: „je sens pour vous une pitié/ Aussi tendre que l’amour même“ (Rameau 1757, 5). Das unwillkürliche Bekenntnis, das Hippolyte äußert, bewirkt zugleich einen Umschwung der Position Aricies, die nun ihre Bereitschaft, in den Orden der Priesterinnen einzutreten, durchkreuzt sieht: C’en est fait; pour jamais mon repos est perdu. Dans ce temple fatal quel sort sera le mien? Hippolyte amoureux m’occuperait sans cesse.

(Rameau 1757, 5)

Vor der Folie des Wissens um die Liebe Hippolytes verkehrt sich der Dianatempel, der kurz zuvor noch als idyllischer Ort der Ruhe und des Friedens evoziert wurde, in Aricies Sicht in einen „temple fatal“, in dem ihr jede Möglichkeit einer positiven Existenz entzogen scheint. So ist es denn auch Aricie, die in der folgenden Szene, in der Phèdre hinzutritt, um den Vollzug des Aufnahmerituals und damit die Ausführung des königlichen Befehls zu überwachen, die entscheidende Umkehrung des Geschehens einleitet. Phèdres Aufforderung, „Princesse, ce grand jour, par des nœuds éternels,/ va vous unir aux Immortels“, hält Aricie den Einwand „comment puisje en ces lieux/ Offrir un cœur que l’on opprime“ und damit eine Form des Wahrsprechens entgegen, die in ihrer raison d’être von der des rechtlichen und politischen Diskurses gänzlich verschieden ist, ohne sich indessen auf die Logik der religiösen Rede und ihres Keuschheitsideals reduzieren zu lassen. Im Rekurs auf die Instanz der Empfindung und des Herzens versucht Aricie eine Existenzweise zur Geltung zu bringen, die sich von den vorhandenen, anerkannten Rationalitäten unterscheidet und deren Wahrheit es erst zu finden und zu begründen gilt. Dabei ist es interessant zu sehen, dass Aricie und der ihr geistesverwandte Hippolyte jenem anderen mode d’existence nicht allein aus eigener

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Kraft, nicht bloß im Rekurs auf ihr Innen, zu seinem Recht verhelfen. Es ist vielmehr erst die Allianz mit der Göttin Diana und den ihr verbundenen außermenschlichen Mächten und Kräften, die es den Liebenden ermöglicht, ihr Anliegen manifest werden zu lassen und ihm Geltung zu verschaffen. So ist es kein Zufall, dass Hippolyte die Göttin als Beschützerin der Liebe apostrophiert und sie um Hilfe anruft („O Diane! Protège une flamme si belle“, (Rameau 1757, 5)) – eine Invokation, die gegen Ende der Szene, in der Intervention Dianas die ihr angemessene Antwort findet. Diana, die in das Geschehen eingreift, um den Angriff von Phèdres Truppen auf ihr Heiligtum abzuwehren, operiert dabei buchstäblich als dea ex machina, als Figur, die den Zauber der barocken Bühnenmaschinerie mit ihren vielfältigen Verknüpfungen von technischen Apparaten, dinghaften Requisiten und Akteuren ins Werk setzt. Erst aus der kollektiven Verkettung all dieser Elemente geht jene Wirkungsmacht hervor, die es erlaubt, die „liberté des cœurs“ (Rameau 1757, 6), das heißt den Modus der Empfindung, gegen seine Negation oder heteronome Indienstnahme zu verteidigen. Die Allianz, ja Komplizenschaft, die die Hauptfiguren mit Diana und dem von ihr geführten Arsenal von mythischen Wesen und technischen Hilfsmitteln eingehen, bekundet sich noch deutlicher in einer späteren Szene, in der Aricie und Hippolyte ihre Liebesbeziehung nunmehr explizit in einem gemeinsamen Sprechakt bekunden. Gemeint ist die Eingangsszene des vierten Akts, in der Hippolyte, von seinem Vater in die Verbannung geschickt, auf seinem Weg ins Exil von Aricie eingeholt und nach dem Grund seiner plötzlichen Abreise gefragt wird. An der Begegnung der beiden Hauptfiguren und ihrem sich anschließenden Duett ist bemerkenswert, dass hier nicht nur ein Gefühl artikuliert wird, indem sich die Liebenden wechselseitig ihre Liebe zueinander gestehen, sondern sich diese Empfindung zudem in einem eigenen Sprechakt manifestiert und von Hippolyte und Aricie zum Bestimmungsgrund und Modus ihrer Existenz erklärt wird. Musikalisch untermauert wird die Bedeutung dieser Stelle durch die subtile Ensemble-Technik, durch die der Komponist die Stimmen der beiden Figuren zusammenführt und die in einer von beiden gemeinsam (teils zeitlich versetzt, teils unisono) gesungenen Arie kulminiert. Im Hinblick auf die sprachlich-diskursive Artikulation entscheidend ist der Sprechakt des Schwurs, der Austausch der vœux, den die Liebenden in dieser Äußerung vollziehen. Der Schwur ist eine Form des Wahrsprechens, durch die sich das sprechende Subjekt an das Ausgesagte bindet (Agamben 2008, 78–79), sei es, dass es die Wahrheit einer Äußerung bekräftigt (assertorische Spielart des Eids), sei es, dass es sich verpflichtet, eine (zukünftige) Handlung oder Verhaltensweise auszuführen (kommissive Spielart des Eids). Als einer Äußerungsform, die der Sphäre des Rechts angehört, kommt dem Schwur überdies ein besonderes Potenzial

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der Konstitution von Gemeinschaft und der Stiftung neuer rechtlicher und sozialer Verhältnisse zu (Prodi 1997, 18–19). Schauen wir uns die betreffende Szene in Rameaus Oper genauer an: nachdem die beiden Liebenden zunächst ihre bevorstehende Trennung, die unausweichlich scheint, beklagt haben, folgt unvermittelt ein Angebot Hippolytes an Aricie, dass sie ihn ins Exil begleiten möge: „Hé bien daignez me suivre“ (Rameau 1757, 10), wobei er dieser Aufforderung eine Erläuterung hinzufügt, durch die er die eingangs von Jupiter evozierte Einheit von Amor und Hymen aufnimmt und bekräftigt: „En suivant votre amant, vous suivez votre époux“ (Rameau 1757, 10). Doch Aricie zögert, dieses Angebot anzunehmen – ein Zögern, für das sie ihrerseits eine Erklärung abzugeben versucht: „Ah, Prince, croyez-en l’amour que j’en atteste./ [. . .] Mais Diane est inexorable/ Pour l’amour et pour les amans“ (Rameau 1757, 11). Es ist die (unterstellte) Unerbittlichkeit Dianas, deren Insistenz auf dem Keuschheitsgebot, die Aricie zufolge der Verbindung der Liebenden im Wege steht. Hippolyte antwortet auf diesen Einwand, indem er der Vorstellung der negativen, angeblich von Diana verurteilten Liebe eine positive Zweitfassung, die eines unschuldigen und tugendhaften Begehrens, entgegen hält. Durch diesen Kunstgriff kann er nicht nur die Annahme entkräften, dass Diana dem Liebesbegehren grundsätzlich feindlich gesonnen sei; ihm gelingt es zugleich, die Göttin zur Gehilfin der Liebenden zu erklären: „Aux d’innocens désirs Diane est favorable/ Qu’elle préside à nos sermens“ (Rameau 1757, 11). Diana wird, indem sie dem Vollzug des Eids vorstehen („présider“), ihn leiten soll, zunächst in der juridischen Funktion des Zeugen in Anspruch genommen; sie soll die Richtigkeit und Glaubwürdigkeit des Schwurs bezeugen und attestieren. Die Rolle, die der Göttin zugeschrieben wird, reicht indessen noch weiter. Sie fungiert nämlich nicht nur als Zuschauerin und Zeugin, sondern wird überdies angerufen, an dem Bündnis, das die Liebenden schließen wollen, mitzuwirken: „Viens, Reine des Forêts, viens former notre chaîne“ (Rameau 1757, 11). Diana kommt hier also die Rolle einer konstitutiven Instanz zu, die die Verbindung der Liebenden stiftet und somit zugleich als Agens und Garantin des Gelöbnisses firmiert. Ja mehr noch: durch ihre aktive Teilnahme und Mitwirkung an der Konstitution der Liebes- und Eheverbindung wird Diana selbst zur Verbündeten der Liebenden. Es ist also nicht nur die Zweierbeziehung zwischen Hippolyte und Aricie, die sich in der Äußerung des Schwurs formiert, sondern darüber hinaus eine trianguläre Verknüpfung, eine Allianz zwischen den Liebenden und der Göttin, die sich durch den gleichen Sprechakt ins Werk setzt. Im Zusammenhang mit der Figur des Schwurs verdient noch ein sprachlicher Ausdruck nähere Aufmerksamkeit, der sich an einer prominenten Stelle in der zitierten Szene findet. Es geht um jene Stelle, an der die Liebenden sich anschicken, gemeinsam den Akt des Schwurs zu vollziehen: „Nous allons nous jurer une immortelle foi“ (Rameau 1757, 11). In der zitierten Formulierung ist

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bezeichnenderweise nicht von Liebe („amour“), sondern von „foi“ die Rede. Der Ausdruck „foi“ verweist auf den lateinischen Begriff der „fides“ („Treue“, „Vertrauen“) und damit auf jenes rechtlich-kulturelle ‚Institut‘, das dem Sprechakt des Schwörens zu Grunde liegt und ihm allererst Wirkungskraft und Geltung verleiht (Agamben 2008, 6–8). In Rameaus Oper bildet die fides die Grundlage der Beziehung Hippolytes und Aricies und wird so zugleich zur Bedingung der Möglichkeit der Stiftung einer neuen sozialen Ordnung, die im Happy End der tragédie lyrique anklingt, wenn Diana den wieder vereinten Hauptfiguren die Herrschaft über ihr Volk anvertraut.

6 Opernhelden und Maschinengötter: Bühnentechnik und kosmischer Horizont der tragédie lyrique Abschließend ist noch einmal auf das Moment der kollektiven Verkettung, der Verflechtung der Äußerungen und Handlungen der dramatis personae mit den Aktionen von Göttern und mythischen Wesen sowie mit den Apparaturen und technischen Operationen der Theaterbühne zurückzukommen. Als entscheidende Figur in der Konstellation verteilter Handlungsmacht, die den glücklichen Ausgang der tragédie lyrique hervorbringt, ist neben Diana nicht zuletzt der Meeresgott Neptun hervorzuheben. Auch Neptun greift an entscheidender Stelle in die Opernhandlung ein, wenn er, auf Bitten von König Thésée, die ‚Bestrafung‘ von dessen Sohn Hippolyte durchführt. Letztere wird freilich – anders als in Racines Tragödie – nicht durch eine Tötung Hippolytes vollzogen; das Seeungeheuer, das Neptun zu diesem Zweck zum Einsatz bringt, tötet den Opernhelden nicht, sondern dient lediglich als Vehikel, das ihn aus der Welt der Menschen entführt, um ihn in eine andere Sphäre zu versetzen. Diese Funktion des Ungeheuers als Transportmittel hat die bereits erwähnte Pariser Aufführung von Emmanuelle Haïm und Ivan Alexandre eindrucksvoll inszeniert: in der genannten Szene taucht der Kopf des Monsters und dessen weit geöffnetes Maul plötzlich aus dem Hintergrund der Bühne auf; Neptun tritt aus dem Maul des Ungeheuers hervor und reicht dem herbeieilenden Hippolyte die Hand, um diesem beim Einstieg in das ungewohnte Gefährt zu helfen (Rameau 2013, 215:20 – 215: 38 Min). An dieser unblutigen und, im Vergleich zu Racines Phèdre, versöhnlicheren Wendung der Dinge darf schließlich auch der bei Rameau positiver gezeichnete Thésée ein Stück weit partizipieren: Neptun offenbart ihm, dass Hippolyte lebt, wenngleich Thésée ihn nicht wieder sehen darf (Akt 5, Szene 1).

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Bemerkenswert an den skizzierten Vorgängen ist unterdessen weniger der glückliche Ausgang als solcher, sondern das ihm zu Grunde liegende, gegenüber der Racineschen Tragödie veränderte Handlungskonzept, das die Verflechtungen von menschlicher und nicht-menschlicher Sphäre sowie die Dynamik miteinander vernetzter, kollektiver Handlungspotenzen betont. In Rameaus musikdramatischer Adaption sind die Aktionen und Geschicke der menschlichen Subjekte eingefasst in ein mythisches Universum weiterreichender Kräfte und Instanzen, in einen Kosmos, in dem Kultur und Natur, menschliche und außermenschliche Dinge und Wesen nicht wie durch eine Kluft voneinander getrennt, sondern auf vielfältige Weise ineinander verschränkt und miteinander verflochten sind. Solche Zusammenhänge und Verflechtungen sichtbar und hörbar zu machen ist die besondere Leistung einer Opernform, der es, wie Rameaus tragédie lyrique, nicht zuletzt darum zu tun ist, das Ensemble – im musikalischen wie im theatralischen Sinne – und damit eine kollektive Figur des Singens und Spielens zur Geltung zu bringen. Dabei sind es schließlich auch die Konventionen der barocken Bühne, die diesen Eindruck heterogener Verflechtungen der menschlichen Akteure verstärken bzw. allererst hervorbringen. Die barocke Oper steht bekanntlich in einer Theatertradition, die nicht darauf abzielt, die Illusion von Realität zu erzeugen, sondern vielmehr die dramatische Fiktion als solche offen legt. Indem sie Einblicke hinter die Kulissen, in die Werkstatt des Maschinisten gewährt, lässt sie die Faktur, das Gemachtsein des Schauspiels sichtbar werden. Rameaus tragédie stellt also zusammengefasst eine musikalische Dramenform dar, die das barocke theatrum mundi gleichermaßen in seiner kosmischen wie in seiner technischen Dimension erkundet und dabei die menschlichen Akteure ebenso in die Kette der Wesen wie in das Geflecht der Apparate und technischen Vorrichtungen einrücken lässt. Darin liegt ihr ästhetischer Reiz, aber zugleich ein konzeptionelles Potenzial, das ihr im Lichte neuerer kulturwissenschaftlicher Debatten Aktualität verleiht.

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Edgar Pankow

Opernphantasien: E.T.A. Hoffmann, Dichter und Komponist Dichter und Komponist: E.T.A. Hoffmann ist in seiner wechselhaften Karriere beides gewesen, dazu noch Dekorationsmaler, Zeichner und Karikaturist und gewiss nicht zuletzt, über viele lange Jahre hinweg, ein im Amte tätiger Jurist. Hoffmanns dauerhafter Ruhm, seine stürmische europaweite Wirkung gründet aber nicht auf diesem Kompositum der Tätigkeiten, sondern auf seinen Erzählungen, auf den Fantasie- und Nachtstücken, den Geschichten um den wahnwitzigen Kapellmeister Johannes Kreisler, dem Schauerroman von den Elixieren des Teufels und – natürlich – auf dem Sandmann, dem romantischen Klassiker des Unheimlichen. Man weiß, dass diese Entwicklung nicht Hoffmanns eigenen Wünschen entsprach. Hoffmann wollte zunächst und vor allem Komponist und dann vielleicht auch noch Dichter sein. Tatsächlich schuf er neben einem umfangreichen literarischen Werk 8 Opern und Singspiele, dazu 23 Bühnen- oder Ballettmusiken, mehrere Messen, eine Symphonie und zahlreiche kleinere Vokal- und Instrumentalstücke.1 Noch im Jahr 1813 wird er im Zusammenhang der Publikation der Fantasiestücke in Callot’s Manier an seinen Verleger Kunz schreiben: Ich mag mich nicht nennen, indem mein Name nicht anders als durch eine gelungene musikalische Komposition der Welt bekannt werden soll; später wird man’s doch erfahren, wer dies und das, verlegt bei Herrn C.F.K., geschrieben hat. (Hoffmann 1813c, SW 1, 293)

Das sind Worte einer bemerkenswerten Ambition und Selbsteinschätzung, standen doch zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes, dem 20. Juli 1813 – Hoffmann war bereits 37 Jahre alt –, mit den Fantasiestücken (1814/15) eine beachtliche Reihe literarischer Schwergewichte zur (Wieder-) Veröffentlichung an: unter anderem die Erzählungen Ritter Gluck (1809), Der goldene Topf (1814), Don Juan (1813), Die Abenteuer der Sylvester-Nacht (1815) und zudem die ästhetisch-musikalischen Meditationen des Kapellmeisters Johannes Kreisler, die Kreisleriana (1810–1814). Tatsächlich erschienen die Fantasiestücke ohne Angabe des Autorennamens. Es war offensichtlich genug: Der Autor der Fantasiestücke mochte sich nicht

1 Für die folgenden Überlegungen konnte ich von grundlegenden Vorarbeiten profitieren. Als besonders instruktiv erwiesen sich die Studien von Allroggen (1970), Miller (1977) und Dahlhaus (1983). https://doi.org/10.1515/9783110630756-008

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nennen, jedenfalls nicht als Schriftsteller. Als Erzähler der Fantasiestücke ließ Hoffmann einen anonymen Tagebuchschreiber figurieren (Abb. 1 und 2). Hoffmanns Hang zur Verschleierung seiner literarischen Autorschaft blieb nicht auf die Fantasiestücke beschränkt. Auch die beiden in den Jahren 1816 und 1817 publizierten Bände der Nachtstücke nennen keinen Autorennamen; sie präsentierten sich als „herausgegeben von dem Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier“ (Hoffmann 1816, 1817, SW 3, 9 und 161). Gleichwohl machten die Fantasiestücke den Schriftsteller einem größeren Publikum bekannt; die Vorrede von Jean Paul nannte Hoffmann explizit als Verfasser. Die Sammlung von Erzählungen, Essays und ästhetischen Spekulationen ist das einzige Buch, das zu Lebzeiten Hoffmanns in einer zweiten Auflage erschien. Doch Hoffmann richtete sein Interesse weiterhin vorzüglich auf die Musik. Die romantische Zauberoper Undine aus dem Jahr 1816, für die Friedrich de la Motte Fouqué mit seinem Märchen der Berliner Romantik die literarische Vorlage (Fouqué 2008 [1811]) und das Textbuch lieferte, galt ihm selbst, bis zu seinem Tode im Jahr 1822, als der Höhepunkt seines Schaffens. Nicht als Dichter und Komponist, sondern in erster Linie als Komponist wollte Hoffmann in den Künsten tätig sein. Nun war diese Karriereplanung für den Studenten und angehenden Referendar der Rechte ohnehin schwierig genug. Für den Künstler Hoffmann stellten sich über die beruflichen Komplikationen hinaus konzeptionelle und ästhetische Fragen, die das Verhältnis von Wort und Musik, von Dichtung und Komposition in prinzipieller Weise betrafen. Zumal im Singspiel und in der Oper ist das Verhältnis von Text und Ton virulent und muss immer wieder neu verhandelt und justiert werden. Hoffmann war sich dieser Problematik überaus bewusst, und er versuchte sie unter verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen Formaten in den Blick zu nehmen – als Librettist, als Erzähler, als Essayist und nicht zuletzt als Tonsetzer. Man wird sagen dürfen, dass das spannungsreiche Verhältnis, der Konflikt geradezu von Wort und Ton wie ein roter Faden durch die Biographie, die ästhetischen Anschauungen und die künstlerische Praxis des E.T.A. Hoffmann lief. Hoffmann hat sich an dem Verhältnis von Text und Musik, das ihm zuweilen wie ein Widerspruch erschien, in immer neuen Anläufen abgearbeitet; auflösen und zur Befriedigung bringen konnte er es hingegen nicht. Im Zentrum der musikalischen Bemühungen Hoffmanns stand die Oper, und zwar insbesondere die romantische Oper mit ihren Einschlag des Wunderbaren, des Märchens und der Zauberwesen. Die Sinfonie in Es-Dur aus dem Jahr 1805 sollte ein Solitär bleiben. Bereits ein Blick auf die Geschichte der künstlerischen Werkstatt zeigt Hoffmanns frühe Disposition für die Form der Oper und des Singspiels. Die Maske ist die erste Opernkomposition Hoffmanns. Das Libretto beendete er im März 1799, mit 23 Jahren, gleichsam zwischen der

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Abb. 1 und 2: Titelseiten der Erstausgabe der Fantasiestücke in Callot’s Manier aus dem Jahr 1814, Bd. 1.1 und Bd. 1.2. Staatsbibliothek Bamberg.

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Abb. 1 und 2 (fortgesetzt)

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ersten und zweiten juristischen Staatsprüfung. Hoffmann wünschte eine Aufführung des Werks am Berliner Nationaltheater. Doch dessen Direktor, August Wilhelm Iffland, lehnte das Ansinnen des jungen Künstlers ohne Einsicht in die Partitur ab. Die Maske ist die einzige fertiggestellte Oper, für die Hoffmann das Libretto und die Musik geschaffen hat, für die er also zugleich als Dichter und als Komponist tätig war. In der Praxis seiner Opern- und Singspielwerkstatt war E.T.A. Hoffmann in der Regel Dichter oder Komponist, selten jedoch in Personalunion beides zusammen. Wohl mag es Pläne gegeben haben, aus eigenen Libretti größere musikalische Bühnenwerke zu entwickeln. Doch gerieten die konkreten Versuche, eben mit Ausnahme Der Maske, oft in einer frühen Phase der Textproduktion ins Stocken. Unvollendet blieben die Libretti für die projektierten Singspiele Der Renegat und Faustina, ebenfalls unvollendet blieben Text und Komposition des einaktigen Prologs Wiedersehen!; vom einaktigen Prolog Die Pilgerin ist die Vertonung verschollen; unvollendet blieb auch die Komposition des Melodramas Sabinus, dessen Libretto Hoffmann nach dem Text des Schauspiels von Julius von Soden verfasste. An all dem wird schnell klar: Eine geglückte Kohabitation von Dichter und Komponist sieht anders aus. Das schwierige Verhältnis von Schriftsteller und Tonsetzer kommt indes nicht von ungefähr und ist im Falle Hoffmanns nicht allein auf lebensweltliche Zufälle oder auf unvereinbare biographische Beanspruchungen zurückzuführen. Hoffmanns essayistische und theoretische Schriften zur Musik bezeugen vielfach die Unstimmigkeiten des Verhältnisses von Dichter und Komponist, – und es kann kein Zweifel an Hoffmanns Neigung bestehen, den Konflikt zugunsten des Komponisten, das heißt zugunsten der Musik entscheiden zu wollen. Der Konflikt von Wort und Ton wird in eine Hierarchie umgewandelt. Bereits 1786 hatte Mozarts Zeitgenosse Antonio Salieri für die sprachskeptische Bevorzugung der Musik die griffige Formel geprägt: Prima la musica, poi le parole [Erst die Musik, dann die Worte].2 Salieris Maxime war auf das Verhältnis von Wort und Ton in der Oper gemünzt, doch enthielt sie im Keim bereits eine Wertschätzung der Instrumentalmusik, die erst mit den großen Symphonien Beethovens aktuell werden sollte. Zu den gewichtigsten Äußerungen Hoffmanns zählt in diesem Zusammenhang die Rezension der 5. Symphonie Beethovens, die 1809/1810 in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung erschien und unter dem Titel „Beethovens Instrumental-Musik“ in überarbeiteter Form Eingang in den ersten Band der Fantasiestücke fand. In der Fassung der Fantasiestücke heißt es dort (mit allen grammatikalischen Auffälligkeiten):

2 Prima la musica, poi le parole ist ein Divertimento teatrale in einem Akt von Antonio Salieri (Uraufführung 1786). Das Libretto stammt von Giovanni Battista Casti.

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Sollte, wenn von der Musik als einer selbständigen Kunst die Rede ist, nicht immer nur die Instrumental-Musik gemeint sein, welche jede Hülfe, jede Beimischung einer andern Kunst (der Poesie) verschmähend das eigentümliche nur in ihr zu erkennende Wesen dieser Kunst rein ausspricht? – Sie ist die romantischte aller Künste, beinahe möchte man sagen, allein echt romantisch, denn nur das Unendliche ist ihr Vorwurf. – [. . .] Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußern Sinnenwelt, die ihn umgibt, und in der er alle bestimmten Gefühle zurückläßt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben. (Hoffmann 1814, SW 2.1, 52)

Deutlicher als in diesen Worten hätte die Privilegierung der Instrumentalmusik kaum ausfallen können. Für Hoffmann ist die Instrumentalmusik definiert durch den Bezug auf das Unendliche, beziehungsweise: der Bezug auf das Unendliche setzt die Instrumentalmusik von allen konkreten Definitionen frei. Sie soll sich im Element des Unaussprechlichen entfalten, jenseits der empirischen Sinnlichkeit und der Bestimmung durch Wort und Begriff. Hoffmann bemüht eingeschliffene Formeln aus der Rhetorik des Erhabenen, um den durch Beethoven erreichten Stand der Instrumentalmusik zu beschreiben. So öffnet uns auch Beethovens Instrumental-Musik das Reich des Ungeheuern und Unermeßlichen. Glühende Strahlen schießen durch dieses Reiches tiefe Nacht und wir werden Riesenschatten gewahr, die auf- und abwogen, enger und enger uns einschließen und uns vernichten, aber nicht den Schmerz der unendlichen Sehnsucht, in welcher jede Lust, die schnell in jauchzenden Tönen emporgestiegen, hinsinkt und untergeht, und nur in diesem Schmerz, der Liebe, Hoffnung, Freude, in sich verzehrend aber nicht zerstörend unsere Brust mit einem vollstimmigen Zusammenklange aller Leidenschaften zersprengen will, leben wir fort und sind entzückte Geisterseher! (Hoffmann 1814, SW 2.1, 54)

Man hat es mit einer Überwältigungsästhetik zu tun, die das Subjekt im Moment der wesentlichen Wahrnehmung auslöscht und vernichtet und die zugleich doch festhalten will an einem zwischen Schmerz und Entzücken changierendem Erkenntnisanspruch. Tatsächlich eröffnet für Hoffmann die Instrumentalmusik ein Erkenntnisvermögen ganz eigener, inkommensurabler Art. Die nachvollziehende Aufnahme der Instrumentalmusik durch den Hörer erhält den Rang einer metaphysischen Tätigkeit, soll sie doch, jenseits des Begriffs und der Bestimmtheit von Worten, die Anschauung des Unendlichen ermöglichen. Die Begriffs- und Wortlosigkeit stellt bei dieser instrumentalmusikalischen Annäherung an das Unendliche durchaus keinen Mangel dar. Ganz im Gegenteil: Der eigentliche Mangel wird im Wort situiert. Deshalb erscheint die Vokalmusik, die Affekte nur durch Worte bestimmt, mit dem Keim des Misslingens versetzt. Und das, so gibt Hoffmann zu verstehen, gelte sogar für die Vokalmusik des von ihm hochgeschätzten Beethoven.

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Beethovens Musik bewegt die Hebel der Furcht, des Schauers, des Entsetzens, des Schmerzes und erweckt eben jene unendliche Sehnsucht, welche das Wesen der Romantik ist. Er ist daher ein rein romantischer Komponist, und mag es nicht daher kommen, daß ihm Vokalmusik, die den Charakter des unbestimmten Sehnens nicht zuläßt, sondern nur durch Worte bestimmte Affekte als in dem Reiche des Unendlichen empfunden darstellt, weniger gelingt. (Hoffmann 1814, SW 2.1, 54)

Die Musik, und das heißt für Hoffmann in dem Text über Beethoven „immer nur die Instrumental-Musik“, soll den Gesang geradezu vom Mangel der Bestimmtheit befreien, der durch den Gebrauch der Worte indiziert wird. Und auch für den Bereich der Oper diagnostiziert Hoffmann eine ästhetische Zweiklassengesellschaft, die gekennzeichnet ist durch die – unendliche – Überlegenheit der Musik über alle anderen medialen Aggregate und Ressourcen des Musiktheaters. Hoffmann präsentiert in seinen Ausführungen zu Beethoven eine dezidierte Metaphysik der Musik, die darauf abzielt, die Momente des Erhaben und der nicht-begrifflichen Erkenntnis miteinander zu verbinden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Geringschätzung des Potentials der romantischen Poesie. Dichter wie Novalis, Eichendorff und Achim von Armin haben die Leistungsfähigkeit des poetischen Wortes ganz anders, und zwar viel höher situiert als Hoffmann und insbesondere das musikaffine Potential des Wortes geschätzt. Man denke etwa an die berühmten Zeilen der „Wünschelrute“ des Spätromantikers Eichendorff: Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort.

(Eichendorf 1971 [1835], 103)

Den Zauber, den Eichendorff beschwört, hat Hoffmann nicht dem Wort, sondern allein der Musik zugetraut. Seine Auffassung von der non-verbalen Erkenntnisleistung der Musik macht einen Bogen um die romantische Lyrik und weist eher auf Konzepte voraus, wie sie Arthur Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung entwickelt hat.3 Dabei fasst Hoffmann die Musik durchaus als Sprache auf, sogar als die allgemeine „Sprache der Natur“. Aber diese Sprache der Natur existiert, so wie Hoffmann sie denkt, allein jenseits der Zeichen und der Schrift. In den „Ahnungen aus dem Reiche der Töne“ führt er aus: Aber bei der Musik, dieser allgemeinen Sprache der Natur, [. . .], rauschen wohl oft wunderbare geheimnisvolle Klänge im Innern vorüber, und wir mühen uns vergeblich, dafür

3 Schopenhauer bestimmt die Musik als „eine unbewußte Übung in der Metaphysik, bei der der Geist nicht weiß, daß er philosophiert“ (Schopenhauer 1977 [1819/1844], Bd. 1, 332).

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Zeichen zu finden, was nur Sprache bleiben und niemals Schrift werden kann. (Hoffmann SW 2.2, 444)4

In der Erzählung Ritter Gluck (1809), dem Eröffnungstext der Fantasiestücke, ist die Musik tatsächlich als schriftloses Medium in Szene gesetzt. Dort trifft der Erzähler nach dem Besuch der Oper auf die Geistererscheinung des berühmten Komponisten, Christoph Willibald Ritter von Gluck. Man zieht sich zurück, und Gluck – oder seine Geistererscheinung – spielt auf dem Klavier Auszüge aus der Oper Armide.5 Das besondere daran: „Gluck“ spielt auf dem Klavier von Blättern, die der Erzähler „zur rechten Zeit“ zu wenden betraut ist, aber: die Blätter sind unbeschrieben, leer. Auf den rastrierten Seiten finden sich keine Noten. Gleichwohl lässt Hoffmann den Ritter Gluck der Erzählung wie vom Blatt spielen und schließlich sagen: „Alles dieses, mein Herr, habe ich geschrieben, als ich aus dem Reich der Träume kam.“ (Hoffmann 1809, SW 2.1, 30) Man versteht: Die Noten sind nicht die Musik. Die Musik, die „Gluck“ zum Klingen bringt, existiert, jenseits der Schrift, im Klangraum des Unendlichen, sie stammt aus dem Reich der Träume und führt dorthin wieder zurück. Zu den intrikateren Konsequenzen der Traumphantasie einer vollkommen wort- und schriftlosen Musik zählt das getrübte Verhältnis von Instrumentalmusik und Oper. Der theoretische Überschwang des Rezensenten der 5. Symphonie Beethovens tritt an dieser Stelle in Widerstreit zu den Neigungen des Komponisten. Hoffmann eröffnete seinen Beethoven-Essay mit einer rhetorischen Frage: Sollte, wenn von der Musik als einer selbständigen Kunst die Rede ist, nicht immer nur die Instrumental-Musik gemeint sein, welche jede Hülfe, jede Beimischung einer andern Kunst (der Poesie) verschmähend das eigentümliche nur in ihr zu erkennende Wesen dieser Kunst rein ausspricht? (Hoffmann 1814, SW 2.1, 52)

Diese Frage musste gerade für den Opernkomponisten bedenklich sein, zumal es keinen Zweifel daran gibt, dass Hoffmanns primäres kompositorisches Interesse der Oper galt. Hoffmann gelang es nie, diesen Widerspruch ganz aufzulösen, aber er nahm ihm etwas von seiner Schärfe, indem er den ästhetischen Fluchtpunkt der Oper mit Hilfe von Kriterien bestimmte, die er der Beschreibung der Instrumentalmusik entlehnte (etwa: die Eröffnung eines unaussprechlich Unendlichen oder die Suspension von Bestimmtheit). Man könnte beinahe von einem Versuch

4 Auch diese Formulierung Hoffmanns weist auf Schopenhauer voraus. Die Welt als Wille und Vorstellung versteht Musik „als eine ganz allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft“ (Schopenhauer 1977 [1819/1844], Bd. 1, 332). 5 Die Oper Glucks wurde 1777 in Paris uraufgeführt; das Libretto stammt von Philippe Quinault.

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sprechen, die Oper durch den Rückgriff auf die Ästhetik der neuesten Instrumentalmusik für die romantische Wertschätzung retten zu wollen. Dazu stimmt, dass jene Elemente, durch die sich die Oper von der Instrumentalmusik unterscheidet, insbesondere die Stellung des Wortes und des Librettos, letzten Endes keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen sollen. Dies ist der Hintergrund für Hoffmanns erstaunliche Diagnose, dass die Entwicklung der neuesten Symphonik zur Angleichung von Instrumentalmusik und Oper beigetragen habe. Hoffmann rückt die Instrumentalmusik und die Oper in eine gemeinsame Perspektive und diagnostiziert einen historischen Prozess, der auf eine zunehmende Annäherung hinausläuft. Programmatisch heißt es in der Rezension der 5. Symphonie von Friedrich Witt (1770–1836): Daß die Instrumentalmusik jetzt zu einer Höhe gestiegen ist, von der man vor nicht gar zu langer Zeit wohl noch keinen Begriff hatte; daß ferner die Sinfonie insonderheit durch den Schwung, den Haydn und Mozart ihr gaben, das Höchste in der Instrumentalmusik – gleichsam die Oper der Instrumente geworden ist: alles dieses weiß jeder Freund der Tonkunst. (Hoffmann 1808/1809, SW 1, 513)

Die Oper der Instrumente: Hoffmann verweist mit dieser Formulierung, die sich vom klassischen, gattungstheoretischen Gebrauch der Worte sehr weit entfernt, in erster Linie auf die von Haydn entwickelte motivisch-thematische Differenzierung des Satzbaus, die der Symphonie gleichsam dramatische Qualitäten eingetragen habe. Hoffmann spricht auch vom „Drama“ (Hoffmann 1808/1809, SW 1, 513) der Symphonie: Als gleichsame Oper ist die Symphonie ein Drama ohne Worte. Bemerkenswert an diesen Überlegungen ist die überaus prekäre Stellung, die Hoffmann dem Dichter im Verhältnis zum Komponisten zuweist. Im Umkreis der Arbeit an der Oper Undine entstand unter dem einschlägigen Titel „Der Dichter und der Komponist“ eine Erzählung, von der Aufklärung zu erwarten war, nicht zuletzt für Hoffmann selbst. Der Text aus dem Jahr 1813 situiert die Handlung in den Wirren der zeitgenössischen Befreiungskriege (Dresden war zu jener Zeit von den französischen Truppen belagert). Der Komponist Ludwig trifft überraschend seinen alten Freund, den Dichter Ferdinand, der in der preußischen Armee Dienst leistet, und im Gespräch knüpfen beide an alte Pläne an und schmieden neue. Wieder einmal bedient sich Hoffmann der allergrößten rhetorischen Register; es geht um Krieg und Frieden, um das „Geheimnis unsers Seins“, um das Einbrechen des Wunders in den Alltag, um das Heilige und um die Musik als Sprache des Göttlichen.6 Dichter und Komponist,

6 Mitunter greifen Ferdinands Legitimation für die Teilnahme an den Befreiungskriegen und Ludwigs Legitimation der Oper als Gattung diffus ineinander. Beide berufen sich auf die

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„sind“, so lässt es Hoffmann den Komponisten Ludwig sagen, „die innigst verwandten Glieder einer Kirche“. LUDWIG Allerdings! – Ja, in jenem fernen Reiche, das uns oft in seltsamen Ahnungen umfängt, und aus dem wunderbare Stimmen zu uns herabtönen und alle die Laute wecken, die in der beengten Brust schliefen, und die, nun erwacht, wie in feurigen Strahlen freudig und froh heraufschießen, so daß wir der Seligkeit jenes Paradieses teilhaftig werden – da sind Dichter und Musiker die innigst verwandten Glieder einer Kirche: denn das Geheimnis des Worts und des Tons ist ein und dasselbe, das ihnen die höchste Weihe erschlossen. (Hoffmann 1813a, SW 4, 102)

Diese Worte beschreiben den metaphysischen Höhenkamm des von Ludwig mitgeteilten Musikverständnisses: Letztlich soll es bei der Tonkunst um die „Seligkeit des Paradieses“ gehen. Schaut man jedoch auf den weiteren Verlauf des Dialogs, so fällt auf, dass die irdischen Aufgaben von Dichter und Komponist innerhalb dieser einen Kunst-Kirche sehr ungleich verteilt sind. Zwar mögen Dichter und Komponist „in jenem fernen Reiche“ am selben „Geheimnis“ teilhaben – doch die konkreten Produktionsbedingungen der im Hier und Jetzt angesiedelten Werkstatt sind ganz andere und durchaus nicht dieselben für die beiden Parteien. Zunächst einmal schließt Ludwig, der Komponist, die Personalunion von Dichter und Komponist kategorisch aus. Hingerissen durch den „Strom“ der Musik, sei es dem Komponisten „ganz unmöglich“ zugleich nach den rechten Worten zu suchen. Andersfalls müsste er das tun, was er keinesfalls tun möchte: „er müßte von seiner Höhe herabsteigen, um in der untern Region der Worte für das Bedürfnis seiner Existenz betteln zu können“ (Hoffmann 1813a, SW 4, 100). Auch von der Seite des Dichters kommen Bedenken, die die wenig paradiesische Seite der Kooperation beleuchten. Als anstößig reklamiert wird vor allem die beanspruchte Vormachstellung der Musik in der Oper. Des Dichters Klage an die Komponisten ist, „daß ihr oft unsere schönsten Verse unbarmherzig wegstreichet und unsere herrlichsten Worte oft durch Verkehren und Umkehren mißhandelt, ja im Gesange ersäufet“ (Hoffmann 1813a, SW 4, 101). Die Kompromissformeln für diesen Streit werden bezeichnenderweise vom Komponisten Ludwig vorgegeben. Zunächst zum Sujet der Oper. Die Oper soll romantische Oper sein, und zwar „ausschließlich“ (Hoffmann 1813a, SW 4, 103);

Offenbarung „der ewig waltenden Macht“ (Hoffmann 1813a, SW 4, 118) beziehungsweise die „Einwirkung höherer Naturen“ (104), die „sichtbarlich“ (104 und 118) auf „unser Leben“ (104) beziehungsweise „auf uns“ (118) geschehe. Allerdings ist diese Form der Ästhetisierung des Politischen relativ selten in Hoffmanns Werk.

