Literatur des Desasters von Annual: Das Um-Schreiben der kolonialen Erzählung im spanisch-marokkanischen Rifkrieg. Texte zwischen 1921 und 1932 [1. Aufl.] 9783839422816

In Folge des Desasters von Annual 1921, der »schmählichen« Niederlage der Spanier im Kolonialkrieg in Marokko, entsteht

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Literatur des Desasters von Annual: Das Um-Schreiben der kolonialen Erzählung im spanisch-marokkanischen Rifkrieg. Texte zwischen 1921 und 1932 [1. Aufl.]
 9783839422816

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Theoretische und historische Rahmung
1.1 Symbolische Strukturen: Postkoloniale Theoriegrundlagen
1.1.1 Orientalismus als hegemonialer Diskurs und seine Grenzen
1.1.2 Homi K. Bhabha und die allgemeine Ambivalenz kolonialer Diskurse
1.2 Über die Realität und Medialität des Ereignisses
1.2.1 Das Ereignis ‚Annual‘ auf dem literarischen Feld
1.2.2 Das Ereignis in der Erzählung: Über Konflikt und Umschreibung
1.3 Historische Rahmung
1.3.1 Diskursgeschichte: Der africanismo, das symbolische Gerüst der ‚Marokko-Mission‘
1.3.2 Ereignisgeschichte: Der Rif-Krieg und die spanische Niederlage bei Annual 1921
2. Das koloniale Desaster und die vergüenza: Nachahmung und Verschiebung in der Marokko-Kriegsliteratur
2.1 Das Scheitern des Epischen
2.1.1 Kolonialismus als Illusionstheater
2.1.2 Abd-el-Krims Mimikry
2.2 Ernesto Giménez Caballeros Notas marruecas de un soldado (1923): Das koloniale Stigma und seine nationalistische Kompensation
2.2.1 Der gespaltene Ort der Artikulation der vergüenza colonial
2.2.2 Notas marruecas und die koloniale Imitationsstruktur
2.2.3 Die forcierte Rückkehr zur nationalen Authentizität und das Problem der Schließung
2.3 Narzissmus, Schuld und Paranoia: Víctor Ruiz Albéniz’¡Kelb Rumi! (1922)
2.3.1 Die Rhetorik der Erhabenheit und ihre psychopathologische Rahmung
2.3.2 Szenerien der Vermischung
2.3.3 Umschreibung der cautiverio-Erzählung: Das double-bind und die abschließende Ironie der Mimikry
3. Die Vergeschlechtlichung des kolonialen Desasters: Männliche Verbarrikadierungen und Dammbrüche an der Kontaktlinie
3.1 Afrikanistische Männlichkeit und die geschlechtlichen Implikationen des Desasters
3.1.1 Die Afrika-Mission vor dem Hintergrund männlicher‚ Degeneration‘ und der Auflösung der Geschlechterdifferenz
3.1.2 Das männliche Regenerationsprojekt und sein Scheitern in Enrique de Meneses’ La cruz de Monte Arruit (1922)
3.2 Gregorio Corrochanos ¡Mektub! (1926): Das Desaster als selbsterfüllende Prophezeiung eines weiblichen Verrats
3.2.1 Grenzauflösung: Die penetración pacífica im Bann von Fetisch und Phobie
3.2.2 Grenzrestauration: Die Entwicklung zum politischen ‚Hardliner‘ und die Stütze der ‚weißen‘ Jüdin
3.2.3 Dammbruch und Entmännlichung: Das koloniale Desaster als Dolchstoß der Frau
3.3 José Díaz Fernández’ El blocao (1928): Sexuelle Frustration und Triebeinbrüche im militärischen Außenposten
3.3.1 Die Blockade und die schmerzende Wunde sexueller Niederlagen
3.3.2 Interludium: „Magdalena roja“ und der Verrat an der ‚Heimatfront‘
3.3.3 „Liebeskonvoi“: Das Tierische und Barbarische als Wiederkehr des militärisch Verdrängten
4. Grenzerfahrung, Subalternität und Trauma: Der Marokko-Krieg und die DissemiNation
4.1 Entsendung: Marginalität und Erlösung in der Narration der Legion
4.2 Heimsuchung: Fermín Galáns La Barbarie Organizada (1926/1931)
4.2.1 Fermín Galán, der Aufstand von Jaca und die Politisierung der Kolonialkriegserfahrung
4.2.2 Gesellschaftlicher ‚Abschaum‘ mit zivilisatorischer Mission
4.2.3 Heimaturlaub: Kulturelle Selbstethnologie und Sektion des Zentrums
4.3 Erzählung ohne Heimkehr: Über sprachliche Ohnmacht und traumatische Subjektivität
4.3.1 Dringlichkeitserzählungen
4.3.2 Stammeln, Schweigen und erzählerische Entfremdungserlebnisse
4.3.3 Stimme und Verstummen in Ramón Senders Imán (1930)
4.4 Ankunft: Politische Ermächtigung und Gedächtnisstiftung in Eliseo Vidals ¡¡¡Los muertos de Annual ya son vengados!!! (1932)
4.4.1 Wenn die Geschichte die Erzählung überrascht
4.4.2 Erzählen als Rache: Die narrative Integration der Toten von Annual
4.4.3 Von der Sprachkrise zur republikanischen Triumphrhetorik
5. Vom orientalischen Chronotop zur Raum-Zeit des Absurden
5.1 Außenposten der Zivilisation und Inseln der Barbarei: Raum und Zeit im sistema de posiciones
5.1.1 Raumangst: Die unlesbare Landschaft und die Erfahrung der „Exteriorität“
5.1.2 José Díaz Fernández’ blocao: Chronotop der Entfremdung
5.1.3 Die komische Dimension des blocao in Wenceslao Fernández Flórez’ Aventuras del Caballero Rogelio de Amaral (1933)
5.2 Ramón Senders Imán (1930): Annual, Chronotop des Absurden
5.2.1 Verlust von Heimat im Dominoeffekt oder Viances Lauf auf dem Rand der Struktur
5.2.2 Unheimliche Landschaftsbilder und die Heimat als „punctum“
5.2.3 Erosion der Zeichenwelten: Annual und das Rutschen des Sinns
5.2.4 ‚Organsprache‘: Über die physische und groteske Dimension des ‚Un-Falls‘
5.2.5 Die koloniale Differenz im absurden Kriegsraum und der „Kollaps in das Objekt“
Epilog
Literaturverzeichnis

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Stephanie Fleischmann Literatur des Desasters von Annual

Lettre

Für meine Eltern, die mir so viel beigebracht haben

Stephanie Fleischmann ist Kultur- und Literaturwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die hispano-afrikanische Literatur- und Kulturgeschichte sowie neuere lateinamerikanische Literatur.

Stephanie Fleischmann

Literatur des Desasters von Annual Das Um-Schreiben der kolonialen Erzählung im spanisch-marokkanischen Rifkrieg. Texte zwischen 1921 und 1932

Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 06 Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2011 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen. Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Spanische Soldaten in Marokko. Titelbild der Zeitschrift Blanco y Negro (1921). Lektorat & Satz: Stephanie Fleischmann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2281-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung ............................................................................................... 9 1. Theoretische und historische Rahmung ..................................... 21

1.1 Symbolische Strukturen: Postkoloniale Theoriegrundlagen ..................... 1.1.1 Orientalismus als hegemonialer Diskurs und seine Grenzen ........ 1.1.2 Homi K. Bhabha und die allgemeine Ambivalenz kolonialer Diskurse ...................................................................... 1.2 Über die Realität und Medialität des Ereignisses ..................................... 1.2.1 Das Ereignis ‚Annual‘ auf dem literarischen Feld ....................... 1.2.2 Das Ereignis in der Erzählung: Über Konflikt und Umschreibung ................................................ 1.3 Historische Rahmung ............................................................................... 1.3.1 Diskursgeschichte: Der africanismo, das symbolische Gerüst der ‚Marokko-Mission‘ .......................... 1.3.2 Ereignisgeschichte: Der Rif-Krieg und die spanische Niederlage bei Annual 1921 ...........................................................................

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2. Das koloniale Desaster und die vergüenza: Nachahmung und Verschiebung in der Marokko-Kriegsliteratur .................... 91

2.1 Das Scheitern des Epischen ...................................................................... 91 2.1.1 Kolonialismus als Illusionstheater ................................................ 97 2.1.2 Abd-el-Krims Mimikry .............................................................. 102 2.2 Ernesto Giménez Caballeros Notas marruecas de un soldado (1923): Das koloniale Stigma und seine nationalistische Kompensation ............ 112 2.2.1 Der gespaltene Ort der Artikulation der vergüenza colonial ...... 115 2.2.2 Notas marruecas und die koloniale Imitationsstruktur ............... 124 2.2.3 Die forcierte Rückkehr zur nationalen Authentizität und das Problem der Schließung ................................................ 128 2.3 Narzissmus, Schuld und Paranoia: Víctor Ruiz Albéniz’¡Kelb Rumi! (1922) ............................................... 133 2.3.1 Die Rhetorik der Erhabenheit und ihre psychopathologische Rahmung .................................... 133 2.3.2 Szenerien der Vermischung ........................................................ 139 2.3.3 Umschreibung der cautiverio-Erzählung: Das double-bind und die abschließende Ironie der Mimikry ................................. 144

3. Die Vergeschlechtlichung des kolonialen Desasters: Männliche Verbarrikadierungen und Dammbrüche an der Kontaktlinie ....................................................................... 151

3.1 Afrikanistische Männlichkeit und die geschlechtlichen Implikationen des Desasters .......................................................................................... 151 3.1.1 Die Afrika-Mission vor dem Hintergrund männlicher ‚Degeneration‘ und der Auflösung der Geschlechterdifferenz ... 154 3.1.2 Das männliche Regenerationsprojekt und sein Scheitern in Enrique de Meneses’ La cruz de Monte Arruit (1922) ............... 163 3.2 Gregorio Corrochanos ¡Mektub! (1926): Das Desaster als selbsterfüllende Prophezeiung eines weiblichen Verrats .................. 170 3.2.1 Grenzauflösung: Die penetración pacífica im Bann von Fetisch und Phobie ............................................... 174 3.2.2 Grenzrestauration: Die Entwicklung zum politischen ‚Hardliner‘ und die Stütze der ‚weißen‘ Jüdin .............................................. 181 3.2.3 Dammbruch und Entmännlichung: Das koloniale Desaster als Dolchstoß der Frau ............................................................... 188 3.3 José Díaz Fernández’ El blocao (1928): Sexuelle Frustration und Triebeinbrüche im militärischen Außenposten ............................... 190 3.3.1 Die Blockade und die schmerzende Wunde sexueller Niederlagen ................................................................. 195 3.3.2 Interludium: „Magdalena roja“ und der Verrat an der ‚Heimatfront‘ ................................................................... 201 3.3.3 „Liebeskonvoi“: Das Tierische und Barbarische als Wiederkehr des militärisch Verdrängten .............................. 208 4. Grenzerfahrung, Subalternität und Trauma: Der Marokko-Krieg und die DissemiNation ............................... 211

4.1 Entsendung: Marginalität und Erlösung in der Narration der Legion .... 4.2 Heimsuchung: Fermín Galáns La Barbarie Organizada (1926/1931) ... 4.2.1 Fermín Galán, der Aufstand von Jaca und die Politisierung der Kolonialkriegserfahrung ...................................................... 4.2.2 Gesellschaftlicher ‚Abschaum‘ mit zivilisatorischer Mission .... 4.2.3 Heimaturlaub: Kulturelle Selbstethnologie und Sektion des Zentrums .......................................................... 4.3 Erzählung ohne Heimkehr: Über sprachliche Ohnmacht und traumatische Subjektivität ............................................................... 4.3.1 Dringlichkeitserzählungen ......................................................... 4.3.2 Stammeln, Schweigen und erzählerische Entfremdungserlebnisse .............................................................

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4.3.3 Stimme und Verstummen in Ramón Senders Imán (1930) ........ 4.4 Ankunft: Politische Ermächtigung und Gedächtnisstiftung in Eliseo Vidals ¡¡¡Los muertos de Annual ya son vengados!!! (1932) . 4.4.1 Wenn die Geschichte die Erzählung überrascht ......................... 4.4.2 Erzählen als Rache: Die narrative Integration der Toten von Annual ................................................................. 4.4.3 Von der Sprachkrise zur republikanischen Triumphrhetorik .....

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5. Vom orientalischen Chronotop zur Raum-Zeit des Absurden ...................................................... 271

5.1 Außenposten der Zivilisation und Inseln der Barbarei: Raum und Zeit im sistema de posiciones ............................................... 5.1.1 Raumangst: Die unlesbare Landschaft und die Erfahrung der „Exteriorität“ ........................................................................ 5.1.2 José Díaz Fernández’ blocao: Chronotop der Entfremdung ....... 5.1.3 Die komische Dimension des blocao in Wenceslao Fernández Flórez’ Aventuras del Caballero Rogelio de Amaral (1933) ...... 5.2 Ramón Senders Imán (1930): Annual, Chronotop des Absurden .......... 5.2.1 Verlust von Heimat im Dominoeffekt oder Viances Lauf auf dem Rand der Struktur ......................................................... 5.2.2 Unheimliche Landschaftsbilder und die Heimat als „punctum“ ............................................................................. 5.2.3 Erosion der Zeichenwelten: Annual und das Rutschen des Sinns .................................................................................... 5.2.4 ‚Organsprache‘: Über die physische und groteske Dimension des ‚Un-Falls‘ ............................................................................ 5.2.5 Die koloniale Differenz im absurden Kriegsraum und der „Kollaps in das Objekt“ .................................................

275 281 288 293 295 301 309 315 320 325

Epilog ................................................................................................. 333 Literaturverzeichnis .......................................................................... 339

Einleitung

The history of colonial campaigns is littered with military disasters suffered by the European powers. [...] None of these disasters, however, was as severe as that suffered by the Spanish colonial army in Morocco in July 1921, nor did they have the same depth of domestic repercussion. Indeed, this defeat became a mythical reference point in the different discourses both of Spaniards and Moroccans and of left and right in Spain. SEBASTIAN BALFOUR, DEADLY EMBRACE1

In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts fand in Spanien ein textuelles Ereignis statt, das von den Literaturgeschichten meist übersehen wird. Die Literatur dieses Jahrzehnts wird im allgemeinen literaturwissenschaftlichen Konsens identifiziert mit den ästhetischen Strömungen der Avantgarde und der Generación del 27, die einen herausragenden Platz in der Diachronie literarischer Entwicklungen zugewiesen bekommen. Durch die ästhetikgeschichtliche Fixierung auf literarische Innovationen geriet dabei ein anderes Literatur-Geschehen der 1920er Jahre aus dem Blick: Der spanisch-marokkanische Kolonialkrieg, der als Thema in diesen Jahren die Öffentlichkeit stark beschäftigte, brachte eine lawinenartige Produktion von Texten ins Rollen, die oft abseits der Welt literarischer tertulias und Manifeste – im Protektorat selbst – geschrieben wurden und um die aktuelle Realität des Kolonialkriegs kreisten. Sie beanspruchten, die Ereignisse im Rif zu erzählen, zu erklären, zu rechtfertigen, zu verurteilen, ihre kulturelle, gesellschaftliche und politische Bedeutung auszuloten. Das Schlüsselereignis, in dessen Folge die Welle an Veröffentlichungen ihren deutlichen Höhepunkt erreich-

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Balfour 2002: 52.

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te, war die ‚desaströse‘ Niederlage der Spanier bei Annual (‫ގ‬AnwƗl)2 im Juli 1921. Doch trotz dieser Erzähltextflut wird der Kolonialkrieg im Rif als kulturelle Begebenheit in den Literaturgeschichten kaum erwähnt – ganz im Gegensatz zur Niederlage von 1898 im Krieg mit den letzten Kolonien in Übersee, die als kollektives Schlüsselereignis einer ganzen Schriftstellergeneration, der Generación del 98, den Namen gab. Dafür mag es, grob gesagt, zwei Hauptgründe geben: Der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs wenige Jahre später hat aufgrund seiner schweren Folgen für die gesamte spanische Gesellschaft die historische Tragweite des vorausgegangenen Kriegs in Marokko quasi überrollt. So bleibt die Guerra de Marruecos im Gegensatz zur Guerra Civil weitgehend aus dem kulturellen Gedächtnis der Spanier ausgeklammert. Allenfalls das Wort ‚Annual‘ ruft die Ahnung eines düsteren kollektiven Ereignisses hervor, ohne dass jedoch der Hergang des Kriegs im Einzelnen bekannt und mit einem weiter reichenden kulturellen Sinn versehen wäre. Über die Jahrzehnte des Franco-Regimes war innerhalb Spaniens eine kritische historische Aufarbeitung des spanischen Kolonialismus in Afrika nur unter erschwerten Umständen möglich. Das Wissensfeld blieb so jahrzehntelang von den ‚Experten‘ des Militärs dominiert und damit weiter durchsetzt von den Mythen und Ideologien des afrikanistischen Diskurses. Doch auch nach dem Franquismus setzte sich das Vergessen fort: Während der Bürgerkrieg nach einer emotionsgeladenen Welle der Vergangenheitsaufarbeitung in Spanien zum Aufhänger einer sich neu definierenden Kultur der Erinnerungspflicht geworden ist, blieb die Geschichte des Marokko-Kriegs ein Teil des historischen Fachwissens – obwohl die koloniale Krise unmittelbar das Auseinanderbrechen des gesellschaftlichen Konsenses mitbewirkte, das in den Bürgerkrieg führte. Die Reinszenierung kolonialer Identitätsdiskurse konnte, anders als beim Afrika-Krieg von 1859-1860, nicht mehr die Funktion erfüllen, in einer politischen Krisensituation das nationale Einheitsgefühl wieder herzustellen – im Gegenteil: Der Marokko-Krieg der 1920er Jahre führte zu einer tiefen gesellschaftlichen und politischen Spaltung. Doch vielleicht ist das in den letzten Jahren immer größere gesellschaftliche Interesse für den spanischen Kolonialismus in Afrika und die

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Die Umschriften von marokkanischen Eigennamen und Toponymen, sowie von bestimmten in den spanischen Diskurskontext übernommenen arabischen und berberischen Begriffen, variieren stark. In der folgenden Arbeit werden sie in der jeweiligen Schreibweise wiedergegeben, die in den spanischen Texten der 1920er und 1930er Jahre am häufigsten verwendet wird. Bei zentralen Namen und Begriffen wird bei der ersten Nennung in Klammern die Transkription nach den Konventionen der DMG wiedergegeben.



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Vervielfältigung und Vertiefung seiner wissenschaftlichen Erforschung die Folge der Bürgerkriegsaufarbeitung, deren Gipfel wohl schon überschritten ist und den Blick auf ein dahinter (bzw. zeitlich davor) befindliches Terrain freigibt. Der andere Grund für die mangelnde Beachtung liegt im Charakter der Marokko-Kriegsliteratur selbst und ist, wie bereits angedeutet, den normativen Kriterien der Literaturgeschichte geschuldet: Ein Teil der Texte ist traditionellen, im Vergleich zur Literatur der Avantgarde altmodischen ästhetischen Modellen verhaftet, wie der realistischen Populärliteratur des 19. Jahrhunderts oder romantischen und modernistisch-exotistischen Erzählformen. Er könnte gemäß dem Bewertungsmaßstab formaler Innovativität als unbedeutend, oder sogar, literaturkritisch gesprochen, aufgrund seiner Überladung mit stereotypem Schwulst und anderen Merkmalen von ‚Trivialität‘ als minderwertig ad acta gelegt werden. Es lässt sich hier eine ästhetikgeschichtliche ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ beobachten, die vielleicht gerade im deutlichen Auseinanderdriften einer avantgardistisch-elitären Hochliteratur und einer populären Massenliteratur begründet liegt – zu einer Zeit, in der sich der Literaturbetrieb stark kommerzialisiert. Ein anderer Teil der Literatur bezieht seine Legitimität aus einem dokumentarischen Wahrheitsanspruch und bleibt häufig Detailfragen des historischen Augenblicks verhaftet, weshalb diese Texte in erster Linie von Historikern als Quellenmaterial gelesen wurden. Ihre unmittelbare Bezogenheit auf den politischen Moment und ihre Funktion persönlich-autobiographischer Sinnfindung führen dazu, dass sie nicht den Anforderungen eines autonomen Literaturverständnisses genügen. Viele Texte disqualifizieren sich für den heutigen Lesegeschmack insbesondere durch ihren stark ideologischen Charakter: Sie drängen auf die autoritäre Durchsetzung von politischen Deutungen und hierarchischen Werteordnungen. Und doch können die Texte nicht als monologisch im Sinne von Michail Bachtin (1979) verstanden werden, denn häufig sind sie von Widersprüchen, Brüchen und Inkonsistenzen durchzogen, die auf einen Konflikt oder ein dialogisches Element hindeuten. Gerade diese Momente des unfreiwilligen Selbstwiderspruchs, die den gesunden Leserverstand endgültig dazu veranlassen, die ‚schlechte‘ Lektüre beiseite zu legen, lassen das kulturwissenschaftliche Interesse wach werden: Warum ist hier die diskursive und narrative Sinnbildung so problematisch? In der Literatur des spanisch-marokkanischen Kriegs manifestiert sich ein bedeutsamer kultureller Konflikt, dessen gewaltsame praktische ‚Lösung‘ geschichtlich folgenreich sein würde. Das spanische Unternehmen des MarokkoKriegs stand in der Tradition einer spezifischen diskursiven Praxis, die für Spanien eine zentrale identitätskonstituierende Funktion hatte: Es ging um die Frage der kulturellen Zugehörigkeit Spaniens, um seine Selbstbehauptung auf der ‚im-



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perialen Stufenleiter‘ und somit darum, etablierte Wahrheiten des ‚westlichen‘ Kolonialismus, bzw. der eigenen orientalistischen Diskursvariante, des Afrikanismus, zu beteuern, aufzuführen und durchzusetzen, um sich der Identität eines potenten imperialen Landes zu versichern. Die Literatur ist Zeuge dafür, wie die Vorstellung einer spanischen Rückständigkeit in jenen Jahren der rapiden europäischen Modernisierung und des imperialen ‚Wettlaufs‘ am nationalen Selbstverständnis nagte. Als Schmach nahm man es wahr, dass die europäischen Großmächte in ihrer Aufteilung des nördlichen Afrikas Spanien nur das wirtschaftlich kaum nutzbare und geographisch schwer zugängliche Gebiet des Rifgebirges zur Kolonisierung überlassen hatten – ein vergleichsweise winziges Terrain, dessen Grenzen auch noch in aufeinanderfolgenden Vereinbarungen zunehmend zum Nachteil Spaniens verschoben wurden. Es war spärlich besiedelt von Rifberbern, die in einer Vielzahl von in komplexe lokale Beziehungen und Konflikte verstrickten bäuerlichen Kabylenstämmen (cabilas, bzw. qabilas) lebten, die die Spanier nicht zu durchschauen und kontrollieren vermochten. Diese Kabylen hatten auch gegenüber der Zentralregierung des Sultans eine relative Unabhängigkeit bewahrt, blickten auf eine lange Geschichte des Widerstands gegen Versuche der Fremdherrschaft zurück und würden, so stellte sich heraus, den spanischen ‚protectores‘ einen effektiven militärischen Widerstand entgegensetzen. Gemäß der öffentlichen Wahrnehmung waren dies lediglich die ‚Krümel‘ des ‚kolonialen Kuchens‘, der zwischen den Großmächten verteilt wurde. Spanien schien auf die Rolle eines ohnmächtigen Spielballs im Konkurrenzkampf der Imperialmächte reduziert zu sein, wobei Großbritannien sich sogar anmaßte, auf dem spanischen Teil der Halbinsel eine eigene Kolonie – Gibraltar – aufrecht zu erhalten. Gehörte man zu den Kolonisatoren oder zu den Kolonisierten? War Spanien vielleicht doch nur die Verlängerung des ‚dunklen Kontinents‘? Umso mehr galt es nun, nach dem Verlust der letzten Kolonien in Amerika und in einer Zeit, in der sich eine Modernisierungskrise abzeichnete, die eigene Zugehörigkeit zur ‚zivilisierten Welt‘ und damit das Recht und die militärische Macht der Kolonisierung unter Beweis zu stellen. Die historische Mission Spaniens in Marokko erschien den Afrikanisten von existentieller Wichtigkeit für das Fortbestehen der Nation. Doch mochte diese Aufführung Spaniens als souveräne, militärisch ‚potente‘ Kolonialmacht im Rif nicht richtig glücken, und im Juli 1921 geschah jener „Unfall“ – so wurde die Niederlage von Annual immer wieder in den Texten benannt –, der vom afrikanistisch-militaristischen Diskurs nicht vorgesehen war, von diesem jedoch bedingt war als das Fehlschlagen der Praxis, die auf ihm beruhte: Bei einem siegessicheren Vormarsch ins Zentralrif hatten die spanischen Militärs ein überdehntes System von Stützpunkten errichtet und geglaubt, sich damit das Territorium im Schnellverfahren zu ei-



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gen gemacht zu haben. Verbarrikadiert hinter Sandsäcken und Stacheldraht, ohne Wasserversorgung und Ausrüstungsvorräte, wurden sie von dem wohlorganisierten Angriff der Rifkabylen unter Abd-el-Krim (Mu‫ۊ‬ammad Ibn ҵal-KarƯm al‫ۏ‬a‫ܒܒ‬ƗbƯ) überrascht: Innerhalb weniger Tage befanden sich die spanischen Stützpunkte im Belagerungszustand und die gesamte Frontlinie im östlichen Rif kam zu Fall. Ca. 12.000 Soldaten harrten in diesen Tagen in den Stellungen aus und sahen, gepeinigt von Durst, Krankheit, Wahnsinn und Angst, dem sicheren Tod entgegen, ca. 10.000 von ihnen ließen so ihr Leben oder starben durch die Waffen der Rifkabylen eines gewaltsamen Todes. Das Desaster von Annual war als Resultat des militärischen Kolonisierungsvorhabens natürlich nicht außerhalb kolonialer Zeichenwelten interpretierbar oder erfahrbar, und doch überschritt es das bis dahin diskursiv Intelligible und erschütterte die Grenzen des Sag- und Denkbaren. Der ‚Un-Fall‘ wurde bestimmt durch die Struktur, die er durchbrach, er war insofern narrativ und diskursiv geprägt und doch nicht problemlos auf das ihm zugrunde liegende symbolische Gerüst rückführbar. Das Bemühen um eine Wiederherstellung oder Neufindung von kulturellem Sinn nach ‚Annual‘ schlug sich in der massiven Literaturproduktion nieder, die schließlich an der Herausbildung der kollektiven Interpretation ‚Desaster von Annual‘ als medial hervorgebrachtem Ereignis wesentlich mitwirkte. In dieser Arbeit soll untersucht werden, auf welche Arten sich die Erschütterung der kolonialen Symbolstrukturen in diese Erzählungen einschreibt, bzw. wie diese Erschütterung geschrieben wird. Das Feld der Literatur, so die zentrale These, wurde zum Ort eines Deutungskonfliktes: Einerseits ging es um die Beschwörung der Wahrheiten der kolonialen Diskurstradition und ihre autoritäre Durchsetzung, andererseits um die Erzählung eines Ereignisses, das einen Verlust überlieferter Sicherheiten und das Fehlschlagen der kolonialen Identitätsversicherung bedeutete. In der Literatur des Marokko-Kriegs zeigt sich somit eine partielle Denaturalisierung ehemals selbstverständlicher kolonialer Sinnwelten: Manches dessen, was vorher natürlich und evident erschien, entblößte sich als politische Konstruktion und war auf eine Verfechtung angewiesen. Dieser Moment der Unentschiedenheit, der mit einer Politisierung der kolonialen Diskurswelten auf breiter gesellschaftlicher Ebene einherging, ist ein zentrales Charakteristikum des literarischen Ereignisses ‚Desaster von Annual‘. Das Ereignis eröffnete einen Möglichkeitsraum von erzählerischen Alternativen und Neupositionierungen von Subjekten. Es führte einerseits zu der Bemühung um eine diskursive und narrative Restabilisierung durch die Wiederholung überlieferter Erzählungen der kolonialen und militärisch-epischen Tradition und dem Drang zur totalitären und reaktionären Schließung der Brüche des nationalen Selbstbildes.



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Zum anderen ließ es neue Erzählformen und Perspektiven in der spanischen Marokko-Text-Tradition entstehen, führte in einzelnen Erzählungen zur Entlarvung des prekären Konstruktcharakters militaristischer und afrikanistischer Zeichenwelten, ihrer Dekonstruktion und Umschreibung. In den letzten Jahren begann das Thema des Rif-Kriegs immer mehr historiographisches Interesse auf sich zu ziehen, und es entstanden zudem einige überblicksartige Bestandsaufnahmen der Literatur des Marokko-Kriegs innerhalb größerer thematischer Areale: Als Wegbereiter kann hier López Garcías El blocao y el oriente (1994) gelten, ein kleines Panorama der spanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, die Marokko zum Gegenstand und Schauplatz hat. Mit dem blocao greift López García dabei im Titel eine zentrale Raumfigur aus dem Marokko-Krieg auf, deren symbolischer Bedeutung er jedoch nicht weiter nachgeht und die in dieser Arbeit zu erkunden aussteht. 1999 folgte mit der Dissertation von López Barranco (1999) eine aufwendige, vornehmlich bibliographische Arbeit, in der ein enormes Korpus an Erzählliteratur zusammentragen wurde, die sich ab der Guerra de África von 1859 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in irgendeiner Form dem Thema der verschiedenen kriegerischen Auseinandersetzungen Spaniens in Marokko gewidmet hat.3 Gleich im nächsten Jahr (2000) erschien Carrasco Gonzalez’ Monographie zum hispano-afrikanischen Kolonialroman des 19. und 20. Jahrhunderts, die neben Marokko auch Guinea und die Sahara als literarische Themen einbezieht. Diese Überblicksstudien haben eine wichtige Pionierleistung bei der Konstitution der MarokkoKriegsliteratur als Textkorpus erbracht, bleiben jedoch in der Textanalyse oberflächlich, da sie jeweils Publikationszeiträume von 100 Jahren und mehr abdecken. Mit größerer Aufmerksamkeit wurden bis dato nur einzelne bekanntere Erzählungen bedacht, dabei jedoch oft aus der breiten textuellen Umgebung des Kriegsereignisses gelöst. Eine Ausnahme gegenüber diesen überwiegend klassisch-hermeneutischen Analysen stellt die Monographie von Dionisio Viscarri (2004) dar, der mithilfe der kolonialen Diskurstheorie Saids drei Texte aus dem Marokko-Krieg als orientalistische und präfaschistische Texte gedeutet hat, und Susan Martín Marquéz‫ ތ‬Studie Disorientations (2008), die einen umfassenden Überblick über die Bedeutung der Kolonialgeschichte in Afrika für die spanische

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Diese Arbeit wurde, in stark gekürzter Fassung, 2006 unter dem Titel El Rif en armas: la narrativa española sobre la guerra de Marruecos, (1859-2005) in Buchform publiziert (López Barranco 2006).



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Identitätskonstruktion leistet, dabei die Literatur des Desasters von Annual jedoch nur streift.4 Jahrzehntelang hat man so den Großteil der Kriegsliteratur vergessen und dabei ein größeres Interesse nur einzelnen Texten von Autoren entgegengebracht, die an den innovationsästhetischen Paradigmen der 1920er und beginnenden 1930er Jahre partizipieren: den traditionellen literaturgeschichtlichen Themen der ‚Faschisierung‘ der Avantgarde-Bewegungen, der politischen Polarisierung der Generación del 27 und der Wende zum Sozialroman der ‚Vorbürgerkriegszeit‘ – die in Bezug auf den Rif-Krieg eigentlich eine Nachkriegszeit ist. Die vorliegende Arbeit ist darum bemüht, diese bekannten Kategorien auf einen sekundären Platz zu verweisen zugunsten eines kulturwissenschaftlichen Blicks, der sich auf die erzählerischen Inszenierungen eines desaströsen Ereignisses vor dem Hintergrund kolonialer Zeichenwelten richtet. Damit werden zum einen Deutungsmuster sichtbar, die die Grenzen ideologischer und literaturprogrammatischer Zugehörigkeiten überschreiten, zum anderen wird die literaturhistorische Entwicklung und politische Polarisierung an den Kolonialkrieg als kulturelle Erfahrung zurückgebunden. Im Umschreibungsprozess des MarokkoTextes wird sich so nebenbei eine ästhetische Veränderung abzeichnen, die den Übergang von der literatura pura zur literatura comprometida im neuen Licht erscheinen lässt: Die „Schwelle zwischen poetischer Avantgarde und sozialem Dokumentarismus“ wird gewöhnlich um das Jahr 1930 herum datiert (Neuschäfer 1997: 338-339), dabei aber übersehen, dass schon während der ganzen 1920er Jahre eine ästhetisch heterogene Kriegsliteratur mit politischem und dokumentarischem Charakter oft abseits des spanischen Kulturlebens entstand. Einzelne Texte, denen aufgrund ihrer programmatischen Hinwendung zu sozialen und politischen Themen eine literaturgeschichtliche Bedeutsamkeit zugeschrieben wird, gehen gerade aus diesem Textzusammenhang hervor, wie José Díaz Fernández’ El blocao (1928) und Ramón Senders Imán (1930). Die Kriegserzählungen als zusammenhängendes textuelles Ereignis zu untersuchen, das sich im Prozess einer zeitlichen Aushandlung konstituiert, bedeutet, die einzelnen Erzählungen bekannterer Autoren im Diskurszusammenhang der Marokko-Kriegsliteratur zu resituieren. Die diskursive Einbettung erlaubt daneben, vergessene Texte in ihrer kulturwissenschaftlichen Bedeutsamkeit wiederzuentdecken und erstmalig genauer zu durchleuchten. Die Literaturbetrachtung

4

Viscarri verzichtet auf eine generelle Problematisierung der Said’schen Orientalismustheorie, wie sie in Bezug auf die Marokko-Kriegsliteratur angemessen erscheint (vgl. Kap. 1.1.1). Auf Martín Márquez’ Disorientations wird im Zusammenhang mit der afrikanistischen Diskursgeschichte unter 1.3.1 genauer eingegangen.



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beansprucht nicht auf einem umfassenden oder sogar vollständigen Korpus zu beruhen, sondern richtet sich auf eine Auswahl von ideologisch und ästhetisch sehr heterogenen Erzählungen, die auf besonders interessante Weise die kulturelle Bedeutungskrise vor Augen führen, die sich in der Folge von ‚Annual‘ ereignet. Sie sind während der Guerra de Marruecos oder im unmittelbaren Anschluss daran geschrieben worden, haben den Rif-Krieg zum Thema und stammen von Autoren, die selbst an ihm teilgenommen haben, bzw. sich als Berichterstatter oder in einer anderen Funktion vor Ort befanden. Unter den Texten finden sich sowohl autobiographische als auch fiktionale Erzähltexte – wobei sich ein Schwanken zwischen verschiedenen Ansprüchen auf Referentialität und eine Überschreitung der etablierten Genregrenzen zeigen. Immer wieder geht es hier darum, auf die gesellschaftlich umkämpfte Frage nach der ‚wahren Realität‘ des Geschehenen eine Antwort zu geben, dabei stellt sich jedoch heraus, dass die Relationen zwischen Sprache, Wirklichkeit und Wahrheit neu verhandelt werden müssen: Die Frage wahrer Repräsentationen stellt sich als manipulative Politik der Wahrheit heraus, die mit Gegenbehauptungen und neuen Arten testimonialen Schreibens und neuen Autorisierungsformen konfrontiert wird. Um den kulturellen Deutungsrahmen zu umreißen, in den das Ereignis ‚Annual‘ eintrat, legt diese Arbeit ein postkoloniales Theoriegebäude zugrunde, zielt aber gleichzeitig auf eine kritische Revision bestimmter Theoreme (Kap. 1.1): Da sich die ‚Marokko-Frage‘ als spanische Identitätsfrage deutlich in die orientalistische Diskurspraxis der europäischen Großmächte verwickelt sah, dient zunächst die Orientalismus-Theorie Saids als Ausgangspunkt, um den spezifischen Ort Spaniens in den imaginären Geographien kolonialer Zeichenwelten zu beleuchten. Dies soll jedoch nicht dazu führen, die Marokko-Kriegsliteratur auf die Aktualisierung feststehender symbolischer Strukturen zu reduzieren, wie Said sie als macht- und identitätsstrategischen Monolog der Kolonialmächte versteht. Eben diese Betrachtungsweise, die sich auf die Wiederkehr orientalistischer Topoi fixiert, läuft Gefahr, zu den immer gleichen Feststellungen innerhalb des geschlossenen Universums zu gelangen, als das Said den Orientalismus-Diskurs konzipiert. Stattdessen richtet sich das Interesse dieser Arbeit auf die literarischen Inszenierungen einer Destabilisierung dieser Zeichenwelt, auf die ‚andere Seite‘ des kolonialen Textuniversums, auf der das Zeugnis eines Traumas abgelegt ist. Wo sich die Möglichkeitsräume für solche Destabilisierungen auftun, wird mithilfe der Theorien Homi K. Bahbhas über die ambivalenten Mechanismen der kolonialen Identitätskonstruktion aufgezeigt. Brüche und Spaltungen im kolonialen Text interessieren dabei nicht als ständige Effekte des Diskurses (im Sinne Bhabhas), sondern in dem Maße, wie sie für einen historischen Moment charakteristisch sind, der tatsächlich auf breiter gesellschaftlicher Ebene als



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Bruch erfahren und artikuliert wird. Die postkoloniale Theorie wird daher um eine Ereignistheorie ergänzt (Kap. 1.2), die es erlaubt, die Medialität des TextEreignisses ‚Desaster von Annual‘ sowohl in der diskursiven Wiederholungsstruktur als auch in ihrem Verweis auf die Realität des ‚Un-Falls‘ (als Fall, der sich nicht restlos diskursiv und imaginär vereinnahmen lässt) zu erfassen, und zugleich erklärt, wie dabei neue Positionen und Formen des Schreibens entstehen. So wird Saids These des Orientalismus-Diskurses als erfahrungsresistentes System hinterfragt und ein Weg aufgewiesen, die postkolonialen Theoriehorizonte auf historisch konkrete, kulturelle Umbruchsprozesse hin zu öffnen. Entsprechend wird im Anschluss an diese theoretischen Grundlegungen das TextEreignis historisch kontextualisiert (Kap. 1.3): In einem diskursgeschichtlichen Überblick zum africanismo wird das symbolische Gerüst nachgezeichnet, das der militärischen Aneignung Marokkos zugrunde lag, und dann der ereignisgeschichtliche Zusammenhang skizziert, auf den die Marokko-Kriegsliteratur in Ausschnitten referiert. Der Aufbau dieses Buches und die Argumentationsstruktur der Literaturbetrachtung sind von einer zweifachen Logik bestimmt: Zum einen zeichnet diese Forschungsarbeit im Ganzen einen Prozess der Umschreibung nach und folgt hier einer ungefähren Chronologie der Entstehungszeit der Texte. Zum anderen rücken die vier Hauptkapitel jeweils ein zentrales Bedeutungsfeld ins Zentrum, in dem sich das ‚Desaströse‘ der Marokko-Ereignisse einschreibt und geschrieben wird. Dieses Deutungsfeld wird in jedem Kapitel zunächst in Bezugnahme auf eine größere Anzahl von Texten umrissen und dient dann als Hintergrund für die ausgiebigere Analyse einzelner Erzählungen in ihrer internen Dynamik des Aushandelns, Durchsetzens oder Dekomponierens der beschriebenen Symbolstrukturen. Die in Bezug auf das Desaster von Annual allseits artikulierte und evozierte vergüenza dient in Kapitel 2 als Ausgangspunkt, um zu beleuchten, wie das koloniale Desaster hinsichtlich der Konstruktion von Ähnlichkeiten und Differenzen in der ‚Marokko-Frage‘ als kultureller Identitätsfrage interpretiert wird. Dabei geht es um die Positionierung Spaniens in den Hierarchien kolonialer Diskurswelten. Die ‚koloniale Schmach‘ markiert eine Bruchlinie, die eine argumentative Spaltung impliziert: Zum einen wiederholt die Literatur koloniale Werte- und Hierarchievorstellungen und versucht rhetorisch an einer Position der Überlegenheit festzuhalten, zum anderen erzählt sie vor dem Hintergrund desselben diskriminatorischen Systems das koloniale Scheitern Spaniens als geschichtliches Ereignis. In der Inszenierung dieses Misslingens und der gescheiterten Nachahmung, die die Literatur selbst vollführt, tritt das Theatralische des Kolonialismus und der Umschlag des Epischen zur Farce vor Augen.



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In Kapitel 3 wird das koloniale Desaster in einen Deutungszusammenhang mit der Veränderung der Geschlechterbeziehungen in Spanien gestellt, die zu dieser Zeit in einem Umstrukturierungsprozess begriffen sind. Wie sich hier zeigt, ist der Kolonialkrieg eng mit einer Behauptung traditioneller Männlichkeitsideale verschränkt, die problematisch werden. Die Desaster-Literatur erzählt, wie gerade aus dem Angstszenarium eines Männlichkeitsverlusts die ‚harte Linie‘ in der Marokko-Politik hervorgeht und einen Entwurf rigider und aggressiver Virilität mit sich bringt. Zum anderen ließen die Ereignisse von Annual auch Zweifel bezüglich heroisch-militaristischer Männlichkeitsbilder aufkommen. So öffnet sich in der Marokko-Kriegsliteratur auch ein Raum für die Dekonstruktion des Ideals des soldatischen Mannes und die koloniale Eroberungsgeschichte wird zum Krisenszenario schmachvollen sexuellen Scheiterns umgedeutet. Das 4. Kapitel führt vor, wie sich die ‚koloniale Frage‘ mit der ‚sozialen Frage‘ überlagert: Anhand der Narration der Fremdenlegion wird gezeigt, wie der Kolonialismus als Projekt geeinter nationaler Interessen fragwürdig wird und sich eine folgenreiche „DissemiNation“ ereignet. Die Literatur des Desasters von Annual wird zum historischen Moment, mit dem sich im kolonialen Diskursfeld eine neue subalterne Perspektive der Wahrnehmung und Position der Artikulation herausbildet. Mit ihr erfolgt eine Umschreibung der im kolonialen Kontext überlieferten Subjektvorstellungen: Eine neue Form von traumatischer Subjektivität bildet sich heraus – ein Ort jenseits der rhetorischen Selbstaffirmation, der durch das Verstummen markiert ist. Das Desaster von Annual lässt in Spanien so einen modernen Typus von Zeugnisliteratur entstehen, der sich die Bewahrung und Tradierung einer subjektiven Grenzerfahrung im Kontext historischer Marginalisierungs- und Entsubjektivierungsprozesse zur Aufgabe macht. Sie begründet ‚Annual‘ als Erinnerungsort sozialrevolutionärer und linksrepublikanischer Identitätspolitik. Im 5. und letzten Kapitel schließlich richtet sich der Fokus auf koloniale Raum-Zeit-Darstellungen. Hier wird sich zeigen, wie sich unter die alten Gemeinplätze und Chronotopoi der orientalistischen Literaturtradition die Erzählung einer neuen Raum-Zeit-Erfahrung mischt, die das teleologische Fortschrittsnarrativ und die Rückbindung an die epische Vergangenheit problematisch werden lässt. Der Kriegsraum wird zum Schwellenraum, in dem sich eine existentielle Selbstentfremdung vollzieht; in einzelnen Erzählungen wird er zu einem Chronotop ausgestaltet, in dem die kolonialen Zeichenwelten ins Absurde driften. Wird damit der Umschreibungsprozess zu Ende geführt, so soll nun mit dem Entflechten des spanischen Marokko-Textes begonnen werden.



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Zuvor danke ich noch allen, die mich beim Forschen und Schreiben unterstützt und mit ihren Gedanken bereichert haben: allen voran Susanne Klengel für die intensive, fachlich exzellente und zugleich so freundschaftliche Betreuung und Förderung meiner Forschungsarbeit und Andreas Gipper für die vielen wertvollen Diskussionen und die hilfreiche Unterstützung und Ko-Betreuung meiner Dissertation, so auch Holger Siever, Matthias Perl und Dieter Ingenschay für das Interesse und die Zeit, die sie als Gutachter dieser Arbeit investiert haben. Ich danke insbesondere auch denjenigen, die mir als KorrekturleserInnen zur Seite gestanden haben: Michael Müßigmann, Josean Ojea und Kerstin Hildebrandt, Tabea Huth, Berit Callsen, Sabine Erbrich und vor allem meiner Mutter Verena Fleischmann, die den Entstehungsprozess dieses Buches auch in vieler anderer Hinsicht begleitet, bereichert und unterstützt haben. Mein besonderer Dank geht auch an meinen Vater Ulrich Fleischmann, der sein großes Fach- und Weltwissen noch in Form von Textkommentaren in die Arbeit eingebracht hat und kurz danach verstarb. Zuletzt danke ich Jessika & Denis & Vincent & Theresa & Benedikt Goldmann, Jana Mehrtens, Xavier Gavin und Tchavdar Todorov für ihre großartige Unterstützung.



1. Theoretische und historische Rahmung

1.1 S YMBOLISCHE S TRUKTUREN : P OSTKOLONIALE T HEORIEGRUNDLAGEN Ein Spanier, der im Zusammenhang des Kolonialkriegs einen literarischen Text über Marokko schreibt, begibt sich zunächst auf ein symbolisch bereits dicht besetztes Terrain: Er nimmt Bezug auf eine Tradition an Textsorten, Erzählschemata, Unterscheidungen, Themen, Motiven, Bildern – Elemente eines breiten Geflechts an Bedeutungsbeziehungen, das aufgerufen wird, wenn Aussagen über den nordafrikanischen Nachbarn gemacht werden. Er positioniert sich unweigerlich innerhalb einer großen Menge überlieferter Äußerungen, die das Repertoire an gesellschaftlich zirkulierenden Annahmen ausmachen, die der Unternehmung des Marokko-Kriegs zugrunde liegen und deren Gültigkeit der Kolonialkrieg inszenieren und autorisieren soll. Um sich diesem symbolischen Geflecht zu nähern, kann zunächst Edwards Saids Orientalismus-Theorie als Ausgangspunkt dienen. Da Saids Orientalism als Klassiker der postkolonialen Theorie allgemein bekannt ist, wird im Folgenden nur eine kleine Skizze der Grundannahmen Saids angefertigt und dabei der Fokus auf einzelne, für die Zwecke dieser Arbeit ausschlaggebende Aspekte seiner Theorie gelenkt, wobei eine partielle Abgrenzung und Problematisierung erfolgt.

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1.1.1 Orientalismus als hegemonialer Diskurs und seine Grenzen Orientalism is a style of thought based upon an ontological and epistemological distinction made between „the Orient“ and (most of the time) „the Occident“. Thus a very large mass of writers, among whom are poets, novelists, philosophers, political theorists, economists, and imperial administrators, have accepted the basic distinction between East and West as a starting point for elaborate theories, epics, novels, social descriptions, and political accounts concerning the Orient, its people, customs, „mind“, destiny, and so on. EDWARD SAID, ORIENTALISM (1978)1

In Orientalism zeigt Said, wie der Westen in einer Jahrhunderte langen Texttradition den Orient zum Objekt seines Wissens machte, bzw. ihn überhaupt erst in Form eines diskursiven Konstruktes hervorbrachte, das der Legitimierung seiner politischen und wirtschaftlichen Interessen und dem Ausbau seiner kolonialen Herrschaft diente. In seiner Grundfragestellung nach dem Zusammenhang von Repräsentationstechniken, Wissensproduktion und Machtausübung in kolonialen Beziehungen knüpft Said dabei (mit Einschränkungen2) an Michel Foucaults historische Diskursanalyse an. Sein Hauptfokus richtet sich auf die Hochphase der kolonialen Expansion Frankreichs und Englands vom ausgehenden 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert, während der sich gleichzeitig die Orientalistik als akademisches Fach etablierte und eine Gruppe von Experten (Wissenschaftler, koloniale Verwaltungsbeamte, Militärs, Reisende, Unternehmer, Diplomaten, Politiker) und Institutionen (Handelsgesellschaften, geographische Gesellschaf-

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Said [1978] 2003: 2-3.

2

Said verbindet die diskursanalytische Perspektive mit dem Hegemonie-Konzept von Antonio Gramsci und versteht die Dominanz des Orientalismus-Komplexes als eine Form des kulturellen Konsenses (vgl. ebd.: 6-7). Stärker als Foucault versteht er die diskursive Praxis des Orientalismus als intentionales Handeln von Institutionen und Individuen und nimmt so die Autoren von Äußerungen unter Betrachtung ihrer biographischen Hintergründe mit in den Blick (vgl. ebd.: 23). Er unterscheidet sich auch von Foucault, indem er immer wieder von Phantasien, Verdrängungen und Projektionen spricht und damit auf die Psyche von Subjekten Bezug nimmt. Die nicht ganz orthodoxe Handhabung der Theorien Foucaults wurde Said vielfach vorgeworfen.



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ten, Forschungs- und Bildungseinrichtungen) herausbildeten, die sich der Produktion von Wissen über den Orient widmeten. Wie Said anhand ihrer Texte zeigt, beruht das orientalistische Diskursuniversum auf einer fundamentalen geographischen Grenzziehung, mittels derer die Welt in zwei Hälften geteilt wird: In ihr fungiert der Orient als das konstitutive Andere des Okzidents und dient diesem zur Konstruktion einer Identität der Superiorität. Die Leitdifferenz Okzident/Orient ist also als asymmetrische binäre Opposition zu denken, durch die sich der Westen den Status eines vorrangigen Elements gegenüber dem Orient einräumt und seine Dominanz über diesen als natürliche Konsequenz seiner ‚Überlegenheit‘ erscheinen lässt (ebd.: 227). Der Orientalismus als symbolische Praxis stellt dabei etablierte Subjektpositionen bereit, die mit bestimmten Strategien der Autorisierung und Legitimierung des Sprechens über den Orient verbunden sind, bzw. umgekehrt betrachtet, bringt das Sprechen über den Orient diskursiv regulierte Subjektpositionen hervor: Die negativen Stereotypisierungen des Orients als barbarisch, irrational, lasziv, passiv, despotisch und falsch dienen der Produktion einer westlichen Subjektivität als zivilisiert, rational, moralisch, aktiv, humanitär, autoritär und wahrheitsmächtig. Sie sind ebenso selbstbezogen wie die exotistische Idealisierung des Orients in Selbstfindungsprojekten und Pilgerreisen romantisch inspirierter Philosophen, Literaten und Künstler, die diesen als Quelle der Erfahrung und Restauration des Ursprünglichen und Natürlichen entdeckten (ebd.: 168). Die kolonialen Demarkationslinien erweisen sich somit als Produkte imaginärer Geographien (ebd. 54-58), die dazu dienen, Identitäten und Alteritäten einen klaren Ort zuzuweisen und den Anschein von natürlichen und wissenschaftlich-objektiven Gegebenheiten zu verleihen. In der Tradition der orientalistischen Repräsentationstechniken wurden dabei die unterschiedlichsten Regionen, Kulturen und Sprachen unter der Kategorie des Orientalischen als homogenes Gebilde zusammengefasst, dem man, im Gegensatz zur westlichen Tendenz zur Dynamik und geschichtlichen Entwicklung, ein Verharren in einer archaischen Zeitlosigkeit attestierte – Strategien, mittels derer man die heterogenen Erscheinungen des ‚Orients‘ zu einem handhabbaren Gegenstand der wissenschaftlichen Erforschung und kulturellen und politischen Aneignung machte. Islamische Kulturen Nordafrikas und des Nahen Ostens spielen dabei in der Geschichte und der Gegenwart der Orientdarstellung eine paradigmatische Rolle: Sie galten als das Orientalische schlechthin und dienen nach wie vor als das privilegierte antagonistische Spiegelbild des Okzidents (ebd.: 201). Nachdem Said den westlichen Orientalismus-Diskurs am Beispiel von französischen und englischen Texten bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet hat, schlägt er einen Bogen bis zur Gegenwart (von 1978) und zeigt, wie sich die orientalisti-



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sche Tradition im U.S.-amerikanischen Neoimperialismus fortsetze, der sich zur Durchsetzung seiner außenpolitischen Interessen auf die gleiche Weise der Konstruktion eines orientalisierten Anderen bediene. Said führt vor, wie sich der orientalistische Diskurs über nationale und kulturelle Grenzen hinweg in der westlichen Welt als erstaunlich homogen und konsistent erwiesen hat und eine bemerkenswerte vereinnahmende Macht zeigte: Neu aufkommende wissenschaftliche, politische und philosophische Theorien (wie der Positivismus, Darwinismus, Freudianismus, Marxismus) wurden von der geopolitischen Binarität des Orientalismus durchdrungen, bzw. von diesem so absorbiert, dass schließlich immer wieder dessen Leitdifferenz Orient/Okzident untermauert wurde (ebd.: 12, 43, 205-206). In erster Linie wurde und wird der Orientalismus-Diskurs gemäß Said jedoch mit Material unterfüttert, das aus dem eigenen Diskurs-Repertoire stammt. Diese zirkuläre Rekursivität und Geschlossenheit führe dazu, dass der Orientalismus sich als „set of durable ideas“ durch eine weitgehende Einheitlichkeit und Kontinuität auszeichne: „It shares with magic and with mythology the self-containing, self-reinforcing character of a closed system, in which objects are what they are because they are what they are, for once, for all the time, for ontological reasons that no empirical material can either dislodge or alter.“ (Ebd.: 70, Hervorh. im Original)

Diese zentrale Annahme Saids verdient es, eingehender durchleuchtet zu werden, da sie einen Dreh- und Angelpunkt für das Verständnis einer Literatur darstellt, die an der kolonialen Diskurspraxis der ‚Marokko-Frage‘ partizipiert und gleichzeitig von einem ‚desaströsen‘ historischen Ereignis erzählt. Gemäß den Aussagen Saids führt der Orientalismus als geschlossenes System eine Art selbständiges Eigenleben, das sich gegenüber einer – wie auch immer gearteten – Realität als unerschütterlich erweist. Said stellt eine „disparity between texts and reality“ (ebd.: 109) fest, die sich mit der zunehmenden Modernisierung ‚orientalischer‘ Länder verstärkt und sich ab den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts noch weiter zuspitzt, da der bis dahin weitgehend ‚passive und stumme‘ Orient nun dem Westen eine gewalttätige Antwort entgegensetzt. Ihre Fortsetzung findet diese Kluft zwischen Diskurs und Realität ab den 1950er Jahren nach der Unabhängigkeit der orientalisierten Länder (ein Zeitpunkt, zu dem sich die globalen politischen Machtverhältnisse in Form der Gegenüberstellung UdSSR – USA neu verteilt haben, ebd.: 104, 272): „[...] Orientalism now faced a challenging and politically armed Orient. Two alternatives opened before Orientalism. One was to carry on as if nothing has happened. The second



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was to adapt the old ways to the new. But to the Orientalist, who believes the Orient never changes, the new is simply the old betrayed by new, misunderstanding dis-Orientals [...]. A third, revisionist alternative, to dispense with Orientalism altogether, was considered by only a tiny minority.“ (Ebd.: 104-105, Hervorh. im Original)

Diese Öffnung von Alternativen im historischen Moment eines politischen und militärischen Gegenschlags des ‚Orients‘ verdient besondere Aufmerksamkeit, denn dieser ist für das literarische Ereignis des Marokko-Kriegs bezeichnend. Said lässt diesem Unentschiedenheitsmoment nur bis zu einem gewissen Punkt Raum in seiner Theorie – und zwar aus dem einfachen Grund, dass gemäß seiner großen These die Entscheidung für die erste Option fällt, also die ewigen Wahrheiten des Orientalismus letztendlich von den realen historischen Ereignissen unbeeinträchtigt bleiben: „The impact of colonialism, of worldly circumstances, of historical development: all these were to Orientalists as flies to wanton boys, killed – or disregarded – for their sport, never taken seriously enough to complicate the essential Islam.“ (Ebd.: 105) Said spricht zwar von einer Krise des Orientalismus (ebd.), diese findet aber in Bezug auf die grundlegenden Deutungssysteme des Diskurses letztendlich gar nicht statt, sie ist eine Herausforderung von außen, die der Orientalismus wie eine geringfügige Lästigkeit hinwegwischt. Wie schlägt sich jedoch – wenn überhaupt – dieser Moment der Öffnung im Diskursfeld nieder? Und wie hat man sich jene anderen Alternativen vorzustellen? Die zweite Alternative, eine Anpassung des Diskurses, gleicht, so zeigt Said, einer Modernisierung in Form einer Adaptation an neue Theoreme und diskursive Stile, die die orientalistischen Grundannahmen im Wesentlichen nicht berührt. Auf die dritte Alternative geht Said nicht weiter ein; dies erklärt sich insofern von selbst, da die Texte, die den Orientalismus verabschieden, nicht mehr in den Fokus der orientalistischen Diskursanalyse geraten. Einer Bewegung der Umschreibung zu folgen, ermöglicht es, den Moment der Krise und Öffnung und damit auch die dritte Möglichkeit im Kontext orientalistischer Wissensproduktion sichtbar werden zu lassen: Es geraten blinde Flecken der diskursanalytischen Suchoptik ins Blickfeld, wie z.B. die Marokko-Erzählung Imán, die gewöhnlich kein Gegenstand der postkolonialen Theorie ist, sondern innerhalb eines anderen interpretatorischen Terrains der Literaturgeschichte situiert und anderen Deutungsparadigmen untergeordnet wird. Es ist so bezeichnend, dass die Marokko-Literatur, die unter das Paradigma der literatura de avanzada oder des Sozialromans fällt, aus Martín-Márquez‫ ތ‬umfassender Studie Desorientations zum spanisch-afrikanischen Identitätsdiskurs herausgefallen ist. Zum anderen ermöglicht erst die Betrachtung der Beziehung der Texte untereinander, ihre



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Aussagekraft zu erfassen, die sich aus dem Grad ihrer Abweichung und der Wahl bestimmter narrativer Optionen in einem konkreten kulturgeschichtlichen Moment ergibt. Die Frage von Kontinuität und Veränderung des Orientalismus durchzieht die ganze Studie Saids: Einerseits wird der Diskurs in seiner geschichtlichen Entwicklung, einer historischen Chronologie folgend, porträtiert, andererseits geht es doch in erster Linie darum zu zeigen, dass bis auf bestimmte Wandlungen im „Stil“ (ebd.: 206) des Diskurses gerade die Beständigkeit seiner Strukturen und Inhalte das wesentliche Merkmal ist. Said erklärt diese Duplizität von Stillstand und Entwicklung an späterer Stelle in seinem Text über die Unterscheidung eines latenten und eines manifesten Orientalismus: „The distinction I am making is really between an almost unconscious (and certainly an untouchable) positivity, which I shall call latent Orientalism, and the various stated views about Oriental society, languages, literatures, history, sociology, and so forth, which I shall call manifest Orientalism. Whatever change occurs in knowledge of the Orient is found almost exclusively in manifest Orientalism; the unanimity, stability, and durability of latent Orientalism are more or less constant.“ (Ebd., Hervorh. im Original)

Saids Modell greift auf Begriffe der psychoanalytischen Traumtheorie Freuds zurück (vgl. Bhabha [1983] 2007: 105) und erinnert zugleich an die auf der Saussure’schen Unterscheidung von langue und parole basierende strukturalistische Vorstellung von Tiefenstrukturen und ihren Oberflächenmanifestationen (Young 2001: 130). Dabei identifiziert Said die diachrone Dimension mit der veränderlichen diskursiven Form und ordnet sie der Ebene des Bewusstseins zu, während die Ebene struktureller Permanenz und Wiederkehr auf die un-, bzw. halbbewussten Phantasien bezogen ist. Die Unterscheidung impliziert eine Spannung zwischen der statischen „Vision“ des Orients und der historischen Erzählung, die einen ständigen Druck auf die Stabilität des Diskurssystems ausübt: „Against this static system of ‚synchronic essentialism‘ I have called vision because it presumes that the whole Orient can be seen panoptically, there is a constant pressure. The source of pressure is narrative, in that if any Oriental detail can be shown to move, or to develop, diachrony is introduced into the system. What seemed stable – and the Orient is synonymous with stability and unchanging eternality – now appears unstable. Instability suggests that history, with its disruptive detail, its currents of change, its tendency towards growth, decline, or dramatic movement, is possible in the Orient and for the Orient.“ (Said [1978] 2003: 240)



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In diesem Zusammenhang geht Said erneut auf die Phase ein, in die auch der Rif-Krieg fällt: Das Historisch-Narrative setzte sich insbesondere in dem Moment in Gang, als nach dem Ersten Weltkrieg der Orient die Bühne der Geschichte betritt, da die europäischen Mächte hier um die Vormachtstellung streiten und die ‚orientalischen‘ Kolonien in Befreiungskämpfen und im Anspruch auf eine eigene Nationalstaatlichkeit die Herrschaft des Westens herausfordern (ebd.: 240, 248). Die Unterscheidung zwischen dem Statischen und dem Narrativen ist für die Kriegsliteratur von großer Relevanz: Wie sich zeigen wird, destabilisiert und verkompliziert die Erzählung des historischen Ereignisses hier tatsächlich die Reartikulation des essentiell Orientalischen. Ein Konflikt zwischen dem Festhalten an der dogmatischen Autorität des kolonialen und militaristischen Diskurses und dem Bedürfnis nach dem (realistischen, manchmal dokumentarischen) Erzählen einer erwartungswidrigen Realität zeichnet sich ab. Um die Spannung zwischen Ereigniserzählung und diskursiver Wiederholungsstruktur zu fassen zu bekommen, ist es nötig, einzelne Texte als Ganzes in ihrer erzählerischen, prozesshaften Sinnstruktur in den Blick zu nehmen. Betrachtet man allein die versatzstückartige Wiederkehr orientalistischer Rhetorik, könnte man sich dem Said’schen Fazit anschließen, dass die Leitkategorien des Diskurses dem ‚diachronen Druck‘ problemlos standhalten: „The complex dynamics of human life – what I have been calling history as narrative – becomes either irrelevant or trivial in comparison with the circular vision by which the details of Oriental life serve merely to reassert the Orientalness of the subject and the Westernness of the observer.“ (Ebd.: 247) Sätze wie dieser lassen berechtigt erscheinen, dass Kritiker Said mehrfach eben das zum Vorwurf machten, was dieser selbst am Orientalismus-Diskurs kritisierte: Er neige zur Homogenisierung und Totalisierung heterogener und widersprüchlicher Phänomene (Lowe 1991: 5ff; Moore-Gilbert 1998: 42ff; McKenzie 1995). Es besteht der Verdacht, dass die Komplexitätsreduktion nicht nur eine Strategie der orientalistischen Diskurstradition ist, sondern auch ein Problem von Edward Saids Untersuchung selbst, was letztendlich die „circular vision“, von der Said im obigen Zitat spricht, stabilisieren und reproduzieren könnte: Texte aus verschiedensten Epochen und Kulturen würden dann auf ihre Bedeutung als Bestandteile eines Diskurses reduziert, der im Kern als unerschütterlich und stabil konzipiert ist und dessen Hauptbedeutung in der Zweiteilung der Welt in Okzident und Orient besteht. Der Orientalismus kann sich so auch in der postkolonialen Kritik als Interpretationsschema erweisen, mittels dessen die bipolare Logik des Diskurses mit hervorgebracht wird. Außerdem ließe, konsequent zu Ende gedacht, die postkoloniale Textanalyse kaum Rückschlüsse auf historische und kulturelle Kontexte zu, da sie für die latenten Kerninhalte des Orientalismus



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„irrelevant und trivial“ (vgl. obiges Zitat) seien. Dass man Said den Vorwurf der Vereinfachung und Übergeneralisierung entgegenhielt, ist natürlich nur eine teilweise berechtigte Kritik, denn die bahnbrechende Bedeutung und Reichweite von Orientalism liegt gerade im Aufzeigen der Zusammenhänge diskursiver Strukturen über Jahrhunderte und nationale Grenzen hinweg. Die Thesen über den orientalistischen Diskurs haben sich auch für weiterführende Analysen, die sich auf regionale und historische Besonderheiten konzentrieren, immer wieder als geeigneter Ausgangspunkt bewährt. Von zentraler Bedeutung für die spanische Literatur aus dem MarokkoKrieg, die ihre diskursive Autorität nicht vordergründig aus einem theoretischen Expertentum, sondern aus der Kriegsteilnahme bezieht, ist der Zusammenhang von Realitätserfahrung und Diskurs. Said unterscheidet zwischen „central authorities“ und „local agents“ in der kolonialen Machtmaschinerie (Said [1978] 2003: 44); letztere unterfüttern das System kontinuierlich mit ihrem Erfahrungswissen, um die diskursiven Wahrheiten und damit die repräsentative Macht des Zentrums zu stabilisieren (ebd.: 94). Was erfahrbar ist, ist gemäß Said textuell determiniert; widerspricht die spezifische Realitätserfahrung dem allgemeinen Wissen über den Orient, wird sie von diesem entkoppelt: „The mind learns to separate a general apprehension of the Orient from a specific experience of it.“ (Ebd.: 101; vgl. auch ebd.: 102) Insbesondere in Bezug auf die Testimonialliteratur des ‚Desasters von Annual‘ gilt es zu hinterfragen, ob und wie sich Erfahrung als dem kolonialen Diskurs widerständig erweisen kann. Die Kolonialkriegsliteratur legt nahe, dass die Erfahrung vor Ort gegen das vermeintliche Wissen des Zentrums ausgespielt werden und zu einer gesellschaftlichen Konfrontation führen kann. Bei dieser Konfrontation spielt die Überlagerung und Aktivierung anderer kultureller Symbolsysteme eine zentrale Rolle. Eine restlose Absorption anderer Diskurse durch den Orientalismus ist fragwürdig, tatsächlich erscheint die Interferenz mit anderen zentralen Zeichensystemen ziemlich komplex, wie besonders Gender-orientierte Orientalismus-Studien gezeigt haben (vgl. z.B. Lowe 1991; Lewis 1996; McClintock 1995; Ye÷eno÷lu 1998 u.a.). Die Marokko-Kriegstexte sind zwar in ihrer Partizipation am Kolonialismus-Diskurs verstehbar, erweisen sich aber als heterogene Gebilde mit Spuren aus vielen verschiedenen Diskursen und somit als komplexe Gefüge, die neue – intendierte und unbeabsichtigte – Sinneffekte hervorbringen können. Zur Zeit des Marokko-Kriegs haben gerade Diskussionen um Klassen- und Geschlechterunterschiede im Zusammenhang mit den erstarkenden Arbeiterbewegungen und Veränderungen in der gesellschaftlichen Rolle der Frau eine hohe Brisanz und werden im kolonialen Diskursfeld als symbolische Bezugssysteme aktiviert. Eine diskursive Interferenz gab es dabei



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auch mit den regionalen Nationalbewegungen Kataloniens und des Baskenlands, die die Gegenüberstellung von Zentralmacht und peripherer Autonomie mit der kolonialen Frage in Verbindung brachten, indem sie die politische Dominanz von Madrid mittels Kolonialismusmetaphern zu delegitimieren versuchten (vgl. Martín Márquez 2008: 46). Dabei lässt sich zwar einerseits beobachten, dass die Differenzen dieser Diskurse durch assoziative Reihen, Metaphern und Metonymien den Hierarchisierungen und Leitdifferenzen des kolonialen Diskurses analog gesetzt werden.3 Die Unterscheidungen können dabei jedoch nicht völlig zur Deckung gebracht werden, ohne dass dabei widersprüchliche Verstrickungen und Paradoxien entstehen. Zum anderen zeigt sich in der MarokkoKriegsliteratur auch, dass die kulturelle Differenz des kolonialen Diskurses, die gewöhnlich nationale Zusammengehörigkeitsgefühle generiert, an Definitionsmacht verlieren kann, wenn andere symbolische Grenzziehungen für die Hervorbringung von Subjektpositionen zentral werden: Im Zusammenhang mit der ‚Klassenfrage‘ findet hier im kolonialen Textfeld eine Umgewichtung der Prioritäten in den Identifizierungsprozessen statt, bei der sich das Freund-FeindSchema verschiebt. In dieser Identifikationsverschiebung wird in manchen Kriegstexten die Berechtigung bestimmter ‚Wahrheiten‘ des Kolonialismus ganz offen in Form eines politischen Gegendiskurses herausgefordert. Gemäß Ernesto Laclau kommt in einem solchen Moment, in dem sich eine plötzliche Politisierung dessen ereignet, was bis dahin selbstverständlich erschienen, die ideologische Natur eines hegemonialen Diskurses überhaupt erst zum Vorschein: „The moment of antagonism where the undecidable nature of the alternatives and their resolution through power relations becomes fully visible constitutes the field of the political.“4 Man kann also den bei Said erwähnten Augenblick der Öffnung von Alternativen als Moment interpretieren, in dem die Konsensfähigkeit zentraler Annahmen des kolonialen Diskurses (wie z.B. die eigene zivilisatorische Überlegenheit und daraus abgeleitete Kolonisierungsmission) und damit dessen hegemoniale Stellung an sich ins Wanken geraten. Dabei verliert manches, was als objektive Gegebenheit vorausgesetzt wurde, seine Evidenz und wird als Entscheidung oder Sinnfestlegung mit politischer Bedeutung entlarvt. Das Hinwegwischen der dritten Alternative (die Said ganz passend mit dem Töten von lästi-

3

Vgl. hierzu z.B. die Analyse des Romans ¡Mektub! in Kapitel 3.2, dessen Bedeutungsgerüst auf der Entsprechungsstruktur von geschlechtlicher und kultureller Identität und Alterität basiert.

4

Ernesto Laclau (1990): New Reflections on the Revolution of our Time, London: Verso Books, S. 35, zit. nach Reckwitz 2006: 346.



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gen Fliegen vergleicht) wird so als ein Moment des Machtkampfes erkennbar, in dem es um die Durchsetzung der gültigen Wirklichkeitsauffassung geht. Die ‚Unerschütterlichkeit‘ des kolonialen Symbolsystems entpuppt sich dabei als Oktroyierung einer bestimmten Form der diskursiven Weltwahrnehmung innerhalb der spanischen Gesellschaft – teilweise mit den Mitteln der Zensur und Gewalt. Zum Abschluss dieser theoretischen Skizze der Orientalismus-Theorie noch ein letzter kritischer Blick auf die zentrale Said’sche Grundthese einer zweigeteilten imaginären Geographie: Die Annahme einer weitgehenden Einheitlichkeit des Orientalismus-Diskurses innerhalb der ‚westlichen‘ Welt stellte einen beliebten Angriffspunkt der Said-Kritiker dar. Diese Kritik ist insofern nur beschränkt sinnvoll, da ‚westlich‘ eine Identitäts-Zuschreibung ist, die überhaupt erst durch den Diskurs produziert wird und dazu dient, gerade über kulturelle Unterschiede hinweg die Idee von Europa als kollektives ‚wir‘ hervorzubringen (Said [1978] 2003: 4). Die koloniale Differenz etablierte jedoch nicht nur eine binäre Hierarchie zwischen dem Westen und seinem Anderen, sondern zog auch eine interne Grenze innerhalb der westlichen Welt, die einen hierarchischen Unterschied zwischen den absteigenden (Spanien, Portugal) und den aufsteigenden Kolonialmächten (bes. England, Frankreich, aber auch Deutschland) markierte (Mignolo 2000: 50, 56). Es ist kaum zu leugnen, dass Said dazu neigt, zugunsten einer großen These Unterschiede zwischen den einzelnen Nationen und Kulturen Europas in ihrer Auseinandersetzung mit dem kolonialen Anderen unter den Teppich zu kehren (vgl. u.a. Porter 1994; Moore-Gilbert 1998: 43; Castro Varela/ Dhawan 2005: 39). Dieser Vorwurf scheint gerade in Bezug auf Spanien angebracht, auf das Said nur sehr marginal eingeht: Es lässt sich beobachten, dass Spanien in der Geographie einer zweigeteilten Welt eine ambivalente Stellung einnimmt, da es mal auf dieser, mal auf jener Seite der imaginären Trennlinie auftauchte. Die Zuordnungen in diesem binären System erweisen sich also gerade in der kolonialen Frage Spaniens als grundlegend instabil und gleitend. Dies könnte zu der Annahme führen, dass der Fall Spanien die These der rigiden Zweiteilung der Welt in Okzident und Orient überhaupt in Frage stellt. Andererseits deutet die spanische Marokko-Literatur darauf hin, dass gerade die Positionierung Spaniens innerhalb dieses bipolaren Systems und seine Rolle als Grenzland als wesentlich für die Bestimmung der spanischen Identität erachtet wurde, womit letztendlich der enorme Einfluss des Orientalismus-Diskurses seine Bestätigung findet (vgl. Martín Márquez 2008: 8-9). Um die Besonderheiten der Fremd- und Selbstwahrnehmung Spaniens als Grenzland und die Eigenheiten seiner diskursiven Auseinandersetzung mit den islamischen Nachbarn zu verste-



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hen, erfolgt in Kapitel 1.3.1 ein historischer Abriss der spanischen ‚Variante‘ des Orientalismus: des africanismo. 1.1.2 Homi K. Bhabha und die allgemeine Ambivalenz kolonialer Diskurse Saids Konzept eines monolithischen Orientalismus-Diskurses aufzubrechen, war unter anderem das Anliegen Homi K. Bhabhas, der mit seiner dekonstruktivistisch-psychoanalytischen Methode die These der Stabilität und autogenerierten Konsistenz kolonialer Diskurse widerlegt. Die schlüssige Ganzheit des Imperialismus stellt sich für Bhabha als eine uneinlösbare Wunschphantasie der Kolonisatoren heraus, die ständigen Verschiebungen, Spaltungen und Ambivalenzen, die der Diskurs selbst hervorbringt, in Form von unerschütterlichen Wahrheiten zum Stillstand zu bringen. Tatsächlich lasse sich die Bedeutung der Texte durch den Autor nie soweit kontrollieren, dass sie allein einer intentionalen Machtausübung zu Diensten sei (Bhabha [1983] 2007: 107). Vielmehr erweisen sich die diskursiven Beiträge beim dekonstruktivistischen Lesen als brüchig und inkonsistent und zeigen, wie die koloniale Psyche in einer konfliktreichen Ökonomie zwischen Angst und Begehren hin- und hergeworfen ist und hinter der scheinbaren Rationalität der orientalistischen Repräsentationstechniken das Unheimliche lauert. Bhabha führt vor, dass die Said’sche binäre Opposition zwischen herrschenden Kolonisatoren und beherrschten Kolonisierten nie ganz rigide aufrechtzuerhalten ist, und zeigt die komplexe Wechselwirkung und gegenseitige Abhängigkeit im Verhältnis der Bildung von Identität und Zuschreibung von Alterität auf, die Kolonialherren weniger Macht einräumt, als Said annimmt. Es geht Bhabha auch darum, den Kolonisierten wieder Handlungsspielräume und Widerstandsmöglichkeiten einzuräumen, für die es in Saids Orientalismus-These – so wurde oft kritisiert – keinen Platz mehr gäbe. Dazu führt er vor, wie beim Prozess der kolonialen Machtausübung immer schon die Möglichkeit der Unterwanderung von Autorität mitgeschaffen wird, wie hier anhand Bhabhas Theorie des Stereotyps, der Hybridität und der Mimikry skizziert werden soll. Bhabhas Stereotypen-Theorie5, die er als Ansatz einer eigenen Theorie zum kolonialen Diskurs formuliert (ebd.: 98), stellt eine Antwort auf Saids Orientalism dar und kann als Lösungsversuch der Widersprüche gelesen werden, die dieser mit der Unterscheidung von latentem und manifestem Orientalismus zu

5

Vgl. hierzu insbesondere den Aufsatz „Die Frage des Anderen: Stereotyp, Diskriminierung und der Diskurs des Kolonialismus“ (Bhabha 2007: 97–124; Originalartikel: „The Other Question“, Screen 24,6 [1983], S. 18-36).



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überwinden versuchte (die Ambivalenz von Kontinuität und Veränderung, von Unbewusstem und autoritärer Kontrolle). Stereotype sind nach Bhabha einerseits Strategien des Diskurses, die der Konstruktion eindeutiger Differenzen und Hierarchien dienen und damit dazu, Unvorhersehbares mittels vorgefertigter Kategorien zu ‚normalisieren‘, das Nichtvertraute mittels einer bekannten Form der Wiederholung abzuwehren und zu fixieren. Insofern sind sie Instrumente der rationalen Kontrolle. Andererseits deutet die Notwendigkeit ihrer ständigen Wiederholung auf die symptomatische Wiederkehr verdrängter Angst- und Lustphantasien hin, die die Koexistenz extrem negativer und positiver Repräsentationen erklären – „jene Schrecken auslösenden Stereotypen von Barbarei, Kannibalismus, Lust und Anarchie, die in kolonialen Texten die Brennpunkte von Identifikation und Entfremdung, Szenen der Angst und des Verlangens bilden“ (ebd.: 107). Bhabha spricht von ihrer Funktion als Fetisch und Phobie, ihr repetitiver Charakter ist als Angstabwehr und gleichzeitig als Reaktivierung von Angstphantasien zu deuten, hinter denen sich der Wunsch nach Reinheit und Ursprünglichkeit verbirgt (ebd.: 109). Als Fetisch schwankt das Stereotyp ununterbrochen zwischen der Anerkennung und Leugnung der Differenz zum Anderen (ebd.: 110), und in diesem ständigen Oszillieren wird der Versuch von Kontrolle und Festschreibung untergraben. Der Prozess der Identitätskonstitution ist somit im kolonialen Kontext bei Bhabha von einer grundlegenden Spaltung und Doppelung geprägt. Zentral ist dabei die Abhängigkeit des Kolonialherren vom Anderen als konstitutives Spiegelbild seiner eigenen Identität, das – wie beim Lacan’schen Imaginären – durch eine Entfremdung (durch die nicht-identische Rückspiegelung) und einen Mangel charakterisiert ist: Hinter dem Stereotyp als Substitut mit Fetischfunktion verbirgt sich die Angst vor der Leere und Abwesenheit. Daher oszilliert der koloniale Diskurs zwischen aggressiver Dominanz und narzisstischer Angst vor Selbstverlust (ebd.: 114) und besteht auf dem Stereotyp als ursprünglicher, reiner Essenz. Die Wunschphantasie einer stabilen authentischen Identität muss jedoch immer unerfüllt bleiben, da jede Identität im Kern schon auf die Spiegelung des differenten Anderen angewiesen ist, damit „im Bannkreis der Erschütterung und Bedrohung durch die Heterogenität anderer Positionen“ steht und so notwendig hybrid und instabil ist (ebd.: 111). Mit seinem Konzept der Mimikry führt Bhabha seine Theorie der Doppelung und Spaltung bei der kolonialen Identitätskonstitution in einer wichtigen Figur



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aus,6 deren Ambivalenz auch darin besteht, dass sie für die Kolonisierten sowohl eine traumatische Erfahrung als auch eine Möglichkeit der Untergrabung von Autorität bedeutet. Der traumatische Aspekt ist von Frantz Fanon in Schwarze Haut, weiße Masken ([1952] 1985) – einem zentralem Referenztext von Bhabhas Theorie – beschrieben worden als Gefühl des unaufhebbaren Ungenügens, das das kolonisierte Subjekt unweigerlich immer wieder erfahren muss: Im Sinne der Akkulturation hat es das Begehren gelernt, den Kolonisatoren gleich zu werden, aufgrund seiner ‚schwarzen‘ Hautfarbe bleibt die begehrte ‚Weißheit‘ des Kolonialherren aber immer unerreichbar.7 Homi K. Bhabha geht es nun darum aufzuzeigen, wie die Nachahmung der Kultur der Kolonialherren durch die Kolonisierten, die als Wiederholung und Differenz nie ganz glücken, sondern immer nur eine unperfekte Kopie sein kann, auch einen Effekt der Destabilisierung der Identität der Kolonisatoren mit sich bringt. Das notwendige Scheitern der Imitation durch die Kolonisierten hat für den Kolonialherren eine ambivalente Bedeutung, denn dieser ist zwischen dem Wunsch nach Bekehrung und nach Identifizierbarkeit des Anderen hin- und hergeworfen: „koloniale Mimikry [ist] das Begehren nach einem reformierten, erkennbaren Anderen als dem Subjekt einer Differenz, das fast, aber doch nicht ganz dasselbe ist“ (Bhabha [1984] 2007: 126, Hervorh. im Original). Zum einen ist die koloniale Herrschaft auf eine absolute Grenze zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten angewiesen und daher darauf bedacht, die Differenz als unüberwindbar darzustellen, zum anderen ist das Projekt der Kolonisierung immer als Projekt der ‚Zivilisierung‘, d.h. Angleichung an die Kultur der Kolonisatoren gedacht. Die gescheiterte Nachahmung hat somit für den Kolonialherrn nicht nur eine affirmative Wirkung, sondern lässt gleichzeitig einen Bruch in seinem Selbstbild entstehen, indem sie diesem sein mangelhaftes, verzerrtes Spiegelbild vor Augen hält. Mimikry kann, da sie einen kompensatorischen Überschuss der Übertreibung produziert, den Effekt des Komischen, des Lächerlichen, der Farce hervorbringen und damit die koloniale Macht unterlaufen (ebd.). Durch den Akt einer differenten Wiederholung setzt sich ein Prozess der Hybridisierung in Gang, die den Entwurf einer ontologischen Differenz zum

6

Vgl. hierzu insbesondere den Aufsatz „Von Mimikry und Menschen. Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses“ (Bhabha 2007: 125–136; Originalartikel: „Of Mimicry and Man. The Ambivalence of Colonial Discourse“, October 28 [1984], S. 125-133).

7



Vgl. hierzu u.a. Castro Varela/Dhawan 2005: 90.

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Zwecke der theoretischen Aneignung unterläuft.8 Hier taucht die vielfach beschworene Angstfigur des „entarteten Bastards“ auf: „Hybridität repräsentiert jene ambivalente ‚Verwandlung‘ des Untertanen/Subjektes in das schreckenerregende entstellte Objekt paranoider Klassifikation – eine beunruhigende Infragestellung der Bilder und Präsenzformen der Autorität. [...] das doppelt eingeschriebene koloniale Spiegeln bringt keinen Spiegel hervor, in dem das Selbst sich erfaßt; es ist immer die gespaltene Projektionsfläche (screen) des Selbst und seiner Verdopplung, des Hybriden.“ (Bhabha [1985] 2007: 168)

Hybridität ist, darauf besteht Bhabha, nicht gleichzusetzen mit Multikulturalismus, im Sinne der Vermischung vormals verschiedener Elemente. Vielmehr ist die Differenz der Kulturen ein „Ergebnis diskriminatorischer Praktiken“ (ebd.: 169, Hervorh. im Original), die darüber hinwegtäuschen, dass der koloniale Diskurs und die Identitäten, die er hervorbringt, schon immer von Hybridität durchsetzt sind. Denn im Prozess der verzerrten Spiegelungen finden immer das Wissen und der Blickwinkel des Anderen Eingang in den kolonialen Diskurs und verfremden diesen. Hybridität (als Mimikry) wird von Bhabha im zweiten Schritt in den Rang einer Widerstandsform gegen die hegemoniale Herrschaft gehoben (ebd.: 179), die vom kolonialen Diskurs selbst immer schon mitproduziert wird und den Ursprungs- und Reinheitsmythos der kolonialen Macht erschüttert. Als Ort, von dem aus die Hybridisierung in Gang kommt, spielt die Grenze und das Konzept des „Dritten Raums“ in Bhabhas Theorie eine zentrale Rolle.9 Seiner Einleitung zum Band Die Verortung der Kultur hat Bhabha das Zitat Heideggers voran gestellt: „Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen

8

Vgl. hierzu insbesondere den Aufsatz „Zeichen als Wunder. Fragen der Ambivalenz und Autorität unter einem Baum bei Delhi im Mai 1817“ (Bhabha 2007: 151–180; Originalartikel: „Signs Taken for Wonders: Questions of Ambivalence and Authority under a Tree outside Delhi, May 1817“, Critical Inquiry 12,1: ‚Race‘, Writing, and Difference [1985], S. 144-165).

9

Vgl. hierzu den Aufsatz, „Das theoretische Engagement“ (Bhabha 2007: 29–58; Originalartikel: „The Commitment to Theory“, New Formations 5 [1988], S. 5-23) und das Interview „The Third Space: Interview with Homi K. Bhabha“ (Bhabha 1990).



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beginnt.“10 Die Grenze wird damit positiv umgewertet, von der Scheide- oder Endlinie hin zu einem produktiven Anfangsort und durchlässigen Zwischenraum, der in den ambivalenten und widersprüchlichen Prozessen der Hybridisierung die Begegnungen mit dem Neuen ermöglicht, Differenzen durchkreuzt und neu verhandelbar macht. Zentral dabei ist der Begriff der Liminalität, mit dem Bhabha auf Victor Turners Ritualtheorien Bezug nimmt und damit kulturellen Grenzexistenzen den Charakter eines dauerhaften schöpferischen Schwellenzustands von Übergangsritualen zuschreibt. Koloniale Räume sind ebensolche „Dritten Räume“, die Grenzexistenzen hervorbringen und neue Positionen auftauchen lassen: „This third space displaces the histories that constitute it, and sets up new structures of authority, new political initiatives, which are inadequately understood through received wisdom.“ (Bhabha 1990: 211) Die Problematik von Liminalität und Grenzexistenz spielt für die erzählte Kriegserfahrung in Marokko eine wichtige Rolle; wie sich zeigt, ist die ‚Front‘ als militärische Grenze, die einen Antagonismus impliziert, auch eine kulturelle Kontaktlinie, die eine Hybridisierung in Gang setzt. Der koloniale Kriegsraum hat zudem den Charakter eines Schwellenraums, der nicht immer positiv konnotiert ist (im Sinne eines Initiationsraums, der zur kollektiven Identifikation und Regeneration führt). Die Liminalität, von der in den Rif-Kriegstexten erzählt wird, bedeutet eine Erfahrung von Chaos, Angst, Gewalt und Tod und bringt in einigen Erzählungen eine komplette psychische und soziale Desintegration mit sich. Dabei wird die ‚Grenzerfahrung‘ zugleich zum Ausgangspunkt der Dekonstruktion der im kolonialen Kontext überlieferten Subjektvorstellungen. Um die Bedeutung der Grenzerfahrung in der Marokko-Kriegsliteratur zu fassen zu bekommen, wird an späterer Stelle Bhabhas Theorie der DissemiNation eingeführt.11 Mithilfe dieser Theorie lässt sich das Auseinanderbrechen des nationalen Konsenses erklären, das sich im Zusammenhang mit dem MarokkoKrieg ereignet und Saids Annahme eines diskurs-stabilisierenden Wissensaustauschs zwischen „central authorities“ und „local agents“ in Frage stellt. Die Theorie der DissemiNation erlaubt die Möglichkeit einer Wiedereinschreibung des diskursiv Marginalisierten in die nationale Erzählung und zeigt, wie sich

10 Martin Heidegger, „Bauen – Wohnen – Denken“ in: ders., Vorträge und Aufsätze. Teil II, Pfullingen, Neske 1967, S. 29, zit. nach Bhabha [1994] 2007: 1, Hervorh. bei Bhabha. 11 Vgl. hierzu den Aufsatz „DissemiNation: Zeit, narrative Geschichte und die Ränder der modernen Nation“ (Bhabha 2007: 207-244, Originalartikel: „DissemiNation. Time, narrative and the margins of the modern nation“, in: ders. [Hg.]: Nation and Narration, London: Routledge 1990, S. 291-322).



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zwischen dem „pädagogischen“ Anspruch des Zentrums und den Geschichten, die vom Rand her erzählt werden, ein Bruch ereignen kann. Nach Bhabha lässt sich das Wiederholen stereotyper Charakterisierungen und etablierter kolonialer Erzählschemata und Motive in Folge des Desasters von Annual weniger als eine unbeirrbare Abgehobenheit des Diskurses gegenüber der Realität verstehen, denn als Strategie der ‚Normalisierung‘ und Angstabwehr im Moment einer Krise, die sich unweigerlich in diese Texte mit einschreibt. Was Said also als Unerschütterlichkeit des latenten Orientalismus gegenüber der Diachronie historischer Ereignisse versteht, kann in Anschluss an Bhabha als Beschwörung im Prozess des Erzählens verstanden werden – ein Konzept, das den performativen Aspekt der Marokko-Kriegsliteratur unterstreicht. Jedoch auch die Theorien Bhabhas bringen in der Anwendung auf die Literatur des Desasters von Annual einige grundlegende Probleme mit sich. Denn ähnlich wie Saids These einer Geschlossenheit und Stabilität des latenten Orientalismus ist die Feststellung einer allgemeinen und dauerhaften Ambivalenz des kolonialen Diskurses wenig aufschlussreich in Bezug auf ein spezifisches kulturelles und historisches Ereignis, das in eine konkrete politische und gesellschaftliche Konstellation eingebettet ist. Besonders Peter Hallward hat Bhabha in einem umfassenden Angriff auf die postkolonialen Theorieentwürfe scharf kritisiert: Nach Hallward ist Bhabhas Theorie eine „singularisierende“, die keine konkreten Aussagen in Bezug auf einen externen Referenzrahmen erlaubt und daher nur eine Art ständige Selbstreproduktion innerhalb eines geschlossenen theoretischen Rahmens bedeutet.12 Die Art von Misserfolg, den der koloniale Diskurs nach Bhabhas Theorie selbst mitgeneriert, scheint ständig und unvermeidbar, d.h in Bhabhas Theorie sei keine historische Variable eingebaut, die die ‚Fehlleistungen‘ des Diskurses in Bezug auf bestimmte geschichtliche Situationen spezifizieren würde. Das Ausfindigmachen der Durchkreuzungen und Brüche des Diskurses könnte so zu einer dekonstruktivistischen Übung werden, die nicht mehr viel über kulturelle Kontexte und historische Entwicklungen aussagen kann. Die Anwendung der kolonialen Diskurstheorie Bhabhas in der Text-

12 Hallward unterscheidet dabei die „singularisierenden“ von „spezifizierenden“ Theorien: „The singular [...] is constituent of itself, expressive of itself, immediate to itself. That the singular creates the medium of its existence means it is not specific to external criteria or frames of reference“ (Hallward 2001: 3). „The specific, on the other hand, implies a situation, a past, an intelligibility constrained by inherited conditions. The specific is the space of interests in relation to other interests, the space of the historical as such [...].“ (Ebd.: 5) Zu Homi Bhabha, vgl. ebd.: 24–26.



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interpretation liefe Gefahr, selbstreproduzierend und tautologisch zu werden: Sie würde z.B. nicht ausreichen um zu erklären, warum die koloniale Diskurspraxis im Afrika-Krieg von 1859-60 erfolgreich dazu dienen konnte, den nationalen Zusammenhalt in einem Moment innenpolitischer Zerrüttung wiederherzustellen, während dies im Marokko-Krieg im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts nicht mehr gelang. Mit dieser Frage ist ein ähnliches Problem verknüpft: die alte und beliebte postkoloniale Theorie-Diskussion um die Handlungsmacht (‚agency‘). Besonders von Wissenschaftlern, die marxistischen Positionen nahe stehen, wurde immer wieder Kritik an Bhabhas Konzept von Widerstand laut.13 Dieser sei hier nicht mehr konkret in der Geschichte lokalisierbar, sondern werde vom kolonialen Diskurs selbst ununterbrochen mitproduziert, das Subjekt agiere nicht als widerständig, sondern sei selbst die Inkarnation der Widersprüchlichkeit des Diskurses. Kreativität und Handlungsmacht, die Bhabha auch in Abgrenzung zu Said wieder als Möglichkeiten ‚dazwischenräumen‘ möchte, erweisen sich gemäß dieser Kritik als Scheinoptionen: Die Widerstandsformen bei Bhabha erscheinen als unkontrollierbare Effekte der Zeichen und können als das eigentliche Unbewusste des Diskurses verstanden werden (Young 2001: 148). Sie werden demnach eigentlich erst durch den postkolonialen Theoretiker als solche wahrgenommen und damit ins Leben gerufen, der sie viele Jahre später ausfindig macht, indem er zwischen den Zeilen liest (ebd.: 149). Gemäß dieser Kritik könnte Bhabhas Konzept diskursiver Selbstunterwanderung nicht den historischen Moment der Überschreitung erfassen, der auf breiter gesellschaftlicher Ebene als ‚katastrophisch‘ wahrgenommen wurde und sich damit von den immer schon mitproduzierten Ambivalenzen des Diskurses unterscheidet. Es ist daher sinnvoll, die ständigen Spaltungen und Brüche, die Bhabha in den kolonialen Zeichenwelten aufgezeigt hat, als Möglichkeitsräume zu verstehen, in denen sich Destabilisierungen kolonialer Diskurswelten ereignen können. Wann diese sich tatsächlich zu einer Erfahrung des Bruchs ausweiten, ist dabei von spezifischen historischen Konstellationen und kollektiv erlebten Geschehnissen abhängig. Um diese theoretisch zu fassen, soll die postkoloniale Theorie mit Reflexionen zum Ereignis ergänzt werden.

13 Vgl. hierzu das Kapitel „The Marxist counter-attack“, in: Hallward 2001: 41-47.



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1.2 Ü BER DIE R EALITÄT DES E REIGNISSES

UND

M EDIALITÄT

Todo se tambalea. Todo se cae precipitadamente. Sabios, estadistas y generales, pasan ante mis ojos como un cortejo de fatuidades. No veo más que ingenuos, farsantes y tiranos. La mentira, la falsedad, se elevan victoriosas por todas partes. Miles y miles de generaciones en cientos de civilizaciones. El pensamiento civilizado es una condensación de pensamientos bárbaros que no llegan a pensamiento de civilización. La civilización no es tal. [...] Estamos con la barbarie. En ella vivimos y no lo sabemos, no queremos saberlo. Todo ha cambiado en mí. Resignación. Nada queda dentro de mí como era antes. FERMÍN GALÁN, LA BARBARIE ORGANIZADA14

Ein Ereignis findet statt, wenn in einem spezifischen historischen Moment etwas Besonderes eintritt, und allein schon dadurch, dass dieses möglich geworden ist, ergibt sich eine gewisse Veränderung. Betrachtet man die MarokkoKriegsliteratur in ihrem Kreisen um das Desaster von Annual als Ereignis, fällt der interpretatorische Blick weniger auf die Wiederkehr kolonialistischer Diskurskomplexe und ihre dauerhaften Ambivalenzen, sondern auf die Temporalität eines Eintretens15: Jacques Derrida nennt als beispielhaftes Ereignis unter anderem die Ankunft eines Fremden (Derrida 2003: 38-39). Nach dem Merkmalskatalog, den Wolf Schmid innerhalb eines narratologischen Ansatzes aufgestellt hat, zeichnet sich ein Ereignis durch Folgelastigkeit, Unvorhersagbarkeit, Unwiederholbarkeit, Unumkehrbarkeit und die Relevanz der Veränderung aus, die es mit sich bringt (Schmid 2003). Vorsichtiger ausgedrückt, steigert sich die Ereignishaftigkeit eines Geschehens mit der Häufung und Intensivierung dieser Merkmale. Der Fremde kann, um das Bild Derridas aufzugreifen, kein zweites Mal als solcher ankommen.

14 Galán [1926/1931] 2008: 140. 15 Das Eintreten impliziert, anders als der Übertritt oder die Transgression, kein Vorhandensein in einem anderen Raum vor dem Sich-Ereignen, damit unterscheidet sich dieser Ereignisbegriff z.B. von Juri Lotmans literatursemiotischen Begriff des Ereignisses als „die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“ (Lotman [1972] 1993: 332).



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Damit erscheint es zunächst so, als sei der Ereignisbegriff dem Strukturbegriff diametral entgegengesetzt: In der Wissenschaftsgeschichte zeigt sich, wie das Interesse für gesellschaftliche Strukturen direkt mit einer programmatischen Abkehr vom Ereignis einhergeht (vgl. Rathmann 2003). Die Geschichtswissenschaft wies mit dem Strukturbegriff zunächst die positivistische Vorstellung einer von Akteuren gesteuerten und Ereignissen geprägten Geschichte der Mächtigen zurück16: „Die kurzfristigen Geschichtsphänomene, eben die Ereignisse, werden in ein Geflecht von dauerhaften Strukturen eingeordnet, um ihnen auf diese Weise ihre Prominenz zu rauben, und der Gegensatz von Ereignis und Struktur wird geradezu dekretiert“ (ebd.: 6, Hervorh. im Original). Auch von Seiten mancher Poststrukturalisten wurde das Ereignis aufgrund seiner „metaphysischen Restqualitäten von Sinn, Subjekt, Ursprung und radikaler Singularität“ als wissenschaftliches Theorieinstrument verworfen.17 Scheint der traditionelle Begriff des Ereignisses hier die Bedeutung des Diskurses zu verschleiern, da er zunächst mit der Vorstellung einer außerordentlichen, unmittelbar zugänglichen Realität verbunden war, so haben andere poststrukturalistische Ansätze den Begriff zu einer diskursiven Kategorie umgemünzt und den Blick auf die Politik der medialen Ereignis-Konstruktion gelenkt. Inwieweit kann ein Ereignis symbolische, bzw. ideologische Strukturen durchkreuzen, inwieweit ist es von diesen determiniert? Ist das Ereignis der Einnahme einer diskursiven Position vorgängig oder bringen Diskurs und Text erst das Ereignis hervor? Als sinnvoll erscheint es zunächst, das Ereignis nicht in Opposition zur Struktur zu verstehen, sondern vielmehr in einem relationalen Verhältnis zu dieser, denn das Ereignishafte konstituiert sich erst über seinen Bruch mit dem, was die symbolische Struktur als erwartbar vorgibt (Scherer 2003: 65, 67), wird aber zugleich durch diese retrospektiv aufgefangen und kanalisiert, d.h. Fremdes wird an einen bekannten Ort gestellt. Das System tradierter Zeichenkomplexe bildet so die Erwartungsstruktur, vor deren Hintergrund sich etwas als Ereignis konstituieren und als solches artikuliert werden kann: „Von einem Ereignis lässt sich nur im Verhältnis zu vorausgehenden und nachfolgenden Strukturen sprechen. Es bezeichnet die überraschende Störung oder Aufhebung eines Normalzustands und die Schaltstelle zu neuer Strukturbildung.“ (Ebd.: 65)

16 Richtungsweisend war hier die Annales Schule, allen voran Marc Bloch und Lucien Febvre (Rathmann 2003: 6). 17 Leschke, Rainer (1992), „Am Rande der Geschichte. Überlegungen zu ihrem hermeneutischen Gebrauch“, in: Balke, Friedrich u.a. (Hg.), Zeit des Ereignisses – Ende der Geschichte?, München: Fink, S. 151-174, hier: 161, zit. nach Rathmann 2003: 10.



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Ein symbolisches Deutungsmuster wird dabei nicht erst im Nachhinein an ein Ereignis ‚herangetragen‘, vielmehr ist dieses bereits durch diskursive Kategorien und typische Erzählstrukturen geprägt (die es teilweise verletzt) – im Falle des ‚kolonialen Desasters‘ vornehmlich orientalistische, bzw. afrikanistische und militaristische Symbolwelten (vgl. Kap 1.3.1). Die Unternehmung des RifKriegs baute auf ein tradiertes kulturelles Bedeutungsnetz, das propagandistisch verbreitet wurde und den Wahrnehmungshorizont des Soldaten organisieren sollte: Wer in den Krieg nach Marokko zog, war Träger einer nationalen historischen Mission und ‚Vollstrecker‘ der imperialen Bestimmung Spaniens. Sogar die Realität von Gewalt und Tod hatte als Teil einer kollektiven Geschichte der kolonialen Wiederauferstehung, von Opfer und Regeneration bis zu einem gewissen Punkt einen sinnvollen Platz in diesem symbolischen System. Zugleich stellte der spanische Zeichenkomplex des africanismo und der jüngste Diskurs um die koloniale Abstiegsgeschichte Spaniens bereits gewisse Schablonen bereit, die die Deutung des Ereignisses kanalisierten – wie die Idee kollektiver Degeneration, der Diskurs um das eigene Andere und die problematische Selbstverortung Spaniens zwischen Afrika und Europa (vgl. hierzu das Kap. 1.3.1 zur Diskursgeschichte des africanismo). Zudem wurde das koloniale Desaster in Marokko prä- und refiguriert durch ideologische Symbolstrukturen, die zur Delegitimierung des Kolonialkriegs herangezogen wurden. Jedoch bekommen reale Begebenheiten nicht immer durch bestehende Deutungsmuster problem- und restlos ihren Sinn zugeschrieben – vielmehr verschiebt das Ereignis, die Ankunft des Fremden, die symbolische Rahmung des Möglichen und Erwartbaren selbst. Symbolische Strukturen sind, wie auch Michel Foucault betont hat und wie die oben dargestellten Theorien Bhabhas implizieren, nicht als eine Art statisches Regelwerk zu denken, sondern stellen bestimmte Bedingungen, nach denen sich eine Praxis des Zeichenhandelns vollzieht und modifizieren kann.18 Diskursive Zeichenkomplexe sind in diesem

18 Vgl. Foucault [1969] 1981: 297-298: „Die Positivitäten, die festzustellen ich versucht habe, dürfen nicht als eine Menge von Determinationen begriffen werden, die sich von außen dem Denken der Individuen auferlegen oder es von innen und im vorhinein bewohnen. Sie bilden eher die Gesamtheit der Bedingungen, nach denen sich eine Praxis vollzieht, nach denen diese Praxis teilweise oder völlig neuen Aussagen Raum gibt, nach denen sie schließlich modifiziert werden kann. Es handelt sich weniger um der Initiative der Subjekte gesetzte Grenzen als um das Feld, in dem sie sich artikuliert (ohne dessen Zentrum zu bilden), um Regeln, die sie anwendet (ohne sie erfunden oder formuliert zu haben), um Beziehungen, die ihr als Stütze dienen (ohne deren



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Sinne als performativ zu verstehen, ihre Gültigkeit ist auf die Erneuerung angewiesen, wobei das Gelingen von Behauptungen immer wieder auf dem Spiel steht. In Abgrenzung zu Saids Orientalismus-Theorie und in Anschluss an Judith Butler kann mittels eines solchen performativen Verständnisses von Zeichenkomplexen das eigentlich nicht Denkbare, das diskursiv Ausgeschlossene des Wissensobjekts ‚Orient‘ (hier ‚Marokko‘) verständlich gemacht werden – und zwar in Form eines Ereignisses, das aus den diskursiven Bedingungen selbst erwächst und sich sowohl als Bruch in Relation zu den diskursiv präfigurierten Erwartungsstrukturen artikuliert als auch von diesen normalisiert und geglättet werden soll. Es erklärt sowohl die grenzverschiebende Kraft des Ereignisses ‚koloniales Desaster‘, das zu neuen Positionen und Formen des Sprechens über Marokko führt, als auch die Wiederholungsstruktur kolonialer Zeichenkomplexe, die mit dem Ereignis verbunden ist.19 Butler betrachtet den Diskurs in Anknüpfung an Jacques Derrida als zitatförmige Praxis in Bewegung, als „eine Re-Inszenierung und ein Wieder-Erleben eines bereits gesellschaftlich etablierten Bedeutungskomplexes“, das zugleich die „ritualisierte Form seiner Legitimation“ darstellt (Butler 1991: 206). Die Diskurspraxis, in die der Kolonialkrieg im Rif eingebettet ist und die ihn hervorgebracht hat, soll die imperiale Identität Spaniens unter Beweis stellen; diese ist mit allen damit verbundenen Selbstzuschreibungen „nicht die stabile Identität eines Handlungsortes, von dem dann verschiedene Akte ausgehen“, sondern „eine Identität, die stets zerbrechlich in der Zeit konstituiert ist – eine Identität, die durch eine stilisierte Wiederholung von Akten zustande kommt“20, zugleich aber ihren Konstruktcharakter verschleiert. Diese Identität ist im Falle Spaniens bereits als gefährdet markiert, das Gelingen der Identitätseffekte ist umso mehr auf die Verbindung von Autorität und ritueller (bes. militärischer) Performance angewiesen. Die hervorgebrachten Bedeutungen können dabei nicht auf einen intendierten Sinn reduziert werden, denn der nicht vollständig bestimmbare Kontext bringt in der Reinszenierung ein Element der Unvorhersagbarkeit ins Spiel. Der Versuch einer identischen Wiederholung etablierter Diskurselemente kann angesichts einer widersprüchlichen Realität – eines ‚Orients‘, dessen erfolgreicher Widerstand die Macht, auf die das Performative angewiesen ist, untergräbt – missglücken und Bedeutungswandlungen hervorbringen. Dabei spielt die spe-

letztes Ergebnis oder deren Konvergenz zu sein). Es handelt sich darum [...] zu zeigen, dass Sprechen etwas tun heißt [...].“ 19 Vgl. dazu insbesondere Butler 1991 u. Kämpf 2006, hier: 248. 20 So formuliert Butler ([1988] 2002: 301-302) den performativen Charakter von Geschlechteridentitäten.



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zielle Konstellation des historischen Augenblicks eine zentrale Rolle für die Hervorbringung neuer Subjektpositionen und neuer Formen des Sprechens über Marokko in Spanien – wie insbesondere in den Kapiteln 4 und 5 zu Subalternität, Trauma und dem Absurden gezeigt werden soll. Das Ereignis wird also akzidentell hervorgebracht von der symbolischen Struktur, die es durchbricht; es ist der ‚Un-Fall der Struktur‘ im Behauptungsprozess. Etwas ereignet sich durch seinen Eintritt in ein symbolisches oder diskursives Feld und erschüttert und verschiebt dabei gleichzeitig dessen Koordinaten. Eben in diesem zeitlichen Bruch mit dem über die symbolischen Ordnungsstrukturen gesetzten Rahmen des Erwartbaren und der Bearbeitung dieses Bruchs mittels Symbolisierungsprozessen soll hier die Literatur in den Blick genommen werden, die im Anschluss an die Niederlage von Annual entsteht. Die Medialität des Ereignisses manifestiert sich also zum einen in der umfassenden Reinszenierung überlieferter kolonialer Zeichenkomplexe, zum anderen in der Öffnung eines Möglichkeitsraums für kulturelle Veränderungen. Gemäß diesen Überlegungen kann die Ereignishaftigkeit des Desasters von Annual auf drei verschiedenen Ebenen, bzw. in drei verschiedenen Momenten betrachtet werden: 1) In der Realität des Sich-Ereignens: als Vorfall der Störung oder des Bruchs mit den symbolischen Strukturen, der mit einem Überraschungsmoment einhergeht. Die Aufhebung des Normalfalls – der Un-Fall – bedeutet das plötzliche Auftauchen von etwas, das „im Augenblick des Eintretens nicht kontextualisiert werden kann, weil es auf die jeweilige Rahmung, die die Grenzverletzung bedingt, nicht rückführbar ist“ (Scherer 2003: 66-67). Diesem Eintritt des Unerwarteten kann man in Anschluss an verschiedene Theorien verschiedene Namen geben: das ganz Andere, das absolut Fremde, das Reale. Da dieses im Moment des Auftauchens nichts weiter ist als eine Verletzung der Grenze der symbolischen Struktur, kann es sich in den Texten nur als Lücke, Verwerfung, Irritation oder Symptom niederschlagen: Nach Derrida legt das Ereignis als Ankunft des Fremden nahe, „dass das Sprechen durch diese Unmöglichkeit selbst entwaffnet wird, dass es angesichts der stets einzigartigen, außerordentlichen und unvorhersehbaren Ankunft des Anderen, des Ereignisses als des Anderen, absolut machtund hilflos bleibt oder bleiben muss“ (Derrida 2003: 35). Diese Form des Ereignisses wird durch die Symbolisierung selbst neutralisiert, denn sobald die Sprache ins Spiel kommt, ist es in den Bereich der Wiederholbarkeit geholt: „das macht, dass die Ankunft des Ankömmlings – oder das Eintreten des inauguralen Ereignisses – nur als Wiederkehr, Heimsuchung und Spuk erlebt werden kann“ (ebd.: 36). Charakteristisch für die erzählerische Deutung von Annual ist eben diese Spannung zwischen der Iterabilität – der Einreihung in eine Wieder-



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holungs- und Heimsuchungsstruktur kolonialer Desaster – und der Betonung der Einzig- und Fremdartigkeit der Vorfälle. Doch dieser Aspekt betrifft bereits die zweite Betrachtungsform des Ereignisses: 2) In der narrativen Inszenierung und Performanz des Ereignens: als Ereignis, das im Medium der Erzählung dargestellt wird und erst so überhaupt eine symbolische Form bekommt. Die Ereignishaftigkeit wird über die Literatur (ästhetisch) erfahrbar (Scherer 2003: 63), das Desaster von Annual wird mit kulturellen Bedeutungen versehen, indem es zu einem Plot geformt wird, bzw. eine bestimmte Rolle in einem Plot und damit in der Performanz einer symbolischen Struktur zugewiesen bekommt. Dabei wird auch das Problem des Herausspringens aus der Ordnung, die Unmöglichkeit seiner Symbolisierung, der (auch traumatische) Wiederkehrcharakter umschrieben, ‚circumscribiert‘21, metonymisiert und metaphorisiert, aber auch mittels der Effektstruktur des Textes – etwa in Form einer Schockierung des Lesers/der Leserin – erlebbar gemacht. Damit substituiert die narrative (oder mediale) Inszenierung des Ereignisses die Botschaft, die die Realität des Sich-Ereignens als Symptom überbringt.22 3) In der Diskursivität des Ereignisses: Auf dieser Ebene kann das Desaster von Annual als diskursives Ereignis (und als Ereignis im Literaturbetrieb) im Sinne Michel Foucaults ([1970] 2007) betrachtet werden, das sich in einem plötzlichen „Wuchern“ der Texte manifestiert und auch als Störung der „Ordnung des Diskurses“ und seiner „Prozeduren des Ausschlusses“ und „Verknappungsprinzipien“ (ebd.) interpretierbar ist, die vor dem schützen sollen, „was es da Gewalttätiges, Plötzliches, Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches gibt“ (ebd.: 33). Hier erscheint das Ereignis als „Anhäufung“, „Beziehung“ und „Streuung“ von Texten (ebd.: 37), ihrer Produktion, Vermarktung und Rezeption. Dabei kommt auch die Beziehung zwischen den Texten als Aushandlungsprozess und deren Rolle als Anschlusskommunikationen in den Blick. Das Ereignis lässt sich somit sowohl als etwas verstehen, das die Erzählproduktion anlässt, als auch als etwas, das vom Text hervorgebracht wird. Erst über die symbolische Inszenierung und deren kommunikative und mediale Vermittlung auf breiter Ebene wird das Ereignis ‚Desaster von Annual‘ zur gesellschaft-

21 Vgl. Raulff 1986: 14: „So hat in der Tat das Umschreiben der Geschichte mehrere Bedeutungen. Es bedeutet zum ersten ein Andersschreiben. Zum zweiten ein Umschreiben eines Umfangs, ein Circumscribieren: ein Abfahren der Grenzen, an denen Geschichtsschreibung heute steht. Zum dritten ein Metaphorisieren und Übersetzen in andere Redeweisen [...]“ (Hervorh. im Original). 22 Vgl. Derrida 2003: 24: „Ein ‚Machen‘ des Ereignisses substituiert sich in aller Heimlichkeit seiner Mitteilung.“



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lichen und kulturellen Erfahrung. Hier geht es immer wieder um die Einbettung des Ereignisses in eine Kausalkette, um die Frage von Ursachen und Folgen in Bezug auf den Zustand der Nation, wobei es zu einer Vervielfältigung der Bedeutungen und zu einer umfassenden Politisierung kolonialer Diskursinhalte kommt. Im Anschluss an die drei Dimensionen des Ereignisses erfolgt nun eine theoretische und panoramaartige Annäherung an die Marokko-Kriegsliteratur: Die dritte Dimension des Ereignisses in Form einer Anhäufung von Texten, die in einer zeitlichen Aushandlungsbeziehung zueinander stehen, ermöglicht zunächst eine Bestimmung des Gegenstandsbereichs ‚Literatur des Desasters von Annual‘ und einen kurzen Überblick auf die spezifischen Bedingungen der literarischen Kommunikation, denen sie unterstand (Kap. 1.2.1). Die beiden ersten Dimensionen des Ereignisses als Einschreibung und Umschreibung bieten einen Anschluss für die Formulierung von Leitfragen in Bezug auf die Textanalyse (Kap. 1.2.2). 1.2.1 Das Ereignis ‚Annualʻ auf dem literarischen Feld Gemäß Juan José López Barranco beginnt mit der offiziellen Einrichtung des spanischen Protektorats 1912 der Zeitraum, den er als „la gran época de la novela sobre la guerra de Marruecos“ bezeichnet und mit der ‚Befriedung‘ des Rif im Jahr 1927 für beendet erklärt (López Barranco 1999: 8). Bei genauer Betrachtung der zeitlichen Streuung der Texte, die López Barranco in seiner bibliographischen Überblickstudie zur spanischen Marokko-Kriegsliteratur aus 150 Jahren zusammengetragen hat, zeigt sich, dass diese „große Epoche“ in Bezug auf die Literaturproduktion nicht homogen ist: Dass das Jahr 1921 hier einen Schlüsselmoment darstellt, wie auch López Barranco (ebd.: 234) und Carrasco González (2002: 75) feststellen, wird augenscheinlich, wenn man die Anzahl dieser Erzähltexte in einer Verteilungskurve in Bezug auf ihr Erscheinungsjahr in dem hier relevanten Publikationszeitraum verzeichnet (vgl. Abb. 123). Das Ereignis als eine „Anhäufung von Texten“ manifestiert sich in einer Literatur-Welle, die ihren Höchststand 1922 erreicht, als die gesellschaftliche Debatte um die Verantwortlichkeiten und politischen Konsequenzen des Desasters

23 Auch bei López Barranco 1999 sind nicht alle zu dieser Zeit publizierten Erzähltexte über den Rif-Krieg aufgeführt, daher werden in diesem Diagramm, das ausgehend von der Bibliographie von López Barranco erstellt wurde, nicht alle Texte erfasst. Vor allem die im Anschluss an Annual so wichtige Testimonialliteratur ist hier nur teilweise verzeichnet.



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Abbildung 1: Zeitliche Streuung der publizierten Erzähltexte

18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 1909 1910 1911 1913 1918 1919 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1930 1932 1933 1934 1935

von Annual in vollem Gang und die für den Schreib- und Druckvorgang notwendige Zeit seit Juli 1921 verstrichen ist. Dann nimmt die Publikationsflut allmählich ab, hält jedoch deutlich erkennbar bis 1932, fünf Jahre nach dem offiziellen Abschluss der ‚Befriedung‘ des Rif an. Nach der obigen Kurve zu urteilen, dauert der erzählerische Deutungsprozess der kolonialen Kriegsereignisse der 1920er Jahre also bis in das zweite Jahr der zweiten Republik an – u.a. auch deswegen, weil erst die Lockerung der Zensur nach der Diktatur Primo de Riveras die Publikation von einigen radikal kritischen Marokko-Kriegserzählungen möglich machte,24 die Frage nach den politischen und militärischen Verantwortlichkeiten für das Desaster neu entfacht wurde und der Wandel der politischen und gesellschaftlichen Realität in Spanien einen veränderten Interpretationshintergrund bot, vor dem die Bedeutung der Ereignisse in Marokko neu ausgelotet wurden (vgl. hierzu Kap. 4.4). Erst nach dieser politischen Veränderung ‚verebbt‘ die Textwelle: Ab 1933 erscheinen nur noch vereinzelte Erzählungen zum

24 Als ein solcher Text kann z.B. Fermín Galáns La Barbarie Organizada gelten, der nach Angaben des Autors 1926 im Gefängnis entstand, aber erst 1931 publiziert wurde, oder Eliseo Vidals ¡¡¡Los muertos de Annual ya son vengados!!!, der gemäß den Informationen, die die autobiographische Erzählung selbst gibt, wegen Zensur, politischer Haft und mehrfacher Diebstähle des Textes erst 1932 erschien (vgl. Kap. 4.2 u. 4.4).



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Rif-Krieg, bereits drei Jahre später wird dieser als ein Thema von hoher Priorität in der Diskussion um die nationale Befindlichkeit verdrängt durch den Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs. Der Gegenstand des Marokko-Kriegs findet danach nur noch sporadisch das 20. Jahrhundert hindurch einen Platz in der spanischen Literatur, wobei sich in den letzten Jahren eine Tendenz zur literarischen Neuentdeckung dieses Themas zeigt.25 Was in dieser Arbeit als ‚Literatur des Desasters von Annual‘ in den Blick genommen wird, entstammt demnach dem Publikationszeitraum von 1921 bis 1932. Unter den vielen Erzähltexten mit Marokko als Thema und Schauplatz, die insbesondere ab 1922 den spanischen Literaturmarkt überschwemmen, findet sich eine beachtliche Menge an Unterhaltungsliteratur, die Nordafrika nur als Hintergrund einer melodramatischen Handlung wählt und dabei nicht explizit an der gesellschaftspolitischen Debatte um die ‚koloniale Frage‘ partizipiert. Diese Texte sind sozusagen Trittbrettfahrer, die aus verkaufsstrategischen Gründen auf den Zug des medialen Events mit aufspringen.26 Ein großer Teil der Literatur nimmt aber explizit im dokumentarischen oder fiktionalen Modus auf ‚Annual‘ Bezug: Der jeweilige Text als ganzer oder ein Teil davon besteht in der Erzählung der Kriegsvorkommnisse, bzw. der Erlebnisse der Niederlage im Sommer 1921 und trägt zur Deutung ihrer kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Ursachen und Folgen bei. Die textuelle ‚Häufung‘ und damit gesellschaftliche Reichweite dieser Literatur misst sich auch an den hohen Auflagen mancher Texte von bis zu 100.000 Exemplaren. In solchen Mengen wurden kürzere Erzählungen in Umlauf gebracht, die in der zeittypischen Form von Colecciones, preiswerten Publikationsreihen in Heftchenform erschienen (Carrasco González 2000: 118). So wurden z.B. von der Reihe La Novela Semanal, die ab 1921 publiziert wurde, sechs Ausgaben dem Thema des Marokko-Kriegs gewidmet, daneben wurden

25 Vgl. insbesondere die Romane von Lorenzo Silva: El nombre de los nuestros (2001), Carta blanca (2004) und seinen Reisebericht über die Spurensuche zur Geschichte seines Großvaters im Rif Del Rif al Yebala (2001). Vgl. dazu die im Veröffentlichungsprozess befindliche Dissertation Die Darstellung des Rifkriegs in der spanischen und marokkanischen Gegenwartsliteratur von Elmar Schmidt (2011). 26 Darüber ärgert sich u.a. José Díaz Fernández in seiner Kriegschronik „Literatura de la guerra“: „Los escritores madrileños –los de oficio, o por decirlo así, comerciantes de la actualidad literaria– han encontrado un tema mitad folletinesco y mitad teatral para urdir fantasías deplorables y acariciar las imaginaciones un poco ingenuas de esos lectores de novelas baratas que se encuentran en todas las clases de nuestra vida social.“ (Díaz Fernández [1922] 2004: 106)



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Colecciones eigens zu diesem Erzählgegenstand konzipiert, wie La Novela Marroquí und La Novela Africana mit mindestens dreißig Nummern (ebd.: 125). Gegen Ende der 1920er Jahre und zu Beginn der 1930er Jahre gesellten sich zu dem kommerziell ausgerichteten Verlagswesen, das in diesen Jahren in Spanien industrielle Ausmaße anzunehmen begann, mehrere kleine Verlage, die sich speziell der Publikation von Texten mit sozialrevolutionären Inhalten widmeten. Ein Schwerpunkt in ihrem Themenspektrum war dabei auch die Literatur über das Desaster in Marokko (vgl. Fuentes 1980: 31). Diese sozialrevolutionären Verlage, die gegen Ende der Diktatur Primo de Riveras ins Leben gerufen wurden und zu Beginn der Republik einen Boom erlebten, publizierten zugleich insbesondere Übersetzungen pazifistischer Weltkriegsliteratur, darunter Bestseller wie Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues, das sich in der spanischen Übersetzung (1929) in über 110.000 Exemplaren verkaufte, und Le feu von Henri Barbusse, das 1930 auf Spanisch erschien (Fuentes 1980: 38, 40). Eine umfassende Erforschung der Intertextualitäten und Einflüsse zwischen der spanischen Kolonialkriegsliteratur und der Literatur des Ersten Weltkriegs steht noch aus.27 In den folgenden Analysen der MarokkoKriegstexte werden sich jedoch immer wieder deutliche Ähnlichkeiten zeigen, die das enge intertextuelle Verhältnis zur (Nach)Weltkriegsliteratur der involvierten europäischen Länder und die Überschneidungen zwischen diesen literarischen Diskursensembles vor Augen führen. Das Ereignis ‚Annual‘ als Textinflation lässt sich im Anschluss an Foucault ([1970] 2007) über das Aussetzen von Ordnungen und Ausschlussmechanismen verstehen, die gewöhnlich dazu dienen, eine Art diskursiven, bzw. narrativen ‚Wildwuchs‘ zu bändigen. In Bezug auf das literarische Feld rücken dabei die spezifischen Kommunikationsbedingungen ins Licht, unter denen die Literatur des Marokko-Kriegs geschrieben, vermittelt und gelesen wurde. Dabei lässt sich zunächst beobachten, dass sich der Literaturbegriff im Moment des Ereignisses überhaupt zu entgrenzen scheint: Die Literatur im engeren Sinne von der großen Masse anderer Texte, die zum Thema des Kolonialkriegs in den Printmedien der 1920er Jahre zirkulieren, abzugrenzen, ist problematisch, denn eines der zentralen Merkmale der Marokko-Kriegserzählungen ist gerade ihr grenzüberschreitender Charakter. Viele Texte erweisen sich als Strukturhybride aus verschiedenen Textsorten, damit verbundenen Arten des Wahrheitsanspruchs, genretypischen Textwelten und Erzählhaltungen, bzw. Sprecherpositionen. Die Kriterien, die von der Literaturtheorie meist zur Abgrenzung des Gegenstands

27 Einen wenig aussagekräftigen Vergleich zwischen Imán und Im Westen nichts Neues hat Olstad in einem Aufsatz (1977) vorgenommen.



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Literatur herangezogen werden, stellen sich in Bezug auf die MarokkoKriegserzählungen als unzuverlässig heraus: Auf viele von ihnen trifft weder das Merkmal der Entpragmatisierung zugunsten einer vordergründig ästhetischen Funktion (Poetizität), noch das (literarisch intendierte) Zulassen von Polysemie, noch der Modus der Fiktionalität eindeutig zu. Auch paratextuelle Selbstetikettierungen der Texte erweisen sich als widersprüchlich und wankelmütig: Was den Titelzusatz „novela“ trägt, entpuppt sich als autobiographischer Erfahrungsbericht, was im Vorwort den Anspruch auf dokumentarische Wahrhaftigkeit erhebt, zeigt im Haupttext deutliche Merkmale von Fiktionalität. Ein Liebesroman verfällt ganz plötzlich in den Duktus eines ethnographischen Dokuments, Reiseberichts oder politischen Kommentars, um dann wieder zum Modus literarischer Fiktionalität zurückzukehren. Auch kontextuelle Merkmale wie die Publikationsform fördern die Mischidentität der Kriegstexte, da nicht nur literarische Erzählungen als Zeitungsbeiträge veröffentlicht wurden, sondern auch journalistische Texte als Crónicas in Buchform. Die Teilnahme an einer aktuellen gesellschaftlichen Debatte, die im militaristischen und kolonialistischen Diskursfeld ausgetragen wird, verstrickt die Literatur in ein Netz aus intertextuellen Beziehungen außerhalb des literarischen Feldes: zu journalistischen, wissenschaftlichen und politischen Textformen. Hier lässt sich eine charakteristische Spannung zwischen der subjektiv-autobiographischen Erlebniserzählung und ihrem konfliktiven Realitätsgehalt, ihrer imaginären, fiktionalen Ausgestaltung im Anschluss an literarische Traditionen und den diskursiven Strategien ‚objektiv-wissenschaftlicher‘ und ideologischer Autorisierungsformen beobachten. Trotz, oder vielleicht gerade wegen dieser strukturellen Hybridität (die Literatur nimmt ja auch die Funktion eines „Interdiskurses“ ein, vgl. Link 1988) ist es sinnvoll, eine Literatur des Marokko-Kriegs von anderen Texttypen zu unterscheiden, um die kulturelle Bedeutsamkeit bestimmter Erzähltexte zu erfassen. Die spezielle Rolle literarischer Texte in der gesellschaftspolitischen Debatte besteht gerade in ihrem „liminoiden“ Charakter (Bachmann-Medick 2006: 117): Sie dienen, mehr als wissenschaftliche oder politische Textformen, als „Spielräume für kulturelle Selbstinterpretation“ (ebd.) und damit als Orte der Infragestellung und Dekonstruktion kultureller Ordnungsmuster, aber auch der kulturellen Selbstversicherung. Diese Reflexion erfolgt dabei u.a. über die fiktionale Modellbildung, Metaphorizität und Perspektivierung durch Erzählersubjekte oder Figuren. Als literarische Texte lassen sich damit solche Erzählungen fassen, die 1) Fiktionalität 2) Poetizität und/oder 3) Subjektivität als dominante Texteigenschaft(en) aufweisen. Von den Texten mit dokumentarischem Wahrheitsanspruch sollen also auch solche hier einbezogen werden, die als autobiographische Erfahrungsberichte das Sprechersubjekt, sein psychisches Erleben



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und den Prozess der Narrativierung eines erlebten Geschehens selbst hervortreten lassen und/oder sich in umfassenderem Maße poetischer Mittel und Bildlichkeiten bedienen. Neben dieser Überschreitung textueller Klassifizierungssysteme zeigt sich eine Aufweichung bestimmter Mechanismen der „Verknappung der sprechenden Subjekte“ (Foucault [1970] 2007: 26). Das Ereignis verschiebt die Bedingungen, nach denen sich die Subjekte für die Teilnahme am Literatursystem, bzw. an der Debatte um die ‚koloniale Frage‘ qualifizieren: Es ist allgemein charakteristisch für einen großen Teil der Marokko-Kriegserzählungen, dass ihre Diskursautorität über die Augenzeugenschaft oder authentische Erfahrung des Autors eingefordert wird. Die koloniale Kriegsliteratur ist geprägt durch eine spezifische Situation literarischer Kommunikation, die sich in erster Linie durch die (implizite) Differenz der Erfahrungswelten von Autor und Leserschaft motiviert: Die spanische Lesergemeinschaft kennt die Realität des Kriegs und der Kolonie nicht aus erster Hand und hat ein großes Bedürfnis nach verlässlicher Information einerseits, andererseits nach der symbolischen Bearbeitung und narrativen Interpretation der Nachrichten, die sich täglich in den Zeitungen überschlagen: Sie ist nicht nur über die Kriegsteilnahme Nahestehender von dieser Realität betroffen, sondern auch durch die weitreichende Bedeutung, die der kolonialen Unternehmung für das Selbstverständnis der ganzen Nation zugeschrieben wird. Die meisten Autoren sind entweder Kriegsberichterstatter, die sich neben der journalistischen Tätigkeit der Literatur widmen, oder Militärs, deren Schreibtätigkeit sich weniger aus einer literarischen Berufung, als eben aus dem ‚Erfahrungsvorsprung‘ gegenüber der impliziten Leserschaft legitimiert. Durch das ‚desaströse‘ Ereignis gesellen sich, wie sich in Kapitel 4 zeigen wird, nun auch einfache Soldaten dazu. Das Vorrecht der „Diskursgesellschaften“ (Foucault [1970] 2007: 27) – in der ‚Marokko-Frage‘ sind dies vor allem Militärs, Politiker, Diplomaten und Angehörige der ‚Kulturelite‘ – bei der Textproduktion wird aufgeweicht. Es kommt zu einem Amateurschriftstellertum neuen Ausmaßes. Die Autorisierung mittels Erfahrung geht nicht notwendigerweise mit einem dokumentarischen, bzw. autobiographischen Wahrheitsanspruch einher, auch fiktionale Texte behaupten ihre Relevanz, indem in Paratexten wie Vorworten und Widmungen auf die persönlichen Marokko-Erlebnisse des Verfassers Bezug genommen wird.28 Eine Forderung nach Wahrhaftigkeit wird erhoben, die sich nicht immer auf den Aussagemodus des Textes bezieht, sondern auch auf den Wirklichkeitsausschnitt, vor dessen Hintergrund dieser Text entstand: Man möchte Texte lesen, die vor Ort, zwischen Kugelhagel und orientalischen Gärten

28 So z.B. in Ramón Senders Imán.



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geschrieben wurden, so wie dies z.B. Micó Espana (1922a: 160) für seine Leserschaft inszeniert: „Subir lomas, pelear, limpiarse el sudor; los humarazos de la pólvora, la sangre; y luego, escribir para el gran público, sobre las rodillas y a la luz de un candil, robándole horas al sueño.“ Diese räumliche und zeitliche Nähe zum Erzählten verleiht den Texten ein chaotisches Element, das diesen, so lässt sich annehmen, als Teil des ‚Unmittelbarkeitseffekts‘ auch gestattet ist. Nicht zuletzt deshalb lässt sich hier die Sinnbildung innerhalb vieler Texte (insbesondere solcher, die im Stil der Crónica oder des Tagebuchs geschrieben sind) im Prozess beobachten. Bestimmte Prinzipien der Kommunikation, wie die Forderung nach struktureller und argumentativer Klarheit und Widerspruchslosigkeit, scheinen partiell außer Kraft gesetzt, so dass die Texte oft mit unkontrollierter Offensichtlichkeit die Paradoxien und Ambivalenzen des kolonialen Symboluniversums zu Tage fördern. Dazu kommt das oft schnelle und billige Publikationsverfahren, das der Aktualität des Themas geschuldet ist. Die meisten Texte sind daher, wie López Barranco (1999) immer wieder in seiner Korpusanalyse zur Marokko-Kriegsliteratur feststellt, literaturkritisch gesprochen, minderwertig, stilistisch unausgereift, argumentativ widersprüchlich und voller Schreib- und Druckfehler. Emilio Carrere lässt in seinem Marokko-Kriegsroman El sacrifico eine seiner Figuren unter allgemeinem Gelächter den – zumindest für einen Großteil der Literatur – treffenden Satz formulieren: „La guerra retrasa el progreso y, además, produce una literatura detestable...“ (Carrere 1922: 30). In manchen Fällen wird der Leser/die Leserin mittels der Authentifizierungsstrategie der Unmittelbarkeit auch hinters Licht geführt: Unter Pseudonymen angeblicher Marokko-Kämpfer wurden Erzählungen publiziert von Autoren, die weder in Nordafrika gedient noch sich in irgendeiner anderen Funktion ‚vor Ort‘ befunden haben (Carrasco González 2000: 90-91). Solche Täuschungen widerlegen nicht die große Bedeutung der ‚Erfahrung‘ in der Marokko-Literatur, sondern führen diese erst recht vor Augen. Es zeigt sich hier auch, wie es auf diese Weise zu einer Vermischung dokumentarischer und fiktionaler Textmerkmale kommt. So macht z.B. Julián Fernández Piñero, der unter dem Pseudonym Juan Ferragut als Marokko-Soldat schreibt, ohne dort gewesen zu sein (ebd.: 91; Vargas González 2001: 34), einen kuriosen Kompromiss, indem er seine Wahrhaftigkeitsbehauptung mit dem Verweis auf andere erzählerische Vermittlungsinstanzen abschwächt: „¿Será esto una novela? Como no soy escritor profesional, ignoro el concepto de la forma novelesca y de la proporción que imagino ha de haber en toda obra artística, y carezco de la habilidad necesaria para escalonar y mezclar los episodios, a fin de que la trama resulte



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interesante. [...] Me falta método [...]. Yo sólo sé contar lo que oí, o volver a relatar lo que me contaron.“ (Ferragut s.a. [192?]: 8)

In vielen Marokko-Erzählungen taucht (auch wenn sie sich als fiktional zu erkennen geben) am Rande, manchmal unerwartet und auch wieder vergessen, ein Erzähler-Ich als Beobachter oder Chronist auf, das Übereinstimmungen mit dem Autor aufweist.29 Im Hinübergleiten zwischen autodiegetischen, homodiegetischen und heterodiegetischen Erzählsituationen und dem Wechsel zwischen ‚subjektiv-limitierten‘ und ‚objektiv-allwissenden‘ Diskursformen erweisen sich Stimme und Perspektive oft als logisch inkonsistent.30 Hier zeigen sich die Diskontinuitäten, die Foucault als charakteristisch für das diskursive Ereignis betrachtet – „Zäsuren, die den Augenblick zersplittern und das Subjekt in eine Vielzahl möglicher Positionen und Funktionen zerreißen“ (Foucault [1970] 2007: 37). ‚Autor-Berichterstatter‘, bzw. ‚Autor-Soldat‘ und Leserschaft teilen das System symbolischer Ordnungsstrukturen, die kolonialen, patriotischen, militaristischen Diskurswelten (ebenso wie andere Symbolsysteme, die für einen Gegendiskurs aktiviert werden) zunächst als Grundvoraussetzungen für die Möglichkeiten einer gemeinsamen Deutung der Ereignisse. Diese Deutungsmuster bieten bestimmte Anschlussmöglichkeiten von Texten, die Stabilität dieser Schemata selbst wird jedoch durch die Realität der Ereignisse herausgefordert und in manchen Fällen werden so die Textanschlüsse als Problem inszeniert. Dabei wird ein zentrales Prinzip des reibungslosen Funktionierens diskursiver Wahrheiten punktuell außer Kraft gesetzt: das der „Eliminierung der Realität des Diskurses“, das sicherstellt, „dass der Diskurs so wenig Raum wie nur möglich zwischen dem Denken und der Sprache einnehme“ (Foucault [1970] 2007: 31). So wird der ideologische Konstruktcharakter von bestimmten Wahrheiten sichtbar, was einen politischen Kampf bei der Neuverteilung von ‚wahr/falsch‘ zur Folge hat. Es kommt zu einer Verhandlung der Wahrheitssätze von Doktrinen, die gesellschaftliche Zusammengehörigkeiten in Bezug auf ihre Verbindlichkeit gegenüber bestimmten Diskursensembles regeln (ebd.: 28): Das Ereignis von Annual führt zu einer inszenatorischen Positionierung ideologischer Gruppen in Bezug auf die ‚koloniale Frage‘. Das Schreiben wird oft gerade motiviert

29 So z.B. Tomás Borrás’ La pared de tela de araña, José Díaz Fernández’ El blocao, Ramón Senders Imán, und partiell auch Fermín Galáns La Barbarie Organizada und Ruiz Albéniz’ ¡Kelb Rumi!. 30 Vgl. hierzu auch die Bezugnahmen auf Stimme und Perspektive in den Textanalysen von ¡Mektub!, ¡Kelb Rumi! und Imán.



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durch eine Berichtigung irrtümlicher Annahmen aller Art, die in der Heimatgesellschaft zirkulieren, die Literatur mischt dabei implizit oder explizit in der politischen Debatte mit: Hier geht es um die Durchsetzung von Wirklichkeitsauffassungen und ideologischen Interpretationen, bzw. deren Demaskierung, um Aufklärungen, Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen. In der Testimonialliteratur zeigt sich dabei ein ausgeprägtes Bewusstsein über die historische Bedeutung der Texte: Diese verstehen sich als Konstituenten von ‚Geschichte in Großbuchstaben‘ bzw. als Medien der Gedächtnisstiftung,31 die neue Erfahrungsgemeinschaften und kollektive Identitäten begründen (vgl. dazu die einzelnen Textanalysen). Neben dieser Infragestellung einzelner Wahrheitssätze kommt es auch zu einer Destabilisierung des Wahrheitsbegriffs an sich: Indem das Trauma ins Spiel kommt, wird das Prinzip der „universellen Vermittlung“ durch den Logos (Foucault [1970] 2007: 32) an sich problematisiert, wie sich in Kapitel 4.3 zeigen wird. Das Andere des Diskurses wird zum Vorschein gebracht und an einzelnen Textstellen mit einer unheimlichen Macht versehen.32 Dabei bildet sich hier eine neue Form des testimonialen Schreibens in Spanien heraus, die im „Gestus des Bezeugens“ (Weigel 2000: 116) einer Grenzerfahrung eine neue Form von subjektiver Wahrhaftigkeit jenseits der Unterscheidung von fiktionalem und faktualem Wirklichkeitsbezug begründet. Das Aussetzen bestimmter Ausschlusssysteme, die der kolonialen Diskurspraxis selbst inhärent waren, versuchte man durch ein autoritäres Eingreifen von außen zu kompensieren: Das Militär in Afrika und Verteidiger der Monarchie auf verschiedenen Positionen behinderten die Beschaffung von Informationen und die freie Berichterstattung, und die Presse unterstand immer wieder, vor allem während der Jahre der Diktatur, einer teils sehr strengen Zensur. Da Druckerzeugnisse von über zweihundert Seiten von dieser ausgenommen waren (Fuentes 1980: 36), wurden kriegskritische Beiträge aller Art in Buchform publiziert und hatten teilweise harte Sanktionen und sogar Festnahmen und Gefängnisaufenthalte zur Folge.33 In Bezug auf die Berichterstattung über das koloniale Desaster gab ein Zensor des Regimes von Primo de Rivera zu Papier:

31 Zu Geschichte und Gedächtnis in Bezug auf Annual vgl. den Artikel von Txetxu (2004) über Imán, El blocao und La ruta. 32 Auf diese Textstellen wird in den Einzeltextanalysen im Verlauf dieser Arbeit verwiesen. 33 So z.B. Giménez Caballero, der für seine Notas marruecas de un soldado festgenommen wurde und nach der Forderung der Anklage bis zu 18 Jahre Haft verbüßen sollte, die ihm durch den Putsch Primo de Riveras erspart blieb (vgl. Kap. 2.2).



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„Dentro de la necesidad de sostener una rigurosa censura, se llegó a extremos de tan minuciosa intervención que cualquiera que, acudiendo a los archivos de la Prensa, quisiera reconstruir aquella epopeya, no podría hacerlo consultando la española, menos enterada que ninguna, sino la extranjera [...].“34

1.2.2 Das Ereignis in der Erzählung: Über Konflikt und Umschreibung Im Anschluss an die ersten beiden Dimensionen, das Reale des Ereignens und die erzählerische Inszenierung des Ereignisses, lassen sich bestimmte Leitfragen in Bezug auf die Textanalyse formulieren: 1. Wie schreibt sich die „Ankunft eines Fremden“ in die erzählerische Re-Inszenierung tradierter symbolischer Strukturen ein, d.h. wie schlägt sich dieses symptomatisch im Funktionieren der üblichen Narrative, Unterscheidungen und rhetorischen Topoi der kolonialen Tradition nieder? 2. Wie wird dieses geschrieben, bzw. umschrieben, d.h. mit welchen erzählerischen und literarischen Mitteln wird das Ereignis, und eventuell auch die ereignishafte Destabilisierung der kolonialen Zeichenwelten selbst narrativ in Szene gesetzt oder ‚gemacht‘? 1) Der Moment der ‚Einschreibung‘ des Ereignisses lässt sich innerhalb der Literatur nur in den strukturellen Brüchen und argumentativen Unentschiedenheiten fassen, insbesondere in solchen Erzählmomenten, die bemüht sind, das ‚Desaster‘ mittels der etablierten Schemata, Kategorien und Wertungen aufzufangen. Im Misslingen einer Performanz, die auf eine solche ‚Normalisierung‘ zielt, verschafft sich die symptomatische Mitteilung des Ereignisses ihren Raum im Text: „Seine ganze Wirklichkeit [=des Symptoms] besteht in der Reihe seiner Struktureffekte, in der Reihe der Sackgassen, der Verfehlungen, die es in der symbolischen Struktur auslöst – das Fehlgehen seiner Symbolisierung kreist retroaktiv seinen leeren Ort ein.“ (Žižek 1991: 78) Hier ist weitgehend zutreffend, was Dieter Mersch als Ereignis der Materialität des Zeichens beschreibt, bei dem es gilt „ein unbestimmtes Feld auszuloten, ein Feld, das zwar nicht ohne Zeichen oder Rahmung besteht, von dem jedoch wiederum umgekehrt kein Zeichen kündet, insofern es einerseits nur negativ, d.h. im Widerstand oder im Beharren, der Dauer ausgewiesen werden kann: Es erweist sich als gegen seine vielfältigen Bestimmungen oder Interpretationen resistent.“ (Mersch 2003a: 43, Hervorh. im Original; vgl. auch Mersch 2003b: 73, 81)

34 Celedonio de la Iglesia (1930): La censura por dentro, Madrid: Compañía IberoAmericana de Publicaciones, zit. nach Fuentes 1980: 32, ohne Seitenangabe.



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2) Die Um-Schreibung des Ereignisses, im doppelten Sinne eines „Circumscribierens“ und Reformulierens vollzieht sich in der erzählerischen Inszenierung des kolonialen Desasters. Dabei wird auch das Problem der Symbolisierung selbst artikuliert und die Texte thematisieren autoreflexiv ihre Rolle als „Schaltstelle der Strukturbildung“ (vgl. S. 39). So findet man z.B. Buchtitel wie Lo que no tiene nombre35 und eine Anzahl von Texten inszeniert das Problem der Kommunikation einer Erfahrung, die sie mittels verschiedener Strategien in einem Außerhalb des diskursiv Intelligiblen lokalisieren. Vereinzelt finden sich Momente des „performative writing“, bei dem das Misslingen des Schreibprozesses vorgeführt wird (vgl. Peters 2003; hierzu Näheres in Kap. 4.4.3). In anderen Erzählungen – insbesondere in Ramón Senders Imán – wird das Ereignis der Materialität der Zeichen als ihr Beharren, als das Leer-Werden des Diskurses im Sinne Merschs auf der Handlungsebene inszeniert und somit ihr Wirklichkeitsbezug entnaturalisiert und als hinterfragbar entpuppt. Neben diesem „Circumscribieren“ von Unsagbarkeit und Inkommunikabilität finden sich verschiedene Techniken, um die Destabilisierung symbolischer Strukturen ‚von innen heraus‘ zu ‚betreiben‘. Dies entspricht dem Umschreiben in seiner zweiten Bedeutung, das zugleich immer auf die alte Sprache zurückgreift. In Anschluss an Peter Fuß’ kultursemiotische Studie zum Grotesken als „Medium des kulturellen Wandels“ lassen sich bestimmte „Mechanismen der Strukturliquidation“ unterscheiden: die Verkehrung, die Verzerrung und die Vermischung, die „spiegelbildlich den morphotischen Mechanismen der Strukturstabilisation“ entsprechen, nämlich der Hierarchisierung, Dichotomisierung und Kategorisierung (Fuß 2001: 235). Sie werden in manchen MarokkoKriegstexten als Mittel zur Darstellung der kulturellen Destabilisierungserfahrung und der Subversion militaristisch-afrikanistischer Authentizitätsbehauptungen wirksam. Ein Text-Beispiel, in dem die Inversion als Mittel der Umschreibung eingesetzt wird, ist Fermín Galáns La Barbarie Organizada, eine Erzählung, in der die Zuschreibungssysteme von Kultur und Barbarei auf den Kopf gestellt werden. Dieser Vertauschung kommt insofern ein destabilisierendes Potential zu, als sie an der grundlegenden Hierarchie rüttelt, die die koloniale Aneignung überhaupt

35 Es handelt sich hier um eine Sammlung von Chroniken aus dem Marokko-Krieg von Vila San-Juan (s.a. [192?]). Hier zeigt sich das Paradox, dass die eigentlichen Texte ein Kompendium erzählerischer Gemeinplätze darstellen, während der Name des Buchs die Unmöglichkeit der Symbolisierbarkeit behauptet. Das Auseinanderfallen zwischen Titel und Haupttext kann somit als ‚symptomatisch‘ im oben erläuterten Sinn aufgefasst werden.



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erst legitimiert. Die Inversion führt die Relativität von Perspektive und Wertung vor (vgl. Fuß 2001: 255, 290). Unter Verzerrung lässt sich nach Fuß (ebd.: 301) das Monströse, das Disproportionale, das Enorme und Deforme verstehen, das die allgemeinen Maßstäbe der kulturellen Ordnung in Frage stellt. Die Verzerrung als Mittel der Verfremdung taucht u.a. in der Beschreibung der kolonialen Raum-Zeit auf oder in der grotesken Beschreibung deformierter und verletzter Körper. Die Vermischung als „Interferenzraum inkompatibler Strukturzustände“ (ebd.: 349) zeigt sich u.a. eindrücklich in der chimärischen Raum-Zeit des Desasters in Senders Roman Imán, in dem ein ständiger Umschlag zwischen der Aufrecherhaltung der symbolischen Ordnungs- und Autoritätsstrukturen und ihrem kompletten Zusammenbruch stattfindet und die Sinnwelt des Kriegs so ins Absurde driftet. Über die genannten Formen der Strukturdestabilisierung wird Unentscheidbarkeit und Unbestimmtheit in der kulturellen Ordnung produziert (ebd.: 12) – ein Moment, der der oben beschriebenen diskursiven Öffnung von Alternativen entspricht, den Edward Said als Folge der gewalttätigen Antwort des ‚Orients‘ versteht. Zwischen den Entscheidungen „to carry on as if nothing has happened“, „to adapt the old ways to the new“, „to dispense with Orientalism altogether“ (Said [1978] 2003: 104; vgl. Zitat in Kap. 1.1.1) sind auch viele MarokkoKriegserzählungen in ihrer internen Sinnstruktur hin- und hergeworfen. In ihnen finden sich beide beschriebenen Momente der Ein- und Umschreibung, die zu einer für diese Literatur charakteristischen inneren Spannung führen: Die Texte erzählen von einem Einbruch, beharren aber immer wieder auf der alten Sprache, sie sind Konflikt-Narrative im Sinne von Russell Reisings „narratives of struggle“: „works of highly volatile ideological significance most of which oppose some dimension of the dominant culture’s hegemony but which also struggle to speak in a language compatible with that culture’s ideological preeminence“ (Reising 2002: 327). In den „narratives of struggle“ wird innerhalb des Erzählprozesses darum gerungen, eine narrative Stabilität und gelungene Sinnzuschreibung zu erreichen. Interessant ist dabei die Frage, zu welchem Ende die Texte gelangen, welche Form der Schließung sie um jeden Preis vollziehen, verfehlen oder aufgeben (vgl. Smith 2007: 150). Das Erzählen hat, wie oben dargelegt, dabei einen performativen Charakter: Die Kontinuität bestimmter orientalistischer Erzählungen und Topoi kann weniger verstanden werden als Unerschütterlichkeit diskursiver Wahrheiten, denn als deren inszenatorische Beteuerung und Durchsetzung im Prozess des Erzählens. Im Versuch der Verdrängung von Relativität und Kontingenz bildet sich, wie sich anhand der Textanalysen zeigen wird, eine autoritäre Position heraus, die auf der Rigidität und Permanenz bestimmter nationalistischer, militaristischer,



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imperialer und patriachalischer Deutungsstrukturen insistiert. In ähnlicher Weise, wie Hurcombe (2004) dies für die Literatur aus dem Ersten Weltkrieg aufgezeigt hat, zeichnet sich diese Position dadurch aus, dass sie entgegen der Erfahrung von Ambivalenz auf der Totalität von Wahrheit, dem Essenziellen, Authentischen und Mythischen besteht und seine Gültigkeit als Maßnahme fordert: Die Behauptung wird zu einer Frage der Durchsetzung. Dabei stellt sich jedoch das Problem, dass die erwartungswidrigen Geschehnisse nicht problemlos in die gleiche Erzählstruktur reintegriert werden, die sie durchbrochen haben. Ein sich in verschiedenen Formen manifestierender Mangel an Geschlossenheit ist damit charakteristisch für viele dieser Beteuerungs- oder Konflikterzählungen: Sie hinterlassen ein Gefühl der Unbefriedigung, eine spannungsvolle Ambiguität – jedoch nicht im Sinne von literarischer Bedeutungsoffenheit durch strategische Leerstellen, sondern, im Gegenteil, durch den Akt der forcierten Schließung des Sinns. Das Problematisch-Werden der Fortsetzung des alten Textes stößt andererseits den Prozess der Umformulierung etablierter Narrative an. Neue Bedeutungen werden durch den Vorgang des Erzählens produziert, die Grenzen des kulturell Intelligiblen neu bestimmt. In der Umerzählung werden die symbolischen Strukturen remodelliert, wie oben beschrieben, z.B. in Form einer Inversion der Hierarchien und Wertungen der Meistererzählung oder subtileren Techniken des Umschreibens, indem die Differenzen in ein Spiel von Vermischungen und Verzerrungen verstrickt werden. Bekanntlich setzt sich in der historischen Realität mit der brachialen Rückeroberung der Gebiete im Rif eine harte, gewaltsame Lösung der ‚kolonialen Frage‘ durch – so auch in der innenpolitischen Debatte um den Konflikt, der die Diktatur Primo de Riveras und die Zensur Einhalt zu gebieten versuchte. Auch hier bedeutet die erzwungene ‚Schließung‘ jedoch keine Wiederherstellung der Situation vor dem Ereignis: „Selbst wenn etwas als Mögliches eintritt, wenn ein Ereignis sich als möglich erweist, hört die Tatsache, dass es unmöglich hätte sein sollen, dass die mögliche Erfindung eigentlich eine unmögliche gewesen sein wird, nicht auf, die Möglichkeit heimzusuchen.“ (Derrida 2003: 37) Die gesellschaftliche Spaltung und ideologische Radikalisierung, die sich in der umfassenden Politisierung der ‚Marokko-Frage‘ auftat, spitzte sich in dieser autoritären Schließung zu. Die gespenstische Heimsuchungs- und Wiederholungsstruktur des Ereignisses zeigt sich in einer Reihe von Folgeereignissen, die als Wiederkehr von Annual interpretiert wurden, obwohl es sich teils um innenpolitische Konfrontationen handelte, wie z.B. die Niederschlagung des Aufstands von Jaca (vgl. Kap. 4.4).