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nur die romantische Oper sei die „einzig wahrhafte“.7 Die hohe Sphäre der Musik erfordere entsprechendes Personal und Konflikte: Feen, Geister, Wunder und Verwandlungen.8 Dargestellt werden soll die „Einwirkung höherer Naturen auf unser Sein“ (Hoffmann 1813a, SW 4, 104). Ausdrücklich ausgeschlossen vom Bereich der romantischen Oper sind die Belange des Alltags. Bereits ein Jahr vor Publikation der Erzählung „Der Dichter und der Komponist“ hatte Hoffmann in einem Artikel für die Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung zu diesem Thema unumwunden Stellung genommen. Was soll aber aus unserer theatralischen Musik werden, wenn auch die Oper sich bis zu dem gemeinem Tun und Treiben des beengten bürgerlichen Lebens erniedrigt, das dem Geiste, der sich in das romantische Reich, wo Gesang die Sprache ist, emporschwingen will, die Fittige lähmt, und die Phantasie erdrückt? (Hoffmann 1812a, SW 1, 644–645)

Die Oper, so wie Ludwig sie visiert, soll „dem dürftigen, alltäglichen Leben entrückt“ (Hoffmann 1813a, SW 4, 103) sein. Innerhalb der Oper trifft diese allgemeine Maxime aber auf Wort und Ton in verschiedener Weise zu. Die Tendenz der Musik soll auf das Absolute gehen. Hoffmann beschreibt den musikalischen Totalitätsanspruch mit einem Vokabular, das den rhetorischen Registern der negativen Theologie entlehnt sein könnte: Sie erscheint ihm als unermesslich und ungeheuer und ihrem wesentlichen Gehalt nach als das, was nicht gesagt werden kann, erfüllt von einer „unaussprechlichen Sehnsucht“ (Hoffmann 1813a, SW 4, 103). Für den Dichter andererseits, der es mit Worten zu tun hat, muss der Verweis auf den Horizont der Unsagbarkeit des Kunstwerks ganz besonders problematisch sein. Denn: Was bliebe dem Dichter überhaupt noch zu sagen, wenn die Spielregeln der Kunst durch das Unsagbare definiert werden? Ludwigs, des Komponisten Antwort auf diese Frage ist eindeutig. Der Dichter solle so schreiben, dass er vom Publikum „beinahe ohne ein Wort zu verstehen“ verstanden werden kann. LUDWIG Beinahe ohne ein Wort zu verstehen, muß der Zuschauer sich aus dem, was er geschehen sieht, einen Begriff von der Handlung machen können. (Hoffmann 1813a, SW 4, 114)

Die Aufgabe des Dichters sieht Ludwig vorrangig in der Ausgestaltung des Stoffes, der Handlung und der dramatischen Situation. Insofern arbeitet der Opern-

7 Ludwig: „Allerdings halte ich die romantische Oper für die einzig wahrhafte, denn nur im Reich der Romantik ist die Musik zu Hause.“ (Hoffmann 1813a, SW 4, 103) 8 Ferdinand: „Du nimmst also ausschließlich die romantische Oper mit ihren Feen, Geistern, Wundern und Verwandlungen in Schutz? // Ludwig: Allerdings [. . .].“ (Hoffmann 1813a, SW 4, 103)

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dichter mehr für das Auge als für das Ohr. Sein Wortgebrauch soll sich in den Grenzen einer minimalistischen Rhetorik halten; generell wird ihm ein Streben „nach der höchsten Einfachheit“ (Hoffmann 1813a, SW 4, 116) angeraten. Verbannt werden sollen aus dem Libretto wortreiche Ausschmückungen und alle Formen der figürlichen Rede. Insbesondere aber ist es der Verzicht auf Reflexion, den der Komponist vom Dichter einfordert. LUDWIG [. . .] außer den sogenannten poetischen Bildern, sind alle und jede Reflexionen für den Musiker eine wahre Mortifikation. (Hoffmann 1813a, SW 4, 116)

Das ist ziemlich starker beziehungsweise unreflektierter Tobak, den Hoffmann dem Komponisten an dieser Stelle in den Mund legt. Das Wort soll Musik, soll Gesang werden, fordert Ludwig. Aber das Musikwerden des Wortes geht einher mit dessen De-Semantisierung und der Abflachung seines reflexiven Potentials. Die Dichtung wird gleichsam an die Grenze der Sprachlosigkeit gerückt, um der wesentlichen Unsagbarkeit der Musik Raum zur Entfaltung zu geben. So zumindest das ästhetische Planspiel. Die konkrete Bedeutung des Wortes geht dabei über in eine unbestimmte, aber auratisch und affektiv aufgeladene Bedeutsamkeit. An die Stelle des Wortes – des linguistischen Zeichens – tritt nunmehr die Geste und der Habitus des Zeigens. Das Wort sagt und bedenkt „beinahe“ nichts mehr, sondern präsentiert vor allem die Attitüden des Sagens und des Denkens. In einer Art zweiter Naivität – in Abkehr von Rhetorik und Reflexion – soll sich die Aufmerksamkeit des Dichters auf die thematische und motivische Entwicklung des Stoffs konzentrieren. Ihm ist aufgegeben, mit Worten gleichsam Dramen und Lieder ohne Worte zu komponieren.9 Wie sehr die Perspektive des Komponisten Ludwig aus der Erzählung „Der Dichter und der Komponist“ übereinstimmt mit derjenigen des Komponisten Hoffmann wird ersichtlich, wenn man auf die Entstehungsgeschichte der Undine schaut, jener Oper, die Hoffmann als das Hauptwerk seines Schaffens ansah. Friedrich de la Motte Fouqué lieferte mit seiner populären Erzählung aus dem Jahr 1811 zunächst die Idee für den Stoff und dann auch das Libretto.10

9 Hoffmann macht in der Rahmenhandlung der Serapions-Brüder (1819–1821) zwar deutlich, dass dieser Blick auf das Verhältnis von Dichter und Komponist ganz subjektiver Natur ist und keine Allgemeingültigkeit beanspruchen darf. Der Text ist ein Rollenspiel, ausgetragen zwischen Ludwig, dem Komponisten, und Ferdinand, dem Dichter, und eben kein theoretisches Traktat. Ebenso deutlich ist es aber auch, dass die Perspektive Ludwigs mit derjenigen Hoffmanns die allergrößten Ähnlichkeiten aufweist. 10 Eine materialreiche Edition hat Ute Schmidt-Berger vorgelegt: Fouqué (Schmidt-Berger 2008 [1811]).

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Was die Entstehung der Undine betrifft, so war Hoffmann nicht oder kaum als Dichter, sondern in erster Linie als Komponist tätig. Auch das Sujet der Oper entspricht den von Ludwig formulierten Vorgaben. Undine ist eine romantische Märchenoper: Man hat es mit einer Wasserfrau, mit Elementargeistern und mit „sichtbarlichen“ Wundern zu tun, mit einer Welt jenseits des „beengten bürgerlichen Lebens“. Hoffmann legte zudem darauf Wert, dass die Wahl des Stoffes nicht das Ergebnis einer Reflexion gewesen sein soll, also jenes Elements, das er ganz aus dem Bereich der Oper verbannen möchte. An Fouqué schreibt er in einem Brief vom 15. August 1812: Ein Glücksstern leuchtet meinen musikalischen Bemühungen, da [. . .] Sie selbst, Herr Baron! Ihre herrliche gemütvolle Undine für meine Komposition bearbeiten wollen. – Nicht mit Worten sagen kann ich es, wie ich das tiefe Wesen der romantischen Personen in jener Erzählung nicht allein innig empfunden, sondern wie Undine – Kühleborn pp sich gleich beim Lesen meinem Sinn in Tönen gestalteten und ich so ihre geheimnisvolle Natur mit den wunderbarsten Erscheinungen recht zu durchdringen und zu erkennen glaubte. Die Überzeugung von dem ganz eigentlichen Opernstoff, den die Undine darbietet, war daher nicht das Resultat der Reflektion, sondern entsprang von selbst aus dem Wesen der Dichtung. (Hoffmann 1812b, SW 1, 252–253)

Es ist diese eine Unterscheidung, die dem Opernkomponisten Hoffmann wichtig war: Der Stoff der Undine sei gemütvoll genug und bedürfe nicht der Reflexion, um zu überzeugen. „Nicht mit Worten sagen kann ich es . . .“, so führt Hoffmann weiter aus, – sogleich gestaltete sich der Text Fouqués zu Tönen. Der Briefschreiber bewegt sich mit diesem Lob an seinen zukünftigen Librettisten ganz innerhalb der begrifflichen Schematisierung von „Der Dichter und der Komponist“: Was die Musik betrifft, so haben Worte nicht viel zu sagen. Die Worte sollen ohne den Umweg der Reflextion zur Musik werden. Mehr noch: Das Wesen der Dichtung gilt als Quellpunkt für reflexionslose Musik. Es gehört zu den Opernphantasien Hoffmanns, die Begriffe der Oper und der Musik mitunter derart auszudehnen, dass sie weit über die Grenze der konkreten Gattungsbestimmung hinausweisen. Für den Musiker, so war Hoffmann überzeugt, könne schlechterdings alles zur Musik werden. Dieser emphatische Musikbegriff, der den Hintergrund aller Opernphantasien Hoffmanns bildet, bezieht sich nicht mehr auf das konkrete musikalische Medium. „Musik“ in diesem Sinne ist die Pathosformel für ein affektiv hochgradig aufgeladenes synästhetisches Transformationsereignis, es mag nun durch Klänge, Farben oder Düfte veranlasst sein. Der Hoffmann-Leser und (Wagner-Liebhaber) Charles Baudelaire hat später die Korrespondenz verschiedener Wahrnehmungsmedien als Zeichen einer neuen, modernen

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Ästhetik gedeutet.11 Hoffmann formuliert diesen Aspekt der Ästhetik der Moderne schon sehr früh, am Klarsten wohl in „Johannes Kreislers Lehrbrief“ aus den Fantasiestücken. Der Musiker, das heißt, der, in dessen Innerem die Musik sich zum deutlichen klaren Bewusstsein entwickelt, ist überall von Melodie und Harmonie umflossen. Es ist kein leeres Bild, keine Allegorie, wenn der Musiker sagt, daß ihm Farben, Düfte, Strahlen, als Töne erscheinen und er in ihrer Verschlingung ein wundervolles Conzert erblickt. So wie nach dem Ausspruch eines geistreichen Physikers Hören ein Sehen von innen ist, so wird dem Musiker das Sehen ein Hören von innen, nehmlich zum innersten Bewußtsein der Musik, die mit seinem Geiste gleichmäßig vibrierend aus Allem ertönt was sein Auge erfaßt. (Hoffmann 1815, SW 2.1, 453)

Hoffmann spricht an dieser Stelle zwar von Musik. Aber im Grunde formuliert er eine synästhetische Kunstphantasie, die im Namen der Musik auf die Aufhebung der Grenze zwischen Musik und Nicht-Musik zielt. Folgt man Hoffmanns Kapellmeister Johannes Kreisler, so ist „Musik“ der Name für ein ästhetisches Versprechen, das über die Individualität und Isolation des Einzelmediums hinausführt. Wenn man Hoffmanns musikalische Produktion einschließlich seiner Aussagen zur Musik vor dem Hintergrund seiner Erzählungen betrachtet, zeigen sich tiefgreifende Divergenzen. Besonders auffällig ist, dass Hoffmanns Dichtung ganz anderen ästhetischen Leitlinien folgt als seine Kompositionen. Hoffmanns Prosa ist kapriziös, sprunghaft, versetzt mit jähen Tempo- und Perspektivwechseln, sie ist humorvoll und zuweilen direkt satirisch. Sie möchte dem Leser Fantasiestücke in Callot’s Manier vor Augen führen und bedient sich dazu – wie der französische Zeichner Jacques Callot – der überrissenen Zeichnung und Groteske. Während Hoffmann das Capriccio, den leichtsinnigen und lustvollen Verstoß gegen die Regeln, ausdrücklich zum narrativen Leitbild erklärt, schließt er eben dieses von der Sphäre der Musik aus. Vielmehr lobt er den „Ernst“ der neueren Musik, der eben gerade „die possierlichen Capriccios“ (Hoffmann 1814, SW 2.1, 60) aus ihrem Bereich verbannt. In der narrativen Welt Hoffmanns kann ein überaus von sich selbst eingenommener, prätentiöser Kater zum Schriftsteller werden, man siehe etwa die Lebens-Ansichten des Katers Murr (Hoffmann 1820, 1822); in der Opern-Welt Hoffmanns hingegen ist bereits der selbstreflexive Bezug auf die Komposition und den Komponisten untersagt.

11 Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Tannhäuser-Essay, in dem Baudelaire aus den ersten beiden Vierzeilern des Sonnets „Correspondances“ zitiert (Baudelaire 1976 [1861]).

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Dies sind einige der Rahmenbedingungen, die dafür verantwortlich sind, dass Hoffmanns Undine für die Entwicklung des modernen Musikdramas ohne Folgen blieb. Komponisten wie etwa Jacques Offenbach ließen sich eher von Hoffmanns Erzählungen als vom Musiker Hoffmann inspirieren. Auch Richard Wagners Konzept des „Gesamtkunstwerks“ weist eher auf die synästhesieseligen Spekulationen der Kreisleriana zurück als auf die musikalische Produktion. Bezeichnend für das verquere Rezeptionsschicksal des Hoffmannschen Werkes in der neuen Musik ist die 2012 in Basel uraufgeführte Oper Der Sandmann des Schweizer Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini.12 Dass gerade Der Sandmann (1816) zur Vorlage für eine Oper werden konnte, hätte Hoffmann erstaunen müssen. Von allen Erzählungen Hoffmanns ist der Sandmann sicherlich die populärste und die am meisten kommentierte. Zugleich ist aber gerade dieses Nachtstück sehr weit entfernt von den ästhetischen Maximen, die Hoffmann für die Oper reklamieren möchte. Nach der Lektüre von Der Dichter und der Komponist wäre eigentlich zu schließen, dass der Sandmann als Sujet für die Oper wenig geeignet sei. In der Geschichte um den psychisch labilen Studenten Nathanael, den Advokaten Coppelius, die Gliederpuppe Olimpia und die allzu aufgeklärte Clara mischen sich der Humor, die Groteske, die Satire und das blanke Entsetzen auf mitunter ununterscheidbare Weise. Dieser Aspektwechsel der Darstellung hat vor allem mit der in den Text eingelassenen abgründigen Selbstreflexion zu tun, die die zentralen Geschehnisse unter einer Vielzahl von Perspektiven in Szene setzt. Man erinnert sich: Aus der Sicht des OpernKomponisten, so wie Hoffmann ihn schildert, haben Dichter die unangenehme Eigenschaft, denken zu wollen und dieses Denken auch zu Wort kommen zu lassen. Als Verfasser von Erzählungen jedoch hat Hoffmann sich wenig darum gekümmert, dass Komponisten gedankenarme Dichtungen wünschen. Hoffmanns Erzählungen sind in einem eminenten Sinne Reflexionskunst, sie führen nicht zuletzt den Leser selbst in ein Spiegelkabinett, aus dem es keinen Ausweg gibt. Eine Federzeichnung Hoffmanns vom November 1815 macht die exponierte Stellung der Reflexion innerhalb der Konstruktion des Sandmanns deutlich. Das Blatt schildert – wie der Text der Erzählung auch – die Beobachtung seines Beobachters. Versteckt hinter dem Vorhang eines offenen Schranks verfolgt der kleine Nathanael ein furchterregendes Geschehen: die Begrüßung des mysteriösen Advokaten Coppelius durch den Vater. Innerhalb des Verlaufs der Erzählung beschreibt der gewählte Moment der Darstellung den Beginn der Szene, die mit

12 Der Sandmann. Oper in zehn Szenen nach Motiven der gleichnamigen Erzählung von E. T. A. Hoffmann. Komposition von Andrea Lorenzo Scartazzini. Libretto von Thomas Jonigk (deutsch) (2010–2012). Uraufführung am 20. Oktober 2012 am Theater Basel.

Opernphantasien: E.T.A. Hoffmann, Dichter und Komponist

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Abb. 3: E.T.A. Hoffmann: Federzeichnung (vor Mitte November 1812). Aus: Handzeichnungen E. T.A. Hoffmanns im Faksimiledruck (1973, Tafel 43).

dem kindlichen Phantasma des Augenverlustes endet: „Mir war als würden Menschengesichter ringsumher sichtbar, aber ohne Augen – scheußliche, tiefe schwarze Höhlen statt ihrer.“ (Hoffmann 1816, SW 3, 17) Das Bild ist mit „Der Sandmann“ unterzeichnet. Wie die Erzählung selbst, so ist auch die Unterschrift, so ist auch „Der Sandmann“ einer multi-perspektivischen Lektüre zugänglich. Zum einen mag man den Schriftzug als Hinweis auf den Titel der 1816 erschienen Erzählung deuten. Ebenso plausibel ist es, die inscriptio als Benennung des Advokaten aufzufassen, unter dessen linkem Fuß sie platziert ist. Eine andere Möglichkeit der Lektüre läge in der Deutung des Schriftzuges als BildTitel, der sich nicht auf einen Referenten im Bildinnenraum, sondern auf das Bildganze bezöge. Nichts spräche darüber hinaus dagegen, in der Signatur die Unterschrift des Künstlers zu erkennen: E.T.A. Hoffmann, der Sandmann. Ungeklärt bleibt, wer wessen Sandmann ist und wer wem Sand in die Augen streut – und ob nicht vielleicht sogar der Leser, der eindeutige Antworten auf zweideutige Fragen sucht, sein eigener Sandmann wäre. Die mortifizierende Kraft der Reflexion, das tödliche Zusammenspiel von Einsicht und Verblendung, – sie bilden in den Erzählungen und insbesondere im Sandmann den Horizont des Todes, dem Hoffmann das Element des Unheimlichen

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abgewonnen hat. Dabei ist der Sandmann so angelegt, dass jede eindeutige Antwort auf die Frage nach der geistigen Gesundheit Nathanaels es ihrerseits fragwürdig werden lässt, ob der Leser, der nach eindeutigen Antworten sucht, noch recht bei Sinnen sei. Was der Sandmann zeigt und was die Oper – per definitionem – nicht soll zeigen können, ist eben dies: die Unentrinnbarkeit aus dem unheimlichen mise-en-abîme der Selbstreflexion. Vielleicht darf man aus der heterogenen Konstellation von Dichter und Komponist folgendes schließen: Hoffmanns Opernphantasie, die Anrufung des absoluten, des reinen, des paradiesischen Musikereignisses, ist ein metaphysisches Korsett, aus dem zwar der Dichter sich befreien konnte, das aber den Komponisten in den Bahnen einer konventionellen Musikanschauung befangen hielt. Wollte man diese Konstellation konzeptionell zuspitzen, so könnte man sagen: Der Komponist Hoffmann ist in gewisser Weise zum Opfer des metaphysischen Musiktheoretikers Hoffmann geworden. Unverkennbar ist, dass Hoffmanns Musik-Metaphysik, die ganz auf die Aura der unbestimmten Leerformel setzt, auf der Seite des Komponisten zu einer Verarmung der technischen Mittel führte. Selbst wohlmeinende Kritiker haben denn auch auf die melodische und harmonische Enge vieler Kompositionen Hoffmanns verwiesen. Hoffmann komponierte zögerlich und abwartend und innerhalb von Konventionen einer Rolle, deren Grenzen und Inhalte bereits ausbuchstabiert waren. Es ist keine Musik, die zu neuen (Hör-)Abenteuern einlädt oder dazu verführen möchte, sie evoziert eher traditionell eingespielte Pathosformeln. Vielleicht aber sollte man Hoffmann als Musik-Theoretiker auch nicht überstrapazieren. Hoffmann sprach selten in eigenem Namen, sondern vielmehr indirekt: durch Masken, Stellvertreter und literarische Figuren wie etwa den Kapellmeister Johannes Kreisler. Der Autor der Fantasiestücke wusste genau, warum er letzten Endes als „reisender Enthusiast“ verstanden werden wollte, als ein Begeisterter, der nirgendwo wirklich heimisch ist, sondern schnell die Orte und Standpunkte wechselt. Die Erzählungen Hoffmanns mit ihren musikalischen Sujets vertreten für ihn die Stelle der eigentlichen Musiktheorie. Dabei war er stärker an den affektiven und lebensweltlichen Implikationen der romantischen Oper interessiert als an der Präsentation des musikalischen und medialen Konzepts der Gattung. So führt uns etwa die Erzählung Don Juan vor, wie die Musik des Don Giovanni – der „Oper aller Opern“ (Hoffmann 1813b, SW 2.1, 90) – dem Erzähler die Sinne verdreht, aber über die musikalische Struktur der Oper Mozarts erfährt man wenig. E.T.A. Hoffmanns primäre artistische Phantasie galt der Oper; aber es war ihm nicht um die Oper als Gattung zu tun. Die Oper war ihm wichtig als Durchgang zu weiterer Phantasiebildung – als ein Aggregat zur Phantasiebeschleunigung, als Öffnung in eine Sphäre, die er gern die Welt des Wunderbaren nannte.

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Abb. 4: E.T.A. Hoffmann: „Der Kapellmeister Johannes Kreisler in Haustracht nach dem Leben gezeichnet von Erasmus Spikher.“ Auf dem Klavier postiert ist die Partitur der Undine. Aquarell (1815), Staatsbibliothek Bamberg.

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Literaturverzeichnis Allroggen, Gerhard. E.T.A. Hoffmanns Kompositionen. Ein chronologisch-thematisches Verzeichnis seiner musikalischen Werke mit einer Einführung. Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Regensburg: Bosse, 1970. Baudelaire, Charles. „Richard Wagner et Tannhäuser à Paris“. Œuvres complètes. Bd. 2. Hg. Claude Pichois. Paris: Bibliothèque de la Pleiade, 1976 [1861]. 779–808. Dahlhaus, Carl. „Die romantische Oper als Idee und Gattung“. Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 1983: 52–64. Eichendorff, Joseph von. „Wünschelrute“. Werke. Hg. Wolfdietrich Rasch. München: Hanser, 1971 [1835], 103. Fouqué, Friedrich de la Motte. Undine. Ein Märchen der Berliner Romantik. Hg. Ute SchmidtBerger. Frankfurt a.M.: Insel, 2008 [1811]. Miller, Norbert. „E.T.A. Hoffmann und die Musik. Zum Verhältnis von Oper und Instrumentalmusik in seinen Werken und Schriften“. Kaleidoskop. Festschrift für Fritz Baumgart. Hg. Friedrich Mielke. Berlin: Gebr. Mann, 1977. 267–303. Hoffmann, E.T.A. Handzeichnungen E.T.A. Hoffmanns im Faksimiledruck. Hg. Hans von Müller. Hildesheim: Gerstenberg, 1973. Hoffmann, E.T.A. Sämtliche Werke. Hg. Wulf Segebrecht und Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen, Friedhelm Auhuber, Hartmut Mangold und Ursula Segebrecht. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1985–2004. (SW) Hoffmann, E.T.A. Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreiser in zufälligen Makulaturblättern. Herausgegeben von E.T.A. Hoffmann [1820, 1822]. SW 5. 9–458. Hoffmann, E.T.A. Die Serapions-Brüder [1819–1821]. SW 4. Hoffmann, E.T.A. Nachtstücke [1816, 1817]. SW 3. 9–345. Hoffmann, E.T.A. Der Sandmann [1816]. SW 3. 11–49. Hoffmann, E.T.A. Johannes Kreislers Lehrbrief [1815]. SW 2.1. 447–455. Hoffmann, E.T.A. Fantasiestücke in Callot’s Manier. Blätter aus dem Tagebuch eines reisenden Enthusiasten. Mit einer Vorrede von Jean Paul [1814, 1815]. SW 2.1. 9–455. Hoffmann, E.T.A. „Beethovens Instrumental-Musik“ [1814]. SW 2.1. 52–61. Hoffmann, E.T.A. „Der Dichter und der Komponist“ [1813a]. SW 4. 94–118. Hoffmann, E.T.A. „Don Juan“ [1813b]. SW 2.1. 83–97. Hoffmann, E.T.A. Brief an Carl Friedrich Kunz vom 20. Juli 1813 [1813c]. SW 1. 293. Hoffmann, E.T.A. „Der Augenarzt, Singspiel in zwei Aufzügen, von Adalb. Gyrowetz. KlavierAuszug.“ [1812a]. SW 1. 643–655. Hoffmann, E.T.A. Brief an Friedrich de la Motte Fouqué vom 15. August 1812 [1812b]. SW 1. 252–253. Hoffmann, E.T.A. Ritter Gluck. Eine Erinnerung aus dem Jahr 1809 [1809]. SW 2.1. 19–31. Hoffmann, E.T.A. „Sinfonie pour 2 Violons, Alto, Basso, 2 Flutes, 2 Clarinettes, 2 Hautbois, 2 Bassons, 2 Cors, 2 Trompettes et Timbales, par Witt. No. 5. à Offenbach sur le Main, chez Jean André“ [1808/1809]. SW 1. 513–517. Schopenhauer, Arthur. Die Welt als Wille und Vorstellung. Hg. Arthur Hübscher. Zürich: Diogenes, 1977 [1819/1844].

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Zu hell? Zu glatt? Heines „Neue Liebe“ in der Vertonung von Felix Mendelssohn Bartholdy 1 Einleitung Während der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy zu den meistgespielten des europäischen Konzertrepertoires zählt, wurde ihm in der Musikwissenschaft lange Jahre mit Skepsis begegnet. Die Faktur der Mendelssohnschen Werke erschien zu sehr aus einem Guss. Friedhelm Krummacher benennt die schwierige Position des Komponisten unter dem Aspekt einer „vermittelnde [n] Kunst“. Weil Mendelssohns Werke den Anschein des „mühelos Gelungenen“ (Krummacher 1997, 279) erweckten, gerieten sie unter Verdacht, konventionell zu sein. Adornos Kritik an der „kompositorischen Glätte“ (Adorno 1970, 238) wie auch das polemische Urteil von Ernst Bloch über Mendelssohns vermeintliche unablässige Heiterkeit1 sind Zeugnis dafür, dass der Komponist nach seiner Diskreditierung durch die Nationalsozialisten in den Nachkriegsjahrzehnten dem Verdikt der Oberflächlichkeit ausgesetzt war. Mendelssohn zog in der musikwissenschaftlichen Auseinandersetzung zahllose Etiketten auf sich, die vom Klassizisten über den Historisten und Epigonen bis zum Eklektiker reichten (Krummacher 1997, 284). Heute hat sich die Forschung von diesen eindimensionalen Sichtweisen distanziert, doch obschon man den Komponisten nun nicht mehr in der ästhetischen Eindimensionalität wähnt, eignet der von Robert Schumann ehemals positiv gedachten Charakterisierung des „hellste[n] Musikers“ (Eismann 1947, 13) noch aus heutiger Perspektive eine negative Konnotation. Mendelssohn wurde nicht nur aufgrund seiner religiösen Ausrichtung kritisiert, er wurde auch als Künstlerpersönlichkeit insofern als ‚Sonderfall‘ rezipiert, als er aus einer – zumindest äußerlich – intakten Familie stammte und selbst wohl glücklich verheiratet war. Der Zeitgenosse Ferdinand Hiller beschrieb in seinen „Erinnerungen“: „Jeder weiss, wie glücklich Mendelssohn in seinem Heim war“ (Hiller 1874, 236). Auch die im Hause Mendelssohn gepflegte Geselligkeit schien dem lange Jahre stilisierten Komponistenbild vom einsam

1 Bloch meinte, der Komponist sei „armselig“, weil er sich „immerdar heiter und gewandt“ hätte geben müssen (Bloch 1964, 81). https://doi.org/10.1515/9783110630756-009

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schaffenden Genius diametral entgegen zu stehen. Umso bedenklicher sind jene Festschreibungen, als die musikalischen Salons im Hause Mendelssohn künstlerisch niveauvolle Veranstaltungen waren. Die Gastgeberin Fanny Hensel, getauft Mendelssohn Bartholdy, forderte das künstlerische Niveau in den von ihr organisierten Salons explizit ein. In der Rezeption wurde der Komponist häufig verkürzt und im Lichte eines vorgezeichneten Schemas dargestellt, was sich anhand seines umfangreichen Werks leicht entkräften lässt. Mendelssohns Zweifel an seinem eigenen Schaffen widerspricht dem gängigen Bild vom sorglosen Vorzugskind. Sein Scheitern an der Gattung Oper ist ein weiteres Indiz für Mendelssohns erheblichen künstlerischen Skrupel.2 Hinzu kommt ein nachweisliches Korrekturbedürfnis, welches mit seinem empfindlichen Verhältnis zu gedruckten Werken im Zusammenhang steht.

2 Die Lieder von Felix Mendelssohn Bartholdy Die 62 zu Lebzeiten veröffentlichten Lieder stellen nur etwa die Hälfte von Mendelssohns Liedschaffen dar. Seine unveröffentlichten Lieder aus dem Nachlass umfassen mindestens 56 Kompositionen (die Liedfragmente und Entwürfe sind hier noch nicht mitgezählt). Julius Rietz publizierte in seiner zwischen 1874 und 1877 entstandenen Kritisch durchgesehenen Ausgabe der Werke Felix Mendelssohn Bartholdys 73 der Lieder. Erst im Jahr 2007 erschienen im Verlag Breitkopf und Härtel 44 weitere Lieder. Der Komponist hat die Lieder bewusst der Öffentlichkeit vorenthalten, weshalb fast die Hälfte der Lieder von Felix Mendelssohn Bartholdy bis ins 21. Jahrhundert hinein unbekannt blieb. Dass diese Kompositionen in der Forschung bisher kaum ausgewertet wurden, liegt auf der Hand. Während sowohl das symphonische Werk, die Solokonzerte und vor allem Mendelssohns Oratorien heute ohne Zweifel als musikhistorisch relevante Kompositionen gelten, wurden und werden die Lieder vorschnell unter ‚Gelegenheitskompositionen‘ subsumiert – musikanalytisch kaum fruchtbringend. Noch im Artikel „Lied“ der MGG von 1996 beschreibt Peter Jost die Mendelssohnschen Kompositionen als einigermaßen belanglos: „Ganz der Ästhetik der Berliner Liederschule verpflichtet, blieb die Ausdruckssteigerung und dichte Textinterpretation, wie sie sich [. . .] ausgebildet bei Schubert finden, seinen [Mendelssohns] Vorstellungen bis auf wenige Ausnahmen fremd [. . .]. Von heute aus gesehen“

2 Vgl. dazu die Literatur zu Mendelssohns Opernschaffen, darunter Hennemann o.J., 181–201; Sabine Henze-Döhring 2007/2008, 68–83.

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hätten Mendelssohns Lieder „kaum einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Gattung“ geleistet. Und obgleich sie doch „bei den Zeitgenossen so beliebt“ gewesen seien, „muten sie eher biedermeierlich an“ (Jost 1996, 1293). So wie in der MGG schneidet das Liedschaffen Mendelssohns auch im New Grove (wieder) im Vergleich zu Schubert schlecht ab: „According to conventional wisdom, Mendelssohn’s solo and duet lieder do not rank among his most significant efforts. He remained uninfluenced by the rich corpus of Schubert’s songs“ (Todd 1980, 409). Wolfram Steinbeck greift in einem Beitrag zu „Mendelssohn und die Ironie“ die gängigen Argumente auf, charakterisiert die Kompositionen aber positiv als Zeitzeugen: Mendelssohns Lieder scheinen in der Tat ganz in der Tradition ihrer Zeit verwurzelt, und es ist nicht zu leugnen, dass sie einen nahezu diametralen Gegensatz zu denen Schuberts oder Schumanns bilden – freilich auch nahezu ausschließlich zu diesen. Denn allen anderen Komponisten der Zeit galt die Gattung weniger vom emphatischen Werkbegriff als vom unterhaltsamen Gebrauchswert her bestimmt. Auch Mendelssohns Lieder gehen allesamt von einem Ideal aus, wie es tatsächlich die mittlere Goethezeit formuliert und gepflegt hatte. (Steinbeck 2016)

Antonio Baldassarre stellt Mendelssohns Lieder in den Biedermeier-Kontext: Obschon der „Biedermeier“ ein „belasteter Begriff“ sei, hält er diesen für das Verständnis der Mendelssohnschen Lieder für „brauchbar“ (Baldassarre 2011, 67). Dabei setzt sich der Autor mit dem Begriff des Biedermeier kritisch auseinander und beleuchtet diesen unter dem Aspekt des „Kult[s] der Schlichtheit“ (Baldassarre 2011, 69), der sich als Opposition zum opulenten Luxus des achtzehnten Jahrhunderts entwickelt habe. Eine unterstellte flache Dimension Mendelssohns ist ein Phänomen, das sich noch bis heute in den verschiedensten geisteswissenschaftlichen Disziplinen auffinden lässt. Bemerkenswert aber ist vor allem, dass sich gerade in der Musikgeschichtsschreibung feststellen lässt, dass eine Heroengeschichte quasi invers fortgeschrieben wird: Wenngleich Komponisten wie Beethoven, Schubert oder Brahms längst nicht mehr auf Sockel gestellt werden, sondern der Fokus in der musikwissenschaftlichen Forschung nachdrücklich auf Krisen und Zweifel im Leben und im Schaffen gerichtet ist, so scheint sich die Idee vom Ringen mit dem Material und der eigenen Seele nachhaltig als Qualitätsmerkmal zu behaupten.

3 Lieder im Kontext Die kritisierte Helligkeit der Kompositionen von Mendelssohn hat insofern mit dessen Auffassung der Liedgattung zu tun, als diese wie keine zweite Kunstform

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eingebunden ist in sozio-kulturelle Kontexte. Zahlreiche Lieder entstanden aus einem geselligen Impuls, was aber nicht heißt, dass sie prädestiniert für inhaltliche Substanzlosigkeit sind. Unter Mendelssohns Liedern finden sich bewusst schlicht gehaltene Kompositionen, aber auch zahlreiche Lieder mit hohem künstlerischem Anspruch. Positiv hervorgehoben wird in der Rezeption die literarische Qualität der Mendelssohnschen Lieder, die allerdings keinen Garant für das kompositorische Niveau darstelle. Schon Luise Leven hatte am Beginn des vorigen Jahrhunderts in ihrer Dissertationsschrift (Leven 1926) auf die literarische Prägung des Komponisten verwiesen, doch wurde dem Thema auch in der Nachfolge dieser Arbeit kaum Beachtung zuteil. Auseinandersetzungen mit Mendelssohns Vertonungen, die nicht in erster Linie den Vergleich zu anderen Komponisten oder zu anderen Werkgruppen suchen, sondern vom Lied selbst ausgehen, sind erst in der jüngeren Literatur präsent. Zu nennen ist hier der Zürcher Kongressbericht, der die Problematik schon im Titel nennt: Mendelssohn-Interpretationen. Der unbekannte Mendelssohn: Das Liedschaffen (Sackmann 2011).3 Vorurteilsfreie Beiträge zu Mendelssohns Liedschaffen finden sich vermehrt im englischsprachigen Raum, darunter die Arbeiten von Douglass Seaton und John Michael Cooper. Insbesondere das Liedschaffen bedarf einer differenzierten Betrachtung. Mendelssohns Lieder werden heute im Konzertsaal gesungen; geschrieben wurden sie für verschiedenste Aufführungssituationen, denen auch in der Analyse Rechnung getragen werden muss.4 Jüngere Tendenzen der Geschichts- und Geisteswissenschaften wie New Historicism oder Narrative History helfen, das Liedschaffen als diskursiven Bestandteil im kulturanthropologischen Zusammenhang zu begreifen.

4 Lyrik in „Musik gesetzt“ Die Qualität der Lieder von Mendelssohn bemisst sich nicht nur an ihrer kompositorischen Eigenständigkeit, sondern sie überzeugen durch eine sensible Textinterpretation, und auch durch ihre Passgenauigkeit in Hinblick auf den jeweiligen Aufführungsrahmen. Ihre auffallend präzise Textgebundenheit

3 Der Band beginnt mit einer Übersetzung des bereits im Mendelssohn-Companion (2001) abgedruckten gattungsspezifischen Beitrages von Douglass Seaton, dem sich grundlegende Überlegungen anschließen: etwa zu „Mendelssohns Lieder und das Biedermeier“ (Antonio Baldassarre). 4 Dass sich diese Fragestellung nicht nur auf Mendelssohns Liedschaffen bezieht, zeigt der Aufsatz von Maier 2005, 267–285.

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unterstrich bereits Adolph Bernhard Marx in seiner Rezension der Lieder op. 8 in der Berliner Allgemeinen Zeitung: Ein wahrer Reichthum von Musik, der sich nirgends zuzulegen braucht, sondern überall das Rechte und Genügende ohne besonderen Aufwand herzugeben vermag und der Flitter einzelner Effekte nicht bedarf; eine innerliche Gesundheit und Reinheit, die wie ein kühler Morgenwind nach schwülem Abend erfrischt; eine gewissenhafte Treue gegen die Idee des Dichters; – das sind die bemerkbaren Eigenschaften dieser Lieder. (Marx 1830, 209)

Die von Marx positiv bewertete kompositorische Zurückgenommenheit der Lieder steht in Zusammenhang mit der zugrundeliegenden „Idee des Dichters“, die in den Liedern umgesetzt werde. Bereits die Lektüre der textlichen Vorlage bedeutet für den belesenen Komponisten eine Auseinandersetzung mit einem Sinn, der die jeweilige Vertonung wie von selbst „hervorrufe“ (Klingemann 1909). In den Liedern von Mendelssohn ist das Sujet häufig im Zusammenhang mit einer relativ eindeutig konnotierten Symbolsprache dargestellt, die Naturmetaphern mit einschließt. Dabei bilden diejenigen Lieder, welche auf jahreszeitliche Symbole anspielen einen gewichtigen Anteil. An seinen Freund und Kollegen Karl Klingemann, dessen Gedichte er besonders gern vertonte, schrieb er 1839: Schick mir doch ein Lied oder ein Paar; im Herbst zu singen, oder noch besser im Sommer, oder im Frühling, auf dem Wasser oder der Wiese oder der Brücke, oder im Wald oder im Garten; an den Storch oder an den lieben Gott oder an die Menschen in der Stadt oder in der Ebene; oder zum Tanz oder zur Hochzeit oder zur Erinnerung. (Mendelssohn Bartholdy 1839 [1909], 241)

Mit Blick auf das Liedschaffen ist zudem offensichtlich, dass Mendelssohn zu bestimmten Schaffensperioden Dichter aus je unterschiedlichen Kontexten bevorzugte.

5 Licht und Schatten: Mendelssohns HeineVertonungen Das Verhältnis von Heine und Mendelssohn ist in der Forschung häufig zum Gegenstand geworden. Verkürzt gesprochen kann man resümieren: Mendelssohn schätzte den Dichter, doch erachtete er Heines politische Ambitionen als fragwürdig. Der Komponist meinte, dass Heine sich durchaus zu seinen Ungunsten in die „liberalen Ideen, oder in die Politik“ (Mendelssohn Bartholdy, 1882, 306) versenke. Heine seinerseits warf Mendelssohn seine politisch unengagierte Haltung

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und seinen Glauben vor. Vielzitiert ist ein Brief Heines an Ferdinand Lassalle vom 11.2.1846, der auch in seiner derben Formulierung die Unterschiede beider Künstler hervortreten lässt: „Ich habe Malice auf ihn wegen seines Christelns [. . .]. Wenn ich das Glück gehabt hätte, ein Enkel von Moses Mendelssohn zu seyn, so würde ich wahrlich mein Talent nicht dazu hergeben, die Pisse des Lämmleins in Musik zu setzen.“ (Heine 1976, 194) Bei grundsätzlicher Ablehnung von Heines politischem Engagement und mancher Kritik an seinen Texten, fand Mendelssohn in Heines Reisebildern aus Italien doch „prächtig[e]“ (Mendelssohn Bartholdy 1882, 306) Gedichte. Mendelssohn vertonte dessen Gedichte mit großem Gewinn, deshalb bilden die Heine-Vertonungen, darunter das berühmte MendelssohnLied Auf Flügeln des Gesanges (op. 34), eine zentrale Liedgruppe im Schaffen des Komponisten.5 Augenscheinlich ist, dass Mendelssohn in der Regel die charakteristische textliche Struktur beibehält. Wie nah Mendelssohn an der Vorlage entlang vertont, und in diesem Zuge auch die gelegentlich überraschenden und pointierten Schlusswendungen von Heines Texten musikalisch aufgreift, hat Douglass Seaton anhand einer Interpretation des Reisliedes gezeigt (Seaton 1997). Auch am Schluss des Liedes Neue Liebe lassen sich textlich-musikalische Entsprechungen finden, die einmal mehr die Genauigkeit der Lektüre Mendelssohns dokumentieren. Der Komponist verarbeitete das Gedicht als variiertes Strophenlied, was er durch die Wiederholung des letzten Verses der ersten und der letzten Strophe strukturell ermöglichte. Das Gedicht, im originalen Wortlautet Durch den Wald, im Mondenscheine aus dem Zyklus Neuer Frühling, scheint sich durch seine innewohnende rhythmische Prägnanz besonders zur Vertonung anzubieten, und tatsächlich hatte Heine als er es schrieb wohl eine musikalische Umsetzung durch Albert Methfessel im Sinn.6 Mendelssohn publizierte die Vertonung des Gedichts von Heine 1833 unter dem Titel Neue Liebe7 als op. 19a. Der Komponist brach die von Heine zyklisch arrangierten Gedichte auf und ordnete sie in seinen Sechs Gesängen op. 19a neu an.

5 Wolfram Steinbeck unterstreicht: „Und immerhin bilden die 17 Heine-Vertonungen die größte Gruppe in Mendelssohns Liedschaffen (einstimmige Lieder einschließlich der mehrstimmigen Stücke), größer als die Gruppe nach Texten seines Freundes Carl Klingemann und größer auch als die nach Goethe oder Rückert, den beiden meistvertonten Textdichtern des 19. Jahrhunderts.“ (Steinbeck im Druck). 6 Vergl. dazu die Ausführungen „Zur Lyrik Heinrich Heines“ (Gesse-Harm 2006, 7–52). 7 Die Textvorlage des Liedes Neue Liebe (op. 19[a] Nr. 4) findet sich in Heines Neuen Gedichten (Teil des Zyklus’ Neuer Frühling, Gedicht Nummer XXXII).

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Die Vertonung des Gedichts Durch den Wald, im Mondenscheine steht beispielsweise – entgegen der zyklischen Anordnung von Heine – nun vor dem Lied Leise zieht durch mein Gemüt, das Mendelssohn ursprünglich unter dem Titel Gruss publizierte. Mendelssohn nahm zudem manche Gedichte aus ihrem Zusammenhang und vertonte sie als Solitäre.

Heine

Mendelssohn*

Neuer Frühling XXXII Durch den Wald, im Mondenscheine, Sah ich jüngst die Elfen reuten; Ihre Hörner hört ich klingen, Ihre Glöckchen hört ich läuten.

Neue Liebe

Ihre weißen Rößlein trugen Güldnes Hirschgeweih und flogen Rasch dahin, wie wilde Schwäne Kam es durch die Luft gezogen. Lächelnd nickte mir die Köngin, Lächelnd, im Vorüberreuten. Galt das meiner neuen Liebe, Oder soll es Tod bedeuten?

In dem Mondenschein im Walde Sah ich jüngst die Elfen reiten Ihre Glöcklein hört’ ich läuten

gold’nes Hirschgeweih und folgen kam es durch die Luft gezogen, rasch lächelnd, im Vorüberreiten

* Die folgende Übersicht entstammt der Publikation von Sonja Gesse-Harm 2006.

In der Textvorlage von Heine ist am Beginn des Gedichts eine märchenhafte Szene gegeben: Die Elfen reiten nachts im Wald, der nur durch das Mondlicht beleuchtet ist. Mendelssohn beginnt das Lied, das im 2/4-Takt steht, mit einem 11-taktigen Vorspiel im Presto. Auftaktig und durch die starken Rhythmisierungen ist der Bezug des Notentextes weniger auf die unheimliche Nachtsphäre im Wald zu beziehen, als vielmehr auf die im zweiten Vers bei Heine benannten reitenden Elfen. Der in der Literatur gängige Begriff der „Elfenmusik“ scheint aber insofern irreführend, als die Elfen nicht schillernd-irisierend umherschweben, sondern den Wald im wilden Galopp („presto“) durchqueren. Der Komponist inszeniert die reitenden Elfen als starken Bewegungsimpuls. In schnellstem Tempo, stakkatiert und rhythmisch durchbrochen, erinnert die rhythmische Faktur an das Getrappel von Pferdehufen. Auch im Vergleich zu Mendelssohns Reiterlied zeigt sich, dass der Komponist den Rhythmus des Pferdegalopps nachgerade körperlich erfahrbar gestaltet (Vergl. hierzu das Reiterlied in Mendelssohn Bartholdy, 2009).

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Die Sphäre des Märchens findet sich in der Liedkomposition eher im harmonischen Setting, sozusagen in der tonmalerischen Kulisse: Das Lied beginnt nur mit einem oktavierten Ton (cis1 und cis2), um erst in Takt drei die Tonart offensichtlich werden zu lassen. Mendelssohn lässt ein fis-Moll folgen, womit er der harmonischen Unbestimmtheit eine dominantische Spannung hinzufügt. Auffallend sind auch die dissonanten Durchgänge (wie in T. 7 auf a–cis–e), die bei Mendelssohn für harmonische Spannungsmomente sorgen. Von ausgesuchter Prägnanz ist die diatonisch absteigende Sequenz in den Takten 94–102: Im Unterschied zu den tobenden Elfen scheint der Auftritt der Königin tatsächlich schwerelos. Sie schwebt, fast überirdisch, veranschaulicht durch die herabsinkende Sequenz auf halben Notenwerten, vorbei. Diesmal ist es nicht nur die harmonische Gestalt, sondern auch das rhythmische Innehalten und der melodische Verlauf, welche die Anwesenheit der Königin durch eine ganz eigene musikalische Sphäre physisch erfahrbar machen. Der für das Lied charakteristische lebhafte, markante Grundrhythmus wird mit dem Auftauchen der Elfenkönigin gänzlich unterbrochen. Eine dramatische Dimension erhält jenes Stillstehen durch die Viertelpause, die Mendelssohn nach der Frage „Galt das meiner neuen Liebe?“ noch mit einer Fermate versieht. Es liegt nicht fern, dies als Anhalten der Zeit zu interpretieren, denn ihr Auftritt scheint die sie umgebene Welt in ihren Bann zu ziehen. Die Anwesenheit der Königin markiert somit einen Perspektivwechsel: An ihren Auftritt schließt sich eine Reflexion des lyrischen Ichs an. Im Duktus bleibt Mendelssohn im getragenen Modus. Die von dem lyrischen Ich zurückgenommen artikulierten Verse „Galt das meiner neuen Liebe? | Oder soll es Tod bedeuten?“ sind musikalisch eingebettet in die Sphäre des Geheimnisvollen, die durch die langen Notenwerte wie eine Überlappung der Aura der Königin anmuten. Wie drastisch die Todesahnung vom lyrischen Ich empfunden wird, verdeutlicht der Komponist außerdem durch die auffallend disharmonische Anlage: dem Fis-Dur-Akkord folgt ein doppeldominantischer Septnonenakkord (Gis9/7), der nahelegt, dass der Tod hier nicht als Erlösung, sondern als Bedrohung apostrophiert ist. Einigermaßen abrupt schließt sich dem Auftritt der Königin und der sich anschließenden Reflexion (wieder über das dominantisch ausgerichtete cis und eine Überleitung zum Fis-Dur) eine kurze Wiederholung des Klaviervorspiels an. Die Aura der Todesahnung wird somit jäh durchbrochen durch das wieder aufgegriffene Klaviervorspiel. Die Klavierbegleitung spielt im Lied Neue Liebe eine entscheidende Rolle, denn die beiden Hauptmotive werden hier nicht nur exponiert, sondern sie beschließen auch das Lied. Nicht das lyrische Ich füllt das Liedfinale dramaturgisch aus, sondern am Ende steht die Wald-Szene mit den reitenden Elfen als

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Schlussbild. Doch nicht nur im Klavier, sondern auch im Gesang finden sich zu Beginn des Schlussteils im Pianissimo kurze Notenwerte, die analog zur stakkatierten Klavierbegleitung gesetzt sind. Die Singstimme nimmt jene markante Faktur noch zusätzlich auf, indem Mendelssohn bei insgesamt enger Intervallik solch pointierte Intervallsprünge einflicht, die bis zu einer Oktave umfassen. Umso stärker ist der Kontrast zu den extrem langen Tondauern, die Mendelssohn den Worten „reiten“ in T. 16–18 und „läuten“ in T. 24–26 unterlegt. Die geheimnisvolle Mondschein-Szenerie durchkreuzen die Elfen, was Mendelssohn in einer diametral entgegengesetzten Tonsprache zum Ausdruck bringt. Es scheint so, als hätte Mendelssohn den Titel von Heinrich Heine Durch den Wald, im Mondenscheine, dem eine Passage als immanente Bewegung eignet, nicht einfach ersetzt, sondern in die musikalische Faktur verlegt. Bemerkenswert ist, dass Mendelssohn selten Worte unmittelbar illustriert, aber dennoch den Textgehalt in musikalische Ausdrucksmittel überträgt. Douglass Seaton beschreibt dies wie folgt: Die Musik, welche diese Texte zum Ausdruck bringt, weist eine beträchtliche Spannweite des Ausdrucks auf. Dennoch verwenden die Lieder kaum direkte Wortmalerei, ganz im Einklang mit Mendelssohns übrigen ästhetischen Grundsätzen. Andererseits stimmt jeder Text in überzeugender Weise mit seiner musikalischen Formulierung überein. (Seaton 1997, 26)

Mendelssohns Reiter-Elfen-Lied wird in der Literatur zuweilen mit der Sommernachtstraum-Ouvertüre verglichen, was in Hinblick auf den harmonischen Verlauf, der eine märchenhafte, schwebende Szene assoziieren lässt, nachvollziehbar ist. Schief ist dieser Vergleich deshalb, weil Mendelssohn durchaus nicht nur die Elfen-Szene im Wald eindimensional illustriert, sondern anhand von musikalischen Gestaltungsmitteln verschiedene Perspektiven anbietet. Die Annahme, dass Mendelssohn der Unaufgelöstheit des Heine-Gedichtes, die sich am Schluss manifestiert in der offenen Frage „Galt das meiner neuen Liebe, oder soll es Tod bedeuten?“, musikalisch eine Wendung gibt, die eine implizite Bejahung des ersten Teils enthält und damit die bewusst evozierte Spannung am Ende aufhebt, erweist sich bei genauerer Analyse als zu kurz gegriffen. Die Plastizität, mit der bei Mendelssohn bereits in den Eingangstakten das Szenario entworfen wird – Schmidt-Beste bezeichnet die Vertonungsweise als „nahezu tonmalerisch“ (Schmidt-Beste 2000, 128) – zieht sich durch das gesamte Lied. Dadurch, dass die bedächtig voranschreitende Melodie der Singstimme mitten im letzten Wort (und in den Halteton der Singstimme hinein) durch die stakkatierten Achtel- und Sechzehntelnotenakkorde des Klavierparts kontrastiert wird, ist gleichsam ein Verfremdungsmoment geschaffen, das der vermeintlichen Eindeutigkeit dieser Takte eine zweite Deutungsebene

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hinzufügt. Der Komponist interpretiert das Gedicht über die kompositorische Faktur – und dies auf ähnlich doppeldeutige Weise, wie der Heine-Text es vorgibt. Die Wechselhaftigkeit der Perspektive des Heine-Gedichtes, die zwischen der Sphäre des Märchenhaften und einer Distanzierung changiert (Gesse-Harm, 2006, 168–170), wird auch bei Mendelssohn als Vexierspiel zwischen Traum und Wirklichkeit vertont. Die Autorin Sonja Gesse-Harm kommt zu einem anderen Schluss, nämlich dem, dass die formale und harmonische Anlage des Liedes ein „homogenes Bild“ (Gesse-Harm 2006, 172) ergebe. Das „nahezu unverändertes Arrangement der Motive und der Harmonik“ verhindere einen dramatischen Spannungsaufbau, der im durchkomponierten Lied möglich gewesen wäre. Sie bemerkt zwar die Varianten, die Mendelssohn in die strophische Form einflicht, doch erklärt sie, dass es sich hier um kaum mehr als Dekors handele. In ihren Ausführungen folgt eine deutliche Schmälerung der kompositorischen Leistung im Vergleich zum dichterischen Original, der die Doppeldeutigkeit und die kritische Distanz zu romantischen Topoi eigne, die Mendelssohn „keinesfalls“ (Gesse-Harm 2006, 173) aufböte. Mendelssohn erweise sich als Komponist, der „ohne über weitere Strukturen des Textes zu reflektieren“ den Dichter Heine nicht als „geistreichen Parodisten romantischer Topoi, sondern als romantischen Stimmungslyriker in Erscheinung treten“ (Gesse-Harm 2006, 174) ließe.

6 Heroenbilder Gewinnbringender als der von Sonja Gesse-Harm konstatierte Vorwurf der Unterkomplexität ist es meines Erachtens die Lieder zwar als Teil ihres jeweiligen kulturellen Lebensraumes zu verstehen, sie aber weder als Gelegenheitsarbeiten zu marginalisieren noch auf ihre kommunikative Funktion zu beschränken. Die Gattung Lied galt den Dichtern und Komponisten im neunzehnten Jahrhundert durchaus als geselliges Format, mit gleichem Gewicht aber auch als affektive Ausdrucksmöglichkeit wie als literarisches und kompositorisches „Experimentierfeld“.8 An die Stelle einer vorschnellen Geringschätzung können Lieder auch als Seismograph der gesellschaftlich relevanten Themen wie der literatur- und musikästhetischen Tendenzen jener Zeit begriffen werden. Eine Einordnung der Lieder Mendelssohns vor dem Hintergrund des literarischen

8 Der Begriff, den Felix Wörner mit Blick auf das Liedschaffen der Zweiten Wiener Schule verwendet, ist im gleichen Maße für die Bedeutung des Liedes im 19. Jh. zutreffend. Vgl. Wörner 2015, 91–111.

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Diskurses in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erweist sich schon deshalb als essentiell, weil für diese Zeit das In-Beziehung-setzen der Künste und Gattungen, insbesondere der Dichtung, der Philosophie und der Musik kennzeichnend ist. Der Komponist Udo Zimmermann hat die Liedgattung in diesem Sinne charakterisiert: Hier kommen Gedicht und Musik, also zwei Arten von Kunst, zusammen, um ein Drittes zu bilden, das Lied. Das sich Einlassen der Musik auf das Gedicht setzt beim Komponisten ein Verstehen des Gedichts voraus, das seine Vertonung prägt. Die Vertonung dokumentiert, wie der Komponist das Gedicht verstanden hat, sie ist ein in Musik geronnenes Verstehen des Gedichts, ein „Verstehen von Kunst durch Kunst“ (Hans Heinrich Eggebrecht). (Zimmermann 2006, 181)

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Hoffmanns Erzählungen erzählen oder: Oper als Erzählung 1 Oper als Erzählung. Grundlegende Überlegungen Wenn sich der vorliegende Aufsatz mit Oper als Erzählung beschäftigt, wird es nicht um narrative Passagen im Libretto gehen und auch nur im Vorübergehen um einen an die transgenerische Narratologie angelehnten Versuch, das der Oper zugrundeliegende Drama als Erzählung zu bestimmen. Das Hauptinteresse liegt vielmehr beim musikalischen Part der Oper, dessen narrative Funktion untersucht werden soll. Anders als in der rezenten Forschung zu Musik und Erzählung vorgeschlagen,1 hält der Aufsatz dabei an einem engen Begriff der Erzählung fest, insofern er sie nach wie vor als Verknüpfung von discours (Art und Weise der narrativen Darstellung bzw. das „Wie“ des Textes) und histoire (die erzählte Geschichte bzw. das „Was“ des Textes) versteht. Andererseits schließt er aber an eine mit Seymour Chatman (1978) transgenerisch und transmedial erweiterte discours-Definition an, die nicht nur im traditionellen Erzähler, sondern auch in anderen Darstellungsweisen von histoire eine ihm vergleichbare Vermittlungsfunktion gegeben sieht. In dem metaphorischen Sinn, in dem Chatman vom „cinematic narrator“ spricht, wird im Folgenden daher von einem „operatic narrator“ zu sprechen sein, der in aller Regel eine heterodiegetische Instanz bildet, in seltenen und unten noch zu diskutierenden Fällen jedoch auch homodiegetische Formen annehmen kann. Es ist oft und gerade im jüngeren Kontext der transgenerischen Narratologie versucht worden, das Drama als Erzählung zu bestimmen (Muny 2008; Bowles 2010; Korthals 2003). Im Rahmen des hier verwandten engeren Begriffs der Erzählung kommen dafür drei Ansatzpunkte in Frage. Erstens kann das Augenmerk auf narrative Passagen in Dramen gelegt werden. Dadurch rückt jedoch nicht so sehr das Drama als Erzählung in den Blick, sondern das enactment

1 Zum Beispiel: Wolf 2008. Anmerkung: Dieser Aufsatz wurde 2013 konzipiert und 2015 in den Druck gegeben, der jedoch erst 2019 erfolgte. Seit 2015 erschienene Literatur zum Thema konnte nachträglich nicht mehr eingearbeitet werden. https://doi.org/10.1515/9783110630756-010

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von Erzählung im Drama. Zweitens kann das Drama über seine Paratexte als Erzählung bestimmt werden, insofern etwa in den Regieanweisungen eine vermittelnde Instanz in Erscheinung tritt, die das Geschehen perspektiviert; in der Bühnenregie wird diese Instanz dann ausgebaut und sichtbar gemacht. Drittens können, wie das Peter Szondi schon 1956 getan hat, solche Dramen in den Blick genommen werden, die eine Perspektivierung insofern implizieren, als sie einen subjektiven Standpunkt einnehmen und in metareflexiven Passagen nicht selten dieses Subjekt auch als Urheber des Dramas kenntlich machen (Szondi 1956). Szondi spricht hier vom „epischen Ich“, das dem Drama in der Krise zur Hilfe kommt. Wendet man sich von hier aus der Oper zu, so lassen sich die gleichen Ansätze zunächst einmal auch auf das Libretto anwenden. Es kann ebenso auf sein enactment von Erzählung und auf die Perspektivierung durch Paratexte oder Subjektivierung untersucht werden. Entscheidend ist aber, dass in der Oper mit dem instrumentalmusikalischen Part eine ganze Ebene vorhanden ist, über die das Sprechtheater nicht verfügt und die als ausgeprägte Vermittlungsinstanz verstanden werden kann. Vergleicht man das Drama mit der Oper, erscheinen die Möglichkeiten, ersteres als Erzählung zu fassen, darum sehr beschränkt, während die Oper geradezu danach zu verlangen scheint, in der Musik eine dem traditionellen Erzähler vergleichbare Rolle auszubilden. Deshalb ist der weite Begriff der Erzählung, den Werner Wolf für die „Erzählmusikforschung“ vorgeschlagen hat, für die Frage nach der Oper als Erzählung wenig geeignet. Denn er unterscheidet nicht zwischen einem „als Performanz vergegenwärtigten Geschehen“ und einem „Bericht eines Erzählers über Vergangenes“ (Wolf 2008, 28) und versteht darum das enactment von Geschichten grundsätzlich auch als Erzählung, sodass er die Oper – anders als die Instrumentalmusik, der nicht in dieser Eindeutigkeit eine histoire zugeschrieben werden kann – ganz selbstverständlich unter sich begreift. Narratologisch interessanter wird es erst, wenn man einen diegetischen Begriff der Erzählung heranzieht, der, wenn nicht einen identifizierbaren Erzähler, so doch mindestens eine ähnliche Instanz einfordert, die die Geschichte perspektiviert. Das wird nicht nur dem Spiel der Oper mit dem enactment von Erzählsituationen sowie mit Bühnenmusik gerechter, sondern dieser engere Begriff macht es auch erst möglich, die narrative Qualität von Oper herauszuarbeiten,2 insofern sie über den instrumental-musikalischen Part über eine weitere, dem Drama fehlende Vermittlungsebene verfügt.3 2 Der im vorliegenden Aufsatz verwendete Begriff der Erzählung ist somit ein gradueller; vgl. dazu auch Wolfs „prototypische Konzeptualisierung“ des Erzählerischen (Wolf 2008, 21–22). 3 Eine Ausnahme von der von mir kritisierten Regel der „Erzählmusikforschung“ stellen Carolyn Abbates Arbeiten zur „narrative music“ dar (1991). Sie bezieht nicht nur Oper in ihre

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Die Überlegung, wie sich die musikalische und sprachliche Ebene sowie die Handlungsebene in der Oper zueinander verhalten (sollen), ist so alt wie diese Kunstform selbst. Es stellt sich zunächst die Frage nach der Hierarchie der Ebenen von Musik und Sprache: Soll sich die Musik als bloße Vertonung eines Textes begreifen, soll sich das Libretto den Gepflogenheiten der Musik anpassen oder sind beide als gleichursprünglich zu verstehen? Zweitens geht es um die Frage nach der Eigenständigkeit der Musik: Unterstützt sie die sprachlichen Aussagen, färbt sie diese (auch in unerwarteter Weise) ein oder kommentiert die Musik die sprachliche Aussage (gegebenenfalls auch kritisch)? Die Filmmusikforschung hat für die zuletzt genannten drei Möglichkeiten die Begriffe der Paraphrasierung, der Polarisierung und der Kontrapunktierung vorgeschlagen (Pauli 1976). Sie sollen hier aufgegriffen werden, um das erzählerische Potential der Oper genauer zu fassen. Die größte Nähe zur Erzählung, verstanden als Verknüpfung von discours und histoire, weist die Oper dann auf, wenn sich der musikalische Part kontrapunktierend oder polarisierend zum Bühnengeschehen verhält, weil er dann ganz deutlich als der Geschichte externe Vermittlungsinstanz fungiert. Geht man im Kontext einer konkreten Opernanalyse jedoch erst einmal davon aus, dass dem Orchesterpart eine solche Funktion zukommt, wird auch die Paraphrasierung narratologisch interessant. Denn dann lässt sie sich als Verzicht auf Kommentierung zugunsten der Identifikation etwa mit einer Figur lesen, der dann im Sinne Szondis die Rolle eines epischen Ichs beziehungsweise narratologisch gesprochen eines homodiegetischen Erzählers zugesprochen, oder – wenn die Paraphrasierung weite Passagen bestimmt – mit allen Figuren, die dann als Hinweis auf eine Art auktorialen Erzählmodus verstanden werden könnte. Besonders produktiv ist die These, dass es sich bei der Oper um eine Erzählung handelt, für solche Werke, deren Libretti ursprünglich Erzähltexte zu Grunde lagen. Bei ihnen lässt sich nämlich nicht nur die Transformation von Erzählung in dramatischen (Libretto-)Text und damit das Verschwinden (oder vielmehr die Transformation) des Erzählers studieren, sondern auf der Ebene der fertigen Oper dann vor allem untersuchen, ob und inwiefern der Erzähler über den Orchesterpart in das Stück zurückkehrt. Das möchte ich im Folgenden anhand von

Überlegungen ein, sondern macht sich auch explizit auf die Suche nach einer Erzählerstimme im Orchesterpart. Hier gilt es anzuschließen, wenn die Frage nach der Oper als Erzählung weiterverfolgt werden soll. Gleichzeitig möchte ich mich jedoch auch von Abbates Ansatz abgrenzen, weil ich die Erzählung nicht nur als seltenen Moment, sondern als bestimmend für die ganze Kunstgattung Oper, zumindest seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, begreife und weil ich auch keine Suche nach einer „unheimlichen“ „physischen Präsenz“ in der Musik unternehmen möchte, wie sie Abbates ganze Unternehmung, sicher angeregt durch Genettes Begriff der (erzählenden) „Stimme“, leitet (Abbate 1991, z. B. 11).

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Jacques Offenbachs Les Contes d’Hoffmann (UA 1881) unternehmen. Die unvollendete Oper basiert auf einem Libretto von Jules Barbier, das wiederum auf dem gleichnamigen Drama von Barbier und Michel Carré (UA 1851) beruht, welches seinerseits auf Erzählungen E.T.A. Hoffmanns, namentlich Der Sandmann, Rat Krespel und Die Abenteuer der Sylvesternacht zurückgreift; außerdem hat ohne Zweifel die Erzählung Don Juan für die Konzeption eine wichtige Rolle gespielt.

2 Hoffmanns Erzählungen Die Erzählungen Hoffmanns zeichnen sich durch eine Multiplizierung der Erzählperspektiven aus. Dazu dient u. a. das Spiel mit der Herausgeberfunktion wie auch die Inszenierung des Erzählvorgangs in Rahmenhandlungen. Bei den Abenteuern der Sylvesternacht handelt es sich zum Beispiel um ein von einem anonymen Herausgeber mitgeteiltes „Tagebuchblatt“ eines „reisenden Enthusiasten“, das allerdings in Briefform verfasst ist, insofern es, wie auch die Ich-Erzählung im Don Juan, an einen „Theodor“ adressiert ist. In diesem Tagebuchblatt nimmt wiederum der reisende Enthusiast eine Herausgeberfunktion ein, wenn er ein Manuskript Erasmus Spikhers wiedergibt, in dem dieser die „Geschichte vom verlornen Spiegelbilde“ erzählt, die vom reisenden Enthusiasten als Lebensgeschichte Spikhers verstanden, im Manuskript aber von einem neutralen Erzähler geschildert wird. Was in den Abenteuern der Sylvesternacht und im Sandmann die Herausgeberfiktion, ist im Rat Krespel die Rahmenhandlung. Um den Serapionsbrüdern den „sanften Übergang vom Wahnsinn durch den Spleen in die völlig gesunde Vernunft“ zu ermöglichen – ein Vorhaben, das von Lothar im Anschluss auf das Nachdrücklichste in Frage gestellt wird –, erzählt Theodor ihnen die Geschichte vom Rat Krespel, die zwar „fantastisch aus[ge]schmück[t]“ (Hoffmann 1985–2004, Bd. 4, 39) scheine (und Lothar wird das nachher bestätigen), tatsächlich sich aber wirklich so zugetragen habe. In die Ich-Er-zählung Theodors von der Begegnung mit Rat Krespel ist wiederum die Lebens-Erzählung des Rat Krespel selbst eingelassen – allerdings in der Nach-Erzählung durch Theodor. Diese Verschachtelung und Multiplizierung der Erzählperspektiven sorgt dafür, dass der Leser nachdrücklich auf den discours aufmerksam gemacht wird. Dazu trägt auch das enactment des Erzählaktes bei, wie es die Rahmen erzählungen vornehmen, wie es aber auch die Herausgeberfiktion impliziert, wenn der Herausgeber seine Stellung zum Herausgegebenen thematisiert. Doch muss diese Hervorhebung des discours noch nicht bedeuten, dass die Wahrheit der histoire durch den Leser in Frage gestellt würde. Metanarration ist nicht gleich Metafiktion, wie Ansgar Nünning an anderer Stelle betont hat (Nünning 2001, 32–33). Im Gegenteil führt sie hier vordergründig eher dazu,

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den dokumentarischen Charakter des Erzählten zu unterstützen. Tagebücher, Briefe und autobiographische Lebensbeschreibungen wollen nicht als fiktionale, sondern als quasi dokumentarische Texte begriffen werden. Diese Tendenz wird untermauert durch einen Herausgeber, der sich vermeintlich jeden Eingriffs enthält und, wie etwa im Fall des Sandmanns, auch nicht eindeutig Partei ergreift für eine der unterschiedlichen brieflichen Beurteilungen des Geschehens, oder auch durch einen Rahmenerzähler, der das Erzählte als seine eigenen Erlebnisse ausweist. Hier wird offenbar nirgendwo etwas erfunden, sondern nur tatsächlich Vorgefallenes berichtet, wie die Erzählerfiguren nicht müde werden zu betonen. Doch werden Hoffmanns Erzählerfiguren andererseits immer wieder der Unzuverlässigkeit überführt. Die Serapionsbrüder, allen voran Lothar, hegen große Zweifel, dass man Theodor glauben kann. Falls es sich überhaupt um einen autobiographischen Bericht handelt, argwöhnen sie mindestens, er habe unerlaubt viel hinzuerfunden, um „dem Ganzen einen geheimnisvollen Anstrich zu geben“ (Hoffmann 1985–2004, Bd. 4, 65). Auch dem „reisenden Enthusiasten“ kann man nicht trauen, verdächtigt er sich doch selbst oft genug des Wahnsinns, und den Erzählungen Spikhers und Krespels erst recht nicht, hatten sie doch zuvor Theodor und der reisende Enthusiast als zweifelhafte Figuren gekennzeichnet. Im Sandmann wird das Problem der Glaubwürdigkeit des Erzählers auch auf symbolischer Ebene anhand des Taschenfernrohrs thematisiert, das die Objektivität der Wahrnehmung als immer schon perspektivierte entlarvt; auch der Herausgeber reflektiert dieses Problem, wenn er die unterschiedlichen Perspektiven auf das erzählte Geschehen in den drei Briefen diskutiert. So neutral er sich dabei gibt, präsentiert er sich doch zuletzt als Autor, der nichts als ein „innere[s] Bild [. . .]“ vor die Augen der Zuhörer gestellt habe (Hoffmann 1985–2004, Bd. 3, 26). Die Frage, ob man Nathanaels Perspektive auf die Geschichte glauben soll oder nicht, wird so durch die umfassendere Frage abgelöst, ob man dem nur vermeintlich unbeteiligten Herausgeber überhaupt trauen kann. Die geschilderte Problematik kann seit Tzvetan Todorov als strukturelles Merkmal eines phantastischen Narrativs verstanden werden (Todorov 1992); nicht die mysteriösen Ereignisse sind es, die das Phantastische der Erzählungen Hoffmanns ausmachen, sondern eine narrative Struktur, die den Leser gezielt im Zweifel über den Status des Erzählten lässt. Im Hinblick auf die hier zu untersuchende Transformation der Erzählungen in einen Theatertext ist darum zunächst einmal zu fragen, wie sich ein solches Narrativ überhaupt in ein Drama übertragen lässt.4 Dazu ist zunächst einmal

4 Die Frage stellt auch schon Heather Leigh Hadlock, allerdings mit Blick auf die Oper (Hadlock 2000, 17–21). Sie kommt ebenfalls zum Schluss, dass „the opera’s true Hoffmannisme

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zu konstatieren, dass sich sowohl das Drama wie auch die spätere Oper explizit dem Genre des Phantastischen zuordnen: Es handelt sich um ein Drame fantastique beziehungsweise um eine Opéra fantastique. Der Begriff des Phantastischen stand im Zentrum der französischen Hoffmannrezeption, nachdem 1830 Charles Nodier Hoffmanns Texte gegen Walter Scotts heftige Kritik verteidigt hatte. Kernpunkt dieser Verteidigung war die Situierung der Hoffmann’schen Phantastik in der Realität. Das heißt, das Phantastische, das Nodier an Hoffmann schätzte und auf das auch Barbiers und Carrés Drama setzt, ist nicht das Märchenhaft-Phantastische, sondern eher das WahnsinnigPhantastische, d. h. ein Phantastisches, das als Wahn in der realen Welt vorhanden und legitimiert ist.5 Je klarer es sich allerdings als Produkt eines Wahns zu erkennen gibt, desto mehr geht ihm das verloren, was nach Todorovs wirkungsästhetischer Definition das Phantastische gerade auszeichnet. Denn dann ist es nicht mehr auf dem schmalen Grad der Unschlüssigkeit zwischen Wunderbarem und Unheimlichem situiert, sondern entscheidet sich gewissermaßen für den Wahn und nimmt dem Rezipienten so den Reiz des unauflösbaren Zweifels. Eben das gilt auch für das Drama, über das nun zu sprechen sein wird.