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Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen lässt sich abschließend erneut die Frage stellen: Welche spezifischen Mittel stellt die symbolische Struktur der ‚Marokko-Mission‘ bereit, um die Realität des Un-Falls erzählerisch aufzufangen, bzw. zu inszenieren? Anders gesagt: Vor dem Hintergrund welcher Erwartungsmuster hebt sich das Desaster als Ereignis ab, durch welche symbolischen Strukturen ist das Ereignis dieser ‚kolonialen Katastrophe‘ geprägt? Das spezifische symbolische Gerüst der Marokko-Unternehmung wird im folgenden Kapitel in Form einer diskursgeschichtlichen Skizze des africanismo näher beleuchtet. Doch zuvor sei auf den Anfang dieses Kapitels zurückverwiesen: Wie die postkolonialen Theorieansätze betonen, liegt die charakteristische Bedeutung des kolonialen Diskurses innerhalb der Kulturordnung darin, dass dieser dem Anderem als relational Anderem, als Gegenbild des Eigenen ein Gesicht verleiht, und zwar in Form einer fremden Kultur, die als identitätskonstituierendes Spiegelbild fungiert – auch wenn dieses, wie Bhabha betont, immer schon gebrochen ist. Das ‚Barbarische‘ der anderen Kultur ermöglicht gewissermaßen eine Thematisierung und Repräsentation dessen, was eine Kultur als Inakzeptables, Illegitimes, Bedrohliches aus ihrem Selbstbild ausschließt und an ihre Ränder verbannt (Fuß 2001: 14, 55). Das Abnormale, das Schockierende, das Abjekte wird der anderen Kultur zugeschrieben, als Gegenkulturelles versucht der koloniale Diskurs es in der symbolischen Ordnung außerhalb des Eigenen zu fixieren. Das Sprechen über fremde Kulturen als ‚anders‘ oder ‚feindlich‘ und Handlungen, die die Grenze zur anderen Kultur als hart entwerfen, folgen einem Bedürfnis nach Kultur- und Identitätsstabilisierung. Die Angst abwehrende Funktion diskursiver Wiederholung lässt die koloniale Erzählung zu einer „Schutzdichtung“ (Bronfen 2007: XII, im Vorwort zu Bhabha 2007) werden, die dem Anderen (als Unheimlichen) einen klar definierten Ort weitab der Heimat zuweist. Die koloniale Katastrophe, die Realität des Un-Falls nun erscheint im Gewand der Wiederkehr des Ausgeschlossenen in der Mitte des Eigenen als Schock, als Heimsuchung durch das Fremde – als Selbstentfremdung. In dieser Arbeit soll der Einschreibung und Umschreibung dieser Heimsuchung im Medium der Erzählliteratur nachgegangen werden.



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1.3 H ISTORISCHE R AHMUNG 1.3.1 Diskursgeschichte: Der africanismo, das symbolische Gerüst der ‚Marokko-Missionʻ Der africanismo, der das legitimatorische und sinngebende Fundament der militärischen Einnahme des Rif bildete, kann als eine spezifisch spanische Variante des Orientalismus verstanden werden, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts herausbildete und Nordafrika, insbesondere Marokko zum Repräsentationsgegenstand hatte. Er ging mit einem neuen außenpolitischen Interesse an dem islamischen Nachbarn einher in einer Zeit, in der Spanien bereits den Großteil der Kolonien in Übersee und damit seine Vormachtstellung in der ‚Welthierarchie‘ eingebüßt hatte und sich der europäische ‚Wettlauf um Afrika‘ vorbereitete. In Spanien begann zu dieser Zeit der Aufbau eines institutionellen Apparates, der die politische, kulturelle und wissenschaftliche Mission Spaniens in Afrika propagierte. Die kritische wissenschaftliche Untersuchung des africanismo als Zeichenkomplex von identitätsstrategischer Relevanz hat sich in den 1980er Jahren im Anschluss an die Said’sche Orientalismustheorie in Gang gesetzt und eine kürzlich schneller wachsende Zahl an Forschungsarbeiten hervorgebracht: Wegbereitend war hier vor allem Morales Lezcano 1988, ihm folgten u.a. Pedraz Marcos 2000, Rivière Gómez 2000 sowie der Sammelband von Nogué/Villanova 1999, und schließlich Martín Márquez’ Disorientations (2008), eine exzellente und umfassende kulturwissenschaftliche Überblicksarbeit über die Jahrhunderte langen Debatten um die Rolle des ‚afrikanischen Erbes‘ bei der spanischen Identitätskonstitution.36 Die Entwicklung des africanismo und seine zentralen Merkmale sollen für die Zwecke dieser Arbeit nur kurz umrissen werden, da die Untersuchung der Kriegstexte hier nicht in Form einer Diskursanalyse erfolgen soll, die die Wiederkehr afrikanistischer Strukturen herausstellen möchte. Vielmehr gilt das Interesse, wie beschrieben, den erzählerischen Inszenierungen eines kollektiven Erwartungsbruchs, der jedoch vor dem Hintergrund dieses symbolischen Gerüstes verstehbar ist. Die Herausbildung des spanischen Afrikanismus ab den 1850er Jahren stand in deutlichem Zusammenhang mit der Verbreitung der orientalistischen Diskurspraxis der europäischen Großmächte. Dabei knüpfte man in Spanien jedoch an

36 Martín Márquez widmet hier auch ein Kapitel dem Marokko-Krieg, das insbesondere in Bezug auf die Genderbedeutung des Desasters Anknüpfungspunkte bietet (vgl. Kap. 3).



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eine eigene, viel ältere symbolische Tradition an: Bereits im Prozess der politischen Formierung des spanischen Einheitsstaats, die 1492 zum Abschluss kam, wurde bekanntlich die Differenz zum nordafrikanischen Islam zum fundierenden Element für eine spanische Identität, die sich in erster Linie über den Katholizismus definierte. Nach Jahrhunderten mittelalterlicher Kulturvermischung hatte sich über die Dynamik der späten Reconquista der Gedanke des kriegerischen Antagonismus zum moro37 in das Selbstverständnis des sich formierenden Einheitsstaats eingeschrieben. Der Zusammenschluss der iberischen Gebiete unter den Katholischen Königen konstituierte sich über Akte des Ausschlusses der islamisch-nordafrikanischen (und jüdischen) Kulturkomponente. Dies führt ein bekannter Mythos vor, der der Romanzendichtung entstammt und im Zuge des Nation-Building im 19. Jahrhundert zur zentralen Gründungsgeschichte der Nation wurde: Er erzählt, wie der letzte maurische Herrscher Boabdil den Schlüssel von Granada an die katholischen Könige übergibt und mit einem Seufzer auf die Stadt zurückblickt, aus der er ausziehen muss.38 Der moro war mit der Verbreitung des Kreuzzugsgedankens bei der ‚Rückeroberung‘ der islamisch beherrschten Gebiete, die sich im 15. Jahrhundert in Expansionsfeldzügen an der nordafrikanischen Küste fortsetzte, zum historischen Anderen der spanischen Kultur schlechthin geworden (vgl. Goytisolo [1981] 1998). Man bekämpfte ihn zunächst als äußeren, dann immer mehr auch als inneren Feind durch die Diskriminierung, Verfolgung und Vertreibung der Morisken: Die verbleibende islamische Bevölkerung wurde der Zwangskonversion und einer forcierten Akkulturation unterworfen, nachdem dieses Schicksal zunächst die jüdische Bevölkerung getroffen hatte. Der Umgang mit dem Anderen folgte hier einer paradoxen Dynamik von Assimilierung und Grenzziehung, die umso paranoider wurde, je weniger die Konvertiten äußerlich unterscheidbar waren. Die Folge war die extreme gesellschaftliche Fixierung auf die limpieza de sangre: Die gesetzliche Verankerung einer Diskriminierung von Alt- und Neuchristen über den Begriff der Blutsreinheit diente nun dazu, über den Nachweis des Stammbaums den Anderen als solchen unterscheidbar zu halten, wobei sich die Vorstellung einer authentischen/reinen Identität (Altchrist) und hybriden Alterität (Neuchrist) etablierte (vgl. Dulfano 2001) und der Neuchrist als ‚Scheinchrist‘ die Grenzziehung im

37 In dieser Arbeit wird der Begriff moro immer dann gebraucht, wenn die analysierte Textstelle diesen Begriff verwendet und/oder wenn ‚der Nordafrikaner‘ in der Bedeutung des Anderen der spanischen Identität gemeint ist. Die Verwendung des Begriffs ist im vorliegenden Text grundsätzlich distanzierend. 38 Zu der Bedeutung dieser Geschichte als nationaler Gründungsmythos vgl. Brinkmann 1998: 486-489.



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Grunde genommen immer schon zu unterwandern drohte. Wie Martín Márquez (2008) gezeigt hat, erfolgte mit der Idee der Blutsreinheit eine Vermischung biologischer und kultureller bzw. religiöser Identitätsmerkmale, die sich als roter Faden durch die Jahrhunderte hindurch verfolgen lässt. Der Exzess, mit dem man hier das Andere im Innern Spaniens bekämpfte, deutete auf die Zweifel hin, eine einheitliche und vom nordafrikanischen Islam ‚gereinigte‘ Identität hervorbringen zu können (ebd.: 14-15). Mit dem Verschwinden einer offen gelebten islamischen Kultur in Spanien nahm im 16. Jahrhundert, noch in den Jahren der politischen Verfolgung der Morisken, eine exotistische Literaturtradition ihren Anfang, auf der die spätere Idealisierung und Mythisierung von Al-Andalus aufbaute: Sie hatte ihre Wurzeln in den mittelalterlichen Grenzromanzen (die spanische Literatur nahm bezeichnenderweise in dieser mündlichen Tradition als ‚Grenzliteratur‘ ihren Anfang) und fand ihre Ausgestaltung in Form der novela morisca und den romances moriscos, die im Siglo de Oro zu einer Modeerscheinung wurden. Diese Literatur verband die kulturelle Fremddarstellung – denn die islamische Kultur des moro war der spanischen nun nostalgisch fremd geworden – mit dem Thema der Liebe und entwarf ein aristokratisches Ideal christlich-maurischer Interaktion, das von traditionellen ritterlichen Freundschafts- und Ehrbegriffen getragen wurde, dabei jedoch die Dominanz der christlichen Seite implizierte (vgl. u.a. CarrascoUrgoiti 1976; Redondo 1995): Hier zeigt sich die typische Idealisierung einer im Verschwinden begriffenen Kultur, die nun imaginativ mit kulturellem Reichtum und galanter Schönheit ausgestattet wurde. Die Symbolstrukturen dieser literarischen Tradition wurden im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der romantischen Entdeckung der nationalen Volksliteratur wiederbelebt. In der Fortführung einer exotistischen Literaturtradition tauchten sie in den MarokkoKriegserzählungen wieder auf und wurden auch von afrikanistischen Militärs als Modell der Männerfreundschaft mit dem moro amigo ‚edler Abstammung‘ partiell reaktiviert, wie sich zeigen wird. Daneben fanden im Siglo de Oro die Geschichten des cautiverio eine weite Verbreitung, die von der Gefangennahme spanischer Helden durch Türken oder berberische Piraten und ihrer Verschleppung an die islamische Mittelmeerküste erzählen (Tejeiro Fuentes 1987; López García 1994: 100-101). Auch dieses Motivrepertoire wird in der Literatur des Desasters fortgeführt, wenn es um die Erzählung der Kriegsgefangenschaft geht (vgl. Kap. 2.3.3). Zur Hochzeit des spanischen Imperiums war die Existenz eines islamischen Kulturerbes weitgehend aus dem kulturellen Gedächtnis verdrängt und die Abgrenzung zum nordafrikanischen Islam nicht mehr von besonders großer Relevanz. Im 19. Jahrhundert, als Spanien seine Vormachtstellung in der Welthierar-



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chie eingebüßt hatte, bekam die Rolle Spaniens als Grenzland am Rande Europas jedoch eine neue Bedeutung für das kollektive Selbstverständnis: Die spanische Identitätsfrage sah sich nun zunehmend der imaginären Geographie des Orientalismus-Diskurses unterworfen, wie er insbesondere in Großbritannien, Frankreich und auch Deutschland zur Blüte gelangte: Hatte sich Spanien vorher als Bollwerk des europäischen Christentums verstanden, so fand es sich in der binären Hierarchie des Orientalismus nun immer wieder in der Rolle des Anderen des modernen und ‚zivilisierten‘ Europas wieder. In der Tradition der Leyenda Negra wurde es mit allen negativen Attributen und – als Reiseland ‚westlicher‘ Romantiker, die sich hier ins Mittelalter versetzt sahen und das maurische Kulturerbe entdeckten, – zunehmend auch mit allen positiven Zuschreibungen des orientalistischen Diskurses belegt.39 Charakteristisch ist hier Johann Gottfried Herders bekannte ‚These‘ in Bezug auf die Spanier, die er im Zusammenhang mit der Formulierung seiner „Arabertheorie“ aufstellte: „Ihr Land und Charakter, ihre Verwandtschaft mit den Arabern, ihre Verfassung, selbst ihr stolzes Zurückbleiben in manchem, worauf die europäische Kultur treibt, macht sie gewissermaßen zu europäischen Asiaten.“40 Im Zusammenhang mit den orientalistischen Diskurspraktiken der europäischen Großmächte begann in Spanien eine erneute Identitätsfindungsphase, die zwei zentrale Tendenzen aufwies: Zum einen integrierte man die wieder entdeckte Vergangenheit von Al-Andalus in das kollektive Selbstbild, zum anderen versuchte man, auf ‚Augenhöhe‘ an der kolonialen Praxis des ‚Westens‘ zu partizipieren. Die spezifische Ambivalenz, die daraus resultierte, bleibt ein zentrales Merkmal des späteren spanischen africanismo, das ihn von den anderen europäischen Orientalismus-Diskursen wesentlich unterscheidet, und spielt in der Deutung der Niederlage von Annual als vergüenza eine bedeutende Rolle (vgl. Kap. 2). Anfangs bildete sich in Spanien der Orientalismus, der ja eigentlich den Orient als Fremdes repräsentierte, als eine Form der historischen Selbsterkundung heraus – in einer Zeit, die als die zentrale Phase der imaginativen Nationenbildung verstanden werden kann. In dieser Hinsicht unterschied er sich wesentlich von der kolonialistischen Diskurspraxis Frankreichs und Englands: „En ninguno de los nacientes estados nacionales europeos se daba la circunstancia de la existencia histórica de una amplia población musulmana que habitó durante siglos en su suelo, circunstancia que tendría una clara incidencia a la hora de delimitar lo realmente

39 Vgl. hierzu z.B. Wolfszettel 2003: 159-174, 89-104, sowie Scholz Hänsel 1989. 40 Johann Gottfried Herder, zit. nach Hinterhäuser (Hg.) 1979: 108, dort ohne Quellenangabe.



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‚propio‘ (y español) y diferenciarlo en cambio de lo ‚extraño‘; lo que formaba parte del ‚yo‘ colectivo auténticamente ‚nacional‘ y lo que nos diferenciaba del ‚otro‘ aquí precisa y concretamente judío o musulmán.“ (Rivière Gómez 2000: 32)

Die Arabistik, die sich in Spanien als Universitätsfach in den 1840er Jahren etablierte, widmete sich in den ersten Jahren insbesondere der Erforschung der Geschichte, Literatur und Sprache des eigenen, d.h. spanischen Mittelalters (Morales Lezcano 1988: 14). Das wissenschaftliche und ästhetische Interesse anderer Europäer führte zu einer neuen Wertschätzung der Relikte arabischer Kultur; spanische Historiker begannen, die Vergangenheit von Al-Andalus als Zeit der kulturellen Blüte und des toleranten Miteinanders positiv umzudeuten (Rivière Gómez 2000: 54). Damit setze sich ein komplexer und widersprüchlicher Prozess des Auslotens von Differenzen und Identitäten in Bezug auf die islamische Kultur in Gang: Zum einen entdeckte man gerade in der mittelalterlichen Kulturvermischung die nationale Einzigartigkeit und historische Größe Spaniens, zum anderen hielt man am Gedanken der Reinheit und moralischen Überlegenheit der spanisch-katholischen Kultur gegenüber der nordafrikanisch-islamischen fest (ebd.: 84). Hier begann eine dauerhafte Debatte um zwei konträre spanische Identitätsentwürfe, bei der es um die Frage des Ursprungs der Spanier, das Gewicht kultureller Einflüsse und die Deutung der nationalen Geschichte ging (vgl. dazu López García 2000).41 Denn die kulturelle Verwandtschaft mit Nordafrika bedeutete nicht nur ein romantisches Versprechen, zu den nationalen Ursprüngen zurückzukehren und seine Identität voll zu realisieren, sondern auch ein Stigma, das Spanien in eine ‚Verlängerung‘ Afrikas zu verwandeln ‚drohte‘. Die Leyenda Negra hatte bereits die diskursiven Grundlagen für die Rolle Spaniens als das Andere der europäischen Aufklärung gelegt, mit der Verbreitung der Darwin’schen Evolutions- und Rassentheorien drohte nun auch die biologische Verwandtschaft mit dem moro die Spanier auf eine Position der Schwäche in der imperialen Hierarchie zu verweisen.42 Der moro wurde somit zum Ziel emphatischer nationaler Selbsterfüllungswünsche und gleichzeitig zu dem, was Philipp Sarasin (2003: 170) in einem Aufsatz über das Konzept der imagined communities als „traumatischen inneren Kern der ‚Selbstbehinderung‘“ bezeichnet.

41 Sie setzte sich in der berühmten Konfrontation zwischen Américo Castro und Claudio Sánchez Albornoz der 1950er Jahre oder den gegensätzlichen Positionen Juan Goytisolos und Salvador Fanjuls bis heute fort. 42 Wie Martín Márquez (2008, vgl. bes. S. 39-50) gezeigt hat, wurden dabei phantasievolle Stammbäume der Spanier entworfen, die die Herkunft der Spanier, bzw. einzelner ‚Völker‘ innerhalb Spaniens erklären und aufwerten sollten.



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So ging die Wiederentdeckung des eigenen Anderen mit Versuchen einher, den moro wieder in einem Außen zu lokalisieren und die eigene Superiorität gegenüber dem ‚Orient‘ zu behaupten. Ab den 1850er Jahren begann sich ein vermehrtes wissenschaftliches, militärisches, politisches und ästhetisches Interesse für Marokko herauszubilden, das mit der Formulierung der Zivilisierungsmission Spaniens auf der anderen Seite der Meerenge von Gibraltar einherging (Rivière Gómez 2000: 91-106). Intellektuelle, Militärs und Politiker versuchten, an der kolonialen Diskurspraxis Europas teilzuhaben, die mit politischen Expansionsbestrebungen verknüpft war und die Hervorbringung von ‚westlichen Identitätseffekten‘ bedeutete. Während die europäischen Großmächte ihre Expansionsansprüche in die Realität – die sukzessive Kolonialisierung Afrikas – umsetzten, unternahm die spanische Regierung mit dem Afrika-Krieg (1859-1860) einen eigentümlichen Versuch, ihre außenpolitische Potenz zu demonstrieren, der von Anfang an mehr auf die nationale Selbstdarstellung als auf eine reale Kolonisierung ausgelegt war: Auch wenn ein Großteil der Bevölkerung wohl auf eine koloniale Ausbreitung hoffte (Pedraz Marcos 2000: 50), so hatte Madrid sich im Vorhinein gegenüber London – das um sein Gibraltar fürchtete – verpflichten müssen, die militärische Besetzung des Gebiets bald wieder rückgängig zu machen. Der Krieg wurde im Namen der Ehre der Nation unternommen und ist von Historikern im breiten Konsens als kompensatorische Unternehmung gedeutet worden: Er wurde in einer Zeit der profunden gesellschaftlichen Krise erklärt, in der die Spanier mit schwierigen innenpolitischen Zwistigkeiten und außenpolitischen Problemen zu kämpfen hatten und die spanische Bedeutungslosigkeit im europäischen Machtspiel das nationale Selbstwertgefühl kränkte. So erklärt der Infanterie-Oberst Gómez de Arteche die Notwendigkeit des Afrika-Kriegs folgendermaßen: „El orgullo nacional [...] se halla hoy humillado por las depredaciones de los africanos y necesita, castigándolos enérgicamente, legitimarse ante la Europa toda que nos considera impotentes y faltos de la energía de nuestros padres.“43 Die Guerra de África war der erste spanische Krieg, der zu einem gesamtgesellschaftlichen Medienspektakel wurde: Zahlreiche Reporter, bekannte Schriftsteller, Zeichner und Maler waren vor Ort, die den Krieg als „guerra romántica“ und „nueva cruzada“ feierten, und dem Land vorübergehend zu einem euphorischen nationalen Konsens verhalfen. Der Afrika-Krieg verschaffte so dem Afrikanismus als diskursiver Praxis eine breite populäre Basis: „Nunca habían visto

43 Gómez de Arteche, José (1859): Descripción y mapas de Marruecos con algunas consideraciones sobre la importancia de la ocupación militar de una parte de este Imperio, Madrid: P. Melallo, 139, zit. nach: Morales Lezcano 1988: 91.



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los nacidos un movimiento de opinión tan poderoso y unánime“, erzählt Galdós später mit ironischem Unterton in „Aita Tettauen“, einer seiner Episodios nacionales, die sich dem Afrika-Krieg widmet (Pérez Galdós [1905] 1951: 237). Während des Feldzugs wurde der religiöse Antagonismus der Reconquista als kultureller Gedächtnisinhalt aktiviert und romantisch-nostalgisch verklärt: Gott, Ehre und Tradition waren die Pfeiler der ersten Afrika-Intervention (Pedraz Marcos 2000: 133). Man grub das Testament von Isabel der Katholischen wieder aus, das dazu aufforderte, nicht vom Kampf gegen den Ungläubigen und der Eroberung Afrikas abzulassen, und erklärte den ewigen Kampf gegen den moro zu einer symbolischen Erbschaft der Nation (vgl. Serna 2006: 175). Der Afrika-Krieg brachte ein beachtliches Text-Korpus hervor,44 zu dem die Marokko-Kriegsliteratur in vielerlei Hinsicht in intertextueller Beziehung steht. Hier etablierte sich die Figur des Schriftstellers, der zugleich Reporter und/oder Militär war und die Heimatgesellschaft mit seinen literarisch-dokumentarischen Crónicas, den tagebuchartigen Erlebnisberichten aus dem Krieg, in regelmäßigen Zeitungspublikationen versorgte. Der berühmteste von ihnen war Pedro Antonio de Alarcón, dessen Diario de la Guerra de África sich schon bald über 50.000 Mal verkauft hatte – ein bis dahin unübertroffener Erfolg in der spanischen Verlagsgeschichte (Lara Ramos 2004: 143). Da dieses Tagebuch auch eine weit verbreitete Lektüre im Marokko-Krieg der 1920er Jahre war,45 wird darauf vermehrt als Bezugspunkt zurückzukommen sein. Von besonderer Bedeutung war daneben der Romancero de la Guerra de África, ein Gedichtband, der als Gemeinschaftswerk teilweise illustrer Dichter dieser Zeit zu Ehren Isabel II. publiziert wurde, an die Romanzentradition anknüpfte und ein Kompendium aller Mythen und Gemeinplätze darstellte, die die romantische Wiederbelebung des historischen Antagonismus zum moro mit sich brachte: „[...] los tópicos más

44 Vgl. hierzu u.a. López Barranco 1999: 89-231. Dazu gehören neben den Tagebuchchroniken von Alarcón vor allem Gaspar Núñez de Arces Crónicas (publiziert in Buchform 1860 unter dem Titel Recuerdos de la campaña de África) und die Fortsetzungsromane El honor de España. Episodios de la guerra de Marruecos von Rafael del Castillo (ab 1859), La cruz y la media luna o la guerra de África von D. A. Cubero (1860), Rodrigo y Zelima o La toma de Tetuán von Antonio Redondo (1862), sowie die Kriegsmemoiren Episodios militares (1884) von Antonio Ros de Olanos und Episodios militares del ejército de África (1892) von Dionisio Monedero Ordónez. Von besonderer literarischer Bedeutung ist Benito Pérez Galdós’ oben erwähntes „Aita Tettauen“, eine seiner Episodios nacionales, die den Afrika-Krieg bereits nach Art eines historischen Romans erzählt. 45 Vgl. auch Correa Ramón 2004: 90.



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usados, las metáforas más altisonantes, las alusiones más obvias a Isabel la Católica y al Cid, a Cisneros y a Cortés, a Pelayo o el Gran Capitán, a Juan de Austria, a Santiago y a Clavijo, tuvieron en el tomo de versos ofrecido a la soberana, su sitio y su marco ardoroso y bélico.“ (Serna 2006: 174) Zu diesem religiös-nationalen Antagonismus gesellte sich jedoch gleichzeitig die exotistische Versprechung, sich mit der Eroberung marokkanischer Orte das ‚goldene Mittelalter‘ von Al-Andalus wiederanzueignen und damit ein idealisiertes Anderes ins Eigene zu reintegrieren. Charakteristisch war hier Alarcóns Maurophilie, die sich mit der hasserfüllten Beschwörung des Unterschieds zu den moros („aquel apiñado enjambre de acobardados monstruos“, Alarcón [18591860] 1975: 290) abwechselte: Alarcón selbst legte sich gerne ein marokkanisches Gewand an und imaginierte sich in einem Gedicht, das dem Kriegstagebuch vorangestellt ist, als letzten Almohaden, der zu einem Leben im Exil und in der falschen Epoche verdammt war.46 Der romantische Selbstentwurf des Afrikanisten als Nostalgiker, der sich gegenüber der eigenen sich modernisierenden Gesellschaft entfremdet, nahm hier seinen Anfang und zog sich bis in die Marokko-Literatur der 1920er Jahre.47 Der Krieg von 1859-1860 legte dabei auch die Grundlagen für eine spezifisch militärische und interventionistische Prägung des späteren Afrikanismus, die für die Kultur des Marokko-Kriegs im 20. Jahrhundert bestimmend sein würde (vgl. Morales Lezcano 1988: 18, 69). Afrika sollte Spanien nicht nur vor einem innenpolitischen Debakel bewahren, die militärische Expansion in Marokko wurde als eine legitime außenpolitische Verteidigung der Festungsstädte Ceuta und Melilla und der südlichen Grenzen verstanden, von der das Fortbestehen der Nation abhängig gemacht wurde. Die koloniale Ausbreitung wurde als sozialdarwinistischer Überlebenskampf der Nationen interpretiert; sie bedeutete für die Afrikanisten einen notwendigen Akt der nationalen Existenzsicherung gegenüber den Großmächten, die an der Meerenge von Gibraltar zu expandieren und Spanien einzuschließen drohten (vgl. ebd.: 62, 69, 74-75).48 Die immer stär-

46 Es handelt sich um das Gedicht „Un morisco de ahora“ (Alarcón [1859-60] 1975: 20). Zum kulturellen Cross-Dressing in der Guerra de África vgl. Fleischmann 2010. 47 Exemplarisch wird dies anhand der Gestalt des Capitán Santiago in Gregorio Corrochanos ¡Mektub! vorgeführt (vgl. Kap. 3.2). 48 Eine solche Position wurde vor allem vom Politiker und Staatsphilosoph Juan Donoso Cortés und dem Historiker, Dichter und Politiker Antonio Cánovas del Castillo (in jungen Jahren) verbreitet. Vgl. die viel zitierte Textstelle aus Cánovas del Castillos Apuntes para la Historia de Marruecos: „Hay una ley histórica que hemos venido observando a través de los siglos en el Mogreb-alacsa, la cual dice claro que el pueblo



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ker wachsende Gruppe der Militärs, die Morales Lezcano als eine der „familias de africanistas“ neben den Politikern und Intellektuellen, Diplomaten, Arabisten, Forschungsreisenden und Abenteurern, Künstlern und Literaten sowie Missionaren ausmacht, etablierte ihre afrikanistische Diskursautorität bereits während der Guerra de África, bekam aber besonders nach 1898, als viele Angehörige der kolonialen Armee aus Kuba und den Philippinen zurückkehrten, als AfrikaInteressensfraktion immer mehr Gewicht: Während die Intellektuellen nach 1898 zwischen dem „Ruf“ nach einem neuen „Auszug“ in Richtung Süden und dem Zweifel an der Kolonisierungsfähigkeit Spaniens schwankten (ebd.: 80-81), begannen sich Afrikanismus und nationalistischer Militarismus im 20. Jahrhundert zunehmend zu überlagern: Afrika wurde zur Wiege militärischer Vaterlandsretter, während sich unter Akademikern und liberalen Intellektuellen mit der Jahrhundertwende immer mehr eine skeptische Haltung gegenüber einer Expansion in Afrika verbreitete (ebd.: 92). Bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts war jedoch die Idee einer penetración pacífica unter den Afrikanisten dominant, die von einem großen Teil des liberalen Bürgertums und der gemäßigten Linken mitgetragen wurde und auch während des Marokko-Kriegs im afrikanistischen Spektrum ihre Vertreter hatte. Diese sahen die Aufgabe Spaniens in Marokko in erster Linie in der kulturellen und wirtschaftlichen ‚Durchdringung‘ des Landes, und institutionalisierten diesen Auftrag in Form von geographischen Gesellschaften und Handelsgesellschaften: 1876 wurde in Madrid die Sociedad Geográfica gegründet, die während ihres Kongresses von 1883 die Sociedad Española de Africanistas y Colonialistas ins Leben rief. Emblematisch für das Idearium dieser Gesellschaft war die Figur Joaquín Costas, der das afrikanistische Denken der Intellektuellen dieser Zeit stark beeinflusste, wobei sich Überschneidungen mit den Ideen des Regenerationismus zeigten. Charakteristisch für diese Überlappung war das Leiden unter dem Szenario eines spanischen Niedergangs und zugleich eine gewisse Form der nationalen Selbstüberschätzung, in der die ‚Afrika-Mission‘ die Be-

conquistador que llegue a dominar en una de las orillas del Estrecho de Gibraltar, antes de mucho tiempo dominará en la orilla opuesta. Esta ley no dejará de cumplirse. Y si no hay en España bastante valor o bastante inteligencia para anteponerse a las otras naciones en el dominio de las fronteras playas, día ha de llegar en que sucumba nuestra independencia, y nuestra nacionalidad desaparezca quizás para no resucitar nunca. Ahí enfrente hay para nosotros una cuestión de vida o muerte [...]. En el Atlas está nuestra frontera natural [...].“ (Antonio Cánovas del Castillo [1851] 1913: Apuntes para la Historia de Marruecos, Madrid: Victoriano Suárez, S. 276; zit. nach Morales Lezcano 1988: 75).



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deutung eines euphorischen Wiederauferstehungsprogramms erlangte. Berühmt wurde Costas Rede im Teatro de la Alhambra (1884); in ihr findet sich eine Rhetorik der spanisch-marokkanischen Bruderschaft und verwandtschaftlichen Intimität (vgl. Pedraz Marcos 2000: 146), die für die idealistische Variante des Afrikanismus auch im 20. Jahrhundert prägend war. Die afrikanistischen Gesellschaften verbanden den Glauben an eine episch-historische Mission Spaniens in Marokko mit dem Gedanken des wissenschaftlichen Fortschritts und der wirtschaftlichen Entwicklung und versuchten, die öffentliche Meinung dafür zu gewinnen: Afrikanistische Handelsgesellschaften warben mit erwartungsvollem Optimismus für Subventionen zur Konstruktion von Häfen, die Einrichtung von Märkten und Etablierung von Banken in den Enklaven, für den Ausbau der Arabistik an spanischen Universitäten und die Finanzierung von wissenschaftlichen Exkursionen und Museen (Morales Lezcano 1976: 31). Sie deklarierten ihre wirtschaftlichen Unternehmungen zu nationalen Entwicklungsprojekten, um Spanien für den imperialen Wettstreit konkurrenzfähig zu machen. Der Glaube an die penetración pacífica als paternalistische, friedliche Tutorschaft Spaniens war bis 1909 bestimmend, mit den Angriffen auf die Minenbauarbeiten schien aber auch manchen liberalen Unternehmern die gewaltsame Unterwerfung der aufständischen Kabylen für die Wahrung ihrer Wirtschaftsinteressen als ‚unvermeidbar‘ (ebd.: 34, vgl. hierzu das nächste Kapitel). Eine große Menge an Texten wurde innerhalb des afrikanistischen Diskursfeldes in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts produziert, in der sich immer wieder die gleichen Gemeinplätze finden, die leitmotivisch zur Legitimierung der spanischen Vorherrschaft über Marokko bis zum Ende des Protektorats aktiviert wurden: Die besondere kulturelle und geographische und auch rassische Affinität Spaniens zu Marokko und die islamische Vergangenheit der Halbinsel wurden zu Argumenten umfunktioniert, die Spanien eine historische Sondermission in Afrika einräumten (Martín Márquez 2008: 51-52). Der Norden Afrikas wurde als natürliche Verlängerung Spaniens verstanden, deren Grenzen man im Atlas-Gebirge sah. Gleichzeitig war es zentral, neben dieser Nähe den Abstand zwischen den Kulturen zu behaupten: Eine wesentliche Rolle spielten evolutionistische, bzw. degenerative Geschichtsauffassungen, die nach einer gemeinsamen geschichtlichen Hochphase von Al-Andalus (als eine Art glückliche Kindheit von Brüdern) den zivilisatorischen Abstieg Marokkos gegenüber dem Aufstieg Spaniens behaupteten (Mateo Dieste 2000: 224226): Der Islam war demnach gegenüber der Kulturblüte von Al-Andalus kontinuierlich degeneriert und hermetisch isoliert und verlangte nun nach der zivilisierenden Hilfestellung Spaniens, das gegenüber Marokko die Aufgabe des Kulturbringers übernahm. So wurde einerseits die historische Verwandtschaft mit



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dem nordafrikanischen Nachbarn ins Feld geführt, um die Spanier gegenüber anderen Kolonialmächten als bessere, verständnisvollere (weniger materialistische und dafür spirituellere) Kolonisatoren darzustellen und ihnen eine privilegierte ‚Startposition‘ im ‚Wettrennen um Afrika‘ zuzuweisen, und andererseits ständig die hierarchische Differenz zum moro beschworen. Hier wiederholte der Afrikanismus alle üblichen Negativstereotype, die der koloniale Diskurs des ‚Westens‘ dem orientalischen Anderen zuschrieb und konstruierte sich damit in Anlehnung an die Großmächte eine Identität der Superiorität. Immer wieder wurde so das grausame, fanatische und wilde Naturell der Marokkaner, insbesondere der Rifberber, als Zeichen ihrer niederen Kulturstufe beschrieben. So findet sich im africanismo eine charakteristische Spaltung zwischen einem negativen und einem positiv besetzten Bild des moro, wobei letzteres durch die historische Identifikation Spaniens mit Al-Andalus zur Konstruktion eines romantisierten ‚eigenen Anderen‘ Spaniens diente und häufig mit der Figur des loyalen moro amigo koinzidierte. Diese moralische Polarisierung ging einher mit soziographischen und ethnographischen Klassifizierungen, die auf Unterscheidungen von Stadt- und Landbevölkerung, ethnischen und rassischen Differenzierungen (meist zwischen Arabern und Berbern, daneben auch von moros, judíos und schwarzen Sklaven), sowie sozialen Hierarchisierungen basierten (vgl. hierzu Cohen 1999). Die Verteilungen der Werte von negativ und positiv variierten hier und fielen – je nach den spezifischen Projektionen dessen, der die Unterscheidungen imaginativ ausgestaltete – in verschiedenen Texten manchmal gegenteilig aus. Häufig findet sich eine Differenzierung der arabisierten Stadtbevölkerung mit ‚edlen Physiognomien‘, in der man Nachfahren der Bewohner von Al-Andalus entdeckte, gegenüber den berberischen ‚ausgemergelten‘ und ‚grobschlächtigen‘ Bergbewohnern. In Zusammenhang mit rassischen Herkunftstheorien wurden jedoch auch die Berber aufgrund ihres ‚nordischen‘ Phänotypus in biologische Verwandtschaftsbeziehungen zu Europa gestellt und somit gegenüber dem moro (als ‚dunklerer‘ Rasse) aufgewertet (ebd.: 232). Während ‚der Berber‘ oft als kriegerisch, maskulin aber auch barbarisch charakterisiert wurde, wurde ‚der Araber‘ gerne als feinsinnig, poetisch, feminin aber auch dekadent beschrieben. Dabei überlagern sich außerdem die internen sozialen Hierarchien Marokkos mit der moralischen Einteilung in Typen: Der aristokratische ‚Stammesführer‘ wurde gegenüber dem marokkanischen ‚Pöbel‘ als mögliches Mitglied einer patriarchalischen Ehrgemeinschaft mit dem afrikanistischen Mann aufgewertet. Die Juden wurden immer wieder als im Dunkeln ihrer engen mittelalterlichen Ghettos darbende, bleiche und in Agonie befindliche Rasse dargestellt, die seit Jahrhunderten unter der Unterdrückung durch den moro litt und der Befreiung durch die Spanier bedurfte. Hier finden sich alle erdenklichen an-



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tisemitischen Stereotype an der Seite einer positiven Neuentdeckung ‚des Juden‘ als in der Kolonisierung nützliches Element (vgl. Kap. 2.2.3 u. 3.2.2). Um den ‚politischen Körper‘ Marokkos zu analysieren, unterschied man den Bled el Majzen (bilƗd al-ma‫ې‬zan), als Gebiet, das durch die Regierung des Sultans effektiv kontrolliert wurde, von dem Bled el Siba (bilƗd al-sƯba), als Territorium, das sich gegen die Administration des Sultans auflehnte und sich in einem politisch fragmentierten Stadium „archaischer Anarchie“ befand (Cohen 1999: 236). Mit letzterem wurden die Rifkabylen identifiziert: Die Schwäche der Zentralregierung durch den Sultan und die kriegerische Zersplitterung des Rif waren die wichtigsten Argumente, um die Einrichtung des Protektorats 1912 politisch zu legitimieren. Die Unfähigkeit zur politischen Einheit und zur Nationsbildung, die man den Rifberbern attribuierte, begann mit dem Desaster von Annual in einem offensichtlichen Widerspruch zur Realität zu stehen: Der Zusammenschluss der Kabylen unter Abd-el-Krim und die spätere Ausrufung einer RifRepublik ließ, wie sich in Kap. 2.1.2 zeigen wird, die Frage der ‚Fähigkeit zur Nation‘ des rifeño zum zentralen Thema von Literatur und Presse werden. Ohne die komplexe ethnographische und soziographische Repräsentation Marokkos zu vertiefen, sollte in dieser diskursgeschichtlichen Skizze die große Relevanz aufgezeigt werden, die der ‚Marokko-Frage‘ in der Konstruktion der spanischen Identität zukam (und auch heute noch teilweise zukommt). Der ‚Marokko-Text‘ kreiste ständig um die Frage des Eigenen und des Anderen und hatte somit eine herausragende Bedeutung in der symbolischen Ordnung der spanischen Gesellschaft dieser Zeit. In der Kriegsliteratur hallt natürlich überall das Echo dieser umfangreichen Diskursgeschichte, und wer nach der Wiederkehr diskursiver Versatzstücke sucht, wird in großem Maße fündig werden. Das afrikanistische Zeichenuniversum stellt einen zentralen Teil der interpretativen Struktur, vor deren Hintergrund man die Bedeutung der Kriegsereignisse der 1920er Jahre auslotete. In der Kriegsliteratur wird jedoch auch ein ‚Anderswerden‘ der Realität gegenüber den Sinnstrukturen dieses Diskurses erzählt – und von einer Erfahrung Zeugnis abgelegt, die sich explizit als Bruch mit diesen diskursiven Identitätsentwürfen ausstellt. Dabei verliert der ‚Marokko-Text‘ bisweilen seine Funktion kollektiver Selbstversicherung und wird zur Erzählung existentieller Selbstentfremdung, in der sich manches der imaginären Vereinnahmung und der oben dargestellten Logik des Diskurses entzieht.



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1.3.2 Ereignisgeschichte: Der Rif-Krieg und die spanische Niederlage bei Annual 1921 Was heute als weitgehend historisch gesicherte Erzählung des Desasters von Annual und des Marokko-Kriegs gilt, ist das Ergebnis eines umfassenden Aushandlungsprozesses zwischen konfliktiven Versionen und Interpretationen dessen, was im Juli 1921 und in den Jahren des Rif-Kriegs geschah – eines Deutungskonflikts, den diese Arbeit selbst partiell beleuchtet. Deshalb versteht sich der folgende kurze geschichtliche Überblick nicht als vorausgeschickte historische Wahrheit, sondern als Zusammenfassung der Konstruktion, die sich in der Geschichtswissenschaft – teilweise im Rückgriff auf Quellen, die auch hier als kulturelle Texte gelesen werden – nach vielen Jahrzehnten der Konsensfindung herausgebildet hat. Sie basiert auf den Darstellungen von Balfour 2002, Madariaga [1999] 2008, Serna 2006, Morales Lezcano 1976 und 1986, Payne 1977, Martín 1973, El-Asrouti 2007 und anderen historiographischen Studien und soll dazu dienen, die subjektiven dokumentarischen oder fiktionalen Erzählungen, Gegenerzählungen und Umschreibungen der Zeitzeugen, die in dieser Arbeit kulturwissenschaftlich untersucht werden, als – teils inkongruente – Puzzleteile vor einem größeren Bild historischer Zusammenhänge zu positionieren. Bis heute ist der Deutungsprozess der spanischen Kolonialgeschichte im Gange; das Franco-Regime behinderte jahrzehntelang den Zugang zu Archiven und militärischen Dokumenten. So blieb das Thema auch während der Transición und PostDiktatur lange im Dunkeln und war stark ideologisch gefärbt, wie sich an manchen Darstellungen zeigt.49 Insbesondere im letzten Jahrzehnt hat sich die geschichtliche Wissensproduktion über das spanische Protektorat rasant vervielfacht50 und vertieft (und auch tendenziell entideologisiert), daher bietet dieses

49 Einen polemischen Bruch mit der offiziellen Kolonialgeschichtsschreibung des Franco-Regimes vollzog insbesondere das Buch El colonialismo español en Marruecos von Miguel Martín (Pseudonym des Journalisten Fernándo López Agudín), das zugleich die Marokko-Politik der linken Regierung der Zweiten Republik äußerst kritisch beleuchtete und 1973 im Pariser Exil erschien. Wie lange sich bestimmte Argumentationsmuster der afrikanistischen Ideologen in der Geschichtsdarstellung behaupten konnten (und können), zeigt u.a. El protectorado de España en Marruecos (1992) von Salas Larrazábal. (Dort heißt es z.B. „Era aquel Marruecos anárquico, cruel, medieval e incapaz de gobernarse el que le forzó [al Sultán] a aceptar lo que para él era inaceptable: la protección extranjera“, ebd.: 74.) 50 Untersuchungen des spanischen Kolonialsystems in Marokko erfolgten mittlerweile aus der Perspektive diverser wissenschaftlicher Disziplinen, wie u.a. der Sozial- und



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Kapitel nur ein notwendigerweise stark vereinfachtes geschichtliches Resümee der Ereignisse des Marokko-Kriegs und des Weges dorthin. Dem Krieg der 1920er Jahre, der gewöhnlich als Guerra de Marruecos bezeichnet wird, gingen verschiedene militärische Konflikte zwischen Spanien und Marokko voraus. Als eine Art Verlängerung der Reconquista hatte es im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert mehrere Expansionsversuche in Nordafrika gegeben, die jedoch letztendlich auf die Okkupation militärischer Stützpunkte an der Küste (dauerhaft Ceuta und Melilla) reduziert blieben. Diese dienten vornehmlich zur Sicherung der mediterranen Seewege, ihr Kontakt mit dem Hinterland blieb weitgehend auf lokale Handelsbeziehungen beschränkt. Hier gab es in den folgenden Jahrhunderten immer wieder örtliche Grenzstreitigkeiten, Belagerungen und Ausbreitungsversuche; bis Mitte des 19. Jahrhunderts waren sie jedoch für Spanien, das sich vornehmlich auf die koloniale Expansion in Amerika konzentriert hatte, kaum von nationalem Interesse. Ab dann wurden, im Zusammenhang mit der beschriebenen Diskurspraxis, diese Grenzstreitigkeiten zum Vorwand oder Auslöser mehrerer großer militärischer Interventionen Spaniens auf marokkanischem Boden. Der erste, oben bereits skizzierte Krieg war die Guerra de África (1859-1860): Die Garnison von Ceuta hatte außerhalb der Festung den Bau eines Wachhauses begonnen, den die benachbarte cabila als provokativen Expansionsversuch deutete. Die Kabylen zerstörten die Bauarbeiten gemeinsam mit den dort errichteten, mit spanischen Wappen geschmückten Grenzsteinen. Als eine direkte Antwort des Sultans auf die symbolischen und materiellen Reparationsforderungen von spanischer Seite ausblieb – u.a. weil der herrschende Sultan Mulay Abd ar-Rahman starb und sein Nachfolger zögerte, die Konditionen zu erfüllen (vgl. Serna 2006: 178) – erklärte die Regierung unter General Leopoldo O’Donnell im Oktober 1859 Marokko im Namen der Wiederherstellung der nationalen Ehre den Krieg. Ein beachtliches spanisches Heer – zeitweise umfasste es ca. 50.000 Soldaten – wurde, von einem exaltiertem patriotischen Jubel begleitet, angeführt von O’Donnell selbst und u.a. dem legendären General Juan Prim über die Meerenge von Gibraltar geschifft und begann einen zerstörerischen Marsch in Richtung Tetuan, das vornehmliche Ziel des Feldzugs. Die provisorisch organisierten harkas51 des Sultans stellten sich den weitaus besser

Kulturgeschichte, sowie der Geographie-, Anthropologie- und Wirtschaftsgeschichte. Eine umfassende Bibliographie wissenschaftlicher Literatur zum Thema hat Vicente Moga Romero (2008) erstellt. 51 Die harka (‫ۊ‬araka) ist die traditionelle militärische Organisationsform der Rifberber. Es handelte sich meist um lose organisierte Einheiten unterschiedlicher Größe, die



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gerüsteten und zahlenmäßig überlegenen spanischen Truppen erfolglos entgegen, auch wenn vor allem der harte Winter in den marokkanischen Bergen, Überschwemmungen und Krankheitsepidemien unter den Spaniern zahlreiche Tote forderten. Wenige Monate später, im März 1860, waren die – durch die Historienmalerei und Kriegsliteratur berühmten – Schlachten von Tetuan und von Wad-Ras geschlagen, man hatte Tetuan als ‚Geisel‘ besetzt und handelte einen Friedensvertrag aus, der die geographische Erweiterung der Enklaven Ceuta und Melilla vorsah, Spanien das Anrecht auf Santa Cruz de la Mar Pequeña (das spätere Ifni) zusprach und den Sultan zur Zahlung einer hohen Geldsumme verpflichtete. Diese ‚Reparationsleistung‘, die nie ganz erfüllt werden konnte und die immensen Kriegskosten Spaniens nicht annähernd deckte, führte Marokko in den wirtschaftlichen Ruin und in eine dauerhafte politische Krise, die später die Einrichtung des Protektorats in Marokko rechtfertigen würde (ebd.: 185-188). Ende des 19. Jahrhunderts nahm ein erneuter militärischer Konflikt auf sehr ähnliche Art, in Form von kleinen Grenzstreitigkeiten, seinen Anfang: Die Guerra de Melilla oder Guerra de Margallo52 von 1893 wurde ausgelöst durch den Bau eines spanischen Militärgebäudes in Nachbarschaft zur Grabstätte eines lokalen Heiligen bei Melilla. Die angrenzende cabila reagierte auf diese Missachtung des Heiligtums auch hier zunächst mit Protest, zerstörte schließlich einen Teil der Bauarbeiten und verletzte einige Arbeiter. Der Konflikt führte ein weiteres Mal zur Konzentration eines großen spanischen Truppenaufgebots und zu vereinzelten militärischen Konfrontationen, aus denen die Spanier schließlich als Sieger hervorgingen. Nachdem Spanien 1898 mit Kuba und den Philippinen die letzten Überreste seines ehemaligen Übersee-Imperiums eingebüßt hatte, bekamen die afrikanistischen Expansionsbestrebungen neuen Aufwind. In den gleichen Jahren begann sich das Interesse der europäischen Nationen im imperialen ‚Wettstreit‘ um Afrika nun vermehrt auf den ‚Zankapfel‘ Marokko zu richten, das vor dem endgültigen Verlust seiner Souveränität stand. Wirtschaftlich befand sich Marokko zu dieser Zeit bereits in Abhängigkeit von europäischen Interessensgruppen, die das traditionelle soziale, politische und ökonomische System weitgehend zerrüttet hatten (vgl. Serna 2006: 165-172). Frankreich zeigte nach der Annexion von Algerien und Tunesien nun offen sein Interesse an Marokko und versuchte zu Be-

sich oft nur für punktuelle kriegerische Aktionen zusammenfanden und wieder auflösten. 52 Benannt nach General Juan García Margallo, dem damaligen Oberkommandanten von Melilla.



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ginn des 20. Jahrhunderts in komplexen strategischen Verhandlungen mit anderen europäischen Mächten (insbesondere Großbritannien, Italien und Deutschland) seine Vorherrschaft im Maghreb auszuweiten. Die spanische Regierung sah es als geopolitische Notwendigkeit, sich in diesem Aushandlungsprozess zu behaupten, die untergeordnete Rolle jedoch, die Spanien tatsächlich dabei zukam, schlug, wie beschrieben, eine tiefe Wunde ins nationale Selbstbewusstsein53: Nach der Interessensabgrenzung gegenüber anderen Ländern wie Italien und Deutschland fand das Machtspiel um Marokko in erster Linie zwischen Großbritannien und Frankreich statt. Ohne Spanien als aktiven Verhandlungspartner einzubeziehen, beschlossen die Regierungen dieser Länder 1904 das Rahmenabkommen, das die offiziellen Positionen festlegte: Großbritannien wurde ‚freie Hand‘ in Ägypten gelassen, im Gegenzug verzichtete es gegenüber Frankreich auf Marokko und überließ es den Franzosen, dieses in untergeordneten Verhandlungen mit Spanien in Einflussgebiete aufzuteilen (vgl. ebd.: 205217). Spanien sah sich in die Position eines „Untermieters“ verwiesen, der sein ‚kärgliches‘ kleines Stück Land an der Meerenge allein deshalb zugesprochen zu bekommen schien, da man ihn nicht als ernst zu nehmenden Konkurrenten wahrnahm. Großbritanniens Regierung erklärte sich mit der Einrichtung eines spanisch dominierten Territoriums in Nordmarokko im Grunde genommen nur einverstanden, da sie verhindern wollte, dass sich eine Großmacht gegenüber von Gibraltar etablierte. Nicht zu vergessen ist natürlich, dass bei alldem über Marokko selbst hinweg verhandelt wurde; so versuchte der Sultan Mulay Abdel-Aziz zwar gegen die Deklaration von 1904 brieflich Protest einzulegen, wurde aber durch diplomatischen Druck zum Schweigen gebracht (ebd.: 210-211). In einem Untervertrag teilten Frankreich und Spanien Marokko wenige Zeit später in Einflusszonen auf: Im Vergleich mit der Aufteilung, die bereits 1902 in einem spanisch-französischen Abkommen ohne Beteiligung Großbritanniens vorgenommen worden war, fiel das spanische Gebiet nun um einiges kleiner aus: Die schmale Zone an der Mittelmeerküste, die vornehmlich aus kargem Gebirgsland bestand, machte letztendlich nur fünf Prozent des ganzen Landes aus und besaß, bis auf Eisenerzvorkommen, für Spanien kaum wirtschaftlichen Wert. Das Gebiet war besiedelt von ca. 750.000 Bewohnern54, die meisten von ihnen Rifberber, die in tribalen gesellschaftlichen Organisationsformen mit stark segmentierten Strukturen lebten. Zur Zeit des Protektorats existierten im spanischen

53 Vgl. Morales Lezcano 1976: 30: „El complejo de inferioridad nacional frente a la pujanza europea alcanza cimas inéditas por las fechas acotadas.“ 54 Die Zahl der damaligen Einwohner beruht auf Schätzungen, die zwischen 600.000 und 1 Million Bewohner schwanken.



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Gebiet 62 verschiedene Kabylenstämmen (cabilas). Die Anerkennung von Autorität war traditionell allein durch die Stammesstrukturen bestimmt, und auch der Sultan fand als politisches Oberhaupt kaum Akzeptanz (El-Asrouti 2007: 17-18). Aufgrund dieser politischen und sozialen Struktur galt das Gebiet, das zur spanischen Zone erklärt wurde, somit als besonders schwer zu beherrschen und zu kontrollieren. Im Folgejahr wurde der französisch-spanische Vertrag von 1904 um ein Dekret ergänzt, das 1911 offiziell wurde und im Falle der politischen Instabilität Marokkos die Etablierung eines Protektorats vorsah. In der Konferenz von Algeciras 1906 wurde die ‚Tutorschaft‘ Spaniens und Frankreichs über Marokko von der internationalen Gemeinschaft offiziell anerkannt, auf sie beriefen sich die beiden Länder, als sie 1912 das Protektorat zur Realität werden ließen. Legitimiert wurde diese Intervention durch die politische Krise in Marokko, die zum großen Teil durch die drohende Kolonialisierung selbst hervorgerufen wurde: Nicht zuletzt aufgrund der Machtlosigkeit des Sultans Mulay Abd-el-Aziz und seines Nachfolgers Mulay Abd-el-Hafiz gegenüber den europäischen Übergriffen auf die Souveränität des Landes verstärkten sich in Marokko die Aufstände und Revolten der Kabylen gegen die Zentralmacht, und einzelne Führungsgestalten begannen, den Djihad anzufachen (Serna 2006: 211-216). Die wechselnden Regierungen in Spanien und die kolonialistischen Interessensgruppen werteten die Zuteilung eines spanischen Einflussgebiets in Marokko trotz allem als politischen Erfolg und vielversprechende Möglichkeit, den Verlust der Kolonien von 1898 wirtschaftlich und ‚moralisch‘ kompensieren zu können. Die sogenannte penetración pacífica begann, bei der die politische Struktur des Sultanats und des Makhzen – gemäß der Konvention von Madrid 1880 – theoretisch intakt bleiben sollte. Sie bestand zunächst vornehmlich in der Ausbeutung von Eisenerzvorkommen bei Melilla durch spanische (bzw. spanisch-französische) Aktienunternehmen, die Sociedad Española de Minas del Rif und die Compañía del Norte Africano. Zu diesen Zweck begann man ab 1907 mit dem Bau einer Infrastruktur, insbesondere einer Eisenbahn (vgl. hierzu Morales Lezcano 1976: 69-108). Die Rechte für die Erschließung der Bodenschätze hatte man örtlichen Machthabern des Rif abgekauft, allen voran dem in der Zone dominanten Bu Hamara (Bnj ‫ۉ‬imƗra), der gegenüber den Europäern als verhandlungsberechtigt auftrat und als Thronanwärter („El Rogui“) dem Sultan Konkurrenz machte. Die wirtschaftlichen Interventionen hatten eine destabilisierende Wirkung auf das politische und wirtschaftliche Gleichgewicht unter den Stämmen (vgl. Balfour 2002: 16-17): Aufgrund lokaler Machtstreitigkeiten und weil sie die spanischen Bergbaurechte im Rif in Frage stellten, erhoben sich die Berber der cabila Beni



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Urriaguel (Ait Waryiƥel) gegen den Rogui: Sie lieferten ihn an den Sultan aus und verübten im Juli 1909 Angriffe auf die Eisenbahn-Bauarbeiten, wobei sie mehrere Arbeiter töteten. Dies war der Auslöser für eine weitere militärische Konfrontation, die sich zur Guerra de Melilla von 1909 ausweitete: Die Spanier hatten die militärische Stärke der feindlichen Truppen unterschätzt und man musste im Eilverfahren Zigtausende Wehrpflichtige rekrutieren, größtenteils Reservisten aus städtischen Gebieten, die seit mehreren Jahren ins zivile Leben zurückgekehrt und auf eine derartige militärische Intervention unvorbereitet waren (vgl. Payne 1977: 159-161). Am 27. Juli ereignete sich so die folgenreiche Niederlage beim Barranco del Lobo, bei der über 150 Soldaten und Offiziere umkamen. Dieses Fiasko, das später als eine Art Vorspiel des Desasters von 1921 gedeutet wurde, führte in Spanien zu politischen Unruhen, die sich bereits während der Rekrutierung für den Krieg ankündigten und in den Streiks und blutigen Straßenkämpfen der Semana Trágica von Barcelona gipfelten. Der militärische Konflikt in Marokko wurde hier erstmals zum Auslöser und Gegenstand einer inneren gesellschaftspolitischen Konfrontation: Sozialisten, Anarchisten und Arbeiter protestierten gegen den Krieg, der im Namen der Interessen der Nation geführt wurde, nach ihrer Auffassung jedoch allein dem privaten Profit der Industriellen und Finanzoligarchie und dem hypertrophen Apparat der Offiziere dienten, die durch Kriegsverdienste die Rang- und Gehaltsleiter hinaufsteigen konnten (ebd.: 159-163). Die Kriegslast lag dabei in erster Linie auf den Schultern der einfachen Soldaten, die aus den unteren Gesellschaftsschichten stammten: Bis 1912 war es gemäß dem spanischen Wehrpflichtgesetz möglich, sich durch die Zahlung einer Geldsumme vom Militärdienst komplett freizukaufen. Wer die Summe aufbringen konnte, befreite sich von der Last des Kriegsdiensts. Die Ereignisse von 1909 führten dazu, dass sich die soziale Frage in unmittelbarer Brisanz mit der kolonialen Frage zu überlagern und sich im anarchistischen und sozialistischen Lager eine relativ einheitliche antimilitaristische und antikolonialistische Position herauszubilden begann (vgl. hierzu Bachoud 1988: 189212). Dies war zu einer Zeit, in der sich die sozialistischen Parteien anderer Länder über eine grundlegende Ablehnung des Kolonialismus nicht einig wurden, nicht selbstverständlich.55 Eine breite Politisierung der kolonialen Diskursinhalte

55 Weder die Erste noch die Zweite Internationale war in dieser Frage zu einer Einigung gelangt. Auch auf dem Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart von 1907 entschied man sich für einen Kompromiss zwischen der grundlegenden Ablehnung der imperialistischen Ausbeutung und dem Wunsch, den Sozialismus als ‚Höherentwicklung der Menschheit‘ auch in andere Länder zu tragen (vgl. Bachoud 1988: 198).



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setzte sich in diesen Jahren in Gang, wobei die ideologischen Positionen in Bezug auf den Kolonialismus erst in einen Prozess der Aushandlung traten. Besonders die gemäßigten Parteien (wie die der Republikaner) waren gespalten und verstrickten sich hier in ideologische Widersprüche (ebd.: 213-267). Der Krieg, der mehrere Tausend Tote gefordert hatte,56 wurde wenige Monate später beendet, es folgten jedoch immer wieder kleinere militärische Auseinandersetzungen im Rif. Spanien hatte so bereits kontinuierlich die militärisch besetzte Zone ausgeweitet, als Marokko 1912 in einem offiziellen Abkommen zwischen Spanien und Frankreich zum Protektorat erklärt wurde. Der Makhzen, das Verwaltungssystem des Sultans, wurde äußerlich aufrechterhalten, seine Vertreter wurden jedoch größtenteils von der spanischen Militäradministration eingesetzt und gelenkt. Das Spanien zugesprochene Gebiet wurde drei Hauptkommandanturen unterstellt (Melilla, Ceuta und Larache)57, geleitet von Generälen, die dem Hohen Kommissar von Spanisch-Marokko unterstellt waren, jedoch eine relativ große militärische Entscheidungs- und Handlungsfreiheit genossen. Um die spanischen Truppen zu schonen, begann man ab 1909 einheimische Polizei- und Militäreinheiten zu organisieren: die Policía Indígena und wenige Jahre später die Fuerzas Regulares Indígenas (kurz Regulares), für die man marokkanische Söldner anwarb. Diese dienten in den Hochzeiten des Kriegs als tropas de choque – Elitetruppen, die gewöhnlich den spanischen Truppen vorausgeschickt wurden, besonders heikle Missionen übernahmen und entsprechend hohe Verluste erlitten. Zum Zweck der Schonung regulärer Kriegsdienstleistender wurde außerdem einige Jahre später (1920) unter der Führung von General José Millán Astray, einem Veteran aus dem Philippinen-Krieg, die (Fremden-)Legion (Tercio de Extranjeros) ins Leben gerufen, die als eine Art Sammelbecken von Heimatlosen und sozial Marginalisierten eine zentrale Rolle bei der militärischen Unterwerfung des Rif spielen und eine eigene Subkultur der Gewalt herausbilden sollte (vgl. Kap. 4.1). Die spanische ‚Schutzherrschaft‘, die zunächst noch den Anspruch einer penetración pacífica erhob, bestand so in den ersten fünfzehn Jahren, neben dem kaum lukrativen Bergbau, in erster Linie in der oft mit brutaler Gewalt erzwungenen militärischen Besetzung des Gebiets. Nach der Annexion Tetuans, das zur Hauptstadt von Spanisch-Marokko ernannt wurde, war man anfangs damit beschäftigt, den westlichen Teil der Zone unter spanische Kontrolle zu bringen.

56 Die in den Quellen angegeben Zahlen schwanken gemäß Payne (1977: 167-168) zwischen ca. 2500 und 4000 Kriegstoten auf spanischer Seite. 57 1919 wurden diese auf zwei Kommandanturen umverteilt: Ceuta (zuständig für das westliche Gebiet) und Melilla (zuständig für das östliche Gebiet).



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Die Politik der Unterwerfung war hier geprägt von den Konflikten mit dem lokalen Machthaber Mulay Ahmed el Raisuni (bzw. el Raisuli) der bis 1915 mit den Spaniern ein andauerndes Katz-und-Maus-Spiel spielte und einen Guerillaartigen Kleinkrieg führte und dann, durch ein Abkommen mit dem Alto Comisario Gómez Jordana, seine oft grausame Herrschaft nun unter der ‚Tutorschaft‘ Spaniens ausweitete (Martín 1973: 49-59; Madariaga [1999] 2008: 447): Demnach wurde dem Raisuni die Regierungsautorität über das Gebiet der aufständischen Kabylen zugesprochen, die er nun im Einverständnis mit den spanischen Militärs und finanzieller und materieller Unterstützung Spaniens unterwerfen sollte. Dies ermöglichte zwar den Vormarsch der Spanier in das westliche Rif, der Raisuni entpuppte sich jedoch als unkontrollierbarer Machtfaktor, da er immer wieder mit anderen Parteien gegen die Interessen Spaniens paktierte und mit allen möglichen Mitteln die Autorität der spanischen Militärs unterwanderte. In ihrer Politik der Gewinnung von marokkanischen Verbündeten, meist mittels ‚Pensionszahlungen‘ und Vorteilsversprechungen an einzelne Kabylenführer, verstrickte sich die spanische Militärführung im Rif in komplizierte lokalpolitische Vorgänge und Fehden, die sie weder durchschauen noch richtig kontrollieren konnte (vgl. hierzu Madariaga [1999] 2008: 462-467). Das spanische Militär war häufig nicht in der Lage, den verbündeten cabilas den Schutz vor feindlichen Kabylen zu garantieren, sodass viele Anführer in ihren Allianzen uneindeutig blieben. Die Spanier selbst betrieben eine Politik der Inkonsequenz und Unentschiedenheit, die große Mengen des spanischen Militärhaushalts verzehrte, ohne dass für die Bevölkerung des Protektorats in irgendeiner Form der ‚Fortschritt‘ spürbar geworden wäre, in dessen Namen die Spanier das Rif ‚befriedeten‘. Das Gegenteil war der Fall: Die lokale Subsistenzwirtschaft und das soziale Gleichgewicht wurden zerrüttet, die vorhandene Infrastruktur nicht verbessert, sondern vielmehr zerstört. Nach einer relativen Ruhephase während des Ersten Weltkriegs, in der man weitere militärische Expansionen in Marokko eher vermied, auch um nicht in Konflikte mit anderen europäischen Staaten verwickelt zu werden, begann ab 1919 unter der Leitung des neuen Alto Comisario General Dámaso Berenguer eine erneute breite Offensive. Die spanische Regierung sah sich veranlasst, gegenüber den Großmächten zu demonstrieren, dass sie ihrer Verpflichtung nachkommen und die Aufgabe der politischen Kontrolle ihrer Zone erfüllen konnte – nicht zuletzt, weil Frankreich bereits einzelne militärische Übergriffe auf das spanische Gebiet unternommen hatte. Das spanische Militär setzte die Annektierung des westlichen Rif fort und versuchte, das Herrschaftsgebiet des Raisuni, der den Spaniern nun wieder als militärischer Feind gegenüberstand, seiner Autorität zu unterstellen. Schließlich gelang 1920 die Einnahme der ‚heiligen Stadt‘



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Xauen (Chefchaouen, Aššawen bzw. ŠafšƗwn), der die Afrikanisten ein großes symbolisches Gewicht zusprachen (vgl. Kap. 2.2.3). Ab 1920 begann die Offensive im östlichen Teil des spanischen Einflussgebiets, das bis zu diesem Zeitpunkt in der politischen Realität über die Umgebung Melillas kaum hinausreichte. In nur zwei bis drei Jahren glaubte das militärische Kommando, das gesamte Gebiet unter spanische Kontrolle bringen und die östliche mit der westlichen Besatzungszone verbinden zu können (Balfour 2002: 53). Unter der Führung von General Manuel Fernández Silvestre, einem KubaKriegsveteranen der alten Schule, der eine enge Verbindung zum König Alfonso XIII unterhielt und zu einem zentralen Akteur und einer wichtigen Symbolfigur der Niederlage von Annual werden würde, begannen die Truppen der Kommandantur von Melilla einen waghalsigen Vormarsch ins Zentralrif. Im Januar war man, ohne auf großen Widerstand zu stoßen, bereits weit vorgedrungen und hatte in Annual, einem verlassenen Ort in ca. 90 Kilometer Entfernung von Melilla, einen größeren militärischen Außenposten errichtet, der als Ausgangspunkt für die militärische Durchdringung des Gebiets der aufständischen cabila Beni Urriaguel dienen sollte. Bei der Okkupation des östlichen Rif operierte man nach dem sistema de posiciones: Die ungefähr 12.000 Soldaten der Kommandantur von Melilla, die tatsächlich einsatzbereit waren,58 waren auf 130 Stützpunkte verteilt, die eine imaginierte Frontlinie von ca. 80 Kilometern bildeten (ebd.: 67). Manche dieser Stellungen waren nur wenige Quadratmeter große Mini-Forts, die von einer kleinen Anzahl Soldaten verteidigt wurden: die blocaos, benannt nach dem deutschen „Blockhaus“. Viele der kleineren Posten waren von größeren Stützpunkten abhängig, die sie mittels Konvois mit Lebensmitteln und Munition versorgten; die meisten Stützpunkte, auch Annual, mussten ihr Wasser aus einer Entfernung von mehreren Kilometern heranschaffen. Die scheinbare Abwesenheit von Feinden, ein Hang zur militärischen Selbstüberschätzung und auch ein fester paternalistischer Glaube an die humanitäre Dringlichkeit der spanischen ‚Intervention‘ (ebd. 65-66) ermutigte Silvestre zu seinem Plan, seine Offensive unmittelbar in Richtung Alhucemas (Al Hoceima, bzw. al-‫ۉ‬usayma), der wichtigsten Stadt des Zentralrifs und dem Kern des Widerstands fortzusetzen, ohne die neue Front zu konsolidieren und die Truppen bei Annual und ihre Ausrüstung aufzustocken. Wie Balfour unterstreicht, gab es keinen Plan für einen Rückzug: „Silvestre refused to imagine anything other than victory.“ (Ebd.: 81) So etablierte er Anfang Juni wenige Kilometer von Annual

58 Dies waren nach Balfour (ebd.) weniger als die Hälfte der offiziell registrierten Soldaten, ein großer Teil der Truppen war aufgrund von Krankheit nicht einsatzbereit, daneben befanden sich viele Offiziere und Soldaten inoffiziell nicht auf ihrem Posten.



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eine weitere Stellung auf dem Berg Abarrán (Ubarran), wo er eine Wachmannschaft hinterließ. Abarrán sollte das erste Glied in der Kette der fallenden Stützpunkte werden: Wenig später wurde es von den aufständischen Berbern eingenommen, wobei die Spanier noch eine Überraschung erlebten: Die Policías Indígenas innerhalb der spanischen Stellung wechselten die Seite und richteten ihre Waffen gegen die eigenen Offiziere. In den später belagerten Stützpunkten entwickelte sich so eine ständige Angst, die tropas indígenas könnten zum Feind im eigenen Lager werden, wie es in vielen Fällen auch geschah.59 Bereits im Sommer 1920 kursierte die Information, dass Mohammed Abd-elKrim (Mu‫ۊ‬ammad Ibn ҵal-KarƯm al-‫ۏ‬a‫ܒܒ‬ƗbƯ), das Oberhaupt der Beni Urriaguel (Ait Waryiƥel), begonnen hatte, eine harka gegen die Invasoren zu mobilisieren; man maß dem aber bis zu dem Moment, da das Desaster über die Truppen bei Annual hereinbrach, nicht die nötige Bedeutung zu. Der komplexen Gestalt Abdel-Krims, der mit seinen Truppen die Kommandantur von Melilla im Juli 1921 zum Zusammenbruch führen würde, kommt in der Kriegsliteratur eine herausragende Symbolik zu: Die Erzählungen zeigen, dass gerade Abd-el-Krims Grenzgängertum zwischen den Kulturen ihn für die Spanier zu einem unkalkulierbaren Gegenüber und zur Personifizierung des besonderen Hohns der Niederlage von Annual machte (vgl. Kap. 2.1.2). Die Abd-el-Krim-Familie hatte bis zu diesem Zeitpunkt mit den spanischen Besatzern kooperiert und auch in Zeiten der offenen militärischen Konfrontation bekundete der Kabylenführer wiederholt seine Sympathie für die spanische Nation (vgl. hierzu Madariaga [1999] 2008: 405446). Die ‚westlich‘ gebildeten Männer der Abd-el-Krim-Familie hatten sich von der Kolonialisierung durch Spanien einen wirtschaftlichen Aufschwung und eine Modernisierung des Rif erhofft. Die spanischen Afrikanisten hatten ja selbst immer wieder die spanisch-marokkanische Bruderschaft beschworen, um sich im Vergleich zu den anderen Mächten (insbesondere Frankreich) als bessere, verständnisvollere Kolonialherren zu präsentieren. So glaubten Abd-el-Krims Vater und seine Söhne wohl lange Zeit an die Vorteile, die ihnen das spanische Protektorat bescheren könnte, gerieten jedoch zunehmend durch die in den eigenen Reihen wachsende Feindschaft gegen die spanischen Militärs unter Druck. „Their collaboration with the Spanish authorities“, stellt Balfour treffend fest, „was driven by pragmatism, so that their ambiguities were the ambiguities of

59 Die vielen Desertionen und Wechsel der Allianzen waren hier nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass – anders als in den Kolonialkriegen Frankreichs oder Großbritanniens – einheimische Söldner gegen ihre eigenen Landsleute eingesetzt wurden und die komplexen Beziehungen unter den Stämmen und Clans kaum zu durchschauen waren.



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Spanish colonialism.“ (Balfour 2002: 63) Verschiedene Vorkommnisse, darunter seine zeitweilige Internierung im Gefängnis von Melilla, gaben Abd-el-Krim Anlass, der militärischen Einnahme des Rif durch die Spanier mit einer zunehmenden Ablehnung gegenüber zu stehen und am Nutzen der spanischen ‚Tutorschaft‘ zu zweifeln. Als spanische Flugzeuge die Bombardierung von Ortschaften im östlichen Rif begannen, verstärkte sich die Feindseligkeit der Kabylen gegen die Besatzer noch (ebd.: 69). Auch wenn aus der retrospektiven Perspektive der Geschichtswissenschaft das Desaster als logische Konsequenz einer Reihe von Faktoren erzählt wird, die scheinbar notwendig zum Zusammenbruch der Kommandantur von Melilla führten, so fällt die Geschichte aus der Sicht der involvierten Akteure ganz anders aus: Die spanischen Truppen bei Annual wurden vom Angriff einer derartig großen, gut gerüsteten und organisierten harka, wie sie unter der Führung Abd-elKrims vereint wurde, komplett überrascht. Ihr sistema de posiciones, das bis hierhin scheinbar erfolgreich funktionierte, entpuppte sich nun als gefährliche Falle: Den Rifberbern gelang es, die Posten von der Versorgung mit Wasser, Nahrung und Munition abzuschneiden, indem sie die Versorgungskonvois angriffen und die Stellungen umzingelten. Ab dem 17. Juli wurde der Stützpunkt Igueriben, der gerade erst wenige Kilometer von Annual entfernt etabliert worden war, von der harka Abd-el-Krims belagert. Von den schrecklichen Tagen der Belagerung und dem Fall der Stellung berichtet u.a. der überlebende Offizier Luis Casado y Escudero ([1923] 2007): Die Mannschaft wartete vergebens auf die Konvois aus Annual,60 innerhalb kürzester Zeit war das Trinkwasser verbraucht und man begann die Flüssigkeit aus Konservendosen, Tinte und schließlich (mit Zucker versetzten) Urin zu trinken. Da man ununterbrochen unter Beschuss stand, war es nicht möglich, die Tier- und Menschenleichen, die sich häuften, aus dem Lager zu schaffen oder zu begraben. So musste man die schreckliche Präsenz und den andauernden Gestank der Verwesung ertragen. Eine Verbrennung war ausgeschlossen, da kein Brennmaterial vorhanden war und der aufsteigende Rauch die Heliographen-Kommunikation mit Annual verhinderte. Eine letzte Rettungskolonne aus Annual, die auf den Weg geschickt wurde, scheiterte und erlitt enorme Verluste. Die Zahl der Verletzten und Fieberkranken stieg ständig, viele verloren den Verstand und manche versuchten, aus Verzweiflung ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. Nachdem die letzte Munition verteilt war, versuchte man am 21. Juli das Kriegsmaterial zu vernichten und leitete den ‚Rückzug‘ ein: Die übrig gebliebenen Soldaten verließen die

60 Einem Konvoi gelang der Durchbruch, die Wasservorräte waren jedoch auf dem Weg größtenteils verloren gegangen.



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Stellung und wurden sofort von den Belagerern niedergemetzelt, nur einer Handvoll der Männer gelang die Flucht.61 Bezüglich der Frage, wann Silvestre den Hohen Kommissar Berenguer zum ersten Mal um Truppen- und Ausrüstungsnachschübe gebeten habe, divergieren Quellen und historische Darstellungen.62 Der genaue Ablauf der Kommunikation zwischen Silvestre und Berenguer am Vorabend des Desasters ist umstritten, weil damit die zentrale und viel diskutierte Frage verknüpft ist, wem die Hauptschuld am Desaster zugeschrieben wird. Sicher ist jedoch, dass Silvestre nach dem Verlust von Igueriben verzweifelte Versuche unternahm, um den nun unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch der anderen Stellungen zu verhindern, sie kamen jedoch zu spät: Es blieb weder Zeit, größere Truppen auf dem Land- oder Seeweg in die Nähe zu bringen, noch Schiffe an der Küste für den Abzug der Truppen bereit zu stellen. Der General verhandelte mehrfach mit Berenguer und seinem Offiziersstab und schwankte zwischen den Optionen der Evakuierung und der Verteidigung der Stützpunkte – einer Wahl, die der zwischen Skylla und Charybdis glich: In beiden Fällen hatten die Soldaten kaum Überlebenschancen. Das eigentliche Desaster datieren die Historiker auf die Zeit zwischen dem 22. Juli und dem 8. August: In diesem Zeitraum wiederholte sich auf ähnlich schreckliche Weise in beinahe allen anderen Stellungen, was in Igueriben seinen Anfang nahm, und ca. 10.000 spanische Soldaten kamen ums Leben63. Die Posten, die die Frontlinie markierten, fielen nacheinander wie Dominosteine. Am

61 Allem Anschein nach sind die Ereignisse des Desasters, die Ramón Sender in seinem Roman Imán erzählt, eine fiktionalisierte Variante der Geschehnisse in Igueriben, wie auch Pérez-Dueño (1991: 185) festgestellt hat. Demnach spielt Sender mit seiner fiktiven Figur Viance das Schicksal durch, das einem dieser Überlebenden auf seiner Flucht nach Melilla widerfahren sein konnte (vgl. hierzu Kap. 5.2). 62 Gemäß Balfour (2002: 69) hatte Silvestre bereits bei seinem Treffen mit Berenguer am 5. Juni, nach dem Verlust von Abarrán, erfolglos um Nachschub an Truppen und Ausrüstung gebeten. Gemäß Payne (1977: 237) habe Silvestre bei diesem Treffen seine Zuversicht ausgedrückt, den Vormarsch Richtung Alhucemas ohne Truppennachschübe fortsetzen zu können. Einige Quellen und Geschichtsbücher betonen, dass Silvestre Berenguer erst am 20. Juli über die Brisanz der Situation ganz in Kenntnis setzte und um Aufstockung von Kriegsmaterial und Truppen bat. 63 Auch hier schwanken die Zahlen: Die offiziell von der Regierung bekannt gegebene Zahl belief sich auf 8000 Tote unter den Spaniern, an anderen Stellen wird von weit mehr als 10.000 Toten gesprochen. Die Anzahl der Opfer bei den Truppen Abd-elKrims ist nicht bekannt.



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22. Juli gab Silvestre, der am selben Tag unter ungeklärten Umständen starb, wahrscheinlich Selbstmord beging,64 in Annual den Befehl zum Rückzug, der als besonders schmachvoll in die spanische Geschichte einging. Die Evakuierung der ca. 5000 Soldaten, die hier versammelt waren, geriet zu einer panischen, ungeordneten Flucht, bei der ein Großteil der Männer ihr Leben ließ und alle militärischen Regeln außer Kraft gesetzt wurden: Man hinterließ dem Feind eine Menge funktionstüchtiger Waffen, darunter Kanonen, sowie diverse Militärdokumente und ließ die Verwundeten schutzlos zurück. Disziplin und Solidarität waren vergessen, jeder rettete sich, wie er konnte: Soldaten beobachteten, wie Offiziere ihre Rangabzeichen von der Uniform rissen, um nicht zum privilegierten Angriffsziel der Rifberber zu werden, andere Kommandanten flohen mit Gepäck in Autos und überließen die Soldaten dem sicheren Tod. Der Sieg über Annual beflügelte den Widerstand der Berber; immer mehr Kabylen schlossen sich dem Krieg, der als überregionaler Djihad ausgerufen wurde, gegen die Eindringlinge an und brachten weitere Stellungen zu Fall (Madariaga [1999] 2008: 473-476). So ergaben sich am 2. und 3. August Nador und Zeluán. Eine Fluchtwelle an verstörten, geschwächten oder verwundeten spanischen Soldaten kämpfte sich auf dem Weg nach Melilla durch ein leichenübersätes, nun offen feindliches Gebiet. Doch selbst (das mittlerweile fast soldatenleere) Melilla war in diesem Moment kein sicherer Ort mehr: Die mehrfach ummauerte Enklave, die seit Jahrhunderten in spanischer Hand war und in den Jahren des Protektorats zu einer beachtlichen Stadt mit einer großen Zivilbevölkerung heranwuchs, war nun unmittelbar von der Einnahme durch die Rifberber bedroht und befand sich im Zustand von Chaos und Panik (Martín 1973: 70). Die Inbesitznahme von Melilla wurde nach Aussage von Abd-el-Krim und Personen aus seinem Umkreis von diesem selbst verhindert, da er den Widerstand der Kabylen nicht durch ein Massaker an der Zivilbevölkerung und den Übergriff auf spanisches Territorium delegitimieren wollte.65 Als Retter Melillas feierten die Spanier jedoch die neu gegründete (Fremden-)Legion, die nun zu einem ihrer ersten Einsätze in den Hafen eingeschifft wurde.

64 Die Augenzeugenberichte divergieren hier: Nach Aussage eines Militärarztes sei Silvestre von den Rifberbern erschossen worden, wobei er sich eventuell absichtlich ihren Kugeln ausgesetzt habe, andere sahen Silvestre in seinem Zelt verschwinden und hörten einen Schuss, eine Aussage, die den Selbstmord des Generals nahelegt. Die Leiche Silvestres wurde nie gefunden. 65 Vgl. hierzu u.a. Luis de Oteyza [1922] 1923: 80 und Abd-el-Krim/Roger-Mathieu 1927: 105.



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General Navarro, der nach Silvestres Tod die Führung über das Militär im östlichen Rif übernommen hatte, war es gelungen, mit einem Teil der Truppenreste, die sich im Stützpunkt Dar Drius zusammengefunden hatten, bis in das nahe bei Melilla gelegene Fort von Monte Arruit zu gelangen. Hier warteten über 3000 Mann unter schrecklichen Bedingungen bis zum 8. August auf eine Befreiung, schließlich ergab man sich auf Befehl Berenguers. Die Militärs der Stellung hatten mit den Rifberbern eine Abmachung getroffen, sie übergaben ihre Waffen für die Schonung ihres Lebens, erlebten aber auch hier eine Überraschung (die wohl u.a. auf Verhandlungsmissverständnisse zurückzuführen war): Das Massaker an den entwaffneten Soldaten von Monte Arruit überlebten nur ungefähr 60 Männer, darunter Navarro selbst. Er geriet, wie über 500 weitere spanische Soldaten im östlichen Rif, in Kriegsgefangenschaft. Das Schicksal der Kriegsgefangenen, für deren Freigabe Abd-el-Krim eine hohe Lösegeldsumme verlangte, sollte bis Januar 1923 zum Konfliktthema der politischen Öffentlichkeit in Spanien werden. Erst nach mehrfachem Hin und Her gelangten spanische Emissäre zu einem Verhandlungserfolg und erwirkten den Freikauf gegen eine beträchtliche Summe (vgl. hierzu Madariaga [1999] 2008: 519-523). Die Nachrichten über das Desaster von Annual versetzten das ganze Land in einen Schockzustand. Das Presseaufgebot im Protektorat vervielfachte sich, und es begann das aufgeregte (zunächst journalistische und dokumentarische) Schreiben und Umschreiben des Geschehenen, wobei gleich wenige Tage nach dem Verlust von Annual eine strenge Zensur die kritische Berichterstattung behinderte (Martín 1973: 78; Payne 1977: 243). Man befragte die wenigen, im Zustand der völligen Entkräftung in Melilla eintreffenden Überlebenden und versuchte den Ereignisablauf auf der höheren Befehlsebene zu rekonstruieren. Die Öffentlichkeit spaltete sich in zwei Lager: Zum einen deutete man das Geschehen als Verrat, der den protectores durch die Rifberber zuteilgeworden war, und verlangte nach Rache in Form eines gewaltsamen militärischen Gegenschlags. Dieser implizierte die Verstärkung des kriegerischen Antagonismus und eine vorübergehende Steigerung des nationalen Einheitsgefühls: Sogleich begann man mit der Truppenmobilisierung für die Rückeroberung und die Zahl der Kriegsfreiwilligen stieg. Andererseits wurde die Frage nach den politischen und militärischen Verantwortlichen auf spanischer Seite laut, ein Thema, das die politische Öffentlichkeit unermüdlich beschäftigte und zu einer innenpolitischen Dauerkrise und mehreren Regierungswechseln führte. Neben Berenguer und Silvestre (aber auch anderen Militärs und Politikern) stand insbesondere der König, Alfonso XIII, in der Kritik, der Seilschaften mit den höchsten afrikanistischen Offizieren unterhielt: Am Vorabend des Desasters soll er seinem Günstling Silvestre ein umstrittenes, frivoles Telegramm geschickt haben („¡Olé los hombres!



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Te espero el 25“) – und darin wohl seine Erwartung ausgedrückt haben, der General solle bis zum Tag der Fiesta de Santiago, an dem der König eine Rede halten würde, das Zentralrif unter seine Gewalt gebracht haben (Payne 1977: 239). Mit der Aufklärung der Vorkommnisse wurde eine Kommission unter der Leitung von General Juan Picasso González beauftragt, einem geachteten Veteranen aus dem Afrika-Krieg. Sie sollte einen Bericht verfassen, auf dessen Grundlage die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden sollten, wurde jedoch in der Aufklärungsarbeit massiv behindert und nach und nach durch königliche Dekrete in ihren rechtlichen Befugnissen beschnitten – offensichtliche Versuche, die Verfehlungen Berenguers, des Königs selbst und anderer ranghoher Militärs zu vertuschen. Das Ergebnis war der berühmte Expediente Picasso ([1922] 2003), ein Dokument von über 2000 Manuskriptseiten, das das Ausmaß der militärischen Desorganisation, Korruption, Verschwendung und persönlichen Bereicherung der Offiziere, der Vernachlässigung der Dienstpflichten, den katastrophalen Zustand des Ausrüstungsmaterials, die strategische Unfähigkeit der Kommandanten und die mangelnde Ausbildung und Unterversorgung der gewöhnlichen Soldaten ans Licht brachte. Sichtbar wurde nun auch das schockierende moralische Fehlverhalten der Militärs gegen die einheimische Bevölkerung: Machtmissbräuche aller Art, Plünderungen, Vergewaltigungen und die Missachtung der berberischen Kultur und Religion standen in Marokko auf der Tagesordnung. Die tatsächlichen Verantwortlichen in höheren Positionen wurden zu guter Letzt aber nie richtig belangt: Das mit der Prozessführung beauftragte Militärgericht wurde stark unter Druck gesetzt und verurteilte schließlich nur ein paar unbedeutende Junioroffiziere (Balfour 2002: 76). Unter der Bevölkerung verstärkte sich somit auch die ablehnende Haltung gegenüber dem Krieg in Marokko, der Regierung66 und der Monarchie. Die Stimme der abandonistas, die die Aufgabe des Protektorats verlangten, wurde lauter. Die Kriegskosten stiegen nach dem Desaster in astronomische Höhen, in 1922 verschlang der Militäretat 51% des spanischen Gesamthaushalts (vgl. Morales Lezcano 1976: 143-150; Payne 1977: 255). Die weiterhin steigende Zahl der Toten und die harten Lebensbedingungen der Soldaten, die die Berichterstattung offenlegte, verschärften die innenpolitische Atmosphäre. Um soziale Proteste und eine Wiederholung der Semana Trágica zu verhindern, wurden im Anschluss an Annual zum ersten Mal auch die sogenannten cuotas in den Kriegsdienst nach Marokko geschickt – jene Soldaten, die dank Geldzahlungen einen verminderten Militärdienst ableisteten. Seit 1912 war das Wehr-

66 Das Desaster hatte den Rücktritt der damals amtierenden Regierung im August 1921 zur Folge.



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pflichtgesetz dahingehend geändert worden, dass ein Freikauf vom Militärdienst nicht mehr möglich war, man konnte jedoch entsprechend der gezahlten Summe den Dienst erheblich (bis auf eine Mindestzeit von fünf Monaten) verkürzen und blieb gewöhnlich in Spanien stationiert (Payne 1977: 150). Dass nun auch Familiensöhne von besserer sozialer Stellung nach Marokko geschickt wurden, hatte zweierlei Wirkung: Obwohl die generellen Lebensbedingungen sich damit für die Marokko-Soldaten verbesserten (ebd.: 251), zeichneten sich die sozialen Unterschiede der spanischen Gesellschaft nun deutlicher innerhalb des AfrikaHeers ab, da die cuotas vor Ort meist dank der familiären Unterstützung über eine bessere Ausrüstung verfügten, teilweise in Erste-Klasse-Hotels in den Enklaven residierten (Giménez Caballero [1923] 1983: 118-119) und aus gefährlichen Aktionen weitgehend herausgehalten wurden. Zum anderen begann das ‚Marokko-Problem‘ nun auch die bürgerlichen Gesellschaftsschichten unmittelbar zu betreffen. Es gerieten gebildete Männer und Universitätsstudenten in den Kontakt mit der Realität des Kriegs, unter ihnen einige, die zur kritischen Literaturproduktion über den Marokko-Krieg beitrugen (cuotas waren z.B. José Díaz Fernández und Ernesto Giménez Caballero).67 Es wurden lange Parlamentsdebatten abgehalten und parlamentarische Kommissionen eingerichtet, um die Marokko-Politik einer grundlegenden Revision zu unterziehen (Balfour 2002: 79). Als man schließlich beschloss, wichtige Verantwortliche, unter anderem Berenguer, vor Gericht zu stellen, wurde der Diskussion am 13. September nicht durch eine Klärung der Vorfälle, sondern durch den Militärputsch des General Primo de Rivera, der eine strenge und dauerhafte Zensur einführte, ein autoritäres Ende gesetzt. Annual blieb so eine offene gesellschaftliche Wunde, die nach Heilung verlangte, während das Desaster zur Vergangenheit wurde. Bereits im September 1921 hatte man mit der Rückeroberung der verlorenen Gebiete begonnen, bei der nun das ganze schreckliche Ausmaß des Desasters sichtbar wurde: Die Truppen stießen auf Tausende von halbverwesten Leichen der Soldaten, die teilweise an Durst, teilweise gewaltsam gestorben und grausam verstümmelt waren. Die Überreste ließen eine ungefähre Rekonstruktion der schrecklichen Ereignisse zu, die sich hier in den Tagen der Belagerung und des Massentods abgespielt haben mussten. Abd-el-Krim hatte nach den militärischen Erfolgen seine Position als Führer der aufständischen Kabylen gefestigt. Unter ihm war zum ersten Mal ein umfassendes transtribales Bündnis im Zentralrif entstanden, das aus dem Antagonis-

67 Es lässt sich davon ausgehen, dass die Zahl an Analphabeten unter den Rekruten sehr hoch war (Martín nennt ohne Quellenverweis eine Analphabetenquote von 80%).



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mus zu Spanien ein bisher unbekanntes Einheitsgefühl bezog (vgl. El-Asrouti 2007: 71). Unter der Leitung Abd-el-Krims wurden entscheidende soziale und religiöse Modernisierungen vorgenommen und das Territorium politisch und administrativ reorganisiert, sowie die Infrastruktur (Straßen, militärisches Telefonnetz) verbessert. Abd-el-Krim wies die Ansprüche Spaniens und Frankreichs auf das Rif zurück und deklarierte die Unabhängigkeit des von ihm eroberten Gebiets, wobei er sich gegenüber seinen Landsleuten zum Emir erklärte und gegenüber den westlichen Nationen eine Republik ausrief (vgl. hierzu Kap. 2.1.2). Dem Wiedereroberungsunternehmen der Spanier setzte die harka Abd-el-Krims nun einen – auch dank der von den Spaniern verlorenen Waffen – besser gerüsteten und organisierten Widerstand entgegen. Im Juli 1923 baute sich so um die spanischen Stellungen eine erneute Belagerungssituation auf, der die Spanier mit rabiaten militärischen Mitteln begegneten: Zunehmend wurden nun die Gegner aus der Luft bombardiert, und die neuen Schocktruppen der Legion kamen erfolgreich zum Einsatz, u.a. unter dem Kommando Francisco Francos, der im Afrika-Heer eine rasante militärische Karriere bis zum Oberbefehlshaber der Legion absolvierte. Unter der Diktatur Primo de Riveras setzte sich der Krieg unter leicht veränderten Vorzeichen fort. Primo de Rivera hatte vor seiner Machtübernahme sogar für eine Aufgabe des Protektorats plädiert, und verfolgte zunächst eine Politik der Kostensenkung und ‚Schadensbegrenzung‘. Er setzte vermehrt auf Luftbombardements und Giftgasattacken, die das spanische Militär insbesondere in den Jahren 1924-1926 in erheblichen Mengen und mit schrecklichen Folgen für die Rifbevölkerung zum Einsatz brachte (vgl. insbes. Balfour 2002: 123-156; Kunz/Müller 1990). Er errichtete eine Verteidigungslinie (die sogenannte Línea Primo de Rivera) in Küstennähe, weit jenseits der neu besetzten Gebiete (vgl. hierzu Payne 1977: 293-309). Hinter diese zogen sich die spanischen Truppen zurück, als der militärische Widerstand unter Abd-el-Krim 1924 einen historischen Höhepunkt erreichte: Fast das ganze Territorium des Protektorats befand sich zu dieser Zeit im Kriegszustand, wobei sich auch viele Kabylen des westlichen Rifs nun unter der Führung Abd-el-Krims zusammengeschlossen hatten.68 Im Zusammenhang mit diesem Rückzug ereignete sich im November bei der Evakuierung der ‚heiligen Stadt‘ Xauen eine erneute militärische Katastrophe für die Spanier: Wieder kam es zu einer Belagerungssituation und einer undiszipli-

68 Der in seiner Machtposition zunehmend geschwächte Raisuni, der sich im Oktober 1923 ein weiteres Mal auf einen Pakt mit den Spaniern eingelassen hatte, wurde schließlich im Januar 1925 von Anhängern Abd-el-Krims gefangen genommen und starb kurze Zeit später (vgl. Balfour 2002: 96-97, 104-105).



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nierten und überhasteten Flucht, mit enormen Verlusten von Kriegsmaterial, insbesondere aber von Menschenleben: Mehrere Tausend spanische Soldaten69 starben durch die Attacken der Rifberber. Abd-el-Krim hatte damit dem AfrikaHeer eine weitere schreckliche und ‚schmachvolle‘ Niederlage beschert. Mit seiner Rückzugspolitik geriet Primo de Rivera unter den massiven Druck der afrikanistischen Militärs (Martín 1973: 92-93; Balfour 2002: 99-102, 105), die sich von der dem Krieg immer kritischer gegenüberstehenden spanischen Zivilbevölkerung, aber auch von den in Spanien stationierten Militärs distanzierten und sich politisch radikalisierten70 – eine Radikalisierung, die sich, wie ich in einigen der Textanalysen aufzeigen werde, auch als Bewegung in der Erzählliteratur erkennen lässt. Sie bestanden auf der militärischen Unterwerfung des Rif um jeden Preis: ‚Jetzt erst recht‘ schien diese Unternehmung von existentieller Wichtigkeit für das historische Überleben der Nation, gegenüber der sich die afrikanistischen Militärs zunehmend zu einer selbsternannten RetterGemeinschaft verselbständigten und dabei eine immer brutalere militärische Kultur ausbildeten. Um ihre Gemüter zu beruhigen, ließ Primo de Rivera viele Offiziere (wie Francisco Franco) für ihre Kriegsverdienste die militärische Rangleiter hinaufklettern. Den Spaniern gelang es schließlich nur in Form einer gemeinsamen Offensive mit dem französischen Militär, den Rif-Krieg zu gewinnen. Das Verhältnis der beiden Staaten war in all den Jahren der Nachbarschaft im spanischen Protektorat weniger von Kooperation, als von einer unterschwelligen und manchmal offenen Ablehnung geprägt: Die Spanier fanden sich, wie oben dargestellt, auf der imperialen Bühne Afrikas in einer ambivalenten Zwischenstellung wieder und sahen sich von den anderen Großmächten auf eine Position der Minderwertigkeit relegiert. Die französische Militärregierung Marokkos unter Hubert Lyautey stand den militärischen Desastern der Spanier im Rif bisher mit relativer Gleichgültigkeit gegenüber; man schrieb die Niederlagen der spanischen Unfähigkeit in der ‚Befriedung‘ ihres Teils des Protektorats zu (vgl. Hoisington, 1995: 185). Diese Situation änderte sich, als der Befreiungskrieg Abd-el-Krims auf das französisch besetzte Gebiet übergriff.

69 Die Schätzungen der Anzahl der Toten variieren hier in allen Darstellungen und weichen stark voneinander ab, sie liegen zwischen 1500 und 18.000. 70 Hier setzte sich der Konflikt der Afrika-Offiziere mit den Juntas de Defensa fort. Dabei ging es vordergründig um die Frage, ob Beförderungen aufgrund von Kriegsverdiensten vorgenommen wurden oder sich an der Anzahl der Dienstjahre bemaßen (vgl. hierzu Payne 1977: 181-219, 248-250).



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1925 starteten die aufständischen Kabylen eine breite Offensive gegen eine Reihe französischer Militärposten, die zuvor ins nördliche Ouergha-Tal (WƗdƯ Werƥa) in die spanische Protektoratszone (und dabei in Richtung des EinflussGebiets Abd-el-Krims) verschoben worden waren, brachten diese zu Fall und kämpften sich bis 30 Kilometer vor Fez vor, der Hauptstadt des französischen Protektorats. In manchen Kreisen in Französisch-Marokko begann man, den Widerstand Abd-el-Krims in eine marokkanische oder gesamtislamische Befreiungsbewegung umzudeuten. Die französische Militärregierung in Marokko nahm dies als eine Bedrohung wahr, die in einer Ketten-Reaktion das gesamte französische Kolonialreich zum Zusammenbruch führen konnte (vgl. ebd.: 198199). In Folge dieser militärischen Fehlschläge gab Hubert Lyautey das Oberkommando über die französischen Truppen in Marokko ab und musste wenig später nach über 13 Jahren bewährter Tätigkeit als Generalresident von seinem Amt zurücktreten. Verhandlungen, die Abd-el-Krim mit Vertretern der Spanier und Franzosen führte, um die Anerkennung der Unabhängigkeit des Rif zu erreichen, scheiterten. Im Sommer 1925 unterzeichneten die Regierungen Spaniens und Frankreichs einen Pakt der Kooperation zum Zwecke der militärischen Niederschlagung der Truppen Abd-el-Krims. Die zentrale gemeinsame Aktion war die berühmte amphibische Landung von Al Hoceima (Desembarque de Alhucemas), die den Krieg schließlich für Spanien (und Frankreich) entscheiden würde. Die veraltete Kriegstaktik des sistema de posiciones machte hier modernsten militärischen Strategien Platz: Begleitet von Luftbombardements und unter Einsatz von Giftgas landete am 8. September 1925 ein enormes spanisches und französisches Truppenkontingent in der Bucht von Al Hoceima, und besetzte nach langen und verlustreichen Kämpfen die Küste des Zentralrif. Von hier aus stießen sie bis nach Axdir (AЂdƯr) vor, der Hauptstadt von Abd-el-Krims Republik, und steckten diese in Brand. Währenddessen rückten die französischen Truppen in einer Großoffensive vom Süden des Rif vor, bis sie sich schließlich mit den spanischen Truppen der Kommandantur von Melilla vereinten. Damit war beinahe das ganze spanische Protektorat wiedererobert, nur einzelne Widerstandsgebiete verblieben, gegen die man erst im Folgejahr 1926 vorging. Die Entwaffnung der letzten aufständischen Kabylen durch die Spanier wurde von Bombardierungen, Plünderungen, Exekutionen, Folterungen und Vertreibungen begleitet (Balfour 2002: 115-119). Abd-el-Krim, der sich weiter ins Landesinnere zurückgezogen hatte, ergab sich schließlich und lieferte sich den Franzosen aus, da ihm von diesen eine mildere Behandlung zugesagt wurde als von den spanischen Militärs, die wiederholt auf seine Auslieferung drängten (ebd.: 114). Er wurde schließlich auf die Insel Reunion im Indischen Ozean ver-



T HEORETISCHE UND

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bannt. Erst im Juni 1927, nachdem im Winter letzte punktuelle Widerstände im westlichen Rif gebrochen worden waren, erklärte der Hohe Kommissar General Sanjurjo den Krieg offiziell für beendet: Das Protektorat, das bis 1956 bestehen blieb, galt als ‚befriedet‘. Der Marokko-Krieg sollte jedoch über sein Ende hinaus schwerwiegende innenpolitische Konsequenzen für Spanien mit sich bringen. Die umfassende Politisierung und Spaltung der spanischen Gesellschaft, die sich im Zusammenhang mit dem Krieg ereignete, trug wesentlich dazu bei, dass nur vier Jahre nach dem Kriegsende die Monarchie von der Zweiten Republik abgelöst wurde. Der Kolonialkrieg führte nicht nur zu einer generellen ideologischen Polarisierung der spanischen Bevölkerung, die koloniale Armee war zu einer Brutstätte der militärischen Eingreifmentalität geworden: Es ist allgemein bekannt, dass es eine Gruppe radikalisierter Afrika-Veteranen des rechten Lagers war, unter ihnen Francisco Franco, die im Juli 1936 gegen die demokratisch gewählte linksrepublikanische Regierung putschte und Spanien in den Bürgerkrieg führte. Weniger im gegenwärtigen kulturellen Gedächtnis präsent sind wohl die Umsturzaktivitäten republikanischer Afrika-Offiziere gegen die Monarchie, wie der Aufstand von Jaca: Im Dezember 1930 setzten der ehemalige Offizier der Fremdenlegion Fermín Galán und Hauptmann Angel García Hernández, der ebenfalls im Marokko-Krieg gekämpft hatte, eine Militärrebellion in Gang und riefen auf den Straßen die Republik aus. Im Gegensatz zum Putsch von 1936 wurde der Aufstand sofort niedergeschlagen (u.a. von monarchietreuen Truppen des AfrikaHeers) und seine Anführer in Folge exekutiert. Dass die kulturelle Bedeutung des kolonialen Desasters als traumatische Vergangenheit, die mittels machtpolitischer Maßnahmen gewaltsam verdrängt worden war, hier eine zentrale Rolle spielte, wird sich in Kapitel 4 zeigen. Der literarische Umschreibungsprozess des Marokko-Kriegs, der im Folgenden beleuchtet wird, führt bis zum Beginn der Republik. Am Ende dieses Deutungsentwurfs wird ein abschließender Blick auf die geschichtlichen Folgen der kolonialen Intervention, der Fortführung und strategischen Verschiebung ihrer Deutungs- und Handlungsmuster während der Republik und des Bürgerkriegs geworfen.



2. Das koloniale Desaster und die vergüenza: Nachahmung und Verschiebung in der Marokko-Kriegsliteratur

Auch wenn der Kolonialismus die Macht im Namen der Geschichte übernimmt, übt er seine Autorität wiederholt durch die Figuren der Farce aus. Denn die epische Absicht der zivilisatorischen Mission, die den berühmten Worten Lord Roseberys zufolge „menschlich und doch nicht ganz menschlich“ und uns „vom Finger des Göttlichen vorgeschrieben“ ist, produziert oft einen Text, der in reichem Maß aus den Traditionen des trompe-l’œil, der Ironie, der Mimikry und der Wiederholung schöpft. HOMI K. BHABHA, „VON MIMIKRY UND MENSCHEN“1

2.1 D AS S CHEITERN

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E PISCHEN

In seiner Parlamentsrede zur Frage der Verantwortlichkeiten für das Desaster von Annual breitete Indalecio Prieto als Abgeordneter der Sozialistischen Partei lang und breit eine Serie von „beschämenden Szenen“ aus, an denen sich beim Zusammenbruch der Kommandantur von Melilla die militärische Schwäche und organisatorische Nachlässigkeit, der Mangel an Ehre und Moral und die peinliche Selbstüberschätzung der Spanier gezeigt habe: „[...] hay una porción de episodios vergonzosos. No quiero haceros sentir más el sonrojo de su detalle. Allí pereció todo. Si en otros sitios con la desgracia se salvó el honor, en la

1

Bhabha [1984] 2007: 126. Lord Rosebery zitiert Bhabha nach: E. Stokes (1960): The Political Ideas of English Imperialism, Oxford: Oxford University Press, S. 17-18.

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derrota de Annual el honor no quedó a salvo. Los oficiales se refugiaban entre los mulos para librar sus cuerpos a las balas del enemigo.“ (Prieto [1922] 2003: 119-120)

Mit der Beschreibung der Offiziere, die unter den Maultieren Schutz suchen, evozierte Prieto eines von vielen Bildern, die zum Inbegriff der nationalen Schande und Beschämung wurden. Vergüenza war wohl eines der meist gebrauchten Wörter, um die kollektive Gefühlslage in Bezug auf ‚Annual‘ zu benennen. Das Verhalten der Militärs, in ihren Uniformen Vertreter des ganzen politischen Körpers, setzte das Ansehen der Nation aufs Spiel: „El Ejército [...] es la expresión de toda una nación, es la síntesis de todo un pueblo [...]. Sabemos bien hasta dónde repercuten en el alma nacional las heridas que sufre el Ejército; sabemos cuánto daña nuestro prestigio de nación en el extranjero; sentimos el bochorno de nuestra decadencia nacional cuando pasamos las fronteras y encontramos en las gentes que tiene España algo así como la pobre reputación de una nación balkánica en descomposición.“ (Ebd.: 119)

Die Evokation und Artikulation ‚nationaler Beschämung‘ im Zusammenhang mit dem Desaster von Annual ist offensichtlich in die imperiale Hierarchie-Frage verwickelt, wobei sich hier besonders deutlich zeigt, wie die koloniale Differenz in zwei Richtungen wirksam wird: nicht nur zwischen Europa und seinem Außerhalb, sondern auch in der Rangordnung innerhalb Europas, die sich an der Kolonisierungsfähigkeit misst (Mignolo 2000: 50). Die vergüenza ist zunächst gekoppelt an die Frage von nationalem Prestige und Ehre auf der kolonialen Bühne und impliziert, dass in diesem Sinne eine Identifikation mit der „pädagogischen Narration“ der Nation erfolgt,2 man sich also als Repräsentant der imperialen Vergangenheit und Zukunftsträger der nationalen Gemeinschaft verantwortlich fühlt. In dieser Bedeutung wird sie ins Spiel gebracht, um die verschiedensten politischen Rückschlüsse und Forderungen abzuleiten, die von militärischer Rache zu innenpolitischer Reform reichen. Die vergüenza ist zudem, gemeinsam mit dem Konzept der Ehre, mit Gender-Bedeutungen versehen (vgl. hierzu Kap. 3). Auf all diese Aspekte wird in späteren Kapiteln zurückzukommen sein. Zunächst lässt sich feststellen, dass die koloniale Katastrophe sowohl von Kriegsbefürwortern als auch von den Kriegsgegnern, von africanistas (wie Víc-

2

Vgl. Homi Bhabhas Aufsatz „DissemiNation: Zeit, narrative Geschichte und die Ränder der modernen Nation“ (Bhabha [1990] 2007: 205-253). Näheres hierzu in Kap. 4.



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tor Ruiz Albéniz) als auch von abandonistas (wie Indalecio Prieto oben) als beschämende Geschichte erzählt wird: „Así terminó el día 21 de julio, que merece la triste celebridad de ser marcado con piedra negra, como una de las más infaustas fechas de la historia de España. En ese día trágico, más que por lo sucedido en el espacio lamentable de sus horas, por las consecuencias sangrientas, plenas de horror que en él se engendraron, caía sobre nuestra Patria el dolor y la vergüenza.“ (Ortega y Gasset3 1922: 45) „¡Annual! ¡Annual! ¡[...] allí nació, allí se desarrolló aquella primera página, donde plasmó tanta desgracia, terror e impotencia, para vergüenza de España!“ (Ruiz Albéniz 1922a: 219)

In Der Blick des Anderen analysiert Seidler (2001) die Scham als Affekt, der eine Schnittstelle markiert, an der sich ein Wahrnehmungswechsel vollzieht: „Aus der äußeren Bruchlinie zwischen dem intentionalen Ich des Subjektes und dem Anderen wird eine innere: zwischen dem Ich und dem Selbst.“ (Ebd.: 60) Die Scham entsteht in einem Moment der Selbstbewusstheit und Selbstbeurteilung, der durch die Interiorisierung einer äußeren Beobachtungssituation erfolgt. Die Verinnerlichung dieser externen Wahrnehmungsbeziehung bedeutet einen Moment der Gewahrwerdung darüber, als Objekt des Blicks des Anderen exponiert und bloßgestellt zu sein, und somit einen Moment der Selbstentfremdung, bei dem sich das Unerwünschte als Teil des Selbst ganz plötzlich zeigt: Um zu einer solchen negativen Beurteilungssituation des Selbst zu gelangen, muss im Schamsubjekt „– schon vor seiner Rückwendung auf sich selbst – ein Urbild des ‚Anderen‘ abrufbar sein.“ (Ebd.: 42) Die emotionale Deutung des Desasters von Annual als vergüenza impliziert einen solchen Schnittstellen-Affekt, der eng verknüpft ist mit den kolonialen Alteritätskonstruktionen: In den Debatten um das Desaster zeigt sich, dass die überdeutliche Absteckung der Defizienz des Anderen, des moro, den Rahmen für die Rhetorik der Beschämung liefert. So spricht Prieto in einer früheren Parlamentsrede vom „espíritu fatalista y musulmán del gobierno“ (Prieto [1921] 2003: 15) und bezieht sich dabei auf die Handhabung der Vorfälle von Annual durch die spanische Regierung oder ‚orientalisiert‘ Spanien im Blick fremder Nationen als „Balkan-Nation im Zerfall“ (vgl. obiges Zitat).

3

Eduardo Ortega y Gasset, Bruder des bekannten Philosophen und Essayisten José Ortega y Gasset.



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Im Folgenden ist zunächst die Frage leitend, wie das ‚Desaströse‘ der Ereignisse von Annual mit der Selbstverortung Spaniens auf der kolonialen Stufenleiter verknüpft wird – ein Thema, mit dem sich die Literatur unablässig beschäftigt. Die Kriegserzählungen entpuppen sich als Ort einer gespaltenen Artikulation: Die „Nicht-Übereinstimmung, Verwerfung, Entzweiung“ (Seidler 2001: 44), die die vergüenza impliziert, manifestiert sich in einer Pendelbewegung zwischen der anerkennenden Wiederholung der Hierarchien und Wertungen des kolonialen, spezifisch orientalistischen Diskurses einerseits, der den Makel des Anderen so klar definiert, und der negativen Rückwendung des alterisierenden Blicks auf das kollektive Selbst andererseits, dessen Bild sich als zerbrochen und defekt erweist. Ein Textabsatz aus dem Vorwort der Testimonial-Erzählung Annual kann die beschriebene Dynamik veranschaulichen: „Ni tanques de ataque, ni artillería moderna y abundante, ni aeroplanos, arma de un valor estratégico en esta clase de combates, tienen nuestros soldados de África. [...] Este género de negligencia, en el que se cuenta sólo con el heroísmo de los oficiales y soldados, será muy de la vieja sentimentalidad bárbara, que igualaba a los combatientes en un juicio de Dios o en una lucha caballeresca por la dama o por el honor; pero nuestros soldados tienen derecho a no estar expuestos a cuerpo a cuerpo con un montañés de Xauen. La superioridad de pertenecer a una nación civilizada, que tiene a su servicio a la ciencia y a la técnica modernas, se ha de percibir en el conjunto como en los detalles [...].“ (Ortega y Gasset 1922: 9)

Hier zeigen sich die Bewegung zwischen den hierarchischen Positionen, die der koloniale Diskurs vergibt, und die argumentativen Verstrickungen, die daraus in vielen Texten resultieren: Zunächst wird die technische und strategische Unterentwicklung des spanischen Militärs in Afrika beklagt. Nachlässigkeit und eine ‚Kriegermentalität‘, die auf archaischen Ehrbegriffen und Gottvertrauen beruht, werden als Zeichen einer „barbarischen Sentimentalität“ gedeutet – der Gesichtsverlust wird hier mittels der Selbstzuschreibung von etablierten Negativstereotypen dargestellt, die an anderer Stelle immer wieder den moros attribuiert, aber gleichzeitig über das Assoziationsfeld der „lucha caballeresca“ als Teil des spanischen Nationalcharakters aufgerufen werden4. Im nächsten Satz jedoch schwingt das Pendel in die Gegenrichtung: Nun fordert man als moderne, wis-

4

Dies erfolgt primär über die Assoziation des Don Quijote, der sich spätestens seit der kolonialen Niederlage in Übersee von 1898 als Symbolfigur des spanischen Nationalcharakters etabliert hat.



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senschaftlich und technisch bewanderte Nation das Recht für die Soldaten ein, nicht in einen erniedrigenden körperlichen Kampf mit den „Bergbewohnern“ des Rif treten zu müssen. Prieto, frisch von einer Reise aus dem Protektorat zurückgekehrt, versichert seinen Zuhörern im Parlament: „He sentido, señores, el santo miedo al contagio de la barbarie.“ (Prieto [1921] 2003: 34) Dabei bezieht er sich auf die Grausamkeiten des spanischen Afrika-Heers in Marokko und warnt vor einem „campeonato de barbarie y de salvajismo“ mit den Rifberbern, das zu einer Wiederbelebung der Leyenda Negra führen könnte: „sería para nosotros [...] el fortalecimiento de viejas leyendas que, de incursiones militares de la España pasada, aletean todavía por el mundo“ (ebd.: 34-35, vgl. auch ebd.: 73). Ein zentrales Element der emotionalen Bedeutungsstruktur der vergüenza ist zudem das Moment der Überraschung: Seidler stellt in Anlehnung an Helen Lynd5 fest, „dass zum Schamerleben ein Erwartungshorizont gehört, in den ein von außen kommendes Ereignis einbricht, im wahrsten Sinne des Wortes ‚affizierend‘, etwas, was dem Erwartungspfeil entgegengesetzt ist, ihn quasi abtropfen lässt.“ (Seidler 2001: 31) Die vergüenza ist also charakteristisch für den historischen ‚Un-Fall‘ als Moment, in dem sich die Nation auf plötzliche Weise aus ihrer epischen Bestimmung herauskatapultiert sieht: „[...] nuestro espíritu se achica, nuestra audacia se recluye en una timidez que no sospechábamos que existiera dentro de nosotros“ (Prieto [1922] 2003: 89). In den Erzählungen findet sich daher oft eine doppelte Perspektive: In der Außensicht oder Rückschau wird das Desaster von Annual einerseits als vorhersehbar erzählt, wobei die narrative Sinngebung in erster Linie darin besteht, Kausalketten zu konstruieren, die unabwendbar auf den fatalen Zusammenbruch hinsteuern. Hier erfolgt die Verteilung von Schuld unter den Akteuren, die im politischen Diskurs so zentral ist. In der Inszenierung subjektiven Erlebens legen die Erzählungen doch andererseits großen Wert auf die Perplexität über das Hereinbrechen der Katastrophe. Gerade dies weckt das erzählerische Interesse, wie Eduardo Ortega y Gasset in Annual feststellt: „Uno de los fenómenos colectivos más digno de ser examinado [...] es el de la total sorpresa [...] con que la catástrofe llegó a sacudir fuertemente los adormecidos nervios de la opinión.“ (Ortega y Gasset 1922: 8) Viele Texte machen die Divergenz zwischen illusorischer Wirklichkeitswahrnehmung und objektiver Absehbarkeit des Verhängnisses zum spannungserzeugenden Motor der Erzählung, eine Dynamik, wie sie Prieto in einem Satz zusammenfasst: „se avanzaba, se caminaba hacia lo desconocido con una imprudencia que estaba prevista por todo el mundo“ (Prieto [1922] 2003: 127). Während sich aus der Außenperspektive das Unheil nach und nach zusammenbraut,

5



On shame and the search for identity, New York: Harcourt, Brace & World 1958.

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zeigt sich im subjektiven Erwartungsablauf überraschend ein Umschlag von der Orientierung auf das äußere Ziel hin zur Selbstgewahrwerdung, bei dem sich die Fehleinschätzung als Schock offenbart. Als Symbolgestalt für die vergüenza, die sich in diesem Umschlag einstellt, kann General Silvestre gelten, dem immer wieder eine Rittermentalität der alten Schule zugeschrieben wird: Sein kühner und rasanter Vormarsch in Richtung Alhucemas, der selbstherrliche Triumph, mit dem er sich das Territorium anzueignen glaubt, enden jäh in der Erkenntnis von Vermessenheit und Ehrverlust, der – gemäß dieser weit verbreiteten Deutung6 – den General in den Selbstmord treibt: „El comandante general, el general en cuyo valor y arrojo todos tenían fe ciega, vacilaba también; por primera vez sentía miedo [...] a la formidable catástrofe que se venía encima, al desmoronamiento de todos sus planes, a sus enemigos, que en seguida divulgarían la noticia, al fracaso de su orgullo, viéndose descender con su ejército desmoralizado, inútil, desandando el camino que con tanta gallardía y tanta orgullosa fiereza había andado antes. Aquel hombre debió sufrir enormemente: debió envejecer en un instante mil años largos [...]. ¡Qué le importaba ya todo, si se veía vencido, si aquello le hundía para siempre en la alta estimación de tantas personas con quien tenía que cumplir promesas hechas; estaba deshonrado; no le restaba más que morir! [...] Había puesto demasiado amor propio en la empresa, y el abandonar estos puestos era su desprestigio, su relevo inmediato, su baldón de ignominia.“ (Meneses 1922: 105)

Später beschreibt Meneses das Desaster von Annual als den Zusammenbruch eines kolossalen Gebäudes, dessen höchste Kuppel birst und im gleichen Moment die ganze Konstruktion wie ein Spielzeughaus mit sich reißt, sodass sich mit einem Schlag seine ganze Baufälligkeit und sein Mangel an Solidität offenbart: „[...] al caer la cúpula más alta se desmorona el edificio entero; los cimientos no son profundos, sólidos, están enclavados en el aire, y todo el edificio majestuoso, aparentemente colosal, cae en pedazos como juguete de niños, y entonces aparecen las imperfecciones que tenía, sus grietas tapadas, sus piedras carcomidas por los ácidos y el influjo del tiempo, del abandono, de la pobreza en que vivió tantos años, vacilante, trémulo, hasta que con estrépito se derrumba.“ (Ebd.: 329)

Auf ähnliche Weise wird das Zerbrechen der Erwartungsillusion in ¡Kelb Rumi! mit dem Schmelzen einer Wachstorte illustriert:

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Vgl. Kap. 1.3.2, Fußnote 64.

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„[...] aquel día en que a soplos de un pánico y merced a un inmenso aluvión de torpezas, inadvertencias, excesos de confianza e imprevisiones, el poderío español, la dominación del Rif, se hundió, en horas no más, como torta de cera puesta sobre plancha de fuego.“ (Ruiz Albéniz 1922a: 233)

In diesem Bruch zwischen Anspruch und Realität entpuppt sich der spanische Kolonialismus als eine Art ‚Schrumpfversion‘ von Imperialität. So beklagt bzw. belustigt sich die Literatur zum Beispiel darüber, dass die Eisenbahnlinie, die üblicherweise in den kolonialen Symbolwelten als Sinnbild für die wirtschaftliche Erschließung und Modernisierung fungiert, in Spanisch-Marokko als ein zwergenhafter Spielzeugzug erscheint: „un tren diminuto y como de juguete, hecho a la medida de su ingeniero, que es pequeñín cual un gnomo“ (Micó España 1922b: 46). Sender spricht in Imán von „aquella vía de juguete que se podía plegar y llevar a casa“ (Sender [1930] 2008: 192) und Giménez Caballero erzählt in seinen Notas marruecas: „Hay en proyecto, desde Tetuán, un ferrocarril de juguete, de esos que se colocan veinte veces en la vía porque se salen. En un lustro llevan cuatro kilómetros construidos. [...] No se va a ninguna parte. Por lo menos, a Xauen en tren.“ (Giménez Caballero 1983: 161) 2.1.1 Kolonialismus als Illusionstheater In diesem Szenario ist es vor allem das Wortfeld der Theatralik, das die spanische Unternehmung im Rif beschreibt. Die Auffassung des Kriegs als theatrales Spektakel hat eine lange historische Tradition und weite kulturelle Verbreitung, wie die Begriffe des „Kriegsschauplatzes“, „teatro de guerra“ oder „theatre of war“ vor Augen führen. Daneben spielt das Theatralische eine zentrale Rolle in der Geschichte der Orientrepräsentation: „The Orient seems to be [...] a theatrical stage affixed to Europe“ (Said [1978] 2003: 63, vgl. auch ebd.: 71). Die enge Verbindung von Krieg und Theater führt Vila San-Juan auf kuriose Weise in seinen Kriegschroniken vor Augen: In einem der Anfangskapitel mit dem Titel „El soldado actor“ wird die Einberufung des Afrika-Soldaten als Geschichte eines Schauspielers erzählt, der von der Theaterbühne direkt in den Krieg marschiert (Vila San-Juan s.a. [192?], 12-17). In vielen Marokko-Kriegserzählungen ist dabei das theatralische Deutungsmuster verknüpft mit dem der vergüenza (exemplarisch zeigt sich dies in Giménez Caballeros Notas marruecas de un soldado, vgl. Kap. 2.2). Es unterstreicht neben dem Inszenierungscharakter der kolonialen Unternehmung die Vorstellung eines Publikums, dessen Augen sich im Moment eines performativen Misslingens auf die spanische Nation richten. In dieser Exponiertheit verkehrt sich die übliche Blickrichtung der beurtei-



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lenden Betrachtung im Kontext kolonialer Macht. Es sind die Spanier als Kolonisatoren, die vor dem mitleidigen Blick der westlichen Imperialmächte bestehen müssen und zu Fall kommen: „Desde aquel entonces tenemos esa pesadilla; las naciones europeas miraban a la nuestra como compadeciéndola de la sangría tan constante que tenía en África.“ (Vidal 1932: 95) Mit „desde aquel entonces“ bezieht sich Vidal auf den Afrika-Krieg von 1859-1860, der eine Literatur hervorgebracht hat, die selbst exzessiv auf die Theatersemantik zurückgreift. So teilt Pedro Antonio de Alarcón in seinem Diario de la Guerra de África ([1859-1860] 1975) den Verlauf von Schlachten in Akte auf, spricht von „exposición“, „argumento“ (ebd.: 226) und versteht die Soldaten als „actores“ (ebd.: 117), aufgestellt wie Schauspieler auf einer Bühne: „[...] los capellanes de los regimientos sacan de su pecho la imagen del Crucificado; los pintores afilan sus lápices; los periodistas escriben en su libro de memorias la fecha y la hora en que principia la nueva acción; las camillas en fin son armadas en un momento y nada falta ya para dar principio al espectáculo. Puede levantarse el telón.“ (Ebd.: 182)

Die damalige Kriegsliteratur beurteilte diese Aufführung, die man gemäß Alarcón unternahm, um den Eindruck einer sterbenden Nation zu widerlegen,7 vorwiegend als romantisch-episches Heldenstück im „teatro de la gloria“ (ebd.: 171).8 Im Kontrast zu dieser sublimen Theatralik des Afrika-Kriegs bekommt der Marokko-Krieg der 1920er Jahre in einigen Erzählungen eine neue GenreKonnotation zugeschrieben: Er erscheint als „intolerable farsa“, „comedia“ (Vidal 1932: 224), „gran Guignol“ (ebd.: 12), „una nueva epopeya, cuyo comentador más adecuado sería el trujimán de las ferias andaluzas o el pintor de alelu-

7

Vgl. ebd.: 429: „Nosotros hemos venido a África [...] a demostrar al mundo que aún sabemos morir por nuestro decoro; a hacer ostentación de nuestra fuerza, primero a nuestros propios ojos, pues nosotros nos desconocíamos antes que nadie; segundo, a los ojos de los procaces mahometanos, que nos creían débiles y hundidos, y, últimamente, a los ojos de Europa, donde hace largo tiempo se nos había rezado la oración fúnebre y se nos contaba en el número de los pueblos históricos, de los pueblos muertos [...].“ (Ebd.: 429) Alarcón stilisierte sich selbst in seinem Tagebuch, das die zeitgenössische Leserschaft in minimalem Abstand zum Kriegsgeschehen verschlang, als eine zentrale Figur in diesem Heldenstück.

8

Retrospektiv wurden jedoch die lächerlichen Aspekte des Afrika-Kriegs hervorgehoben. Dies zeigt sich besonders deutlich in Benito Pérez Galdós’ literarischer Inszenierung des Kriegs in „Aita Tettauen“, einer seiner Episodios nacionales (Galdós [1905] 1951). Auch von Historikern wird der Krieg mittlerweile eher als Farce dargestellt.



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yas“ (Sender [1930] 2008: 234), „trágica comedia“ (Galán [1926/1931] 2008: 48), „comedia lamentable“ (Henández Mir 1922: 24). Man spricht von „tanta teatralidad y tanta farsa“ (Meneses 1922: 83), „tantas falsedades y comedias representadas“ (ebd.: 228), „la comedia, la bien tramada farsa“ (ebd.: 138) etc. Mit dieser theatralischen Modellgebung kippt die Ästhetik des Erhabenen ins Leere, Lächerliche und Absurd-Tragische; die koloniale Unternehmung wird zur unfreiwilligen Parodie der Geschichte, die sich im Scheitern des Epischen ereignet.9 Die geschilderte Problematik ruft Homi Bhabhas Konzept der Mimikry auf, die sich im „komischen Umschlag der hehren Ideale der kolonialen Imagination in die Niederungen ihrer mimetischen literarischen Effekte“ ereignet (Bhabha [1984] 2007: 126). Im Falle der Guerra de Marruecos zeigt sich hier eine Positionsverschiebung, die für die Zwischenstellung Spaniens in der imperialen Hierarchie bezeichnend ist. Wenn Homi Bhabha von der Mimikry als einer Farce der differenten Wiederholung spricht, bezieht er sich in erster Linie auf einen performativen Effekt, der durch die mangelhafte Imitation des Kolonisators durch den Kolonisierten hervorgebracht wird (und dabei den Nachahmungscharakter kolonialer Machtstrukturen überhaupt enthüllen kann). Die „makelbehaftete Mimesis“ erfolgt durch diejenigen, denen die Position des Anderen in der kolonialen Ordnung zugewiesen ist; sie werden zu einer „autorisierten Version der Andersheit“ und agieren als „die (an)geeigneten Objekte einer kolonialistischen Kommandokette“ (ebd.: 131). Die Mimikry ist von vorneherein von einer unaufhebbaren Differenz geprägt; die Nachahmung kann das Original als das ‚Authentische‘ nie erreichen. Im Bhabha’schen Kontext heißt dies, dass der Inder eben nie englisch sein kann, sondern ‚nur‘ anglisiert (wobei Hautfarbe und Rasse die sichtbaren Merkmale sind, um die Unüberwindbarkeit dieser Differenz festzuschreiben, ebd.: 129, 132). Es ist gerade diese Rolle der „(an)geeigneten Objekte einer kolonialistischen Kommandokette“, in der sich die Spanier gegenüber den ‚wahren‘ Imperialmächten England und Frankreich wiederfinden: „Estamos aquí como comparsas, con un papel triste y ridículo“, klagt Giménez Caballeros Alter Ego in einer Konversation mit Marokkanern aus dem französischen Protektorat, nachdem er festgestellt hat: „Nosotros, aparte de ser una raza cercana a la de ustedes, somos un pueblo débil. No podemos obrar como los franceses.“ (Giménez Caballero [1923] 1983: 173) Spanien scheint im imperialen Drama die Rolle der Verdopp-

9

In der retrospektiven Erzählung des Rif-Kriegs der 1920er Jahre aus der Perspektive der Historiographie und des historischen Romans hat sich dagegen wohl eher das Tragische als Form des Emplotments durchgesetzt.



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lung in der Nebenhandlung zu übernehmen, wie Indalecio Prieto suggeriert: „¡Todos grandes; pero la nación, pequeña! Y ha llegado el momento de sentir, en una honda conmoción de la conciencia colectiva, cuál es la realidad de nuestro papel [...]“ (Prieto [1922] 2003: 71-72). Diese Nebenrolle findet in der Mimikry des moro – als „Zeichen des Un(an)geeigneten (inappropriate), einer Differenz oder Widerspenstigkeit“ (Bhabha [1984] 2007: 127) – den Schatten einer doppelten Verschiebung dessen, was die Geschichte eigentlich vorgesehen habe: Der moro, der sich bei Annual den Spaniern entgegenstellt, so stellt Casado y Escudero in seinem Militärbericht Igueriben (1923) fest, sei nicht mehr der moro, der er einmal war, er hat sich sozusagen von seinem essentiellen moro-Sein entfernt und wolle seine „verrückten Herrschaftsträume“ nicht mehr so leicht aufgeben: „Cuando el moro era el moro hubiera bastado aquel castigo para llevar el desaliento a su ánimo, haciéndole renunciar, para siempre, sus locos sueños de dominación; pero ya hemos indicado que la jarka, acampada a nuestra vista, en nada se parecía a aquéllas con las que medimos nuestras armas en los albores de esta titánica pugna con las hordas de la barbarie. Aquello que ante nosotros teníamos era un enemigo de respeto, un adversario que ya no se dejaba dominar por la impresión de un hecho adverso, dispuesto a llegar hasta el fin [...].“ (Casado y Escudero [1923] 2007: 55, Hervorh. im Original)

Casado y Escudero, nach eigenen Angaben der einzige Offizier, der das Desaster in der Stellung Igueriben überlebte, erzählt von der Verblüffung der spanischen Militärs, dass die „barbarischen Horden“ sich in einen wohl organisierten, disziplinierten Gegner verwandelt hätten, der sich moderner militärischer Strategien bediene: „No eran, en fin, aquellas jarkas que se lanzaban al combate con el ciego furor del fanatismo, y entre una infernal algarabía, llegaba hasta las bocas de los cañones, perdida, por la embriaguez del odio, la noción del peligro. El moro aquel [...] había desaparecido para dar paso al guerrero a la moderna, hábilmente adiestrado en los novísimos métodos de combate, sujeto a los dictados de la disciplina y espléndidamente dotado de cuantos elementos constituyen el complemento de un ejército en campaña. El viejo Rif, belicoso, con sus defectos de organización, encadenado a sus rancios y supersticiosos prejuicios, que tanto contribuyen a anular su eficiencia bélica, se había hundido al peso de la férrea voluntad de un hombre, y sobre el polvo de sus ruinas, se alzaba, como un titán, el Rif, soberbiamente altivo, cuya brava alma, orientada por los cauces de la disciplina, se presentaba ante nosotros en un titánico alarde de indomable Poderío...“ (Ebd.: 51)



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Es geht hier jedoch nicht nur um die Erzählung eines Überraschungserlebnisses, Casado y Escudero vollführt einen argumentativen Spagat: Es gilt zum einen, die Schmählichkeit der spanischen Niederlage zu mildern, indem die Fähigkeiten des Gegners aufwertet werden, und zum anderen, den grundlegenden zivilisatorischen Abstand zwischen Spaniern und Rifberbern zu reartikulieren, der den ganzen Kolonialkrieg überhaupt erst legitimiert. Wie viele andere spanische Militärs versucht der überlebende Offizier das Vorgefallene in die gewohnten diskursiven Bahnen zu lenken, indem er Essentielles von ‚Uneigentlichem‘ unterscheidet. Er besteht auf der imperialen und epischen Bestimmung Spaniens jenseits des Augenblicks, und beschwört rhetorisch die wesenhafte Unterlegenheit der (siegreichen) Rifberber. So richtet er zum Beispiel einen eigenen Abschnitt mit der Überschrift „El moro“ ein (ebd.: 43), der sich der kollektiven Charakterbeschreibung widmet: Die historische Erzählung des Ereignisses wird vorübergehend zum Stillstand gebracht um die Stereotype zu wiederholen – eine äußerst typische Strategie in der Kriegsliteratur. So einfach, wie Said dies in Orientalism beschreibt (vgl. Kap. 1.1.1), lässt sich die widersprüchliche Wirklichkeit jedoch nicht rhetorisch vom Tisch wischen: Eine anschauliche Kostprobe der komischen Implikationen des diskursiven Beharrens gegenüber einer ‚anders gewordenen‘ historischen Realität liefert Fernández Flórez’ Satire Aventuras del Caballero Rogelio de Amaral (1933): „Ignoro si otras más fuertes desventuras habrán hecho olvidar a los españoles aquel 13 de julio en que las hordas bereberes avanzaron con ímpetu increíble, arrollándolo todo, sin respeto a la civilización que representaban nuestras banderas ni a la brillante historia que mancillaban al derrotarnos. Eran, al fin, pobres tribus semisalvajes que lo ignoraban todo. Los diarios de aquella época narraron el representativo caso del comandante Bulnes, que se decidió a gritar dignamente a los moros que le perseguían con mayor ligereza de la que él y los suyos ponían en huir: –¡Respetad a los nietos de los conquistadores de América! Pues bien, le hundieron una gumía en la garganta. En aquella lucha faltaba esa caballerosidad que se aconseja siempre al enemigo en las columnas de los periódicos, [...] aquella retirada no fue una fuga, sino más bien un movimiento desdeñoso de nuestro Ejército que cedió a esta justa preocupación: –No vale la pena de seguir luchando contra estos bárbaros.“ (Fernández Flórez 1933: 90)

Die Textstelle führt das lächerliche Scheitern erhabenen Sprechens vor, das sich in der Literatur der Beteuerung unfreiwillig ereignen kann. So auch in manchen Sätzen aus der Feder Casado Escuderos, die dem oben parodierten Sprechakt des General Bulnes sehr nahe kommen: „Nuestra tensión de nervios sube por grados



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por no poder demostrar al enemigo nuestra superioridad, imponiéndole un castigo proporcional a la osadía de que hace gala.“ (Casado Escudero [1923] 2007: 77) Casado Escudero ist irritiert, dass die Rif-Krieger, die den spanischen Stützpunkt belagerten, das militärische Handeln der Spanier kopieren – und dies direkt vor deren Augen: „Hacen revelos, a nuestra vista, con el mayor descaro; y rasgando las sombras nocturnas, se percibe la mortecina luz del farolillo de la ronda, que recorre los puestos para cerciorarse de que el servicio se hace con regularidad. ¡Como nosotros!...“ (Ebd.: 60, Hervorh. im Original) 2.1.2 Abd-el-Krims Mimikry Der „mimic man“ mit dem größten symbolischen Gewicht in der MarokkoKriegsliteratur ist Mohammed Abd-el-Krim (Mu‫ۊ‬ammad Ibn ҵal-KarƯm al‫ۏ‬a‫ܒܒ‬ƗbƯ) als Anführer der aufständischen Kabylen. Tatsächlich verfolgte Abd-elKrim gegen die Kolonialisierung durch Spanien eine komplexe Taktik von bewaffnetem Widerstand und Mimikry, in Form einer strategischen Aneignung und Rückspiegelung bestimmter Methoden, Diskurse und Gesten der europäischen Akteuere im Spiel der wirtschaftlichen und politischen Interessen.10 Unter seiner Leitung wurden die nach traditioneller Art provisorisch organisierten harkas strategisch und formal immer mehr an das spanische Militär angeglichen. Im Zuge seiner Staatsgründung (vgl. unten) rief er zudem eine reguläre Armee mit fester Besoldung ins Leben, die einer militärischen Disziplin nach dem Modell europäischer Militärsysteme unterworfen wurde. Unter anderem soll Abd-elKrim den Stechschritt eingeführt haben, den Millán Astray seinerseits nach preußischem Vorbild in der spanischen Fremdenlegion etabliert hatte (Balfour 2002: 191). Ruiz Albéniz zeigt sich in seinem Bericht über das Desaster von Annual Ecce homo (1922b) darüber beunruhigt, dass der Führer der aufständischen Rifberber zwar militärisch immer mehr wie ein Europäer agiere, dabei jedoch in seinem äußeren Erscheinungsbild zunehmend ‚verwildere‘ und so die militärische Performanz entweihe: „[...] se atreve todo, y prescindiendo de hábitos adquiridos en su vida entre nosotros anda sucio y tostado por el sol como cualquier montañés. [...] Ha buscado aquellos indígenas que han servido en Regulares o Policía para que sirvan de instructores, los ha dividido en

10 Vgl. Sasse 2006: 358: „Der Rif-Krieg ist ein herausragendes Beispiel für die zur Durchsetzung der eigenen Interessen durchgeführte Funktionalisierung europäischer Wirtschafts-, Propaganda- und Politikmethoden durch eine vom europäischen Imperialismus bedrohte Bevölkerung.“



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grupos más o menos numerosos, que hacen instrucción guiados por sus jefes; les ha dado banderas, ha construido trincheras, ha recogido dos o tres cañones y dos fusilesametralladoras [...].“ (Ruiz Albéniz 1922b: 275-276)

Der größte Feind der spanischen Militärs ist eine Figur, die den Zwischenraum bewohnt: Einerseits als „el menos moro de los moros“ (Oteyza [1922] 1923: 87) eingestuft, erscheint er in der spanischen Erzählliteratur und Berichterstattung andererseits immer wieder als besonders hinterlistiger und doppelgesichtiger Manipulator im politischen Spiel,11 womit sich eine Eigenschaft, die der afrikanistische Diskurs dem moro im Allgemeinen eigen nennt, in seiner Figur zu potenzieren scheint: „Ocultando bajo el disfraz de la sonrisa aduladora y la estudiada zalema la doblez de su alma ruin, hace constantes manifestaciones de su amor a España, a cuya leal amistad debe el prestigio de que está investido [...].“ (Casado y Escudero [1923] 2007: 71) Abd-el-Krim wird so in den spanischen Marokko-Texten zur Verkörperung der Unmöglichkeit einer endgültigen politischen und kulturellen Aneignung des ‚reformierten‘ moro. Der Sohn des Kadis der cabila Beni Urriaguel kreuzte in seiner Biographie mehrfach die Grenze zwischen der spanischen und berberischen Kultur: Er ging unter anderem in Melilla zur Schule und übte dort später die Funktion eines Kadi, eines islamischen Richters im Dienste der spanischen Militäradministration aus. Er arbeitete als Übersetzer für die Oficina Central de Tropas y Asuntos Indígenas in Melilla und schrieb Artikel in arabischer Sprache für die spanische Tageszeitung El Telegrama del Rif. Wie sein Vater kollaborierte er in den ersten Jahren des Protektorats mit den Spaniern, da er in der Erschließung der Bodenschätze und der Errichtung einer Infrastruktur eine Chance auf eine wirtschaftliche, technische und auch gesellschaftliche Modernisierung des Rif sah. Es gibt sogar Dokumente, nach denen Abd-el-Krim die spanische Staatsbürgerschaft beantragen wollte12, und die Ironie der Geschichte wollte es, dass er für seine Verdienste für Spanien zum „Caballero de la Orden de Isabel La Católica“ ernannt

11 Ähnliches stellt Madariaga (2002b) bezüglich des Bilds Abd-el-Krims in der spanischen Presse fest. So heißt es dort über die kriegskritischen Zeitungen: „Tratan de demostrar que Abd-El-Krim, como antiguo amigo de España, no es ‚salvaje‘ como los demás ‚moros‘, sino un ‚civilizado‘.“ (Ebd.: 206) An anderen Stellen werde Abd-elKrim insbesondere über seine „doblez“, „falacia“ und „argucia“ definiert (ebd.: 214216). 12 Vgl. Serna 2006: 223 im Verweis auf Germain Ayache, „Les implications internationales de la guerre du Rif, 1921-1926“, in: Etude d’histoire marocaine, Rabat 1979: o.S.



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wurde und verschiedene andere militärische Auszeichnungen verliehen bekam (Martín 1973: 67; Madariaga [1999] 2008: 414). Angesichts der politischen Situation, in der sich Marokko befand, zog er wohl aus strategisch-pragmatischen Gründen die Spanier als protectores den Franzosen vor, nicht zuletzt, weil er aufgrund der außenpolitischen Schwäche Spaniens einen größeren Handlungsspielraum zu bewahren hoffte (Balfour 2002: 62; Serna 2006: 222; Madariaga [1999] 2008: 408-409).13 Doch die Zusammenarbeit mit den Spaniern wurde zu einem zunehmend schwierigen Balance-Akt in der Interaktion der verschiedenen politischen Kräfte, je deutlicher sich die zerstörerische Wirkung der spanischen Kolonialpolitik zeigte. Während des Ersten Weltkriegs wurde Abd-el-Krim aufgrund der Kollaboration seiner Familie mit den Deutschen und Türken gegen die Franzosen beinahe ein Jahr lang im Gefängnis von Melilla als eine Art Geisel festgehalten, um seinen Vater von anti-französischen Aktivitäten abzuhalten. Spanien wollte seine Neutralität gegenüber dem mächtigen Protektoratsnachbarn wahren und befürchtete, dass eine islamische Solidarisierung der Rifberber mit der Türkei auch zu Revolten gegen die eigene militärische Besatzung führen könnte (vgl. Madariaga [1999] 2008: 415-433).14 Bei einem Fluchtversuch brach Abd-el-Krim sich ein Bein, woran ihn ein bleibendes Hinken – in der spanischen Literatur als Zeichen eines schwelenden Rachegelüstes gedeutet – erinnern sollte. Die Gefangenschaft trug wohl entscheidend zum endgültigen Ende der pragmatischen Einstellung zu den spanischen protectores bei, auch wenn Abd-elKrim weiterhin strategische Allianzen mit den Spaniern einging. 1919 kehrte er schließlich in seine cabila zurück, doch noch wenige Monate bevor er die Kommandantur von Melilla mit seiner harka so ‚schmählich‘ in die Knie zwingen sollte, verhandelte er in Angelegenheiten des Minenbaus mit spanischen Unternehmern (Balfour 2002: 62). Für viele Spanier war Abd-el-Krims Verwandlung vom dekorierten moro amigo zum schlimmsten Feind ein Beweis der Hypokrisie, der Rachelust und des Verrätertums des moro. Er wurde so zur Inkarnation der kolonialen Projektionen

13 In den Mémoires d’Abd-el-Krim recueillis, das Ergebnis eines Interviews des französischen Reporters J. Roger-Mathieu mit Abd-el-Krim im Moment seiner Auslieferung an Frankreich, betont der Kabylenführer hingegen immer wieder seine große Zuneigung zu Frankreich und die Überlegenheit der französischen Protektoratsmacht gegenüber der spanischen (Abd-el-Krim/Roger-Mathieu 1927). 14 Abd-el-Krim gibt in den Mémoires an, die Spanier hätten ihn zu anti-französischen Aktivitäten angestiftet und ihn festgehalten, da er diese verweigert habe (Abd-elKrim/Roger-Mathieu 1927: 63). Diese Aussagen sind jedoch aufgrund des Rechtfertigungcharakters des Textes problematisch.



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von Paranoia und Schuld, die den moro amigo unter den Generalverdacht der Falschheit und des Verrats stellen.15 Tatsächlich spiegelte sich in Abd-el-Krims Person – wie auch in anderen lokalen Führungsgestalten wie dem Rogui und dem Raisuni – das Doppelspiel von Freundschaftsbekundung und brutaler Gewalt, das die Spanier selbst bei der Unterwerfung des Rif trieben. Abd-el-Krim warf seinerseits – im Moment seiner (Selbst-)Auslieferung an Frankreich – in den an ein französisches Publikum gerichteten Mémoires (Abd-el-Krim/RogerMathieu 1927) den Spaniern ein ständiges Spiel von Lüge und Verleumdung vor und belegte sie mit den Stereotypen der Leyenda Negra, die sich von den orientalistischen Zuschreibungen an die Rifberber kaum unterschieden: „Pourquoi L‫ތ‬Espagne est-elle si méchante, si cruelle, si barbare, si fanatique? Pourquoi n’obéit-elle qu’à ses prêtres, pourquoi veut-elle encore des guerres de religion?“ (Ebd.: 85) Víctor Ruiz Albéniz schreibt in seinem Roman ¡Kelb Rumi! dem Kabylenführer einen ständigen ironischen Spott ins Gesicht, als er seinen Protagonisten mit diesem zusammentreffen lässt: „Había en su cara un constante gesto de burla que me mortificaba en extremo.“ (Ruiz Albéniz 1922a: 226) Abd-el-Krim bezieht in diesem Gespräch in fiktionalem Rahmen – wie in so vielen Erzählungen und Quellentexten – eine komplexe Position der Artikulation: Er spricht im Namen der Zivilisation, bringt als solcher eine überzeugende Kritik an dem moralischen Fehlverhalten der spanischen Militärs in Marokko an, unterstreicht sein Interesse an der friedlichen Zusammenarbeit mit Spanien und bezeichnet sich selbst als Opfer der ‚Barbarei‘ seiner eigenen Landsleute („seré una víctima más del salvajismo del Rif“, Ruiz Albéniz 1922a: 231). Hier zeigt sich die Mimikry als „Repräsentation einer Differenz, die ihrerseits ein Prozess der Verleugnung ist“ (Bhabha [1984] 2007: 126-127) und sich zugleich nicht fassen und fixieren lässt: Der Verdacht der Verstellung Abd-el-Krims wird hier bis zum Schluss des Gesprächs nicht ausgeräumt: „¿Habló por su boca la falacia o la verdad?“ (Ruiz Albéniz 1922a: 232) Zentral in der Widerstandstaktik Abd-el-Krims war die politische Legitimierung des Aufstands mittels der Anlehnung an das Modell westlicher Nationen: Er erklärte den Zusammenschluss der aufständischen Kabylen und das von ihnen befreite Gebiet gegenüber dem Völkerbund zu einer eigenständigen Nation,16 bzw. zur Republik, womit er dem neu ausgerufenen Staat einen progressiven und

15 Vgl. Bhabha [1983] 2007: 121-122 und Said [1978] 2003: 49. 16 Die briefliche Deklaration „A las naciones civilizadas“ stammt vom 1. Juli 1923, sie datiert jedoch die Konstitution einer republikanischen Regierung auf den 10. Juni 1920 zurück (vgl. Madariaga [1999] 2008: 534, 583).



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demokratischen Charakter verlieh und sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berief. Diese Form der politischen Legitimierung richtete sich wohl vordergründig an die europäischen Staaten, nach innen konnte ihm das westliche Nationsmodell zu diesem Zeitpunkt kaum Legitimität verschaffen. Gegenüber den Rifkabylen erklärte sich Abd-el-Krim in einem vielschichtigen und komplexen Schreiben zum Emir (Madariaga [1999] 2008: 560-566), in seiner Dominanzposition wurde er unter seinen Gefolgsleuten wohl zunächst in der Rolle des Anführers des Befreiungs- und Glaubenskriegs anerkannt (El-Asrouti 2007: 7484). Die Ausrufung einer Republik war ein mehrdeutiger Schachzug Abd-elKrims: Während er gegenüber Frankreich damit den Inbegriff ihres Nationsverständnisses ins Feld führte, gewann er in Spanien das Wohlwollen der republikanischen Opposition und der linken Gruppierungen, also der politischen Kräfte, auf die er seine Hoffnung im Kampf um Unabhängigkeit setzen konnte.17 Verschiedene sozialistische und anarchistische Organisationen (in Spanien, Frankreich und anderen Ländern und Weltregionen) bekundeten ihre Solidarität mit der Rif-Republik und einzelne Aktivisten aus Gruppierungen, die für die Unabhängigkeit Kataloniens oder des Baskenlands eintraten, schickten Abd-el-Krim Botschaften der Verbundenheit (Martín 1973: 80; Martín Corrales 2002: 204; Madariaga 2002b: 214). In konservativen und rechten Kreisen Spaniens wurde jedoch mit dem Wort república ein Schreckgespenst beschworen, das mit der Vorstellung von Anarchie und Chaos verbunden war (Madariaga 2008: 567). Für die Rifkabylen schließlich hatte der Begriff wohl eine ganz andere Bedeutung als für die Europäer: „The word ‚ripublik‘ had two meanings in Moroccan parlance. The first was equivalent to siba or rebellion against the Mahkzen, while the second merely denoted groups of people living or working together.“ (Balfour 2002: 189)

17 Vgl. Madariaga [1999] 2008: 566: „La mayoría de los autores, especialistas en cuestiones coloniales que abordan el tema, sostenían que la utilización del término ‚República‘ iba dirigido a las potencias europeas, particularmente a Francia, con la intención de influir en los medios occidentales, para los que este sistema político no era solamente una palabra, sino que encarnaba los principios democráticos de consulta popular.“ In einem Schreiben vom 24. Juli 1923 an die spanische Regierung (vgl. Martín 1973: 74) bediente sich der Außenminister Mohammed Azerkán teilweise der gleichen Argumente, die auch die antikolonialistische Linke innerhalb Spaniens gegen die militärische Unternehmung im Rif ins Feld führte: Er prangert hier u.a. den unnützen Tod spanischer Soldaten für die privaten Anliegen kolonialistischer Interessensgruppen an.