3 Offenbachs Les Contes d’Hoffmann In seinem Aufbau übernimmt das fünfaktige Drama die Struktur der Rahmung, wie sie die Texte Hoffmanns vorgeben: Drei Binnenakte, in denen jeweils die Erlebnisse des jungen Hoffmanns mit Olimpia, Antonia und Giulietta gezeigt werden, werden durch einen ersten und einen fünften Akt gerahmt, die dem enactment des Erzählvorgangs gelten: Der alte Hoffmann und seine Trinkfreunde sitzen in einer Kneipe, und Hoffmann, erfolgreicher Dichter und erfolgloser Liebender, gibt die drei vermeintlich autobiographischen Frauengeschichten zum Besten. Drama als Erzählung sind die drei Binnenakte also schon allein deswegen, weil ihnen auf diese Weise ganz explizit eine dramatische Vermittlungsebene vorgeschaltet wird: Was sie zeigen, zeigen sie aus der Perspektive Hoffmanns. Begriffe man den alten in Kontinuität zum jungen Hoffmann, ließe sich Hoffmann also als episches Ich im Sinne Szondis verstehen, dessen subjektiven Standpunkt

lies in Offenbach’s music“ (Hadlock 2000, 18) – allerdings vorwiegend mit Blick auf die Verwendung der Bühnenmusiken. 5 Vgl. Neumann 1988, 46. Vgl. zur Unterscheidung von märchenhaft-phantastisch (bei Baudelaire) und wahnhaft-phantastisch (bei Nodier) in der französischen Hoffmann-Rezeption auch Miller 1980.

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die Binnendramen einnehmen. Anders sieht es jedoch aus, wenn man das Augenmerk auf die Differenz zwischen dramatisch erzählendem und erzähltem Hoffmann legt.6 Wo der junge Hoffmann sich noch naiv-verliebt den Frauen seiner Wahl verschreibt, legt der alte Hoffmann einen zynisch-enttäuschten Blick an den Tag, der, und das ist entscheidend, auch die Präsentation der Binnenakte prägt. So folgt der Olimpia-Akt zum Beispiel nicht der Täuschung des jungen Hoffmann, dass Olimpia eine lebendige Frau sei, sondern dem nachträglichen Wissen des alten Hoffmann, dass es sich dabei nur um einen Automaten handelte. Dafür sorgen zum einen die Szenen mit Spalanzani und Coppelius, in die der alte Hoffmann – anders als in der Ausgangserzählung – auktorial Einsicht gibt und den Figuren so das Mysteriöse ebenso nimmt wie er sie ins Komische verzerrt. Dafür sorgt zum anderen die Entscheidung in der Uraufführung, den Gesang Olimpias nicht durch die Schauspielerin ausführen zu lassen, sondern durch ein hinter der Bühne spielendes hohes Englischhorn. So wird ihre NichtMenschlichkeit, ihr instrumenteller Charakter für den Zuschauer sogleich hörbar, bleibt, anders als in der Ausgangserzählung, nicht zweifelhaft.7 In den anderen beiden Binnenakten wird die Zweifelhaftigkeit des Geschehens ebenfalls minimiert, unter anderem dadurch, dass die Geschichten von Rat Krespel und von Erasmus Spikher in Hoffmanns Erlebnisse integriert werden. So steht im Giulietta-Akt Hoffmann selbst an Spikhers Stelle, und im Antonia-Akt wird, was in der Ausgangserzählung auch als ein nächtlicher Alptraum Krespels hätte verstanden werden können – der Tod Antonias durch verbotenen Gesang –, vor den Zuschauern als Zeugen des Geschehens ausagiert. Die Binnenakte sind also insgesamt durch die Perspektive des alten Hoffmann als intra- und heterodiegetischem Erzähler vermittelt, verglichen mit den Ausgangserzählungen werden Schachtelstruktur und Multiperspektivität dabei jedoch minimiert: Das Drama erscheint in den Binnenakten als eindimensionale Erzählung. Zwar kommt den unglaublich erscheinenden Ereignissen so eine größere Faktizität zu; zugleich werden diese aber eindeutiger als in den Ausgangserzählungen als Einbildungen Hoffmanns offenbart, so etwa auch durch die Entscheidung in der Uraufführung, die Frauen- und die Gegenspieler-Figuren in den Binnendramen jeweils von einer einzigen Schauspielerin beziehungsweise einem einzigen Schauspieler darstellen zu lassen. Kann man also die Binnenakte als eindimensionale Erzählung fassen, wie verhält es sich dann mit den beiden Rahmenakten? Sie präsentieren ein

6 Dem entsprechen zwei verschiedene Phasen der Hoffmann-Rezeption in Frankreich, wie Hadlock zeigt (Hadlock 2000, 23–31). 7 Vgl. Hadlock 2000, 39; auch Neumann erwähnt das Englischhorn (Neumann 1988, 83).

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enactment von Erzählung, aber lassen sie sich auch selbst als Erzählungen begreifen? Während in den Serapionsbrüdern die Gespräche der Freunde, aus denen die Erzählungen hervorgehen, durch einen Herausgeber vermittelt werden, der sich im Vorwort als literarischer Autor und insofern auch als extradiegetischer Erzähler zu erkennen gibt, fehlt in den Rahmenakten eine solche Ebene. Zwar lassen sich durchaus Regisseure des Geschehens ausmachen, so vor allem die Muse, die das Genie durch Alkoholgenuss zum Dichten anregt und damit den Handlungsablauf entscheidet (Verzicht auf die Liebe zugunsten der Kunst). Es lassen sich auch zwei Intertexte der Rahmenakte ausmachen, und zwar zum einen Mozarts Don Giovanni, der in dem an die Kneipe angrenzenden Opernhaus aufgeführt wird und unter anderem über die Donna-Anna-Sängerin Stella, in der sich die Figuren Olimpias, Antonias und Giuliettas vereinen, mit den gleichzeitig erzählten Erlebnissen Hoffmanns verwoben wird; sowie die Don Juan Erzählung Hoffmanns, die die räumliche Struktur (Zimmer mit Geheimtür zum Opernhaus, in dem Don Giovanni gegeben wird) und die Thematik (Hoffnung des Genies auf Erlösung durch die Frau, so die Interpretation des Don Giovanni-Plots durch den reisenden Enthusiasten) vorgibt. Aber weder bei der Muse noch bei den beiden Intertexten handelt es sich um extradiegetische Instanzen, durch die die Rahmenakte vermittelt würden. Drama als Erzählung werden die beiden Rahmenakte mithin erst nach ihrer Transformation zur Oper, über die nun zu sprechen sein wird.8 Bleiben wir dafür erst einmal bei den Binnenakten. Auffällig an dieser Oper ist zunächst der hohe Anteil an Bühnenmusik, das heißt von Musik, die von den Figuren der Oper auch als solche gesungen oder gehört wird, so zum Beispiel die Trinklieder der Studenten, die Lieder Hoffmanns oder die Lieder Olimpias und Antonias. Sie werden zum einen der Gattung der Dialogoper mit gesprochenen Szenen gerecht, zu der Offenbach das als durchkomponierte Oper geplante Stück nach dem Konkurs des Théȃtre de la Gaité-Lyrique abändern musste (Dahlhaus 1988, 309). Sie übernehmen aber auch, wie bereits Heather Hadlock argumentiert hat, eine wichtige Rolle für die musikalische Etablierung eines phantastischen Narrativs.9 Denn die Bühnenmusiken unterstützen die dokumentarische Qualität

8 Die Abänderung des Dramen- zum Librettotext bespreche ich hier nicht, weil im Libretto nur „Handlungszüge gestrafft [und] strukturelle Verstärkungen vorgenommen“ (Neumann 1988, 83) werden, die die Frage nach der Narrativität kaum tangieren. Auch auf die schwierige Quellenlage zur Oper werde ich nicht weiter eingehen. Ich orientiere mich in meinen Untersuchungen an der Partitur der Oeser-Fassung, Aufnahmen der Oeser- (Cambreling, Bruxelles) und der Kaye/Keck-Fassung (Nagano, Lyon) sowie in Bezug auf Handlungsverlauf und Librettotext am Zensur-Libretto (Offenbach 2005). 9 Vgl. für das Folgende: Hadlock 2000, 36–41.

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der unglaublichen Ereignisse, indem sie zum einen eine akustische couleur locale herstellen und das jeweilige Geschehen so lebensnäher erscheinen lassen. Zum anderen, indem sie die Zuschauer an einigen Stellen mit den Ohren des jungen Hoffmann hören und so dessen Täuschungen zur Realität werden lassen. Das betrifft beispielsweise den Gesang der Olimpia im 2. Akt. Dieser wird in der Oper nicht mehr durch ein Englischhorn wiedergegeben, sondern von Olimpia selbst gesungen, so dass, wie Hadlock schreibt, „acoustic ‚delusion‘ [becomes] real, because the audience is compelled to share it with Hoffmann: what Hoffmann hears, we hear“ (Hadlock 2000, 39). Erzähltheoretisch gesprochen wird an dieser Stelle also durch die Bühnenmusik die Perspektive des desillusionierten alten Hoffmann durch die des jungen Hoffmann ersetzt. Der erzählte Hoffmann wird so momenthaft ebenfalls zum Erzähler und kann insofern an dieser Stelle tatsächlich als ein episches Ich im Sinne Szondis verstanden werden. Die Divergenz zwischen der dramaturgisch ja noch immer präsenten heterodiegetisch-distanzierten Erzählperspektive des alten Hoffmann (man denke an die Spalanzani-Coppelius-Szenen) und der autodiegetischinvolvierten Perspektive des jungen Hoffmann wird dem phantastischen Narrativ der Ausgangserzählungen gerecht: Sie lässt das Publikum zweifeln, welcher Version der Geschichte es trauen soll. In der Inszenierungsgeschichte hat sich dieser Zweifel als ein vermeintlicher Zwang zur Entscheidung niedergeschlagen: Mal hat man Olimpia als Aufzieh-Automat vorgeführt und die Sängerin zu einer möglichst instrumentellen Darbietung des Gesangs animiert, mal sie als seelenvolle Sängerin gezeigt, an deren Automatenwesen der Zuhörer nach ihrer Arie gerade nicht mehr glauben mag (vgl. z. B. die Inszenierungen von Pierre Cavassilas 1993 an der Opéra National de Lyon und von Robert Carsen 2000 an der Opéra national de Paris). Die Bühnenmusiken dienen also einer Re-Multiplizierung der Erzählperspektiven. An dieser Re-Multiplizierung wirkt aber noch entscheidender der Orchesterpart mit und wird so in seiner Funktion als „operatic narrator“ erkennbar. Im Antonia-Akt zeigt sich besonders eindrücklich, wie das Orchester die eingeschränkte Erzählperspektive des Dramas erweitert. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Motivzitate des Orchesters, die, erzähltheoretisch gesprochen, proleptische oder analeptische Funktionen einnehmen. Als Prolepse wirkt es beispielsweise, wenn zu Antonias Erinnerung an ihre Mutter, wie Carl Dahlhaus gezeigt hat, „im Orchester [. . .] als Vorausnahme das Motiv [erscheint], das später die Verführung zum Gesang durch das lebendig gewordene Bildnis der Mutter ausdrückt“ (Dahlhaus 1988, 310; vgl. Abb. 1 und 2). Umgekehrt wirkt es als Analepse, wenn zum Sterben Antonias im Orchester zunächst eine Reminiszenz an das erwähnte Motiv der Mutter erklingt, als nämlich Antonia deren Erscheinen erinnert (vgl. Abb. 3), dann eine musikalische

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Abb.1: Jacques Offenbach: Hoffmanns Erzählungen, 3. Akt, Nr. 11 Romanze – Szene C, S. 163.

Abb. 2: Jacques Offenbach: Hoffmanns Erzählungen, 3. Akt, Nr. 16 Terzett – Finale, S. 227.

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Abb. 3: Jacques Offenbach: Hoffmanns Erzählungen, 3. Akt, Nr. 16 Terzett – Finale, S. 241–242.

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Reminiszenz an Dr. Mirakel – und hier nimmt das Orchester bereits eine Deutung des im Text ambivalent bleibenden „auch er kam zu mir“ vor – und schließlich – hier deutet das Orchester abermals eigenständig die „amour“, von der Antonia singt, als eine Liebe zum Gesang – eine Reminiszenz an das Lied, das Hoffmann einst für sie komponiert und das Antonia zu Beginn des Aktes gesungen hatte (vgl. Dahlhaus 1988, 310; Abb. 3). Zugleich zeigt sich an dieser Stelle, dass das Orchester auch Einsichten in das Innenleben anderer Figuren, das heißt nicht nur Hoffmanns, hat und dieses für den Zuschauer hörbar macht. Auch an anderen Stellen deutet das Orchester die Rede der Figuren und stellt hintergründige Bezüge her, so etwa wenn Mirakel Antonia ihr Bedürfnis nach künstlerischer Wirksamkeit einflüstert und das Orchester dazu eine Musik intoniert, die durch die um einen Halbton ansteigenden Tonrepetitionen in der Singstimme und irisierende Akkordbrechungen in den hohen Streichern stark an die „ImaginationsMusik“ Hoffmanns aus dem 1. Akt erinnert, über die unten noch zu sprechen sein wird (vgl. Abb. 4 und 10). So wird musikalisch zum einen der Konnex zwischen Antonia und Hoffmann als zwei letztlich allein ihrer Kunst verschriebenen Figuren hergestellt, zum anderen Mirakel die Rolle einer anderen, dämonischen Muse zugeeignet (vgl. Neumann 1988, 78). Im Unterschied zum Drama verfügt die Oper im Antonia-Akt also im Orchesterpart über einen auktorialen Erzähler, der souverän Verknüpfungen herstellt, düstere Vorahnungen ausspricht oder Erinnerungen artikuliert und die Chronologie mit Anachronie durchkreuzt. Die lineare Abfolge der Ereignisse auf der Bühne wird durch eine weitere Vermittlungsebene ergänzt, die der der mimetischen Handlung zugrundeliegenden Diegesis gerecht wird beziehungsweise diese allererst leistet. Dieser „operatic narrator“ muss nicht, kann aber mit dem alten Hoffmann identifiziert werden, von dem wir ja wissen, dass er die Binnenakte erzählt. Aus dem Orchesterpart würde dann sozusagen die Erzähl-Stimme des alten Hoffmann sprechen. Eine solche Personifizierung des Orchesters ist jedoch nur für die Binnenakte möglich, nicht aber für die Rahmenakte, deren Erzähler unsichtbar und namenlos bleibt. Während im Drama für die Rahmenakte kein extradiegetischer Erzähler ausgemacht werden konnte, führt die Oper mit dem Orchesterpart einen solchen wieder ein und kommt damit der narrativen Struktur der phantastischen Ausgangserzählungen Hoffmanns bedeutend näher. Der „operatic narrator“ tritt in den Rahmenakten besonders deutlich in Erscheinung, wenn bestimmte Situationen oder Charaktere durch das Orchester polarisiert werden. So wird etwa Lindorf durch die Wuchtigkeit seines Motivs als brachialer Charakter eingeführt, noch bevor er irgendetwas gesagt hat (vgl. Abb. 5).

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Abb. 4: Jacques Offenbach: Hoffmanns Erzählungen, 3. Akt, Nr. 16 Terzett – Finale, S. 221.

Auch Hoffmann wird durch den punktierten Rhythmus, kombiniert mit der dreimaligen Wiederholung des kleinen Sekundschrittes und dem anschließenden absteigenden Sechzehntellauf als schwankend-stolpernder Trinker charakterisiert, noch bevor ihn das Publikum kennen gelernt hat (vgl. Abb. 6).

Abb. 5: Jacques Offenbach: Hoffmanns Erzählungen, 1. Akt, Nr. 2 Rezitativ und Couplet, S. 20.

Kommentierend verhält auch sich das Orchester, und zwar vor allem an denjenigen Stellen, an denen von Stella die Rede ist. Was für Antonia gilt – dass nämlich die Oper ihren Gesang, der in der Ausgangserzählung nur als unwiderstehlich beschrieben wurde und so vom Leser (wie vom reisenden

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Abb. 6: Jacques Offenbach: Hoffmanns Erzählungen, 1. Akt, Nr. 4 Szene und Chanson, S. 44.

Enthusiasten) imaginiert werden musste, hörbar macht –,10 gilt für Stella gerade nicht. Wieder und wieder preisen die unterschiedlichen männlichen Hörer ihre Gesangskunst, aber als sie dann endlich die Bühne der Hoffmann-Oper betritt, bleibt sie – in der Fassung des Zensurlibrettos – so gut wie stumm. So wird einerseits die einst Antonia geltende Faszination des ungehörten Gesangs

10 Vgl. zur abwesenden Stimme bzw. zur Ersetzung der Stimme durch das Instrument bei Hoffmann: Brandstetter 1988.

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Abb. 7: Jacques Offenbach: Hoffmanns Erzählungen, 1. Akt, Nr. 5 Finale, S. 71.

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Abb. 8: Jacques Offenbach: Hoffmanns Erzählungen, 1. Akt, Nr. 4 Szene und Chanson, S. 58–59.

auf Stella übertragen, andererseits rückt nun das Orchester in die schwierige Position des Erzählers, die unvergleichliche Schönheit des Gesangs vermitteln zu müssen. Was in der Ausgangserzählung Krespel und dem reisenden Enthusiasten zufiel, fällt nun dem Orchester zu, und es löst seine Aufgabe vorbildlich ein. Wann immer von Stella die Rede ist, sei dies, wenn Lindorf ihren Brief liest (vgl. Abb. 9), sei es, wenn Hoffmann Stella in „drei Frauenwesen“ aufspaltet (vgl. Abb. 7) oder wenn er an sie und ihren unvergleichlichen Gesang denkt (vgl. Abb. 8), hebt das Orchester zu singen an. Stellas Gesang ist so zugleich ab- wie anwesend, oder genauer: Er ist in seiner Absenz präsent, als imaginäres Objekt künstlerisch-erotischer Sehnsucht.

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Der orchestrale Gesang ist an diesen Stellen allerdings nicht als Stellas Stimme selbst zu verstehen, die dann sozusagen aus dem Off des Orchesters oder auch der verborgenen Don-Giovanni Bühne erklänge, sondern als eindrückliche Erzählung von ihrem Gesang. Diese Differenz zwischen mimetisch präsenter Stimme und erzählter Stimme zeigt sich zum Beispiel, wenn Stella im Brief hofft, dass Hoffmann ihr verzeihen werde. Der orchestrale Gesang gerät an dieser Stelle ins Stocken und trübt sich harmonisch ein (vgl. Abb. 9); erzähltheoretisch ist das als eine proleptische Volte des „operatic narrators“ zu verstehen, der hier die Nichterfüllung der Hoffnungen Stellas bereits andeutet.

Abb. 9: Jacques Offenbach: Hoffmanns Erzählungen, 1. Akt, Nr. 2 Rezitativ und Couplet, S. 25.

Wer aber ist der Erzähler, der hier eingreift und aus dessen Perspektive die Rahmenakte insgesamt vermittelt werden? Es handelt sich nicht um ein episches Ich in dem Sinne, dass hier aus der subjektiven Perspektive des alten Hoffmann erzählt würde. Das wird deutlich, wenn der „operatic narrator“ zum Beispiel auch in solchen Szenen von Stellas Gesang erzählt, in denen Hoffmann gar nicht anwesend ist (wie z. B. der Briefszene; vgl. Abb. 9). Wichtiger aber noch ist, dass der „operatic narrator“ auch Reden Hoffmanns kommentiert. So stellt er beispielsweise Hoffmanns Ankündigung vermeintlich autobiographischer Erzählungen als allmählichen Übergang von der Wirklichkeit in die Sphäre der Imagination dar, indem er im Anschluss an Hoffmanns Aufspaltung Stellas in „drei Frauenwesen“ zu einer typischen

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Visions- oder Traumszenen-Musik aus dem Opernfundus greift: Hoffmanns Sätze, dass er drei Geliebte gehabt habe, die ihm viel bedeutet hätten, werden durch lange meditative Pausen unterbrochen, sein Gesang besteht aus einer stockenden Repetition von nur zwei um einen Halbton absinkenden Tönen; das Orchester liefert dazu hohe, irisierende Streicherklänge in repetierten Akkordbrechungen, dazu eine Horn- und Bassmelodie, die ebenfalls dreimal das gleiche Motiv wiederholt (vgl. Abb. 10). Insgesamt moduliert die Passage recht abenteuerlich von Es-Dur nach E-Dur, so dass man sich an ihrem Ende harmonisch in einer ganz anderen Gegend, man könnte sagen: der Gegend der Imagination wiederfindet. Der „operatic narrator“ liefert mit der Verwendung dieses musikalischen Codes einen deutlichen Kommentar zu Hoffmanns Ankündigung ab: Er lässt durchblicken, dass dem Erzähler der Binnenakte nicht zu trauen ist beziehungsweise seine Erzählungen nicht unbedingt die behauptete autobiographische Qualität haben. Gleichzeitig partizipiert er aber in allen Binnenakten an Bühnenmusiken, die, wie bereits erwähnt, die Unterstützung der vermeintlich dokumentarischen Qualität des Erzählten zum Ziel haben, und auch der erste Akt bedient sich der gleichen Strategie. Zweierlei lässt sich hieraus folgern: Erstens kehrt im „operatic narrator“ der Rahmenakte eine dem Hoffmann’schen „Herausgeber“ vergleichbare Figur zurück, die den dokumentarischen Charakter der Erzählung ebenso untermauert wie sie ihn gleichzeitig hinterfragt und damit den Grundstein für das phantastische Narrativ legt. Zweitens verfügt die Oper im Unterschied zum Drama über insgesamt drei narrative Ebenen, die der Hoffmann’schen Schachtelstruktur des Erzählens entsprechen: den „operatic narrator“ der Rahmenakte, den alten Hoffmann als auktorialen Erzähler der Binnenakte und den jungen Hoffmann als episches Ich der Binnenakte. Zugleich bleibt die Selbständigkeit dieser Ebenen immer zweifelhaft: Der junge Hoffmann könnte auch nur Fiktion des alten

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Abb. 10 (fortgesetzt) Jacques Offenbach: Hoffmanns Erzählungen, 1. Akt, Nr. 5 Finale, S. 72–73.

Hoffmann und der alte Hoffmann nur Fiktion der Herausgeberfigur des „operatic narrator“ sein. Offenbachs Oper zeigt darum exemplarisch, dass und inwiefern man die Oper des neunzehnten Jahrhunderts als Erzählung begreifen kann. In der Musik, insbesondere im Orchesterpart verfügt sie über eine zusätzliche Vermittlungsebene, die eine Perspektivierung des Bühnengeschehens ermöglicht und so als discours der vermeintlich rein mimetisch präsentierten histoire erkennbar wird. Hoffmanns Erzählungen erweisen sich so nicht nur als Dramatisierung phantastischer Geschichten, sondern als eine Oper über das Erzählen selbst11 bzw. über die Möglichkeiten der Oper zu erzählen und das heißt hier, so phantastisch zu erzählen wie E.T.A. Hoffmann.

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11 Das sieht auch Neumann so (Neumann 1988, 61), allerdings geht es ihm um die Konstitution des Subjekts durch das Erzählen.

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Papier-Musik: Über Musiker und Musikalisches in Lothar Meggendorfers Bildern und Büchern 1 Zu Meggendorfers Œuvre Zu den Pionieren innovatorischer Buchgestaltung im 19. Jahrhundert gehört Lothar Meggendorfer (1847–1925), der ein facettenreiches Œuvre hinterlassen hat. Der Münchner wirkte als Graphiker, als Designer von Papierbögen und Büchern und wurde zu einem der wichtigsten Vorläufer moderner PapierKonstrukteure (‚paper engineers‘).1 So erfand er unter anderem ein Verfahren, das es gestattete, simultan mehrere Figuren zu animieren – eine Neuerung in der Geschichte des beweglichen Buchs. Zudem verfaßte der vielseitig talentierte Meggendorfer eigene Texte zu seinen graphisch-papiergestalterischen Arbeiten, schrieb Gedichte, schuf ganze Bilderbücher und erfand viele Szenen und Geschichten, die er visuell und sprachlich inszenierte. Ein humoristischer Zug und die Vorliebe für eine volkstümlich-plakative Bildsprache mit manchmal karikaturistischen Zügen prägen sein Œuvre als Graphiker, Buchgestalter und Texter. Fasziniert vom Puppentheater, verdankte Meggendorfer Franz von Poccis Kasperl-Stück „Kasperl Larifari“, das er als Kind sehen durfte (vgl. Krahé 1983, 10),

1 Vgl. zum folgenden den mit vielen Beispielen ausgestatteten Band: Krahé 1983. – Zum Thema Buch- und Papierarchitektur vgl. ferner Rothwell Montanaro 1993; Schirrmacher und Kühnemann 1993.; Pelachaud 2010; Montanaro 2010. – Die große Zeit des mechanischen Buchs bricht mit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts an. Mit dem Aufstieg des Bürgertums wächst der Bedarf an Unterhaltungs- und Luxusartikeln, auch für Kinder. Den Anspruch, die Erfinder des beweglichen Kinderbuchs zu sein, erhebt der Verlag Dean & Son (London, 65 Ludgate Hill) in den 1860er Jahren. In diesem Fall wäre das erste ‚bewegliche‘ Kinderbuch von 1857 „The Moveable Mother Hubbard“. Durch Laschen wurden Teile der Bilder bewegt, Figuren in ‚Bewegung‘ gesetzt. Bewegungen der Figuren und erzählte Geschichte waren aufeinander abgestimmt. „The Moveable Mother Hubbard“ bildete den Auftakt zu einer Serie von 13 beweglichen Büchern. Fäden verbanden die Figuren. Später verwendeten die Hersteller lieber Kupferdrähte, die die Beweglichkeit der Figuren verbesserten. Konkurrenten der Deans waren mehrere Verlage: Ward & Lock, Darton, Read. Um 1863 erschien das erste der „New Scenic Books“, die man bediente, indem man an Bändern zog, um ausgeschnittene Figuren zu bewegen. Im ersten war die „Little Red Riding Hood“; die Figur ließ sich senkrecht zur Seite aufstellen. https://doi.org/10.1515/9783110630756-011

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sowie der Kunstform des volkstümlichen Spielpuppentheaters insgesamt offenbar maßgebliche Impulse. Seine Verse wie auch seine bildnerischen Arbeiten sind durch eine Spielfreude geprägt, wie er ihn gerade in dieser Spielform des Puppentheaters vorfand. Und er bezieht von dieser populären Kunstform in noch einer weiteren Hinsicht eine wichtige Anregung: So wie sich im Handpuppentheater Figuren bewegen, agieren, mit künstlichem ‚Leben‘ erfüllt werden, die eigentlich aus lebloser Materie hergestellt sind, so legt es auch Meggendorfer mit vielen seiner papiergestalterischen Arbeiten darauf an, aus seinem Material bewegliche und ‚lebendige‘ Figuren zu schaffen. Selbst dort, wo es bei statischen Darstellungsverfahren bleibt, wo kein Papier bewegt, keine papierne Figur animiert wird, experimentiert Meggendorfer mit vielfältigen Verfahren der graphischen Suggestion von Dynamik. Seine gezeichneten Figuren wirken mobil; sie vollziehen die verschiedensten Bewegungen durch die imaginären Räume der dargestellten Szenen. Da wird gelaufen, gesprungen, gehüpft, gepurzelt, gefallen; da bewegt man sich aufeinander zu und voneinander weg; da handhabt man allerlei Geräte mit mehr oder weniger großem Geschick. Nicht zufällig schafft Meggendorfer auch Bilderbögen, die als Verwandte des Papiertheaters und damit als ein Nebenzweig performanzbezogener Kunstpraktiken gelten können.2 So ist sein „Internationaler Circus“ eine aufstellbare Papierkonstruktion, die eine Arena repräsentiert. Zuschauer beobachten hier die Künste papierner Akrobaten (Abb. bei Krahé 1983, 82–83) – und das Objekt ist in gewissem Sinn eine mise-en-abyme von Meggendorfers Œuvre. Meggendorfers Bilderbögen und Bilderbücher bereiten unter anderem – wie andere graphische Arbeiten von Künstlern des neunzehnten Jahrhunderts3 – den Weg für die Entstehung des Comics in den Jahren um 1900. Ihrerseits vorbereitet und geprägt durch Bildprogramme und Formen der Bild-Text-Kombination, wie sie zum einen im Bereich der Karikatur, zum anderen in dem der Kinderliteratur des neunzehnten Jahrhunderts gebräuchlich waren, enthalten diese Bögen und Bücher vielfach ‚Protocomics‘, die manches von dem vorwegnehmen, was dann später als Merkmal des ‚Comics‘ im engeren Sinn betrachtet wird. Noch gibt es keine Sprechblasen, aber mit solchen Bildsequenzen, deren Einzelelemente jeweils mit Teilen eines Dialogs unterlegt sind, kommt Meggendorfer in manchen seiner Arbeiten dem Comic strip schon sehr nahe. Und noch gibt es keinen Code,

2 Zum Papiertheater vgl. Grünewald 1993. – Zwiauer 1987. – Siefert 2002. 3 Genannt seien Rodolphe Toepffer und Wilhelm Busch.

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um ‚Bewegungen‘ darzustellen. Aber einzelne der Bilder Meggendorfers ähneln bereits ‚Bewegungsbildern‘, wie sie vom Comic später genutzt werden und vermutlich durch solche Photos stimuliert sind, die Bewegungsabläufe durch einander überlagernde oder sequenzielle Momentaufnahmen von geringer zeitlicher Distanz darstellen: Zeichnungen, auf denen ein Motiv in einer ganzen Serie von einander ‚folgenden‘ Stellungen abgebildet ist, um die ‚Bewegung‘ des dargestellten Gegenstandes zu suggerieren. Ein „benebelter Student“ Meggendorfers, vor dessen Augen sich alles dreht, sieht seine Zimmerwirtin buchstäblich vor sich kreisen (Krahé 1983, 117).

2 Meggendorfer und die Musik – ‚Musikalisches‘ als Thema und Gegenstand der Darstellung Meggendorfer war musikalisch.4 Er arbeitete zeitweilig als Musiklehrer (für die Zither) und gab selbst Zitherkonzerte (Krahé 1983, 127). Dieses musikalische Interesse hat im graphischen und buchgestalterischen Œuvre des Münchners nachhaltige Spuren hinterlassen. Wie bereits Hildegard Krahé beobachtet, „spielen in seinem Vers- oder Bildaufbau immer wieder musikalische Momente hinein“ (Krahé 1983, 128). Man kann wohl von einer Konvergenz zwischen Meggendorfers Affinität zur Musik und seinem Interesse an der Dynamisierung visueller Darstellungen sprechen: Orientiert sich doch eine graphische Kunst, die Bewegung darstellt, ja den Ablauf von Bewegungen selbst durch strukturell-kompositorische Mittel suggeriert, an jenen ‚transitorischen‘ Darstellungsformen, die Lessing im „Laokoon“ gegen die der raumbezogenen, statischen Darstellungsverfahren abgegrenzt hatte – und zu denen eben auch die Musik gehört.5 Schon Lessing denkt, nachdem er die Differenzierung zwischen raumbezogenen und transitorischen Künsten zunächst einmal vorgenommen hat (konkret geht es ihm ja vor allem um eine differenzierende Charakteristik von bildender Kunst/Malerei und Dichtung), dann auch über Darstellungsoptionen nach, mittels derer diese strikte Gegenüberstellung zu unterlaufen wäre und in künstlerischen Arbeiten unterlaufen wird – insbesondere über Möglichkeiten

4 Ein Aquarell von 1888, das Meggendorfer mit seiner Familie zeigt, deutet an, daß seine Musikinstrumente mit zur Familie gehören (vgl. Krahé 1983, 9). Beim Hauskonzert hat er seine Familie porträtiert (Krahé 1983, 136), offenbar durchaus realitätsnah (vgl. Photo bei Krahé 1983, 137) 5 Lessing 1964/1976.

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einer andeutenden Darstellung von Zeit und Bewegung im Medium der bildenden Kunst. Das Konzept des ‚fruchtbaren Augenblicks‘ suggeriert implizit ja (metaphorisch gesprochen), die Ernte von Früchten, die im jeweils konkret dargestellten Augenblick selbst erst noch reifen. Die vielfältigen Spielformen bildsequenzieller Kunst hat Lessing bei seinen Erörterungen zum Unterschied von Malerei und Literatur überhaupt nicht im Blick (bedingt wohl durch die restriktive, historischkulturell bedingte Orientierung am Tafelbild, das einen bestimmten Moment darstellt, als dem maßgeblichen Paradigma von ‚Malerei‘). Dabei lassen sich doch gerade in Bildsequenzen, seien sie in eine einzige umfassende Bildkomposition integriert oder aber als klar abgegrenzte Einzelbilder hintereinander gereiht, die von Lessing beschriebenen Darstellungsprinzipien einer Kunst, die Momente zeigt, mit einer solchen Kunst verknüpfen, die ‚Handlungen‘ darstellt. Bildsequenzen können aber nicht nur durch ‚Handlungs‘-Darstellung Affinitäten zu ‚transitorischen‘ Künsten aufweisen (und damit der ‚Dichtung‘ naherücken, als deren Paradigma Lessing implizit die ‚handlungsdarstellende‘ dramatische Dichtung betrachtet), sondern auch durch kompositorisch-strukturelle Eigenschaften wie Wiederholung und Variation. In diesem Fall eröffnen sich Möglichkeiten des Vergleichs mit musikalischen Strukturen. Die Frage, inwiefern sich BildSequenzen mit musikalischen Kompositionen vergleichen lassen, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Betont sei aber, daß die historischen Entwicklungen, die sich gerade im neunzehnten Jahrhundert im Bereich der Bildgeschichte vollziehen, auch die Vergleichbarkeit von musikalischen und graphischen Strukturen in neuem Licht erscheinen lassen.

2.1 Musiker, Musizierszenen Meggendorfer hat verschiedene ‚Protocomic‘-artige Bildsequenzen geschaffen, die dem Themenfeld „Musik, Musiker, Musizieren“ gewidmet sind. Gerade hier geraten die gezeichneten Figuren in Bewegungen, die sich in teils expressiver Gestik ausdrücken. Dies gilt etwa für die 16-teilige Bildsequenz „Ein musikalisches Liebesstündchen“, erschienen zuerst in „Fliegende Blätter“ (Bd. 90/1889). Wir sehen die Schattenrisse einer weiblichen und einer männlichen Figur in Rückenansicht, die sich zum vierhändigen Klavierspiel treffen – deren Musikstunde dann aber zum Anlaß des Austauschs von Zärtlichkeiten wird, bevor beide noch ein wenig weitermusizieren. Zuletzt verabschiedet man sich höflich voneinander (Abb. bei Krahé 1983, 129). Die Bilder der Sequenz werden durch ihre Titel als Phasen einer musikalischen Darbietung interpretiert. Es beginnt mit einer „Introduction“ (im Bild sehen wir eine wechselseitige Begrüßung durch Verbeugung), und nach Spielbeginn steigert man sukzessive Tempo,

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Lautstärke, Bewegung – von „Piano“ über „Tempo di ballo“, „Brio“ und „Forte“ bis zum „Agitato“. Die folgenden Phasen der kleinen ‚musikalischen‘ Geschichte heißen „Affettuoso“, „Fortissimo“ etc.; überblendet werden so die Beschreibung eines Musikstücks mit der Charakteristik eines emotionalen Verlaufs. Der humoristische Effekt des kleinen Kunst-Stücks ergibt sich nicht allein aus dem Doppelsinn, den die Spielangaben, vor allem DynamikBezeichnungen, dadurch gewinnen, daß sie auf ihre wörtliche Bedeutung aus dem Bereich der Gefühls-‚Bewegungen‘ zurückbezogen werden. Zugleich nimmt sich das gezeichnete Liebesstündchen selbst auch auf ironische Weise wie ein ‚wiederholbares‘ und nach ‚Partitur‘ gespieltes Stück aus (das die beiden Figuren vielleicht nicht zum ersten Mal miteinander spielen). Als schwarze Umrißfiguren vor einem Hintergrund, den neben der Tastatur vor allem ein aufgeklapptes Notenheft ausfüllt, erinnern sie sogar selbst ein wenig an Musiknoten, die, von Affektbezeichnungen unterlegt, darauf warten, ihr Stück immer wieder aufzuführen – so lange die festgelegte Spielzeit geht. Liest man die Bildsequenz als kleine Geschichte über ein Pärchen, so liegt ihre ironische Pointe darin, den Verlauf eines Tête-à-tête mit dem Ablauf einer mechanischen Spieluhr zu analogisieren. Einem Papieringenieur wie Meggendorfer, der Bücher entwirft und konstruiert, welche durch die Bewegungsmechanik ihrer Figuren ihrerseits Analogien zu Spieluhren aufweisen, dürfte eine solche Spieluhr-Ästhetik besonders nahegelegen haben. Meggendorfers Musikerfiguren – und er hat viele solcher Gestalten dargestellt – werden auf verschiedene Weisen als visualisierte ‚Musik‘ interpretiert, keineswegs allein dadurch, daß sie beim Musizieren oder mit Instrumenten abgebildet sind. So zeigt die Zeichnung „Metamorphose“ in fünf Etappen die Verwandlung einer Frau mit Regenschirm in ein Streichinstrument (Abb. bei Krahé 1983, 132) – hier funktioniert die Überblendung auf der Basis der ähnlichen Umrisse von Frauenkörper und Cello.

2.2 Noten, Notationszeichen Eine besondere Spezialität Meggendorfers sind kleine groteske Figuren, die sich aus Elementen des musikalischen Notationscodes zusammensetzen – Geschöpfe aus Noten, Pausenzeichen, Violin- und Baßschlüsseln sowie anderen Elementen, mit denen Musik ‚geschrieben‘ wird. Er hat eine ganze Reihe solcher Wesen geschaffen. Unter dem Titel „Der Carneval von Venedig“ (zuerst erschienen in Fliegende Blätter, Bd. 91/1889) hat Meggendorfer eine bemerkenswert dynamisch wirkende graphische Komposition geschaffen (vgl. Abb. bei Krahé 1983, 126). Hier finden sich auf ein Partiturblatt mit dem Titel „Der Carneval von Venedig

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(Eine Circusstudie)“ 16 rechteckige Bildfelder montiert, die an durcheinandergeworfene Spielkarten oder auch an ausgeschnittene und verstreute Comicpanels erinnern. Da sie alle nummeriert sind, bilden sie trotz ihrer nichtlinearen Anordnung eine Bildsequenz. Auf den Bildchen sind jeweils drei musizierende Strichmännchen zu sehen. Ihre Körper sind aus kleinen runden Köpfen und strichförmigen verrenkten Gliedern gebildet und erinnern an verbogene Notenzeichen. Man hat den Eindruck, daß sie transformierte, aus der Partitur ‚herausgesprungene‘ Noten sein könnten – einmal mehr also Figuren, die zugleich ‚Musiker‘ und ‚Musik‘ sind. Diese herumturnenden ‚Noten‘-Männchen spielen auf Streich- und Zupfinstrumenten, verrenken ihre Gliedmaßen expressiv und führen einzeln oder gruppenweise akrobatische Übungen vor. Stets sind drei Notenmännchen zu sehen (zwei Geiger und ein Gitarrist), sie sind demnach also Proto-Comic-Figuren, die von Panel zu Panel in modifizierter Form erscheinen und doch ‚immer dieselben‘ bleiben. Hier wird eine musikalisch-akrobatische Szene mit den visuellen Mitteln des Comics ‚erzählt‘. Bei der Erfindung von Notenzeichenmännchen entwickelt Meggendorfer viel Phantasie; es scheint, als sei für ihn gerade die Beschränkung auf ein restriktives Zeichenreservoir eine schöpferische Stimulation.6 Auf seinem Blatt „Musikalische Spielerei“ (zuerst in: Fliegende Blätter, Bd. 74 (1881); Krahé 1983, 137) sehen wir 14 anthropomorphe und zwei theriomorphe Figuren, die er aus Elementen geläufiger Notationszeichen zusammengesetzt hat, aus Notenköpfen und -hälsen, verschiedenen Arten von Notenschlüsseln und Pausenzeichen, aus Notenlinien und Akzentuierungszeichen. Das Blatt scheint zwar keine Geschichte zu erzählen; es präsentiert nur katalogartig die ‚musikalischen‘ Figuren. Aber es wirkt dabei wie eine Liste von Dramatis Personae, aus denen sich ‚musikalische‘ Mini-Dramen komponieren ließen.7 Unter dem Titel „Musikalischer Notenscherz“ präsentiert Meggendorfer auf einem Notenblatt verschiedene aus Notenzeichen generierte Figuren (zuerst in: Fliegende Blätter, Bd. 92, 1890; Krahé 1983, 132). Die Köpfe der Figuren lassen sich als Noten einer Melodie lesen, und der Text zu dieser Melodie spricht von 6 Verwandte dieser Figürchen aus Notationszeichen sind die Strichmännchen in Bildgeschichten wie „Das verschmähte Herz“ (Krahé 1983, 22–23), in dieser grotesken Geschichte geht es auch ums Musizieren: ein Edelfräulein bevorzugt einen Musiker vor einem anderen Bewerber. 7 Auch die Figuren auf dem Blatt „Allerlei Noten-Allotria“ (zuerst in: Fliegende Blätter, Bd. 75 (1881); Krahé 1983, 133) bestehen aus Elementen musikalischer Notation; wir sehen Tierfiguren vor sparsam skizziertem Hintergrund. Auch hier wird wohl keine ‚Geschichte‘ erzählt, obwohl die erste Szene auf angedeuteten Notenlinien beginnt, die für diverse Wasservögel zur Seeoberfläche wird. Eine Serie von sechs Gesichtern, die aus Notationszeichen komponiert sind, bietet das Blatt „Musikalische Charakterköpfe nach Noten“ (zuerst in: Fliegende Blätter, Bd. 73 (1880); Krahé 1983, 133).

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dem, was szenisch dargestellt ist: Acht Jungfrauen treffen acht Herren, und im nächsten Jahr findet eine achtfache Hochzeit statt.8 Auf dem Blatt „Musikalische Charakterköpfe nach Noten“ (Krahé 1983, 133) werden die Elemente der Notenschrift so arrangiert, daß sich physiognomisch differente „Porträts“ von insgesamt sechs Personen ergeben, die offenbar ganz verschiedene Stimmungen zum Ausdruck bringen; das Spektrum reicht von Fröhlichkeit bis zu Verdrossenheit.

2.3 Buchmechanik Aus Meggendorfers Bildsequenzen gehen wiederholt Einfälle für papiermechanische Arbeiten hervor. Das Blatt „Das verunglückte Ständchen“ (aus „Der Sonnenschein“; Krahé 1983, 134) ist ein solcher ‚Proto‘-Comic strip. Erzählt wird eine kurze Geschichte, bei der auf ähnliche Weise der Doppelsinn einer Musik-beschreibenden Vokabel zugrundeliegt wie im Fall des „Musikalischen Liebesstündchens“: Es geht um ‚Höhen‘ und ‚Tiefen‘: Ein Hornist und sein Instrument sind oberhalb von Notenlinien zu sehen, auf denen je eine Note steht; offenbar wird eine Notensequenz gespielt. Diese Noten werden immer tiefer (sie entsprechen einer abwärts gespielten C-Dur-Tonleiter); abgestimmt auf diese abfallende Notenlinie neigt sich auch die zunächst aufrechte Musikerfigur zunehmend tiefer, und beim tiefen C sitzt sie zuletzt auf dem Hosenboden. Die Bildsequenz gibt für diese bemerkenswerte Koinzidenz zwischen Musiker und Musik eine humoristische Erklärung: Die Fläche, auf dem ersterer steht, ist offenbar vereist. Krahé weist darauf hin, daß die Bildfolge wie eine Vorstudie zu einer von Meggendorfer realisierten Ziehfigur wirkt (abgebildet bei Krahé 1983, 135); diese Figur ist wiederum ein Hornist, der seine Glieder bewegen und sich beugen kann. Als Buchingenieur experimentierte Meggendorfer vor allem mit dem Ziehbilderbuch; in der Geschichte des ‚movable books‘ nimmt er, wie angedeutet, eine besondere Stellung ein.9 „Lebende Bilder“, sein erstes einschlägiges

8 Die in der ersten Notenlinie gruppenweise nach „Jungfrauen“ und „Herren“ angeordneten Noten-Männchen sind in der zweiten Linie nicht nur paarweise verbunden; ihre Noten-Köpfe bestehen nun auch aus Herzen. 9 Im achtzehnten Jahrhundert entstanden bereits diverse besonders schöne, kostbare Kinderbücher. Im neunzehnten Jahrhundert vertiefte sich das Interesse an solchen Büchern – u. a. sozialgeschichtlich bedingt: Das Zeitalter des Bürgertums ist auch das der aufblühenden Kinder-Kultur – und zugleich das Zeitalter wohlhabender Sammler. Wichtige Pioniere der Buchmechanik sind neben Meggendorfer zwei in England wirkende Deutsche (Raphael Tuck,

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Buchprojekt,10 porträtiert dabei u. a. verschiedene Musiker. Dazu gehört ein Pianist an einem Klavier mit Notenblättern, der sich wie ein Instrument bewegt, der „Klavierspieler“: In Rückenansicht wird uns ein Pianist gezeigt, dessen Papierkörperteile mit buchmechanischen Mitteln in Bewegung gesetzt werden können (Abb. bei Krahé 1983, 127). Die Figur reagiert auf die Bewegung eines Ziehstreifens, der ihre Hand- und Schultergelenke aktiviert; sie „haut buchstäblich auf die Tasten und zieht im Takt dazu den Kopf ein“ (Krahé 1983, 129). Ein „Tyroler Sänger“ bewegt, wenn man ihn durch Papierstreifen dazu stimuliert, die Arme, die Augen und den Mund (dazu Krahé 1983, 129). Das schwarze Ehepaar Kru und Kra ‚musiziert‘ und ‚singt‘ ebenfalls unter Mund- und Armbewegungen – fast so, wie Meggendorfers Begleitverse es versprechen, allerdings auf eine lautlose Weise – und abwechselnd:11 Hier spielt der Kru mit seiner Kra Guitarre und Harmonika. Vor ihrem Blockhaus sitzen sie, Sich freuend nach des Tages Müh’.

(nach Krahé 1983, 130, hier auch Abb. dazu)

Und der „Tanzmeister“, eine stehende Geigerfigur, bewegt, von einer Lasche angetrieben, neben dem Arm mit Geigenbogen und dem Spielbein auch die Augen. Meggendorfers musizierende Ziehbilder-Figuren sind einerseits technisch dem Prinzip ‚Hampelmann‘ verpflichtet. Andererseits aber geht ihre raffinierte Mechanik über die konventionelle Technik solch papierner Bewegungsspielzeuge hinaus; mit der reinen Körperglied-Bewegung sind bei seinen Figuren jeweils auch andere Bewegungsabläufe synchronisiert, die die Bedienung der Figuren zu einer kleinen szenischen Darbietung werden lassen – wiederholt etwa mit mimischen Anteilen wie Augenrollen und Mundöffnen. Eine Baßgeigerfigur auf dem beweglichen Blatt „Die Erholungsstunde“ (im Ziehbilderbuch „Gemischte Gesellschaft“) wurde von Meggendorfer auch zum Motiv eines Ofenbildes gemacht – und auf

Ernest Nister). Um 1850 erschien im Verlag Dean & Son das erste Buch mit aufklappbaren, beweglichen ‚Figuren‘: „Cinderella“. Neben Klappen und Laschen, wie sie in älteren Formen des ‚beweglichen Buchs‘ bereits zum Einsatz kamen, gestatten es im bald entstehenden und an Beliebtheit gewinnenden Pop-up-Buch sogenannte Volvellen der flächigen Konstruktion aus gefalteten Papierelementen, sich in die dritte Dimension zu erheben. Dazu u. a. Van Dyk 2010, 4. 10 „Lebende Bilder“, zunächst 1878 für die eigenen Kinder geschaffen, vermarktete sich gut. Meggendorfer selbst schuf danach bis 1910 insgesamt 28 solcher Bilderbücher, sie enthielten zusammengenommen 219 Tafeln mit beweglichen Figuren (Krahé 1983, 46). Meggendorfer hat das Ziehbilderbuch nicht erfunden, griff aber bestehende Papieringenieur-Techniken auf und nutzte sie einfallsreich. In den 1860er Jahren waren in verschiedenen Verlagen diverse bewegliche Bilderbücher erschienen. 11 Vgl. dazu die Beschreibung bei Krahé 1983, 130.

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diesem musiziert sie (fast) von allein: Setzt der Benutzer es zusammen und kombiniert es mit einem Triebrad, so sorgt die vom Ofen aufsteigende Hitze dafür, daß der Geiger sich bewegt (Krahé 1983, 138). Resultierte die Komik des „Musikalischen Liebesstündchens“ vor allem aus der Analogie zwischen ritualisiertem Tête-à-tête mit dem Vorspielen eines Stücks vom Blatt (und damit auf die ‚Mechanik‘ des ersteren), so erscheint im Fall von Meggendorfers Musikerdarstellungen die ebenso komische Analogisierung von Menschenbewegungen und musikalischen Abläufen doch noch auf andere Weise motiviert und komisch genutzt – auf eine sehr naheliegende Weise: Die Musiker-Körper werden hier zu Instrumenten uminterpretiert – und damit zu einer ‚kunstproduzierenden‘ Mechanik.

2.4 Themen mit Variationen Hildegard Krahé hat zu Recht darauf hingewiesen, daß Meggendorfer als Zeichner dem Bauprinzip des „Themas mit Variationen“ verpflichtet ist, das für viele musikalische Kompositionen und poetische (vor allem lyrische) Texte konstitutive Bedeutung besitzt.12 Meggendorfer zeichnet in mehr als einer Hinsicht ständig „Variationen“ – sowohl innerhalb seiner eigenen Blätter als auch mit Blick auf sein Gesamtœuvre, in dem bestimmte Figuren und Figurentypen vielfach wiederkehren. Innerhalb der Einzelblätter ist gerade die Variation einer Ausgangsfigur oder -szene oft das maßgebliche Gestaltungsverfahren; die Figuren werden gleichsam ‚durchgespielt‘. Nicht nur die aus Notationszeichen und deren Elementen komponierten Musikmännchen sind Variations-Figuren, sondern natürlich auch die beweglichen Papierfiguren in Büchern. Die Laschenzüge ermöglichen ein Durchspielen von Bewegungsabläufen, die den Buchbenutzer selbst ins Variationsspiel einbeziehen: das Szenario (die ‚Partitur‘) ist vorgegeben, doch es besteht die Gelegenheit, es improvisierend zu aktualisieren, unterschiedliche Geschwindigkeiten und unterschiedliche Bewegungsrhythmen zu erproben. Dabei geht es immer wieder vor allem um ein Thema: Auf mehr als einer Ebene unterlaufen diese Konstruktionen die starre Gegenüberstellung von ‚Mechanischem‘ und ‚Lebendigem‘: nicht nur, weil mechanisch bewegte Papierfiguren hier ‚wie lebendig‘ erscheinen, sondern weil sich zeigt, daß die Mechanik der Papierkonstruktion eben doch gestalterische

12 Vgl. Krahé 1983, 128: „Nur selten begnügte sich Meggendorfer in der Illustration mit einem auf eine einzige Darstellung fixierten Bildmotiv, sondern spielte es im musikalischen Sinne als ‚Thema mit Variationen‘ durch. Auf diese Weise schuf er ganze Bildkompositionen.“

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Freiheiten vorsieht, wenngleich diese limitiert und bescheiden sind. Der Benutzer einer Papier-Mechanik ähnelt insofern dem Musiker, der vom Blatt spielt: Er reproduziert etwas, das ihm vorgegeben ist – und gibt dieser Reproduktion doch zugleich den Charakter einer besonderen Aufführung, an der er selbst gestaltend teilhat; er macht sich zum Exekutionsorgan der geschriebenen Musik (und damit zu einem Stück ‚Mechanik‘, zu einem Instrument), aber das Instrument bringt doch auch sich selbst zur Geltung. Der Nutzer und der Konstrukteur von Papier-Mechaniken spiegelt sich bei Meggendorfer gleichsam selbst in den skurrilen Musikergestalten, die an Strippen hängen, aus konventionellen Zeichen zusammengesetzt oder stereotypen Figurendarstellungen verpflichtet sind. Diese Geschöpfe sind Spielfiguren, die bei aller Bindung an Regeln die Möglichkeit suggerieren, gelegentlich ‚über die Stränge‘ zu schlagen und dem vorgegebenen Szenario, dem fixierten Stück eine neue Variation abzugewinnen. Begrenzt sind auch die Freiheiten dessen, der solche Papier-Maschinen bedient, auch er bewegt sich auf eingespurten Bahnen – aber gelegentlich öffnet sich doch ein Raum für akrobatische Übungen. Meggendorfers Musik-Männchen und seine Papierfiguren mit ihrem bescheidenen Gestaltungspotenzial versichern dem Betrachter, daß sich auch mit Wenigem, mit bescheidenen Mitteln, einfachen Materialien und begrenzten Zeichenrepertoires sehr schön und variationsreich spielen läßt. Wer seine Themen und Motive zu variieren weiß, dem wird alles zum Instrument.

3 Ausblicke: Die leisen Stimmen der beweglichen Bücher Meggendorfer praktiziert mit Papier und graphischen Mitteln eine Kunst, die es darauf anlegt, ‚Unerhörtes‘ zu leisten: Papiergebilde und Bücher mit Bewegung zu füllen, Statisches zu dynamisieren, papiernen Figuren ‚Leben‘ zu geben – und vor allem: mit (fast) geräuschlosen Materialien Musik zur Aufführung zu bringen. Er versucht ‚Unerhörtes‘ gerade in dem Sinn, daß stummes Papier zumindest die Suggestion von Klanglichkeit erzeugen soll. Damit wird er zum Vorläufer neuer ästhetisch-medialer Grenzüberschreitungen im zwanzigsten Jahrhundert – und nicht zuletzt zum Wegbereiter einer Buchgestaltungskunst, die es auf die Erzeugung von Bücher-Musik mit papierarchitektonischen Mitteln anlegt: eine Musik am Rande der Vernehmbarkeit, die den Buchbenutzer für das (meist) Überhörte sensibilisiert: für die leisen Geräusche von Papiermechaniken, die man bedienen kann, so als spiele man ein Instrument. Die rezente Geschichte jener ‚musikalisch-akustischen‘ Papieringenieurskunst, für

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deren Entwicklung Meggendorfer mit seinen raffinierten Ziehvorrichtungen in beweglichen Büchern den Weg bereitet hat, sei abschließend nur an einem Beispiel illustriert, das verdeutlicht, inwiefern es mit bucharchitektonischen Techniken auch um die Gestaltung von Papier-Musik geht. Der Papieringenieur David A. Carter hat den Sinneseindrücken, die von Büchern erzeugt werden, eine ganze Pop-up-Reihe gewidmet. Seine Bände sind nach Farben (Rot, Blau, Gelb, Weiß) benannt, was auf einen Primat des Gesichtssinns hindeutet, doch auch Gehör und Tastsinn werden angesprochen. Auf „One Red Dot“, den Pilotband der Reihe, folgten mittlerweile die Pop-ups „600 black spots“, „blue 2“, „yellow square“ und „white noise“. Es handelt sich jeweils um Bände mit einer Sequenz abstrakter (im Sinn von: nicht-mimetischer, nicht-abbildlicher) Papierarchitekturen mit raffinierten Pop-up-Effekten. Zentrale architektonische Bestandteile der Bücher sind geometrische Elemente (Punkt und Quadrat bekommen ja sogar eigene Bände gewidmet); die ‚Zeichen‘ dieses Bildrepertoires sind also ähnlich elementar und ubiquitär wie die Bestandteile der konventionellen Notenschrift. „White noise“ (in der deutschen Ausabe „weisses rauschen“)13 wendet sich gleichermaßen an Auge und Ohr: Die hier enthaltenen abstrakten Pop-upKonstruktionen aus Karton und Fäden entfalten sich bei Benutzung des Buchs mit jeweils spezifischen Geräuschen: Bauelemente, vor allem Zahnräder verschiedener Größe, schnarren und knacken; lose, nur mit Fäden ins Buch eingebundene Teile der Papiermechanik schleifen leise über ihre Unterlage; Papierstreifen, die durch Einschnitte gezogen werden, schleifen an deren Rändern vorbei – und durch die manuelle Bedienung von Zugmechanismen nach dem Aufklappen lassen sich verschiedene weitere schnarrende und schabende Geräusche erzeugen. Eine Serie von schmalen Einschnitten ist auf einer Doppelseite des Pop-ups so arrangiert, daß die stehengebliebenen Stege an die Saiten einer Zither erinnern, und ein Doppelflügel wartet darauf, vom Luftzug akustisch animiert zu werden etc. Die Stimmen der Bücher sind leise, aber das hindert sie offenbar nicht daran, Musik zu machen. Schon Meggendorfers bewegliche Bücher mit Musikerfiguren lassen diese zu fast stummen Repräsentanten einer Papierwelt werden, die nicht allein der Darstellung von Musik (als Trägersubstanz von Notationen und Partituren) dient, sondern die offenbar gern selbst geräuschvoll würde. Und seine mechanisch belebten Buchbögen, die den Benutzer zur Mitwirkung an kleinen szenischen Spielen einladen, verdeutlichen, daß man ein Buch auch als Instrument betrachten kann.

13 Siehe Carter 2009.

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Literaturverzeichnis Carter, David. White Noise. Zuerst publiziert in Texas (USA): Little Simon, 2009; dt. Ausgabe Köln: Boje, 2010. Grünewald, Dietrich. Vom Umgang mit Papiertheater. Berlin: Volk und Wissen, 1993. Krahé, Hildegard. Lothar Meggendorfers Spielwelt. München: Heinrich Hugendubel, 1983. Lessing, Gotthold Ephraim. Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Nach der Ausgabe von Julius Petersen und Waldemar v. Olshausen. Stuttgart: Reclam, 1964/1976. Montanaro, Ann. „Handmade Paper in Motion“. Handmade Paper in Motion. Hg. Mina Takahashi. Beltsville, MD: Hand Papermaking, 2010. Pelachaud, Gaëlle. Livres animés. Du papier au numérique. Paris: Editions L’Harmattan, 2010. Rothwell Montanaro, Ann. Pop-up and movable books. A bibliography. New York, NY, London: Metuchen, 1993. Schirrmacher, Katharina und Horst Kühnemann. „Pop-ups – Spielbilderbücher zum Auf- und Zufalten“. Bulletin Jugend & Literatur 12 (1993): 13–21. Siefert, Katharina. Papiertheater. Die Bühne im Salon. Einblicke in den Sammlungsbestand des Germanischen Nationalmuseums. Begleitpublikation zur Ausstellung ‚Theaterdonner‘ im Germanischen Nationalmuseum. 19.12.2002–23.3.2003. Nürnberg: Verlag des Germanischen Nationalmuseums, 2002. Van Dyk, Stephen. Paper Engineering. Fold, Pull, Pop and Turn. Ausstellungskatalog (Juni 2010–Oktober 2011). Washington: Smithsonian Institution Libraries, 2010. Zwiauer, Herbert. Papiertheater: Bühnenwelt en miniature. Wien: Herold-Verlag, 1987.

Norbert Bachleitner

Auf der Suche nach einer neuen Tonalität beziehungsweise Schreibweise: Arnold Schönberg und James Joyce 1 Vorbemerkungen Ein Vergleich von Schönberg und Joyce stellt eine komparatistische Herausforderung dar, die in einem ersten Schritt nur annäherungsweise bewältigt werden kann. Wie lassen sich die Werke dieser beiden Leuchttürme der Musik und Literatur der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts1 sinnvoll und vor allem über allgemeine Feststellungen, die für die Moderne insgesamt zutreffen, hinausgehend miteinander vergleichen? Direkte Verbindungen zwischen den beiden Künstlern, etwa Äußerungen über den jeweils anderen, Treffen oder Briefwechsel fehlen, es kann sich also nur um einen Vergleich voneinander unabhängiger Entwicklungen in verschiedenen künstlerischen Disziplinen handeln. Um die Komplexität des Vergleichs zu reduzieren, beschränken wir uns auf Schönbergs Zwölftontechnik einerseits und die in Ulysses und Finnegans Wake angewandten literarischen Verfahren andererseits. Die Wege, die zu diesen Höhepunkten im Werk der beiden Künstler geführt haben, bleiben ausgespart.2

1 Ihre Bedeutung und Wirkung ist natürlich nur schwer genau zu bestimmen, dennoch sei auf zwei Indizien verwiesen: In der Bibliographie des Musikschrifttums online (http://www.musik bibliographie.de, 23.7.2016) ergibt die Recherche nach Schönberg 2935 Einträge (zum Vergleich: R. Strauss 1887, B. Bartók 1480, I. Strawinsky 942, A. Berg 830, A. von Webern 716); in der Publikations-Datenbank der Modern Language Association scheint Joyce mit Abstand am häufigsten auf (2302 Einträge, vor V. Woolf 1705, Kafka 1197, Borges 1075 und Proust 997). Die Zahlen zur MLA-Zitation stammen aus einem Vortrag von David Damrosch an der Universität Wien am 23. 7. 2016. 2 Butler 1990, setzt Schönberg in Beziehung mit Joyce sowohl im Zusammenhang mit den vorexperimentellen Phasen der beiden, die durch „complete recreative and parodic mastery of previous traditions“ (Butler 1990, 263) gekennzeichnet sind, wie auch mit ihren „formally extremely complicated works“, die „are independent of the usual mimetic aims associated with a particular content“ (Butler 1990, 275–276). Als Beispiele nennt er einerseits Stephen Hero (1904–06) und Pelléas et Mélisande (1902/03), andererseits Finnegans Wake (1939) und Moses und Aaron (1930–32). Die beiden Vergleichspunkte sind bei Butler aber viel zu allgemein formuliert, um zu überzeugenden Ergebnissen zu führen. https://doi.org/10.1515/9783110630756-012

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Auffällig ist zunächst der zeitliche Gleichschritt der beiden herausragenden Innovationsprojekte im Bereich der modernen Musik und Literatur. Joyce begann 1908 mit den Vorbereitungen zum Ulysses, die eigentliche Arbeit am Text setzte 1914 ein, fertiggestellt wurde der Roman 1921. Hervorzuheben ist, dass die experimentellen Elemente erst in den späten Kapiteln vorherrschen beziehungsweise in den früheren Kapiteln in der Endphase der Redaktion 1921/22 eingefügt wurden.3 1923 begann Joyce die Arbeit an seinem Work in Progress, das schließlich 1939 unter dem Titel Finnegans Wake veröffentlicht wurde. Schönberg datiert sein erstes, mit Hilfe der Zwölftontechnik komponiertes Werk, seine „erste strenge Komposition mit zwölf Tönen“, auf das Jahr 1921; gleichzeitig gibt er an, sich seit 1906 mit Kompositionen beschäftigt zu haben, „die zum Verlassen der Tonalität führten“ (Schönberg 1976, 381–382). Die Suche nach Einflüssen zwischen den beiden Künstlern entfällt infolge des Fehlens von Hinweisen auf gegenseitige Kenntnisnahme. Auch die Frage der ‚Musikalisierung‘ von Joyces Prosa, abgesehen von der Annäherung der Sprache an die Musik in Finnegans Wake, oder Schönbergs Umgang mit Texten bleiben ausgespart. Der folgende Vergleich zielt darauf ab, Analogien zwischen der Kompositionsweise zweier herausragender Vertreter der musikalischen und der literarischen Hoch-Moderne herauszuarbeiten. Beide arbeiten sich am ,Material‘ ab, das heißt an der Sprache beziehungsweise dem Tonsystem sowie an den Regeln ihrer Verwendung, der Grammatik respektive der Tonalität. Literatur und Musik stellen „conventionalized human signifying practices“ dar, „each of which is governed by a (historically variable) ‘grammar’ (generic conventions, the tonal system etc.)“ (Wolf 1999, 12). Eine wesentliche Differenz besteht darin, dass sie der lautlichen Dimension einen unterschiedlich hohen Stellenwert beimessen: Ist dieser in der Literatur, und da speziell in der Prosa, generell äußerst gering, spielen Klangphänomene lediglich in der Lyrik eine gewisse Rolle. Auf der Seite der literarischen Sprache tritt im Vergleich zur Musik die Semantik in den Vordergrund. Anders gefasst besteht der Unterschied darin, „daß die Laute, aus welchen das Material der Musik besteht, einfach Laute sind, während diejenigen, aus welchen das Material der Literatur besteht, durch die Zuweisung willkürlicher äußerer Bedeutungen nicht lediglich Laute, sondern Wörter sind“ (Brown 1984, 30). Beide Künstler richten ihre Innovationen vor allem gegen gewissermaßen versteinerte Regeln und konventionelle Zuordnungen, gegen melodische und harmonische Gewohnheiten in der Musik einerseits und vertraute

3 Zum Beispiel die an die Titel von Zeitungsartikeln angelehnten Zwischenüberschriften im siebenten Kapitel; vgl. Kenner 1980, 71; ferner Goldman 1966, 83.

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sprachliche Wendungen sowie Motive, Erzählformen und Klischees, die sich innerhalb des literarischen Realismus herausgebildet haben, andererseits. Was Schönberg betrifft, so beabsichtigte er mit der Zwölftontechnik die musikalische ,Sprache‘ zu reformieren, seine Kompositionen haben also in erster Linie selbst-referentielle, intra-musikalische, nämlich auf die vorhergehende und zeitgenössische Musik bezogene Bedeutung; auch die „culturally assigned connotations“ der Musik sollten verändert oder sogar zerstört werden.4 Ohnehin herrschen in der Musik im Allgemeinen, verglichen mit literarischen Äußerungen, intrinsische Beziehungen vor, Töne beziehen sich in der Regel auf andere Töne, nicht auf eine außermusikalische Realität. Schönberg intendierte die Veränderung der Hörgewohnheiten in Richtung Emanzipation der Dissonanz. Wie viele Musiktheoretiker und -praktiker vor ihm bezieht er sich auf die ,naturgegebene‘ Grundlage der Obertonreihe. Die klassische Funktionsharmonik hatte die ersten Töne der Obertonreihe privilegiert, die einen Dreiklang (1., 3. und 5. Ton der Reihe, dazwischen liegen bekanntlich Oktaven des Grundtons) bilden; auch die Töne der Dreiklänge auf der Subdominante und Dominante und jene der parallelen Molltonarten liegen im unteren Bereich der Obertonreihe. Dadurch wurden die Intervalle große Terz, Quint und große Sext mit Konnotationen wie schön, harmonisch, angenehm, fröhlich, vertraut und ähnliches versehen. In einem neutralen Mittelfeld bewegen sich Quart und Septimen, während Sekunden, die kleine Terz und der Tritonus als unangenehm ausgegrenzt wurden und bestenfalls als Durchgangstöne in Erscheinung traten. Diese Klassifikationen sind aber eben nicht naturgegeben, sie beruhen auf kulturellen Zuschreibungen und Hörgewohnheiten. Ihre Akzeptanz ist auf musikalische Sozialisation zurückzuführen, wie nicht zuletzt musikethnologische Rundblicke bestätigen. Sie sind ebenso willkürlich wie andere Tonsysteme einschließlich jenes der Zwölftontechnik. Ähnlich gehen auch grammatikalische und stilistische Regeln nicht automatisch aus dem ,Material‘ Sprache hervor, sondern sind verhandel- und veränderbar. Dasselbe gilt selbstredend auch für literarische Normen, etwa die Konventionen des realistischen Erzählens.

4 Vgl.Wolf 1999, 23; daneben wären noch die expressive und kulturelle Bedeutung zu nennen.

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2 „Emanzipation der Dissonanz“: Schönbergs Kommentare zur Zwölftontechnik, gelesen mit Adorno Ausgangspunkt für den Vergleich ist das Komponieren beziehungsweise Schreiben nach Strukturvorgaben, die in der Verwendung der Reihentechnik und dem sogenannten Gilbert-Linati-Schema impliziert sind. Die Verwendung externer Strukturvorgaben wie numerische oder topographische Schemata ist eine verbreitete Technik im Bereich des experimentellen Schreibens, die insbesondere jede erzählerische mimesis von vorneherein aushebelt (Ernst 1992). Diese Technik demonstriert, wie flexibel das ,Material‘ literarische Sprache – und in Analogie dazu das Tonsystem – ist; sie steht im Dienst der Befreiung des Materials von konventionellen Bedeutungen. Adornos Bemerkungen über die Zwölftontechnik in der Philosophie der neuen Musik sind für die Auffindung von Vergleichspunkten innerhalb dieses Rahmens hilfreich – ganz unabhängig von der Frage, inwiefern sie Schönbergs Konzeption und Anwendung der Dodekaphonie gerecht werden oder nicht, und auch unabhängig von dem Umstand, dass die beiden sich darüber entzweiten.5 In einer Fußnote der Philosophie der neuen Musik nennt Adorno Joyce in einer Reihe mit Picasso, Kafka und Proust als Künstler, der wie Schönberg fragmentarische und kritische Werke verfasste (Adorno 1978, 120). Diese Aufzählung stellt allerdings nicht viel mehr als name-dropping dar; allenfalls lässt sich durch einen Brückenschlag zu Adornos Aufsatz „Der Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman“ erklären, warum Joyce in diese Reihe geraten ist. Dort hält Adorno fest, dass in einem Zustand universaler Entfremdung das Medium eines traditionellen personalen Erzählers wie auch die Vorstellung komplikationsloser mimesis obsolet und ideologisch geworden sind. Joyces „Rebellion des Romans gegen den Realismus“ sei mit einer Rebellion gegen die diskursive Sprache und mit der „Emanzipation vom Gegenstand“ verbunden (Adorno 1981, 41–42). Parallel dazu könne man auf der Seite Prousts die extrem subjektivistische Auflösung der Erzählung beobachten, die „mikrologische Technik, unter der schließlich die Einheit des Lebendigen nach Atomen sich spaltet“ (Adorno 1981, 44).

5 Zum Verhältnis zwischen Schönberg und Adorno und den gegenseitigen Kommentaren vgl. Holtmeier und Linke 2011, 119–139.

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Wenn wir zu den Bemerkungen über die Zwölftontechnik im Kapitel „Schönberg und der Fortschritt“ in der Philosophie der neuen Musik zurückkehren, so fällt zunächst eine Stelle auf, an der Adorno en passant Komponieren und Schreiben vergleicht: Gelähmt wird mit der Spontaneität der Komposition auch die Spontaneität der avancierten Komponisten. Sie sehen sich vor so unlösbare Aufgaben gestellt wie ein Schriftsteller, der für jeden Satz, den er schreibt, Vokabular und Syntax eigens beistellen muß. (Adorno 1978, 101)

Der Kontext dieses Zitats ist die Diskussion der Folgen der Zwölftontechnik, die Adorno prinzipiell als notwendigen Schritt der Abkehr von der traditionellen Melodik und Harmonik betrachtet, als „eine Art Reinigung des musikalischen Materials“, das „von den Schlacken des bloß Organischen gereinigt wird“ (Adorno und Krenek 1929, 14). Andererseits, der im einleitenden Wort „gelähmt“ implizierte Befund kündigt es an, bedeutet die „Reinigung“ Verlust: Die Kreativität und Spontaneität des Komponisten wird drastisch eingeschränkt. Von der „Atomisierung der musikalischen Partialmomente“ und der daraus resultierenden Vernachlässigung des Gesamtzusammenhangs des Werkes und von dem Verlust des „musikalischen Sinns“ (Adorno 1978, 107) ist da ferner die Rede. Die Konzentration auf das Material und seine Gesetzmäßigkeiten bedeute einen Übergang von organischer Musik zu einem Diktat der Zahl und einem „Kultus der reinen Proportionen“ (Adorno 1978, 107), einen Verzicht auf die Möglichkeit, sich mit Hilfe von Musik subjektiv auszudrücken. Das moderne zerrüttete unterscheide sich vom traditionellen geschlossenen Kunstwerk dadurch, dass es von einem Ausdrucksmittel für Gefühle zu einem Medium des Denkens, der Kritik und der Selbstreflexion mutiert sei. Die rationale Durchorganisation der Komposition schalte die expressive Funktion der Musik aus, die Zwölftontechnik gehe viel mehr aus dem musikalischen Material hervor als aus den expressiven Absichten des Komponisten. Statt beispielsweise Leidenschaften auszudrücken, registriere Musik allenfalls noch „leibhafte Regungen des Unbewußten, Schocks, Traumata“ (Adorno 1978, 44). Nur im Vorbeigehen sei daran erinnert, dass auch im Zusammenhang mit Joyces Schreibweise in Finnegans Wake wiederholt von Fremdbestimmung im Sinne sprachlicher Autogeneration und der Annäherung des Textes an eine Traumrealität die Rede war. Angesichts der Formzwänge und Regeln der Zwölftontechnik, die seiner Ansicht nach die gesellschaftlichen Zwänge und die in der Moderne herrschende Entfremdung, ja Auslöschung des Subjekts repräsentieren, fordert Adorno die Emanzipation von dieser Technik, die Rückkehr zu Spontaneität, intuitiv-kreativer, von Reihen und Regeln befreiter Komposition und „Freiheit der Aktion“ (Adorno 1978, 111).