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Im Zuge seiner Nationsgründung rief Abd-el-Krim eine Ratsversammlung von Repräsentanten der verschiedenen cabilas ein (gegenüber dem Ausland als Nationalversammlung verstanden), die in Axdir, der neu ernannten Hauptstadt, regelmäßig zusammenkam, und entwarf eine Verfassung (vgl. El-Asrouti 2007: 88-90).18 Er bildete eine Regierung und richtete Ministerien ein, wobei er in seiner eigenen Person die Präsidentschaft mit dem Amt des Kriegsministers vereinte und andere wichtige Ämter an Verwandte und Angehörige seiner cabila vergab (vgl. ebd.: 85-86): So ernannte er z.B. seinen Bruder zu seinem Stellvertreter und Oberbefehlshaber der Armee im westlichen Rif, seinen Schwager zum Außenminister und seinen Onkel zum Finanzminister.19 Er ließ eine Flagge entwerfen und entsandte Delegationen in verschiedene Länder, um diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Die internationale Gemeinschaft weigerte sich, die Legitimität der Republik des Rif anzuerkennen. Man beharrte auf der grundlegenden Unfähigkeit der Rifberber zur Nation.20 Tatsächlich wurden unter der Führung Abd-el-Krims – und nicht unter der spanischen ‚Tutorschaft‘ – entscheidende politische, soziale und religiöse Reformen durchgeführt und administrative Modernisierungen vorgenommen (vgl. El-Asrouti 2007: 97-125), die nach dem Ende des Kriegs von der spanischen Verwaltung übernommen wurden und bis zum Ende des Protektorats fortbestanden. Die Literatur über die Guerra de Marruecos zeugt davon, dass die konservativen politischen Kreise Spaniens die Rif-Republik überwiegend als bedrohliche Karikatur wahrnahmen und sie mit allen Mitteln der Verhöhnung zu diskreditieren versuchten: Abd-el-Krims Staatsgründung, so schien es, drohte die Authentizitätsvorstellungen von Staat und Nation zu destabilisieren. Die „partielle Präsenz“ (Bhabha [1984] 2007: 127) der in Abd-el-Krims Person vereinigten

18 Eine Legitimierung durch allgemeine Wahlen fand jedoch nicht statt. 19 Es gab auch einen Versuch, eine eigene Währung zu schaffen, den Riffan. Auf Betreiben des Engländers Charles Gardiner (im Oktober 1923) wurde ein Haufen Banknoten gedruckt, die Abd-el-Krim jedoch nicht anerkannte: Gemäß Sasse (2006: 304) habe der Kabylenführer, als Gardiner bei der Übergabe der Scheine von Abd-el-Krim den aufgedruckten Gegenwert in spanischen Peseten verlangte, die wertlosen Geldbündel ins Meer werfen lassen. 20 Vgl. z.B. C. Lobrega Girela in seinem Artikel „La independencia de la titulada ‚República rifeña‘“ im Telegrama del Rif (29.7.1923, S. 1; zit. nach Moga Romero 2004: 126, 128): „El individualismo feroz de los rifeños rechaza todo gobierno central y sólo sabe vivir la vida de la kabila.“; „Cuando los kabileños dicen ‚estar república‘, expresan que la anarquía impera. La hipotética República del Rif, sería un estado turbulento, sin autoridades efectivas, fecundo en luchas civiles.“



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politischen Ämter beraubte das westliche Vorbild seiner Seriosität und brachte die spanischen Regierungsvertreter in eine irritierende Situation: Sie sahen sich gezwungen, mit Abd-el-Krim als offiziellem Regierungschef der Rif-Republik in Verhandlung über die Kriegsgefangenen zu treten – eine Tatsache, die man in der konservativen Presse und Literatur als erniedrigend beurteilte, nicht zuletzt deswegen, da dieser mit wechselhafter Willkür die Konditionen für die Freilassung der Kriegsgefangenen zu diktieren schien (vgl. Madariaga 2002b: 206).21 Eine bemerkenswerte Initiative zur politischen Anerkennung Abd-el-Krims unternahm der Journalist Luis de Oteyza, einer der Chefredakteure der linksliberalen Tageszeitung La Libertad. Mit Abd-El-Krim y Los prisioneros ([1922] 192322) legte er eine Erzählung von seiner Reise auf die andere Seite der Front vor, bei der es ihm gelang, den Anführer der aufständischen Kabylen persönlich zu interviewen und mit den spanischen Kriegsgefangenen Kontakt aufzunehmen – ein in diesem Umfang besonderes und durchaus riskantes Projekt während des Kriegs.23 Oteyza geht es in seinem Reisebericht nicht zuletzt darum, der Gegenstimme der aufständischen Rifberber einen Raum in der spanischen Berichterstattung einzuräumen, indem er ihre Redebeiträge und Erklärungen wörtlich wiedergibt und dabei teilweise mit Faksimiles handschriftlicher Erklärungen belegt. Oteyza begegnet Abd-el-Krim und seinen Vertretern – die beim ersten Zusammentreffen mit der neuen Fahne der Rif-Republik auftreten, während die Spanier nur mit dem Wimpel des roten Kreuzes aufwarten können („un detalle

21 Nachdem die erste Geldforderung Abd-el-Krims abgelehnt wurde, erhöhte dieser die Summe für die Freilassung der Gefangenen und die spanische Regierung sah sich schließlich angesichts des wachsenden innenpolitischen Drucks und Protestes gezwungen, seine Forderungen zu erfüllen. Bei der Übergabe verlangten die Rifberber eine beachtliche zusätzliche Summe zur Deckung der Unterhaltskosten für die Gefangenen – eine weitere Demütigung für die spanische Regierung (vgl. ebd.). 22 Die erste Publikation erfolgte in Form von Chroniken in La Libertad vom 6. bis 14.8.1922, in Buchform erschien die Reportage 1923. 23 Ein ähnliches, wenn auch weniger gewagtes Unterfangen verwirklichte der bereits erwähnte französische Reporter J. Roger-Mathieu. Er suchte Abd-el-Krim im Moment seiner Auslieferung an Frankreich im Jahr 1926 auf, nahm Aufzeichnungen von ihm und seinem Bruder entgegen und interviewte ihn. Das Ergebnis veröffentlichte er in Form der oben genannten Mémoires (vgl. Abd-el-Krim/Roger-Mathieu 1927) als von Abd-el-Krim autorisierten Text.



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de dolor y vergüenza“, ebd.: 39),24 – mit großem diplomatischen Respekt und erfährt im Gegenzug eine entsprechende Behandlung: „[...] el almuerzo que en nuestro obsequio dispuso Abd-El-Krim [Bruder des Kabylenführers] ha tenido honores de banquete oficial. Hasta el café [...] nos ha sido servido por un negro, con arreglo a la moda de los Palaces ultra chic. ¿Estamos en la Capital de una nación civilizada? De ello trata de convencernos nuestro anfitrión.“ (Oteyza [1922] 1923: 112, Hervorh. im Original)

Beim staatsbankettartigen Frühstück mit Mahomed (Mhamed, bzw. M‫ۊ‬ammad), dem jüngeren Bruder Abd-el-Krims, der in Madrid Bergbautechnik studiert hatte, gehorcht sogar die Einkleidung des schwarzen Dieners den Regeln des neuesten westlichen Modegeschmacks. Abd-el-Krims Bruder zeigt in seinem staatsmännischen Verhalten nicht nur ein ausgesprochenes Geschick im Umgang mit der spanischen Presse, im Gespräch mit Oteyza gelingt es ihm wiederholt, den spanischen Reporter sprachlos zu machen, indem er ihn in seinen Argumenten und Formulierungen spiegelt. So auch in der folgenden Textstelle, in der es um die Frage der ‚Echtheit‘ oder Seriosität des Rif als Nation geht: „–Formalmente, Mahomed, dígame si cree usted, usted que conoce las naciones constituidas, en la posibilidad de que el Rif llegue a serlo. Una nación verdadera, ¿eh? Una nación donde estén garantizadas la hacienda y la vida, no sólo de los propios, sino también de los extraños. –Y hasta de los enemigos– responde. –Y eso –añade– no es que pueda llegar a ocurrir, es que ocurre ya. Usted tiene la prueba. [...] lleva usted tres días en Aydir paseando libremente por todas partes, con sus ropas y con sus maneras, que relevan su condición de español. [...] Formalmente también, señor Oteyza, dígame usted si cree que ocurriría eso en Madrid con un beniurriaguel25.“ (Ebd.: 116)

Als der Journalist den jüngeren Abd-el-Krim auf die Konzentration der politischen Macht in den Händen seines Bruders und seiner Familie anspricht – ein

24 „Un día reseñaré en extenso esta expedición tan dolorosa y tan vergonzosa. Vaya hoy sólo un detalle de dolor y vergüenza: mientras nosotros no podíamos enarbolar otra bandera que la de la Cruz Roja, los cárabos moros que a recibirnos acudían desplegaban la roja con la media luna y la estrella blanca, pendón nacional de la República del Rif.“ (Ebd.: 39) 25 Angehöriger der cabila von Abd-el-Krim.



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Argument, das man in Spanien anbrachte, um die Legitimität der Republik des Rif in Frage zu stellen – kontert Mahomed mit einer Erklärung, die den Spaniern vertraut vorkommen sollte: „En un levantamiento militar, sólo la dictadura guerrera del caudillo puede asumir los poderes. Por ello mi hermano es, además, su propio ministro de guerra.“ (Ebd.) Die folgende Unterredung mit Mohammed Abd-el-Krim selbst zeigt, wie dieser die republikanische Zeitung als Sprachrohr zu nutzen weiß, um eine politische Öffentlichkeit in Spanien zu erreichen. Unter anderem wird hier zum Beweis der Authentizität des Gesprächs eine schriftliche Mitteilung mit Unterschrift übergeben, die Oteyza als Faksimile in seinem Buch abbildet. Darin bekundet Abd-el-Krim seine Sympathie für das spanische Volk, betont, dass der bewaffnete Widerstand sich nicht gegen dieses, sondern gegen die imperialistische Invasion richte, bestätigt seine Forderung nach der Unabhängigkeit des Rif und unterbreitet zugleich ein Angebot friedlicher Wirtschaftskooperation mit Spanien als seinem bevorzugten Verbündeten. Daneben lässt sich Abd-el-Krim mit dem Reporter fotografieren: „¡Que te vea el pueblo español a mi lado, bueno y sano, para que sepa cómo se le engaña!“ (Ebd.: 143) Oteyza verzichtet an dieser Stelle jedoch nicht darauf zu erwähnen, dass sich außerhalb des abgelichteten Blickfeldes eine Pistole auf sein Genick richtete. Abd-el-Krims Mimikry, aber auch Oteyzas ernsthafte Begegnung mit dieser, wurde von vielen Seiten als Provokation wahrgenommen. Das zeigen literarische Versuche, Abd-el-Krims politisches Handeln ins Lächerliche zu ziehen. Das deutlichste Beispiel ist die unter dem Pseudonym Feliciano erschienene Satire El Señor Feliciano en la República del Rif (1922), eine Verballhornung des Berichts von Oteyza. Hier besucht Señor Feliciano von der Zeitung El Infundido eine Republik, die albern phantastische Technikutopien mit bösartig verhöhnten Attributen des ‚Orientalischen‘ vereint. Ein Großteil der Erzählung widmet sich der Inszenierung einer Ministerratsversammlung, die zu einer Narrensitzung degradiert wird. Minister und Staatspräsident erscheinen hier als größenwahnsinnige Halbwilde, deren übertriebene staatsmännische Gestik mit dem Fehlen von Socken, Seife oder Kamm kontrastiert. Dass hier eigentlich von einem Moment erzählt wird, da durch die Republik-Gründung Abd-el-Krims die ‚Stufenleiter der Nationen‘ durcheinander gewürfelt wird und insbesondere Spanien treppabwärts gedrängt zu werden droht, verdeutlichen ‚ministeriale‘ Redebeiträge wie dieser: „España ha vivido ausente de los problemas, de las inquietudes de Europa, incluso de los deberes que Europa le imponía. ¿No es una voz más fuertemente civil la voz de estos rifeños que cruzan el mar para ir a Londres a declarar que el trozo de África en guerra con



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España no es una Monarquía, sino una República y no una República unitaria, sino una República federal, con respecto para todas las autonomías que de hecho y por derecho tienen una realidad?“ (Feliciano 1922: 74)

Die „föderale Republik“ Abd-el-Krims hat, so die Ironiefigur, seinen ‚Tutor‘ in Fragen der politischen Progressivität längst überholt und spricht nun selbst bei den Großmächten vor. Als Höhepunkt und Ende der Ratsdebatte eignet sich der Bildungsminister schließlich die wohl symbolträchtigste spanische KulturLeistung – den Don Quijote – im Namen seiner Nation an, wobei er die berberische Herkunft des fiktiven Verfassers Cide Hamete Benengeli behauptet. Es folgt ein Staatsbankett mit einem hochtönenden, grotesken Menu, das von Kellnern in „frac, calzón corto y los zapatos del día de la Circuncisión“ (ebd.: 110) serviert wird, und schließlich die Nationalhymne, eine exakte Kopie des Parsifal: „¡También aquí hay plagiarios!“ (Ebd.: 114) Hier wird zugleich versucht, den Albtraum der plagiatorischen Vermischung, der die Spanier im kolonialen ‚Spektakel‘ heimsucht, zu ‚normalisieren‘, indem er dem Anderen – dem Linksliberalen und seinen Freunden aus der ‚orientalischen‘ Republik – angedichtet wird. Hinter der Diskreditierung des nationalen Gebarens des Anderen schwelt dabei die Angst, dass die eigene nationale und imperiale Authentizität abhandenkommen könnte, wie sich in solchen Redebeiträgen des Staatspräsidenten des Rif offenbart: „La obligación de protectorado no puede alegarse cuando la realidad descubre que el protegido protege al protector más que el protector puede protegerse a sí mismo.“ (Ebd.: 78) Wie sich gezeigt hat, öffnet sich im kolonialen ‚Un-Fall‘ für die Literatur ein Potential der Verfremdung, das die ernsthafte Feierlichkeit, die der Kolonialismus allgemein für sich in Anspruch nimmt, unterhöhlt. Die Pole von Original und Ableitung, wie Homi Bhabhas Begriff der Mimikry impliziert, können zum Kurzschluss gebracht werden in dem Moment, da die misslungene Performanz plötzlich das Theatralische kolonialer und nationaler Identitäten überhaupt sichtbar macht und die Vorstellung authentischer ‚Staatlichkeit‘ und Imperialität an sich in Frage stellt. Eine konsequente Enthüllung der Leere hinter dem Zeichenspiel der spanischen ‚Marokko-Mission‘ erfolgt jedoch nur in einzelnen Erzählungen (vgl. Kap. 4 und 5). Vielmehr zeigt sich in der Kriegsliteratur auch immer wieder das Bemühen um die Wiederherstellung von Präsenz und Identität, wie die folgenden Textanalysen veranschaulichen werden. Damit ist die Literatur selbst in der Logik der Mimikry gefangen – in Form eines ambivalenten Kompromisses zwischen der Darstellung des Ereignisses als geschichtlichem Einbruch und dessen Negierung mittels der Festschreibung von Eigentlichkeit:



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„Der Wunsch, durch Mimikry – durch einen Prozess von Schreiben und Wiederholung – ‚authentisch‘ zu werden, ist die abschließende Ironie der partiellen Repräsentation.“ (Bhabha [1984] 2007: 130) Im Schwanken zwischen diskursiver Selbstversicherung und Selbstentlarvung, zwischen der narzisstischen Beschwörung der großen Bestimmung einerseits und der Inszenierung des Katastrophischen als Scheitern des Grandiosen, lassen sich die beiden Erzähltexte begreifen, die im Folgenden im Zentrum stehen: Ernesto Giménez Caballeros Notas marruecas de un soldado und Víctor Ruiz Albéniz‫¡ ތ‬Kelb Rumi!.

2.2 E RNESTO G IMÉNEZ C ABALLEROS N OTAS MARRUECAS DE UN SOLDADO (1923): D AS KOLONIALE S TIGMA UND SEINE NATIONALISTISCHE K OMPENSATION Stärker als andere Erzähltexte aus dem Marokko-Krieg sind Ernesto Giménez Caballeros Notas marruecas de un soldado (1923) eingebettet in die aktuellen kulturellen, ästhetischen und philosophischen Debatten der bügerlichen Intellektuellen-Szene seiner Zeit, die den Kanon der Literaturgeschichte bestimmen sollte. Bereits bevor der Autor zum Kriegsdienst in Marokko einberufen wurde, hatte er ein Philologie- und Philosophie-Studium in der Universidad Central de Madrid abgeschlossen, eine Stelle als Spanisch-Lektor an der Universität in Straßburg angetreten und stand in engem Kontakt mit wichtigen Literaten, Philosophen und Wissenschaftlern, die die ‚hochkulturelle‘ Dimension der spanischen Identitätsdebatte (wie auch die Regeneracionismo-Debatte) prägten. Dazu gehörten unter anderem Vertreter der Generación de 98 wie José Ortega y Gasset und Unamuno, sowie Giménez Caballeros’ Mentoren Américo Castro und Ramón Menéndez Pidal. In der Beziehung zu diesen geistesgeschichtlichen Kontexten und aufgrund der bedeutenden Rolle, die Ernesto Giménez Caballero schon bald nach der Publikation seiner Soldaten-Notizen als Vorreiter der spanischen Avantgarde und des Faschismus zukommen sollte (vgl. u.a. Albert 1996), ist dem Text ein größerer Bekanntheitsgrad und – als Erstling des ‚Gesamtwerkes‘ von Ernesto Giménez Caballero – auch einige philologische Aufmerksamkeit zu Teil geworden (vgl. u.a. Foard 1989; Selva 2000; Mainer 2005). Dabei wurden die Notas marruecas vornehmlich als Erzählung gedeutet, die bestimmte spätere literarische und politische Entwicklungen ihres Autors und seiner SchriftstellerGeneration ankündigt. Eine umfassende Analyse hat Viscarri (2004) vorgenommen, der die Notas marruecas vornehmlich als präfaschistischen Text liest und



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dabei die Bedeutung des Orientalismus-Diskurses für die Herausbildung des autoritären Nationalismus herausstellt. Damit schließt sich Viscarri der retrospektiven Deutung des Textes durch den Autor selbst an, der diesen als „auténtico Manifiesto, quizá el primero nacionalista o fascista“ bezeichnet hat.26 Die Publikation der Notas marruecas zu Beginn des Jahres 1923 zog einige Aufmerksamkeit auf sich. Giménez Caballero stellte zunächst in eigener Regie in der Druckerei seines Vaters eine Auflage von 500 Exemplaren her, die er an eine Auswahl bekannter Schriftsteller und Kritiker schickte (Selva 2000: 41). So hatte der Text trotz der kleinen Auflagenzahl eine große Resonanz, schließlich auch dank der Publikation einzelner Teile in den Zeitungen La Libertad und El Liberal, letztere unter der Leitung von Indalecio Prieto. Bemerkenswert ist, dass die Kriegsnotizen von Giménez Caballero von verschiedenen Vertretern des politischen Spektrums, darunter auch sozialistischen und liberalen Regierungsgegnern, gefeiert wurden.27 Dies lässt darauf schließen, dass die Kritik zumindest unter den Zeitgenossen nicht eindeutig politisch kategorisierbar war. Der Angriff auf die Marokko-Politik der amtierenden Regierung und oberen Militärs in Afrika wurde jedoch als so gravierend wahrgenommen, dass der Autor einige Tage nach der Publikation von der Militärpolizei abgeführt und in einem Militärgefängnis in Untersuchungshaft genommen wurde. In ersten Anhörungen forderte die Anklage eine Gefängnisstrafe von achtzehn Jahren. Letztendlich hatte Giménez Caballero es – zu seiner eigenen Überraschung – dem Beginn der Diktatur des Generals Primo de Rivera zu verdanken, dass man die Anschuldigungen fallen ließ.28 Die zeitgenössische Unschlüssigkeit bei der ideologischen Verortung von Giménez Caballeros Kritik, die sich in der Aneignung seiner Position durch die verschiedenen politischen Lager zeigt, unterstützt die Deutung der Notas marruecas als einen der Grenztexte, in denen die ‚koloniale Frage‘ in Spanien

26 Giménez Caballero (1979): Memorias de un dictador, Madrid: Planeta, S. 46; zit. nach Viscarri 2004: 165. 27 Der Text wurde nicht nur von Indalecio Prieto durch die Publikation im El Liberal wertgeschätzt, sondern auch im El Socialista gelobt und von Kritikern wie Ramiro Maeztu, José María Salaverría und Eugenio D’Ors gepriesen, die später wie der Autor dem faschistischen Spektrum zuzuordnen waren (Viscarri 2004: 166). 28 Vgl. Selva 2000: 50-51. Selva zitiert hier aus einem Brief, den Giménez Caballero an Unamuno schrieb: „Mi absolución ha sido curiosa. Desde aquí me sonrío con ironía, sí, con ironía. Los militares españoles, sobre todo, son unos brutos. [....] somos inmorales para castigar y para perdonar.“



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im Prozess einer politischen Aushandlung begriffen ist.29 Im Sinne der „narratives of struggle“ (Reising 2002: 327) lassen sich die Marokko-Notizen als Text interpretieren, der eine bestimmte Dimension des spanischen Kolonialismus in Afrika scharf kritisiert, diese Kritik aber in einer Weise übt, die eine andere fundamentale Dimension dieser Ordnung anerkennt. Trotz der radikalen Verurteilung der Realität des spanischen Kolonialismus in Marokko kann Notas marruecas nicht als anti-imperialistischer oder pazifistischer Text gelten, da er gleichzeitig bestimmte imperialistische, nationalistische und militaristische Wertevorstellungen bekräftigt. Darin unterscheidet er sich von späteren kritischen Erzählungen über den Marokko-Krieg wie Imán, El blocao, La ruta oder La Barbarie Organizada. Notas marruecas de un soldado erzählt das ‚Desaströse‘ des spanischen Kolonialkriegs in Marokko und kreist dabei obsessiv um die Frage nach den Differenzen, Ähnlichkeiten und ‚Identitäten‘ Spaniens in Bezug auf den nordafrikanischen Nachbarn einerseits und auf die europäischen Großmächte andererseits. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, wird hier (1.) ein polarisiertes Unterscheidungs- und Bewertungssystem beschworen, das das Orientalische auf dem Platz des Anderen zu fixieren versucht, vor dem Hintergrund desselben diskriminatorischen Systems jedoch die spanische Inferiorität beklagt (Kap. 2.2.1). Die Subjektposition, die hier entworfen wird, weist damit eine tiefe innere Verwerfung auf: Über die Stigmatisierung des moro und die Reproduktion rhetorischer Topoi des Orientalismus30 produziert sich diese Subjektivität als westlich, überlegen, zivilisiert, und genau aus dieser Sprecherposition heraus stellt sie die Minderwertigkeit des spanischen Auftritts in der afrikanischen Kolonie fest. Sie ist damit der charakteristische Ort der Artikulation der vergüenza colonial. Verbunden mit diesem Konflikt ist das Schwanken zwischen aktionistischer Identifikation mit der Nation und arroganter Distanzierung gegenüber bestimmten Vertretern des ‚Pöbels‘, die als koloniale und militärische Repräsentanten auftreten. In dieser gespalteten Dynamik zeigt sich (2.) an Notas marruecas das charakteristische Hervortreten des Theatralischen kolonialer Herrschaft, das die Nachahmungsstruktur des spanischen Kolonialismus sichtbar macht (Kap.

29 Giménez Caballero sympathisierte zumindest vor seiner Marokko-Zeit eher mit dem liberal-sozialistischen Spektrum und bewegte sich erst im Verlauf der 1920er Jahre immer eindeutiger auf eine faschistische Position zu. 30 Die Einschätzung von Mainer (2005: XXXIII), der Text weise keinerlei Tendenz zum Orientalismus und Exotismus auf, scheint mir daher nicht zutreffend, sie zeigt jedoch, dass Giménez Caballeros Notas Marruecas in dieser Hinsicht nicht ganz einfach einzuordnen sind.



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2.2.2). Der Text oszilliert zwischen der ironischen Inszenierung des epischen Misslingens und dem Bemühen, die Erhabenheit und Eigentlichkeit zurückzuholen. Dabei wird an der Vorstellung von Authentizität festgehalten, die der koloniale Diskurs selbst kodiert, und somit sieht sich der Text in der gleichen Imitationsstruktur gefangen, die er als peinlich ausstellt. Die Notas marruecas fordern schließlich (3.) zu einer ‚Schließung‘ außerhalb der Textwelt auf – zu einem vereinigenden Kraftakt der nationalen Selbstwerdung, der nicht näher definiert wird und mit dem sich offensichtlich Vertreter verschiedener politischer Spektren identifizieren konnten (Kap. 2.2.3). 2.2.1 Der gespaltene Ort der Artikulation der vergüenza colonial Ernesto Giménez Caballero war im Juni 1921 zum Militärdienst einberufen und einen Monat später im Zusammenhang mit der Truppenmobilisierung im Anschluss an das Desaster von Annual mit seiner Einheit nach Marokko überschifft worden. Als soldado de cuota verbrachte er hier eine Dienstzeit von achtzehn Monaten und genoss dabei wohl gegenüber den regulären Kriegsdienstleistenden einige Privilegien, auch wenn Giménez Caballero immer wieder seinen einfachen Soldatenstatus betont: Die Marokko-Notizen erzählen – verglichen mit anderen autobiographischen Berichten aus dem Krieg – von einem relativ geruhsamen Aufenthalt abseits der umkämpften Zone. Giménez Caballero hatte darüber hinaus die Möglichkeit, den Alto Comisario als eine Art Kofferträger auf der Yacht Giralda zu begleiten und im Automobil diverse Ausflüge in verschiedene Gegenden des Protektorats zu unternehmen. Der Text ähnelt nicht zuletzt deshalb in vier seiner sechs Teile eher einer Reisebeschreibung als einem Soldatentagebuch. Die Notas marruecas sind wie viele andere Marokko-Kriegserzählungen ein Textsortenhybrid, in dem sich testimoniale Schilderungen des Soldatenlebens mit Beschreibungen in der Tradition romantisch-modernistischer Orientreisen, politischem Pamphlet und ethnologisch-philologischer ‚Feldstudie‘ vermischen. Der Text knüpft mit seinem Titel an die bekannten Cartas marruecas (1789) von José Cadalso an, gemeinsam hat er mit diesen fiktiven Briefen, die größtenteils aus der erdachten Fremd-Perspektive eines marokkanischen Spanien-Reisenden verfasst sind, nicht viel mehr als eine patriotisch motivierte Spanien-Kritik, die auf der Wahrnehmung nationaler Dekadenz beruht. Giménez Caballeros „Notizen“ sind in sechs Teile unterteilt und nach einer räumlichen Logik und der ungefähren Chronologie des Aufenthaltes angeordnet („Notas de campamento“, „Notas de hospital“, „Un viaje en el Giralda“, „Notas de Tetuán“, „La judería“,



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„Notas de otros lugares“). Die Textstruktur weist keinen übergeordneten narrativen Plot auf, die Erzähleinheiten werden in Form in sich geschlossener sehr kurzer Kapitel präsentiert, die durch das autobiographische Ich zusammengehalten werden. Die Geste der Anonymität im Titel (de un soldado) legt nahe, dass sich dieses Erzähler-Ich in einer Stellvertreterfunktion versteht, in der es als einfacher Soldat spricht. Hier und in anderen Momenten des Textes31 stellt Giménez Caballero die Kollektivität seiner Erfahrung heraus, die insbesondere im abschließenden, mobilisierenden Aufruf eine Interessens- und Aktionsgemeinschaft begründet. Zwar finden sich hier deutliche Akte der Wertschätzung, Solidarität und Hommage an den einfachen Soldaten, wie auch der Einfühlung in seine sinnlosen Entbehrungen, sein „quijoteskes“32 Leid und seinen unheroischen Tod. Es zeigt sich jedoch auch, dass Giménez Caballero sich selbst nicht wirklich als Teil dieser anonymen Menge begreift, wenn er im Kapitel „Nuestro soldado desconocido“, den „soldadito“ vor seinem gebildeten Leserpublikum in Apostrophen anruft: „¡Soldado de las plazas madrileñas! ¡Adorno urbano! ¡Masa de paseo popular! ¡Nota de domingo, que con la criada formas el grupo inmortal de amor plebeyo!“ (Giménez Caballero [1923] 1983: 30) Der gewöhnliche Soldat wird – wenn auch mit einem großen Maß an Empathie – eher als Typus von außen porträtiert. Der Großteil des Textes widmet sich nicht dem Nachvollzug seiner ‚subalternen‘ Perspektive, sondern entwirft die elitäre und individualistische Subjektposition eines Erzähler-Ichs in modernistischer Tradition. Die Notas marruecas bieten so einen aufschlussreichen Einblick in die Wahrnehmung eines der cuotas, die ihren militärischen Vorgesetzten an Bildung häufig überlegen waren, nicht der extremen Gewalt und den Strapazen des Kriegs ausgesetzt wurden und in anderen Marokko-Kriegstexten als verwöhnte und arrogante „señoritos cuarteleros“ charakterisiert wurden (vgl. Selva 2000: 39-40).33

31 So vor allem in der Teilen „Notas de campamento“, „Notas de hospital“. 32 Vgl. Giménez Caballero [1923] 1983: 32. 33 Giménez Caballero beschreibt diese selbst aus der Außenperspektive – als Sohn eines Angestellten, der sich zum Unternehmer hocharbeitete, zählte er sich nicht zu den obersten Kreisen: „Yo conozco algunos de ellos, a quienes admiro, de familias distinguidas, y ellos finos, elegantes, que con no hacer más que pasearse y hacer algunas amistades con moros notables, han realizado más labor política en pro de la idea de España, que todas las pamemas que ante los moros hace tanto improvisado. Además un muchacho delicado, inteligente, apto para menesteres más sutiles que dar con el pico, ¿por qué iba a resignarse a las voces de un sargentón con galones en una campaña tan estúpida como es ahora ésta? Si de tales cuotas privilegiados los hay que merecen



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Die Notas marruecas sind geprägt durch den einfrierenden Blick eines Subjekts, das es sich gegenüber den Objekten der Betrachtung – Orten, Menschen, Situationen und Gegenständen – in einer überlegenen Beobachtungsposition bequem macht und in der Antwort auf rhetorische Fragen ihrer Symbolhaftigkeit nachgeht. Insofern ähneln die Notas marruecas weniger flüchtigen Tagebuchnotizen, als geordneten cuadros, in denen sich Pittoreskes und Kostumbristisches im Stil des 19. Jahrhunderts („aquello, tan agradable y sorprendente a los ojos, que quisiera uno salvarlo, del tiempo y del espacio, con unas fieles pinceladas conservadoras“) mit avantgardistischen Gesten und einem Anspruch auf Modernität vermischen („Hoy sería más propicio decir ‚kodesco‘ o fotografiable“, ebd.: 96). Diese Wahrnehmung prägt auf eine Weise die Beschreibung des ‚marokkanischen Lebens‘, dass diesem selbst immer wieder die Neigung zum bildhaften Objektarrangement und unbeweglichen Posieren zugeschrieben wird: „En general, he advertido, sobre el mercado y sus elementos, una tendencia curiosa a la inmovilidad, a las actitudes plásticas y estatuarias.“ (Ebd.: 96-97)34 Im Allgemeinen changieren diese Betrachtungen zwischen lyrisch-kontemplativer Hingabe an Landschafts- oder Stimmungsbilder, die im Entwurf mystischer SubjektObjekt-Beziehungen an die Noventaochentistas erinnern (vgl. Wolfzettel 2003: 458), und dem kategorisierenden, verachtenden Blick, der ununterbrochen soziale, kulturelle und rassische Hierarchien produziert. Das Gefühl der vergüenza stellt sich, wie oben beschrieben, vor dem Hintergrund eines leicht abrufbaren Bild des Anderen ein, und dieses wird gleich auf den ersten Seiten der Notas marruecas entworfen: So wird unter dem Titel „Kif y cigarillos“ mittels der kontemplativen Betrachtung des Rauchzeugs eine dichotome Hierarchisierung der Kulturen, Rassen und Nationen vorgenommen und

serlo, también los hay que suscitan la indignación viendo cómo se desaprovechan tan magníficos cargadores de mulos sólo por ser su papá algún cacicón de fuste.“ (Giménez Caballero [1923] 1983: 118-119) Die Beschreibung der ersten Gruppe passt jedoch auf das erzählte ‚Ich‘ von Giménez Caballero, der ständig die gesellschaftlichen Aspekte des Lebens im Protektorat im Fokus hat, auf die Unkultur der Militärs herabblickt und seinerseits diplomatische Freundschaftsbeziehungen mit distinguierten Marokkanern knüpft. 34 Vgl. auch ebd.: 103-104: „Eso parece un cementerio aquí en Oriente, una sala de espera. Una sala de espera natural en que los pasajeros, sin impacientarse, inmóviles, aguardan la llegada del tren, del tren definitivo. [...] Y así contemplado, parece un grabado antiguo de Siria o un trozo romántico de Palestina de los que Chateaubriand describió. Yo me he parado muchos ratos a ver aquellas gentes de actitudes plásticas con sus vestiduras coloreadas, recortarse inmóviles sobre el fondo de la ciudad [...].“



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die Charakteressenz des Okzidentalen und Orientalischen, bzw. Europäischen und Afrikanischen porträtiert. Zentral ist dabei, dass der idealtypische Pol des Europäischen nicht durch das Spanische besetzt ist, jedoch durch den erzählten Giménez Caballero eingenommen wird, indem er sich eine englische Zigarette ansteckt: „Huele el aire que me rodea al olor raro y desagradable del kif. Y yo, para contrarrestarlo, enciendo un lindo cigarrillo inglés oloroso a miel.“ (Giménez Caballero [1923] 1983: 18) Die Verkörperung des ‚westlichen‘ Ideals ist die blonde Zigarette des englischen Gentleman, „este cuerpecillo delicado y lujoso, tan bien perfumado, enjoyado con oros discretos y cuya función parece un vivo ensayo metafísico“ (ebd.). Die Zigarette wird als parfümiert, luxuriös, metaphysisch, persistent, weltmännisch, kritisch, poetisch und neurasthenisch beschrieben und vereint damit bestimmte Ideale von Modernität, nordischem Phänotypus und Dandytum, die der Dichter der Soldaten-Notizen selbst durch seinen discours hervorzubringen versucht, nicht zuletzt durch das großzügige Einstreuen von dem Deutschen, Englischen und Französischen entliehenen Begriffen wie „bumler“ (wohl ist der deutsche Flaneur gemeint), „music hall“ und „cocotte“ (ebd.: 20, Kursivschrift im Original). Die orientalische Kif-Pfeife zeichnet sich durch gegenteilige Merkmale aus: Unangenehm riechend, dunkel, dogmatisch-geschlossen, kontingent, disproportioniert, idiotisch, schwermütig, moribund und archaisch, entspricht sie der Evolutionsstufe des Reptils: „El kif conduce a una nada, a un país idiota de nirvana, donde se quiebra para siempre la voluntad. [...] El olor del kif trae a la memoria los campos calcinados, con chumberas, con riachuelos míseros, con reptiles, con cielos inmensos y una infinita desolación. O bien los zanquizamíes de las villas morunas, oscuros y repulsivos, donde se acurrucan seres de pelos hirsutos, mientras en la ciudad muerta, cae una calma trágica del cielo inmóvil y abrasado. El olor a tabaco, de este tabaco rubio de miel, evoca las luces eléctricas de un salón muellemente tapizado, donde rostros de finos rasgos se perfilan, y la mancha negra y pulcra de un frac, se inclina gentilmente hacia un femenino torso rubio, que escucha el flirt.“ (Ebd.: 19, Hervorh. im Original)

In der poetischen Versenkung beim Rauchen hat der Erzähler hier ein polarisiertes Bewertungssystem von Kultur, Rasse und Klasse aufgestellt, in dem er sich den positiv besetzten Pol durch den Konsum einer englischen Zigarette aneignet. Ähnliche hierarchisierte Essentialisierungen werden in Notas marruecas immer wieder produziert: Dinge und Menschen offenbaren sich als ‚quintessentielle‘ Vertreter kollektiver Typen und Charaktere. Das Kapitel schließt damit, dass



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Giménez Caballero durch den „kategorischen Imperativ“ der Fanfare zur Aktion gerufen wird, während die Kif rauchenden moros in Unbeweglichkeit verharren (ebd.: 20). Die Subjektposition, die mittels solcher Denk-, Seh- und Beschreibungsmuster entworfen wird, positioniert sich so über den Dingen, mit Hilfe bestimmter Strategien des Blicks, in dem die Macht der Analyse und der ästhetische Genuss konvergieren. Dies macht sich das Erzähler-Ich von Giménez Caballero geradezu zum Programm, indem es eine „touristische Methode“ verfolgt: „Por sistema, yo acostumbro buscar estos sitios eminentes al llegar a una nueva ciudad, pues, desde ellos, en un in promptu, se comprende el carácter elemental del pueblo a la vista. [...] Atento a este método de turismo, uno de los primeros cuidados que tuve al llegar a Tetuán fue el dominarle desde una altura [...]“ (ebd.: 89-90, Hervorh. im Original). Von dieser Position aus werden – insbesondere in den Tetuan-Notizen – all die überstrapazierten Topoi der Literatur reproduziert, die von der Begegnung des ‚westlichen‘ Subjekts mit einem grotesk-mystischen, (alb)traumhaften Orient erzählt: die Beschreibung des zoco (snjq) samt Schlangenbeschwörer, der blutigen Zeremonien der Bruderschaften als Zeichen des religiösen Fanatismus des Islam, der mysteriösen labyrinthischen Gassen der Altstädte und orientalischen Gerüche, der erniedrigenden Misshandlung der Frau, speziell einer orientalischen Tänzerin etc. Die Differenzbedeutung Marokkos (als ‚anderer Welt‘) wird jedoch destabilisiert, indem Giménez Caballero immer wieder das vermeintlich Exotische in kulturelle Verwandtschafts- und Ähnlichkeitsbeziehungen zu spanischen Realitäten überführt. Diese Beobachtungen lassen sich teilweise durchaus im Rahmen des üblichen afrikanistischen Argumentationsmusters lesen, das den Anspruch Spaniens auf Marokko aus einer speziellen historischen und geographischen Verbundenheit ableitet.35 Teilweise bringen diese Vergleiche jedoch auch den kolonialen Überlegenheitsanspruch an sich ins Wanken:36 Der orientalistische Superioritätsdiskurs ist nur eine Dimension des Textes, ihm steht – von Anfang an – eine Wahrnehmungsachse quer zur Seite, die die entworfene Position spaltet und ihre Erhabenheit irritiert. Auf dieser richtet sich der verachtende Blick immer wieder zurück auf die spanischen Kolonisatoren selbst, deren Performanz als beschämend ausgestellt wird.

35 Vgl. ebd.: 174: „¡Si nuestra política no hubiera desviado lo que la geografía nos propone constantemente! ¡Una cosa tan española como podía ser todo Marruecos!“ 36 Vgl. die bereits in Kap. 2.1.1 zitierte Textstelle: „Nosotros, aparte de ser una raza cercana a la de ustedes, somos un pueblo débil.“ (Giménez Caballero [1923] 1983: 172)



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Die beschriebene Dynamik bestimmt bereits die ersten Absätze der Notas marruecas. Ernesto Giménez Caballero beginnt seine Notizen mit der Urszene der kolonialen Erzähltradition – seiner Ankunft auf der anderen Seite der Meerenge als Landung auf dem Sandstrand einer primitiven ‚neuen Welt‘: „[...] no divisamos nada. Nada más que el largo y reverberante manchón rubio de la playa, donde unos moros desnudos en el agua, como salvajes, trasladan a cuestas todos los soldados que van llegando. Detrás se alza un chato seto oscuro de árboles selváticos. Piedras, cerros y sol. Y al fondo de todo, majestuosas montañas. Una cosa así debió ser un prístino desembarco en un nuevo mundo.“ (Ebd.: 11)

Die wenige Kilometer kurze Überfahrt über die Meerenge von Gibraltar wird als Grenzüberschreitung zur exotischen Fremde inszeniert, sie etabliert, so könnte man annehmen, die Opposition von Zivilisation und Wildheit, die von nun an als Hierarchisierungssystem zugrunde gelegt wird (Viscarri 2004: 203). Die erste Begegnung charakterisiert den fremden Raum als leer und unberührt, ein rhetorischer Kunstgriff der kolonialen Erzähltradition, der üblicherweise den Platz frei räumt für die Projektion kollektiver Phantasien (Spurr 1993: 92). Die projektive Landnahme wird jedoch gestört, als sich wenige Sätze später herausstellt, dass die Inhaltslosigkeit des Raums („nada“) nicht auf seine Kolonisierbarkeit verweist, sondern auf das Scheitern des eigenen, bereits viele Jahre währenden Kolonialisierungsprojektes: Es gibt keine Gebäude außer der Verwaltungsbaracke, keine Zelte, nichts zu essen und nichts zu trinken. „Y mientras nos ponemos otra vez el sudoroso correaje, una angustia lenta, grande, nos va oprimiendo el pecho, como una interrogación trémula.“ (Giménez Caballero 1983: 12) Neben der Unfähigkeit bei der Errichtung einer Infrastruktur wird gleichzeitig die Wertlosigkeit des Stücks Land beklagt, das die Großmächte den Spaniern zugeworfen haben wie einem Hund einen Knochen, nachdem das gute Fleisch verspeist ist: „Ni los fenicios, ni los romanos, se entusiasmaron nunca con la conquista del Rif. Es un hueso para un perro. Y el perro somos nosotros –se piensa con tristeza.“ (Ebd.: 66). Eine ähnliche Irritation ereignet sich bald danach im Kapitel „Noche de luna“, das zunächst einen wohlbekannten Topos der Marokko-Literatur aufruft, der dazu geeignet ist, den Raum des Anderen mit Phantastereien zu füllen: den der afrikanischen Nacht. Das Gefühl mysteriöser Religiosität, auf das sich Giménez Caballero einzustimmen beginnt, wird unterbrochen durch das Gegröle der spanischen Offiziere, die ihren Extralohn für den Marokko-Dienst versaufen und verspielen:



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„¡Qué estupidez! [....] ¿Qué emoción puede procurarse un espíritu de éstos, poco cultivados, de pasiones violentas y groseras? Ya que no hay otro heroísmo en puertas se dedican al del juego. [...] Yo le tengo por una masturbación del heroísmo. Esta inactividad, esta infecundidad de los jefes [...] repercute en nosotros. Yo pienso muchas veces lo que un millar, más de un millar de hombres, sujetos a una disciplina severa como la militar, podríamos hacer aquí. Al pie de un río, en una vega, cerca el mar. Con la tierra arcillosa podríamos casi tener un pueblecito hecho, no ya de adobes, sino de ladrillo. Un acueducto para resolver el problema del agua. Campos de deporte para compensar las arideces de la sujeción. [...] Los moros nos contemplarían absortos. Verían al hombre superior que construye, que transforma. Es triste, no hacemos nada de provecho.“ (Ebd.: 27-28)

Hier wird klar, dass die Jungfräulichkeit, mit der sich der Strand anfangs darbot, vordergründig auf die – um die geschlechtlichen Konnotationen der Textstelle aufzugreifen – ‚Selbstbefriedigung‘ und ‚Unfruchtbarkeit‘ der spanischen Militärs verweist. Mit der Kritik an der Pöbelhaftigkeit, Korruption und Untätigkeit in den oberen militärischen Rängen wird gleichzeitig ein Ideal von ‚Kultiviertheit‘, der generelle Wert militärischer Disziplin und kolonialer Inbesitznahme, und die Notwendigkeit der Zurschaustellung von Überlegenheit gegenüber den moros bekräftigt. Immer wieder wird auf solche und ähnliche Weise in den Kriegsnotizen das spanische Unvermögen in Marokko als entwürdigend beklagt. Die Hauptkritik richtet sich dabei auf die administrative Schluderei und militärische Ineffizienz, die egoistische Profitgier und sinnlose Verschwendung (vgl. Foard 1989: 34) – die Anklagepunkte, die in der politischen Diskussion immer wieder in eine direkte ursächliche Verbindung zum Desaster von Annual gestellt werden: „¡Qué negligencia para una cosa tan seria como debía ser esa suma de responsabilidades! Pero en el fondo tiene que ser así. Si no hubiera habido negligencia, las defensas de Annual hubieran funcionado. Al funcionar, no hubiera ocurrido el desastre. [...] Sobre el común denominador de negligencia, de cansancio, marcha todo lo nuestro.“ (Giménez Caballero 1983: 112)

Weniger romantische Ruinen, als einen Haufen Schutt habe das Protektorat zu bieten, sogar die Yacht des Alto Comisario brauche ein Jahr Reparaturarbeiten. Und das Büro des Generalstabs, in dem die Verantwortlichkeiten für das Desaster von Annual geklärt werden sollen, sähe einer marokkanischen Rumpelkammer ähnlich:



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„Esta es una oficina del Estado Mayor. Eche una ojeada a este zaquizamí moruno, el amante de las monografías: oficina española en Marruecos. Generalice sus concretas observaciones. Y obtenga el cuadro general de nuestra vieja máquina burocrática, intentando adaptarse a una función nueva y moderna. Mis facultades se detienen sólo en vagas sensaciones de irritación y de angustia.“ (Ebd.: 113)

Das Gefühl von Irritation und Beklemmung stellt sich dabei insbesondere im ständigen Vergleich mit den europäischen Imperialmächten ein, denen Spanien nicht gleichzukommen vermag: „Esa poesía épica de poste francés de las avanzadas, con su antena chispeante, relacionando esfuerzos y planes, en medio de las estepas y cerros africanos, no la podemos sentir en un campamento nuestro. ¿Tenemos conciencia de lo que hacemos y de a qué hemos venido? ¿No se siente uno, que es soldado, como un tornillo herrumbroso, de una vieja máquina, que no funciona?“ (Ebd.: 28, Hervorh. im Original)

Die Feststellung, dass die Realität des Kolonialkriegs keine feierlichen Gefühle aufkommen lasse, führt nicht zur Infragestellung der epischen Qualitäten eines solchen Unterfangens, sondern zum neidbesetzten Blick auf Frankreich, dem dieses Gefühl vergönnt zu sein scheint. In der deutlichen Differenz zu den europäischen Großmächten Großbritannien und Frankreich, die konstant dem Verdacht unterstehen, sie manipulierten den spanisch-marokkanischen Krieg zum eigenen ökonomischen Vorteil, findet sich der Spanier immer wieder auf degradierende Weise an der Seite des moro wieder. Ein Sinnbild dieser Positionsverschiebung ist der Felsen von Gibraltar, ein geographisches Symbol für die demütigende Unterordnung Spaniens in der imperialen Hierarchie, das den vorbeireisenden Erzähler zu ambivalenten Reflexionen anregt. Die englische Kolonie auf spanischem Boden verweist hier auf die tatsächliche Situation Spaniens: dass dieses nämlich längst auf die Seite der kolonisierten Länder gewechselt habe. Diese Erniedrigung zu beklagen, so stellt Giménez Caballero mit einem gekränkten Sarkasmus fest, sei angesichts der gegenwärtigen Situation in Marokko eher lächerlich: „Sería cómico que estando gobernados por unos reyes de dinastías extranjeras –una de ellas, británica– y enzarzados en una guerra donde defienden intereses muy extraños, hasta el punto de sentirse uno un poco cipayo, fuese a clamar nuestro patriotismo porque una roca, casi desgajada de la Península, estuviese ocupada por habitantes rubios. [...] ¿Para qué querríamos nosotros Gibraltar hoy?, se pregunta uno atónito. [...] Para nosotros, el tiempo del héroe, en su carabela audaz, con el presente exótico a su dama, ha termina-



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do. Todo lo más que traemos ahora –de ahí enfrente– son unas babuchas, en las que nos estafan los moros.“ (Ebd.: 179-180)

In Anbetracht der gegenwärtigen Schwäche der Spanier, die sogar die moros mit kleinen Betrügereien ausnutzten, habe der Felsen für die eigene Nation gar keinen strategischen Wert mehr. Und so zieht es Giménez Caballero vor – und hier zeigt sich ein weiteres Mal die gespaltene Subjektposition, die das Ich in Notas marruecas bezieht – als „Europäer“ und „Weltbürger“ (ebd.: 180) dieser kleinen perfekten englischen Kolonie zwischen zwei Zonen der ‚Unterentwicklung‘ seine volle Bewunderung zu zollen: „Como ciudadano del mundo se agradece este pasillo culto, refinado, entre dos zonas descuidadas, entre estos pueblos muertos de Andalucía y esa tierra salvaje de África.“ (Ebd.) Es folgt die Beschreibung Gibraltars und damit dessen, was Giménez Caballero als Modell des kolonialen Lebens versteht: Symmetrie, Sauberkeit, Modernität, militärische Stärke, Eleganz, aristokratische Etikette und kommerzielle Geschäftigkeit werden dabei ein weiteres Mal ergänzt von bestimmten phänotypischen Eigenschaften, die dem kolonialen Auftritt der Engländer den letzten Schliff von Seriosität und Solidität verleihen, der den Spanier damit wohl dauerhaft abhandenkommen könnte: hochgewachsene, (muskulöse) blonde Körper. Diese Anerkennung der Überlegenheit und ‚authentischen‘ Imperialität der Großmächte bedeutet für das erzählte Ich gleichzeitig eine schmerzhafte Form der nationalen Selbstverleugnung, denn die ‚geliehene‘ europäische Position kann den Nationalismus Giménez Caballeros nicht wirklich ersetzen: Von Gibraltar wandert schließlich der Blick zurück nach Spanisch-Marokko und in diesem Moment empfindet Giménez Caballero – der nun wieder als Spanier spricht – den Drang, in Tränen auszubrechen. In der bewundernden Anerkennung der europäischen Großmächte, die im Besitz des Authentischen zu sein scheinen, findet sich der Wunsch ausgedrückt, dem Modell gleichzukommen. Und das ist ein zentrales Paradox der Notas marruecas, denn gleichzeitig zeichnet sich im Text die Argumentation ab, dass gerade die Position des Nacheiferns den spanischen protectores ihre letzte Würde zu rauben droht. In dieser Hinsicht ähnelt die Position Giménez Caballeros – als Ort der Artikulation der vergüenza – bisweilen der gespalteten Psyche des Kolonisierten, wie sie Frantz Fanon in Schwarze Haut, weiße Masken ([1952] 1985) beschreibt. Es ist sicherlich bemerkenswert, dass sich hier der Erzähler, der Nordafrika als ‚Kolonisator‘ betritt, stellenweise in einer ähnlichen „Situationsneurose“ (ebd.: 45) zu befinden scheint, wie das Fanon’sche kolonisierte Subjekt mit der „weißen Maske“, das sich mit seinen Wünschen nicht außerhalb der Wertstruktur positionieren kann, die ihn dauerhaft auf einen minderen Platz



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verweist. Tatsächlich spielt hier das nordische Rassenideal, das in dieser und anderen Betrachtungen in Notas marruecas formuliert wird, eine nicht unbedeutende Rolle (vgl. hierzu die Analyse von Viscarri 2004: 165-248, hier: 170-171). Vor dem Hintergrund dieses Modells entwickelte Giménez Caballero Selbstzweifel und Minderwertigkeitskomplexe in Bezug auf sein eigenes Erscheinungsbild. Wie aus seinem „Ensayo sobre mi mismo“ (1931) hervorgeht, führte die Begeisterung für das Germanische und Gotische, die sich bei seinem Straßburg-Aufenthalt vor dem Marokko-Einsatz herausgebildet hatte, zum Wunsch, sich zu ‚arisieren‘: „Inútil es decir que toda mi ilusión en Estrasburgo fue la de adquirir un temple ario, acostumbrarme a la cerveza, disimular unos lunares que podían dar a mi cara melanismo mediterráneo […]“ (Giménez Caballero 1931: 6-7).37 2.2.2 Notas marruecas und die koloniale Imitationsstruktur Welche zentrale Rolle die Nachahmungsstruktur in den Marokko-Notizen einnimmt, zeigt sich daran, dass das Kolonisierungsprojekt immer wieder mittels Kategorien wie „serio“ oder „farsante“ benannt wird. Als einzig geglücktes Beispiel der spanischen Kolonisierung Marokkos beschreibt Giménez Caballero den Ort Río Martín und legt dabei als Bewertungsmaßstab die kolonialen Textwelten von Kipling und Loti zugrunde.38 Die Urbanität Tetuans hingegen werde gerade

37 Wenig später verabschiedete Giménez Caballero das Ideal des ‚Europäisch-Arischen‘ und konstruierte sich eine Ideologie, die ihm eine selbstherrliche Identifikation mit dem Nationalen ermöglichte. Als einer der wichtigsten Ideologen der Falange formulierte er ein faschistisches Gedankenmodell, das die Rasse als bestimmendes Merkmal nationaler Identität verwarf und die katholische Religion zum zentralen spirituellen Identitätsmerkmal erklärte. Auf dieser Basis entwickelt er in Genio de España (1932) die Idee eines „fascismo panlatino“, der eine Synthese der zwei großen gegensätzlichen „genios“ des Okzidents und Orients versprach: „¡España no está en Oriente ni en Occidente! ¡España está –desde muchos siglos– en la cristiandad! España es catolicidad. Moros, luteranos, judíos y cuáqueros. España los acogió y los acogerá siempre bajo su signo fundidor y antirracista. España –genio romanogermánico– es el genio de Cristo.“ (Giménez Caballero [1932] 1939: 204) 38 Vgl. ebd.: 63: „Creo que es el mejor modelo, por no decir el único, de colonia moderna que poseemos. Tiene un ambiente –claro que modesto– de algo exótico, de literatura de Loti o de Kipling. Casas blancas, limpias, bien hechas, de estilo indígena, con azoteas, donde unas moras ven atardecer inmóviles y divinamente decorativas. Calles



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durch die Nacheiferei zur Komödie, die die spanischen Offiziersfamilien in der Kolonie vollführen, womit ihre eigentliche Provinzialität erst recht zum Vorschein komme: „La high life de Tetuán está reputada como muy divertida. Ya lo creo, tan divertida que es una comedia. Esas chicas, esas señoras de los Capitanes y aun de los Coroneles, que por las alamedas provincianas de España las hemos visto paseando, desapercibidas, su natural modestia y condición, aquí las pobres, a falta de otras figuras superiores, se han visto obligadas a asumir los primeros papeles de una sociedad. [...] Aquí –que hoy por hoy, no hay nada que ganar, dígase lo que se quiera–, han acudido una de trastos que convierten esto en un desván nacional. Así se ve al ingeniero chulón y vacuo representando nuestra colonización, y al diplomático cretino, andando a saltitos y diciendo tonterías a las niñas como ocupación única.“ (Giménez Caballero [1923] 1983: 115-116, Hervorh. im Original)

Es ist wie Bhabha schreibt, eben „die Macht, Modell zu sein“, die die koloniale Herrschaftsrepräsentation „angeblich imitierbar macht“ (Bhabha [1984] 2007: 129). Hier sind es die oberen spanischen Militärs selbst (und nicht etwa ‚hispanisierte‘ Marokkaner), die das ‚nationalistische Selbst‘ des Erzählers durch die „partielle Repräsentation“ (ebd.: 130) von Nation und Klasse entwürdigen und die Kolonie zum „desván nacional“ degradieren. So erscheint die spanische High-Society der Militärs, die sich im Erste-Klasse-Hotel in Tetuan versammeln, eine Ansammlung von „mimic men“, die ihre englischen Uniformen stolz zur Schau tragen, ihre Originalität aus dem Französischen übersetzen und eine übertriebene Tendenz zur Inszenierung von Zivilisiertheit aufweisen: „¡Cuánta falta nos hace este estímulo de tener que representar algo, de tener que estar como de visita, para ser un poco limpios y cepillarnos!“ (Giménez Caballero [1923] 1983: 117) Die komische Theatralität, die mit dieser Imitationsstruktur einhergeht, wird im Kapitel „El teatro de Alcántara“ mit aller Anschaulichkeit in Szene gesetzt. Hier beschreibt Giménez Caballero den Sitz der Hauptkommandantur in Melilla als Sinnbild des peinlichen Pathos des spanischen Kolonialismus in Marokko: Der höchste Repräsentant der Spanier im Protektorat residiert ausgerechnet in einem ausrangierten Provinztheater und diese einstige Funktion vermelden noch immer rosa Lettern auf der Fassade des verfallenen Schauspielhauses. Sie werden nun zur Ankündigung der Farce verzerrter Herrschaftsrepräsentation: „Para

rectas, tiradas a cordel. [...] La iglesia, pequeñita, con su jardincillo. La escuela – rodeada también de árboles– encalada y elegante. Un puerto y una aduana [...]“.



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un moro malévolo este anuncio de farsa le podía poner en guardia al entrar por una audiencia. Los moros van siendo ya muy guasones y hay que ir haciendo las cosas acabaditas.“ (Ebd.: 68) Für Caballero Giménez ist dieser Ort kolonialer Machtinszenierung ein typisches Beispiel für die spanische Mischung aus Nachlässigkeit und Größenwahn, die die Autorität gegenüber den zunehmend „frechen moros“ untergrabe. Die Dörfler des Gurugú (der bei Melilla befindliche Berg dient dazu, die Assoziationen des Monströsen aufzurufen, vgl. dazu ebd.: 73) werden hier in einem fehlproportionierten Thronsaal im Zuckerbäckerstil zu Audienzen empfangen: „Dentro, en la planta baja, hay nada menos que un salón de trono, sí, con trono y todo, y al cual da entrada una sencilla puerta de gabinete, con cristales a cuarterones. Verdaderamente es un salón para recibir a palurdos del Gurugú. Bajito de techo, con columnas de madera blanca, purpurina y unas molduras de confitería.“ (Ebd.: 68)

Kolonialer Prunk tritt hier als Kitsch in Erscheinung, das Problem von Authentizität und Nachahmung wird auf der Ebene des Geschmacks verhandelt: Die Stilmischung, Übertreibung und leere Effekthascherei der Inneneinrichtung ist eine schlechte Kopie des guten Geschmacks. Und eben diese Tendenz zur Überladung und Reduktion auf den dekorativen Schein ist ein Merkmal, das Giménez Caballero dem moro zuschreibt: „En general, los moros tienen una lamentable facilidad para confundir el objeto suntuario lujoso y el cachivache de relumbrón, barato y grosero. La casa de un moro rico parece un almacén de quincalla.“ (Ebd.: 133) Im Kulissenszenarium des Teatro de Alcántara gibt sich die Macht als Fiktion zu erkennen und erstarrt nun ihrerseits zur Phototypie: „Yo me imaginaba a La Cierva39 sentado en aquella dorada butaca, tan rechoncha y tan cursi, lleno de cruces y de bandas, bajo el albayalde del techo y los floripondios de guirnaldas, sintiéndose gran caudillo, audaz, dictador, y me reía largo rato, yo solo, como si hubiera visto una fototipia o un cromo ilustrado.“ (Ebd.: 68)

In dieser Rückwendung des einfrierenden Blicks steht das bildliche Arrangement nicht mehr emblematisch für das Essentielle und die Sichtbarkeit kultureller Differenz, sondern für das Performative, das seine Leere offenbart – für ein Abhan-

39 Juan de la Cierva y Peñafiel war zur Zeit der Entstehung des Textes Kriegsminister der Regierung Maura.



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denkommen von Eigentlichkeit, das sich in der Literatur des Marokko-Kriegs immer wieder ‚ereignet‘. Im abwertenden Kommentar über diverse ‚Geschmacklosigkeiten‘ des spanischen Kolonialismus und Militarismus, insbesondere jedoch im Stil der eigenen Rede entwirft sich, wie bereits beschrieben, ein gebildetes, ästhetizistisches Erzähler-Ich. Der Text ist gespickt mit Neologismen, Archaismen und Latinismen, mit Bezugnahmen auf Mythologie, Geschichte und Literatur. Der erhabene Stil ist in bestimmten Momenten durchaus wörtlich zu nehmen, wenn es darum geht, der Marokko-Erfahrung sublime Qualitäten abzugewinnen: „El trozo inmóvil de mar era una sugestión hermosa en los atardeceres serenos. En su espejo terso se podía seguir las vicisitudes de la muerte solar con el plasticismo de un mito ario.“ (Ebd.: 39) In anderen Momenten jedoch kontrastiert das Pathos der Rede auf auffällige Weise mit der banalen und schäbigen Realität, die sie beschreibt, und gibt sich somit als ironische Inszenierung zu erkennen, wie z.B. bei der Erkundung des mythischen Potentials einer Militärkantine („¿Qué es una cantina? ¿No es un modesto templo de alguna divinidad benévola ad usum plebis? Sí, es un modesto establecimiento al que el Dios dionisiástico tiene a bien descender“, ebd.: 22, Hervorh. im Original) oder den lyrischen Implikationen des SoldatenProviants („¡La ración! Es todo un poema, como dice la gente. La ración es un hito, un ideal. Un ideal con todas las delicias y desengaños de los ideales conseguidos“, ebd.: 42). Im Mittel der Ironie gibt das Rhetorische seine Leere preis und verliert seine unmittelbare Verweisungskraft. So dient der ironische Sprechakt einerseits dazu, die gescheiterte Feierlichkeit des spanischen Kolonialismus auszustellen. Andererseits jedoch, und dies ist die unfreiwillige Ironie der Mimikry, ist der Text selbst im Zitieren einer bestimmten Norm – dem Einstreuen von englischen, französischen und deutschen Fremdwörtern, sowie wiederholten anerkennenden Bezugnahmen auf französische und englische Literatur40 – um Autorität bemüht und somit von der Differenz zwischen Original und Kopie betroffen, die das Sprechersubjekt seinerseits auf die Position eines Nacheiferers verweist, wie

40 Neben [Rudyard] Kipling und [Pierre] Loti (ebd.: 63) werden u.a. [Charles] Baudelaire, Oscar Wilde (ebd.: 102), und [François-René de] Chateaubriand (ebd.: 104) genannt. Es ist bezeichnend, dass mit Chateaubriand Bezug genommen wird auf einen Schriftsteller, der Spanien bereiste und dieses in seinem Reisebericht Itinéraire de Paris à Jérusalem in pittoresken Beschreibungen orientalisierte.



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sich z.B. anhand der Reflexionen über die Zigarette gezeigt hat.41 In diesem gespaltenen Diskurs erweist sich der Grat zwischen parodistischer Kritik und gescheiterter Imitation als ziemlich schmal. 2.2.3 Die forcierte Rückkehr zur nationalen Authentizität und das Problem der Schließung Was Giménez Caballeros kritische Inszenierung des spanischen Kolonialismus als Farce fundamental von der Textwelt in Imán oder El blocao unterscheidet, ist das Festhalten an einer Vorstellung von Authentizität, die der militaristischnationalistische und orientalistische Diskurs selbst kodieren. Über weite Teile ist das erzählte Ich in den Marokko-Notizen auf der Suche nach dem Authentischen als etwas, das nach der Vorgabe der exotistischromantischen Tradition irgendwo im Orient selbst seiner Entdeckung harrt. Auch hier zeigt sich eine Unentschiedenheit im Text: Manchmal erlaubt Marokko die Erfahrung des Essentiellen und Tiefsinnigen, oft jedoch erfolgt die enttäuschte Feststellung, dass auch dem ‚Orient‘ seine Authentizität abhandengekommen sei: „El moro no sabe gran cosa de astrología, como a mí me hubiera gustado que supiera. También los moros han perdido los papeles.“ (Ebd.: 84) So droht der spanische Teil Marokkos auch in seinem Angebot an ‚echter‘ Exotik ständig hinter den Kolonien der Großmächte zurückzubleiben. Giménez Caballeros Diskurs lässt immer wieder eine sarkastische oder melancholische Unzufriedenheit erkennen, angesichts des Verlusts der Geheimnisse, die die ‚orientalische‘ Welt noch zu versprechen schien. Ein Schlüsselmoment ist der Besuch der mittelalterlichen Stadtkerne Tetuans und Xauens. Die Invasion dieser mythisch aufgeladenen Orte erlaubt – wie in vielen anderen Kriegstexten – das Eintauchen in eine Welt, in der die urtümliche Vergangenheit Spaniens erhalten zu sein scheint. Dass der Orient eine Rückkehr zu den Ursprüngen der eigenen Geschichte als eine Art regenerative Quelle ermöglicht, ist ein weit verbreiteter Topos der kolonialen Erzähltradition. Im Falle der spanischen Eroberung Nordmarokkos hat diese Vorstellung eine reale historische Dimension, die die Phantasie umso stärker beflügelt: Man möchte in diesen Städten im Herzen des Rif die Nachfahren der Juden und Morisken wiederfinden, die nach der Reconquista im Zuge der Gründung des spanischen Nationalstaats von der Halbinsel vertrieben wurden. So wird das Authentische

41 So z.B. bemerkt Giménez Caballero in Bezug auf die Ausgrabungen in Tamuda: „Es nada menos que una excavación arqueológica fort intéressante, que diremos los franceses.“ (Ebd.: 108)



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gerade dort gesucht, wo die spanische Welt sozusagen vor dem imperialen Niedergang konserviert zu sein scheint. Die Begegnung mit ihr wird damit zum Versprechen einer Wiederaneignung eines Teils der eigenen Identität, der einstmals ausgeschlossen wurde. Als Symbol und Beweis dieser Konservierung eines embryonalen Ursprungszustands stößt man in den alten Stadtvierteln der Juden auf die mittelalterlichen Romanzen, die die sephardischen Gemeinden in einem fossilen Zustand bewahren. Die Vorstellung einer Rückeroberung eines abgespaltenen Elements als nationales Selbstrettungsprojekt findet sich in vielen Texten, besonders anschaulich in Tomás Borrás‫ ތ‬Marokko-Kriegsroman La pared de tela de araña ([1924] 1963): „Aquel romance bárbaro, aquel poema de la Edad Media española estaba vivo en Xauen desde hacía siglos. Era una llamita de nuestro espíritu, alimentada, avivada, inextinguible en el fondo del barrio maldito, del barrio sembrado de sal. Era el idioma, momificado en aquel calabozo, el idioma todavía niño, pero intacto de contaminación, preservado en aquel hoyo de murallas como la flor descantada del alma. La raza vivía igual que en un subterráneo sobre lodo fétido, incomunicada, agonizante. [...] España cuando entraba en aquella ciudad rompiendo su cerco salvaje, cuando descorría su misterio y rasgaba sus velos intactos, no encontraba suntuosas riquezas ni majestuosos futuros. He aquí lo que encontraba: el romance de Delgadita, cantado por una dulce adolescente ‚todavía soltera‘. Y al rescatar su idioma, florecido en labios humildes y puros, era una nación que se rescataba a sí misma.“ (Ebd.: 157)

Auch Giménez Caballero macht sich, wie er in seinen Notizen erzählt, in Nordmarokko auf die Suche nach den mumifizierten Sprachresten des spanischen Mittelalters, an der Seite eines Professors für Philologie, hinter dem sich, wie später erwähnt wird, sein Mentor Américo Castro verbirgt. Bekanntlich geht auf Castro die (später umfassend ausgebaute42) These zurück, dass der Akt des Ausschlusses der jüdischen und islamischen Kultur, in dem sich der spanische Nationalstaat begründete, für die spanische Identität einen Verlust bedeutete, der der Nation schließlich den Weg in die Moderne versperrte. Insbesondere die jüdische Kultur wird im Denken Castros mit der Bedeutung einer verpassten Chance versehen – auf eine eigene, spanische Form der Modernität. In Anlehnung an diese Vorstellungswelten erscheinen die Sepharden in den Notas marruecas gleichzeitig als Bewahrer des Urzustands und Träger des Fortschritts – ein Widerspruch, der hier schlichtweg durch die Einteilung der Juden

42 Als ausführliche historische Theorie wird diese in España en su historia (1948) formuliert.



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in zwei Kategorien gelöst wird: „ese judío tipo del financiero medieval. Y frente a él, europeo moderno, el banquero vestido de chaquet“ (Giménez Caballero [1923] 1983: 132). Somit wird der Besuch der Judenviertel Tetuans und Xauens einerseits zu einer Zeitreise in die mittelalterliche Vergangenheit („en estas tierras donde los judíos y aun los moros guardan un eco fiel de la España vieja“, ebd.: 140).43 Zum anderen jedoch findet Giménez Caballero gerade hier, in der Person eines jüdischen Bankiers, den Stil, die Weltläufigkeit und Modernität, die den kolonialen Repräsentanten der spanischen Nation im Protektorat so beklagenswert abgehe: „Vestía impecablemente, a la europea. Tenía una figura maciza, poderosa [...]; un rostro de hombre de negocios, de hombre de prensa. Nos trató con una urbanidad y un mundo, chocantes en este rincón de morería, y donde tampoco la sociedad española ofrece altos ejemplos de distinción.“ (Ebd.: 134)

Beiden Typen des Juden begegnet Giménez Caballero dabei mit der Fragestellung, in welcher Weise das jüdische Element zur symbolischen Selbstergänzung der Nation oder praktischen Rettung des spanischen Kolonisierungsprojekts beitragen könne. Mit seinem Professor ist er sich einig, „que estos elementos de nuestra zona marroquí era menester utilizarlos con más acierto y delicadeza de lo que se ha hecho hasta ahora. Tanto el empuje emprendedor de los judíos, como la belleza y los encantos de las hebreas“ (ebd. 134). Der Wunsch nach einer Wiederaneignung des ‚jüdischen Elements‘ hat hier auch – wie im obigen Zitat von Borrás – eine geschlechtliche Komponente. Die Jüdin ist ein wiederkehrendes Objekt des sexuellen Begehrens in der Marokko-Kriegsliteratur.44 Im Judenviertel von Xauen sammelt der Philologe Giménez Caballero, so erzählen die Notas marruecas, linguistisches Material aus der spanischen Vergangenheit, um dieses an Ramón Menéndez Pidal zu schicken. Der Text selbst präsentiert sich hier als Ort des Bewahrens in letzter Minute, indem er die Transkription einer Romanze aus dem Mund einer letzten Erinnerungsträgerin beinhaltet. Denn auch hier ist das Ursprüngliche vom Verschwinden bedroht, wie Giménez Caballero feststellt: „En Xauen, las hebreítas, las judías jóvenes, las que debían recoger esta tradición oral, estaban contándose películas.“ (Ebd.:

43 Vgl. auch Giménez Caballero [1923] 1983: 140: „Con un poco de sensualidad histórica puede uno procurarse platos de epicúreo en Tetuán y, en general, en estas tierras donde los judíos y aun los moros guardan un eco fiel de la España vieja.“ 44 Vgl. Kap. 3.2.2. Eine große Rolle spielt die Vorstellung der sexuellen Verfügbarkeit der unverschleierten jüdischen Frauen (im Kontrast zur Unverfügbarkeit der moras).



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143) Und so endet der Teil „La judería“ in einem Vergleich der epischen Qualitäten der mittelalterlichen Romanzen und des nordamerikanischen Kinos. Der Text vollführt somit eine ständige Bewegung zwischen der Beschwörung des Mythischen und seiner Ironisierung, zwischen Rückkehrversuchen zur Tiefensemantik des Essentiellen und der Bloßstellung der Oberflächenstruktur des Performativen, ein Schwanken, das mit der ambivalenten Dynamik zwischen Selbsterhebung und Peinlichkeitsbezeugungen in Bezug auf den kolonialen Auftritt Spaniens zusammenfällt. Es ist, wie unter 1.2.2 beschrieben, von zentraler Bedeutung, in welcher Form die „narratives of struggle“ das Ringen um den Sinn der MarokkoErfahrung zu Ende bringen. Giménez Caballeros Text gehört zu den Konflikterzählungen, die schließlich darauf drängen, ihre widersprüchliche Dynamik zum Stillstand zu bringen und zu einer kompromisslosen Identifikation mit dem Nationalen zurückzukehren – und hier wird der Text schließlich zum Manifest, das den Leser zur Aktion auffordert. Die Notas enden mit einer Art Postskriptum, das die heimkehrenden Soldaten zu einer Gesinnungsgemeinschaft zusammenschließt, auf eine Abrechnung mit den militärischen und politischen Verantwortlichen drängt und zu einem nationalen Erlösungsprojekt mobilisiert: „Si alguien tiene que intervenir, somos nosotros. Nosotros, que hemos hecho la campaña, los que hemos mantenido tantos meses y meses –¡muchachos de blocaos, de esos blocaos trágicos y desamparados!– el que España no se viniese al suelo. [...] Nosotros, que hemos presenciado de cerca la vergüenza de un ejército numeroso, impotente ante una turba de salvajes, de esos moros que no nos debían inspirar más que desprecio y piedad. Nosotros, que estuvimos unidos tantos meses por un acto de honor ante lo de Annual, no nos desunamos ahora.“ (Ebd.: 186)

Die Intervention zielt darauf, die innere Verwerfung, jene Beklemmung, die sich der illusionären Vereinnahmung entzieht, zum Verschwinden zu bringen. Und so wird aus der vergüenza colonial die Notwendigkeit einer Rückkehr zur nationalen Geschlossenheit abgeleitet und im selben Atemzug die zivilisatorische Grenze zwischen dem Spanier und dem moro restauriert. Im Zentrum des Appells steht die Notwendigkeit, zur nationalen Einigkeit zurückzufinden – wobei hier im Verweis auf die verschiedenen Regionen Spaniens die Angst vor einem Auseinanderbrechen des Nationalstaats artikuliert wird. Damit hat Giménez Caballero dem Verharren in den Militärstützpunkten in Marokko nun doch noch einen tieferen Sinn abgerungen: Die Schließung muss außerhalb des Textes, in der Zukunft erfolgen, um der Erfahrung des Kolonialkriegs ein sinnvolles Ende zu verleihen: „¡Tenemos que intervenir juntos otra



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vez en algo común, por lo menos en ese ansia de descargar sobre alguien las fatigas, las arbitrariedades sufridas, el tiempo perdido estérilmente!“ (Ebd.: 187) Diese Position erinnert stark an manche Literatur des Ersten Weltkriegs, die Leonhard Smith als „Genre of Consent“ bezeichnet (Smith 2007: 107-147): Sie setzt die Mobilisierung zu einem gewaltsamen Interventionismus fort und führt schließlich in den zweiten Weltkrieg – wie im Falle Spaniens in den Bürgerkrieg: Das Bekenntnis zum nationalen Auftrag wird zu einem Selbstwert, der über den Krieg hinaus den Sinnhorizont der Heimkehrenden strukturiert. Es ist vielleicht gerade die gewaltsame Schließung der Ambivalenz der kolonialen Erfahrung und der Wunsch nach Eigentlichkeit und Totalität, die den Grundstein des faschistischen Gedankengebäudes legen. So stellt Selva fest: „En Giménez, a la plena convicción nacionalista por la que se decanta sin equívocos al final del libro, se suma una idea de la militancia entendida como prosecución del espíritu guerrero tras la desmovilización. De momento parece una intuición escasamente precisa y definida, pero irá cobrando fuerza a medida que su acercamiento al fascismo sea un proceso con un margen cada vez menor de reversibilidad.“ (Selva 2000: 48-49)

Tatsächlich bleibt die genaue ideologische Natur des angestrebten Projekts noch im Unklaren: Giménez Caballero spricht von einer „nueva impresa común y nacional“ (Giménez Caballero [1923] 1983: 187), die – neben der „depuración de las responsabilidades“ – keinen genaueren Inhalt als die nationale Einheit hat. Die Entschlossenheit des Aufrufs täuscht letztendlich darüber hinweg, dass die Frage, was mit dem marokkanischen Protektorat selbst nun geschehen soll, ungelöst bleibt. Die letzten expliziten Worte dazu spricht das erzählte Ich bereits einige Seiten vorher, in einem Dialog mit einigen ‚französierten‘ Marokkanern in Tanger, und diese zeugen von Ratlosigkeit: „Permanecemos por una fuerza mayor que ¡ojalá! pudiéramos vencer. Claro que entonces caería todo el tinglado de nuestro régimen. Si se abandona Marruecos, España se puede disolver.“ (Ebd. 174) Wenn mit der Aufgabe des Protektorats die Auflösung der nationalen Einheit droht, gleichzeitig jedoch das Kolonisierungsprojekt der ‚Selbstwerdung‘ Spaniens im Wege steht, dann gibt es keine Lösung des ‚Marokko-Problems‘, die die ersehnte Rückkehr zur nationalen Authentizität und Geschlossenheit erlaubt. Und somit entpuppt sich der nationalistische Interventionismus der letzten Seiten als Versuch, der „DissemiNation“, die mit der Marokko-Erfahrung einhergeht (vgl. Kap. 4), Einhalt zu gebieten, ohne dass eine überzeugende Antwort auf die ‚koloniale Frage‘ gefunden wäre.



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2.3 N ARZISSMUS , S CHULD UND P ARANOIA: V ÍCTOR R UIZ ALBÉNIZ ʼ ¡K ELB R UMI ! (1922) ¡Cómo librarme de este tormento de sentirme yo mismo despreciable, abyecto, cobarde, asesino! ¡Y el sueño, que no ha vuelto a mis ojos! VÍCTOR RUIZ ALBÉNIZ, ¡KELB RUMI! (1922)45

2.3.1 Die Rhetorik der Erhabenheit und ihre psychopathologische Rahmung Víctor Ruiz Albéniz’ Roman ¡Kelb Rumi! (1922) erzählt das koloniale Desaster in Marokko anhand der Geschichte des psychischen Zerfalls eines Militärarztes, der eine Krankenstation in einem der spanischen Außenposten im Rif betreut und bei der Niederlage von Annual in Kriegsgefangenschaft gerät. Die Geschichte ist eingebettet in einen psychopathologischen Interpretationskontext und legt damit eine Deutung in solchen Begriffen nahe: Sie beginnt in der Psychiatrie und endet im paranoiden Wahn des Arztes in dem Moment, da sein GrößenSelbst an der Unvereinbarkeit der Ansprüche des Kolonialismus und der Realität des Kriegs zerbricht. Dabei spielt die Schuld über die Verletzung der moralischen Normen, in deren Namen sich die Hauptfigur in ihrer Zivilisierungstätigkeit idealisiert, eine bedeutende Rolle. Wie sich zeigen wird, ist auch hier der ideologische Erzähldiskurs geprägt von einer tiefen Ambivalenz und endet in der Entscheidung für den Patriotismus um jeden Preis, die sich im Kontext der Krankheitsgeschichte jedoch als problematisch ausstellt. Der Titel ¡Kelb Rumi! ist ein Homonym und lässt die Struktur des Wahns erkennen, der sich in dieser Erzählung Raum verschafft: Es handelt sich um ein arabisch-berberisches Syntagma, bei dem – durch die Einebnung einer phonologischen Distinktion im Spanischen – die arabischen Wörter (‚qelb‘ – ‚Herz‘) und (‚kelb‘ – ‚Hund‘) ununterscheidbar werden. „Kelb Rumi“ kann also „Christenherz“ und auch „Christenhund“ bedeuten, im letzteren Sinne ein Schimpfwort, mit dem die Einwohner des Rif die spanischen Invasoren beleidigten. In Form dieser berberischen Anrede wird in Ruiz Albéniz‫ ތ‬Roman der Aspekt der Selbstwahrnehmung im Spiegel des kolonialen Gegenübers in den Vordergrund gestellt: In der Anrede zeigt sich einerseits der narzisstische Wunsch, „dass der Andere das Selbst autorisieren und dessen Priorität anerkennen, seine Konturen ausfüllen, seine Referenzen vervollständigen [...] und seinen gebrochenen Blick

45 Ruiz Albéniz 1922a: 304.



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befrieden möge“ (Bhabha [1985] 2007: 146), und zugleich die „Konjugation des Verfolgungswahns“, die die Frustration dieses Wunsches in Gang setzt und in der Feststellung enden muss: „Er hasst mich“ (ebd. 148). ¡Kelb Rumi! erzählt davon, wie so die moralische Selbstidealisierung im Blick des Anderen („corazón cristiano“) in (Selbst-)Verurteilung und Schuld umschlägt („perro cristiano“). Die ‚gespaltene Zunge‘ und Doppeldeutigkeit der Anrede wird dem Protagonisten zur paranoiden ‚Bedeutungsverknotung‘ und fixen Idee. Es ist vielsagend, dass sich die Selbstdefinition im Spiegel des kolonialen Gegenübers auch in dem Beinamen oder Pseudonym wiederfindet, unter dem der Autor seine Texte publizierte: Víctor Ruiz Albéniz nannte sich gegenüber seiner spanischen Leserschaft Tebib Arrumi („el médico cristiano“), und als solcher wird auch der Protagonist, der Militärarzt Alberto, anfangs noch ehrerbietig von den Bewohnern des Rif bezeichnet.46 Es ist davon auszugehen, dass die Erzählung autobiographisch geprägt ist: Der Autor war seinerseits in der Funktion eines Arztes 1908 nach Nordmarokko geschickt worden, um die Arbeiter der Mine von Beni-Bu-Ifrur medizinisch zu betreuen, musste jedoch feststellen, dass die Mine nicht in Betrieb war und die Eisenbahnlinie, die ihn täglich von Melilla aus zu seinem Arbeitsplatz befördern sollte, noch nicht existierte (Ruiz Albéniz 1922b: 16).47 In den folgenden zehn Monaten war Ruiz Albéniz stattdessen als Arzt im Dienste des Rogui tätig und erkundete auf dem Eselsrücken die umliegenden Berberdörfer, wobei er sich unter ihnen als heilender Helfer einen Namen machte (ebd.: 17f). Durch seine Reisen und den engen Kontakt zur einheimischen Bevölkerung wurde er bald zum Spezialisten in der ‚Marokko-Frage‘. Dieses Expertentum stellte er in den Folgejahren in den Dienst des spanischen Militärs, dem er bereits im Verlauf des Kriegs von 1909 zu Rate stand. Die damit verbundene moralische Problematik verschafft sich, wie sich zeigen wird, in ¡Kelb Rumi! einen breiten Raum. Denn der Medizin wurde im spanischen Protektorat in Marokko eine zentrale Aufgabe bei der penetración pacífica zugeschrieben; sie sollte dazu dienen, das Vertrauen der Einheimischen für das Projekt der ‚Zivilisierung‘ durch die Spanier zu gewinnen, und gleichzei-

46 „Una vez más quedaba demostrada la poderosa influencia de la Medicina sobre aquellos desgraciados, que a coro pedían a su Dios la baraka [Fußnote: Bendición] para el Tebib Arrumi que tanto bien les hacía.“ (Ruiz Albéniz 1922a: 252-253) 47 Vgl. ebd.: „Cuando llegué a Melilla y me presenté al representante de la Compañía, el ingeniero D. Manuel Becerra, éste se rió no poco al oírme preguntar: ‚¿A qué hora sale el ferrocarril para la mina?‘ No había ferrocarril, ni explanación siquiera. Por aquella fecha ningún español podía asomar el cuerpo más allá de la Posada del Cabo Moreno, donde el Roghi tenía establecida su aduana y una guardia.“



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tig durch diese Vertraulichkeit Informationen zum Zweck der Machtkonsolidierung liefern (vgl. Mateo Dieste 2003: 110). Während des militärischen Konflikts von 1909 begann Ruiz Albéniz seine langjährige Tätigkeit als Korrespondent für verschiedene spanische Zeitungen, darunter das Diario Universal und El Liberal. Neben zahlreichen Chroniken aus den Kriegen in Marokko verfasste Ruiz Albéniz bis in die Franco-Zeit hinein mehrere Monographien zu Fragen der Kolonialpolitik in Nordafrika – Früchte seines lebenslangen Bemühens, der spanischen Bevölkerung den Wert des Protektorats in Marokko nahezubringen. Bei dieser Mission begab er sich auf eine „idiosynkratische politische Odyssee“ mit zunehmender Rechtstendenz: „from republican to monarchist, from opponent to supporter of Miguel Primo de Rivera, and finally to unrivalled fan of Franco“ (Ribeiro de Meneses 2005: 39). Dabei vollzog Ruiz Albéniz eine Gratwanderung vom Kriegskritiker und Vertreter der penetración pacífica zum Befürworter einer Kolonisierung auch um den Preis von Krieg und Gewalt – eine Bewegung, die sich ebenso auf der politischdiskursiven Textebene innerhalb des Romans ¡Kelb Rumi! erkennen lässt. Die Publikation von Chroniken setzte er im Bürgerkrieg weiterhin unter dem Namen Tebib Arrumi fort, wobei er sich in die Position eines der wichtigsten Propagandisten der Nationalen aufschwang. Fiktionale Erzählungen schrieb Ruiz Albéniz nur wenige: zwei kürzere Geschichten, die die Kriegsereignisse von 1909 thematisieren,48 und als einzigen Marokko-Roman ¡Kelb Rumi!, der sich den Ereignissen des Jahres 1921 widmet und bis auf kurze Bezugnahmen in Überblicksstudien49 kultur- und literaturwissenschaftlich unbeachtet geblieben ist. Über das Desaster von Annual, das Ruiz Albéniz aus relativer Nähe erlebte, verfasste er daneben die umfangreichen Dokumentationen España en el Rif (1921) und Ecce homo (1922). Darin versucht er anhand einer Fülle an Material den Hergang des Geschehens im Sommer 1921 zu rekonstruieren und die Frage der politischen und militärischen Verantwortung zu klären. Es geht hier in erster Linie darum, General Fernández Silvestre die Hauptschuld an der Niederlage zuzuschreiben und Damaso Berenguer zu entlasten (vgl. Ribeiro de Meneses 2005). Diese Schuldverteilung wird auch in ¡Kelb Rumi! vorgenommen, wo die semifiktionale Inszenierung des Desasters einen breiten Raum einnimmt. Eingebettet in eine Rahmenhandlung, die in erster Linie eine Herausgeberfiktion etabliert, besteht die Haupterzählung aus zwei großen Teilen: Im ersten Teil wird die Niederlage von Annual aus der Perspektive des überlebenden Pro-

48 „La carga de Taxdirt“ und „Bu Suifa“ erschienen beide 1914 in El libro Popular. Revista Literaria, Nr. 7 und Nr. 23. 49 So in López Barranco 1999: 332-333, 395-397 u. Carrasco González 2000: 93-97.



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tagonisten erzählt, im zweiten seine anschließende Gefangenschaft in einem Berberdorf. Auch ¡Kelb Rumi! ist ein Strukturhybrid, in dem verschiedene Textwelten aufeinandertreffen: Die realistische, fast dokumentarische Behandlung des Hergangs des Desasters und der damit verbundenen aktuellen gesellschaftspolitischen Diskurse, verknüpft mit autobiographisch-testimonialen Elementen, ist durchsetzt von Motiven aus der literarischen Tradition des cautiverio aus dem Siglo de Oro und dem exotistischen Universum orientalistischer Liebesgeschichten. Stilistisch ist der Text überwiegend den Erzählformen des 19. Jahrhunderts verhaftet und zeigt immer wieder einen Hang zur affektierten Rhetorik und zum pathetischen Kitsch (vgl. López Barranco 1999: 397). Das gesamte Konglomerat ist in das Setting eines „asilo de dementes“ einbettet: In der Rahmenhandlung wird der autodiegetische Erzähler, wiederum ein Arzt, nachts in der Anstalt zu einem Notfall gerufen. Ein kürzlich eingewiesener Verrückter hat sich im Delirium eines Wutanfalls der Anstaltsräume bemächtigt. Der frisch Internierte ist der spanische Militärarzt Alberto, der sich in einem der Militärposten in der Nähe von Melilla eingefunden und erst die Sprache, dann den Verstand verloren hat. Der Fall, der hier aus der Erzählperspektive des Anstaltsarztes geschildert wird, stellt sich so dar: Der Verrückte ist unfähig zu jeder Form direkter Kommunikation, in seiner Apathie und Isolation widmet er sich in erster Linie dem Schreiben. Diese Phasen werden durchbrochen von affektiven Extremzuständen zwischen Jähzorn und Melancholie, während derer der Kranke Wörter in Berbersprache im Tonfall zorniger Verwünschungen ausstößt: „[...] entre dientes, frunciendo el ceño, apretando los puños y elevándolos, con acento de ira reconcentrada, lanzaba, iracundo, su eterna y única exclamación: ‚¡Kelb Rumi! ¡Kelb Rumi! ¡Kelb Rumi!‘“ (Ruiz Albéniz 1922a: 11, Hervorh. im Original) Die Attacken münden in ein „verdadero cuadro de manía persecutoria“ (ebd.: 9): „[...] sin duda acosado por la idea obsesionante de una terrible persecución, buscaba un rincón oculto, donde hurtaba por largas horas el cuerpo a todas las miradas“ (ebd.: 11). In besagter Nacht schließlich stirbt der Patient. Vorher jedoch gelingt es dem Nervenarzt, dem Kranken sein Geheimnis zu entlocken: Kann er zunächst mit Hilfe eines Arabisten die Doppeldeutigkeit der Wortverbindung „Kelb Rumi“ aufdecken, so erklärt sich das Krankheitsbild aus den Aufzeichnungen Albertos. Sein Heftchen mit dem Titel Diario del Kelb Rumi verteidigt dieser zunächst gegen den Zugriff des Anstaltsarztes; nachdem er in Zwangsjacke und Gummizelle zur Ruhe gekommen ist, übergibt er es jedoch seinem Betreuer mit der zahmen Gestik eines Moribunden. Damit wird einerseits der Nervenarzt als Transkriptor und fiktiver Herausgeber der Geschichte etabliert, andererseits von vorneherein das seelische Schicksal abge-



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steckt, auf das der intradiegetische Erzähler und Protagonist im nun folgenden Hauptteil zusteuert. Der medizinisch-psychiatrische Diskurs beschränkt sich auf das „Proemio“. Er ist jedoch mit Versatzstücken erhabener Vaterlandsrhetorik vermischt, eine Sprache, die im Kontext des psychischen Störungsbildes etwas deplatziert erscheint: So wird das Bemühen des Anstaltsarztes aus einer patriotischen Pflicht begründet (ebd.: 9) und die Geschichte des Patienten zugleich als „epopeya“ (ebd.: 8) bezeichnet, bei der dieser sein Geisteslicht heldenhaft geopfert habe. Nach seinem Tod kommt ihm dann auch die symbolische Prämie des Vaterlandopfers zu: „la corona que tan justamente había conquistado: ¡la del martirio!“ (ebd.: 15). Die Ausstattung des Todes mit solch transzendentaler Bedeutung mag im Kontext von Zwangsjacke und Gummizelle nicht wirklich gelingen, in der Diskursvermischung erscheint die epische Zeichenwelt von Anfang an destabilisiert. Wird hier die Geschichte der Aufopferung eines Helden geschrieben oder die der psychischen Auflösung eines traumatisierten oder gespaltenen Subjekts? In Hinblick auf diese und andere Unentschiedenheiten ist ¡Kelb Rumi! ein weiteres Beispiel für eine Konflikterzählung oder einen Grenztext. Der Roman kann sowohl als erzählerischer Befund als auch als Manifestation eines ‚Krankheitsbildes‘ gelesen werden, da er zum einen den psychischen Weg eines in seinem Selbstbild gebrochenen ‚Kolonialherrensubjekts‘ nachzeichnet, zum anderen aber selbst immer wieder als Form des narzisstisch motivierten Schreibens erkennbar wird, in dem sich bestimmte Anzeichen von Paranoia und Schuld wiederholen. Dies zeigt sich in der ständigen Rückholung der Rhetorik der Erhabenheit einerseits, andererseits in der Sprache von Hass und Verdächtigung in Bezug auf den berberischen ‚Pöbel‘, die im zweiten Teil der Erzählung dominant wird. Dabei kann der Erzähldiskurs der Binnengeschichte nicht einfach als ‚kranker‘ gelesen werden, denn in seinem Oszillieren zwischen Bestätigung und Destabilisierung des Epischen unterscheidet er sich nicht wesentlich von der ersten Textebene (des Psychiaters). Vielmehr scheint es in dieser Hinsicht, als spräche hier durchgängig eine Stimme (die des Tebib Arrumi?), die immer wieder auch nach der Anerkennung durch die Leserschaft verlangt. Dies zeigt sich besonders am Anfang der Haupterzählung, die mit der Beschreibung der Tätigkeit Albertos als Arzt im Militärstützpunkt in äußerster Lage im Rif einsetzt. Hier kommen zunächst auf aufdringliche Weise die narrativen Strategien kolonialer Selbst-Affirmation zum Zug, der Idealisierung des Protagonisten im Namen von Fortschritt, Wissenschaft und Menschlichkeit. In der Heiltätigkeit des Arztes erfüllt sich ganz das Projekt der ‚Reformierung des Anderen‘ im Dienste der Humanität, auf das die Rifbewohner mit Dankbarkeit und



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Bewunderung reagieren: „cómo quedaban maravillados y llenos de gratitud al notar los efectos asombrosos de los consejos, curas y medicinas del tebib español“ (Ruiz Albéniz 1922a: 19). Der Arzt seinerseits freut sich über das unverfälschte Studienmaterial, „materia prima. Gentes robustas, de razas puras, en las que las dentelladas de los venenos sociales aun no habían hecho presa“ (ebd.). Die Zivilisierungstätigkeit des Arztes erfährt hier in der sozialen und rassischen ‚Unverdorbenheit‘ der Berber50 ihre Rückspiegelung. Diese begründet sich zunächst im Kontrast zur moralischen Verkommenheit einer Gruppe kriegstreiberischer spanischer Militärs, die sich, in arroganter Selbstüberschätzung gegenüber den Einheimischen, dem Alkoholismus und der Spielsucht hingeben. Wie sehr sich der Menschenfreund im ergebenen Blick der Kolonisierten gefällt, zeigt sich insbesondere im Modellfall des einheimischen Jungen „Perra Chica“, dessen freundschaftliche Zuneigung den Spaniern zur „coronación gloriosa de nuestro prestigio“ verhilft (ebd.: 19). Vom Militärarzt geheilt und dank zärtlicher Zuwendung von seinem anfänglichen Misstrauen befreit, führt die Figur das – im afrikanistischen Diskurs vielfach beschworene – Ideal einer spanischen Tutorschaft gegenüber dem Marokkaner als kleinerem Bruder vor. „Perra Chica“ wird dabei seinerseits zu einer Art ‚mimic man‘: Als (illegitimer) Sohn des einflussreichen, jedoch gegenüber den Spaniern distanzierten Scherifen der benachbarten cabila, könnte der Junge, wie der Text suggeriert, zum strategischen Vermittlungsglied zwischen spanischen Besatzern und einheimischer Bevölkerung werden und dabei helfen, die friedliche Kolonisierung real werden zu lassen. Am Rande sei darauf verwiesen, dass diese Modell-Beziehung der penetración pacífica nicht nur paternalistisch, sondern auch leicht homoerotisch geprägt ist.51 Der Kontext, in dem der Junge von den spanischen Soldaten seinen Spitznamen verliehen bekommt, ruft unterschwellig eine Prostitutionssitutation auf:

50 Welche Rassentheorie hier in Bezug auf die Berber zugrunde liegt, wird nicht konkretisiert. Zu der Frage der Rasse der Berber zirkulieren in der Kriegsliteratur die verschiedensten Ideen, wobei die Berber gegenüber den Arabern mal eine minderwertige, mal eine höherwertige Position in der Rassenhierarchie einnehmen (vgl. Kap. 1.3.1). In der Vorstellungswelt von Giménez Caballero z.B. haben manche Berber germanische Erbanteile von den Vandalen (Giménez Caballero 1983: 157). 51 So z.B. in folgender Szene, in der Alberto von „Perra Chica“ Blumen überreicht bekommt: „[Alberto:] –‚Perra Chica‘, me traes un extraño regalo. En España, las flores sólo son ofrecidas de hombre a mujer o de mujer a hombre, pero no entre camaradas del mismo sexo. [...] Sentado estaba yo en la cama y a mi lado vino ‚Perra Chica‘. Muy dulcemente, con evidente emoción, mezclando en su relato palabras españolas y rifeñas, atrayéndome hacia sí con la presión de uno de sus brazos, con el que rodeó mi



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„Su remoquete de ‚Perra Chica‘ le venía de que, seducidos por su atrayente simpatía, desde los primeros días, los oficiales que acudían a mi tienda de campaña a interesarse por su estado, le daban, para calmar su gracioso enojo ante tanta curiosa visita, monedas de calderilla [...]. Un día, cuando a su cama se acercó un oficial, que paseó su mano cariñosamente por la redonda carita del muchacho, sin que éste ya rechazase el halago, alegremente y tendiendo la mano al que le acariciaba, exclamó: –¡Perra chica!“ (ebd.: 21)

Das Dulden der Zudringlichkeiten des Offiziers am Bett des Jungen wird direkt mit einer Münze („perra chica“) entschädigt. Das Einkassieren von Geld ist ab dann Teil der Beziehung des Jungen zu den Soldaten. Hier scheint auch durch, wie die penetración pacífica im Protektorat in die Praxis umgesetzt wurde: Die ‚Freundschaft‘ bestimmter Kabylen wurde in erster Linie durch Geldzuwendungen von den Spaniern erkauft. Die latente Homoerotik wird jedoch aus dem Text bald verdrängt, als „Perra Chica“ seine Schwester Nuria, die schöne 15jährige Tochter des Scherifen, ins Lager bringt in der Hoffnung, der allmächtige Arzt werde sie von ihrer Blindheit heilen: „[...] yo sé, tebib, que tu eres bueno y que contigo, aunque cristiano, [...] está el espíritu de Dios, del Dios Único y Omnipotente. Yo he oído decir que vosotros tenéis el poder de volver la vista a los ciegos [...]“ (ebd.: 28). Sogleich nimmt Alberto die beiden für mehrere Tage zu sich und das Projekt in Angriff, das metonymisch für die Kolonisierung als aufklärerische Unternehmung steht („librar a aquella criatura tan bella de su tormento de tinieblas“, ebd.: 33). Hier bereitet sich die Romanze im traditionellen Stil orientalistischer Liebesgeschichten vor: Die heimliche Liebe zu einer Tochter eines ‚orientalischen Stammesfürsten‘, verbunden mit dem Motiv des Haremsverbots und seiner Überschreitung. 2.3.2 Szenerien der Vermischung Zunächst jedoch fordert die Realität des Kriegs ihren Raum im Roman. Im Kapitel „Escenas del campamento la víspera del desastre“ beschreibt der Text die Wirklichkeit des Lagerlebens und beschreitet hier eine Grenzlinie, die für viele Erzähltexte des Desasters von Annual bezeichnend ist: zwischen der Beschreibung des ‚bunten Soldatenlebens‘ im Stil des kostumbristischen Realismus, wie es aus der Literatur des Afrika-Kriegs des 19. Jahrhunderts überliefert ist, und

cuello, dijo [...]“ (Ruiz Albéniz 1922a: 25). Zur Homoerotik im Marokko-Krieg vgl. Martin-Márquez 2008: 184-192. Zum Gendering des Desasters von Annual vgl. Kap. 3.



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einer anklagenden, kritischen Dokumentation der bitteren Wirklichkeit des Kriegs: von Fieberkrankheiten, Erschöpfung und militärischer Gewalt. Der Text baut nun mittels düsterer Zeichen auf, wie sich das Desaster zusammenbraut: Die Kranken aus den umliegenden Dörfern bleiben dem Lazarett des Tebib Arrumi fern, der Versorgungskonvoi aus dem Hauptlager trifft nicht ein, die Schutzeskorte für den Wassertrupp kehrt nicht zurück. Am Vorabend des Desasters wird hier eine klare moralische Polarisierung der Figuren vorgenommen, die sich jedoch nicht mit der militärischen Frontlinie deckt und so den Identifikationskonflikt des Protagonisten vorbereitet: Das zerstörerische Element, das die anfänglich so vielversprechende koloniale Beziehung zur Eskalation bringt, ist in erster Linie das Fehlverhalten der spanischen Soldaten und Offiziere, die die kulturellen Regeln und Ehrenkodizes der Berber missachten – allen voran eines Hauptmanns mit dem sprechenden Namen Veneno und des Oberst Don Espadón, einer Kopie des als hochmütig charakterisierten Generals Silvestre. Die Selbstgerechtigkeit, Respektlosigkeit und Unkenntnis der spanischen Militärs bringen also die Katastrophe in Gang – und damit auch die Heilung Nuras in ihrer metaphorischen Bedeutung in Gefahr – in einem brisanten Moment, der diplomatisches Geschick erfordert. Alberto und die Scherifenfamilie hingegen bilden eine Gemeinschaft edler Gesinnung: Gegenüber der um sich greifenden Verrohung ist ihre Beziehung das moralische Modell, in dem aufklärerischer Humanismus mit archaischem Ritterethos verschmelzen. Die Erzählung knüpft mit diesem großmütigen Freundschaftsideal an die literarische Tradition der novela morisca und der romances moriscos an:52 Im Gemetzel des Kriegs halten Arzt und Scherif sich an ihr Manneswort. Während sich die Katastrophe drohend aufbaut, wird vorgeführt, wie sich die Situation im Lager zu politisieren beginnt: Der Text bewegt sich hier – für einen Augenblick – auf den für die Annual-Literatur bezeichnenden Umschlagspunkt zu, an dem der traditionelle autoritäre Erzählermonolog in den sozialrealistischen Soldatendialog übergeht und in die Brisanz der subalternen Perspektive. Dabei wird das Problem der Klassendifferenzen bei der Rekrutierung für den Krieg laut und die Frage nach dem Rückhalt in der Bevölkerung und der Motivation der Soldaten. Nicht nur die Möglichkeit bedingungsloser nationaler Identifikation, sondern auch die Rechtmäßigkeit des Kolonisierungsprojektes an sich

52 Wie in Kapitel 1.3.1 beschrieben, verklärte die novela morisca, für die die Historia del Abencerraje (Mitte des 16. Jhts.) traditionsprägend war, restrospektiv die Kontakte zwischen Mauren und Spaniern und stand ihrer eigenen Gegenwart, der Realität der Moriskenverfolgung und Zwangskonversion, wahrscheinlich kompensatorisch, evtl. auch kritisch gegenüber (vgl. hierzu z.B. Carrasco-Urgoiti 1976; Redondo 1995).



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wird aus der Perspektive des ‚einfachen Mannes‘ in Frage gestellt und die Legitimität des Widerstandes der Kabylen anerkannt: „Para ellos, el ideal es volver a sus casas, a sus talleres, a sus campos, a labrar sus tierras [...] no son ni más ni menos valientes que los otros hombres, y que quizá lo sean menos que los rifeños, porque éstos defienden lo suyo, sus tierras, su independencia, y nosotros... ¿tú te has parado a pensar por qué y para qué estamos aquí? [...] hoy por hoy, tenemos sobre esta tierra, ya bien empapada de sangre española, exactamente el mismo derecho que puedan tener los chinos sobre las llanuras de Castilla.“ (Ruiz Albéniz 1922a: 87)

Eine allgemeine Spannung zwischen Loyalitätsanspruch und Glaubenskrise in Bezug auf die imperiale Mission macht sich breit. Während die Offiziere bis zuletzt die Anzeichen eines Angriffs der Rifberber als „absurd“ von sich zu weisen versuchen, greift zugleich eine Atmosphäre von Angst und Beklemmung um sich, die auch Albertos Seelenraum befällt: „[...] una sensación de terror, de miedo a lo desconocido, como germina en el alma un imperioso temor, ante la nube tormentosa que se apiña en el cenit y va extendiéndose, absorbiendo ávida la luz del día, ganando lúgubre el inmenso azul y llegando hasta nuestro cerebro, hasta nuestro corazón [...].“ (Ebd.: 79)

Der Arzt schickt die frisch operierte Nura und Perra Chica in ihr Dorf zurück und wird bald darauf von einem Sklaven des Scherifen besucht, der ihm zur Flucht rät und den Schutz seiner cabila anbietet. Der Erzähler weist dieses Angebot entrüstet zurück und klammert sich dabei an die Floskeln der Vaterlandspflicht, der Sprechakt mag jedoch nicht gelingen: „[...] pronuncié palabras que en vano quise vestir de serenidad y grandeza, porque a mí mismo me sonaban a melancolía aceptación del fatal destino que se me anunciaba.“ (Ebd.: 116-117) In der Erzählung des Desasters, die nun folgt, wird gleichermaßen auf der Ebene des discours eine patriotisch-erhabene Sprache aufrechterhalten („ataques gloriosos“, „héroe“, „epopeya“, ebd.: 131, 155) und trotz der konträren Richtung, in die die Lesersympathie zunächst geleitet wurde, in vaterländischer Identifikation der vorläufige Sieg der Spanier gegen die Rifberber gefeiert, die nun zu Bestien degradiert werden: „¡Habíamos rechazado la avalancha de las fieras del Rif! ¡La posición quedaba por España!“ (Ebd.: 152) Dass die Loyalitäten jedoch ambivalent bleiben, zeigt die doppelte Erzählung vom gegenseitigen „Verrat“. Verrat und Rache sind die üblichen Begriffe, die in der militärischen und journalistischen Berichterstattung über das Desaster immer wieder bemüht werden, um zu einem militärischen Gegenschlag zu mobilisieren.



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Die Wörter changieren jedoch in den Bedeutungsrelationen, die sie aufrufen, innerhalb vieler Texte.53 Sie lassen eine Unentschiedenheit in Bezug auf die Frage von Solidarität und rechtes Verhalten bei der Niederlage von Annual erkennen: Wer hat wen verraten und an wem soll man sich rächen? Im Kapitel „Asalto y traición“ wird zunächst der Angriff der Kabylen und der Seitenwechsel der Policía indígena als Verrat erzählt. Damit wird die Ökonomie der emotionalen Identifikation des Lesers jedoch durcheinandergebracht: Seine Sympathie wird auf die Kriegspartei der Spanier umgelenkt, nachdem doch die Rechtmäßigkeit der gewaltsamen Kolonisierung („nuestra falsa dominación“ ebd.: 116) wenig vorher in Frage gestellt wurde, ja angesichts des Betragens der Spanier ein Angriff der Kabylen nur recht und billig erscheint: „No hay ya en todo el Rif ni un solo creyente que no goce de antemano con el placer de haceros pagar todas las humillaciones de que nos habéis hecho víctimas en estos años“, spricht der Entsandte des Scherifen (ebd.: 116). Im selben Kapitel wird jedoch noch ein weiterer Verrat erzählt: Die Truppen des Scherifen unterbreiten trotz ihres wahrscheinlichen Siegs ein Gesprächsangebot, eine Delegation reitet unter dem Schutz der weißen Fahne in das Lager und bietet im Gegenzug für die Übergabe der Stellung und der Waffen an, das Leben der Soldaten zu schonen. Die Spanier lehnen das Angebot ab und nehmen auf Anstiftung Venenos die Kabylendelegation gefangen. Angesichts dieser Verletzung des Kriegsrechts beschimpfen nun die Rifberber die Spanier als „¡Perros traidores!“ (Ebd.: 147) Die erzählte Welt wird nun von Chaos und Gewalt heimgesucht, auf dem Höhepunkt der Erzählung des Desasters dominiert vorübergehend der physische Horror – eine groteske Szenerie aus Blut, zerstörten Körpern und verwundetem Fleisch: „Sangre en las manos, donde forma una segunda epidermis. Sangre en los blusones, hasta hacer desaparecer por completo su albura. Sangre en los vendajes, en los cuerpos de los heridos, en el suelo, en las paredes, en nuestras caras mismas, que esta vena cortada por la gumía enemiga, y aquella arteria rota al buscar nerviosamente la bala oculta entre la masa blanduzca y caliente de los músculos, engendra el sello del dolor de la guerra [...].“ (Ebd.: 130) „Aquellos ojos, abiertos o guiñados en guiño repulsivo, verdaderamente rufianesco; aquellas bocas, que mostraban los huesos amarillos o sarrosos como aberturas de algo que es centro de inmundicias; aquellos brazos retorcidos, piernas a medio doblar y, sobre todo,

53 In Bezug auf den Begriff der Rache zeigt sich das in Eliseo Vidals ¡¡¡Los muertos de Annual ya son vengandos!!! (vgl. Kap. 4.4.2).



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algo que no se ve nunca, nunca más que en los muertes de accidente: las ventanas de la nariz dilatadas enormemente, con doble, triple tamaño del normal [...]“ (ebd.: 137-138)

Diese Bildersprache des Grotesken54, die in anderen Marokko-Erzählungen dem Legitimierungsdiskurs über Ehre und Heldentum systematisch den Geltungsanspruch entzieht (vgl. Kap. 5), zeigt sich in ¡Kelb Rumi! im Konflikt mit diesem. Die alte Sprache, immer wieder um Gültigkeit bemüht, scheint in Einzelmomenten ins Ironische zu kippen: „Allí estaban, pues, los héroes de la jornada, sobre el suelo del cuarto que servía de almacén, muy cerca los unos de los otros para ahorrar espacio; tan cerca, que se tocaban entre sí como formando una cadena de bien ajustados eslabones.“ (Ebd.: 136) Der Krieg wird zu einer schockierenden medizinischen Angelegenheit, so in der Szene, als der Arzt Alberto einen Arm amputiert: „con cuatro golpes de tijera rudos, secos, hondos, de podador, acabé allí mismo, al aire libre, de separar aquel brazo magullado del sangrante tronco.“ (Ebd.: 155-156) Das tote Stück Fleisch wird auf den Boden geworfen und von der Wirtin der Militärkantine in ihre Schürze gewickelt. Auch hier wird das Groteske, der nackte „Horror des Partialobjekts“ (vgl. Žižek 2008: 12), auf kuriose Weise vermischt mit einer Sprache des Sublimen: Die Kantinenwirtin wird als „heróica“ bezeichnet und ihre Handlung als Gestus der Pietät einer „madre dolorosa“. Man beschließt dann noch, den Amputierten vor die Schutzwälle zu zerren, um ihm einen Heldentod zu ermöglichen: „Será la laureada y será... su muerte dulce [...]“ (Ruiz Albéniz 1922a: 156). In den Verzögerungspunkten macht sich eine Resistenz bemerkbar, die bewirkt, dass die Kategorie des „süßen Todes“ im Grunde genommen nicht greift. Hier findet sich ein schockierendes Zeugnis der grotesken und traumatischen Dimension des Kolonialkriegs abgelegt, das nur schwer vereinbar ist mit der Lesart des Tragisch-Epischen, die die Überschrift des ersten Teils („La trágica epopeya“) als Sinnschema anbietet. In der Vermischung verliert die Erzählung ihre Stabilität und lässt die Unbestimmtheit entstehen, die für viele Konfliktnarrative des Desasters charakteristisch ist.

54 „[...] uno de los pajarracos dió fuerte aletazo a la cabeza del oficial muerto, que basculó y ofreció a mi vista dos tercios de cara: una boca torcida por la ironía de una sonrisa que descubría el blancor de los dientes, un ojo abierto, turbio, rodeado de motas de tierra. De debajo de la cara surgieron, reptando por la mejilla del muerto, unos insectos pequeños, negros, asquerosos. ¡Oí el golpe del picotazo, lo sentí en mis propios ojos... y huí como un loco, como un desesperado, hundiendo la cara entre mis puños epilépticos, que en vano querían, con presión brutal, arrancar de mí la impresión horrible de aquel martirio!...“ (Ebd.: 159)



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2.3.3 Umschreibung der cautiverio-Erzählung: Das double-bind und die abschließende Ironie der Mimikry Die Belagerung und der Kampf nehmen, der historischen Realität entsprechend, ein böses Ende: Die Überlebenden im Lager beschließen, sich zu ergeben. Beim Abzug jedoch werden die spanischen Soldaten größtenteils von den Rifkämpfern erschossen oder brutal gelyncht. Der erste Teil endet mit einem Ohnmachtsanfall des Protagonisten, der zweite Teil beginnt mit seinem Erwachen auf der anderen Seite. Hier wird das Leben des Arztes als Begünstigter des Scherifen und Gefangener eines Berberdorfes erzählt. Das Thema der cautiverio, das die zweite Hälfte des Romans bestimmt, weist einerseits eine ganz reale historische Komponente im Marokko-Krieg auf, denn beim Zusammenbruch der Kommandantur von Melilla gerieten einige Hunderte spanischer Militärs in Kriegsgefangenschaft. Andererseits wird damit eine literarisch fest etablierte Thematik und Motivik aufgerufen, die typisch für eine alte Erzähltradition über die islamische Fremde in Spanien ist: die Geschichten des cautiverio aus der Literatur und dem Theater des Siglo de Oro, in denen spanische Protagonisten an die nordafrikanische Küste verschleppt und dort – meist als Diener eines edelmütigen oder grausamen Herrschers – gefangen gehalten werden.55 Diese Erzählungen tragen zwar auch der damaligen historischen Realität der türkischen und berberischen Piratenüberfälle und Lösegelderpressungen im Mittelmeer Rechnung, sie stehen aber zugleich in der literarischen Tradition der novela bizantina mit der stark irrealisierten Raum-Zeit des Abenteuerromans und spielen schließlich, in Anschluss an die novela morisca, bei der Herausbildung der exotistisch-orientalistischen Literaturtradition in Spanien eine Rolle. Das cautiverio geht hier fast immer mit einer Liebesgeschichte einher (Tejeiro Fuentes 1987: 54) und thematisiert in erster Linie die Überschreitung und Restitution kultureller Grenzen, die vor allem über die religiöse Differenz von Christentum und Islam definiert sind: Dabei stellt der cautivo – im Gegensatz zum meist negativ charakterisierten Renegaten – seine Tugend unter Beweis, indem er in der fremden Umgebung seine christliche Identität aufrechterhält, sich also um jeden Preis der Konversion widersetzt und somit den Weg zur moralischen Perfektion meistert (ebd.: 51-53; López García 1994: 100-101). Das Thema der

55 Zur cautiverio-Tradition im Siglo de Oro vgl. Tejeiro Fuentes 1987. Insbesondere Miguel de Cervantes hatte hier mit seinen Erzählungen und Theaterstücken eine modellbildende Funktion (ebd.: 30). Eine Vorform der Gefangenschaftsthematik findet sich in der novela morisca. Zur Wiederkehr dieses Motivs im 20. Jahrhundert vgl. López García 1994: 99-107.



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Gefangenschaft erlaubt dazu das Eintauchen in eine exotische Welt, die zum einen mit Grausamkeit und Leid, zum anderen aber auch mit Verführung und Versuchungen – durch Liebe, Reichtum und Macht – verbunden ist. Auf diese Weise findet hier eine Verhandlung von Treue und Verrat, Authentizität und Täuschung (als Überlebensstrategie) statt,56 oft verknüpft mit dem Motiv des kulturellen Kleidertauschs. Die spanischen Figuren werden schließlich auf dem Höhepunkt gerne einer Entweder-Oder-Situation ausgesetzt, um ihre Loyalität zu Spanien und dem Christentum unter Beweis zu stellen und eventuelle Zweifel mittels eines eindeutigen Identitätsbekenntnisses auszuräumen – in der dramatischen Tradition der Anagnorisis meist gefolgt von einer Zusammenführung von Liebenden oder Familienmitgliedern. Dabei gelingt es dem männlichen Protagonisten in vielen Erzählungen, eine islamische Frau heimzuführen und zu bekehren (López García 1994: 101). Im zweiten Teil von ¡Kelb Rumi! werden diese Erzählschemata aktiviert, in ihrer dominanten Sinnstruktur, der Bestätigung von Identität und Idealität, jedoch umgeschrieben. Der Titel des zweiten Teils „El doble cautiverio“ ruft die cautiverio- und Liebesthematik der barocken Tradition auf und lässt zum einen an eine doppelte Gefangenschaft von Körper und Seele denken. Zum anderen ist das „doble cautiverio“ als eine Art double-bind zu verstehen, im Sinne eines Gefangenseins zwischen zwei im Marokko-Krieg unvereinbaren Ansprüchen, denen sich der Protagonist pflichtschuldig sieht: Der moralische Anspruch der Kolonisierung und die Vaterlandstreue, die der Krieg verlangt, werden nun auf der Handlungsebene in einen unlösbaren Konflikt geführt. In einer Versammlung der Kabylen, bei der der Arzt als Beutestück vorgeführt wird, sieht sich Alberto dem geballten Hass und der Rachelust der Rifbewohner gegenüber: „[...] escupían sobre mí las maldiciones más iracundas, destacando siempre el reconcentrado grito de odio, peculiar en los arrebatos de rencor y menosprecio contra el cristiano: ‚¡Kelb Rumi!‘“ (Ruiz Albéniz 1922a: 173) Über die Grausamkeit, die „fiereza“ und „condición salvaje“ (ebd.: 174) des ‚gemeinen‘ rifeño besteht nun in der Erzählerrede kein Zweifel mehr. In Form einer Ansprache des Scherifen wird jedoch in wohlformulierten Worten

56 Vgl. Tejeiro Fuentes 1987: 55-56: „Se trata de acudir a la mentira o el engaño a los ojos que puede presentarse desde diferentes planos como único medio para resolver una situación comprometida. [...] Nace entonces toda una Teoría de fingimiento como único recurso para alcanzar un fin superior. [...] Cuando el cautivo se ve obligado a elegir entre permanecer fiel a su fe y a su pasión amorosa o renegar de ellas, no duda a recurrir a la mentira, ocultando su verdadera personalidad e intenciones.“ (Hervorh. im Original)



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eine brisante Kritik an der spanischen Kolonialisierungspraxis formuliert und Vertrauensbrüche, Demütigungen und Inkompetenzen der spanischen Kommandanten, Brutalität und Sittenverfall der Soldaten angeklagt: „La ambición les llevaba un día a robar nuestros ganados; otro, a saquear nuestros silos o desposeernos de nuestras tierras; y por si ello no bastara, no faltaron cristianos tan viles que añadieron al robo la injuria del deshonor, persiguiendo a nuestras mujeres como a fieras; por la fuerza las violaron, jactándose luego entre los suyos de tales hazañas, sin que ni uno solo fuese castigado por los jefes españoles [...].“ (Ebd.: 178-179)

Wie in so vielen Marokko-Kriegstexten wird hier eine politische Unterredung zwischen spanischen Besatzern und Kabylenführern inszeniert und dabei eine überraschende Dialogizität ins Spiel gebracht, die der Tendenz zur ideologischen Engführung dieser Literatur partiell widerspricht. In der Rede und Gegenrede zeigt sich eine grundlegende Anerkennung des Sinn- und Handlungshorizonts der aufständischen Rifberber. Die Spannung in der Konfrontation der kulturellen Standorte kontrastiert dabei auf befremdliche Weise mit einem tendenziösen, abwertenden Erzählerdiskurs. Die Anschuldigungen des Scherifen werden hier mit aggressiver Abneigung kommentiert: „¿Cómo aquel hombre de quien esperaba la salvación se complacía con saña tan cruel en presentarnos a los ojos de la bárbara y enfurecida horda indígena como seres execrables, culpables de los más graves delitos?“ (Ebd.: 179-180) Diese Dynamik, die sich auf die gleiche Weise beim Treffen Albertos mit Abd-el-Krim (ebd.: 226-232) entwickelt, bringt ein weiteres Mal eine irritierende Gespaltenheit in den Text. Die Verortung des impliziten Autors bleibt grundsätzlich ambivalent und spiegelt (ähnlich wie in ¡Mektub!, vgl. Kap. 3.2) den identifikatorischen Zweispalt, den die Protagonisten in diesen Romanen durchleben. Alberto entgeht schließlich nur knapp einem Lynchmord durch die „Berberhorde“, indem er vor allen Augen das Wunder der Heilung Nuras effektvoll vorführt und somit den Hass der Berber in grenzenlose Bewunderung zurückverwandelt. Das Größen-Selbst des Tebib Arrumi scheint zunächst gerettet. Von nun an darf er als Gast und Schützling im Hause des Kabylenführers weiterleben. Damit tritt der Leser gemeinsam mit dem Protagonisten vorrübergehend in die Textwelt des orientalischen Exotismus ein, die in vielerlei Hinsicht den überlieferten Standardbeschreibungen entspricht – in den locus amoenus eines plätschernden, blumenbestückten Gartenreichs: „El despertar en aquel segundo día de cautiverio tuvo para mi alma el encanto de hacerme olvidar durante un corto espacio de tiempo la realidad de mi situación. [...] Por bastante tiempo mi espíritu se columpió, muelle, sobre el recuerdo de otras tierras y tiempos mejores.“



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(Ebd.: 202) Hier wird in der Erzählung selbst auf die eskapistische Funktion dieser Textoase verwiesen und gewissermaßen zugegeben, dass sie dem Reich der Erinnerung angehört. Sie gönnt dem Protagonisten wie dem Leser eine kurze Verschnaufpause: Die aristokratische Freundschaftsbeziehung mit dem Scherifen ist wieder hergestellt, Alberto tauscht seine europäische Kleidung gegen ein marokkanisches Gewand und sieht sich nun in Anlehnung an die cautiverioLiteratur des Barock der sinnlichen Verlockung des ‚Orients‘ ausgesetzt: Die verbotene Liebe zu Nuria nimmt ihren Anfang. Doch die Realität des Kriegs setzt sich hier bald wieder durch. Bei Ausritten in das von den Kabylen zurückeroberte Gebiet zeigt sich das erschreckende Ausmaß des Desasters: Außerhalb des orientalistischen Garten-Chronotops breitet sich eine Landschaft von Chaos und Zerstörung, von grotesk verstümmelten Leichen aus. Die Kriegssituation lässt die fatale Doppelbindung zwischen humanistischem Anspruch und aristokratischem Freundschaftsideal einerseits und der militärischpatriotischen Pflicht andererseits schließlich zur Zerreißprobe werden. In der Funktion des Arztes und als Freund der Scherifenfamilie muss Alberto die Truppen der Aufständischen im Krieg gegen die Spanier begleiten, er sieht sich verpflichtet, den Verwundeten auf Seiten der Rifberber Hilfe zu leisten, und macht sich dabei zugleich des Vaterlandverrats schuldig. In diesem Konflikt schlägt das Bild des Anderen und des darin gespiegelten Selbstentwurfs zwischen Idealisierung und Hass, Liebe und Verdächtigung ständig um, polarisiert in den Figuren Nurias und ihrer Mutter, der ‚Hexe‘ Frika, deren Verfluchungen den Arzt aus seiner Liebesversunkenheit reißen: „–¡Ha, ya kelb Rumi, beni lekelb Rumi!“ (Ebd.: 211, Hervorh. im Original) Die Gefangenschaft und der Krieg, der die Trennlinie zwischen dem Hier und dem Dort so überdeutlich in Form der Front entwirft, führt schließlich zu der – für die cautiverio-Literatur typischen – Situation der Entscheidung, die ein eindeutiges Identitätsbekenntnis herbeiführt: „A cada cañonazo que hendía mis oídos respondía mi corazón con un palpitar disparado, tumultuoso, que me llevaba oleadas de sangre al cuello ¡Quería reír y lloraba! [...] ¡España!... ¡España!... ¡España!“ (Ebd.: 265) Mit diesem Entschluss erfolgt nun eine ‚patriotische Wende‘ im Text und damit eine Schließung, die in der Kampfbeschreibung die Unentschiedenheiten in Bezug auf die Legitimität des Kriegs, auf Moral und Loyalität aus der Erzählung verdrängt. Die kriegskritische Position des Anfangs ist vergessen, als nun die Bombardierung der Dörfer durch spanische Flugzeuge bejubelt und die Bestrafung der Berber gefordert wird, die nach dem Tod des Scherifen jetzt durchgängig als brutaler, barbarischer Mob charakterisiert werden: „¿Cómo [...] no se decide [España] al menos a castigar al indígena, bombardeando sus zocos, arrasando sus aduares, quemando sus silos, cazando a sus hombres



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de guerra? [...] ¡Había tantos crímenes que vengar, tantas perfidias que castigar!“ (Ebd.: 280-281) Doch diese Festschreibung findet nur auf der politischen Sinnebene der ‚Marokko-Frage‘ statt, nicht auf der Ebene der Figuren-Handlung. Alberto bereitet nun seine Flucht vor und erlaubt Nuria, die sich ihm unterwürfig als Frau und Sklavin anbietet, ihn zu begleiten – im Bewusstsein darüber, dass diese Transgression für die Geliebte den Tod durch Steinigung bedeuten könnte. Auf der Flucht überlässt er jedoch nicht nur den ihn begleitenden spanischen Soldaten dem Tod und verletzt so seine patriotische Pflicht, im entscheidenden Moment der Kreuzung der Frontlinie lässt er Nura, die Alberto verzweifelt um Hilfe anschreit, in den strangulierenden Armen ihres Bruders zurück. Hier nun, auf dem Rückweg zur spanischen Seite, ereignet sich die Heimsuchung durch den paranoiden Wahn – die Beschimpfung „¡Kelb Rumi!“ wird zu einer Art parasitärer Halluzination: „Una voz, muy cerca de mí, tanto que el aliento abofeteó mi nuca, exclamó: ‚¡Malditos perros!‘ ¿Malditos perros?... La imprecación de Nura había sido esa, y sin embargo, ¿por qué yo, que la había oído con claridad, traduje en mi cerebro la frase con un ¡Kelb Rumi!...?“ (Ebd.: 294, Hervorh. im Original) Die Sprache des Hasses hat sich damit in der Stimme der Geliebten, der Spiegelfigur des idealisierten Selbst, eingenistet. Das alte koloniale Narrativ, das Spivak in dem Satz zusammenfasst „Weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern“ (Spivak [1988] 2008: 78), wird damit offensichtlich zum Scheitern geführt.57 Im Gegensatz zur überlieferten Erzählung des cautiverio ist hier keine Restitution identitätsstabilisierender Grenzen und keine Selbstperfektionierung mehr möglich. Statt in der Anagnorisis endet der Text mit dem Eintritt in den psychotischen Wahn, der auf die Unmöglichkeit der symbolischen Bearbeitung innerer Differenz verweist und ihre Wiederkehr im Realen impliziert58: „Gehen wir von der Idee aus, dass ein Loch, eine Spalte, eine Bruchstelle in der Struktur der Außenwelt sich durch den Flicken des psychotischen Phantasmas ausgefüllt findet.“ (Lacan [1955-1956] 1997: 56-57) Mit der magischen Macht der Wörter „¡Kelb Rumi!“ bricht unvermittelt eine ‚große Bedeutung‘ ein. Die Wörter werden zum Refrain eines inneren Peinigers, der in Form einer auditiven Halluzina-

57 Der Frage, wie das Desaster mit geschlechtlichen Bedeutungen versehen wird, widmet sich das nächste Kapitel. 58 Vgl. Lacan [1955-1956] 1997: 21: „Es gibt eine enge Beziehung [...] zwischen der Verwerfung und der Halluzination, das heißt dem Wiedererscheinen im Realen dessen, was verweigert wird vom Subjekt.“



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tion Alberto von nun an verfolgt: „¡Kelb Rumi! ¡Kelb Rumi!...“ (Ruiz Albéniz 1922a: 303) Ruiz Albéniz’ Kolonialkriegserzählung steht im Zeichen der Umschlagsfigur von Narzissmus zu Paranoia und Schuld (auch der Schmach im Sinne der vergüenza), von der Suche nach Anerkennung zur einer Verurteilung im Blick des Anderen, wie Bhabha sie beschreibt: „Der frustrierte Wunsch ‚Ich möchte, dass er mich liebt‘ verwandelt sich in sein Gegenteil, ‚Ich hasse ihn‘, und aus dieser Projektion und durch den Ausschluss der ersten Person: ‚Er hasst mich.‘“ (Bhabha [1985] 2007: 148) Die Kippfigur des „Kelb Rumi“ weist ziemlich treffend die typischen Merkmale psychotischen Spracherlebens auf, wie ihn spätere psychoanalytische Theorien begreifen: In Verbindung mit einem Gewehrschuss wird das (christliche) „Herz“ am Ende gleichsam vom „Hund“ durchdrungen, in dieser „Vermengung von Wort und Körper“59 und der lautlichen Identität wird dabei jede metonymische oder metaphorische Beziehung übersprungen.60 Die Wörter werden zu „Monolithen, die nicht mehr von den Strömungen der Verschiebungen und Verdichtungen zu bewegen sind“ (Meyer zum Wischen, 2007: 129): Alberto verliert die Sprache. In diesem ‚Herausspringen‘ aus dem Symbolisch-Diskursiven wird die Sprache nicht mehr ‚neurotisch‘ bewohnt, das Subjekt wird von dieser besessen (vgl. Lacan [1955-1956] 1997: 296). So bekommt in ¡Kelb Rumi! das koloniale Desaster den Namen eines ‚allmächtigen Anderen‘ in Form einer Wahnidee oder eines verfolgenden Sprachphänomens. In ihm offenbart sich die „Zwillingsfigur von Narzissmus und Paranoia“ (Bhabha [1984] 2007: 136) als psychischer Abgrund, über dem das ‚Kolonialherrensubjekt‘ dauerhaft balanciert und der im Moment des Un-Falls – zumindest auf der Handlungsebene – zum freien Sturz führt. Die Bedeutungsver-

59 So auch in anderen Szenen, in denen dieser Ausdruck „gespuckt“ („escupir“) oder geschleudert („lanzar“) und als „reconcentrado grito“ bezeichnet wird (vgl. die Zitate oben). 60 Vgl. Meyer zum Wischen (2007: 146, 129) über die Sprache der Psychose: „Mit der ‚Gleichheit des sprachlichen Ausdrucks‘ kommt der Klang des Wortes ins Spiel, die ‚Ähnlichkeit der bezeichneten Dinge‘, ein sinnhaftes und operatives Moment derart, dass die Ähnlichkeit erst einmal hergestellt und erkannt werden muss, tritt in der Schizophrenie zurück. Wortvorstellungen beziehen sich hier auf Laute und Lautbilder.“ Ein Merkmal der schizophrenen Sprache ist es nach Freud, „dass die Beziehung zum Organ [...] sich zur Vertretung des ganzen Inhalts aufgeworfen hat.“ (Ebd.) Diese Aufhebung der Trennung von Körper und Zeichenwelt, die Materialisierung von Bedeutung in Form einer ‚Organsprache‘ ist eine Technik der generellen Unterhöhlung des Diskursiven in Imán (vgl. Kap 5.2.4).



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lötung von „perro/corazón cristiano“ verweist jedoch schließlich zurück auf die Wiederholung der narzisstisch-paranoiden Symptomatik auf der Textebene des Romans selbst. So wird hier gleichsam eine bestimmte Ebene des discours als Auffangnetz gespannt, das die histoire selbst als unzuverlässig entlarvt. Denn in der diskursiven Bezugnahme auf die Realität des Kolonialkriegs, in der das erzählende Ich nicht als krankes spricht, vollzieht sich hier eine Bewegung der gewaltsamen Verdrängung von Ambivalenz, die schließlich von der pazifistischen Idee zur Forderung nach der Bombardierung der Berberdörfer führt. Damit bildet der Roman gleichsam die Odyssee und die politische Radikalisierung ab, die der Autor, die Verdopplung des Tebib Arrumi, selbst in Bezug auf die ‚Marokko-Frage‘ in der Realität vollzieht. Und dies wäre – in der Schließung des Kreises zur Rahmenhandlung – „die abschließende Ironie“ der Mimikry als Nachahmung und Verschiebung, denn war es nicht der Erzähler/Psychiater der ersten Erzählebene, der dort nach der Lektüre des Tagebuchs den Protagonisten zum Vaterlandsmärtyrer erklärte und seine Geschichte zum Epos?



3. Die Vergeschlechtlichung des kolonialen Desasters: Männliche Verbarrikadierungen und Dammbrüche an der Kontaktlinie

3.1 AFRIKANISTISCHE M ÄNNLICHKEIT UND DIE GESCHLECHTLICHEN I MPLIKATIONEN DES D ESASTERS „¡Parecemos mujeres más que soldados españoles!“ VÍCTOR RUIZ ALBÉNIZ, ¡KELB RUMI! (1922)1

Mit der Schamdeutung des Desasters von Annual ist, wie sich im letzten Kapitel zeigte, die Vorstellung eines nationalen Ehrverlusts verbunden. Der Kodex der Ehre, der in der spanischen Kultur traditionell stark verankert ist, schreibt den Grad der Empfindlichkeit, die Interpretation und Reaktion auf Erniedrigung und Scham vor: „Honor is above all the keen sensitivity to the experience of humiliation and shame, a sensitivity manifested by the desire to be envied by others and the propensity to envy the successes of others. To simplify greatly, honor is that disposition which makes one act to shame others who have shamed oneself, to humiliate others who have humiliated oneself.“ (Miller 1993: 84)

Gemäß dieser Empfindlichkeit fordert die Ehrverletzung eine (aggressive) Handlung der ‚Satisfaktion‘, die das Stigma der vergüenza durch die Erniedrigung des Gegenübers ausräumt. Die Ehre steht dabei in enger Relation mit dem Gendersystem, insofern sie differentielle Normen von angemessenem weiblichem und männlichem Verhalten, insbesondere auch im Kontext sexueller Beziehungen 1

Ruiz Albéniz 1922a: 141.

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diktiert (Johnson 1998: 45). Das Ehrkonzept spielt eine große Rolle in der historischen Entwicklung von Männlichkeits- und Weiblichkeitsidealen und insbesondere in der Konstruktion maskuliner Identität (Spierenburg 1998): Spanien blickt hier auf eine Tradition zurück, in der die männliche Ehre in gesteigerter Form an aggressive Selbstbehauptung, Mut, Autorität und Dominanz gebunden war, während die weibliche honra vordergründig moralische Tugenden wie sexuelle Enthaltsamkeit, Diskretion und passive Demut beinhaltete (Johnson 1998: 45). Das Desaster von Annual bedeutete einen Bruch mit den Verhaltensnormen einer männlichen Identität, die auf die Ehre als Form des Selbstrespekts baut. Die Öffentlichkeit war entsetzt und empört über das ‚unmännliche‘ Verhalten der spanischen Militärs beim Zusammenbruch der Stützpunkte im Rif im Sommer 1921 (vgl. Martín Márquez 2008: 174). In Erzählungen des Desasters wurden immer wieder die gleichen Szenen des Ehrverlusts entworfen: Bilder der panischen Flucht und Würdelosigkeit, Offiziere die ihre militärischen Rangabzeichen von der Uniform rissen, aus Angst, von den Rifberbern in ihrer Führungsposition identifiziert zu werden. Indalecio Prieto sprach in seiner Parlamentsrede über das Desaster von „testimonios verdaderamente vergonzosos de falta de coraje, de falta de ímpetu, de falta de inspiración en el cumplimiento del deber“ (Prieto [1922] 2003: 132). Das kollektive Fiasko, das in den Begriffen von Männlichkeits- und Ehrverlust gefasst wurde, war umso gravierender, als die koloniale Unternehmung in Nordmarokko im afrikanistischen Diskurs auch in anderer Hinsicht einen kompensatorischen Charakter hatte: Sie war nicht nur auf die Zurschaustellung militärischer Stärke ausgelegt in einem historischen Moment, in dem man sich außenpolitisch in ‚erniedrigender‘ Weise von den imperialen Großmächten manipuliert sah, sie stand außerdem in einer Deutungsbeziehung zu einem innergesellschaftlichen Aushandlungsprozess, bei dem sich die traditionelle männliche Identität zunehmend herausgefordert sah: Im ‚Mutterland‘ war die Umstrukturierung und Politisierung der Geschlechterbeziehungen in den 1920er Jahren in einem entscheidenden Stadium: „El feminismo se convirtió en realidad ideológica y, en menor medida, social, llegando a despertar los temores masculinos sobre un futuro incierto. La capacidad de las mujeres para el desempeño de las funciones tradicionalmente consideradas masculinas no era un dato inocente, sino que encerraba el fantasma de la competencia entre los sexos y la precariedad de las relaciones de género tal y como estaban plantadas hasta aquellos momentos.“ (Aresti 2001: 96)



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Das militärische Projekt der Unterwerfung des Rif stand in vielerlei Hinsicht in einer symbolischen Beziehung zur Destabilisierung des traditionellen Gendersystems, die sich in diesen Jahren in Spanien ereignete.2 In Bezug auf Spaniens ‚Marokko-Mission‘ lässt sich somit beobachten, was verschiedene Genderorientierte Kolonialismusstudien hinsichtlich der kolonialen Unternehmungen anderer europäischer Länder hervorgehoben haben:3 „Manliness seemed to become one of the most dominant features of national identity within the colonial period. But perhaps this very excessiveness of stereotypical masculinity is a result of the attempt to assert difference, the separateness and stability of identities in the face of the impossibility of maintaining such clear distinctions.“ (Mills 2005: 56)

Die Geschehnisse im Rif und die kolonialen Beziehungen zwischen Spanien und Marokko wurden mittels der Zeichenwelten der Geschlechterbeziehungen gedeutet, und so fand in der Kriegsliteratur dieses andere Drama seinen Widerhall, das sich auf der Heimatbühne ereignete. In diesem Kapitel wird es also darum gehen, der geschlechtlichen Codierung der ‚kolonialen Katastrophe‘ im Medium der Erzählliteratur nachzugehen. Auch in dieser Bedeutungsbeziehung wurde die Literatur des Desasters von Annual zum historischen Ort, an dem bestimmte Annahmen den unschuldigen Status von vorausgesetzten Wahrheiten verloren und auf eine ‚Verfechtung‘ angewiesen waren. So war die Marokko-Literatur einerseits ein Medium der Reartikulation und exzessiven Beschwörung kolonialer und militärischer Männlichkeitserzählungen – geprägt von der Wiederholung traditioneller Gemeinplätze der Sexualisierung der kolonialen Eroberungsgeschichte bis hin zu einer zugespitzten Form gewaltherrlicher, ‚soldatischer‘ Männlichkeit, die in die Richtung des Faschismus wies. Andererseits jedoch ließen die Ereignisse auch ein Fragezeichen bezüglich der militärischen Bilderwelt männlicher Erhabenheit aufkommen. Auf diese Weise öffnet sich gerade in der Literatur der Guerra de Marruecos auch ein Raum der Dekomposition und Umschreibung der alten Erzählungen des Gendering von Kolonialismus und Krieg.

2

Vgl. hierzu vor allem Martín Márquez 2008: 160-219.

3

Vgl. hierzu insbesondere Jayasena 2007; Mills 2005.



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3.1.1 Die Afrika-Mission vor dem Hintergrund männlicher ‚Degenerationʻ und der Auflösung der Geschlechterdifferenz Zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen die Geschlechterbeziehungen in der spanischen Gesellschaft auf den gleichen Grundpfeilern wie drei Jahrzehnte später: der dominanten Stellung des Mannes und der weiblichen Bestimmung zur Mutterschaft. Und doch hatten sich in diesem Zeitraum in den kulturellen Imaginationen von Geschlecht entscheidende Dinge verändert: An den Pfeilern war gefährlich gerüttelt worden und es hatte sich eine Angst (bzw. Hoffnung) eingeschlichen, dass das Gendersystem mit seinen klar definierten Zuweisungen und Hierarchien ins Wanken gelangen konnte (vgl. u.a. Nash 1999; Aresti 2001; Ackelsberg 2005). Vor allem innerhalb der erstarkenden sozialrevolutionären Bewegungen formierten sich emanzipative, feministische Positionen, die für damalige Maßstäbe recht radikal waren – insbesondere die anarchistische, die zwar in ihrer Radikalität gesellschaftlich nicht repräsentativ war, jedoch auf breiter Ebene für Verunsicherung sorgte. Diese Position verlangte die Gleichberechtigung der Frau auf allen Ebenen, stellte die Institution der Ehe als Manifestation der Besitzideologie und Instrument der Ausbeutung der Frau grundsätzlich in Frage und forderte das Recht auf freie Liebe und sexuelle Selbstentfaltung.4 Damit entstand auch die männliche Angstfigur der sozialrevolutionären Frau, die sich das ‚harte symbolische Gesetz‘ des politischen Kampfes aneignete, das vormals dem Mann vorbehalten war. Sie taucht in der Literatur des Kolonialkriegs auf, wie sich am Beispiel von El blocao zeigen wird. Zum anderen zeichnete sich in der liberalen bürgerlichen Gesellschaft und in der Arbeiterschaft eine generelle Tendenz ab, das traditionelle Männlichkeitsideal mit seinen ritterlichen Ehrenkodizes in Frage zu stellen und durch eine neue Form männlichen Selbstrespekts zu ersetzen, die sich in erster Linie über den Wert der Arbeit definierte (Aresti 2001: 15, 137). Die Marokko-Kriegstexte werfen innerhalb des Felds der kolonialen Frage diese Debatten mit auf und produzieren dabei diskursive Überlagerungen und Spannungen. Einige Erzählungen, die mit der Kolonialkriegserfahrung eine so-

4

Vgl. Ackelsberg 2005: 51: „Critiques of both chastity and monogamous marriage were common during the 1920s and 1930s, and numerous articles appeared advocating either free love or ‚plural love‘ in its place. Beyond arguing for free love, many anarchist writers insisted that monogamy itself was a product of the desire for possessiveness, rooted in private property and in the subordination of women, and that it would disappear in a future anarchist society.“



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zialrevolutionäre Position begründen (vgl. Kap. 4), bringen auf einer expliziten politischen Diskursebene die Ungleichheiten im Gendersystem zur Sprache. Die sexuelle Ausbeutung und die gesellschaftliche Benachteiligung der Frau werden hier im Kolonialkriegskontext innerhalb bereits etablierter thematischer Areale als Problem formuliert, insbesondere dem der Prostitution, die ein traditionsreiches diskursives Unterfeld für sich darstellte: So ist u.a. bei Galán ([1926/31] 2008: 38-42) und Vidal (1932: 160-163) der Bordellbesuch in Marokko der Aufhänger für eine Reflexion sozialer Ausbeutungsstrukturen.5 Neben den Umstrukturierungsprozessen männlicher Identität, den politischen Emanzipationsforderungen der Frau und der Eröffnung neuer weiblicher Aktionsräume in der Arbeitswelt, die die Industrialisierung mit sich brachte, waren es vor allem symbolische Transgressionen in der Performanz von Geschlecht, die das überlieferte Gendersystem destabilisierten. Sie wurden als Ausdruck eines modernen Lebensstils verstanden und in der negativen Deutung mit der Vorstellung gesellschaftlicher Dekadenz und einer progressiven Auflösung der ‚Geschlechtercharaktere‘ verbunden (Aresti 2005: 100-105). Das Spiel mit der sexuellen Ambiguität, das in den 1920er Jahren in Spanien wie in anderen europäischen Ländern zur Modeerscheinung wurde, nährte die Angst vor einer Verflüssigung der Geschlechtergrenzen: Ein Zeitgenosse spricht von einer „época de interrogante vacilar: ¿qué es ser hombre o mujer? ¿qué significa el sexo?“.6 Dem hominismo als feministische Praxis der Imitation des Mannes, stellte man als Komplementärphänomen die Verweiblichung des Mannes an die Seite (ebd.: 101) und diagnostizierte ein „problema de los desorientados por inversión sexual“7. Im Zusammenhang mit der neuen Aufmerksamkeit für Homosexualität wurde in der Literatur unter anderem der spanische Held der Eroberung par excellence – der Don Juan – negativ umgewertet und als effeminiert charakterisiert (ebd.: 138). Im Zuge der intensiven Freudrezeption, die gerade in der Mitte der 1920er Jahre von statten ging – 1922 wurde die Traumdeutung, 1923 Das Ich und das Es ins Spanische übersetzt – wurde die Sexualität, das Unterbewusste, die menschliche Triebkomponente und ihre Unterdrückung als psychisches

5

Vidals ‚Erforschung‘ des Bordellmilieus, seine Reflexionen zu Laster, sozialer Misere und Degeneration stehen dabei auch in Verbindung mit sozialhygienischen und sexualmoralischen Debatten um die Prostitution, wie sie intensiv seit dem 19. Jahrhundert geführt wurden (vgl. zu diesem Diskurs Fernández 2008).

6

Carlos Díez Fernández, Castidad, impulso, deseo, Madrid 1930, S: 55, zit. nach Aresti

7

Antonio Navarro Fernández, „Afeminación“, Sexualidad 84 (26.12.1926), S. 1, zit.

2001: 100. nach Aresti 2001: 101.



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Problem entdeckt und auch aus dieser psychoanalytischen Perspektive der fetischisierte traditionelle Ehrbegriff in Frage gestellt.8 Die ‚niedere Natur‘ als das ‚Andere der Kultur‘ war nach diesem Modell Teil einer jeden psychischen Struktur und ließ sich nicht mehr so leicht in einem Außen (der fremden Kultur, dem anderen Geschlecht) fixieren und der autoritären Kontrolle unterwerfen. Die Avantgarde-Literatur der 20er Jahre widmete sich mit Vorliebe der provokanten Inszenierung diverser Formen ‚abnormer‘ Sexualität und leistete ihren Beitrag zur Destabilisierung, die sich auf dem Feld der Geschlechterbeziehungen ereignete (vgl. Albert 1999). Versuche der Restabilisierung des traditionellen Gendersystems als Antwort auf solche ‚bedrohlichen‘ Transgressionen blieben nicht aus: Die Wissenschaft widmete sich zur gleichen Zeit der biologischen Fixierung der Geschlechterrollen (besonders einflussreich war hier Gregorio Marañón), lieferte aber auch Theorien der Degeneration, die ihrerseits mit der Auflösung der ‚Geschlechtscharaktere‘ und einer fortschreitenden Verkümmerung von Männlichkeit in Verbindung gebracht wurden (Álvarez Junco 1998: 457; Aresti 2001: 127). Die Vorstellung männlicher Dekadenz stand andererseits in Spanien in einem engen Zusammenhang mit der kolonialen Abstiegsgeschichte (vgl. hierzu insbesondere Martín Márquez 2008: 174–183). Die militärischen Niederlagen in Übersee und der Verlust der letzten Kolonien 1898 trugen wesentlich zur pessimistischen Vision eines nationalen Niedergangs bei, die wiederum diskursiv mit den rassentheoretischen Degenerationskonzepten verschränkt war (vgl. ebd.; Álvarez Junco 1998: 455-462). Die afrikanistische Unternehmung der Rückkehr zur imperialen Identität Spaniens war entsprechend darauf ausgelegt, die nationale ‚Potenz‘ wiederzuerlangen und verstand sich als Projekt männlicher Regeneration. In dieser Verschränkung zeigt sich deutlich die Überlagerung kollektiver und geschlechtlicher Identitäts- und Alteritätskonstruktionen, wie sie immer wieder von postkolonialen Genderstudien hervorgehoben wurde. Die Frage sexueller Differenz und ein umfangreicher damit verknüpfter Phantasieapparat spielen eine grundlegende Rolle in der Konstitution von Subjektpositionen in der Kolonialkriegsliteratur. Gender-orientierte Orientalismus-Studien legen die Annahme zugrunde, dass der rhetorische Subjektstatus des ‚Kolonisators‘ als souverän, autoritär und wissensmächtig an eine männliche Position gebunden ist, wobei das Weibliche und das Orientalische als sein Anderes dienen und sich darin ihre Attribute in einer Art funktionalen Überdeterminierung als austauschbar

8

Vgl. Neuschäfer 1997: 246-247, 343. Die Entdeckung dieses Aspekts der Geschlechterbeziehungen bringen besonders deutlich Lorcas Frauendramen zur Anschauung.