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Schönberg selbst hatte in seiner Harmonielehre von 1911, scheinbar in Einklang mit Adornos oben zitiertem Postulat der Expressivität, als Aufgabe der Kunst auf ihrer höchsten Stufe noch die „Wiedergabe der inneren Natur“ festgehalten: „Nur die Nachahmung der Eindrücke, die nun durch Assoziation untereinander und mit anderen Sinneseindrücken Verbindungen zu neuen Komplexen, zu neuen Bewegungen eingegangen sind, ist ihr Zweck“ (Schönberg 1922 [1911], 14). Das Ziel der Dodekaphonie ist aber eindeutig die Überwindung dieses Zusammenhangs durch Erneuerung abgenützter Techniken. Die Töne sollen gleiches Gewicht erhalten, um das Aufkommen eines Tonikagefühls, mit anderen Worten: Tonalität zu vermeiden. Sobald das Tonikagefühl aufgehoben ist, verlieren auch die anderen Töne, die chromatischen Stufen, ihre fixe harmonische Funktion. Um das Entstehen des Gefühls eines Grundtons zu verhindern, sollen Wiederholungen von Tönen vermieden werden oder in möglichst großer Distanz erfolgen, also die zwölf Halbtöne in einer Komposition statistisch möglichst gleichmäßig verteilt sein. Es soll „der einzelne Ton des Privilegs der Vorherrschaft beraubt“ werden, was wiederum die „Emanzipation der Dissonanz“ bedeutet (Schönberg 1976, 381). Bereits in der Harmonielehre hatte Schönberg betont, dass Tonalität „kein ewiges Naturgesetz der Musik“ (Schönberg 1922, 4) und der Unterschied zwischen Konsonanz und Dissonanz nicht wesentlich, sondern – analog zu dem Abstand der entsprechenden Obertöne vom Grundton – nur graduell sei. Es hängt nur von der wachsenden Fähigkeit des analytischen Ohrs ab, sich auch mit den fernliegenden Obertönen vertraut zu machen und damit den Begriff des kunstfähigen Wohlklanges so zu erweitern, daß die gesamte naturgegebene Erscheinung darin Platz hat. (Schönberg 1922, 18)

Die ,naturgegebene Erscheinung‘ meint hier zweifelsfrei die physikalischen Grundlagen der Musik, die mathematischen Verhältnisse zwischen den Tönen, wie sie durch die Obertonreihe definiert sind, die aber nur wenig mit der oft als naturgegeben aufgefassten konventionellen Tonalität und der klassischen Harmonielehre zu tun haben. Das menschliche Ohr sei vielmehr in der Lage, die entfernteren Obertöne mit zunehmend komplexerem Zahlenverhältnis zur Basisfrequenz ebenso präzise aufzufassen wie die naheliegenden (Oktave, Quinte, Terz etc.). In der Harmonielehre kündigt sich auch bereits der Gedanke an, als Grundlage der Harmonik die Gleichberechtigung aller zwölf Halbtöne zu postulieren. Ausschließlich negativ formuliert sind die Ziele in dem Vortrag „New Music, Outmoded Music, Style and Idea“: There should be avoided: chromaticism, expressive melodies, Wagnerian harmonies, romanticism, private biographical hints, subjectivity, functional harmonic progressions,

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illustrations, leitmotivs, concurrence with the mood or action of the scene and characteristic declamation of the text in opera, songs and choruses. In other words, all that was good in the preceding period should not occur now. (Schönberg 1975, 120)

In dem Manuskript mit dem Titel „Constructed Music“ wird die zeitgenössische nüchtern-konstruktive Kompositionsweise der spontanen Musik gegenübergestellt: „music is assembled from notes“. Wiederum in der Harmonielehre hatte Schönberg bereits betont, dass „der Ton das Material der Musik“ sei und daher „mit allen seinen Eigenschaften und Wirkungen für kunstfähig angesehen werden“ müsse (Schönberg 1922, 17). Damit wird der gestalterische Einfluss des Komponisten auf die Komposition eingeschränkt, zumindest werden seinen allfälligen Vorlieben für bestimmte Intervalle und Akkorde, und dabei insbesondere für Konsonanzen, Grenzen gesetzt. Das höchste Lob, das man einer Komposition zollen könne, sei, „that it really is well worked-out“ (Schönberg 1975, 106–107). Komponieren verlange ratio, nicht Gefühl; was zähle, sei der Einfall, nicht seine Einkleidung, Instrumentierung, Klangfarbe, der expressive Vortrag, Dekor und ähnliches. Schönberg zitiert in diesem Zusammenhang eine Beethoven-Anekdote: I have often wondered whether people who possess a brain would prefer to hide this fact. I have been supported in my own attitude by the example of Beethoven who, having received a letter from his brother Johann signed ‘land owner’, signed his reply ‘brain owner’. (Schönberg 1975, 122)

Adornos Einschätzung der Zwölftontechnik und auch die Frage, inwiefern Theorie und Praxis bei Schönberg übereinstimmen, sollen uns hier nicht weiter beschäftigen. Die zitierten Beobachtungen und Bemerkungen sind ohnehin mit dem einzigen Ziel ausgewählt, Stichwörter für den Vergleich mit Joyce zu liefern.

3 Joyces Auflösung der Gegenständlichkeit und des personalen Erzählens, verglichen mit Schönberg Die Aspekte Auflösung der Gegenständlichkeit und des personalen Erzählens durch Fragmentierung des Textes sollen am Anfang unseres Vergleichs von Schönbergs Kompositionstechnik mit der Schreibweise des Ulysses stehen,

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wobei das traditionelle realistische Erzählen mit der klassisch-romantischen Funktionsharmonik parallel gesetzt wird.6 Nur die ersten neun Kapitel des Romans sind (annähernd) personal aus Stephen Dedalus’ oder Leopold Blooms Perspektive erzählt; Abweichungen davon treten erstmals in Kapitel 10 („Wandering Rocks“) in Form der Segmentierung in achtzehn kurze Abschnitte auf (Kenner 1980, 61). Man folgt darin verschiedenen Figuren, die sich gleichzeitig auf dem Weg durch Dublin befinden. Die Technik der Episode ist die Mechanik, die Abschnitte greifen wie Zahnräder ineinander (Gilbert 1977, 182); sie bleiben ohne jede Erläuterung durch einen Erzähler, das Dargestellte spricht sozusagen für sich selbst (Stanzel 1977, 259). Ähnliches gilt für das elfte Kapitel („Sirens“), in dem die Erzählposition keinem der anwesenden Charaktere zugeordnet werden kann und das ,Material‘ Sprache endgültig in den Vordergrund tritt. Es ist für diese Darstellungsweise charakteristisch, „daß sie fortwährend versucht, die Mimesis der Wirklichkeit von dem Bedeutungsfeld der Wörter in den Wortleib, in das Laut- und Schriftbild der Sprache zu verlegen“ (Stanzel 1977, 260–261). Mit anderen Worten: Joyce ahmt in diesem Kapitel, sieht man von den verwendeten musikalischen Strukturformen (Fuge, Ouverture, Lied, Rondo und anderen) einmal ab, mit Hilfe von Worten lautmalerisch Geräusche und musikalische Klänge nach. Zusammenfassend stellt der Erzähltheoretiker Franz Karl Stanzel die Diagnose: Einheit der Erzählsituation setzt eine ruhende, Orientierung ausstrahlende, konstant dargestellte Mitte voraus [. . .]. Im Ulysses existiert diese Mitte, dieser Ruhepunkt nicht mehr. Alle sich daraus ableitenden Erzählkonventionen, Einheit des Er-Bezuges oder des IchBezuges, Fixierung des Beobachtungspunktes und der Perspektive usw., sind damit hinfällig geworden. (Stanzel 1977, 273)

In radikaler Form trifft das auch für das berühmt-berüchtigte 15. Kapitel („Circe“) zu, das zahlreiche Stimmen in Dramenform gegeneinander führt. Das erzählerische Subjekt in diesem Text kann bestenfalls in einer Minimaldefinition als „Bewußtsein des Autors im Augenblick des Konzeptionsprozesses“ (Stanzel 1977, 274) gefasst werden. Die Beispiele aus dem zweiten Teil des Ulysses ließen sich vermehren, aber der Befund, dass in diesem Werk ein verantwortlicher Erzähler oder Autor fehlt, ähnlich wie bei Schönberg das

6 In diesem Punkt berühren sich unsere Beobachtungen mit jenen von Schulze 1992, 5–22, die aber wenig über die Feststellung der Parallele zwischen Woolfs Überwindung der linearen kausalen Erzählweise und Schönbergs Überwindung der Funktionsharmonik hinaus gelangt. Die einzige Präzisierung besteht darin, dass sie die geregelte Abfolge der sechs Figurenstimmen in The Waves mit einer Zwölftonreihe vergleicht.

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komponierende Individuum zurücktritt, würde dadurch lediglich erhärtet, aber nicht verändert. Ebenfalls ab dem 10. Kapitel setzt sich eine Konzentration auf das Material Sprache durch, eine „Dominanz von Sprache und Stil gegenüber dem narrativen Interesse an Handlungsfortgang und innen- wie außengeschauter Personendarstellung“. Es gelingt der „Durchbruch zur Selbsterzeugung des Textes aus der sprachlichen, motivlichen und personellen Eigensubstanz des Werkes“ (Gabler 1977, 66–67). Joyce verglich seine Arbeit am Ulysses mit der eines Mosaiksetzers (Herring 1977, 82), was an Schönbergs Hinweise auf die Konstruktion von Musik erinnert. Direkt an das Tonsetzen, den Rückgriff auf bereits vorhandene Materialien, gemahnt ein anderes Zitat des Verfassers des Ulysses: „I have the words already. What I am seeking is the perfect order of words in the sentence“ (Herring 1977, 85). Hugh Kenner charakterisiert den Verfasser deswegen nicht als Autor, sondern lediglich als „arranger“ (Kenner 1980, 65). Ein anderer Aspekt der Verarbeitung bereits vorhandenen ,Materials‘ sind die vielen Rück- und Querverweise in dem Text. Ab dem fünfzehnten Kapitel wird der Text tatsächlich selbst-erzeugend: We might say, then, that by its fifteenth chapter, Ulysses has begun to provide its author enough in the way of material to become self-perpetuating. The cross-referencing which the author had injected before to remind us of similarities between characters [. . .] here takes on an appearance of autonomy, as ,characters‘ belonging to other contexts or even ontological levels rise up to confront the characters in the Dublin action [. . .]. (Goldman 1966, 99)

Die Analogie zur Zwölftontechnik besteht in der Vorbereitung des, Materials‘, der Tonreihe, die dann ,verarbeitet‘ wird – nicht gerade selbst-erzeugend, aber doch nach bestimmten regulierten Verfahren –, was die Töne in ungewohnte musikalische Kontexte stellt; statt ,characters‘ im obigen Zitat könnte man dann, Töne‘ setzen, die nicht in ihrer gewohnten Umgebung auftreten und ihrer tonalen Funktionalität entkleidet werden. Adorno hatte, wie bereits angedeutet, beklagt, dass die ursprünglich befreienden Momente der Zwölftontechnik in Unfreiheit umgeschlagen seien, weil das Subjekt hinter dem Material und vermeintlich naturgegebenen Gesetzen der Komposition verschwinde. Musik hört auf, Idiom zu sein, in überlieferten Formen für fest Überliefertes einzustehen. Dort aber zergeht in eins mit eben diesem objektiven Element der Ausdruck, dessen Steigerung zunächst gerade die objektiv traditionelle Seite der musikalischen Sprache negierte. [. . .] Aus der Dialektik tritt am Ende das Naturmaterial bedrohlich rein hervor. (Adorno 1984, 161–162)

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Der Rückzug auf das Naturmaterial war Adorno zunehmend suspekt geworden, weil die durchrationalisierte Zwölftontechnik das kreative Individuum in Analogie zur spätkapitalistischen Gesellschaft einschränke. Immer wieder wurde analog dazu von der Joyce-Forschung festgehalten, dass es Ziel seines Schreibprojekts war, „to transcend the barriers of expressiveness set by the systems of existing languages“; gleichzeitig betonte sie „the elements of chance and fluidity that Joyce was increasingly willing to admit into the mechanics of literary composition“ (Milesi 2003, 1). Wenn auch Teile des Ulysses, zum Beispiel das vorletzte Kapitel, geradezu als deterministisch bezeichnet wurden (Hart 1962, 65), so erinnert dieses Urteil wörtlich an Adornos Vorwurf an die Zwölftontechnik: „Die totale Determination berührt insofern sich mit dem Zufall, als die durchkonstruierte Musik dem Subjekt als ein so Fremdes und Inkommensurables gegenübertritt wie Zufallsereignisse“ (Adorno 1984, 138). Die bereits am Beispiel des Kapitels 10 erwähnte Fragmentierung wie auch die Konzentration auf das Material Sprache werden im Kapitel 14 („Oxen of the Sun“) auf die Spitze getrieben. Hier repräsentieren die jeweils kurzen Erzählabschnitte Prosastile aus der Geschichte der englischsprachigen Literatur sowie – gegen Ende des Kapitels – Dialekte und Slangs der Gegenwart. Sie bilden „a frightful jumble of Pidgin English, nigger English, Cockney, Irish, Bowery slang and broken doggerel“ (Joyce 2008, 906), die in parodistischer Form zitiert werden. Das Kapitel beginnt mit lateinischen Chronik-Phrasen, alliterierendem Angelsächsisch – „Before born babe bliss had. Within womb won he worship“ (Joyce 2008, 367) –, dem Stil mittelalterlicher Moralitäten und Epen, um sich über das 16. und 17. Jahrhundert zu Defoe, Swift, Sterne, Goldsmith und schließlich durch das 19. Jahrhundert bis hin zu Ruskin und Pater fortzubewegen. Die semantische Ebene der Sprache spielt kaum noch eine Rolle, die Abfolge historischer Erzählstile performiert die Entwicklung des menschlichen Embryos mit sprachlichen Mitteln. Der ,Inhalt‘ des Kapitels, die Geburt eines Kindes, ließe sich mit wenigen Sätzen zusammenfassen, der Roman generiert sich in diesen Abschnitten direkt und ausschließlich aus der Sprache. Um noch einmal Adorno als Wegweiser zu benutzen, seien seine Beobach-tungen zum Verhältnis von Abwechslung und Wiederholung in Schönbergs Zwölftonkompositionen zitiert. Die Variation einer vorgegebenen Tonreihe wird demnach zum dominanten Werkzeug musikalischer Dynamik, ja, die Zwölftontechnik erhebt „das Variationsprinzip zur Totalität, zum Absoluten“ (Adorno 1978, 99). Auch bei Joyce ist die sprachliche Variation zentrales kreatives Prinzip. Die Schreibweise des Ulysses wurde von Fritz Senn zu Recht als „fortwährende stilistische Re-Formation“ (Senn 1977, 27) bezeichnet. Die Variationsreihen stehen zuweilen im Zeichen des Strebens nach enzyklopädischer Vollständigkeit, wie zum Beispiel bei den von Joyce immer wieder angelegten Katalogen. Diese Kataloge

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stellen eine der wichtigsten experimentellen Techniken bei Joyce dar; sie dienen der „exploitation, to the point of explosion, of a given ‘programme’“ (Milesi 2003, 7). Ein Beispiel dafür sind die sprachlichen Transformationen von „Sindbad the Sailor“, die Ulysses’ Reisegefährten darstellen. Sindbad the Sailor and Tindbad the Tailor and Jinbad the Jailer and Whinbad the Whaler and Ninbad the Nailer and Finbad the Failer and Binbad the Bailer and Pinbad the Pailer and Minbad the Mailer and Hinbad the Hailer and Rinbad the Railer and Dinbad the Kailer and Vinbad the Quailer and Linbad the Yailer and Xinbad the Phthailer. (Joyce 2008, 689)

Nachgeliefert wird dann noch, außerhalb dieser Reihe, ein „Darkinbad the Brightdayler“. Die hier variierten Anlaute – B (C) D F (G) H J K L M N P Q R S T V W X Y Z (>Phth) – können mit einer von Schönbergs Grundreihen verglichen werden. Die Anlaute decken beinahe alle verfügbaren Konsonanten ab, es fehlen lediglich das C, das im Englischen phonetisch mit K oder S zusammenfällt, das G, das phonetisch meist mit J übereinstimmt, und das Z, das zu „Phth“ verballhornt wird, was eventuell einen Sprachfehler andeuten soll. Solche kleinen ,Fehler‘ im System werden von Joyce regelmäßig eingebaut, was ihn wiederum mit Schönberg verbindet, der sich ebenfalls gelegentlich Abweichungen von den starren Reihenregeln gestattete. Eine weitere Stelle, die auf dem Prinzip der Variation beruht, ist jene, in der Leopold Blooms Name dekliniert („Bloom. Of Bloom. For Bloom. Bloom; Bloowho, Bloowhose, Bloohimwhom“), zerdehnt („Booloohoom, Bloohoom“), als Relativpronomen interpretiert und mit Homophonen (blue, blew) assoziiert wird. Anagramme, die an Umkehrungen in der Musik erinnern, sind „Elpodbomool“ und „Old Ollebo, M. P.“, Übertragungen in andere Sprachen sind „Virag“ (Ungarisch), „O’Bloom“ (Irisch), „Don Poldo de la Flora“ (Spanisch), „Senhor Enrique Flor“ (Portugiesisch), „Henry Fleury“ (Französisch) oder „Professor Luitpold Blumenduft“. Ein Druckfehler macht den Helden zu „L. Boom“, daran fügen sich Verbalformen wie „blooming“ und „blometh“, die Ausbeutung der – jedenfalls von Joyce angenommenen – etymologischen Verwandtschaft mit ‚blood‘ in „bloody“ und in Ortsnamen („Bloom Village“, „Bloomville“), die Ähnlichkeit von „bloomers“ (‚trousers‘) und Verballhornungen („Bloomusualem“) sowie die Anhängerschaft der „Bloomites“.7

7 Alle diese Beispiele werden zitiert bei Senn 1977, 35–37.

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4 Schreiben/Komponieren unter Strukturvorgaben Eingangs war bereits von dem Zwang die Rede, den die Zwölftontechnik – zumindest in Adornos Interpretation – in das Kompositionsverfahren einführt. Wenn er schreibt: „Jeder Ton der gesamten Komposition ist durch diese ‚Reihe‘ determiniert, es gibt keine ‚freie‘ Note mehr“ (Adorno 1978, 63), ist das wohl übertrieben. Auch mag man nicht zustimmen, wenn Adorno behauptet, dass in den Fortsetzungen Willkür, Zufall, rastlose Permutationen und mechanische Muster regieren (Adorno 1978, 74). Aber dass die Zwölftonmusik als Verwirklichung der „Idee einer rationalen Durchorganisation des gesamten musikalischen Materials“ (Adorno 1978, 56) verstanden werden kann, dass sich „Stimmigkeit als ein mathematisches Aufgehen“ an die Stelle dessen setzt, „was der traditionellen Kunst ‚Idee‘ hieß“ (Adorno 1978, 67), scheint einleuchtend. Verallgemeinert man diese Beobachtungen ein wenig, so kann man sich darauf einigen, dass Schönbergs Zwölftonkompositionen externen Strukturvorgaben folgen. Dies trifft voll inhaltlich auch auf den Ulysses zu. Auch dort wird immer wieder ein Raum von Möglichkeiten beziehungsweise Varianten mehr oder weniger systematisch durchschritten. Schon die im vorigen Abschnitt zitierten ,Kataloge‘, das systematische Abarbeiten von ,Programmen‘, stellten Strukturvorgaben im Kleinen dar. Sie finden sich ebenso auf der Makroebene des Ulysses. Wenn Joyce etwa das vierzehnte Kapitel als eine Abfolge von historischen Prosastilen strukturiert, so sind dafür literaturgeschichtliche Handbücher Vorbild und Hilfsmittel. Im siebenten Kapitel sind Zeitungsartikel das Muster, im elften Kapitel die Form der Fuge und so weiter. Zumindest in Plänen zu dem Roman sind jedem einzelnen Kapitel sieben Kategorien zugeordnet, von denen es zumindest sechs erfüllen muss. Es gibt für jedes Kapitel bestimmte Figuren, Schauplätze und Handlungen aus der Homerschen Odyssee vor, ferner eine bestimmte Tageszeit, ein Organ des menschlichen Körpers, eine Kunst beziehungsweise Wissenschaft, eine Farbe, ein Symbol und eine (rhetorische) Technik (vgl. Abb. 1). Das Schema stammt aus einer späten Phase der Genese des Romans, es ist zum Teil aus der Analyse der bereits in Rohfassung vorliegenden Kapitel hervorgegangen, bildete aber die programmatischen Vorgaben für die tiefgreifende Überarbeitung und Endredaktion des Textes. Zwar wurden diese Angaben zuweilen als Versuch des Autors, die Kritiker auf falsche Fährten zu locken, verstanden (Herring 1977, 87–88), sie signalisieren aber jedenfalls den enzyklopädischen Anspruch, den der Roman an sich selbst stellt: Mit den Worten Stanzels ist der Roman „ein Experiment mit der Totalität der Darstellungsmöglichkeiten unserer Welt im Roman“ (Stanzel 1977, 293).

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Abb. 1: Das Gilbert-Linati-Schema aus Gilbert: 1960, 26–27.

Bereits am Ende seiner Harmonielehre von 1911 maß Schönberg – charakteristischerweise am Ende und damit eher im Sinn eines Gedankenexperiments – als Grundlage aller Komposition den Raum der musikalischen Möglichkeiten aus, indem er aus den zwölf Halbtönen alle möglichen Tonleitern inklusive „in der europäischen Kunstmusik nicht oder nur selten verwendeter exotischer Tonarten (u. dgl.)“ (Schönberg 1922, 464) ableitete. Diesem Überblick über das musikalische Potential sollte bald auch seine Auslotung mit Hilfe der Zwölftontechnik folgen. Sehr gut zeigen Reihentabellen wie jene zu Schönbergs Streichquartett No. 3, op. 30 (1927) das Prinzip der systematischen Ausmessung eines Raums von kombinatorischen Möglichkeiten (vgl. Abb. 2).8 Die Vermessung des Raums der Möglichkeiten wurde nicht nur im Bereich der Kunst, sondern auch im Zusammenhang der Psychophysik betrieben, so von

8 Reproduktion mit freundlicher Genehmigung des Archivs des Arnold-Schönberg-Centers, Wien.

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Abb. 2: Reihentabelle zum Streichquartett No. 3, op. 30 (1927).

Hermann Ebbinghaus, der die Gedächtnisleistung beim Erfassen mit Hilfe von Zufallsmechanismen erstellter Silben – unter anderem an sich selbst – empirisch testete. Die nach herkömmlichem Sprachverständnis sinnlosen dreisilbigen Wörter wurden aus einem vorgegebenen Reservoir von 11 Vokalen, 19 Anlautkonsonanten und 11 Auslautkonsonanten gebildet, was 2299 mögliche Kombinationen ergibt. Friedrich Kittler, der dieses Experiment als Analogie zur Laut- und Unsinnspoesie um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert bezeichnet, zieht auch eine Parallele zur Dodekaphonie: Ebbinghaus bildete Gruppierungen von

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einer Länge von 7 bis 26 Elementen (‚Reihen‘); bereits verwendete Elemente schieden aus dem Möglichkeitsraum aus, bis alle anderen Elemente verwendet worden waren; schließlich wurden auch bei diesem Sprachexperiment – ähnlich wie Schönberg Töne aus der Zwölftonreihe ‚übersprang‘, indem er sie in Parallelstimmen ‚auslagerte‘ – die strengen Regeln gelegentlich durchbrochen. Vor allem aber wird durch das komplizierte und letztlich nicht aufgrund sprachlicher beziehungsweise musikalischer Gewohnheiten vorhersehbare Arrangement des Materials der Naturbezug, das heißt die Verbindung zur ,natürlichen‘ Sprache – durchtrennt. „Unsinnssilben oder gleichberechtigte chromatische Töne konstituieren Medien im modernen Sinn: vom Zufallsgenerator ausgeworfene Materialmengen, deren Selektion dann einzelne Komplexe bildet.“ (Kittler 1995, 264–265).9

5 Semantische Entgrenzung: Finnegans Wake, gelesen durch die interpretive community Zum Abschluss werfen wir einen Blick auf Finnegans Wake, auf Joyces letztes Werk, an dem nur ein Merkmal hervorgehoben werden soll, das mit Schönbergs Kompositionsweise und seinem Umgang mit dem Tonmaterial vergleichbar scheint: Die Wörter werden in Finnegans Wake aus ihrem historischen Kontext und ihrer Herkunftssprache herausgelöst und verformt, um sie mehreren Sprachen zugleich zu assoziieren, und durch etymologische Verwandtschaft oder Gleichklang mit Bedeutungen aufgeladen – sie werden dadurch semantisch entgrenzt. Die wichtigsten von Joyce angewendeten Verfahren zur Akkumulierung und Komprimierung von Bedeutungen sind: – die Vertauschung gleich oder ähnlich klingender Wörter (Homonyme): ‚eye‘ – ‚I‘, ‚tail‘ – ‚tale‘, ‚bedoueen‘ – ‚between‘, ‚Finnagain‘ – ‚Finnegan‘; – Portmanteau- oder Schachtelwörter: ‚babbel‘: ‚Babel‘ – ‚to babble‘, ‚isthmass‘: ‚isthmus‘ – ‚Christmas‘, ‚phoenish‘: ‚phoenix‘ – ‚finish‘; – die Aufspaltung eines Wortes in zwei oder mehrere: ‚Mississippi‘ und ‚Missouri‘: ‚missus‘, ‚seepy‘ and ‚sewery‘;

9 Die Parallelen mit Vermessungen von Möglichkeitsräumen sind vermehrbar. Eine Anekdote will es, dass Schönberg durch eine in Kaffeehäusern verwendete Farbkarte, die Kaffee in zwölf nummerierten, durch unterschiedliche Beimengungen von Milch erzielten Brauntönen verzeichnete, zur Zwölftontechnik angeregt wurde (vgl. Persché 2007, 13).

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– die Ersetzung von Buchstaben durch andere: ‚Lord‘ – ‚load‘ – ‚loud‘, ‚February‘ – ‚febrewery‘; – die Verballhornung von Zitaten und Redewendungen: ‚Maria, full of grace‘ – ‚Maria, full of grease‘, ‚Ring out the old, ring in the new‘ – ‚Wring out the clothes! Wring in the dew!‘; – sprachübergreifende lautliche Assoziationen: ‚Send-us-pray‘ – ‚Saint Esprit‘, ‚Sophy Key-Po‘ – ‚Sauve qui peut‘.10 Die Verformungen erinnern an Sprachstörungen und an die „Sprachzersetzungsprodukte“ (Kittler 1995, 274), die um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert das Interesse der Wissenschaft auf sich ziehen. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich von den konventionellen Bedeutungen hin zu den Signifikanten und den von ihnen ausgelösten Assoziationen. Wie Ebbinghaus in seinen Grundzügen der Psychologie über seine Experimente zur Bildung von Assoziationen berichtet, fliegen den Probanden bei den Versuchen, Unsinnssilben auswendig zu lernen, trotz der Empfehlung, dies möglichst zu unterlassen, allerlei Nebenvorstellungen zu. Es fällt ihnen dabei etwas ein, und zwar bunt durcheinander das Allerverschiedenste: ein Gleichklang von Silben, Beziehungen von Buchstaben zueinander, ähnlich lautende sinnlose Worte oder Namen von Personen, Tieren u. a., Bedeutungen in einer fremden Sprache usw. [. . .] So wird z. B. pek zu Peking ergänzt, kin zu Kind; sep erinnert an Josef, neis an das englische nice, schuk an das französische choucroute. [. . .] Die Silben faak neit weckten z. B. bei einer Versuchsperson die Vorstellung Fahrenheit, jas dum bei einer anderen (durch Vermittelung des französischen jaser) die Vorstellung dummes Geschwätz; die Silbenfolge dosch päm feur löt wurde einmal zu dem Sätzchen verbunden: das Brot Feuer löscht. (Ebbinghaus 1919, 717)

,Sprachzersetzung‘ gemahnt an Dekonstruktion. Tatsächlich wurde vor allem Finnegans Wake als den Poststrukturalismus vorbereitendes Werk gelesen; auch haben Jacques Derrida, Hélène Cixous, Julia Kristeva, Jacques Lacan, Fredric Jameson und einige andere Joyce ihre Reverenz erwiesen (Attridge und Ferrer 1984). Brian McHale konstatierte Finnegans Wake betreffend, there is no stable world behind this consciousness, but only a flux of discourse in which fragments of different, incompatible realities flicker into existence and out of existence again, overwhelmed by the competing reality of language. Postmodernist fiction, in short. (McHale 1987, 234)

10 Kategorien und Beispiele nach Reichert 1989, 71.

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Noch konsequenter als in Ulysses wird in Finnegans Wake Sprache in den Mittelpunkt gerückt und bearbeitet. Die Wörter selbst, insbesondere ihre lautliche Gestalt, sind der einzige Gegenstand oder besser: die einzigen Ereignisse in Finnegans Wake. Zeitweise driftet die Sprache in „presemantic sounds“ (Milesi 2003, 5) ab. Durchgehend ist sie der Musik angenähert, was Joyce als Erklärung für die Merkwürdigkeiten der Textgestalt anführte: „He defended its technique or form in terms of music, insisting not on the union of the arts – although that seems to be implied – but on the importance of sound and rhythm, and the indivisibility of meaning from form [. . .]“ (Ellmann 1982, 703). Dieser Text ist lediglich als Text präsent. Here we are not inclined to ignore the medium whereby the content is transmitted; this is language at its least transparent [. . .]. Indeed it is difficult to talk of a ‘content’ that is somehow behind these words, preexisting and predetermining them [. . .]. (Attridge 1990, 10)

Auch in diesem Punkt, nämlich der Befreiung der Wörter von konventionellen Bedeutungen, scheint eine Parallele zur Zwölftontechnik und ihrer ‚Neutralisierung‘ des Tonmaterials vorzuliegen. Die Töne erfüllen innerhalb der konventionellen Tonalität bestimmte Funktionen, man könnte hier auch von fixer Bedeutung sprechen; in der Zwölftonkomposition erhalten sie die Freiheit, mit allen anderen Elementen des Tonraums in unter einander gleichberechtigte Beziehungen zu treten. Der Freiheit der Bildung von sprachlichen Assoziationen entspricht die Freiheit der Assoziation mit anderen Tönen. Zur Demonstration der Bedeutungsvielfalt der von Joyce eingeführten Universalsprache seien hier die bisher ermittelten möglichen Lesarten des ersten Wortes von Finnegans Wake, „riverrun“, vorgeführt. Die Grundlage dafür bildet „Finnegans Wiki“, eine der kollektiven Kommentierung des Werks gewidmete Website.11 Von dort stammen auch die folgenden Zitate. Zunächst werden einige intertextuelle Bezugstexte genannt: Genesis 2:10: „And a river went out of Eden to water the garden; and from thence it was parted, and became into four heads.“ – Revelation 22:1: „And he shewed me a pure river of water of life, clear as crystal, proceeding out of the throne of God and of the Lamb.“ – Samuel Taylor Coleridge, Kubla Khan: Or, A Vision in a Dream. A Fragment, lines 1–4: „In Xanadu did Kubla Khan / A stately pleasure-dome decree: / Where Alph, the sacred river, ran / Through caverns measureless to man / Down to a sunless sea.“ → with a possible hint that this word is the Alpha of FW and symbolizes ALP. For Kubla Khan see FW 32. The allusion to Coleridge’s Kubla Khan leaves enough room for speculations: the poem came to Coleridge during a drug-induced dream → reverie; from author’s note published

11 Siehe http://www.finnegansweb.com/wiki/index.php (22. 7. 2016).

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with the poem: „On awakening he appeared to himself to have a distinct recollection of the whole, and taking his pen, ink, and paper, instantly and eagerly wrote down the lines that are here preserved“ → Erinnerung; „At this moment he was unfortunately called out by a person on business from Porlock, and detained by him above an hour, and on his return to his room, found, to his no small surprise and mortification, that though he still retained some vague and dim recollection of the general purport of the vision, yet, with the exception of some eight or ten scattered lines and images, all the rest had passed away like the images on the surface of a stream into which a stone has been cast, but, alas! without the after restoration of the latter!“ → the smooth flow of words is interrupted by thunder, producing charosmatic world of FW. – Alfred Tennyson, Dying Swan, lines 5–6: „With an inner voice the river ran, / Adown it floated a dying swan, / And loudly did lament.“

Weiter unten werden diverse Flussbezüge angeführt: River Jordan: a river in the Holy Land → Giordano Bruno, whose name means literally „Brown Jordan“ → the River Liffey (FW 194.22 turfbrown mummy) → the Liffey as Dublin’s sewer → jordan = a chamber-pot. Giordano wrote mnemonic works (see Erinnerung above). – elvelop: (Norwegian) the course of the river, translates directly as riverrun (river – elv; run – lop (noun or imperative) – rivo (Latin) from (v) ,rivus‘ („brook; channel“): „I lead“ or „I draw off“.

Der nächste Eintrag widmet sich dem lautlichen Anklang an das deutsche Wort ‚Erinnerung‘ und zwei damit verknüpften Autoritäten, die in der Konzeption von Finnegans Wake eine Hauptrolle spielen: Erinnerung: (German) remembrance; memory (i. e. a thing remembered) – Vico, The New Science ¶ 819: „. . . memory is the same thing as imagination . . . the theological poets called Memory the mother of the Muses“; – Sigmund Freud, The Interpretation of Dreams (Chapter 5): Freud identifies memories as a principal source of the manifest content of dreams.

Hier fügt sich logisch ein weiter unten eingefügter Bezug an: „reverie: (n) a state of dreaming while awake, a daydream; a fantastic, visionary, or impractical idea; (music) an instrumental composition of a vague and dreamy character.“ Auch zwei Flussnamen können mit ,riverrun‘ assoziiert werden, wobei der zweite auf Wagners Opern verweist: river Rhone → river runs from Swiss Alps to the Mediterranean Sea – river Rhine → cf. the connections between FW and Wagner’s operatic tetralogy Der Ring des Nibelungen, which starts with the theft of the gold in Das Rheingold, and ends with the gold being Given! (FW 628.15) back to the Rhinemaidens at the conclusion of Gotterdammerung. – riverain: (adj) pertaining to a river or a riverbank; situated or dwelling on or near a river; (n) a district situated beside a river.

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Es folgen Hinweise zur Assoziation ,reverend‘ und diversen Partikeln des Wortes: reverend: (informal) a member of the clergy – Reverend: (adj) 1. (initial capital letter) used as a title of respect applied or prefixed to the name of a member of the clergy or a religious order, cf. ALP’s letter (FW 615 ff): „Dear. And we go on to Dirtdump. Reverend.“; 2. worthy to be revered; entitled to reverence; 3. pertaining to or characteristic of the clergy – Reverend Jonathan Swift’s Gulliver’s Travels was also a Menippean satire of decadence – err: to make a mistake; to sin; to wander from the right way; to go astray – Cf. A Portrait of the Artist as a Young Man: „To live, to err, to fall, to triumph, to recreate life out of life!“ It’s hard to find any better description for Joyce’s art in general and FW in particular. – run (Old English) mystery, secret; advice, counsel; writing; a rune – ri- (Italian) Prefix used with verbal roots to mean repetition; re-, again – ricorso (Italian) = return → Vico’s ricorso storico (historical return).

Den Abschluss bilden italienische, französische und deutsche Verbformen und Nomina, Anklänge im Irischen und einige entferntere Bezüge (Übersetzungen, Alt-Nordisch, das Sternbild Eridanos, das den Fluss, in den Phaeton stürzte, repräsentiert). Hier zeigt sich, dass der Assoziationsraum nicht eingrenzbar ist. riverranno: (Italian) they will return; they will come back – riveran: (Italian Dialect) they will arrive – riverain: (French) inhabitant – reverons: (French) let us dream – reveries: (French) day-dreams; reveries; ravings; delusions – reverrons: (French) let us see again – reverence: (French) curtsey – rief heran: (German) he or she called or summoned somebody – Ragnarok: (Old Norse) fate of the gods; twilight of the gods; end of the world – liv amhran: (L/R split) Liv (Titus Livius, Vico’s „first loved“ historian; Anna Livia Plurabelle; Lucia Joyce) + Irish „sing“. – Rivalin: Tristram’s father → L/R split – water faucet: is there a washhand basin with a tap in the corner of HCE’s bedroom? → the 1st of 7 elements in a circuit of HCE’s bedroom – watercourse → the Latinism-Saxonism of „river-run“ becomes the Saxonism-Latinism of „water-course“ – riverrun → Eridanos; Nonnus, Dionysiaca 23: „I will drag down from heaven the fiery Eridanos whose course is among the stars, and bring him back to a new home in the Celtic land: he shall be water again, and the sky shall be bare of the river of fire.“ – ribhéar a rúin, Irish for, my darling river‘ – Rún (Irish) a riddle, a mistery.