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erweisen: „The structural affinity between the two with respect to the display of difference establishes a chain of equivalence in which woman is the Orient, the Orient is woman [...]“ (Ye÷eno÷lu 1998: 56). Die Literatur des Desasters von Annual wiederholt zwar diese Analogien und reartikuliert die orientalistischen Tropologien männlicher Selbstaffirmation, nimmt dabei jedoch auch „Circumscriptionen“9 von Erwartungsbrüchen und Entwürfe von geschlechtlich kodierten Schreckensszenarien vor. In dieser ambivalenten Bewegung zeigt sich in der Literatur die Prekarität männlicher Selbstentwürfe im Kontext des Kolonialkriegs. Die Überlagerungsstrukturen von sexueller und kultureller Differenz verkomplizieren sich zudem in der spanischen cuestión marroquí durch die doppelte Richtung, in der die koloniale Hierarchie hier wirksam wurde, denn die spanische Männlichkeit war hier immer wieder auch als ‚anders‘ markiert gegenüber dem ‚modernen‘ Europa. Der Afrikanismus ist in dieser Hinsicht besonders tief gespalten: Einerseits wurden hier auch immer wieder in der Tradition der orientalistischen Diskurspraxis Europas die „sexuelle Konfusion“ und „der unnatürliche Koitus“ als Teil der Dekadenz des Rif beschrieben (Moga Romero 2004: 122) und auch literarisch inszeniert. So z.B. in Tomás Borrás’ Marokko-Kriegsroman La pared de tela de araña [(1924) 1963], wo sie zum Teil im Zeichen einer provokativen Avantgarde-Ästhetik stehen. Hier dient das kulturell Fremde als Ort der projektiven Auslagerung sexueller Wunsch- und Angstphantasien, der kulturellen Marginalisierung und gleichzeitig Thematisierung von Bildern tabuisierter Lust: von homoerotischen, transvestitischen und sadomasochistischen Phantasien. So in dieser Vergewaltigungsszene, in der die Rif-Berber die Geschlechterrollen tauschen: „Las mujeres se quitaron los jaiques y las camisas, tiraron los sombreros de paja. Así, desnudas, parecían varones. Su talla elevada, sus piernas largas, su cuerpo delgado y sin morbidez, sus músculos con bulto por el trabajo, el color retostado de su carne, el rostro de rasgos duros, contribuían a la impresión de masculinidad. Los kouza, engrasados, de piel pálida, con los afeites y la depilación, las flores en el pelo y las tchamir de muselina, parecían muchachas. Las mujeres se arrojaron sobre los kouza empuñando las hoces, las hachas y los chofras agudos. Al despertar, cada uno estaba en poder de una cabileña que le dominaba con su fuerza y con su ira. Les arrancaron las flores; escupiendo en su rostro borraron los afeites; les despojaron de las dulces camisas. Ellos, estremecidos como doncellas violadas, tenían lágrimas en los ojos. Cuando las montañesas infamaron las apariencias femeninas de los kouzas, apresándolos por los costados tan fuertemente como para

9



Vgl. Raulff 1986: 14.

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ahogarlos, derribadas de espaldas, les colocaron entre sus piernas. Y amenazándoles con las hachas, colgando la hoz de su cuello o pinchándoles con los cuchillos, en un monstruoso maridaje en que las mujeres parecían los machos, obligaron a los semimujeres a ser hombres.“ (Borrás [1924] 1963: 233-234)

Andererseits war die Ambiguisierung der Geschlechter, die sexuelle ‚Anomalie‘ und die ‚Verweichlichung‘ des Mannes, wie oben beschrieben, in einen Diskurs über die Zivilisationskrankheiten moderner westlicher Metropolen verwickelt. Die Stereotype des nordafrikanischen islamischen Manns entsprachen dagegen nur teilweise dem des ‚femininen Orientalen‘ (diese Variante wurde eher der ‚dekadenten‘ arabischen Stadtbevölkerung zugeschrieben). Die männlichen Rifberber wurden in der Kriegsliteratur überwiegend mit den Attributen einer herausragenden Virilität, eines archaischen Kriegertums und einer patriarchalischen Würde belegt und schienen selbst das Gesetz der Ehre kompromisslos zu erfüllen.10 Mit diesem Stereotyp war wiederum der negative Gemeinplatz der despotischen Beherrschung der islamischen Frau verbunden, der dem ‚Westen‘ als Legitimation der Kolonisierung im Namen der Menschlichkeit diente und diese Aneignung als Befreiungsprojekt rechtfertigte. Zwar bediente man sich im diskursiven Terrain der ‚Marokko-Frage‘ auch dieses Argumentationsschemas,11 doch mit der afrikanistischen Männlichkeits-Kultur bildete sich dazu eine Position heraus, die sich mit der ‚kompromisslosen Maskulinität‘ des islamischen Rif-Kriegers positiv identifizierte und die humanistische Position in bürgerlichliberaler Tradition als männliche Schwäche auslegte. Auch in dieser Hinsicht distanzierten (und entfremdeten) sich viele spanische Afrika-Offiziere von den Liberalisierungs- und Modernisierungstendenzen, die sich in der Heimat abzuzeichnen begannen. Das männliche Identitätsproblem führte hier zu einer Radikalisierung vieler Militärs des Afrika-Heers, die sich als Bewahrer traditioneller Geschlechterideale wahrnahmen. Marokko wurde damit für viele afrikanistische Militärs zur Bühne einer exzessiven Reinszenierung und Beteuerung eines männlichen Selbstverständnisses,

10 Vgl. hierzu Martín Márquez 2008: 174-192: Nach Martín Márquez wurde dieses Stereotyp ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Frage gestellt. In der Literatur des Marokko-Kriegs ist sie jedoch stark präsent. 11 So häufen sich die bildlichen und textuellen Repräsentationen, die die Marokkanerin als geschundenes, ausgebeutetes Lasttier ihres Mannes zeigen: „[...] la correspondencia entre mujeres, burros y cargas de leña se convirtió desde muy pronto en una de las imágenes más repetidas y de mayor éxito en las descripciones de Marruecos.“ (Marín 2002: 87)



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das sich auf den tradierten Ehrbegriff und die gewaltsame Selbstbehauptung stützte. Micó España, literarischer ‚Hofpropagandist‘ der Legion, versichert: „[...] nunca he visto hombres tan hombres en ninguna parte fuera de aquí“ (Micó España 1922a: 288): „La mente del legionario, ocupada en pensamientos viriles, en ideas macho, discurriendo de continuo sobre las glorias militares, el honor del guerrero, el valor personal, la satisfacción del deber cumplido y la poca importancia que tiene la vida y la manera más honrosa de perderla, no permanece ociosa y va creando paulatina y lentamente, pero con evidente firmeza, un carácter, con sus correspondientes tendencias y aptitudes.“ (Ebd.: 56, Hervorh. im Original)

Der Afrika-Offizier entdeckte dabei in der Bruderschaft mit dem moro eine Möglichkeit des Gewinns von Virilität (Martín Márquez 2008: 182, 184): Die afrikanistische Männlichkeit suchte die Nähe der marokkanischen ‚Krieger‘ und fand ihren Nährboden bei den tropas de choque, denen die Hauptrolle in der Rückeroberung der während des Desasters verlorenen Gebiete (und damit die Aufgabe der nationalen Ehrenrettung) zukommen sollte - der Fremdenlegion und den moros amigos. Kommandanten hielten es für eine besondere Auszeichnung, an der Spitze nicht spanischer, sondern indigener Truppen zu stehen, und die Erzählliteratur zeigt, dass sich die Afrikanisten gerne mit Kleidungsstücken und Utensilien marokkanischer Kämpfer schmückten (ebd.: 185; Balfour 2002: 161). General Silvestre soll in einem nach der traditionellen Art berberischer ‚Stammesfürsten‘ ausstaffierten Zelt residiert haben, das Abd-el-Krim nach seinem Sieg dann ohne jede Änderung übernommen habe (Ruiz Albéniz 1922a: 225) – ‚Kopie‘ und ‚Original‘ tauschen hier gleich doppelt die Plätze. Die Kopie der militärischen Performanz und Machtrepräsentation, wie sie unter 2.1 beschrieben wurde, erfolgte also in beiden Richtungen, wobei die Nachahmung der marokkanischen Kriegskultur durch die spanischen Männer deutlich mit der beschriebenen Geschlechtersymbolik belegt war. Die afrikanistische Männlichkeitskultur war in dieser Hinsicht das Produkt einer Hybridisierung, die sich in Imitationsprozessen an der ‚Frontlinie‘ vollzog. Die Erzählliteratur und andere historische Quellen berichten von den ritualisierten Praktiken der Gewalt, die insbesondere die Fremdenlegion in Anlehnung an die Gewaltrituale der Rifberber herausbildete.12 Dazu gehörte das Verstümmeln der Leichen,

12 Die Gewaltpraxis in der Legion hatte jedoch noch eine andere zentrale Bedeutungsdimension, die mit der Spannung von historischer Autorisierung und sozialem Ausschluss zu tun hat, wie in Kapitel 4.1 argumentiert wird.



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das Abschlagen von Nasen und Ohren, das Sammeln von Köpfen und anderen Körperteilen als Kriegstrophäen, auch die Kastration (vgl. u.a. Balfour 2002: 212; Madariaga 2002a: 308-309; Martín Márquez 2008: 193). Nach dieser Logik der Vergeschlechtlichung der kolonialen Unternehmung forderte die Niederlage von Annual eine männliche ‚Auferstehung‘, die sich im ‚zivilisationsfernen‘ Afrika, in der gewaltsamen Unterwerfung des Rif realisieren musste, während in den europäischen Metropolen die Effeminierung drohte. So atmet Micó Españas erzähltes Ich in Los Caballeros de la Legión erleichtert auf, als er den Gefahren der heimatlichen Großstädte den Rücken kehren und in die Männergesellschaft mit ihren harten Gesetzen zurückkehren kann: „[...] cuando advertí que en el medio ameno, frívolo y mundano se empezaban a evaporar las esencias de mi espíritu militar, y hasta de la disciplina, por la acción estimulante y corrosiva del lujo y el vicio, salí corriendo, sin volver la cabeza atrás, y no paré hasta llegar a Ceuta [...]“ (Micó Espana 1922a: 215). Die psychische Struktur des afrikanistischen Militärs, wie sie in der Marokko-Kriegsliteratur lesbar wird, ähnelt in vielerlei Hinsicht der des faschistischen deutschen Mannes, wie sie Wolfgang Theweleit ([1977-1978] 1990) herausgearbeitet hat: Das Weibliche wird hier immer wieder als Bedrohung beschrieben, derer man sich mittels der militärischen Disziplin und des Männerbundes erwehren muss; die aggressive und autoritäre Männlichkeit erscheint als eine Art psychischer „Panzer“, der vor einer als feminin imaginierten Gefahr („los placeres amables, disolventes y voluptuosos de la paz“, Micó España 1922a: 215) schützt. Will man dem Mythos der Legion glauben (vgl. Kap. 4.1), so bestand das Corps an Freiwilligen zu einem großen Teil aus Männern mit gebrochenem Herzen, die in der maskulinen Solidargemeinschaft nach Trost und Erlösung von einem erlittenen Liebesleid suchten. Die gescheiterte Liebe ist hier die meist explizit verschwiegene, zum Geheimnis stilisierte Vorgeschichte, die durch die Kriegsteilnahme selbst vergessen werden soll. Sie wird der Erzählung des Kriegs subordiniert, scheint aber gleichzeitig auf einer verdeckten Ebene den Sinnhorizont der freiwilligen Soldaten zu organisieren: „[...] en la [charla] de casi todos los que estábamos allí voluntarios, principalmente de los que están en el Tercio o en Regulares, los ojos de una mujer aparecían asomándose silenciosos a nuestras pupilas, que se animaban entonces con mezcla de entusiasmo y de dolor, de risa y de llanto, de esperanza y de renuncia...“ (Meneses 1922: 186)

Luys Santa Marina fasst in seiner „Elegie der Legion“ die Phantasien des „desterrado de amor“, die den Rachegedanken eines gekränkten Kindes ähneln, recht gut zusammen:



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„–Amargos eran sus días, por eso marchó a morir lejos de su amor, a soledades sobre las que volaban desatados odios [...] ...Y murió, voluntario, con otros quince hermanos entre los escombros de un blocao... ¡Ah, si le hubieseis visto como yo al reconocimiento de la madrugada! No olvidaríais su hermoso rostro y tranquilo, y su guerrera, en que la sangre bordó un corazón... [...] Amargos fueron sus días. No volverá, señora.“ (Luys Santa Marina 1924: 45)

Das neue Bündnis mit dem Tod wird als Bestrafung der Frau für eine Selbstwertkränkung lesbar und als Versuch der Rückgewinnung von Macht, der sich in exzessiver Form in Vergewaltigungen und sadistischen Erniedrigungsphantasien vollzieht. So beschreibt Santa Marina im selben Text eine Orgie der Legionäre, bei der eine Gruppe Prostituierter entblößt und mit Gürtelhieben zu Tode gepeitscht wird. Die letzte Überlebende wird mit den Worten „Good-bye, pretty lady!“ (ebd.: 110) erschossen. Dabei wird die Beziehung des Legionärs zu seinem eigenen Tod in erotisch-mystische Höhen gehoben: Das Legionärsherz gehört nun „Doña Muerte la bella“ allein, die wiederum in Gestalt einer verführerischen, allmächtigen Frau auftritt und den Nektar des Todes mit parfümierten Küssen verteilt (ebd.: 151). Ihre Liebe zum Tod setzten die Legionäre, die sich bekanntlich als „novios de la muerte“ bezeichneten und besangen13, auch auf Hochzeitsfotos in Szene, auf denen sie sich an der Seite eines mit Brautschleier geschmückten Skeletts positionierten. Neben dem Bund mit dem Tod diente eine bedingungslose Gruppenidentifikation in der Legion zur Rehabilitation des männlichen Selbstwertgefühls: Ihr kompromissloses Loyalitätsverständnis führte zu einem exaltierten Überlegenheitsgefühl (jedoch auch Marginalisierungsgefühl) gegenüber der Zivilgesellschaft (vgl. Kap 4.1). Auffällig ist auch hier die homoerotische Aufladung des Männerbunds, die Theweleit als psychischen Abwehrvorgang kriegsfreiwilliger Männer gegen eine ‚gefährliche‘ Objektbeziehung mit der Frau deutet (Theweleit [1977-1978] 1990, Bd. 1: 61-71): Wie Martín Márquez (2008: 184-202) ge-

13 So in einer bekannten Hymne der Legion, die während des Kriegs Allgemeingut war: „Nadie en el Tercio sabía / quien era aquel legionario / tan audaz y temerario / que a la Legión se alistó. / Nadie sabía su historia, / más la Legión suponía / que un gran dolor le mordía / como un lobo, el corazón. / Más si alguno quien era le preguntaba / con dolor y rudeza le contestaba: / Soy un hombre a quien la suerte / hirió con zarpa de fiera; / soy un novio de la muerte / que va a unirse en lazo fuerte / con tal leal compañera. / [...] Cuando, al fin le recogieron, / entre su pecho encontraron / una carta y un retrato / de una divina mujer. [...]“ Der Liedtext findet sich u.a. auf der offiziellen Internetseite der Legion: www.lalegion.es/pdf/noviodelamuerte.pdf.



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zeigt hat, war insbesondere die Legion und die daraus erwachsene faschistische Männergemeinschaft mit homoerotischen Konnotationen versehen, die eng mit ihren sadomasochistischen Gewaltpraktiken und der Todesmystik verschlungen waren. Anspielungen auf gleichgeschlechtliche Sexualität finden sich viele in der Kriegsliteratur. So nimmt zum Beispiel Micó España in seiner fiktionalen Erzählung El camillero de la Legión eine vieldeutige Relativierung der Idealisierung der Legion vor, die er sonst in seiner Literatur betreibt, und liefert dazu eine merkwürdige Anekdote: „Los supervivientes alejados ya del Tercio piensan en su época de campaña como en una pesadilla absurda y horrenda, de la que se despierta atónito y quizás orgulloso y confuso, y que sólo puede recordarse vaga y brumosamente. Una pesadilla, aunque no igual, parecida a esas que maculan la conciencia y avergüenzan. (Se sabe de un literato conocido que fue a pasar ocho días en un convento, haciendo ejercicios espirituales, porque había soñado que le daba besos en la boca al conde de Romanones [zu dieser Zeit spanischer Justizminister]14.)“ (Micó España 1922b: 28)

Die Zeit bei der Legion wird demnach retrospektiv zu einem homosexuellen (Alb?)Traum, aus dem der Heimkehrer verwirrt und mit beflecktem Gewissen erwacht. Die Anekdote ist, nebenbei bemerkt, in eine Erzählung gebettet, die ihrerseits ziemlich Sonderbares zum Inhalt hat: Sie erzählt von einem Legionär mit prophetischen Kräften, der im wörtlichen Sinne eine rassische Grenzgestalt ist: „tiene, desde el pecho arriba, la piel negra como un hotentote, y el resto de su cuerpo es blanco, de un color natural, ya que es hijo de la raza blanca“ (ebd.: 20). Der zweigeteilte Körper des Legionärs wird als Symbol der kulturellen Hybridisierung lesbar, die sich in der afrikanistischen Militärgemeinschaft ereignet. Eine ähnliche Vermischung vollzieht sich in einer anderen Erzählung des gleichen Autors – Lupo, Sargento (1922c): Hier tauschen die Seelen eines spanischen Legionärs und eines marokkanischen Unteroffiziers der Regulares im Moment des Todes ihre Körper. Die Hybridgestalten beider Erzählungen treten als göttliche Verkünder der Botschaft allumfassender Liebe auf und sind doch besonders hartgesottene Soldaten. Die Reinkarnationsvorstellungen, die in beide Erzählungen einfließen, werden vor dem Hintergrund der Erzählung von symbolischem Tod und Wiederauferstehung bedeutsam, die mit der Legion verbunden ist (vgl. Kap. 4.1).

14 Der Graf von Romanones, Álvaro de Figueroa y Torres, hatte als einer der bedeutendsten liberalen Politiker dieser Zeit die spanische Marokko-Politik seit Beginn des 20. Jahrhunderts stark beeinflusst.



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3.1.2 Das männliche Regenerationsprojekt und sein Scheitern in Enrique de Menesesʼ La cruz de Monte Arruit (1922) Die Gender-Codierung des Desasters von Annual, die Deutung des Kriegs als Projekt der männlichen Revitalisierung und der Wunsch nach Partizipation an der Männlichkeit des moro lassen sich exemplarisch an Enrique de Meneses autobiographischer Erzählung La cruz de Monte Arruit (1922) aufzeigen. Dabei führt dieser Text vor Augen, wie die traditionellen Männlichkeits-Konzepte der Ehre und Wiedergutmachung als Deutungsmuster für das koloniale Desaster herangezogen wurden und zugleich eine Erschütterung erfuhren, so dass sie hier keine kohärente Narration mehr ergeben. La cruz de Monte Arruit ist zunächst ganz darauf ausgelegt, eine Geschichte maskuliner Regeneration zu werden, dieses Erzählschema wird anfangs sorgfältig aufgebaut und scheitert schließlich. Über weite Teile widmet sich die Erzählung der Erklärung der Niederlage von Annual und vollführt dabei ein Hin und Her zwischen der Aufrechterhaltung und der Verabschiedung des Paradigmas heroischer Männlichkeit, zwischen Apologie und Anklage der Afrika-Soldaten, Selbstdarstellung und Geständnis, zwischen der Inszenierung erhabener Kampfszenen und der entrüsteten Bloßstellung des Marokko-Feldzugs als großer Farce. Ein zentrales Anliegen ist die Richtigstellung ‚falscher‘ Darstellungen des Kriegs, die Rehabilitation der Ehre einzelner Gruppen und Personen, bzw. die Zuweisung von Schuld an andere nach dem Maßstab von Heldenmut und Feigheit. Zugleich legt die Erzählung ein erschreckendes Zeugnis ab von einer Realität der Entbehrung, von Angst, Tod und Zerstörung, die diese Sinnwelten ins Wanken bringt. Zuletzt wird das Regenerationsvorhaben nach einer Diagnose der schweren „Krankheiten“ des ganzen politischen und militärischen Systems verworfen: Es endet in einer düsteren Prophezeiung des nationalen Niedergangs, im Bild eines sterbenden Volkes. Ganze fünfzig Seiten widmen sich anfangs nicht dem Krieg in Marokko, sondern dem dekadenten Gesellschaftsleben der ‚Haute volée‘ in Paris und Madrid: Hier versucht der erzählte Meneses, Sohn eines reichen Fabrikbesitzers, vergeblich das ‚moderne‘ Lebensgefühl depressiver Leere und Sinnlosigkeit zu ersticken, indem er sich zwischen Varietés und Jazzlokalen, zwischen Tennis-, Polo- und Golfplatz, zwischen Spielcasinos und Cocktailbars zerstreut: „¡qué mal humor sentimos de no hacer nada, de nuestra vida inútil, de nuestra carrera loca, de fiesta en fiesta, de diversión constante, como cortesana histérica e incansable!“ (Meneses 1922: 21) In diesem snobistischen Ambiente vergeuden die jungen Männer ihre Jugend und sind zu ‚weibischen‘ Hysterikern mutiert („Más que hombres de impulsos varoniles, semejaban peleles o damiselas histéricas“, ebd.: 42) und die Damen haben sich, auf der ständigen Suche nach inhaltslosen



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Flirts, von den traditionellen weiblichen Tugend- und Moralvorstellungen verabschiedet: Die Mutterschaft dient hier nur noch als Vorwand, um an der Seite der Töchter dem Gesellschaftsleben zu frönen (ebd.: 13). Inmitten solcher Szenerien erscheint Meneses die sittsame Weiblichkeit („la novia pura, ideal, inmaculada“) als verlorenes Sehnsuchtsbild (ebd.: 17). Die Geschichte einer enttäuschten Liebe, die auf Andeutungen reduziert bleibt, begleitet auch hier die Kriegserzählung als Subtext, der die Unternehmung in Marokko untergründig strukturiert. In dieser gesellschaftlichen und psychischen Befindlichkeit erreichen Meneses die Neuigkeiten über die Niederlage des Afrika-Heers bei Annual: Peinliche Gerüchte über das Verhalten der spanischen Soldaten in Marokko machen in der internationalen High Society die Runde: „En la mesa que nosotros ocupamos era el tema favorito nuestro desastre de Marruecos. Se hablaba en voz relativamente baja del comportamiento de Gonzalo Villar. Unos decían que huyera desnudo y montado en un mulo, logrando así llegar a la plaza de Melilla; otros aseguraban había desertado pasando a la zona francesa. Un sin fin de horrores y de vergüenzas.“ (Ebd.: 47-48)

Meneses ist empört über diese Gerüchte, er beschließt seiner seelischen Leere und Ermüdung Einhalt zu gebieten, seinem Leben zu neuer Würde zu verhelfen und es der Wiedergutmachung des in Annual erlittenen Ehrverlusts zu widmen. Er setzt nun alles daran, dieses nationale und individuelle Selbstrettungsprojekt in die Tat umzusetzen und als Freiwilliger der Húsares de Pavía in den MarokkoKrieg zu ziehen. Zunächst verhilft die Aussicht auf die Uniform und auf die Nähe des Todes Meneses noch zu Euphorie, neuem Lebenssinn und Selbstwert. Für Zweifel sorgen jedoch schon bald nach der Ankunft die höhnischen Kommentare der anderen Soldaten über Meneses‫ ތ‬freiwillige Kriegsteilnahme, der verwahrloste Zustand der Soldaten und Unterkünfte, die aufdringliche Anwesenheit von Fliegen, Läusen und Ratten bei gleichzeitiger Abwesenheit des Feindes. Meneses muss feststellen, dass die gewöhnlichen spanischen Truppen aus den Kampfhandlungen weitgehend herausgehalten werden, während die Legionäre sowie die marokkanischen Regulares und Policías Indígenas das männliche Geschäft des Kriegs für die spanische Nation erledigen. Zu der vergüenza über die Statistenrolle der Spanier im Kriegstheater gesellt sich dabei die neidvolle Bewunderung für die außergewöhnliche Virilität der marokkanischen Kämpfer: „Entonces es cuando he sentido envidia de contemplar los Regulares, airosos sobre sus corceles ligeros, ágiles, de raza árabe, con sus bournuces [sic!] azules flotando al viento,



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los turbantes blancos y las manos haciendo mil diversos graciosos movimientos con las carabinas, mientras sus caballitos alados galopan hacia el enemigo y se escuchan sus clásicos gritos de guerra [...] he sentido envidia de que ellos sean siempre los que marchan primero, vanguardia de vanguardia, como si fuesen hombres superiores a nosotros.“ (Ebd.: 134)

Hier wird, wie so oft in der Marokko-Kriegsliteratur, das Bild der Fantasia marokkanischer Reiter beschrieben.15 Es wird zum Symbol von Freiheit, Stolz und Stärke und damit zur Projektionsfigur männlicher Selbsterfüllung. Der FantasiaReiter scheint immer wieder in dieser Literatur im Besitz all dessen, was dem spanischen soldadito abhandengekommen ist. Seine würdevolle Autonomie ist das Gegenbild zum Statisten-Soldaten, der in der militärischen Hierarchie jeder Initiative und Handlungsmacht beraubt, eingeschlossen hinter den Stacheldrähten eines blocao gegen Parasiten und Durchfallkrankheiten kämpft. Als eine der Haupterklärungen für die Niederlage von Annual führt Meneses entsprechend die generelle Kampfunfähigkeit der regulären spanischen Soldaten an, die es gewohnt waren, ihre marokkanischen Verbündeten voranzuschicken: „Nuestras tropas, acostumbradas a ir siempre de comparsa, a ocupar posiciones como la de Annual, sin disparar un solo tiro y además viendo en los Regulares y Policía [Indígena] a hombres extraordinarios, de mayor masculinidad, que retrocedían por primera vez, ¿qué ánimos iban a sentir para salir en su ayuda? Aquellas tropas acobardadas por el sistema seguido con ellas, rehusaban avanzar, se quejaban de que los tiros pasaban muy cerca, exponían sus temores de que quizás les podían herir o matar. [...] En realidad aquello era un movimiento de cobardía general.“ (Meneses 1922: 104)

Die zentrale historische Referenz der Erzählung sind die Ereignisse um die Stellung von Monte Arruit, wie der Titel verkündet. In diesem Militärlager in der Nähe Melillas hatten sich große Truppenreste, die das Desaster überlebt hatten, unter dem Kommando des Generals Felipe Navarro zurückgezogen und warteten, von der feindlichen harka der Rifberber umzingelt, zwei Wochen lang auf eine Befreiung durch das spanische Militär (vgl. Kap. 1.2.3). Während dieser Zeit, in der man sich bereits des Ausmaßes des Desasters bewusst geworden war, richteten sich nun die Augen der Nation auf Monte Arruit und dem Ort wurde, einerseits als letzte Bastion des Widerstands, andererseits als Ort rettungsbedürf-

15 So z.B. in Casado y Escudero [1923] 2007: 39; Ruiz Albéniz 1922a: 125; Corrochano 1926: 162 u.a. Die fantasia war auch ein wiederkehrendes Motiv der Schlachtenmalerei des 19. Jahrhunderts (Martín Márquez 2008: 177).



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tiger Kompatrioten, eine enorme symbolische Bedeutung zugesprochen. Ein Befreiungsversuch blieb jedoch ganz aus, die Belagerung endete mit der Kapitulation der Eingeschlossenen. Ein Teil der Soldaten starb an Entbehrung, viele wurden von den feindlichen Kabylen getötet, nachdem sie die Waffen übergeben hatten („sucumbían asesinados como mujeres“, ebd.: 111), mehrere Hunderte Militärs gerieten in Kriegsgefangenschaft. Das „Kreuz“ im Titel der Erzählung markiert somit zunächst weniger den Ort des Opfertodes dieser Soldaten, als das Stigma der spanischen Nation, sie solch einem schmählichen Untergang überlassen zu haben: „[...] nada hicieron para evitar aquella gran vergüenza, dando lugar a que un moro, gran amigo de España, el leal Ad-El-Kadder, exclamase hondamente apenado y con dignidad de varón: –Pero ¿cómo es posible que no acudan en su socorro, que nada intenten por salvar a sus propios hermanos, a su misma sangre?“ (Ebd.: 111)

Hier misst sich die Schmach der Niederlage am abschätzigen Blick des moro amigo, der das Ideal männlicher Ehre vorgibt und erfüllt.16 Die Mission der nationalen Ehrenrettung wird, wie erwähnt, von der verdrängten unglücklichen Liebesgeschichte begleitet, die sich unter anderem in Form eines Traums in die Erzählung des Kriegs schmuggelt. In diesem Traum trifft, kurz vor der Schlacht, ein geheimnisvoller Brief ein, dessen Absender in der Vorstellung des erzählten Meneses nur die ehemalige Geliebte und dessen Inhalt nur eine Liebeserklärung sein kann. Auch hier wird der eigene Tod phantasiert als eine Art Abrechnung mit der Herzensbrecherin, die zu ihrer späten Buße führen soll: „Llegará un día en que me volverás a querer con todas las fuerzas de tu alma; pero ten cuidado que ya no sea tarde..., ten cuidado que entonces ya no tenga remedio, porque si tú me abandonases habría de buscar la

16 Besonders anschaulich wird dies auch in einer Szene aus ¡Kelb Rumi! vorgeführt, bei der Alberto sich für das unmännliche Verhalten eines spanischen Soldaten vor den Rifberbern schämt: Ein Mitgefangener Albertos mit kindlichem Erscheinungsbild bricht vor dem versammelten Berberdorf in Tränen aus: „¡Qué vergüenza! Al oír el llanto de aquel compatriota, al mirarle derrumbado, lleno de pánico, femenilmente acobardado, pasó por mi memoria el recuerdo [...]“ (Ruiz Albéniz 1922a: 181). Alberto erinnert sich hier an das stolze und mutige Verhalten einer Gruppe marokkanischer Soldaten, die wegen Mordes an ihrem spanischen Kommandanten angeklagt waren. Im Gegensatz zu dem weinenden spanischen Soldaten sahen sie ihrer Todesstrafe würdevoll entgegen und lehnten verächtlich die letzte Wunscherfüllung ab.



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muerte.“ (Meneses 1922: 146) Der Brief wird zunächst nicht geöffnet und wird so zum Symbol, das auf die Macht des imaginierten Begehrens der Frau verweist: Meneses reagiert mit Panik auf das verschlossene Schreiben, es droht unmittelbar der Verlust des militärischen Kampfgeistes: „[...] tuve miedo, sentí miedo [...] temía que la felicidad pudiese llamarme otra vez con su voz persuasiva, falsa; me imaginé mi pánico al entrar en los combates, al escuchar silbar las balas que pasarían cerca de mí“ (ebd.: 146-147). Der Brief erweist sich als banal und führt zu großer Enttäuschung, der Albtraum wird daraufhin erfolgreich in einen Allmachtstraum verwandelt – mittels des Kampfbildes des FantasiaReiters, das direkt in die Vision der Rückeroberung von Monte Arruit überführt wird: „[...] puse mi caballo al galope; el sable tintineaba al rozar con los estribos; mi carabina en una mano y todo el bélico aparato me hicieron cambiar mis pensamientos, me sentí otro hombre distinto al de hacía unos instantes y respiré con agrado y satisfacción. –Mañana tenemos operación; mañana se reconquista Monte Arruit, mañana tendremos lucha, combate; yo te juro, Dios mío, que vengaré la muerte de mis hermanos; mañana trataré de ir de los primeros, lucharé con entusiasmo, y si no hay ocasión– murmuré, pensando en los Regulares que, airosos al galope veloz de sus corceles moros, en aquel momento cruzaban por delante de mí–, mañana trataré de irme con vosotros.“ (Ebd.: 147-148)

Nach dem Aufwachen verbleibt das Panikgefühl des Traums und wird dann mit energischer Geste hinweggewischt: „Indudablemente que no se podía imaginar un sufrimiento mayor, un suplicio más horrendo; pero, gracias a Dios, aquello no era verdad; ninguna mujer podría intranquilizarme.“ (Ebd.: 148) Zwischen die wiederkehrenden Verherrlichungen des Kampfs drängt sich immer wieder eine profunde Desillusion, die die Regenerationsidee in Frage stellt. Ein zentraler Destabilisierungsmoment ereignet sich, als die Erzählung den ersehnten Augenblick der ‚Wiedereroberung‘ von Monte Arruit erreicht hat: Diese stellt sich in militärischer Hinsicht als lächerlicher ‚Spaziergang‘ heraus, sie wird jedoch propagandistisch von den Medien als „golpe teatral“ (ebd.: 138) inszeniert. Der Hohlheit politischer und militärischer Theatralik steht eine schreckliche Realität gegenüber: die halbverwesten, verstümmelten Leichen, die beim Einmarsch in die zerstörten Stützpunkte sichtbar werden: „Caminando por entre cientos de cadáveres, sintiendo los aguijones del hambre y de la sed, bajo aquel sol de fuego, comprendí la odisea de aquellos desgraciados, disculpé muchas cosas, muchos errores [...] y sentí apoderarse de todo mi ser una gran indulgencia, junto con una gran pena, honda y persistente.“ (Ebd.: 153)



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Die Erschütterung und Entrüstung darüber, dass der ganze Krieg eine „bien tramada farsa“ (ebd, 138; 157) sei, erreicht hier einen ersten Höhepunkt: „Si a los miles de cadáveres sepultos allí les fuese infundido por un instante un soplo de vida, repetirían llenos de rabia, cuando una comisión provinciana, el ministro de la Guerra u otros farsantes oficiales pronunciasen sus huecos, vacíos y rutinarios discursos: ‚¡Mentira! ¡Mentira!‘“ (ebd.: 158). Der Heldendiskurs könnte damit eigentlich an ein Ende gekommen sein, wenige Seiten später wird der Krieg jedoch wieder im Stil der Erhabenheit inszeniert, die Idee der Reinigung durch Schmerz bekräftigt (ebd.: 163) und militärischer Enthusiasmus und Pflichterfüllung gefordert (ebd.: 175). Um dieses Ideal selbst noch erfüllen zu können, lässt sich der Erzähler zu den bewunderten Regulares versetzen. Der kulturelle Kleiderwechsel besiegelt den Übertritt: Meneses tauscht seine spanische Uniform gegen den blauen albornoz, das kuttenartige Gewand der marokkanischen Kavallerie, und trägt stolz das neue Emblem mit dem Halbmond und der Krone zur Schau: „[...] me sentí satisfechísimo; aquello era distinto: así se podía vivir, buscar la muerte; pero sintiéndose más suelto, más libre [...] en los Regulares se veía uno más hombre y parecía como si el valor y empuje que nos animase pudiera decidir más una victoria.“ (Ebd.: 189) Die Identifikation mit den marokkanischen Soldaten bleibt jedoch partiell und geht, hier wie auch in anderen Erzählungen aus der Feder der Afrikanisten, immer wieder mit der Angst vor Verrat und der diskursiven Restitution des hierarchischen Unterschieds einher: So erklärt Meneses die Anwendung der Prügelstrafe unter den Regulares für notwendig aufgrund ihres „wilden“, „instinktiven“ und „grausamen“ Naturells (ebd.: 285). Die Wertschätzung der Maskulinität des rifeño kann also leicht in die distanzierende Feststellung seines niedrigen Zivilisationszustands umschlagen17 und die gewaltsame Unterwerfung rechtfertigen: „Esto revela el carácter de esta gente, su natural fiereza, su idea del honor; lo que ellos admiran [...] el ser valiente, para ellos es lo único que les subyuga.“ (Ebd.: 286)

17 Vgl. ebd.: 303: „¡Pobres gentes! ¡Qué filosofía más grande y más profunda revelaban sus palabras! ¡Qué idea tan hermosamente salvaje tienen de su papel de hombre, de su honor, de su valor! La muerte lograda en la guerra para ellos es su mayor orgullo; no les importa, incluso la desean... ¡Qué difícil es vencer a hombres que piensan de esta manera, y además defienden el suelo que les vio nacer, sus hijos, sus mujeres, sus padres...!“ Die Bewunderung des Männlichkeitsideals der Rifkabylen und ihrer kompromisslosen Todesbereitschaft ist, wie sich in solchen Reflexionen zeigt, ein Komplementärphänomen zu den diffusen Zweifeln des autobiographischen Ichs am Sinn des Kriegs – Zweifel, die den moro nicht zu plagen scheinen.



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Die Vorstellung einer Vitalisierung oder Regeneration durch den Krieg wird auf den letzten Seiten endgültig aufgegeben, was als regenerative Heldenfahrt begonnen hat, läuft schließlich in einen ganz anderen Hafen ein, als den der heroischen Heimkehr. Der Text endet in einer wütenden Anklage der Fehlorganisation, Verantwortungslosigkeit, Verlogenheit, des Despotismus und Egoismus des ganzen politischen und militärischen Systems und einer Absage an den Krieg als Lösung der Marokko-Frage. Das heroische Männlichkeitsideal wird in den letzten Zeilen relativiert: „[Nuestros soldados] Son hombres de carne y hueso, y, por tanto, no se les puede pedir, exigir constantemente el sacrificio, el ser un héroe, un mártir... No; no es posible tachar al ejército español de indigno por el desastre de Annual.“ (Ebd.: 334-335) Diese Resignation ist an die Feststellung gebunden, dass sich kein konkreter Schuldiger lokalisieren lässt, an dem sich eine Handlung der Rache oder Wiedergutmachung vollziehen ließe: Weder die feindlichen Rifberber, noch die Soldaten oder die militärische Führung, weder der König, noch der Alto Comisario, noch die Regierung, so heißt es, sind schuld an der Katastrophe – damit werden hier nach und nach alle Akteure durchgestrichen, die als Verantwortliche in Betracht gezogen wurden – sondern alle. Das Projekt der individuellen und nationalen Gesundung durch den Kolonialkrieg mündet in die generelle Infragestellung der Kolonisierungsfähigkeit Spaniens und der Prophezeiung und resignierten Anheimgabe an den kollektiven Niedergang: „[...] España seguirá su triste descenso, su destino aciago; España no tendrá salvación [...] ‚¿Venganza a quiénes? ¿Castigo a quién? Si sois vosotros mismos, si es vuestra sangre, vuestros hijos, vuestros padres.‘ Y una oleada de impotencia será nuestro fin, porque un pueblo que necesita de una gran catástrofe para sacudir por un instante su modorra intelectual, para despertar sus energías dormidas, ese pueblo no merece su libertad, está predestinado a morir.“ (Ebd.: 331)

Im Anschluss an diese allgemeine Schuldigsprechung endet die Erzählung unvermutet im Eingeständnis einer untilgbaren inneren Schuld des autobiographischen Ich und verabschiedet sich damit in den letzten Worten vom Paradigma der Ehre und Wiedergutmachung durch den Krieg: „Todos, todos tenemos sangre de Abel en nuestras manos, y yo, al presenciar aquel cuadro de horror, al ver los miles de cadáveres que me rodeaban la primera tarde que Monte Arruit volvió a ser nuestro, vi con espanto, con dolor, que yo también tenía mis manos tintas en sangre...“ (Ebd. 336)



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Vor dem Hintergrund dieses Schlusswortes (gefolgt von einem Postskriptum, in dem Meneses vor der Sinnlosigkeit der geplanten militärischen Landung in Alhucemas warnt) legt ein Blick zurück auf das Vorwort das ganze Spannungsfeld frei, in dem sich der Text bewegte. Dort schreibt ein Kriegskamerad von Meneses: „Como él, tengo la satisfacción del deber cumplido, siquiera no haya sido en tanto y tan heroico grado que Enrique de Meneses, el hombre caballeresco, rico y valiente que llevó a Marruecos sus energías, y trae ahora a España sus sinceridades y el generoso afán de contribuir a la regeneración patria.“ (Ebd.: VII)

La Cruz de Monte Arruit ist also als ein weiterer Grenztext verstehbar, in dem sich ein Deutungskonflikt in Bezug auf das koloniale Desaster und den Wiedereroberungskrieg artikuliert, der die ganze Erzählung durchzieht: Eine Achse der narrativen Sinnproduktion hält an dem Muster von Regeneration und Heldentum fest und bestätigt dabei immer wieder das afrikanistisch-militaristische Wertesystem und sein traditionelles Männlichkeitsideal. Die andere zutiefst kritische Deutungsrichtung – formuliert als Zeugnis einer Desillusion und als Anklage – gelangt zu einer fundamentalen Infragestellung des Kriegs als Medium der ‚Wiederauferstehung‘ und Reinigung. Zwar mündet die Kritik am politischen und militärischen System schließlich in der (an Blutsbande geknüpften) Vorstellung kollektiver Dekadenz, sie verstummt jedoch zugleich im Verweis auf den Horror als ein unbegreifliches ‚Ding‘. Damit weist die Erzählung bereits in die Richtung sozialkritisch-pazifistischer Umschreibungen des Kriegs, wie Imán und El blocao oder La Barbarie Organizada, die diesen Horror ins Zentrum stellen, das heroische Männlichkeitsideal dekonstruieren und den einfachen Soldaten vordergründig als Opfer gesellschaftlicher und politischer Strukturen begreifen.

3.2 G REGORIO C ORROCHANOS ¡M EKTUB ! (1926): D AS D ESASTER ALS SELBSTERFÜLLENDE P ROPHEZEIUNG EINES WEIBLICHEN V ERRATS Zu einem ganz anderen politischen Fazit gelangt Gregorio Corrochanos Roman ¡Mektub! (1926), in dem eine vordergründig metaphorische/metonymische Vergeschlechtlichung der kolonialen Beziehung zwischen Spanien und Marokko erfolgt. Die Liebesgeschichte zwischen dem spanischen Hauptmann Santiago und der Marokkanerin Zohra, der Tochter eines Scherifen, ist stark synekdochisch



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aufgeladen, die beiden Figuren interagieren als symbolische Stellvertreter ihres Kollektivs. ¡Mektub! verlangt in gewisser Hinsicht, als Thesenroman gelesen zu werden: Über die Erzählung des fatalen Scheiterns dieser Liebe wird das koloniale Verhältnis als Amour fou in Szene gesetzt und auf ein ideologisches Fazit hinkonstruiert, das sich aus einem negativen Lernprozess der spanischen Hauptfigur ergibt. Charakteristisch für Thesenromane ist nach Susan Suleiman eine Vorliebe für Bedeutungsstrukturen solcher Art: „‚He (now) knew that p‘, where the proposition p is logically presupposed as true.“ (Suleiman 1983: 264) Das durch das erzählte Geschehen erlangte Wissen des Helden stellt sich dabei als logisch zwingend dar und soll sich so einer kritischen Hinterfragung entziehen (ebd.). In ¡Mektub! ist diese Erkenntnis (‚p‘) die Unmöglichkeit einer penetración pacífica, d.h. einer friedlichen Kolonisierung Marokkos durch Spanien, und die Notwendigkeit einer Unterwerfung ohne ‚gefährliche Sentimentalitäten‘. Doch betrachtet man den Weg, der zu dieser autoritären Schlussfolgerung führt, entpuppt sich diese, ähnlich wie in ¡Kelb Rumi!, als Maßnahme einer forcierten Schließung von Ambivalenz: Dabei zeigt die literarische Gestalt der orientalischen Frau – der mora – alle Facetten, die auf ihre „Funktion als Fetisch und Phobie“ (im Sinne von Bhabhas Stereotypentheorie) deuten – eine Funktion, die auch die Wiederholung dieser Figur in immer gleichen Charakterisierungen in der Literatur des Marokko-Kriegs nahelegt. Die mora Zohra verkörpert anschaulich den Umschlag vom Versprechen der Fülle zum Verdacht der Leere und Abgründigkeit (vgl. Kap. 1.1.2). In ¡Mektub! wird dazu eingängig die psychische Dynamik afrikanistischer Männlichkeit vorgeführt: Der Roman erzählt von der Verheißung des Going Native, vom Begehren, selbst in die Schuhe des Anderen zu schlüpfen und den moro auszuagieren, zugleich aber von der Angst vor der Auflösung kultureller (und geschlechtlicher) Identitätsgrenzen. Er erzählt vom Traum der Vermischung und pocht umso mehr auf das Gesetz der Trennung und der Grenzverteidigung nach Art der „Panzerung“ des soldatischen Mannes im Sinne Theweleits ([1977-1978] 1990), wobei sich koloniale und geschlechtliche Dominanz- und Anheimgabephantasien stark überlagern. 18 Der Roman führt so von der exotistischen Erfüllungsverheißung und dem Traum der penetración pacífica (3.1.1) in die Paranoia vor Selbstverlust und Unterwanderung, die zum Gebot einer Politik der Intoleranz, des harten militärischen Durchgreifens und zur Restauration der Differenzen führt (3.2.2). Die historische Realität des Desasters von Annual am Ende der Erzählung wird

18 Vgl. hier auch McClintocks Studie Imperial Leather (1995), die ähnliche Dynamiken im Kontext kolonialer Eroberung beschreibt und der Frau die Funktion eines Grenzfetisches zuspricht.



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schließlich als Bestätigung dieser Gefahr gedeutet, wobei das Desaster mit dem Verrat und einer Art symbolischer Entmännlichung durch die mora zusammenfällt (3.2.3). Die ideologische Schließung in Form der politischen These geht aus dieser Entwicklung hervor, sie verweist, wie sich zeigen wird, letztendlich auf die krisenhafte Psyche des afrikanistischen Hauptmanns zurück, die der Roman selbst explizit ausstellt. Sie löst so eine Gegenlesart aus, die die Entwicklung des Protagonisten zum ‚Hardliner‘ als eine fragwürdige Antwort auf die Frustration der Erfüllungsverheißungen, die Unmöglichkeit der Kontrolle und Aneignung des Anderen und als Schutzvorrichtung gegen Auflösungsängste und die weibliche Gefährdung männlicher Autorität versteht. Gregorio Corrochano (1882-1961), seinerseits Marokko-Liebhaber und Afrikanist, wurde als Korrespondent der monarchistischen Zeitung ABC 1921 nach Nordmarokko geschickt, um dort über den Hergang und die Ursachen des Desasters von Annual zu berichten. Seine Laufbahn als Journalist war ab diesem Zeitpunkt eng mit dem spanischen Protektorat in Marokko verbunden, wo er sich immer wieder bis zum Ende des Kriegs aufhielt, so auch im Moment des Militärputschs der Nationalen. In den letzten Monaten des Spanischen Bürgerkriegs gründete Corrochano in der internationalen Stadt Tanger die Zeitschrift España, die zunächst der franquistischen Propaganda diente, jedoch während des Zweiten Weltkriegs, in Zeiten massiver Einschränkung der Meinungsfreiheit in Spanien, zu einem recht liberalen Informationsforum mutierte, das auch republikanischen Positionen Raum gab. Gregorio Corrochano selbst stand José Sanjurjo und Francisco Franco persönlich und politisch sehr nahe (vgl. Rodríguez Jiménez 2006: 225)19 und vertrat in seinen Marokko-Artikeln typische Positionen des afrikanistischen Militarismus. Neben Marokko war der Stierkampf das Hauptthema seiner zahlreichen Artikel und Bücher, für die er unter Franco vielfach ausgezeichnet wurde und aufgrund derer er in Kreisen der aficionados heute noch einen gewissen Bekanntheitsgrad genießt. Corrochano beanspruchte ähnlich wie Víctor Ruiz Albéniz dank seiner Aufenthalte in Nordmarokko ein kulturelles und politisch-militärisches Expertenwissen in Bezug auf Marokko zu besitzen, das er großzügig in ¡Mektub!, den m.W. einzigen, weitgehend vergessenen Roman Corrochanos, einfließen ließ.20

19 Rodríguez Jiménez stellt zudem die Vermutung an, Corrochano sei es gewesen, der im Auftrag Francisco Francos dessen Diario de una Bandera verfasst habe, er liefert dazu jedoch keine konkreten Anhaltspunkte (vgl. Rodríguez Jiménez 2005b: 63). 20 Zusammenfassungen und Kommentare zu ¡Mektub! finden sich in den Überblicksstudien von López Barranco (1999: 340-341) und Carrasco González (2000: 107-108).



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Der Roman lehnt sich eng an den Stil exotistischer décadence-Literatur an und vollführt an einzelnen Stellen provokative avantgardistische Gesten.21 Der stark stilisierte, symbolisch überfrachtete literarische Diskurs wird mehrfach durchbrochen von nüchternen, faktualen Schreibweisen. So findet sich z.B. eine Auflistung der verschiedenen cabilas, die Einschätzung ihrer Zahlenstärke, ihrer Loyalität oder Feindseligkeit gegenüber den Spaniern nach Art eines militärischen Protokolls, das sich als Ergebnis einer Arbeitsbesprechung der Hauptfiguren Alarcón und Santiago präsentiert, und ein seitenlanger ethnologischreligionswissenschaftlicher Exkurs. Auch hier zeigt sich also die – für die Kriegsliteratur so charakteristische – strukturelle Brüchigkeit, wobei in ¡Mektub! der Übergang von der literarischen zur wissenschaftlichen Schreibweise ein Teil der Umschlagsbewegung vom lustvollen Phantasieren zur Angstabwehr ist (vgl. Kap. 3.2.2). Auf sehr ähnliche Art und Weise wie in Víctor Ruiz Albéniz‫ ތ‬Kelb Rumi (vgl. Kap. 2.3.3) werden auch in ¡Mektub! mehrere lange Gespräche zwischen Vertretern der Kabylen und den spanischen Protagonisten in Szene gesetzt, die reale Probleme der spanischen Protektoratspolitik und die Positionen und Anliegen aus Sicht beider Parteien ins Spiel bringen. So verschafft sich auch hier in der Inszenierung politisch-militärischer Unterhandlungen immer wieder eine bemerkenswerte Dialogizität ihren Raum, und auch hier erfolgen stark wertende Eingriffe durch die Erzählerrede oder die Gegenrede der Helden, die auf eine Monologisierung, eine Lenkung der Lesermeinung in die Richtung des politischen Fazits zielen.22 Und doch verbleibt ein gewisser Grad an Dialogizität und trägt dazu bei, dass die These der ‚mano dura‘, die sich im Lernprozess der Hauptfigur formiert, keine komplette Schließung des Textes erreicht.

21 So z.B. in der Beschreibung der orientalisierten Landschaft und Flora Tetuans mittels der Bilderwelten von Waffen und Blut im ersten Kapitel. 22 Corrochano reproduziert so z.B. einen Teil eines historischen Briefs in der Rede des Scherifen, wie aus einer Fußnote hervorgeht: „[Xerif:] –Tened en cuenta que los lugares que habéis escogido para vivienda nuestra serían para mí, caso de aceptar, lugares de prisión y que la cantidad que nos asigna la nación española, es la suma de un pobre indigente, ni siquiera la de un prisionero. [...]“ Die Verhandlung mit Santiago setzt sich folgendermaßen fort: „[Xerif:] –Me arrojaréis de aquí. ¡Qué gran proeza! Esa es vuestra civilización. Los métodos destructivos. Me mataréis, ya lo sé. Ni aun así cederé el paso, que la sangre de un Xerif no se seca en Yebala. [Santiago:] –No es posible parlamentar contigo. Divagas, sueñas. ¡Qué lástima!“ (Corrochano 1925: 115) Die Gegenrede Santiagos, der sich selbst dem Dialog verweigert, kann hier – wie an vielen anderen Stellen – die Dialogizität nicht ausräumen.



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Die Hauptgeschichte wird in einer intradiegetischen Erzählsituation kommuniziert; sie ist in eine Rahmenhandlung gebettet, an deren Ende sich die Wiederholung der Ereignisse der Binnengeschichte ankündigt. Damit etabliert der Text die Zeitstruktur des Teufelskreises, die eine Art zwanghafte Wiederholung des ‚Katastrophischen‘ zum Schicksal des kolonialen oder geschlechtlichen Verhältnisses erklärt – entgegen dem besseren Wissen (‚p‘), das als Schlussfolgerung abgeleitet wird. Der Fatalismus dieser Wiederholung ist im Titel angekündigt: Der Ausspruch „¡Mektub!“ („Es steht geschrieben!“) holt das Stereotyp orientalischer Schicksalsbejahung hervor, die hier auch die spanischen Militärs in den Strudel des Untergangs treibt, da sie sich auf die gefährliche kulturelle Grenzüberschreitung in Form der Liebe zur einheimischen Frau einlassen. 3.2.1 Grenzauflösung: Die penetración pacífica im Bann von Fetisch und Phobie Zu Beginn der Erzählung gelangt Capitán Sandoval, Protagonist der Rahmenhandlung, mit frischer Tatkraft und Idealismus im Militärrucksack nach Tetuan, um in einem nahegelegenen Militärposten die Position eines Hauptmanns der Regulares einzunehmen. Sandovals militärischer Enthusiasmus ist von vornherein von einem exotistischen Begehren getragen, sein Drängen zur militärischen ‚Kontaktlinie‘, die der Außenposten markiert, zielt auf eine Berührung mit dem Anderen und (wie in ¡Kelb Rumi!) dessen ‚Reformierung‘ zum Zwecke der Selbstbestätigung: „A su ilusión por la carrera de las armas, le puso esta cifra: Marruecos, Marruecos en toda su actividad, de capitán de moros, en la línea de contacto. Hacer política y guerra. Intervenir en las cabilas por captación o por el prestigio del ejército.“ (Corrochano 1926: 11) Auch hier verspricht das Kommando über indigene Truppen einen Gewinn an Männlichkeit und Ehre: „El capitán no recataba su contento de mandar moros. El dueño de la casa le prometía grandes victorias, porque las harcas son muy leales y muy valerosas.“ (Ebd.: 33) Von Anfang an werden alle typischen rhetorischen Bausteine der Vergeschlechtlichung kolonialer Inbesitznahme ins Spiel gebracht, zunächst nach der Art orientalistischer Reiseliteratur: Das Subjekt der Erzählung ist hier „el viajero“ und funktioniert wie die Variable einer Betrachterposition. Bereits die Annäherung des Reisenden an Tetuan, die Panorama-Perspektive auf die weißen Mauern und schwarzen Fenster-Augen, führt die altbekannte „Tropologie des Schleiers“ ein und damit das ganze Bildinventar des literarischen Orientalismus, das um die Macht des Blicks und den Wunsch nach Ent-Deckung und Durchdringung kreist (vgl. hierzu Ye÷eno÷lu 1998: 39-67). Die abgründigen Augen der Verschleierten verfolgen und verführen den Afrika-Soldaten in fast allen



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Texten des Marokko-Kriegs: Sie bergen ein Geheimnis, das nach Lüftung verlangt, und verhöhnen zugleich den begierigen Blick, indem sie die Positionen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit vertauschen. Sie symbolisieren den Blick des Anderen, der sich dem Wissen entzieht und die Position des Eigenen zu destabilisieren droht. Damit etablieren sie den alten Bann von Begehren und Frustration, den die ‚orientalische Welt‘ über den westlichen Ent-Decker verhängt: „A Marruecos el que va se queda a conquistar, no sabe qué; algo que no logra, algo que le es necesario y no puede definir, porque acaso sea colores de haiti, ruido de agua, unos ojos no sabe de qué mujer.“ (Corrochano 1926: 39) Das Komplementärmotiv zu den schwarzen Augen der Verschleierten ist der voyeuristische Blick, der die unverschleierte mora auf der Dachterrasse überrascht: „Todo era mirado por el capitán por una de las aspilleras de la azotea, como miran los niños por la lente de un aparato de feria las vistas panorámicas de países raros. A su mirada, que todo quiere abarcarlo, era estrecha la abertura. [...] Después como el jugador que mira el naipe preciso, continuó su exploración lenta, estirando el cuello para hacer resbalar el muro sobre la figura. Bajó por una cuenca obscura al sombrío foso de los ojos y escaló las almenas de las pestañas. Dió en la noche. Los ojos tenían la mirada negra. Anduvo un rato indeciso y perdido; se orientó por las aletas palpitantes de una nariz, y cuando se recreaba en la boca carnosa, advirtió un movimiento parecido a un suspiro. Fué un aliento de sorpresa al ver que un hombre la miraba. Corrió por la terraza y entró doblada por una puertecita.“ (Ebd.: 44)

So wird über die orientalistische Tropologie des Blicks in ¡Mektub! die Entsprechungsstruktur zwischen territorialer und sexueller Aneignung – bzw. ihres Scheiterns – und damit ihr ganzer Phantasie- und Angstapparat etabliert. In den labyrinthischen Gassen des mittelalterlichen Tetuans begibt sich Sandoval, ähnlich Giménez Caballero in seinen Notas marruecas und die Protagonisten so vieler anderer Marokko-Texte, sogleich auf die Spurensuche nach einem früheren, verlorenen Teil des (kollektiven und individuellen) Selbst: „Como todo español que pisa Marruecos, sintió una simpatía, un acomodamiento atávico a todo cuanto lo rodeaba. ¿Era la primera vez que venía o volvía después de un viaje milenario?“ (Ebd.: 15) Die marokkanische Stadt erlaubt auch hier das Abtauchen in ein ‚tief innen‘ oder ‚einstmals‘. Die Sehnsucht nach einer Rückkehr zu verschütteten Identitätsschichten findet in der (als erzählerisches Motiv wiederkehrenden) Vorstellung ihren Ausdruck, die Nachfahren der Juden und Morisken bewahrten noch die Schlüssel zu ihren einstmaligen spanischen Häusern auf, aus denen man sie vertrieb – Schlüssel, die nun eine Verbindungstür öffnen könnten, die man damals schloss: „En alguna de estas casas, ¿se guar-



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daría la llave de su casa en España? En la genealogía, tan intricada como estas calles, ¿no habría alguna callejuela de enlace?“ (Ebd.) Neben diesem Verheißungscharakter bekommt das exotische Ambiente, in dem sich ein weiteres Mal alle Topoi orientalistischer Reiseliteratur wiederfinden,23 bereits eine bedrohliche Komponente, die den souveränen Subjektstatus des Hauptmanns ins Wanken bringt: Denn die Öffnung dieser Tür und die Lockung des Anderen bergen auch die Gefahr des Kontrollverlustes, der Irrationalität und Willenlosigkeit – und dieser Fluch wird später in Gestalt der marokkanischen Frau konkret. Erste Zeichen von Orientierungs- und Ziellosigkeit machen sich bereits in Tetuan bemerkbar, Vorboten eines psychischen Auflösungsprozesses, dem der Hauptmann zum Opfer fallen wird. Sein militärisches Gebaren beginnt schon bald ins Leere zu laufen, als er sich auf seinen Posten im Grenzland begibt, um seinen verstorbenen Vorgänger Capitán Santiago zu ersetzen. Hier erfährt gleich nach der Ankunft der Tatendrang des Neuankömmlings eine erste Dämpfung, denn es gibt nichts zu tun, und dagegen vermögen auch Sandovals Disziplin und Autorität nichts auszurichten (ebd.: 60). Als dieser von seinem Leutnant Alarcón erfährt, dass man seinen Vorgänger ermordet hat und der Täter noch lebt, beschließt er indigniert als erste militärische Handlung die Rache für das Vergehen, wird jedoch von Alarcón gebremst: Eine Genugtuung, wie sie die Norm der männlichen Ehre verlangt, ist nicht möglich – denn das Gegenüber ist: „Es horrible, una mujer, una loca.“ (Ebd.: 72) Bei der ersten Begegnung mit dieser Frau wird gleich ihr ganzes verstörendes Potential vor Augen geführt. Die Mörderin von Santiago lebt im Bettlerorden der Heddawas, der als eine Sekte vergnügungssüchtiger und verrückter Waldbewohner dargestellt wird – und lässt gewisse Ähnlichkeiten mit der mujer moderna erkennen, wie sie in der Heimat als Bedrohung heranwächst24: „Es la secta más independiente y fanática del Islam, refugio de todas las mujeres repudiadas, en abierta rebeldía con todos los principios, simpatizantes con el falso profeta. Son

23 So der Besuch des zoco mit den üblichen Typenbeschreibungen, der Blick in die Innenhöfe, eine Beschreibung des Opferfestes, das Teetrinken in der Männerrunde etc. 24 Auf die mujer moderna verweisen die Verweigerung der traditionellen weiblichen Haushaltstätigkeit (des Kochens), die offene Rebellion der ‚Sekte‘ gegen die gesellschaftlichen Normen, der Konsum von Opium und die Merkmale hysterischer Weiblichkeit, die Zohra in sich vereint. Auch die Kleidung Zohras, wie sie im folgenden Zitat beschreiben wird (ihr geöffneter Kaftan und die lange Kette aus Bernstein), ähnelt stark dem Kleidungsstil der modernen Frau der 1920er Jahre.



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fumadores de kif y masticadores de opio, que degeneran en locos. Jamás trabajaron. Sólo se les vió cocinar para satisfacer su glotonería.“ (Ebd.: 68)

Die Täterin ist Zohra, die ehemalige Geliebte des Opfers, die in einer Art militärischer Travestie vor die Soldaten tritt: „Seguida de un grupo venía Zohra. Una arrogante mujer, alta, esbelta, de andar cauteloso, entre desconfiada y tímida. Al ver a los oficiales, iriguióse, dió unas voces de mando y avanzó resuelta, más que con decisión, con altanería, con majestad, como una reina, como una heroína, como una diosa. [....] El caftán, desabrochado, dejaba espacio para que luciese un largo collar de ámbar que le bajaba hasta el pecho moreno, rematado por un punto rojo, como una granada en sazón que empezara a abrirse. [...]. Sujetaba sus cabellos con una gorra verde que avanzaba hasta ensombrecer sus ojos. En la gorra, de un verde seco, desteñido por la acción del sol, había tres estrellas como en la del capitán Sandoval.“ (Ebd.: 70)

Zohra hat sich nicht nur der militärischen Insignien ihres ermordeten Geliebten, der Hauptmannsmütze mit ihren Sternen bemächtigt, sie imitiert noch dazu die militärische Performanz desselben: „Teniente Alarcón, yo soy el capitán Santiago. Cuádrese. Cuádrese, que le habla su capitán.“ (Ebd.: 71) Zohra wird hier als Angstfigur der Entmächtigung durch den symbolischen Diebstahl lesbar: An ihrer Gestalt zerbricht nicht nur die Aussicht auf die Satisfaktion und Wiederherstellung der Ehre nach dem Tod des Hauptmanns, ihre verzerrende Nachahmung, der Befehl des Strammstehens, beschädigt die Authentizität militärischer Männlichkeit und stellt diese in ihrer Theatralität aus. Zohra ist ein Paradebeispiel der dekonstruktiven Kraft der Mimikry: Sie bedient sich der Symbole der Macht und unterhöhlt sie in Gestalt der Chimäre, begleitet von allen erdenklichen Merkmalen hysterischer Weiblichkeit: „la risa estrepitosa de la loca“ (ebd.), „ojos, fuentes secas de dolor“, „la boca, desgarrada, lacia, caída“ (ebd.: 72). Die transvestitische Figur deutet zugleich auf die Auflösung der kulturellen Grenzen hin, die die Erzählung in Folge zu ihrem Hauptgegenstand macht, und stützt Marjorie Garbers These zur kulturellen Bedeutung des Cross Dressing: „[...] the apparent spontaneous or unexpected or supplementary presence of a transvestite figure in a text [...] indicates a category crisis elsewhere, an irresolvable conflict or epistemological crux that destabilizes comfortable binarity, and displaces the resulting discomfort onto a figure that already inhabits, indeed incarnates, the margin.“ (Garber 1992: 17)



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Die Männer kehren in das Lager zurück und die richtungslose Ungeduld des Neulings mündet in eine generelle Verunsicherung und Ermattung. Marokko beginnt nun, seine zersetzende Macht ganz zu entfalten: „En Marruecos suele pasarse de la actividad a la quietud, del exceso de confianza a la timidez.“ (Corrochano 1926: 73) Nichts lässt sich zu Ende bringen, alles verharrt im Schwebezustand. Das Kommando kommandiert nichts, und die Wache ist vielmehr Objekt der Überwachung: „Así debe vivirse en los manicomios.“ (Ebd.: 75, 79) Sandoval verfällt in einen depressionsartigen Zustand. Bei einem Gelage mit Alarcón verkündet der Hauptmann nun den Wunsch nach einem ‚orientalischen Abenteuer‘: „Me dan ganas de coger un caballo y robar una mujer de uno de esos poblados. [...] Has de saber que desde el día que fuimos al poblado de los locos y vi a esa mujer, estoy influenciado por algo que no te sabría explicar.“ (Ebd.: 78-79) Das Vorhaben eines Frauenraubs bedeutet nicht den Rückgewinn maskuliner Handlungsmacht, sondern besiegelt den Prozess des Niedergangs, denn der neue Hauptmann befindet sich bereits wie sein Vorgänger unter dem gefährlichen Einfluss der mora. Hier findet die Rahmenhandlung ihr vorläufiges Ende und macht der Binnenerzählung aus dem Mund des Teniente Alarcón Platz, der in einer langen Rückschau vom Untergang des Capitán Santiago erzählt. Der Fehler Santiagos, der die ruinöse Dynamik der Binnengeschichte in Gang setzt, ist eine ausgeprägte Marokkophilie. Die Schwäche des Hauptmanns macht hier anfangs zugleich seine Größe aus, denn Santiago ist nicht nur der idealisierte Held der Geschichte, die penetración pacífica, die er betreibt, und die kulturelle Überlappungszone, die er damit an Stelle einer Front kreiert, tragen über die ersten Teile des Textes ein deutliches utopisches Potential. Der Idealist Santiago verwandelt das Kriegsterritorium in eine Friedenslandschaft: „Todo fue obra del capitán Santiago que, enérgico sin crueldad y bondadoso sin ser débil, supo atraer a la gente. Él se entusiasmaba. –Esto ya me gusta. Ya hay contacto.“ (Ebd.: 94) Der ‚Penetrationsprozess‘ wird dabei von einer kulturellen Anpassung des Capitán und einem Zuwachs an lokalem Wissen begleitet, der einen Gewinn an Kontrolle nach dem Modell der ‚sanften Kolonisierung‘ impliziert. Das Klingeln des Feldtelefons stört ihn in der Meditation über arabischen Büchern, einen gefangenen Pilger entlässt er aus einer ehrfürchtigen Kenntnis der marokkanischen Religiosität in die Freiheit und in der Verhandlung mit den stolzen Kabylenführern zeigt er Feingefühl und Geschick, wie sich beim Besuch Santiagos im Haus des Scherifen zeigt. Hier findet sich eine der zahlreichen Szenen der Marokko-Kriegsliteratur, die den afrikanistischen Mann in einer Gesprächsrunde mit dem marokkanischen Patriarchen zeigen – ein Motiv, das im Zeichen des ritterlichen Ehrenkodex steht



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und damit in der Traditionslinie der spanisch-maurischen Interaktion der novela morisca. Dabei wird deutlich, wie der spanische Afrika-Offizier die exklusive Männergesellschaft mit dem moro im rituellen Rahmen traditioneller Gastfreundschaft zelebriert und es als Form des Prestigegewinns betrachtet, auf gleicher Augenhöhe an den Privilegien islamischer Männlichkeit teilzuhaben. Oft wird gerade in diesen Szenen der Wunsch nach der Überschreitung des Haremsverbots geboren:25 Die Freundschaft mit dem marokkanischen ‚Stammesfürsten‘ bereitet mit auffälliger Wiederholung das Motiv der Verführung seiner Tochter vor. Offensichtlich markiert eine solche Überschreitung das Maximum, das die Machtphantasien des afrikanistischen Manns umkreisen. Santiago und der Scherif tauschen schließlich als symbolische Geste gegenseitiger Ehrerbietung ihre Pferde. Später wird in der Tradition des Ehrenduells, das sich mit realistischeren Elementen des Rif-Kriegs vermischt, „un duelo entre caballeros“ um die Tochter ausgetragen, wobei Santiago das rassige Araberpferd des Scherifen reiten und dank diesem den ‚Stammesfürsten‘ besiegen und töten wird. Der Ritt auf dem Pferd des marokkanischen Patriarchen ist wiederum mit dem Machterleben der arabischen fantasia verbunden; seine männliche Stärke realisiert sich also in der Aneignung der wichtigsten ‚Besitzobjekte‘ des marokkanischen Patriarchen: seiner Tochter und seines Pferdes. Zunächst noch im Genuss der Gastfreundschaft des Scherifen, zeigt sich Santiago als kultureller Alleskönner, der mit seinem neu erworbenen Wissen den Muslim über den wahren Muslim belehrt. Aus der mit einem ‚poetischorientalischem‘ Sprachstil überfrachteten Unterredung über arabische Literatur und Kriegspolitik geht er als Sieger hervor: Er kann davon überzeugen, dass der Islam im Niedergang begriffen ist, ein Argument, das wie üblich zur Legitimierung der Kolonisierung ins Feld geführt wird. Doch ist es gerade die Modernität Marokkos, die der Exotist Santiago für korrekturbedürftig hält: „No sé si son demasiado modernos. Hay que volver atrás, coger al musulmán puro, donde el tiempo le dejó.“ (Ebd.: 118) Die Ambivalenz zwischen dem Begehren nach einer unberührten Authentizität des Anderen und seiner Verbesserung zieht sich als semantisches Netz auf diffuse Weise durch den ganzen Text. Gleich im nächsten Kapitel nimmt die Verführung der Tochter ihren Lauf: Santiago trifft an einem Brunnen auf Zohra, eine leidenschaftliche Liebe entbrennt in einer heimlichen Liebesnacht und Zohra flieht aus dem väterlichen Haus in die Arme des spanischen Hauptmanns. Bedeutete die partielle Assimilierung in der Männergemeinschaft für den spanischen Militär einen Zugewinn an

25 So auch bei dem ersten Gespräch, das Sandoval in ähnlicher Runde in Tetuan führt (ebd.: 38-39).



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Souveränität, so treibt die Interaktion mit der marokkanischen Frau Santiago nun an die Grenzen des Verlusts seiner kulturellen Identität. Zwar ist es Zohra, die die Rolle der Überläuferin (Renegatin) zugeschrieben bekommt, doch das kulturelle passing erfolgt vordergründig in die andere Richtung: Die Liebhaberei führt zu einer beschleunigten Marokkanisierung des Hauptmanns, Santiago beginnt, das Militärlager in die Kopie eines marokkanischen Dorfes zu verwandeln: „El puesto, que ya tenía ambiente moruno, por su traza arquitectónica y por sus soldados indígenas, fué desde aquel día la casa de un Chorfa. Todo se lo sacrificamos a esta mujer. Se suprimieron los aperitivos alcohólicos, que al capitán se le antojaron innecesarios desde aquel día. En vez de vino, bebíamos en las comidas agua de naranjas y de rosas y una preparación dulzona del zumo de la uva. Desayunábamos con té y harina. [...] Hasta comíamos con los tres dedos de la mano derecha que marca la etiqueta y decíamos al comenzar: Bisimil-lah.“ (Ebd.: 143-144)

Dabei beginnen Zohra und Santiago einen Machtkampf um die Rollenverteilung von ‚Sklave und Knecht‘ im Prozess der Verführung und Anheimgabe, Assimilation und Selbstbehauptung auszutragen. Die synekdochische Bedeutung dieses Dominanzgerangels, seine historisch-politische Stellvertreterschaft, wird in Gesprächen über die architektonischen ‚Wahrzeichen‘ von Al-Andalus vor Augen geführt: „[Santiago: –La Giralda] es alta, esbelta y morena, como tú. Y es lo más admirado que hay en Sevilla, donde lo que más se admira después de la Giralda, es la mujer. [...] [Zohra:] –Es una torre árabe a la que habéis cambiado el alma. También en esto se parece a mí. Que no tenga yo que arrepentirme como no se arrepintió la Giralda, aunque sus hermanas la de Marrakech y la de Rabat, se deshagan de pena por la renegada.“ (Ebd.: 151)

Es folgt ein Wortgefecht um die symbolische Bedeutung der Architekturen des Kulturkontakts, mittels dessen ein heikler Beziehungsstreit ausgetragen wird: Santiago versteht die Giralda als Siegeszeichen der christlichen Erneuerung der muslimischen Kultur und stellt ihre Überlegenheit gegenüber dem Turm der Hassan-Moschee in Rabat heraus: „Una se deshace y humilla, abandonada por vieja y por inútil. La otra, es altiva y alegre y graciosa y joven. No tienen el mismo espíritu, aunque las dos nacieran del mismo deseo. Si la Giralda viniera a Marruecos, todas las torres serían sus esclavas [...].“ (Ebd.: 154-155) Zohra dagegen nimmt die Giralda als ursprüngliches Monument des Triumphes der islamischen über die christliche Kultur für sich in Anspruch:



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„[Zohra:] –La Giralda es una derrota cristiana. [Santiago:] –Por eso la conquistamos. Y como nos pareciera pequeña a nuestra conquista, aún la elevamos, que adonde llega hoy la Giralda de Sevilla, no llegó en tiempos del que tú llamas hiperbólicamente, el victorioso por la gracia de Dios, que la gracia de Dios está más alta. Zohra, humillada, se mordió los labios.“ (Ebd.: 155)

Hier wird in den Auseinandersetzungen des gemischten Paars bereits ein ‚Clash der Kulturen‘ angekündigt, der die These der Unmöglichkeit einer penetración pacífica vorbereitet: „Y predije para aquellos amores toda la violencia del choque de dos razas, que son incompatibles, porque las dos tienen la arrogancia de la Giralda.“ (Ebd. 156) Das Problem gestaltet sich jedoch weitaus komplizierter als eine simple Konfrontation der Geschlechter und Kulturen nahelegen könnte. Denn die fatale Liebe zu Zohra impliziert ihre dauerhafte Nicht-Greifbarkeit und leere Abgründigkeit (eine Ahnung, die zu Melancholie und Heimweh der Liebenden zu führen beginnt) und damit die Gefahr der Selbstzerstörung und des Selbstverlusts. Der Capitán droht nun zum Ofer von Hexerei zu werden, mittels derer Zohra und ihre schwarze Dienerin ihn zum Sklaven ihrer Liebe zu machen versuchen. Doch auch ein anderer Aspekt seines exotistischen Begehrens wird dem afrikanistischen Mann zur Bedrohung: Die Liebe Zohras (und damit auch ihre Unterwerfung) setzt die Marokkanisierung seiner Männlichkeit voraus. Die Eroberung der mora bedeutet nicht die kulturelle Selbstbehauptung des Capitán, sondern macht sein partielles passing zur Bedingung: „Zohra amaba cada día más al capitán, pero de extraña manera. Amaba lo que había en él de musulmán evolucionado.“ (Ebd. 173) Die Rollen-Identifikation mit der Maskulinität des moro, die oben als charakteristisch für den afrikanistischen Mann herausgestellt wurde, führt nun ihrerseits zur Angst vor einer Aufweichung der Identität. 3.2.2 Grenzrestauration: Die Entwicklung zum politischen ‚Hardlinerʻ und die Stütze der ‚weißenʻ Jüdin Aus dieser verzwickten Lage versucht sich Santiago schließlich zu befreien, indem er auf gewaltsame Art die Grenze zum Anderen restauriert und zur rigiden spanischen Militärdisziplin zurückkehrt: „El capitán español pensaba y sentía en moro, y si se salvó del peligroso cisma a que le empujaba la simpatía, fué por una disciplina muy arraigada en el deber, que se manifestaba en esos gestos violentos de raza, como una retrasada y poco sentida protesta, que nece-



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sitase ampararse en la soberbia, cuando no hallaba razones que la amparasen. Pero no hubiese podido decir el capitán, y acaso nunca lo supo, si en sus choques con Zohra, quería ahogar al moro que llevaba dentro por celos de rival o era el capitán español lo que le estorbaba.“ (Corrochano 1926: 173-174)

Santiago hat eine gespaltene Persönlichkeit ausgebildet, sein spanisches Ich steht dem marokkanischen nun als eifersüchtiger Rivale gegenüber, der diesem die Liebe Zohras neidet. Und so sind die exotistischen Träumereien zunehmend mit Beklemmungsgefühlen belegt: „En estas angustias infinitas, el capitán cristiano, era siempre vencido por el musulmán que llevaba bajo la gorra verde.“ (Ebd.: 179) Santiago schwankt zwischen dem Wunsch, den inneren Muslim zu ersticken oder diesen von den Belästigungen des inneren spanischen Hauptmanns zu befreien. Schließlich ist es der innere moro, der eliminiert wird, wobei der Hauptmann sich von Zohra distanziert und entliebt. Dem Zauber der Tochter des Scherifen steht er nun mit nüchterner Rationalität gegenüber. Der Text vollführt hier einen kühnen Sprung hinüber in das diskursive Terrain der ethnologischen Wissenschaft, die sich als kulturelle Taktik symbolischer Kontrolle zu erkennen gibt: Die Handlung wird zugunsten des wissenschaftlichen Exkurses eingefroren; die Praktiken magischer Beeinflussung, die die marokkanischen Frauen in der histoire mittels der rituellen Handhabung von Blut, Eiern und Olivenzweigen exerzieren, um den Capitán in ihrem Bann zu halten, werden dank der theoretischen Analyse entmachtet: „[Alarcón:] Para tranquilizarme, [Santiago] me hizo ver que sabía más que ellas, descubriéndome un mundo para mi ignorado.“ (Ebd.: 199) Der viele Seiten lange Exkurs, der eigentlich als eine intradiegetische Belehrung des Leutnants Alarcón aus dem Munde des Capitán begonnen wird, dann aber unmerklich auf eine unmittelbare dokumentarische Textebene überführt wird, bedient sich nun selbst der Wissenschaft als Gegenzauber. Die Macht des Weiblichen und Orientalischen wird hier aus den literarischen Höhen symbolischer Mehrdeutigkeit hinabgeholt und mittels wissenschaftlicher Theorien als Form des primitiven Aberglaubens und der Hysterie offengelegt, erklärt und in Kategorien fixiert: „Lehmann hacía sustentar la teoría de la magia, sobre fenómenos nerviosos de histeria e hipnotismo. La teoría es insuficiente, porque confunde los poseídos y los santos. Al hechicero dañino, se opone el hechicero beneficioso. El mal de un sortilegio, otro sortilegio le cura. [...] De la magia, de la superstición y de la hechicería, derivan las más arraigadas cuestiones tenidas por dogma. El velo de la mujer es una precaución contra el mal de ojo, que se di-



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simuló con el recato y los celos. Cuanto más bella es una cosa, más expuesta está al mal de ojo, y lo más bello y delicado es la mujer. [...] Pero la mirada por sí, no constituye mal de ojo si no hay un deseo. Detrás del ojo está la envidia, y el mal está en la envidia.“ (Ebd.: 200-202)

Hat sich der Text bis hierher selbst ständig der Magie des Blicks und seines ganzen Metaphernapparats bedient, so wird die Hexenkraft des Anderen nun gebrochen: „No se extrañó el capitán de la invocación de la sangre, que hizo Jaduya rasgando un brazo de Zohra, porque conocía su influencia en casa de los primitivos, por Frazer, Durkheim y Crawley26.“ (Ebd.: 205) Die „gestos violentos de raza“, die verbalen Gesten des Hochmuts, der Aggression und Erniedrigung gegenüber dem anderen Geschlecht und der anderen Kultur, werden, wie das Zitat auf S. 181-182 zeigt, auf Ebene der histoire als Strategien des Selbstschutzes einer psychisch destabilisierten Hauptfigur ins Spiel gebracht. Doch inmitten des ethnologischen Diskurses des Hauptmanns lässt der Text den Capitán als krisengeschüttelte Vermittlungsinstanz verschwinden, der Exkurs bekommt den Status unmittelbarer Realitätsreferenz, die Stimme Santiagos ist vorübergehend die Stimme des Autors geworden. Nachdem der Text zum fiktionalen Erzählmodus zurückgekehrt ist, wird die Utopie der penetración pacífica ad acta gelegt und macht der Realität des Kriegs Platz. Im Kapitel „La agresión“ wird Santiago von einer Gruppe Rifberber angegriffen und schwer verwundet. Nach einem Aufenthalt im Feldlazarett wird er schließlich im Fieberwahn zurück nach Spanien überschifft; auf der geisterhaften Überfahrt wird er von monströsen Halluzinationen heimgesucht, und Afrika versinkt hinter ihm in der Irrealität eines mythischen Nebels. Beim nächsten Erwachen liegt Santiago im heimatlichen Bett bei seiner pflegenden Mutter. Das Gespräch mit der Mutter (mit der Überschrift „El espíritu militar“ versehen) bietet nun der Leser/der Leserin reichhaltiges Material, um die Psyche des afrikanistischen Militärs zu analysieren. Der Roman selbst legt eine solche Lesart nahe, da der Dialog im Delirium erfolgt und sich Kindheitserinnerungen mit der gegenwärtigen Identitätskrise zu überlagern beginnen. Die Mutter erlangt hier eine Bedeutung, die der in Theweleits Männerphantasien beschriebenen auffällig gleicht. Demnach wird das militärische Engagement des Sohns als „Minnedienst“ oder „Wiedergutmachung an der Mutterfigur“ lesbar (Theweleit [1977-1978] 1990, Bd. 1: 104): Der frühe Tod des Vaters, selbst verdienter Militär und Teilnehmer am Kolonialkrieg auf Kuba und den Philippinen, führte dazu,

26 Auf die ethnologischen und religionswissenschaftlichen Theorien dieser Wissenschaftler nimmt der Text in seinem Exkurs Bezug.