6 Conclusio Schönbergs und Joyces herausragende Innovationsprojekte fanden in auffälligem zeitlichem Gleichschritt statt, nämlich in den (frühen) 1920er Jahren. Sie sichteten kritisch ihr Material – das heißt die Sprache und die Erzählformen beziehungsweise die Tonskala. Anders formuliert rückten sie die Textoberfläche, den signifiant, und das Tonmaterial in den Vordergrund. Die literarische wie auch die Tonsprache wird dabei ihrer konventionellen Bedeutungen und

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Zuschreibungen beraubt. Bei Joyce wird die erkennbare Erzählposition, sei sie nun die eines personalen oder die eines allwissenden Erzählers, aufgelöst. Die Textpassagen sind nicht mehr einzelnen Charakteren zuzuordnen, sondern sie werden, um einen Terminus der Theorie des postdramatischen Theaters zu bemühen, zu ,Textflächen‘. Sowohl die Kompositionen Schönbergs wie auch Joyces Texte folgen externen Strukturvorgaben. Bei Schönberg ist das vor allem die vorweg definierte Reihe, die die weitere Entwicklung der musikalischen Komposition – Töne, Tondauer, Stimmführung – bedingt, in Joyces Ulysses sind es die durch das Gilbert-Linati-Schema vorgegebenen, zu erfüllenden Bedingungen, die den Text bestimmen. Auf der Mikroebene sorgen ,Kataloge‘, das Durchdeklinieren der Variationen eines vorgegebenen Materials, zum Beispiel eines sprachlichen oder musikalischen Motivs oder eben einer Zwölftonreihe, für den nämlichen Effekt des Ausmessens eines Möglichkeitsraums. Stets werden dadurch die Möglichkeiten des schöpferischen Subjekts, sich oder bestimmte Inhalte wie Botschaften oder Empfindungen durch seine Werke auszudrücken, stark eingeschränkt, wenn nicht aufgehoben, was für die konservative Kritik einen Stein des Anstoßes darstellte. Diese beklagte, dass hier Determination an die Stelle freier Expression trete. In Finnegans Wake wird die ,Sprachzersetzung‘ durch die Vermischung zahlreicher Sprachen radikalisiert. Die relative Bedeutungsfixierung der Sprache in konventionellen Erzählungen wird dadurch nachhaltig gelockert, wenn nicht aufgelöst, der Raum möglicher Intertexte und Assoziationen praktisch grenzenlos. Parallel dazu erhalten die Töne in der Zwölftonkomposition die Lizenz zu freier ,Assoziation‘, zum In-Beziehung-Treten mit allen anderen elf Tönen der chromatischen Skala. Die Emanzipation der Dissonanz öffnet und entgrenzt den musikalischen Assoziationsraum.

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Auf der Suche nach einer neuen Tonalität beziehungsweise Schreibweise

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Parsifal in Witebsk Für Alain Badiou ist eine „unreine Kunstform“ (2012, 138) eine solche, in deren Werken verschiedene Künste zusammenkommen: In der Oper beispielsweise die Musik, der Gesang, das Schauspiel, die Dichtung. Um zu einem Kunstwerk zu werden, wird sie dieses Mischungsverhältnis in einer solchen Klarheit und Exaktheit bestimmen, dass wir nicht anders empfinden können und dieses Verhältnis als konsequent und richtig verstehen. Das schließt die Brüche, Überlappungen, Verwischungen, Undeutlichkeiten, Wiederholungen und Entgegensetzungen nicht aus, sondern sie gehören vielmehr in dieser Form zusammen. Als unreine Kunstform eignet sich die Oper wie sonst vielleicht nur das Kino hervorragend dazu, spezifische Fragen über den Charakter des Werkes zu stellen, die seine Einheit, Reinheit und Größe betreffen: Wenn ein einheitlich und rein geformtes Werk uns oft als großes Werk der Kunst erscheint, dann bevorzugt die Kunst der Gegenwart das gemischte, unreine und minoritäre Werk. Anders herum vermeidet die gegenwärtige Kunst die Geste der ‚großen Kunst‘, weil sie die Momente der Einheit und Reinheit eher zu unterminieren denn hervorzubringen sucht. Die Kategorien der Reinheit, Einheit und Größe weisen so über das einzelne Werk hinaus: Nicht dass sie nur Interpretationsmuster markieren, sondern sie weisen darauf hin, dass Kunstwerke uns etwas zu denken geben, dass sie uns spezifische Entwürfe dieser Kategorien zu denken geben. Vor dem Hintergrund dieser Gegenüberstellung stellt dann jedoch gerade die Oper eine Frage: Nämlich die Frage danach, was eine reine Form in einer unreinen Kunstform eigentlich bedeutet. Ähnlich stellt sie als Mischungsverhältnis die Frage danach, was die Einheitlichkeit eines Werkes bedeutet. Wenn sich jedoch an einzelnen Werken zeigen lässt, dass eine reine Form gerade die Unreinheit als solche geschehen lässt und dass die Einheitlichkeit des Werkes die Einheitlichkeit dieses Geschehens ist, dann erscheint auch die Frage nach der ‚großen Kunst‘ in einem anderen Licht. Dies bedeutet jedoch auch, dass sich anhand der Oper Fragen zum Prozess des Kunstwerks stellen lassen, die in doppeltem Sinn über die Oper hinausreichen: Zum einen stellen sich in ihr Fragen, die in Bezug auf die Reinheit der Form Kunstwerke überhaupt betreffen. Zum anderen stellen sich in ihr Fragen der Mischung nicht nur künstlerischer Mittel, sondern auch der Mischung mit außerkünstlerischen Momenten: Beispielsweise der Philosophie und der Politik. So stellt die Oper jedoch auch eine Herausforderung für die Philosophie dar, wenn Philosophie der Platz genannt wird, an dem die möglichen Unterschiede in der Bestimmung der Fragen der Reinheit, der Einheit und der ‚großen Kunst‘ https://doi.org/10.1515/9783110630756-013

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gesammelt werden. Und es bedeutet auch, dass die Oper Fragen der Mischung stellt, die heute erneut so dringend vor uns stehen, nachdem das zwanzigste Jahrhundert versucht hatte, diese Fragen einseitig zu bescheiden.

1 In seiner Verteidigung Wagners hat Alain Badiou unter anderem die „Frage der ‚großen Kunst‘“ (2012, 86) aufgegriffen, um sie als eine Herausforderung der heutigen Zeit zu affirmieren: Was wir benötigen, ist weniger eine Distanz zu dem, was wir implizit unter dem Stichwort ‚große Kunst‘ verstehen (Vereinnahmung! Ungleichheit! Herrschaft!), als vielmehr ein neues Verständnis dessen, was ‚große Kunst‘ zu bedeuten vermag, und das führt schließlich auf ein neues Verständnis ihres Platzes in unserer symbolischen Ordnung. Wir sind nicht über große Kunst hinaus, uns fehlt große Kunst. Warum dem so sei, das ist eine Frage, die Badiou in anderen Texten zu beantworten gesucht hat. Allein, um den Rahmen abzustecken, sei gesagt, dass wir für Badiou nach dem Scheitern der Avantgarden in einer Zeit leben, in der die Kunst zwischen einem „Pseudo-Klassizismus“ einerseits und einem „romantischen Formalismus“ andererseits hin- und herschwankt: Große Spiele vereint mit großen Gefühlen als Ausdrücke der Körper (Vgl. Badiou 2007). Beides sind trügerische Paradigmen, da sie die Kunst entweder in den Kommerz überführen oder aber im Dasein der Körper verankern. Die Antwort auf die Frage nach dem, was uns fehlt, wenn uns ‚große Kunst‘ fehlt, lässt sich jedoch auch anders erreichen: Nämlich in einer Bestandsaufnahme einer ihrer letzten erklärten Erfüllungen – Wagner. Einer der Aspekte, die die Frage der ‚großen Kunst‘ für Badiou entscheidend bestimmen, ist ihr Verhältnis zur Totalität. Die Kunst der Avantgarden im frühen zwanzigsten Jahrhundert hat noch um die Frage der Totalität gekämpft, aber in dem Versuch, sie zu brechen. Es liegt in diesem Bruch der Norm begründet, dass die Avantgarden implizit politisch sind (Badiou 2006). Dieser Bruch passt sie in das zwanzigste Jahrhundert ein, das die beiden Pole von Affirmation und Nihilismus in einer „disjunktiven Synthese“ zusammen zu zwingen sucht, mit einer Gewalt, die die „Stelle einer fehlenden Konjunktion“ ausfüllen soll (Badiou 2006, 45). Wenn ein Aspekt der heutigen Situation der Kunst im Scheitern der Avantgarden zu finden ist, dann liegt es nahe, den Bezugspunkt der Totalität zu befragen, in den immanent auch die Verknüpfung von Kunst und Politik eingetragen ist – als Affirmation oder Unterbrechung der Norm, des Ganzen, des transzendenten Zusammenhangs. Nun ist Wagner das Beispiel schlechthin nicht für die Unterbrechung und Befragung, sondern zunächst ein

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Paradigma für den Versuch der Errichtung eines alles umfassenden transzendenten Zusammenhangs. Badious Beispiel ist hier Lacoue-Labarthes Wagner-Kritik, es ließe sich aber auch Adorno anführen, der in seinem Versuch über Wagner schrieb: „Bei Wagner überwiegt denn auch schon das totalitär-herrschaftliche Moment der Atomisierung; jene Entwertung des Einzelmoments gegenüber der Totalität, die echte, dialektische Wechselwirkungen ausschließt“ (Adorno 1997, 48–49). Ein paar Zeilen weiter wird jedoch die Totalität bei Wagner als widersprüchlich begriffen, was auf das Kernargument Adornos gegen Wagner hinausläuft, nämlich auf die Konstatierung einer undialektischen Doppeldeutigkeit, die aufgrund ihrer Unveränderlichkeit eine Naturalisierung in Szene setzt. Transzendenz wird für Adorno bei Wagner letztlich durch die Phantasmagorie ersetzt, den Schein des falschen Zusammenhangs, der dennoch die Unveränderlichkeit propagiert, das Schließen des Rings zum Immergleichen. Dies führt auf das Problem der transzendenten Schließung: Das Ganze unterwirft sich das Einzelne, und weil das Ganze sich nicht mehr entlang des Einzelnen begründet („undialektisch“), kann das Ganze auch als ‚transzendent‘ verstanden werden, das sich schließt und dauerhaft wiederholt. Adornos Unterscheidung zu Gunsten der Phantasmagorie ist letztlich eine Modifikation der Transzendenz. Transzendente Totalität: das ist das problematische Gesicht ‚großer Kunst‘. Begreifen wir diese Struktur als Problem der Frage nach der ‚großen Kunst‘ – Totalität, Naturalisierung, Schließung – dann müsste Wagner, wenn er als Beispiel gerade für eine solche ‚große Kunst‘ gelten könnte, die uns heute fehlt, ein Wagner sein, der in einer bestimmten Hinsicht betrachtet wird, ein Wagner, der sich unterscheidet von einem anderen Wagner, in dem die „Ästhetisierung der Totalität“ (Badiou 2012, 88) zu beobachten ist, die letztlich auf alle jene Momente führt, auf die die Kritik an Wagner zielt. Oder anders: Wenn über Wagner ein gegenwärtiger Mangel von ‚großer Kunst‘ gefasst werden kann, dann müsste in Wagner weniger ihre Bestimmung als vielmehr ihre Fragwürdigkeit auftauchen. Es müsste sich zeigen, dass die Frage der ‚großen Kunst‘ gerade nicht abgeschlossen ist. Badiou schlägt somit vor, eine Trennung in Wagner einzuführen, eine Trennung, die jedoch nicht den einen von dem anderen Wagner unterscheidet: nicht also dem Wagner der ‚großen Kunst‘ einen der ‚Kunst des Kleinen‘ gegenüberstellt. Es geht vielmehr um einen anderen Begriff ‚großer Kunst‘. Diese Operation vereinigt mehrere Züge auf mehreren Ebenen, die es zunächst nachzuvollziehen gilt. Hierzu sei eine ausführlichere Stelle zitiert, in der die verschiedenen Momente dieser Operation zusammengeführt werden: Wir müssen Wagner als jemanden begreifen, der sich heute anders verstehen lässt, als er sich selbst verstand, oder anders, als ihn jene verstanden, die den ‚Fall Wagner‘

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konstruiert haben. Das ist meine Hypothese. Wenn es sich so verhält, ließe sich Wagner nicht mehr ausschließlich als Totalität betrachten, weil das, womit wir uns beschäftigen, Größe ohne Totalität ist. Wir lassen uns also auf eine Fragmentierung Wagners ein. Das bedeutet nicht unbedingt, dass man keine Totalität mehr kennt, sondern dass sich ihre Spur in der Fragmentierung oder Lokalisierung findet, dort, wo – musikalisch und dramatisch – Kontinuität und Dissonanz, Lokales und Globales aufeinandertreffen. Wenn wir Wagner – durch sein Werden, seinen künstlerischen Prozess, sozusagen mikroskopisch – in seiner eigenen, einmaligen Form der Fragmentierung begreifen, bin ich davon überzeugt, dass er sich gerade da, wo Kontinuität und Dissonanz, Lokales und Globales aufeinandertreffen, gegen die sechs Anklagepunkte, die gegen ihn vorgebracht wurden, verteidigen lässt. (Badiou 2012, 88–89)

Der Unterschied, der hier eingezogen wird, betrifft den strukturellen Platz der Totalität: Anstatt Totalität als die umfassende Einheit eines Werkes, eines Geschehens, einer Idee zu begreifen, schlägt Badiou vor, Totalität dort anzusiedeln, wo die auseinanderstrebenden Bewegungen eines Werkes, eines Geschehens, einer Idee aufeinandertreffen. Diejenige Stelle jedoch, an der beispielsweise Kontinuität und Dissonanz aufeinandertreffen, vermittelt sie ein kontinuierliches Verhältnis oder ein diskontinuierliches? Ist der Punkt, an dem Globales und Lokales aufeinandertreffen, selbst ein globaler oder ein lokaler Punkt? Man wird zunächst sagen, dass diese Stellen sich nicht in eine der beiden Polaritäten auflösen lassen, die sich in ihr einander entgegenstellen, die sich in ihr zusammenfinden. In genau diesem Sinn ist dann die Rede von der ‚Lokalisierung‘ zu verstehen. Man wird auch zunächst davon ausgehen, dass diese Stellen mehrere sein müssen, da sonst die Unterscheidung des Lokalen oder Partikularen wenig verständlich wäre – diese Unterscheidung benötigt das Globale als ihr Gegenüber und sie benötigt eine Pluralität. Es gibt immer mehrere Lokalitäten, mehrere Diskontinuitäten. Im strengen Sinn muss es dann jedoch auch mehrere Momente der singulären Totalität geben. Aber gehen wir weiter. Zum Schluss des Zitats ist von den „sechs Anklagepunkten“ die Rede. Es handelt sich um sechs Anklagepunkte, denen Badiou in seinem Buch (das sich wiederum in „fünf Lektionen zum ‚Fall‘ Wagner“ unterteilt) folgt. Wir werden hier erneut auf den Zusammenhang von Teil und Ganzem verwiesen. Die sechs Anklagepunkte seien hier nur kurz benannt, da es uns vor allem um das Zusammenspiel dieser Anklagepunkte in der Frage der ‚großen Kunst’ geht. Der erste Punkt besteht in dem „Vorwurf, Wagner habe die melodische Linie auf ein Kontinuitätsprinzip reduziert“ (Badiou 2012, 82). Den zweiten Vorwurf sieht Badiou in der vermeintlichen Auflösung des Leidens in ein allumfassendes Mitleid. Drittens habe Wagner alle Aspekte der Differenz dem Ziel einer Versöhnung unterstellt. Viertens funktionierten diese Unterordnungen nur mit der „Brechstange“ (Badiou 2012, 83) eines rationalen Narrativs. Fünftens – ein Punkt, der hauptsächlich auf Adorno zielt – sei Wagner nicht in der Lage

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gewesen, ein „wirkliches Warten [zu] kreieren“, weil jedes Warten noch ein Warten auf die Erlösung sei (Badiou 2012, 83). Sechstens schließlich könne „die Musik Wagners aus all diesen Gründen keine Erfahrung der Zeit hervorbringen“, könne „keine Schöpfung oder gar ein Denken der Zeit sein“ (Badiou 2012, 83). Wenn also die Frage der ‚Größe ohne (transzendente) Totalität‘ denjenigen Punkt markiert, ausgehend von welchem alle sechs Punkte sich zurückweisen lassen, dann lässt sich dieser Punkt – der Größe ohne Totalität – als ein Wendepunkt verstehen: Die Frage ist mithin nicht, ob einem bestimmten Wagnerbild ein anderes entgegengestellt wird, sondern ob sich in Wagner ein Wendepunkt markieren lässt, an dem in Wagner ein anderer Wagner sichtbar wird. Das meint die Rede von der ‚Fragmentierung‘: Wenn es stimmt, dass in Wagner eine andere Größe als die der transzendenten Totalität sichtbar werden kann, dann ist Wagner selbst nicht als Totalität, sondern als Vielheit zu verstehen. Größe: Ein Wendepunkt, von dem aus sich in Bezug auf alle anderen Punkte des Werks etwas sagen lässt. Ohne Totalität: Ein Wendepunkt, der sich die anderen Punkte nicht unterwirft, sondern in sie etwas anderes einträgt. Vielleicht ist es von Beginn an ein Problem, dem einen großen, totalitären Wagner einen ganz anderen gegenüberstellen zu wollen – denn diese Geste würde nur das ursprüngliche Problem wiederholen, dass es nämlich nur um einen Wagner geht. Diese Wiederholung aber impliziert jedoch einen Begriff von Größe, der letztlich erneut auf eine Transzendenz zielt: Größe als Totalität meint nichts anderes, als dass der lokale Punkt auf den globalen transzendiert wird, dass das Globale das Gesetz des Lokalen ist, dass sich jedes Detail der Totalität, die es transzendiert, zu unterwerfen hat. Ein ganz anderer Wagner ist dann genauso ein falscher Wagner wie derjenige, dem er gegenübergestellt wird. Die gesamte Frage ist entscheidend für die Rezeption ‚großer Kunst‘ selbst: Wir kennen alle möglichen Thesen zum Umgang mit ‚großen Werken‘, die zugleich etwas mit sich bringen, das wir ohne Zweifel nicht teilen wollen: Rassismus, Antisemitismus, Faschismus. Nicht nur Wagner, beispielsweise auch Heidegger: Ist sein Werk vollständig zu ignorieren, weil es infiziert ist vom Faschismus und Antisemitismus? Sind seine deutlichen und ambivalenten Äußerungen nur Randerscheinungen, die dem Werk nichts anhaben können? Beides – die Idee der Infektion wie die Idee der Randerscheinungen – trägt die problematische Frage der Reinheit des Werkes in sich. Wie aber etwas als Vermischtes erscheinen kann, das ist eine Frage, die schon zu einer der schwierigsten Passagen in Platons Sophistes geführt hat. Die Einheit des Seienden ohne Verschiedenes führt auf unüberwindbare Widersprüche, weil wir dann beispielsweise nicht sagen können, dass etwas sowohl ruhig wie in Bewegung sein kann. Dann ist letztlich alles eins, was in einen Widerspruch führt, sobald man von ihm spricht.

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Nicht ein anderer Wagner ist die Frage, sondern etwas anderes in Wagner. Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine neue Berechtigung, eine Geste aufzugreifen, die oftmals im Zusammenhang mit der Analyse von Kunstwerken verpönt ist: Nämlich diejenige Geste, mit der ein Fragment herausgebrochen wird, um aus ihm etwas Fragmentiertes auszulesen. Das Fragment, das hier zu diesem Bruch vorgeschlagen sei, ist die Frage der Zeremonie im Parsifal.

2 Badiou selbst gibt sich nicht als unbedingter Anhänger des Parsifal zu erkennen, vielmehr geht seine Betrachtung der Oper mit allerlei Vorbehalten einher: Er kritisiert unter anderem ein „Sammelsurium christlicher Elemente“, „Spuren von Rassismus“ und eine „zweifelhafte Sexualsymbolik“ (Badiou 2012, 138–139). Das alles also gibt es im Parsifal. Badiou versteht die Oper in ihrem allgemeinen Begriff als eine „unreine Kunstform“, „eine heterogene Vielheit“, aus deren Entwicklung ein Kampf mit dem Zufall und dem Nichts resultiert (2012, 138). Sie ist heterogen, weil sie „gleichzeitig per Zufall und aus dem Nichts entsteht (Badiou 2012, 138)“ und ihre Aufgabe ist es, aus dieser heterogenen Unreinheit eine reine Form zu machen. Die Oper selbst ist so der Vorgang der Umwandlung dieser beiden Momente von Nichts und Zufall. Als gemischte Kunstform verbindet sie wie das Kino verschiedenste Materialien und Quellen, und diese Heterogenität und ihre Kontingenz kann sich noch auf der Bühne in einem „szenische[n] und symbolische[n] Durcheinander“ (Badiou 2012, 138) wie im Parsifal ausdrücken, ebenso wie ihre Entstehung aus dem Nichts auf ihre Grundlosigkeit hinweist, darauf, dass sie keinen festen Boden in einer vorgegebenen Kunst unter den Füßen hat, sondern in der Unreinheit einer Mischung entsteht. Über einen Vergleich mit Mallarmé entwickelt Badiou die Umwandlung des Nichts „in Reinheit“ und des Zufalles „in das Unendliche“ und schlägt vor, Parsifal nicht als eine Figur, sondern als einen Signifikanten der Reinheit zu betrachten, der sich jedoch in sich selbst wandelt: „Parsifal vollzieht [. . .] den Übergang von der Ohnmacht der Reinheit im Sinne von Unwissenheit zur Reinheit als einer Macht – der Reinheit als Macht des Wissens“ (Badiou 2012, 140–141). Dieser Begriff von Parsifal verknüpft sich direkt mit der Überzeugung, dass „auf der Ebene der Diskurse, Erklärungen und Erzählungen“ nicht zu bestimmen sein wird, „was das Thema des Parsifal ist“ (Badiou 2012, 146). Ein sich wandelnder, darstellender und dargestellter Signifikant entzieht sich der Ebene der Erklärungen insofern er nicht allein auf dieser Ebene zu fassen ist, sein Thema und seine Darstellung brechen sich gegenseitig. Dieses – nicht artikulierte, aber dargestellte – Thema wird

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dann als die Frage danach bestimmt, „ob eine moderne Zeremonie möglich ist“ (Badiou 2012, 147) – für Badiou eine Kernfrage des zwanzigsten Jahrhunderts, die vor allem die „zeremonielle Sichtbarkeit der Massen“ (2012, 157) betrifft. Der Begriff der Zeremonie wird zunächst von der Religion unterschieden: „Weil die Zeremonie zwar als eine Form anzusehen ist, in der sich die Gruppe oder sogar die Gemeinschaft selbst darstellt, die Transzendenz daran aber keinen wesentlichen Anteil hat“ (Badiou 2012, 147). Hier ist also zunächst zu sehen, dass die Frage nach der modernen Zeremonie eine Trennung, eine Unterscheidung in den Parsifal Wagners einführt: Denn es ist zunächst kaum möglich, die Zeremonie der Gralsenthüllung aus der überbordenden christlichen Metaphorik zu extrahieren. Für Badiou ist die Zeremonie aber auch von jeder Ästhetik des Erhabenen unterschieden, da sie auch hier nur ein „Mittel zum Zweck“ wäre (2012, 148). Es geht um die Zeremonie als Selbstzweck, als Inszenierung und Darstellung, Präsentation einer Gemeinschaft. Warum ist dies eine Frage ‚großer Kunst‘? Wir können sagen, dass es eine Frage ‚großer Kunst‘ ist, insofern eine solche Zeremonie zwar nicht Mittel zum Zweck wäre, also nicht auf ein anderes Ziel hin überstiegen wird, als konkrete Form einer Selbstpräsentation einer Gemeinschaft rein formal aber dennoch eine Möglichkeit denkt, die hypothetisch alle anderen als mögliche Beteiligte anspricht. Wir können also die Frage des fragmentierenden Eingriffs in Wagner auf die Frage nach der Zeremonie übertragen: Anhand der Zeremonie stellt sich erneut die Frage, wie eine Größe ohne Totalität möglich ist, und anhand der Zeremonie stellt sich erneut die Frage, wie ein anderer Begriff von ‚großer Kunst‘ denkbar ist, die als Herausforderung vor uns steht. Und schließlich markiert die Zeremonie im Parsifal Wagners jenes Moment der Schließung, um deren erneute Öffnung es geht: denn einerseits macht die Schließung der Totalität Wagner, wie Badiou bemerkt, zu einer Art Hegel der Musik – das ist ja eine beliebte Parallele der Wagner-Kritik1 – andererseits aber ist die (alte) Zeremonie der Gralsburg selbst geschlossen, „verschlossen durch den väterlichen Signifikanten“ (Badiou 2012, 142), sie vermag sich nicht mehr auf das Unendliche zu öffnen, weil sie nur noch dem Überleben Titurels dient (2012, 147–148). Das bedeutet jedoch, dass die Frage der Zeremonie nicht nur formal einen anderen Übergang zwischen dem Lokalen und dem Universalen in Aussicht stellt, sondern sich in der Figur des Parsifal noch einmal bricht. Badiou charakterisiert die Entwicklung Parsifals als eine Entwicklung eines Signifikanten der Reinheit (von der Unwissenheit zur Macht des Wissens) und versteht die Oper als Arbeit an der Frage der Reinheit: „Wir finden also in der Handlung des Parsifal eine Logik, die die Reinheit und

1 Beispielsweise bei Adorno, hier aber Wagner gegen Hegel gesetzt (Adorno 1997, 102).

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Unendlichkeit als Arbeit, dann als Um-Arbeit, auf das unreine und heterogene Material bezieht, als einen Kampf gegen den Zufall und gegen das Nichts.“ (Badiou 2012, 142) Somit ist der Parsifal jedoch zugleich als eine Oper über die Frage der unreinen Kunstform überhaupt bestimmt: Über die Frage nämlich, wie aus der unreinen Kunstform, die dem Zufall und dem Nichts entstammt, eine reine Form zu schaffen sei. Dass der Prozess der Form hier als ‚Arbeit‘ bestimmt wird, verweist darauf, dass für Badiou die Sequenz eines Kunstwerks ein schöpferischer Prozess ist, die Gestaltung einer Subjektivität, die sich im Werk manifestiert. Wir können sagen: Diese Gestaltung zeigt sich im Parsifal als die Zeremonie ihrer selbst, es geht um die Darstellung der Entfaltung eines subjektiven Prozesses selbst. Die Zeremonie stellt den Bruchpunkt dieser Arbeit dar, nämlich die notwendige Um-Arbeit, die vonnöten ist, um den Zufall und das Nichts in die Unendlichkeit und in die Reinheit zu verwandeln. Zugleich stellt die Zeremonie dann die Frage der Fragen: Nicht nur ‚wie ist diese reine Form möglich‘? Sondern auch: Bedarf die Form nicht auch einer permanenten Überarbeitung und ist somit vielleicht selbst gar nicht ‚rein‘? Die Frage der ‚reinen Zeremonie‘ wiederholt so auf mehreren Ebenen die Frage danach, wie aus der Vielheit eine Form zu gewinnen ist, die diese Vielheit rein zu sich bringt. Nicht nur die Vermischung von Kunst und Politik, und nicht nur die Vermischung der verschiedenen Medien der Oper, sondern auch die Vermischung der verschiedenen Aspekte eines Werks – eines einzelnen und eines Gesamtwerkes – brechen sich im Parsifal, im Werk und in der Figur.

3 Ein Bezug zur Frage der modernen Zeremonie, den auch Badiou herstellt, ist der Bezug zur Möglichkeit einer kommunistischen Gemeinschaft, die sich nicht in der Transzendenz der „Partei“ oder des „Obersten Führer“ (Badiou 2012, 148) verschließt. Auch Slavoj Žižek hat einen Zusammenhang zwischen Parsifal und der Frage der Gemeinschaft in den revolutionären Gemeinschaften des zwanzigsten Jahrhunderts gezogen: Es ist eines der Klischees, denen zu widersprechen sei, dass Parsifal als Retter der elitären Gemeinschaft der Gralsritter zu verstehen wäre, vielmehr zielt Parsifals Geste der Enthüllung des Grals auf eine universale Enthüllung, eine Enthüllung, die den Gral für alle öffnet (Žižek 2013, 78). Mit der Frage nach der Möglichkeit einer ‚neuen Zeremonie‘ stellt sich somit die Frage nach jenem impliziten Wechselbezug von Politik und Kunst, der auch bei Wagner angelegt ist, den die Avantgarden in der Figur der Unterbrechung neu beleben und der heute allenthalben in der sogenannten Gegenwartskunst erneuert werden soll. Wenn alle diese Figuren ein Problem teilen, dann, dass sie entweder

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die ‚Größe‘ abzuziehen suchen oder aber die ‚Totalität‘ beibehalten. Was aber zu suchen wäre, wenn wir den eingangs gemachten Überlegungen folgen, wäre eine Zeremonie ohne Totalität. Das wäre jedoch eine Zeremonie, die die Bemühungen des zwanzigsten Jahrhunderts noch übersteigt. Žižeks Vorschlag lässt sich so verstehen, dass der Parsifal sich entgegen aller klischeeisierten Deutungen der unaufhebbaren binären Konflikte auch als eine Zeremonie verstehen lässt, die auf die Aufhebung dieser Konflikte in einem neuen Akt zielt: Einem Akt, der letztlich beide Ebenen, die der Versöhnung und die des Konflikts in eins fallen lässt – kongenial ausgedrückt in Syberbergs doppelter, weiblicher und männlicher Besetzung der Rolle des Parsifal. Wenn also der Parsifal auch in die Richtung einer neuen Gemeinschaft weist, dann lässt sich Žižeks Referenz auf Brechts Lehrstücke folgen: Is the topic of both Parsifal and Die Maßnahme not that of learning? The hero has to learn how to help people in their suffering. The outcome, however, is opposite: In Wagner compassion, in Brecht/Eisler the strength not to give way to one’s compassion and directly act on it. However, this opposition itself is relative: the shared motif is that of cold/distanced compassion. The lesson of Brecht is the art of cold compassion, compassion with suffering that learns to resist the immediate urge to help others; the lesson of Wagner is cold compassion, the distanced saintly attitude (recall the girl into which Parsifal turns in Syberberg’s version) which nonetheless retains compassion. (Žižek 2013, 79)

Beide, Brechts Maßnahme wie Wagners Parsifal sind Stücke über die Notwendigkeit des Lernens. Lesen wir sie als Stücke über die Suche nach der neuen Zeremonie, dann ist es das Lernen, das den Kern der neuen Zeremonie ausmacht. Einmal gilt es, das Mitleid zu Gunsten der Revolution zurückzuhalten, einmal gilt es, „durch Mitleid wissend“ zu werden, wie es bei Wagner heißt. Die neue Zeremonie erfasst also die Transformation des Alten zum Neuen im Punkt des Lernens, ein Lernen, das zugleich einen notwendigen Abstand in die Zeremo-nie selbst einführt: die zeremonielle Darstellung der Gemeinschaft gründet auf einer notwendigen Unterscheidung des Direkten vom Umfassenden oder des Lokalen vom Universalen. Auch die alte Zeremonie kennt diese Unterscheidung, aber es ist die Unterscheidung des Akts vom Transzendenten. Die neue Zeremonie wird das Problem des Transzendenten aber nicht zu Gunsten eines Vorranges des Lokalen wegwischen können, das eigentliche Problem der neuen Zeremonie berührt die Frage eines neuen Verhältnisses von Universalem und Lokalem. Man kann jedoch diese Schwierigkeit noch radikalisieren, indem eine weitere Frage angefügt wird, die das Problem des zwanzigsten Jahrhunderts mit der neuen Zeremonie, so wie wir es heute wissen, benennt: dass sie nämlich in sich scheitern kann. Eine zentrale Schwierigkeit der neuen Zeremonie erscheint dort, wo das Lehrstück scheitert. Das Lehrstück scheitert jedoch nicht dort, wo

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nicht gelernt wird, sondern es scheitert dort, wo das Gelernte nicht rein ist, zu etwas anderem wird, sich vergisst. Und in diesem Scheitern taucht erneut die Möglichkeit der Transzendenz auf, denn es könnte sein, dass das Scheitern entweder eine neue Transzendenz behauptet (alle Versuche sind von vornherein zum Scheitern verurteilt) oder aber das Lernen, den Prozess, verabschiedet: Ein Prozess des Lernens ist nur Schein, was notwendig ist, ist allein ein Imperativ. Was also, wenn sich gerade im Moment des Lernens die allergrößte Macht zeigt, was, wenn gerade dieses Moment sich nur als Trick erweist, und die Zeremonie sich doch erneut schließt? Wenn die neue Zeremonie tatsächlich nur die alte ist? Eine „Zeremonie ohne Transzendenz“, so Badiou, ist „eine Zeremo-nie, die kein Mittel zu einer Sache wäre, sondern die Sache selbst, die Darstellung der tätigen Gemeinschaft an und für sich selbst, die alle umfassende Konstruktion jener Quelle der Freude, das aufzuführen, wozu man in Zukunft fähig ist“ (Badiou 2012, 148). Das ist die Frage: Ob sich mit der Rückkehr Parsifals etwas ändert, ob sich die Gemeinschaft, ihre Zukunft, ihre Gegenwart ändert, oder ob Parsifal nur eine Fortsetzung des „perverse paradise of a partial drive making its circuit around the Object“ ist (Žižek 2013, 77).

4 Um diese Problematik zu verdeutlichen, kann ein Stück angeführt werden, in welchem genau dieses Problem erscheint, und in dem in Bezug auf die Politik des zwanzigsten Jahrhunderts diese Ungewissheit bis hin zu ihrer Unentscheidbarkeit ausbuchstabiert worden ist. Das Stück, konzipiert als Antwort auf Brechts Maßnahme, ist Heiner Müllers Mauser aus dem Jahr 1970. Formal eine Wiederaufnahme von Brechts Lehrstück, präsentiert Mauser die zitternde Gleichheit zwischen der Ausführung des Aktes einer Gemeinschaft und der notwendigen lokalen Stätte im Individuum, an dessen Körper dieser Akt sich vollzieht. Mauser ist kein Gegenentwurf zu Brechts Maßnahme, sondern vielmehr die Exposition einer inneren Unmöglichkeit, die allerdings nicht der Möglichkeit einer modernen Zeremonie widerspricht, sondern die Frage nach der Möglichkeit einer solchen Zeremonie auf den höchsten Punkt zu treiben sucht. Mauser wiederholt das Spiel der inneren Umdrehung, das auch den Parsifal kennzeichnet. Im Parsifal sind alle Figuren Figuren der Verdrehung: Klingsor ein gescheiterter Gralsritter, Titurel derjenige, der – wie Žižek bemerkt – durch seine Mitleidslosigkeit gegenüber seinem Sohn die eigentliche Quelle des Unheils ist, Kundry, die ‚Zaubererin‘, hin- und hergerissen zwischen beiden Welten (und die sich bei Syberberg am Schluss erlöst zum sterbenden Amfortas legt) und schließlich Parsifal, der bei Syberberg vom törichten Jungen zum naiv-weisen Mädchen wird. Mauser, so

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ließe sich sagen, führt diese Drehung so weit, dass die Unterscheidungsmöglichkeit sich letztlich verliert: Wenn Lernen der schwierige und noch mit dem Tod zu bezahlende Prozess ist, den die Maßnahme vorführt, dann stellt Mauser die Frage nach dem Vergessen des Gelernten. Ein Vergessen, das aber nicht das Vergessen von etwas ist, sondern den Zweifel aufbrechen lässt, ob im Gelernten wirklich etwas anderes zu finden ist. Mauser schildert wie schon Brechts Maßnahme die Szene der Verurteilung eines Revolutionärs, der sich von den Befehlen der Revolution entfernt hat. Den Feinden der Revolution den Tod zu geben, ist sein Auftrag, und sein erster Auftrag ist der Tod desjenigen, der vor ihm an seiner Stelle stand, aber schwach wurde im Wissen: „Ich weiß es nicht mehr, ich kann nicht mehr töten“ (Müller 2001, 248). Der Zweifler muss sterben, aber derjenige, der ihn ersetzt, verlernt den Unterschied zwischen dem Töten für die Revolution und dem Töten um des Tötens willen. Was geschehen ist, begreift er „[n]icht eh sie mich wegnahmen von meiner Arbeit“ (Müller 2001, 255), dass nämlich ein Unterschied geschwunden ist: „Ich bin ein Mensch. Der Mensch ist keine Maschine. / Töten und töten, das gleiche nach jedem Tod / Konnte ich nicht. Gebt mir den Schlaf der Maschine“ (Müller 2001, 256). Zur Maschine war er zuvor in seinem Töten geworden, nun, von der Revolution seinem Wüten wieder entrissen, insistiert er auf diesem Unterschied, der nur ein möglicher Unterschied ist, fragt der Revolutionär die Revolution: „Mit meinem letzten Atem jetzt und hier / Frage ich die Revolution nach dem Menschen“ (Müller 2001, 256). Für die Revolution jedoch ist diese Frage eine, die nicht beantwortet werden kann: „Du fragst zu früh. Wir können Dir nicht helfen“ (Müller 2001, 256). Denn, wie ihm schon vor seiner Frage beschieden wurde: „Nicht eh die Revolution gesiegt hat endgültig / In der Stadt Witebsk wie in andern Städten / Werden wir wissen, was das ist, ein Mensch“ (Müller 2001, 256). Müllers Tribunalszene stellt ein kompliziertes, auswegloses Drama der Identitäten vor: Nicht nur ist ein Revolutionär einer, der nicht mit seiner eigenen Hand arbeitet, der vielmehr eine Hand der Revolution ist, der so im Abstand von sich selbst zu handeln hat, sondern der Revolutionär kann auch nicht wissen, wofür er handeln soll, da erst nach der Revolution der Mensch die Möglichkeit hat zu erscheinen. Er muss handeln wie eine Maschine, die zugleich eine Maschine für das Menschliche ist, von dem noch nicht zu wissen ist, was es sein soll. Handelt er als Mensch aus einfachem Mitleid, verrät er die Revolution, weil er schon zu wissen glaubt, was das sei, ein Mensch. Handelt er allein wie eine Maschine und tötet um des Tötens willen, verrät er die Revolution, weil er nicht mehr an den Menschen glaubt. Das gesamte Stück kreist um die Frage des Wissens: Der Zweifler weiß nicht mehr um den Unterschied des Tötens, und der andere Revolutionär, der schließlich um des Tötens willen tötet, „begreift“ (Müller 2001, 255) nicht, was er

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begreift – dass er nun ein Feind der Revolution ist. Diese aber fordert von ihm zu lernen: „Lern sterben. / Was du lernst, vermehrt unsere Erfahrung. / Stirb lernend. Gib die Revolution nicht auf.“ (Müller 2001, 255) Er weigert sich, um schließlich aber doch sein Einverständnis zu seinem Tod zu geben. In der Frage des Wissens taucht in diesem Prozess jedoch immanent etwas anderes auf, denn was für ein Wissen ist es, um das es hier geht? Der Revolutionär weiß zunächst, dass die Revolution mit seiner Hand tötet, aber dieses Wissen ist nur ein Wissen um das eigene Ungenügen, um die Notwendigkeit, sich selbst für die Revolution aufzugeben. Das Wissen ist so Wissen um das eigene Unwissen. Wissen um die Notwendigkeit, in sich selbst eine Distanz herzustellen zu dem scheinbaren Wissen. Was bedeutet es aber, dieses Wissen zu verlieren? In gewisser Hinsicht bedeutet es gar nichts, denn es gab gar nichts zu wissen für den Revolutionär, außer, dass er nichts wußte. Aber ist dann nicht das Wissen um die Notwendigkeit der Revolution auch vielleicht ein scheinbares Wissen? Dies führt auf die Position des Zweiflers: Die im Wissen bereits angelegte Unsicherheit, dass es falsch sein könnte. Dass es jedoch falsch sein könnte, impliziert zugleich, dass dieses Wissen (dass die Revolution schon weiß, was sie tut) sich vielleicht allein auf reiner Kontingenz gründet. Dies führt zur Position des maschinellen Tötens. Die Kritik an Brecht erscheint somit eindeutig: In Brechts Maßnahme wird die Sicherheit der Entscheidung verfochten, der „junge Genosse“, der die Arbeit der vier Agitatoren durch sein Mitleid und seinen Willen zur direkten Aktion gefährdet, sieht schließlich selbst ein, dass er die Arbeit der Revolution gefährdet. In Mauser hingegen macht sich der unsichere Grund bemerkbar, auf dem die Revolution sich behauptet: Es ist ein Kampf in der Unwissenheit über das, was der Mensch eigentlich sei. Diese Unwissenheit öffnet sich jedoch auf die spontane Menschlichkeit wie auf die Unmenschlichkeit, ohne dass der Grund des Wissens, der die Unterscheidungen ermöglicht, sicher gewusst werden kann. Es ist durchaus möglich, aus Müllers Stück, das die Erzählungen der beiden scheiternden Revolutionäre in eine Art von Kreislauf verstrickt, wieder in das Stück Brechts hinüberzugehen, denn beide Stücke treffen sich nicht allein in der Frage des Lernens, sondern schließlich in der Frage der Überzeugung, die einen Punkt außerhalb des Wissens markiert. Während die Maßnahme die Notwendigkeit des übergreifenden Zusammenhanges markiert, stellt Mauser die fragile Bruchstelle dieses Zusammenhangs am lokalen Körper aus: Die Transzendenz, die die Revolution darstellt, entzieht sich dem Wissen. Es ist notwendig, dies anzuerkennen, sagt die Maßnahme. Es gibt kein Wissen, das diese Notwendigkeit begründet, zweifelt, verzweifelt Mauser. Vielleicht gibt es keine Notwendigkeit des Schmerzes? Die neue Zeremonie könnte die alte sein, eine Transzendenz, die nicht im Lokalen gründet.

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5 Parsifal ist nach der Maßnahme und Mauser eigentlich die dritte Antwort auf die Problematik der neuen Zeremonie. Montsalvat lebt die Zeremonie der Maßnahme: Rettung ist nur um den Preis des wiederholten Schmerzes möglich. Klingsor ist der Vertreter der ausgestoßenen Zweifler und auch der derjenigen, die den Akt nur als Akt für sich begreifen: Obwohl und weil sie ihr Einverständnis zu ihrem eigenen Tod geben, können sie nicht mehr in die Reihen der Revolution aufgenommen werden. Klingsor ist die Stimme der Zweifler und Ignoranten, wie sie in Mauser laut werden – als Stimmen derjenigen, die auch Recht haben, wie auch Klingsors Reich der Verführung die Misogynie der Gralsritter konterkariert. Lernen geht nur über den Schmerz, das ist das Rätsel der alten Zeremonie. Wenn aber die Zeremonie den Schmerz zum notwendigen macht, dann verliert sich der Grund der Zeremonie, das mahnt Mauser an. Und es verliert sich auch der Grund des Mitleids – aus dieser Perspektive ist die Mitleidlosigkeit des Parsifal gegenüber der ersten Zeremonie vollkommen gerechtfertigt. Und Parsifal? Badiou verweist darauf, dass der Unterschied zwischen der Zeremonie des ersten Akts und der des dritten zunächst kaum sichtbar ist: Der Ort bleibt derselbe, der formale Aufbau, in dem es um die Enthüllung des Grals geht, bleibt auch derselbe. Tatsächlich stellt sich ein Riss auf musikalischer, lautlicher Ebene ein: „Das musikalische Material des Parsifaldiskurses und dessen, was darauf folgt, stellt einen frappierenden Kontrast zwischen der Art, wie sich Amfortas ausdrückt, und der Parsifals her, dem Stöhnen des einen und der ausgesprochen fließenden und beruhigenden Musik des anderen“ (Badiou 2012, 155). Wenn das Thema des Parsifal eine Zeremonie ohne Transzendenz ist, dann „wird man zugeben müssen, dass bei der Verwirklichung der Idee eine gewisse Unklarheit zwischen Restauration und Erneuerung bleibt“ (Badiou 2012, 156). Diese Uneindeutigkeit führt dazu, dass die zweite Zeremonie „der Zukunft der früheren analog ist, da sie deren Aufhebung ist“ (Badiou 2012, 156). Für Badiou hat Wagner „das Problem erkundet“, aber letztlich nicht die „Einführung einer neuen Zeremonie“ vorangetrieben (2012, 156). Und dennoch lässt sich im Vergleich zu der Maßnahme und zu Mauser ein entscheidender Unterschied markieren: Weder in der Maßnahme noch in Mauser, die beide als Beispiel für das Interesse des zwanzigsten Jahrhunderts an der neuen Zeremonie verstanden werden können, erscheint die Frage der Transformation der Zeremonie überhaupt. In der Maßnahme wird sie behauptet, in Mauser in ihrer Wirkmächtigkeit bezweifelt. Beide fetischisieren die Wunde: In der Maßnahme ist die Wunde – der Terror, die Gewalt – notwendig, in Mauser ist sie der Ausgangspunkt des notwendigen Zweifels. Allein Parsifal stellt die Frage nach der Änderung der Zeremonie, die eine neue Gemeinschaft

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ermöglicht, die nicht auf der Notwendigkeit der Wunde basiert. In einem Moment jedoch ist die Prozessualität der neuen Zeremonie in allen drei Werken präsent, und das ist der Chor: In Brecht der ‚Kontrollchor‘, bei Müller schlicht der ‚Chor‘ und bei Wagner die verschiedenen Chöre, die eine der Besonderheiten des Parsifal ausmachen. Wenn man bereit ist, den Chor durchgängig als ein musikalisches Moment zu verstehen, dann erklärt sich seine die Werke verbindende Doppeldeutigkeit: Der Chor trägt die Form des Dramas aus sich heraus (in die polis, in die Politik), aber der Chor ist auch in den Stücken doppeldeutig, denn er verstärkt sowohl bei Müller wie bei Brecht die Einlassungen der angeklagten Revolutionäre und er ist die verlockende Stimme, die den Revolutionären die einfache Sicherheit der Wahrheit anbietet. Und treten bei Wagner diese Chöre nicht auseinander in der Verführungsszene der Blumenmädchen und dem schließenden, von allen angestimmten „Erlösung dem Erlöser“? Der Chor ist so die musikalische Entsprechung der Prozessualität der Zeremonie, ihrer Zeit und Raum schaffenden Wirklichkeit. Was hätte also Parsifal in der Stadt Witebsk getan, der Stadt, die „für alle Orte [steht], an denen eine Revolution gezwungen war ist sein wird, ihre Feinde zu töten“ (Müller 2001, 260)? Parsifal kann zumindest zeigen, dass die Kritik der alten Zeremonie die neue Zeremonie nicht eröffnet, und Parsifal kann zumindest zeigen, dass die Zeremonie verloren ist, wenn sie allein im Tod ihrer Feinde besteht. Sie wird einen anderen Weg zu finden haben, wie Größe ohne Transzendenz nicht nur zu behaupten, sondern darzustellen ist, wie der notwendige Riss, der durch die Zeremonie gehen muss, nicht ein Riss ist, der das Universale vom Lokalen trennt. Syberberg lässt diese Möglichkeit im Paar Kundry/Parsifal – die als einzige zwischen beiden Welten wandeln und somit tatsächlich universal sind – anklingen, wie auch in der Verwandlung Parsifals in ein Mädchen. Parsifal ist ein Chor in einer Person. Die Zeremonie bleibt somit genau dort als Frage erhalten, wo sie nicht auf eine Zeremonie reduziert wird, sondern wo sie den reinen Prozess ihrer Erschaffung, ihrer inneren Wandlung und Transformation durchläuft. Ihre reine Form ist eine Form als Prozess. Die reine Zeremonie ist kein reines Geschehen, das auf ein Set von Handlungen und Gegenständen zu reduzieren wäre, sondern eine Wandlung im Geschehen selbst. Sie ist, mit anderen Worten, die Transformation eines subjektiven Punktes. Diese Transformation erscheint bei Brecht nur im Moment des Imperativs, dessen Gültigkeit im Mauser angezweifelt wird: In beiden Stücken entzieht sich der subjektive Punkt dem Wissen. Das gelernte Wissen, das den Punkt der subjektiven Wandlung vergisst, entleert sich als Wissen und zeigt sich als tatsächliches Unwissen, das ist der Weg von der Maßnahme zu Mauser. Beide Stücke verweisen auf diesen leeren Punkt im Wissen, vermögen aber nur undeutlich, ihn selbst als Prozess zu erfassen: Nur dort, wo die Revolutionäre schließlich in

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ihren eigenen Tod einwilligen, zeigt sich ein Moment dieses Prozesses. Beide Male steht jedoch die Einsicht im Vordergrund, nicht die Wandlung eines Wissens, das zugleich sich selbst als universal verstünde. Damit wiederholen sie beide latent die Struktur der alten Zeremonie: Der Wandel des Wissens ist eigentlich Einsicht in ein anderes Wissen. Die neue Zeremonie müsste aber nicht den Prozess des Lernens als einen des Wissens, sondern als einen der Wandlung im Wissen darstellen. Die wirklich offene Frage nach der neuen Zeremonie im Parsifal liegt in der Lücke zwischen dem zweiten und dritten Akt, dem langen Irrweg Parsifals. Als Frage hält Parsifal die Möglichkeit der neuen Zeremonie offen. Als Frage insistiert sie darauf, nicht die Schließung, nicht die Rückkehr zur alten Zeremonie, nicht nur die Phantasmagorie einer neuen Zeremonie zu sein. Damit hält Parsifal auch die Möglichkeit ‚großer Kunst‘ für uns geöffnet, allein weil in ihm die Möglichkeit aufgezeigt ist, dass die Frage nach ‚großer Kunst‘ nicht geschlossen sein muss. Sie bleibt vielmehr eine Aufgabe, da die Strategien des zwanzigsten Jahrhunderts gescheitert sind. Oder aber sie wird ‚zu den Akten‘ gelegt, was letztlich bedeuten würde, zwischen Montsalvat und Klingsor zu wählen. Aber dass die Möglichkeit einer neuen Zeremonie als Frage im Parsifal erscheint, verweist auch darauf, dass die Zeremonie immer auf die Transformation zielt, sie zielt immer darauf, das Alte durch das Neue abzulösen. So gesehen ist Parsifal eine Oper über die Transformation der Transformation, über die „Zeremonie der Zeremonie“ (Badiou 2012, 158): Sie stellt so die Frage und entfernt sich so zugleich davon, selbst eine neue Zeremonie zu entwickeln, weil sie selbst die Frage der Zeremonie in diesem Punkt verallgemeinert, vom Geschehen ablöst – wenn man nicht Bayreuth, von Wagner als Lokalisierung gedacht, tatsächlich als Lokalisierung verstehen will. In diesem Sinn bleibt in Wagners Parsifal die Frage im Vordergrund, und sie kann nur als ein Appell verstanden werden, neue Zeremonien zu finden, wenn andere Ereignisse eintreten: „Diese Einmischung ist es, wozu uns der Parsifal aufruft; er hält uns dazu an, für diese Einmischung in die künftigen Feste bereit zu sein, die künftige Feier zu antizipieren oder die notwendigen Vorbereitungen zu treffen“ (Badiou 2012, 159). Vielleicht hängt ‚große Kunst‘ immer in der Schwebe dieser reinen Form der Unreinheit.

Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. „Versuch über Wagner“. Gesammelte Schriften. Hg. Rolf Tiedemann. Bd. 13: Die musikalischen Monographien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997. 7–148. Badiou, Alain. Das Jahrhundert. Aus dem Frz. von Heinz Jatho. Zürich: diaphanes, 2006.

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Badiou, Alain. Dritter Entwurf eines Manifests des Affirmationismus. Aus dem Frz. von Ronald Voullié. Berlin: Merve, 2007. Badiou, Alain. Fünf Lektionen zum ‚Fall Wagner’. Aus dem Frz. von Thomas Laugstien. Zürich: Diaphanes, 2012. Müller, Heiner. „Mauser“. Werke 4. Die Stücke 2. Hg. Frank Hörnigk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001. 245–260. Žižek, Slavoj. Wagner and Consequences. Five Lacanian Readings of Classic Operas. Special Issue: lacanian ink 41/42 (2013).

Angaben zu den Autorinnen und Autoren Norbert Bachleitner ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien. Er studierte Germanistik und Anglistik in Wien, habilitierte sich ebendort, hatte einige Gastprofessuren inne, unter anderem an der Universität Paris III (Sorbonne nouvelle), und ist Mitglied wissenschaftlicher Gesellschaften wie der Academia Europaea. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen Rezeptionsforschung, die literarische Übersetzung, Buchgeschichte und Zensur sowie Intermedialität und Digitale Literatur. Letzte Veröffentlichungen: (Hg., gemeinsam mit Christine Ivanovic): Nach Wien! Sehnsucht, Distanzierung, Suche. Literarische Darstellungen Wiens aus komparatistischer Perspektive. Frankfurt a.M: Lang 2015, und Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2017. Tim Domke studiert English Literature und Culture im M.A. Studiengang an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Er ist Mitglied der Forschungsgruppe zur empirischen Ästhetik und Resilienz am Institut für Mikroskopische Anatomie und Neurobiologie der Universitätsmedizin Mainz unter der Leitung von Pascal Nicklas. Seinen Bachelorabschluss erhielt er von der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz in British und American Studies. Seine Forschungsinteressen, welche er unter anderem auch an der University of Birmingham vertiefte, liegen in der Empirischen Ästhetik, Resilienzforschung, Literarizität, Graphic Novels, Moderne und Postmoderne Literatur. Nicola Gess ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Nach dem Studium der Germanistik, Musikwissenschaft und Querflöte in Hamburg und Princeton promovierte sie 2004 an der Humboldt Universität zu Berlin und der Princeton University mit einer Arbeit über die „Gewalt der Musik. Literatur und Musikkritik um 1800“ (Rombach 2006 und in 2. Auflage 2011). Im Anschluss war sie akademische Rätin a.Z. an der Universität Regensburg und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Peter Szondi-Institut der Freien Universität Berlin, wo sie sich 2012 mit der Studie Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin) (Fink 2013) habilitierte. Jüngste Buchpublikationen: Staunen. Eine Poetik. Göttingen: Wallstein, 2019; zusammen mit Alexander Honold (Hg.): Handbuch Literatur und Musik, in der Reihe: Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie. Berlin: De Gruyter, 2017; zusammen mit dem Netzwerk „Hör-Wissen im Wandel“ (Hg.): Wissensgeschichte des Hörens in der Moderne. Berlin: De Gruyter, 2017. Andreas Käuser ist seit 2006 apl. Professor an der Universität Siegen und lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft sowie Medienkulturwissenschaft. Nach dem Studium in Marburg und Konstanz promovierte er dort 1985 in Germanistik (Physiognomik und Roman im 18. Jahrhundert 1989) und habilitierte sich literaturwissenschaftlich 1996 in Siegen (Schreiben über Musik 1999). Er war Koordinator und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg der DFG „Medienumbrüche“ an der Universität Siegen (2000–2008) sowie Vertretungsprofessor in Paderborn, Flensburg und Gießen. Jüngste Veröffentlichungen „Jenseits des Textes: Die Leitfunktion des Klangs im musikästhetischen Diskurs und in musikalischer Prosa“, in: Nicola Gess, Alexander Honold (Hrsg.): Handbuch Literatur & Musik, Berlin/Boston: de Gruyter, 2017, S. 197–217; „Historische Anthropologie der Musik“, in: Volker Kalisch (Hrsg.): Musiksoziologie, Laaber: Laaber, 2016, S. 17–29. https://doi.org/10.1515/9783110630756-014

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Angaben zu den Autorinnen und Autoren

„Medienkultur: Entwürfe des Menschen“, in: Niels Werber, Stefan Kaufmann, Lars Koch (Hrsg.): Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart/Weimar: Metzler 2014, S. 434–447. „Theorie und Fragment. Zur Theorie, Geschichte und Poetik kleiner Prosaformen“, in: Sabiene Autsch, Claudia Öhlschläger, Leonie Süwolto (Hrsg.): Kulturen des Kleinen. Mikroformate in Literatur, Kunst und Medien, Paderborn: Fink, 2014, S. 41-56. „Liebe als Passion. Konstellationen um 1967“, in: www.pop-zeitschrift.de (4.8.2018). Arthur M. Jacobs ist Professor für Allgemeine und Neurokognitive Psychologie an der Freien Universität Berlin und Gründungsdirektor des Dahlem Institute for Neuroimaging of Emotion (D.I.N.E.). Nach dem Studium in Würzburg und Paris promovierte er in Psychologie an der Sorbonne. Nach Stationen als Forschungsbeauftragter am Pariser Labor für experimentelle Psychologie und Forschungsdirektor am Institut für Kognitive Neurowissenschaften in Marseille, sowie Professuren in Marburg und Eichstätt-Ingolstadt, forscht und lehrt er seit 2003 in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen seit einigen Jahren in der Neurokognitiven Poetik und den Affektiven Neurowissenschaften. Zentrale neuere Publikationen sind Gehirn und Gedicht (2011; zusammen mit Raoul Schrott) und Jacobs (2015): „Neurocognitive poetics: methods and models for investigating the neuronal and cognitive-affective bases of literature reception.“ Front. Hum. Neurosci. 9:186. doi: 10.3389/fnhum.2015.00186. Christine A. Knoop ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Sprache und Literatur am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main und Lehrbeauftragte in der Germanistik und Komparatistik an der Goethe-Universität Frankfurt. Nach dem Studium der Germanistik, Romanistik und Theaterwissenschaften in München und Paris promovierte sie am University College London in Komparatistik. In den folgenden Jahren forschte und lehrte sie am Peter-Szondi-Institut und am Cluster „Languages of Emotion“ der Freien Universität Berlin. Ihre Forschung konzentriert sich vor allem auf ästhetische Emotionen, Theorien literarischer Kommunikation und experimentell-empirische Ansätze zur Literaturästhetik. Maria Kraxenberger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik in Frankfurt am Main. Nach dem Magisterstudium der Komparatistik an der LudwigMaximilians-Universität München promovierte sie an der Freien Universität Berlin. Sie lehrte in Berlin (FU), Innsbruck und Frankfurt am Main und verbrachte einen Forschungsaufenthalt am Litlab der Stanford University. In ihrer Dissertation widmete sich Maria Kraxenberger in verschiedenen empirischen Studien Klang-Emotions-Assoziationen in Gedichten. Pascal Nicklas lehrt als Privatdozent Komparatistik und Anglistik an der Johannes GutenbergUniversität Mainz und leitet eine Forschungsgruppe zur empirischen Ästhetik und Resilienz am Institut für Mikroskopische Anatomie und Neurobiologie der Universitätsmedizin Mainz. Nach dem Studium in Frankfurt am Main, Durham und Paris, promovierte er in Anglistik in Frankfurt und erhielt die venia legendi für Komparatistik und Anglistik in Leipzig. Er lehrte in Berlin (Humboldt Universität), Potsdam, Wien und Bayreuth. Im Zentrum seiner Forschung standen in den letzten Jahren Prozesse der Adaption im Bereich der Comparative Arts. Neuere Publikationen sind: zusammen mit Marion Behrens und Christian Kell: „Towards an Aesthetics of Adaptation – An Empirical Research Agenda.“ Guest Editor: Aldo Nemesio, CLCWeb: Comparative Literature and Culture, 18.2 (June 2016). Zusammen mit Arthur M. Jacobs:

Angaben zu den Autorinnen und Autoren

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„(Neuro)-Aesthetics of Adaptation and the History of Rhetoric.“ Special Issue Poetics Today „Situated Cognition and the Study of Culture“ edited by Ellen Spolsky, Sowon Park and Ben Morgan. Poetics Today 38.2, 2017, 393–412. Edgar Pankow ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Nach dem Studium der Komparatistik und Philosophie in Marburg, Hamburg und New Haven promovierte er am Department of Comparative Literature der Yale University mit einer Arbeit über nachklassische Briefliteratur. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik und Poetik von 1800 bis heute, Literaturtheorie, Literatur und Psychoanalyse, Literatur und andere Künste. Mathias Scharinger ist Professor für Phonetik an der Universität Marburg. Sein Studium umfasste die Sprach-, Kunst-, Medien-, und Literaturwissenschaften. Während der Promotion an der Universität Konstanz entstand ein neurolinguistischer Schwerpunkt, der in den Post-Doc Phasen an der University of Maryland, USA und am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig ausgebaut wurde. Den Brückenschlag zur Literaturwissenschaft gelang am Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik, wo er zusammen mit Professor Winfried Menninghaus die Sprachmelodie von Gedichten empirisch untersuchte. Zusammen mit seinen Kollegen Professor Aditi Lahiri (Oxford), Professor William Idsardi (Maryland, USA), Professor Carsten Eulitz (Konstanz) und Professor Jonas Obleser (Lübeck) erforscht Mathias Scharinger die neuronale Verarbeitung von Sprachlauten. Dem wird durch folgende gemeinsame Veröffentlichungen Rechnung getragen: Scharinger, M., Eulitz, C., & Lahiri, A. (2010). „Mismatch Negativity effects of alternating vowels in morphologically complex word forms.“ Journal of Neurolinguistics, 23(4), 383–399; Scharinger, M., Monahan, P. J., & Idsardi, W. J. (2016). „Linguistic category structure influences early auditory processing: Converging evidence from mismatch responses and cortical oscillations.“ Neuroimage, 128, 293–301; Scharinger, M., Bendixen, A., Herrmann, B., Henry, M. J., Mildner, T., & Obleser, J. (2016). „Predictions interact with missing sensory evidence in semantic processing areas.“ Human Brain Mapping, 37(2), 704–716. Monika Schmitz-Emans lehrt als Professorin Komparatistik an der Ruhr-Universität Bochum und leitet die DFG-Forschungsgruppe „Das Künstlerbuch als ästhetisches Experiment: Die Literatur und das Buch (Literatur und Künstlerbuch – Spielformen der Buchliteratur)“. Nach dem Studium in Bonn, promovierte sie in (Neu-)Germanistik bei Beda Allemann („Schnupftuchsknoten oder Sternbild. Jean Pauls Ansätze zu einer Theorie der Sprache“). Im Zentrum ihrer Forschung standen in den letzten Jahren Interdependenzen von Literatur und Philosophie, Literatur und bildender Kunst, Literatur und Musik. Neuere Publikationen sind: Hg. zusammen mit Stephanie Heimgartner: Komparatistische Perspektiven auf Dantes „Divina Commedia“. Lektüren, Transformationen und Visualisierungen. Berlin/Boston (De Gruyter) 2017. Hg. zusammen mit Christian A. Bachmann: Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur. Berlin/Boston (De Gruyter) 2012. „Jean Pauls Konzept der Empfindbilder und ‚Der Komet‘“. German Life and Letters 70.4 (2017), S. 516–532. Linda Simonis ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Nach dem Studium der Germanistik, Anglistik, Philosophie und Pädagogik in Köln und Sheffield promovierte und habilitierte sie sich in Köln. Sie war Heisenberg-

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Angaben zu den Autorinnen und Autoren

Stipendiatin der DFG (mit einem Projekt zu Politik und Performanz in der Oper der frühen Neuzeit). Von 2008 bis 2014 war sie Stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (DGAVL). Sie ist Mit-Herausgeberin der Zeitschriften Comparatio und Komparatistik online. Neuere Publikationen sind: zusammen mit Annette Simonis: (Hg.): Kulturen des Vergleichs, Heidelberg: Winter 2016, und mit Christian Moser: (Hg.): Figuren des Globalen, Bonn, Bonn University Press 2014. Jan Völker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunstwissenschaft und Ästhetik an der Universität der Künste Berlin. Er lehrt als regelmäßiger Gastdozent am Bard College in Berlin und am Institut für Philosophie der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Ljubljana. Publikationen: Alain Badiou / Jean-Luc Nancy: Deutsche Philosophie (Hg. 2017), Neue Philosophien des Politischen zur Einführung (Laclau, Lefort, Nancy, Rancière, Badiou) (2012, mit Uwe Hebekus), Ästhetik der Lebendigkeit. Kants dritte Kritik (2011). Friederike Wißmann leitet seit dem Sommersemester 2017 kommissarisch das Institut für Musikwissenschaft an der Technischen Universität Dresden. Von 2015–2017 hatte sie eine Professurvertretung an der Universität Bonn und von 2013 bis 2015 eine Professur an der Konservatorium Wien Privatuniversität inne, wo sie die Leitung des Instituts für Wissenschaft und Forschung übernommen hatte. Nach dem Studium promovierte sie an der Freien Universität und habilitierte sich an der Technischen Universität Berlin, bevor sie gemeinsam mit Lars Korten und Jan Stenger ein Forschungsprojekt im Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ initiierte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Kulturgeschichte der Musik, Musiktheater, Musik und Literatur, sowie die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts.

Index Adaptation 6f., 10, 85, 248 Adaption 5–10, 101, 141, 248 Anthropologie 111, 114, 116, 118, 120f., 247 Aufschreibesystem 120

Gesang 35, 77, 85, 97, 101f., 125, 131, 137, 150, 153–155, 168, 182, 184, 187–189, 191–193, 231 Hörbuch 2, 84

Ballett 127, 130, 144 Barock 126–130, 135, 138, 141 Betonung 19, 23f., 27–29, 36, 58, 61–65 Bildtheorie 112 Bühnenmusik 177, 181, 183f., 193 Comparative Arts 2, 8 Drama 14f., 84, 101, 106, 126–128, 134, 152, 154, 170, 172, 176–184, 187, 193, 200, 228, 234, 244 Emotion 11f., 17–31, 37, 64, 68–70, 79, 201 Empirische Ästhetik 2, 9, 11 Erzähler 1, 14, 108, 145, 151, 160, 176–184, 187, 191–193, 212, 216, 228 Erzählung 1, 13f., 144f., 151f., 154–160, 176–195, 212, 228, 236, 242 Experiment 11, 18, 51, 59, 62f., 66, 71, 172, 220–224 Figur 5, 10, 19, 22–24, 27f., 65, 70, 86, 95, 107f., 120, 124, 126f., 128f., 134–136, 138–141, 155, 160, 178, 180, 182f., 187, 193, 197–207, 216 Film 5–7, 9, 85, 107, 119 Fragment 109–111, 113f., 116, 164, 212, 215, 218, 224f., 234–237 Gattung 17, 59, 68, 125–127, 152, 156, 160, 164, 172f., 178, 183 Gedicht 7, 9f., 17–30, 40–43, 46, 48, 59, 62, 66, 68f., 77f., 80, 83f., 98, 101, 167–169, 171–173, 197 Gefühl 17, 19, 99f., 131–135, 137f., 149, 201, 213–215, 232 Gehirn 49–54, 63, 68, 89, 98 Geisteswissenschaften 18, 165, 166 Gesamtkunstwerk 13, 113, 158 https://doi.org/10.1515/9783110630756-015

Information 12, 28f., 40, 50, 58f., 62f., 68, 70 Inhalt 5f., 21f., 25, 27, 61, 71, 90, 100, 166, 218, 228 Innovation 11, 13, 15, 121, 210, 227 Instrumentalmusik 13, 112, 118, 120, 125, 148f., 151f., 177 Interart Studies 2 Intermedialität 2, 6–8, 11, 13f., 105, 108, 113, 124–126 Klang 1f., 11f., 17–20, 24f., 27-30, 35, 37, 52, 64, 70f., 83, 106f., 109, 111–121, 124f., 149–151, 156, 206, 210, 215f., 225 Klassik 126 Klassizismus 232 Komparatistik 2f., 7, 9, 13, 15, 209 Komposition 13, 67, 119, 125, 127, 144f., 148, 156f., 160, 164–166, 170, 200f., 205, 210f., 213-215, 217f., 220, 223, 228 Kontext 5, 9, 61, 66, 80, 85, 87, 92, 124, 126f., 165–167, 176, 178, 213, 217, 222 Kultur 1, 4, 6, 8f., 14, 37f., 63, 79, 82, 85, 106f., 111, 113, 115f., 124, 128, 130, 141, 166, 172, 200, 211 Kulturwissenschaft 81, 112, 126, 128, 130f., 141 Kunst 2, 4, 13, 15, 67, 105, 108, 111, 115f., 121, 124–126, 145, 149, 151, 153f., 163, 173, 183, 198f., 201, 205, 214, 220f., 231–238, 245 Künstevergleich 1f., 8, 10, 12 Künstlerfigur 92 Kunstwerk 2, 14, 67, 84, 154, 213 Lesen 1, 11, 14, 21, 24f., 28–30, 58, 61, 65, 67, 77, 80, 84, 86f., 89, 99f., 110 Libretto 9, 14, 84, 145, 148, 152, 155, 176–179, 183, 189

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Index

Lied 4, 7–10, 12–14, 30, 35, 37, 44f., 48, 78, 80, 83f., 87, 90, 94, 97–100, 131, 155, 164–173, 183, 187, 216 literarischer Text 1, 4f., 63, 80, 82, 97, 107, 114 Literarizität 11f., 78f., 81–97, 101 Literaturtheorie 30 Literaturwissenschaft 2–6, 11, 18, 21, 58–63, 71, 77f., 80–85, 92 Lyrik 11, 14, 17, 21, 30, 61, 63–66, 68–70, 78, 80–84, 87, 97, 109, 150, 166, 172, 210 Medialisierung 101 Medien, medial 1, 4–6, 14, 105–117, 119, 121, 124–126, 128, 130–132, 135, 150f., 156, 160, 200, 212f., 223, 238 Medienkonvergenz 2, 6 Medienwechsel 5f. Medienwissenschaft 2, 13 Melodie 2, 11f., 17, 27, 35–54, 67, 100, 157, 171, 193, 202, 214 Melodrama 148 Metapher 87–98, 101, 167 Methode 3–5, 10f., 14f., 18f., 39, 41f., 50, 54, 59f., 62f., 71, 97, 101, 108, 110, 112, 118 Metrum 23, 61–65, 69 Modernisierung 116, 121 Musikdrama 125–128, 130, 133, 141, 158 Musikliterarisch 2f., 5, 8, 10, 125, 135 Musiktheorie 13, 109–114, 118, 120, 160 Musikwissenschaft 3, 11–14, 60, 67, 105, 112, 163, 165 Narratologie 14, 176–178 Notenschrift 119f., 203, 207 Oper 9, 13f., 19, 84, 98, 107, 125–131, 134, 138–141, 144–161, 164, 176–195, 215, 226, 231f., 236, 237f., 245 Partitur 11, 106, 119f., 121, 148, 183, 201f., 205, 207 Philosophie 15, 109, 110, 113f., 120, 173, 212f., 231

Phonologie 60 Popkultur 83, 85, 107, 114, 116, 118, 120 Prosa 1, 59, 63–66, 68–70, 106, 108–118, 120, 157, 210, 218, 220 Prosodie 20, 25–30, 37, 52, 58f., 61f., 64f., 67 Psychologie 18, 89, 224 Realismus 211f. Reim 1, 23f., 46f., 62, 69, 80, 85, 109 Rezeption 9, 12f., 18f., 30, 58, 59, 63, 67f., 84, 86, 88f., 100, 121, 158, 164, 166, 181, 235 Rezeptionsästhetik 3, 7f., 80 Rezitation 19f., 25f., 28f. Rhythmus 2, 11 17, 29, 37, 58–71, 119, 128, 169f., 188 Ritual 86, 137, 205 Roman 9, 37, 59, 61, 69f., 80, 84, 101, 107f., 115f., 120, 144, 210, 212, 216, 218, 220 Romantik 13, 83, 92f., 106f., 109, 111, 116, 118, 144f., 149f., 152, 154, 156, 160, 172, 214, 216, 232 Salon 164 Schrift 1, 15, 150f., 159, 216 Schriftlichkeit 11, 84, 115, 121 Semantik 5f., 8, 17, 20, 23, 25, 27–29, 53, 61f., 64–66, 68, 70f., 84, 88, 90, 98, 101, 106, 155, 210, 218, 223, 225 Singspiel 144f., 148 Song 70, 78, 96f., 109 Songtexte 11f., 77f., 80, 83f., 87, 90, 94f., 97, 101f. Sprache 35–54, 58, 61–71, 86–89, 95, 100f., 113, 114f., 119, 125, 127, 131f., 150–154, 167, 171, 178, 210–212, 216–219, 225, 227f. Stimme 1f., 12, 14, 29f., 37–40, 42, 58, 77, 79, 83, 108, 115, 119, 124f., 138, 171, 178, 187, 189, 192, 223, 228 Synästhesie 113, 156, 158 Tanz 119, 124f. Totalität 154, 218, 220, 232–239

Index

Transfer 4–6 Transformation 4–6, 46, 115, 156, 178, 180, 183, 219, 239, 243f., 245 Transmedial 7, 10f., 13f., 176 Verfilmung 5f.

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Wertung 6, 14, 78–87, 97, 101, 106, 113, 116, 119, 129 Zeichen 114f., 118f., 136, 150f., 206f. Zeremonie 15, 236–245 Zwölftontechnik 209–221, 225