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dass Santiago noch im Kindesalter dessen Position übernahm. In dieser beschützte er nicht nur die Mutter, sondern verteidigte das Heiligtum der verarmten Familie – die militärischen Orden des Vaters – gegen den Zugriff des Pfandleihers: „[Madre:] –Tú entonces, con un acento que no parecía de niño y un gesto como el que tienes ahora, dijiste: ‚No, estas cruces no se venden. Se vende todo, pero estas cruces no.‘ Yo te abracé llorando.“ (Corrochano 1926: 234) Hier fällt die Entscheidung des Sohns, dass er selbst die militärische Laufbahn einschlagen würde. Die Eliminierung des Vaters ist in der faschistischen „Sohnesliteratur“, die Theweleit analysiert, eine Konstante; trotz dieser Beseitigung gelingt es dem Sohn dort nicht, den Platz des Vaters vollständig zu besetzen: „Ihm wie der Mutter eröffnet sich nur der Weg in die Enthaltsamkeit, ein unter Zwängen und Krämpfen beschrittener Weg bzw. der in den Tod.“ (Theweleit [1977-1978] 1990, Bd. 1: 107) ¡Mektub! entpuppt sich also nun als eine solche Sohnesgeschichte: „Y muera yo, madre, en África, diciendo el nombre de España y pensando en tí.“ (Corrochano 1926: 235) Santiago ficht, ähnlich wie Theweleits „soldatische Männer“, einen qualvollen inneren Kampf aus, in dem die Anheimgabe an Zohra und ihre bedrohliche Erotik mit der militärischen Pflicht und der Liebe zur Mutter in Konflikt tritt. Die Mutter/Vaterlandsliebe wird schließlich als Schutzmechanismus wirksam, der der gefährlichen Beziehung zur fremdkulturellen Frau ein Ende setzt. Noch im Fieberwahn zieht Santiago aus der marokkanischen Leidenschaft – nun ganz explizit auf die metonymische Bedeutungsebene gehoben – eine recht radikale politische Konsequenz: „[Santiago]: Yo la amaba, la amaba. Y ella también me amaba. Pero no nos comprendimos. Nos faltó un hijo. El día que España tenga un hijo con África, se unirán para siempre. ¿Qué más absorción? ‚Jamás ganaréis África, mientras los indígenas sean musulmanes‘, dijo el padre Foucauld. Es verdad, qué error persistente y repetido ese de respetar usos, costumbres y religión. [...] ¿Qué sabemos nosotros del Islam? Que sus mujeres tienen la mirada negra. Nada más. Absorción, absorción, fundir las dos razas en una y raspar la palabra protectorado, que es, como para el enamorado, la timidez. Un hijo. Si yo tengo un hijo no abandono a Zohra, ni España abandona a África. Tengo miedo, madre. Ahora sé lo que es miedo.“ (Ebd.: 236-237, Hervorh. S.F.)

Weder die Frau (auf der Ebene der Geschlechterbeziehung) noch die andere Kultur (auf der ‚außenpolitischen‘ Ebene) dürfen demnach als Fremdes bestehen bleiben. Da dieses in seiner Unkennbarkeit verbleibt, soll es ausgelöscht werden: Es wird die komplette Verschmelzung und Absorption phantasiert, die zunächst in der Idee eines Sohnes, das heißt in der ‚Fusion der Rassen‘ konkretisiert



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wird.27 Da diese jedoch aufgrund der generellen Inkompatibilität, die die Geschichte vor Augen führte, nicht möglich ist, bleibt nur noch die gewaltsame Variante der Absorption übrig. Sie beinhaltet die komplette Assimilierung des Anderen, eine Kolonisierung, die gegenüber Religion und Kultur der Marokkaner keinerlei Toleranz duldet, die Notwendigkeit der Christianisierung Marokkos impliziert und das Modell des Protektorats als schwache Lösung verwirft. Zugleich wird jedoch die Angst als ausschlaggebendes Motiv der politischen Radikalisierung Santiagos entlarvt und schließlich die Szene zu einem seltsamen Ende geführt: Das synekdochische Selbstverständnis und die Übertragungslogik, die die Bedeutungsstruktur des ganzen Romans organisiert, wird als unheilvolle Frage formuliert: „¿Comprendes, madre, mi miedo? ¿Pero yo, quién soy? ¿Soy España?“ (Ebd.: 238) In gewisser Weise schreibt der Text hier, in der Sprache des Fieberwahns, eine krankhafte Besessenheit in das Bedeutungsgerüst der geschlechtlichen Analogien und symbolischen Stellvertreterschaften des kolonialen Diskurses ein. Die Äußerungen der Besessenheit sind nach Michel de Certeau durch „ein ständig abweichendes Verhalten hinsichtlich des Postulats Ich = x“ charakterisiert (Certeau [1975] 1991: 185), durch das Ich spricht ein Anderer. Mit der wahnhaften Zuspitzung der nationalen Stellvertreterschaft gleitet die Entsprechungsstruktur zwischen geschlechtlicher Paarbeziehung und kolonialem Verhältnis (Zohra = Marokko, Santiago = Spanien) ins Unheimliche, und verweist auf das gespenstische Andere dieser Logik des Diskurses (vgl. das obige Zitat: „Si yo tengo un hijo no abandono a Zohra, ni España abandona a África. Tengo miedo, madre. Ahora sé lo que es el miedo.“). Die Fieber-Rede Santiagos lässt auch an die Begegnung mit Zohra in der (anfänglichen, jedoch zeitlich nachgeordneten) Rahmenhandlung zurückdenken, bei der sie bereits dauerhaft dem ‚hysterischen Irrsinn‘ verfallen ist und behauptet: „Teniente Alarcón, yo soy el capitán Santiago. Cuádrese. Cuádrese, que le habla su capitán.“ (Ebd.: 71) Das Zitat des Besessenen ist, nach de Certeau „die Gefahr und die Ungewissheit eines Lapsus. Die vom Diskurs dominierte (besessene) Andersheit behält latent die Macht, ein phantastisches Gespenst, ja sogar ein Besitzender zu sein.“ (Certeau [1975] 1991: 179) Auch hier wird, im irrsinnigen Befehl des Strammstehens, ein (unfreiwilliger?) Verweis auf das unheimliche Andere militärischer Performanzen eingeführt, das in Imán in seinem ganzen verstörenden Potential strategisch entfaltet wird (vgl. Kap. 5.2.3).

27 Neben der Vorstellung einer degenerativen Rassenvermischung war in Spanien auch die Idee einer Vitalisierung durch die Kreuzung verschiedener Rassen verbreitet (vgl. Martín-Márquez 2008: 49, 57), die hier wahrscheinlich Pate stand.



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In den zwei Folgekapiteln, die weiter vom Heimaturlaub erzählen, wird nun auf der politischen Diskursebene die ‚harte Linie‘ ausgebaut und in den Kontext einer generellen Distanzierung und moralischen Verurteilung der Zivilgesellschaft gestellt, die den Mühen des Afrika-Offiziers gleichgültig gegenübersteht – eine charakteristische Entwicklung der afrikanistischen Position während des Marokko-Kriegs.28 Bei einem Spaziergang durch die Madrider Straßen fühlt sich Santiago in seiner verblichenen Uniform nun fremd in der Heimat: „Aquel día advirtió la indiferencia de la calle, que le pareció más peligrosa que la hostilidad rifeña. Cuando llegó a su casa, quiso refugiarse en Marruecos [...]“ (Corrochano 1926: 242). Die Entwicklung zum ‚Hardliner‘ wird begleitet von der Infragestellung des nationalen Repräsentationsanspruchs der Politiker. Eine Parlamentsdebatte wird als lächerliches Redegefecht in Szene gesetzt und die Inkompetenz der Parlamentarier in der ‚Marokko-Frage‘ vorgeführt: „[El jefe del gobierno] apeló reiteradamente al patriotismo de la Cámara, con insistencia terca, amañada y un poco electoral. Fué un manoseo irrespetuoso y sucio, sin cuidarse de que manchaba el noble ideal, con tan torpe uso.“ (Ebd.: 250) Hier wird auch deutlich, dass sich die politische Radikalisierung der Hauptfigur nur schwer von der Position des impliziten Autors trennen lässt, denn der anfänglich intradiegetische discours des mittlerweile vergessenen Alarcón ist unmerklich zu einer Art allwissenden Erzählerrede mutiert. Die These („Es verdad, qué error persistente y repetido ese de respetar usos, costumbres y religión“, vgl. obiges Zitat) gilt nicht nur für die krisengeschüttelte Psyche des spanischen Hauptmanns als bewiesen, sondern beansprucht eine Gültigkeit, die direkt auf die politische Realitätsebene transferiert wird. Das Erfahrungswissen des Afrika-Offiziers wird in der Parlamentsdebatte mit der Unwissenheit der Politiker kontrastiert, die eine Position der Toleranz vertreten, und diese als eitles politisches Geschwätz abgetan: „[El Presidente] se mostró decidido partidario de respetar las costumbres del moro. No conocía más costumbres que el diputado que antes las defendió.“ (ebd.: 249) Da ihn das moralische Ambiente in Madrid zu schwächen beginnt, kehrt Santiago nach Afrika zurück – doch nun unter anderen Vorzeichen. Gegen das kulturelle und geschlechtliche Fremde (Zohra) ist Santiago nun gefeit, wobei er sich noch einen weiteren ‚Stützpunkt‘ einrichtet: Im Kapitel „El punto de apoyo“ werden die Juden Marokkos, ähnlich wie in Giménez Caballeros Notas marruecas de un soldado, nun als Hilfsinstrument der Kolonialisierung entdeckt, wobei

28 Eindrücklich wird dies u.a. bei León (1928: 56) formuliert: „El héroe popular de España, no debe a su pueblo nativo, tan orgulloso de él ahora, más que recuerdos tristes, huellas amargas y crueles de ingratitud y menosprecio, de adversidad y frío desamparo. Peregrino en su patria, forastero en su ciudad, parece un berberisco.“



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die kulturelle Verbundenheit der Sepharden zu ihrer einstmaligen Heimat und ihre selbstlose Treue gegenüber der jetzigen Kolonialmacht herausgestellt werden – trotz der Geschichte ihrer Verfolgung und Vertreibung: „Si hay ya unos hombres que vinieron de España, que hablan español, y que ¡a pesar de aquello!, todavía quieren, al morir, ser enterrados en el cementerio de Castilla, ¿por qué no recogemos su esfuerzo y su experiencia como punto de apoyo? España es la potencia, Marruecos la resistencia, y los judíos son el punto de apoyo, de esta palanca estéril y sin fuerza, porque no sabemos en dónde apoyarla.“ (Ebd.: 262-263)

Die jüdische Kultur bekommt ein weitaus fügsameres Gesicht als die arrogante Zohra verliehen. Die neue Leidenschaft des Santiago sind nun die jüdischen Frauen („Qué correctas de perfiles. Qué tímidas y asustadizas de carácter“, ebd.: 265), insbesondere die sechzehnjährige Tochter seines jüdischen Gastgebers, die nun als Ehefrau in Betracht gezogen wird. Die schüchterne, weißhäutige Jüdin hat hier – und dies ist das entsexualisierte, harmlose Stereotyp der Jüdin, das sich neben einer anderen hochsexualisierten, exotisierten Jüdinnenfigur in der Marokko-Literatur findet – gegenüber der muslimischen Frau den Vorteil, dass sie nicht die abgründige Macht des Anderen besitzt: „Nos atrae de la mujer mora, el misterio de lo que no vemos, el encanto de unos ojos destacados por el contraste del haique. Fantasma blanco con mirada negra. A semejanza de lo que ocurre con nuestras europeas, no siempre detrás del antifaz, está la cara que nos prometieron los ojos o forjó nuestro deseo, que todo hombre lleva en su anhelo, un retrato de mujer. Su fingido recato –a veces desmentido por unos ojos de lascivia– lo desconocido, la sorpresa envuelta en lienzos y lienzos, historia de harenes, todo nos atrae y nos hechiza y nos enamora de un amor imposible y fantástico. Nada se parece tanto a una quimera de fiebre, como el caminar por una callejuela estrecha, torcida, obscura y solitaria, detrás de un bulto blanco con ojos de mujer. Y pasan a nuestro lado las hebreas, de perfiles correctos, de belleza descubierta, positiva, comprobada y no se llevan el consuelo de una mirada en sus rostros pálidos, quizá tan pálidos, porque alguna sea ya un cadáver sobre la casa.“ (Ebd.: 265-266, Hervorh. S.F.)

Im Anschluss an die Motivik der „Tropologie des Schleiers“ (vgl. oben) wird nun die exotistisch-erotische Phantasiewelt verworfen. Der Schleier steht (hier in Analogie zur ‚Maske‘ der europäischen Frau) nicht nur der Sichtbarkeit und Kontrolle des Anderen im Wege, er impliziert den Verdacht, dass seine ‚Lüftung‘ notwendig den Betrug und die Falschheit dessen zu Tage bringen würde, was er zu verbergen verspricht. Die Jüdin nun stellt für Santiago eine Lösung



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und einen Halt dar, denn sie ist weder verschleiert, noch ist sie in ihrer ‚mittelalterlichen Enklave‘ im Kontakt mit der ‚unmoralischen‘ modernen Welt. Sie erscheint hier in der Gestalt einer Gemarterten, die, so möchte man in Hinblick auf das obige Zitat anfügen, bereits als Leichnam gelten kann. Die Jüdin scheint hier ganz die Rolle der Figur zu übernehmen, die Theweleit als die „weiße Schwester“ bezeichnet29 und in der sich die Mutterbeziehung wiederholt: „sie ist der Inbegriff der Vermeidung aller erotisch/bedrohlichen Weiblichkeit“ (Theweleit [1977-1978] 1990, Bd. 1: 131). Doch, wie Theweleit herausstellt, genügt es in der faschistisch-militaristischen Sohnesliteratur nicht, die Frau „in einen asexuell/pflegenden und einen erotisch/bedrohlichen Teil zu spalten“ (ebd.: 188): „Der bedrohliche Teil muss außerdem vernichtet werden. Und auch der ‚gute‘ Teil bleibt nicht ungeschoren: Die ‚gute‘ Frau wird entlebendigt, wie leblos gemacht; die ‚böse‘ Frau wird geschlagen oder getötet. Der ‚Notwehraffekt‘, in dem das geschieht, scheint zusammengesetzt aus Angst und Lust.“ (Ebd., Hervorh. im Original)

Eine eben solche Strafe, die offensichtlich mit erotisch-sadistischen Konnotationen behaftet ist, muss nun auch Zohra erleiden: Sie taucht als geschundene ‚Hure‘ im Prostituiertenviertel von Casablanca („la carcel de impureza“, Corrochano 1926: 269) wieder auf und wird beim Bauchtanz von einem tätowierten Schwarzen ausgepeitscht. Der Tanz endet in einer hysterischen Attacke: „Quedó en el suelo, retorciéndose, convulsa, enfurecida, como si la danza culminase en una exacerbación patológica.“ (Ebd.: 271) Zohra ist hier bereits eine Aussätzige und Wahnsinnige, man hat sie, wie wenig später bekannt wird, nackt und von Hunden verfolgt, aus der Gemeinschaft gejagt. 3.2.3 Dammbruch und Entmännlichung: Das koloniale Desaster als Dolchstoß der Frau Doch Zohra wird nicht getötet – wie der Leser/die Leserin weiß, ist es vielmehr so, dass sie dem männlichen Helden den Todesstoß versetzt. Diese letzte Szene der Binnengeschichte fällt mit der Erzählung von Ereignissen zusammen, die sich als das Desaster von Annual zu erkennen geben, genauer gesagt, mit dem ‚Verrat‘ der Regulares und Tropas Indígenas: „En aquel momento, los centinelas rompían las alambradas, para dejar libre el paso al enemigo. Los restantes venían tumultuosamente hacia nosotros.“ (Corrochano 1926: 277) Im selben Moment,

29 Als Schwesterfigur wird die Jüdin auch deshalb lesbar, da im Text die spanische ‚Kindheit‘ der Sepharden betont wird (Corrochano 1926: 260).



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da die vermeintlichen moros amigos den spanischen Truppen in den Rücken fallen, der Militärposten der Belagerung durch die feindlichen harkas nachgibt und diese in die Stellung eindringen, erdolcht Zohra den Capitán. Obwohl der Triumph Zohras sogleich in die Selbsterniedrigung und Selbstbestrafung mündet, verweist ihr Dolchstoß doch auf die Gefahr der phallischen Ermächtigung der ‚bösen‘ Frau. Diese Art symbolische Entmännlichung gibt somit der kolonialen Katastrophe von 1921 eine geschlechtliche Sinnstruktur, die auf die Veränderungen der Geschlechterbeziehungen in der Heimatgesellschaft zurückverweist: Auch hier fühlt sich der afrikanistische Mann verraten und entmachtet. Wie bekannt ist, eignet sich Zohra mit der Militärmütze die Sterne des ermordeten Capitán, seine militärischen Würdezeichen, an und damit auch die Orden, die dieser einstmals im Namen des Vaters für die Mutter verteidigte. Damit entweiht sie das traditionelle symbolische Gesetz des Mannes und seine koloniale Geschichte in Form der Travestie und macht jede Möglichkeit einer Genugtuung für den Ehrverlust – und damit auch für das Desaster – zunichte. „Lo demás ya lo sabes,“ so kehrt die Geschichte zum Gespräch zwischen Alarcón und Sandoval und damit zur Rahmenhandlung zurück: „Un ejército que huye como un niño asustado, por no pararse un minuto a mirar que nadie les sigue.“ (Ebd.: 283-284) Der Roman endet mit dem Erscheinen der wahnsinnigen Zohra im Lager und der schicksalhaften Wiederholung der Anheimgabe des spanischen Militärs an die ‚kastrierende‘ Macht Marokkos/der ‚orientalischen‘ Frau. ¡Mektub! kann, so wurde zu Beginn des Kapitels festgestellt, als Konflikterzählung gelesen werden, denn ein weiteres Mal zeigt sich hier eine profunde Ambivalenz zwischen der ‚Analyse‘ der problematischen Psyche des afrikanistischen Mannes, der Ausstellung seiner Identitätskrise einerseits, und andererseits der Identifikation des impliziten Lesers und impliziten Autors mit der politischen Radikalisierung, die der Protagonist zur Bewältigung seiner Auflösungsängste in der histoire durchläuft. ¡Mektub! vollzieht eine Schließung des Sinns auf der politischen Argumentationsebene in Form der monologischen Sinnkonstruktion des Thesenromans: Eine Forderung absoluter Intoleranz gegenüber der nicht zu vereinnahmenden Differenz des geschlechtlichen und kulturellen Anderen drängt sich als logisches Fazit in Analogie zum ‚Lernprozess‘ der Hauptfigur auf. Bei genauer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass der Grenzgänger Santiago selbst den Zerstörungsprozess einleitet, als dessen Opfer er sich sieht: Der vermeintliche Lernprozess ist de facto eine Art selbsterfüllende Prophezeiung, eingeflüstert von der Stimme der Angst vor der Irreduzibilität des Anderen: Die ‚Katastrophe‘ muss sich ereignen, nicht weil es so vom Schicksal geschrieben wurde („¡Mektub!“), sondern weil der afrikanistische Mann das heraufbeschwor, was zum logischen Beweis für die Notwendigkeit seiner Radikalität wird. In



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¡Mektub! zeigt sich dabei auch ein weiteres Mal, was mit der exotistischeskapistischen Erzähltradition geschieht in einer Literatur, die zugleich eine unmittelbare (politische) Referenz auf die Kriegsrealität vollführt: Ein dialogisches Element bleibt erhalten und die Argumentation ist nicht zuletzt auch deshalb zutiefst gespalten, als über den längsten Teil eine exotistisch-orientalistische Textwelt als Sehnsuchtsraum entworfen wird, hinter dem sich die reale politische Option des Friedens verbirgt. Und die utopische Verlockung kulturellen Grenzgängertums, die hier so breiten Raum bekommt, lässt sich durch die politische Forderung der Auslöschung der Macht des Anderen am Ende selbst nicht ganz entmachten.

3.3 J OSÉ D ÍAZ F ERNÁNDEZ ʼ E L BLOCAO (1928): S EXUELLE F RUSTRATION UND T RIEBEINBRÜCHE IM MILITÄRISCHEN AUSSENPOSTEN José Díaz Fernández’ El blocao gehört zu den wenigen Erzähltexten über den Marokko-Krieg, der ein größeres literaturwissenschaftliches Interesse auf sich gezogen hat, auch wenn er nach wie vor nicht als Teil eines Kanons allgemein bekannter spanischer Literatur gelten kann.30 Zu seinem Erscheinen 1928 bereits ein Erfolg und während der Franco-Diktatur zur Vergessenheit verdammt, wurde der Text gegen Ende des Franquismus von einzelnen Philologen wiederentdeckt und eingehend von Víctor Fuentes (1969, 1976, 1980), José Manuel López de Abiada (1980) und Laurent Boetsch (1985) analysiert. Der Grund für diese Aufmerksamkeit ist wohl zum einen die literarische Qualität von El blocao, zum anderen jedoch, ähnlich wie bei Giménez Caballero, die intensive Teilnahme des Autors an den politisch-intellektuellen und literaturprogrammatischen Diskursen seiner Zeit. Die bisherigen Analysen stellen entsprechend die literaturhistorische Bedeutung des Romans als Übergangstext von der Avantgarde zum Sozialroman der 1930er Jahre in den Vordergrund und konzentrieren sich auf das Thema der Entwicklung von der literatura pura zur literatura comprometida. Als zentraler Referenzpunkt der Analyse dient dabei das ästhetische Programm, dass Díaz Fernández in seiner künstlerischen, literarischen und politischen Polemik El nuevo Romanticismo ([1930] 1985) als Antwort auf José Ortega y Gassets einflussreiche Essays La deshumanización del arte o Ideas sobre la novela (1925) ent-

30 Nach Ansicht von Schneider (1994: 406) ist El blocao auch noch in den 90er Jahren „essentially unknown“.



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worfen hat.31 Hier plädiert er für eine „Rehumanisierung“ der Kunst und Literatur, kritisiert die rein ästhetizistische und elitäre Haltung des Modernismus und der Avantgarde als reaktionär und fordert eine neue „literatura de avanzada“, die die künstlerischen Innovationen der Avantgarde mit politischen und sozialen Inhalten verbindet – ein Programm, das in El blocao eine beispielhafte Umsetzung findet. Dementsprechend spricht Boetsch El blocao die Rolle eines Vorreiters zu, der den Umschwung von der „despreocupación alegre“ der Literatur der 1920er Jahre zur politisch engagierten Literatur der Vorbürgerkriegszeit vollzieht (Boetsch 1985: 96): „Lo primero que distingue a esta obra de la gran mayoría de las novelas que se publican durante la misma época, es la atención que Díaz Fernández presta a temas que se destacan por su actualidad [...]“ (ebd.: 57). Diese Feststellung kann sicherlich nur getroffen werden, wenn man sich, wie bereits im literaturhistorischen Überblick problematisiert wurde, auf die ‚Hochliteratur‘ konzentriert, denn in den 1920er Jahren werden, wie diese Arbeit zeigt, große Mengen an Erzählungen über den Marokko-Krieg als politisch hochaktuelles und problematisches Thema publiziert. In Anbetracht der (nicht besonders fröhlich-unbeschwerten) dokumentarischen Erzählliteratur, die die Guerra de Marruecos bereits in den frühen 1920er Jahren hervorgebracht hat, erscheint El blocao nicht so sehr als isolierter Wegbereiter, der den Umschwung zur literatura comprometida vollzieht. Als solcher kann der Text jedoch gelten in Anbetracht seines literaturprogrammatischen Anspruchs und seiner ästhetischen Konsequenz, die ihn von den bisher vorgestellten Konflikterzählungen mit ihren Diskursbrüchen und erzählerischen Sackgassen unterscheidet: Hier werden poetische, avantgardistische Stilmittel strategisch zur Verdichtung des politisch-sozialen Bedeutungsgehalts eingesetzt. El blocao soll im Folgenden vor dem Hintergrund der anderen Kriegserzählungen im textuellen Terrain der ‚Marokko-Frage‘ weniger einer ästhetikgeschichtlichen, als einer kulturwissenschaftlichen Relektüre unterzogen werden, wobei im Zentrum die Wiederkehr und das partielle Umschreiben der Topoi der Vergeschlechtlichung der kolonialen Erzählliteratur stehen. Auch hier stellt sich die ‚koloniale Frage‘ in Form geschlechtlicher Dominanzbeziehungen und vergeblicher Versuche der Aneignung der mora, die in ihrer Unberechenbarkeit und Undurchschaubarkeit dem Afrika-Soldaten gefährlich wird: Tatsächlich findet sich in einem der Kapitel mit dem vielsagenden Titel „Africa a sus pies“ die

31 Das Etikett Nuevo Romanticismo ist hier, wie Boetsch (1985: 52) zu Recht bemerkt, irreleitend, denn Díaz Fernández’ Literatur(konzept) hat, wie sich an El blocao zeigt, mit dem der Romantik wenig gemeinsam.



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Plot- und Symbolstruktur von ¡Mektub! in auffälliger Ähnlichkeit wieder. Doch kommt die bekannte Motivik in El blocao im Ganzen unter anderen Vorzeichen zum Einsatz: Die konfliktreiche Ökonomie von Angst und Begehren, die mit der Figur der mora verknüpft ist, ihre Erschütterungs- und Kränkungsmacht wird in El blocao überwiegend im Kontext der Dekonstruktion des afrikanistischen Militarismus und der selbstironischen Thematisierung des männlichen Narzissmus bedeutsam. Auch hier gilt es also, die Wiederkehr stereotyper Bilder in der narrativen Gesamtbedeutung der Erzählung zu verstehen und so die Aussagekraft des kolonialen Gendering im Grad der Abweichung gegenüber anderen Kriegstexten zu erfassen. Die sexuelle Frustration und die geschlechtlich kodierte vergüenza, sowie ihre brutalen Folgen, werden in El blocao als grundlegende Erfahrung des ‚desaströsen‘ Kolonialismus in manchmal grotesker Weise ausgestellt und entromantisiert. Die Verbarrikadierung und der erzwungene Triebverzicht – in ¡Mektub! notwendige Strategien des männlichen Selbstschutzes – führen in Díaz Fernández‫ ތ‬Roman schließlich zu einer unkontrollierten, schockierenden Wiederkehr des ‚Anderen der Kultur‘ inmitten der Soldatengesellschaft: Die Entmenschlichung, der tierische Triebeinbruch und das Regressive treten in El blocao, wie sich im letzten Kapitel zeigt, nicht mehr als Teil der kulturellen Fremddarstellung oder der Konstruktion des Geschlechts-Anderen in Erscheinung, sondern als Merkmale der eigenen kolonialen und militärischen Kultur. Sie sind die fatalen Folgen der grundlegenden Unmöglichkeit der Vereinnahmung des Anderen und der verhinderten Wunscherfüllung, mit der der spanische Afrika-Soldat hier ständig zu kämpfen hat. José Díaz Fernández wurde im Alter von 23 Jahren im Anschluss an das Desaster von Annual zum Dienst in Marokko eingezogen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits ein Jurastudium in Oviedo begonnen und arbeitete als Berichterstatter für El Noreste, die republikanische Lokalzeitung seiner Heimatstadt Gijón. Dank der zahlreichen Kriegschroniken, die Díaz Fernández als Korrespondent für den El Noreste zwischen September 1921 und August 1922 verfasste, ist sein Marokko-Aufenthalt gut dokumentiert:32 Als soldado de cuota war er zunächst kurz in Ceuta und Tetuan stationiert, und wurde dann nach einem Krankenhausaufenthalt in verschiedene isolierte Militärposten in den aufständischen Gebieten des Rif entsandt (vgl. Díaz Fernández 2004; Gónzalez 2004: 11). Seine damalige Berichterstattung ist in erster Linie geprägt durch die Konventionen der Crónica de Guerra, durchsetzt mit allen erdenklichen Gemeinplätzen der orientalisti-

32 Eine Auswahl der Chroniken wurde 2004 von José Ramón González zusammengestellt und vom Ateneo de Obrero de Gijón, dem Díaz Fernández bereits 1921 angehörte, in Buchform publiziert (Díaz Fernández 2004).



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schen Erzähltradition; deutlich lässt sich hier allerdings bereits die kriegskritische Position und der teilweise ironisch-bittere Unterton herauslesen, mit dem Díaz Fernández die Sinnlosigkeit des ganzen Marokko-Unterfangens herausstellt. Als Beispiel sei die folgende Reflexion über die Entwicklung der marokkanischen Flöhe zitiert, die die koloniale Regenerations- und Fortschrittsrhetorik ins Lächerliche zieht: „Desde luego las pulgas de Marruecos pertenecen a una raza próvida que se regenera cada día. Cuando comenzó nuestro Protectorado la pulga tenía el tamaño medio de las pulgas de Europa y contaba para su propagación de medios muy primitivos, tales como el asno de un moro del campo o el pecho de un mendigo del interior. Ahora, por regla general, la pulga es grande, roja, potente y camina en camión y hasta en aeroplano. He aquí la prueba de que la raza progresa y se propaga con rapidez.“ (Díaz Fernández [1.2.1922] 2004: 78)

In den Chroniken finden sich immer wieder unkritische Reproduktionen der Stereotype der Vergeschlechtlichung der spanisch-marokkanischen Begegnung; in zwei späten Chroniken, die sich der „mujer mora“ widmen (Díaz Fernández [1922] 2004: 242-249), wird die koloniale Geschlechterthematik jedoch auf einer expliziten politischen Ebene strategisch umfunktioniert: Die Kritik an der Unterdrückung der marokkanischen Frau – jener Topos, der die Kolonisierung als ihre gerechte Befreiung legitimiert – dient hier dazu, die repressiven Geschlechterverhältnisse in Anlehnung an den Diskurs der sozialen Emanzipation im eigenen Land zu kritisieren: „No hay duda de que la mujer mora arrastra en Marruecos una vida de esclavitud. Pero yo pregunto: ¿Es que en Europa, en España, no padece esa misma esclavitud? He aquí el punto principal de discusión. En el orden espiritual, que es como decir en el orden social, la mujer española sufre la misma tiranía que la marroquí, con la única diferencia de que la rodeamos de una galantería hipócrita que es como la máscara de nuestro egoísmo. La mujer española, como la mora, sufre el peso del fanatismo religioso, del trabajo brutal, de la falta de derechos civiles, de su educación rudimentaria, de su cobardía y sus supersticiones.“ (Ebd.: 243)

Durch die Erlebnisse in Marokko in seiner monarchiekritischen Position bestätigt, ließ Díaz Fernández nach seiner Rückkehr seinen Protest gegen die Monarchie und die Diktatur Primo de Riveras in verschiedenen Zeitungen und durch die Teilnahme an studentischen Demonstrationen verlauten (Boetsch 1985: 15). In Madrid begann er sich in literarischen Zirkeln zu engagieren und wurde, begleitet von ständigen Schwierigkeiten mit der Zensur, auch als Verleger der so-



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zialrevolutionären Literatur-Zeitschrift Posguerra tätig, die sich als Artikulationsmedium einer literarischen Gegenbewegung zur Generación del 27 verstand. Díaz Fernández und die anderen beteiligten Intellektuellen orientierten sich dabei an Henri Barbusse (Fuentes 1980: 52-53), dessen Schreiben wesentlich von der Nachkriegsperspektive und der politischen Position des Pazifismus bestimmt war. Hier wird der Einfluss der Literatur des Ersten Weltkriegs offensichtlich, die für viele Marokko-Kriegserzählungen als ein Modell und eine zentrale Inspirationsquelle gelten kann (vgl. Kap. 1.2.1). 1928 erschien unter dem Titelzusatz Novela de la Guerra Marroquí in einem der kleinen linksgerichteten Verlage, die Ende der 1920er Jahre entstanden, in geringer Auflagenzahl El blocao, das von der Kritik gut aufgenommen und im selben Jahr ein weiteres Mal herausgegeben wurde. Ein Jahr später publizierte Díaz Fernández seinen zweiten Roman La Venus mecánica, der nun die Geschlechterverhältnisse in der Heimat und ihre sexuellen und sozialen Ausbeutungsmechanismen thematisierte. Nach der oben erwähnten literaturästhetischen Polemik El Nuevo Romanticismo (1930) veröffentlichte Díaz Fernández gemeinsam mit Joaquín Arderius die politische Biographie Vida de Fermín Galán (1931), eine ihrerseits stark durch die Marokko-Kriegserfahrung geprägte Lebensgeschichte (vgl. Kap. 4.2.1). 1935 erschien sein letztes Buch, Octubre rojo en Asturias, ein Stück Zeugnisliteratur über die Bergarbeiterrevolution in Asturien im Oktober 1934, zu deren Niederschlagung wiederum Truppen des AfrikaHeers zum Einsatz kamen. Während der zweiten Republik und des Bürgerkriegs bekleidete Díaz Fernández verschiedene politische Ämter für die republikanische Regierung. Er starb schließlich 1941 unter den niederdrückenden Umständen des republikanischen Exodus im französischen Exil. El blocao wird zwar im Titelzusatz von Díaz Fernández als novela kategorisiert, der Text weist jedoch in vielerlei Hinsicht keine typische Romanstruktur auf.33 Hier zeigt sich in struktureller Dimension nicht allein die Anlehnung an die Avantgarde (Fuentes 1976: 17; Boetsch 1985: 61), sondern auch eine deutliche Verwandtschaft mit vielen anderen Marokko-Kriegserzählungen und der Literatur des Ersten Weltkriegs. Der Erzählung kommt als ganzer zwar ein fiktionaler Status zu, die Perspektivenstruktur lehnt sich jedoch an typische faktuale Textsorten des Kriegs an: In El blocao wird ein fiktiver Erzähler (Carlos Arnedo) etabliert, der sich namentlich vom Autor unterscheidet, seine Stimme gleicht jedoch in vielen Kapiteln der des Chronisten, der typischen Autorfigur im Krieg. Diese Art von homodiegetischer Beobachter erzählt sich selbst ‚mit‘ – als erle-

33 Zu der Frage, ob der Text als Roman klassifiziert werden kann, vgl. Fuentes 1976: 17; López de Abadiada 1980: 75; Boetsch 1985: 60.



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bende und reflektierende Person und als Teil einer Gruppe, die sich durch das Kriegserlebnis als Erfahrungsgemeinschaft konstituiert. Indem das Vorwort auf die Kriegserfahrung des Verfassers verweist, wird auch hier eine partielle Identifikation von Autor und Erzähler suggeriert. Charakteristisch für die Kriegschronik und das Soldaten-Tagebuch ist zudem die episodische Plotstruktur: El blocao besteht aus sieben Kapiteln, die kleine, in sich abgeschlossene Erzähleinheiten darstellen und in erster Linie durch das erzählende und erlebende Ich und eine dichte atmosphärische Klammer verbunden sind (Boetsch 1985: 61). Sie bedürfen keines übergeordneten Plots, da dieser sozusagen durch den historischen Ereignisablauf des Kriegs gegeben ist, auf den die Literatur als Teil eines großen textuellen Ereignisses referiert.34 Wie López de Abadiada in minutiösen Vergleichen gezeigt hat, sind manche Episoden in El blocao fiktionalisierte Varianten der kleinen faktualen Geschichten, die Díaz Fernández in seinen Zeitungschroniken erzählt (López de Abadiada 1980: 95114). Daneben umkreisen, ‚circumscribieren‘ die einzelnen Episoden jedoch auch den gleichen thematischen Schwerpunkt und führen diesen gewissermaßen in Variationen der Steigerung aus: den der geschlechtlichen Implikationen des ‚Desaströsen‘ des Kolonialkriegs, die im Zentrum der folgenden Analyse stehen. 3.3.1 Die Blockade und die schmerzende Wunde sexueller Niederlagen Mit der Raum-Zeit des blocao wird in Díaz Fernández’ Marokko-Erzählung zu Beginn die eigentümliche bedrückende Grundstimmung etabliert, die für alle weiteren Kapitel prägend sein wird (Boetsch 1985: 63). Die klaustrophobische Figur des isolierten militärischen Vorpostens, in dem sich eine Gruppe von Soldaten auf kleinstem Raum in einer feindlichen Umgebung zusammengepfercht sieht, bekommt hier ein bedeutendes symbolisches Gewicht: Der blocao ist, wie im letzten Hauptkapitel dieser Arbeit gezeigt wird, ein Ort, an dem sich die überlieferten kolonialen Raum- und Zeitvorstellungen zersetzen. Daneben wird diese Raumfigur schon im ersten Kapitel („El blocao“) als ein Symbol der geschlechtlichen Frustration und sexuellen Wunschversagung lesbar: Eingezäunt hinter den

34 Vgl. Díaz Fernández im Vorwort zu der zweiten Ausgabe des ‚Romans‘: „Yo quise hacer una novela sin otra unidad que la atmósfera que sostiene a los episodios. El argumento clásico está sustituido por la dramática trayectoria de la guerra, así como el personaje, por su misma impersonalidad, quiere ser el soldado español, llámese Villabona o Carlos Arnedo.“ (Dìaz Fernández in „Nota para la segunda edición“, zit. nach López de Abadiada 1980: 76).



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selbsterrichteten Mauern und Stacheldrähten regiert hier unter den Männern nur ein einziger Gedanke: das brennende Verlangen nach einer Frau, genährt von Erinnerungen aus den kurzen sexuellen Biographien, die die soldaditos bis zu diesem Zeitpunkt durchlaufen haben – vor ihrem Eintritt in den Raum der Beziehungslosigkeit und Abschottung im Frontland.35 Die Triebenergie beginnt sich hier, im blocao, aufzustauen und wird sich am Ende des Romans auf schreckliche und brutale Weise entladen – die ‚Aufstauung‘ des Triebs dient gewissermaßen zur Spannung des Erzählbogens. Derartige energie-ökonomische Vorstellungen von Sexualität, die immer wieder in El blocao in Spiel gebracht werden, deuten auf Einflüsse Freud‫ތ‬scher Theorien hin, die in den spanischen Avantgarden der 1920er Jahre stark rezipiert wurden. Die Substruktur frustrierter Liebe, die immer wieder als ‚verdrängte‘ Leidenserfahrung das Kriegserleben in der Literatur begleitet, wird in El blocao weitgehend ihrer romantischen Sublimierungen entkleidet und auf die Erfüllungsversagung der nackten Begierde reduziert. So wird hier zwar auch zu Beginn der orientalistische Topos des heimlichen Blicks etabliert und leitmotivisch fortgeführt, dabei jedoch zugleich mit Peinlichkeitsgefühlen belegt und als sexueller Voyeurismus demaskiert: Beschämt von den obszönen Soldatendialogen, ist der Erzähler anfangs ständig damit beschäftigt, mit einem Feldstecher die öde Umgebung nach weiblichen Formen auszuspähen. Das sexuelle Begehren treibt so im blocao wie ein Parasit unter der fadenscheinigen Oberfläche der militärischen Ordnungsstruktur sein Unwesen und führt auch hier zu einer Art Aufspaltung des erzählenden Ichs – in eine Instanz, die die Disziplin und Kontrolle aufrecht zu erhalten versucht, und ein gefräßiges Triebwesen, das zunehmend seine Macht entfaltet: „Este hombre voraz que va conmigo, este que conspira contra mi seriedad y me denuncia inopinadamente cuando una mujer pasa por mi lado, era el que paseaba su carne inútil alrededor del blocao. [...] Mi huésped subconsciente colocaba a todas horas delante de mis ojos su retablo de delicias, su sensual fantasmagoría, su implacable obsesión.“ (Díaz Fernández [1928] 2007: 10)

Hier scheint das Freud’sche Strukturmodell der psychischen Instanzen des Ich durch, das dieser in Das Ich und das Es (1923) entwickelte. Die innere Zerrissenheit des Erzählers kann, anders als die des idealisierten Helden Santiago in ¡Mektub!, in El blocao nicht ‚politisch‘ bezwungen werden. Arnedos’ psychi-

35 Woraus sich diese Phantasien speisen, wird in Form einer zeitlichen Rückschau im Kapitel „Magdalena Roja“ ausgebreitet (vgl. unten).



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sche Ambivalenz ist beständig und unlösbar, das Triebhafte lässt sich weder zu Beginn noch am Ende erfolgreich exteriorisieren und in Form der Bekämpfung des kulturell oder geschlechtlich Fremden klar vom Eigenen abspalten. So findet hier kein ideologischer Lernprozess statt, bei dem es Arnedo gelingt, seine IchGrenzen zu stählen – im Gegenteil: Der Zustand des inneren Paradoxes setzt sich am Ende durch; er führt zu einer fortschreitenden Erstarrung, einer Art depressiven Regression, aus der sich der Protagonist – anders als Santiago in ¡Mektub! – nicht befreien kann. Statt mit der Verhärtung der politischen Überzeugung geht er mit der resignierten Verabschiedung politischer Prinzipien einher. So weist El blocao einen grundlegend ideologiekritischen und pazifistischen Charakter auf: „No hay acciones heroicas, no hay actos de idealismo, no se manifiesta el menor sentido patriótico.“ (Boetsch 1985: 64) Wesentlich für die kritische Umschreibung der Kriegserzählung ist dabei der zeitliche Abstand zum Erzählten, der die Perspektivenstruktur des Textes bestimmt: Das Erzählte wird von einem rückschauenden, desillusionierten Ich kommentiert, das seinen früheren Glauben an heroische und politische Ideale ad acta gelegt hat. Somit wird in El blocao der selbstironische Blick produziert, der immer wieder auf die eigene innere Linie des Bruchs, der Inkongruenz zurückverweist, die sich dauerhaft der illusionären Vereinnahmung entzieht und die, wie beschrieben, charakteristisch für die – hier deutlich geschlechtlich codierte – vergüenza ist. Die Handlung des ersten Kapitels, das vor allem die zermürbende Ereignislosigkeit des Daseins im militärischen Vorposten erzählt, setzt sich schließlich durch den Besuch eines marokkanischen Mädchens in Gang, das ein paar ärmliche Nahrungsmittel an die Soldaten verkauft und sogleich eine ‚wilde Zusammenrottung‘ von Militärs hinter dem Stacheldrahtzaun hervorruft. Dem Erzähler kommt dabei als Unteroffizier auch gegenüber dem triebgesteuerten Soldatenmob eine Kontrollfunktion zu, die er in Bezug auf sein eigenes ‚Instinktwesen‘ kaum aufrecht erhalten kann: Er versucht, die erregten Soldaten zurückzudrängen, wird aber selbst vom Reiz einer leichten Berührung mit der Hand des Mädchens überflutet. Als die mora nachts zurückkehrt, gibt Arnedo seinem Begehren nach: Er gewährt dem Mädchen Einlass und wird nun, ganz ähnlich wie Santiago in ¡Mektub!, zum Opfer des Verrats der einheimischen Frau: Auch hier bedeutet deren Eintritt in das Lager eine Art Dammbruch, der mit dem Angriff und Eindringen der feindlichen harka einhergeht und mehrere Tote zur Folge hat. Nach der Abwehr der Angreifer fordern die Soldaten nun die Hinrichtung der mora, die im Lager gefangen gehalten wird. Das Bedürfnis nach einer brutalen Bestrafung der ‚verräterischen‘ Frau, das sich immer wieder in der MarokkoKriegsliteratur zeigt, wird dabei in El blocao als Aggressionsreaktion der frustrierten Soldatenmeute ausgestellt. Arnedo vertritt hier ein weiteres Mal den Pol



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der Vernunft, entgegen seinem wütenden Bedürfnis nach Rache: „Vino [la mora] maniatada y me miró con aire indiferente. Tuve un acceso de rabia y la insulté, la maldije, quise tirarle a la cabeza un paquete de periódicos.“ (Díaz Fernández [1928] 2007: 15) Stattdessen lässt Arnedo das Mädchen laufen und legt sich, durch das Gefecht verletzt, ins Feldbett – das Kapitel endet mit den Worten: „Entonces yo me tumbé sobre el camastro. Me dolía mucho mi herida.“ (Ebd.: 16) Die offene Wunde wird hier als Verletzung der sexuellen Wunschversagung, der symbolischen Entmännlichung lesbar. Im dritten Kapitel „Cita en la huerta“ wird erneut in diese Wunde geschlagen. Hier wird das Unternehmen der sexuellen Eroberung der einheimischen Frau nun planvoll angegangen. Das Kapitel spielt in Tetuan, dem in der Kriegsliteratur immer wieder die Rolle der ‚Stadt der Liebe‘ zukommt (vgl. López García 1994: 34). Dies erklärt sich nicht zuletzt aus der profanen Tatsache, dass die spanischen Militärs hier ihre dienstfreien Tage verbrachten, wobei sich die amourösen Abenteuer wohl hauptsächlich auf Besuche der zahlreichen Bordelle beschränkten, die sich in den Kriegszeiten in Tetuan etablierten.36 Dieser nüchternen Realität zum Trotz, wird die Stadt im Zusammenhang mit dem Liebesmotiv immer wieder zur mysteriösen exotistischen Enklave stilisiert, die sich besonders gut eignet, um die „Tropologie des Schleiers“ literarisch durchzuexerzieren (vgl. Kap. 3.2.1). In El blocao wird das Tetuan-Setting zunächst mit einer Geste der Entromantisierung eingerichtet und die übliche exotistische Überhöhung der Stadt ironisiert: „De igual manera que [yo] carecía de sentido político no poseía la menor capacidad estética. La belleza de Tetuán no me impresionaba. Me parecía un pueblo sucio, maloliente, tenebroso aun en los días de sol.“ (Díaz Fernández [1928] 2007: 24) Auch Díaz Fernández bedient sich hier der Motivik des Schleiers, um die Unzugänglichkeit des kulturellen/geschlechtlichen Anderen zu illustrieren, und zieht einen Vergleich zwischen der sittsamen

36 Vieles spricht dafür, dass sich die ‚Liebe‘ zur einheimischen Frau während des Kriegs in erster Linie auf erkaufte oder gewaltsam erzwungene Sexualkontakte beschränkte. Bordellbesuche (meist in Tetuan) werden in der Kriegsliteratur immer wieder erzählt, z.B. in Barea [1943] 2000: 293-299; Galán [1926/1931] 2008: 37-42; Vidal 1932: 160-164; Giménez Caballero [1923] 1983: 137-139; Santa Marina [1924] 1939: 107110. Daneben erzählen viele Texte von den meist spanischen Prostituierten, die sich bei den Militärlagern installierten, wie z.B. Micó España 1922a: 65-69; Sender [1930] 2008: 293-297 u.a. Vielsagend ist die zusammenfassende Feststellung Bareas in La ruta: „Durante los primeros veinticinco años de este siglo Marruecos no fue más que un campo de batalla, un burdel y una taberna inmensos.“ (Barea [1943] 2000: 288)



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Verschlossenheit der jüdischen und der abwehrenden Arroganz der marokkanischen Frau: „Las hebreas bajaban los ojos con cierta frialdad de raza; me parecía estar mirando una ventana cuyos visillos corre de pronto una mano inadvertida. Las moras, no. Las moras reciben con desdén la mirada del europeo y la sepultan en sí mismas como los pararrayos hunden en tierra la electricidad. Quien las mira pierde toda la esperanza de acercarse a ellas; van seguras y altivas por entre los hombres de otra raza, como los israelitas sobre las aguas dictadas por Dios.“ (Ebd.: 26)

Anders als in der exotistischen Literatur bereitet die Symbolik der Verdeckung hier jedoch nicht die Geschichte einer aufregenden Ent-Deckung vor, sondern eine weitere, niederschmetternde Demütigung. Zunächst ‚staut‘ sich hier mit der ‚Triebenergie‘ auch der Missmut: „Me volví malhumorado y colérico. Dos o tres veces engañé mi afán con mujeres del zoco que ejercían su oficio como las europeas; pero, al fin, mi deseo se veía burlado, como un cazador después de la descarga estéril.“ (Ebd.) Die käufliche Liebe erscheint hier als eine Verhöhnung des Eroberungsbedürfnisses, in Bezug auf den Wunsch nach männlicher Selbstbestätigung trifft sie ins Leere. Der Text macht dabei die selbstbezogene Natur des exotistischen Begehrens explizit: „Yo quería desgarrar el secreto de una mujer mora, abrir un hueco en las paredes de su alma e instalar en ella mi amor civilizado y egoísta.“ (Ebd.) Mit Hilfe eines marokkanischen Freundes arrangiert der Erzähler ein Treffen mit einer „mora de verdad“, der Tochter des Großwesirs, auf das sich nun die ganze Erwartung Arnedos richtet. Dieses findet im treu nach den Regeln der exotistischen Erzähltradition ausgestatteten locus amoenus des orientalischen Innenhofgartens statt. Zunächst droht die zielorientierte Begierde in die gleiche ängstliche Hilflosigkeit umzuschlagen, die den Erzähler gewöhnlich in der Begegnung mit europäischen Frauen überkommt. In der Einstreuung dieses Angstgedankens durch das zurückschauende Ich ereignet sich eine kurze Umwendung des durchdringenden Blicks hin zur genierten Selbstbeobachtung: „Si Aixa fuera una muchacha europea me recordaría como un tonto; tan acobardado, inexpresivo e inmóvil me figuro a mí mismo en aquel momento.“ (Ebd.: 29) Doch aufgrund des kindlichen Alters und des ‚zivilisatorischen Abstands‘ der mora bemächtigt sich Arnedo der Position des neugierigen Betrachters. Die nun folgende Schlüsselszene des Kapitels jedoch verkehrt erneut die Positionen von Macht und Ohnmacht, wobei sie sich als Umschreibung einer anderen bekannten literarischen Episode zu erkennen gibt: Es ist die Begegnung mit einem marokkanischen Mädchen, von der Pedro Antonio de Alarcón in seinem



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berühmten Tagebuch aus dem Afrika-Krieg (1859-1860) erzählt:37 In dieser Szene nähert sich Alarcón einer kindlichen mora auf einer der Dachterrassen Tetuans, dem typischen Ort, der im Marokko-Text den Blick hinter den Schleier erlaubt. Er lockt hier die muslimische Frau in seine Nähe, indem er ihr wie einem scheuen Tier Süßigkeiten zuwirft und sie so ‚konditioniert‘. Das Ziel dieser degradierenden Übung ist der Beweis der essentiellen Seelenlosigkeit und des schamlosen Materialismus der mora als Gattungswesen, den Alarcón mit dieser Episode gegenüber dem Leser zu erbringen glaubt: „¿Comprendes, amigo mío? ¿Ves claramente a la mora? ¿Echas de ver su falta de alma? ¿Te sorprende como a mí su absoluta carencia de pudor? ¿No te hace daño tan vil materialismo?“ (Alarcón [1859-1860] 1975: 494) Díaz Fernández nun kehrt die Rollenverteilung bei dieser erniedrigenden ‚Tierfütterung‘ um, hier ist es die mora, die mit dem Gnadenakt der hingeworfenen Gabe den spanischen Militär zur Bestie degradiert: „De un macizo de claveles, grande como un charco de sangre, [Aixa] arrancó uno, rojo, ancho y denso, y me lo arrojó como un niño arroja una golosina a un león enjaulado.“ (Díaz Fernández [1928] 2007: 29-30) Daraufhin verschwindet Aixa und lässt den Erzähler mit einer erneuten pulsierenden Verletzung, vor Enttäuschung erstarrt, im Garten zurück: „No sé cuánto tiempo estuve allí, al lado de la alta palma, extático, con el clavel en la mano como una herida palpitante.“ (Ebd.: 30) Das Erlebnis hinterlässt eine solche Verstörung, dass Arnedo sich freiwillig verfrüht zum militärischen Dienst zurückmeldet. Schließlich wird in einer Art Coda noch ein drittes Mal in die Wunde der Entmännlichung geschlagen: In einer Stadt nahe des Militärlagers wird Arnedo zum Zuschauer eines Hochzeitszugs, in dem Aixa, dieselbe Tochter des Großwesirs, als frisch verheiratete Braut mit majestätischem Pomp vorbeizieht. Das Spiel mit der Macht des Blicks wird hier um eine neue Bedeutungskomponente ergänzt: Während nämlich die marokkanische Braut in ihrer gehobenen sozialen Position nun die anerkennenden Augen der Menge auf sich zieht, bleibt Arnedo in den anonymen Reihen der einfachen Soldaten unsichtbar: „¡Cómo me iba a ver! En la larga fila vestida de kaki, yo era el número dieciocho para doblar de cuatro en fondo.“ (ebd.) Die Demütigung steigert sich im Gewahrwerden der eigenen sozialen Bedeutungslosigkeit (Boetsch 1985: 77); erneut bleibt Arnedo in einer Art Betäubungszustand zurück. Das Kapitel endet mit einem

37 Die Annahme, dass Díaz Fernández sich auf diese Textstelle bezieht, lässt sich durch seine explizite Bezugnahme auf diese Szene in einer seiner Crónicas de Guerra („La más bella mora de Yebala“, [1922] 2004: 216) stützen, wobei in dieser frühen Chronik eine ganz und gar unkritische Reproduktion der Standardbeschreibungen verführerischer orientalischer Weiblichkeit erfolgt.



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Kommentar des rückschauenden Ichs, das die historische Irrelevanz der erzählten Episode einräumt. Auch hier zeigt sich die feinsinnige Ironie des Textes, denn tatsächlich wird zugleich ein weiteres Mal auf die – nun vernarbte – Wunde verwiesen, die der Afrika-Soldat nicht aus dem heroischen Kampf, sondern aus der alltäglichen sexuellen Niederlage der vergüenza colonial davongetragen hat: „Lo cuento porque dejó en mí un desasosiego especial, algo como la sensación ínfima, penosa y lejana de una herida ya en cicatriz.“ (Díaz Fernández [1928] 2007: 31) Díaz Fernández inszeniert in qualvoller Wiederholung das Erlebnis von Scham und Entmännlichung: Das kulturelle und geschlechtliche Andere entzieht sich in El blocao beharrlich der Annexion, in diesem wiederholten Entzug wird der spanische Kolonialsoldat aus seiner Eroberungsillusion gerissen. Auch hier richtet sich der stigmatisierende Blick zurück auf das Selbst: Das Gefühl der Erstarrung und Betäubung, das in El blocao immer wieder durch die sexuelle Wunschversagung produziert und potenziert wird, verkehrt die Positionen des Objekts und Subjekts des Blicks und zeigt eine Umverteilung der Macht der Verletzung. Im männlichen Bedürfnis nach einer selbstbestätigenden Rückspiegelung und seiner Frustration wird in José Díaz Fernández‫ ތ‬Marokko-Roman die Abhängigkeit von der Anerkennung durch ein unkalkulierbares Anderes vorgeführt. Die vergüenza bekommt hier eine ähnliche Bedeutung, wie sie Jean Paul Sartre beschreibt: „Die reine Scham ist nicht das Gefühl, dieser oder jener tadelnswerte Gegenstand zu sein; sondern überhaupt ein Gegenstand zu sein, das heißt, mich in jenem degradierten, abhängigen und starr gewordenen Gegenstand, der ich für Andere geworden bin, wiederzuerkennen. Die Scham ist das Gefühl des Sündenfalles, nicht deshalb, weil ich diesen oder jenen Fehler begangen hätte, sondern einfach deshalb, [...] weil ich der Vermittlung des Anderen bedarf, um zu sein, was ich bin.“ (Sartre [1943] 1982: 381, Hervorh. im Original)

3.3.2 Interludium: „Magdalena roja“ und der Verrat an der ‚Heimatfrontʻ Dieses Angewiesensein auf die Anerkennung des weiblichen Gegenübers wird im zentralen vierten Kapitel von El blocao nun im Kontext der Geschlechterbeziehungen der Heimatgesellschaft vorgeführt. Wie der Titel „Magdalena roja“ bereits ankündigt, kommt hier die Figur der ‚roten Frau‘ als Figur von Angst und Begehren ins Spiel, die sich das Diktat der politischen Ideologie zu eigen gemacht hat und dieses nun dem Mann mit unerbittlicher Konsequenz entgegenhält. Wie die Kritiker bereits mehrfach festgestellt haben, hat das Kapitel eine



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herausragende Bedeutung in der erzählerischen Struktur, da es nicht nur den Mittelpunkt des Buches bildet, sondern als einziges überwiegend nicht Marokko zum Schauplatz hat und die anderen Kapitel an Länge um ein Dreifaches übertrifft (López de Abadiada 1980: 78-79; Boetsch 1985: 62). Damit werden, wie im Folgenden gezeigt werden soll, die desaströsen Marokko-Erlebnisse mit einer wichtigen Bedeutungsdimension hinterlegt: der Politisierung der Frau in der Heimat. Die Geschehnisse dieses Kapitels liegen zeitlich größtenteils vor der Einberufung ins Afrika-Heer. Das Setting ist das sozialrevolutionäre Barcelona, der Erzähler Arnedo befindet sich zu Beginn in einer Versammlung linker Gewerkschaftler. In ihrer Mitte glänzt der unreife, bebrillte Arnedo – von den Arbeitern mit dem höhnischen Spitznamen „Gafitas“ belegt – als politischer Redner. Dieses politische Vortragstalent wird dabei sogleich selbstspöttisch relativiert: „En realidad, la mitad de mis éxitos oratorios nacen de este defecto óptico.“ (Díaz Fernández [1928] 2007: 33) Dank der Kurzsichtigkeit verschwimmt die zuhörende Menge vor den Augen Arnedos und dieser kann sich, ganz in der Theorie des sprachlichen Vortrags versunken, dem Gefühl von Autonomie und Präsenz hingeben: „[...] exponía fácilmente mis ideas y permanecía aislado de toda coacción externa. Eso me daba un aplomo y una serenidad de tal índole que mis palabras se ceñían al argumento como la piel al hueso.“ (Ebd.: 33) Wie in „Magdalena roja“ vorgeführt wird, ist das politische Engagement des erzählten Ichs weniger von der ideologischen Überzeugung, als von dem narzisstischen Bedürfnis nach Selbstbestätigung getragen. Auf diese Weise streut der Text eine weitere kräftige Prise Ideologieskepsis unter seine Leserschaft. Arnedos Bedürfnis nach Anerkennung verleiht der einzigen Figur, die das Autonomieerlebnis der politischen Predigt zu durchkreuzen vermag, ihre beirrende Macht:38 Es ist die sozialrevolutionäre Frau mit dem sprechenden Namen Angustias, die Arnedo mit Zwischenrufen beschimpft: „–¡Niño! ¿Qué sabes tú de eso?“ (ebd.: 34). Damit trifft sie mit zielgenauer Sicherheit die Schwachstellen Arnedos, die seine ‚Männlichkeit‘ in Frage stellen: seine Unreife, seinen mangelnden Mut zu revolutionären Taten und seine fundamentale Nicht-Zugehörigkeit zum Kreis der ‚Arbeiter und Bauern‘. Der linke Intellektuelle sieht sich dabei selbst in einer Position der Schwäche, da er nicht die „bárbara escuela del trabajo manual“ durchlaufen hat, die sich in linken Kreisen als Männlichkeitsideal formiert: „Yo, ¿por qué negarlo?, era un muchacho de la clase media, un dilettante del obre-

38 Vgl. ebd.: „Confieso que la única persona que me desconcertaba en las juntas del Sindicato era la compañera Angustias.“



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rismo. [...] Yo me encontraba sin fuerzas para trazar una vida dura, obstinada, rectilínea.“ (Ebd.: 34-35, Hervorh. im Original) Während Arnedo seine politische Aktivität auf das Reden und das Malen von „mongoloiden Leninköpfen“ auf die Zimmertapete beschränkt, hat sich Angustias, „mujer áspera, dominante, voluntariosa“ (ebd.: 36), den politischen Kampf auf die Fahnen geschrieben und führt dabei einen ständigen Machtkampf mit „Gafitas“. Dieser hingegen ist vornehmlich vom Diktat der ‚Liebe‘ bestimmt: Unter der Oberfläche seiner politischen Gestik wird sein Handeln von sexuellen Wünschen dirigiert. In seiner Verletzbarkeit ist er der Verachtung Angustias ausgeliefert und fühlt sich als Spielzeug in den Händen der ‚roten Frau‘: „Lo cierto es que Angustias, a fuerza de altivez, se apoderaba de los resortes de mi vida. Yo veía que mi vida estaba entre sus manos. Pero lo inquietante era sentirme entre sus manos como una cosa inútil [...]. Angustia valoraba a los hombres por su capacidad revolucionaria; era una obrera de la idea.“ (Ebd.: 39-40)

Angustias’ politische Radikalität nährt sich aus einem echten lebensgeschichtlichen Hass auf das Bürgertum – auch dies hat sie Arnedo sozusagen an Authentizität voraus. Die ‚rote Frau‘ wird hier mit einem psychologischen Hintergrund, einer fragwürdigen Vergangenheit versehen: Angustias hat sich, so wird in einem Gespräch mit dem Erzähler angedeutet, als eine Art Edelprostituierte aushalten lassen und sich schließlich aus diesem Objektstatus in einem wütenden Akt befreit. Sie ist somit eine Variante der literarischen Figur der Prostituierten, die zur verbitterten Rächerin wird („Esto parece un folletín“, räumt sie dabei selbst ein).39 In diesem Zusammenhang belegt Arnedo sie mit dem Namen „Magdalena roja“ und ruft so die Assoziation der Maria Magdalena auf, die bekanntlich als ‚reuige Sünderin‘ und ‚biblische Hure‘ in die Kulturgeschichte eingegangen ist. Eine zentrale Rolle in der literarischen Konstruktion der gefährlichen Frau spielt auch hier die Kinderlosigkeit (die Zohra in ¡Mektub! schließlich zur Bedrohung werden lässt, da so die Chance auf eine penetración pacífica vertan ist). Angustias selbst predigt den Verzicht auf Mutterschaft als politische Idee, genauer gesagt als Mittel der Weltzerstörung. Ihre Kinderlosigkeit wird dabei mehrfach im Text mit der Symbolik eines schmerzhaften Mangels belegt (López de Abadiada 1980: 81). So verdient sie ihr Geld damit, Puppen aus Lumpen zu

39 Die Gestalt der ehemaligen Prostituierten, die dem Mann das erlittene soziale und moralische Unrecht heimzahlt, ist eine typische Figur des spanischen Bordellromans des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, vgl. Fernández 2008: 85-107.



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nähen, die sie, wie ihr Freund Pascual Dominguez erzählt, liebt, als wären es ihre eigenen Kinder. Dies veranlasst Arnedo, Angustias mit einen poetischen Text zu ärgern: Er schreibt einen fiktiven Brief der Puppenmutter an eine ihrer ‚Töchter‘, in dem sie den Verkauf ihres Lumpenmädchens an eine Bürgerfamilie betrauert: „Yo iba a verte otra vez, hija de mis horas de obrera, a esa inclusa del bazar donde ya jamás podré recuperarte. Y, al ver que no estabas, el odio que llevo encharcado en las entrañas afluía a mi boca y a mis ojos. Me daban ganas de insultar a los transeúntes, a esas mujeres elegantes y despreocupadas a quienes divierten mis muñecas. Porque nadie sabe el seco dolor que me has costado y la amargura que han bebido mis pinceles para crear el alegre mohín de tus labios y tus ojos.“ (Díaz Fernández [1928] 2007: 38)

Der Verdacht, dass der unerfüllte Wunsch nach Mutterschaft hinter der politischen Radikalität steht, wird so zugleich als eine Art Unterstellung des in seiner Männlichkeit verunsicherten Erzählers präsentiert, die ihm als Waffe dient, um die ‚rote Magdalena‘ zu verletzen. Der Eintausch der Mutterschaft gegen den revolutionären Kampf wird jedoch noch in einer anderen Szene eindrucksvoll illustriert. Angustias schafft es, Arnedo als Kollaborateur für einen terroristischen Akt zu gewinnen, und zwar nicht mittels ideologischer Argumente, sondern einerseits, indem sie ihn als Feigling beschimpft, und andererseits, indem sie ihm als Belohnung die erotische Intimität der Komplizenschaft in Aussicht stellt. Bei dieser Terroraktion verkleidet sich Angustias als Arbeiterin und täuscht, mit einer eingewickelten Puppe im Arm, eine Mutterschaft vor, um in das Gebäude einer Fabrik zu gelangen und eine Bombe zu legen: „La muerte iba disfrazada aquella tarde de niño recién nacido, y saldría de las entrañas de la anarquista como un monstruo que vomitase devastación y crimen. Pero ¡quién sabe! Quizá aquel hijo tremendo de Angustias, aquel que se mecía sobre su pecho intacto, fuese el Mesías de la humanidad futura.“ (Ebd.: 47)

Während der ängstliche, wehrlose Arnedo vom Wachmann nach Waffen durchsucht wird, trägt die Anarchistin anstelle eines Kindes ihre schreckliche (oder messianische) revolutionäre Ausgeburt in Form eines Sprengsatzes in die Welt. Fungiert hier die Mutterschaft für die Frau nur noch als Tarnung für das herzlose Handeln im Dienst der politischen Doktrin, so dient die politische Doktrin dem Mann als Camouflage für seine erotischen Wünsche und Sentimentalitäten: „Sufrí bastante al darme cuenta de que mi espíritu había caído desde la cumbre de las ideas al vórtice de la pasión erótica.“ (Ebd.: 45) Die Bombe wird gezündet



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und Angustias belohnt Arnedo mit einer Liebesnacht. Doch die Todeserotik wird gleich am nächsten Tag zerstört: Angustias erfährt aus der Zeitung, dass der Sprengsatz nicht explodiert ist und widmet sich sogleich mit gesteigerter Verbissenheit der politischen Mission. Nach dieser eindrucksvollen Inszenierung der entmännlichenden Macht der ‚roten Magdalena‘ und des geschlechtlichen Rollentauschs in der Heimat, wechselt der Roman nun wieder die Erzählbühne und kehrt zurück zum Setting des Marokko-Kriegs: Der nächste Satz nennt sogleich das Desaster von Annual, das Arnedos Einberufung zur Folge hat: „[...] al sobrevenir Annual me llevaron a filas para que contribuyese a restaurar el honor de España en Marruecos“ (ebd.: 51). Die Analepse wird also fortgeführt, wobei nun in Bezug auf die Kolonialkriegserzählung nicht nur der Hintergrund der Männlichkeitskrise, sondern auch die problematische politische Inkonsequenz offen gelegt ist, die die Kriegsteilnahme für Arnedo bedeutet. Angustias macht dem Erzähler diese zum Vorwurf („Eres un farsante“, ebd.: 52) und bleibt während der militärischen Laufbahn in Marokko die innere Stimme des politischen Gewissens, die den Erzähler zugleich verführt und verurteilt (López de Abadiada 1980: 87): „Y para acabar de ganarme la antipatía de Angustias hasta me hicieron sargento. El sargento Arnedo instruía a los soldados bisoños en los sagrados deberes de la patria y la disciplina. Cuando en el patio del cuartel, después de la misa reglamentaria, se cantaba La canción del soldado, el sargento Arnedo sentía una voz interior que le gritaba La internacional. Era la voz de Angustias, cargada de recuerdos, mezclada con apasionadas confidencias, que había quedado allí dentro, como el mar en las caracolas.“ (Díaz Fernández [1928] 2007: 52; Hervorh. im Original)

In Marokko ereignen sich nun noch zwei weitere bedeutsame Treffen mit Angustias: Arnedo wird einige Zeit später nach Tetuan im Namen eines unbekannten Oberst in ein Hotel beordert. Dort wartet zu seiner Überraschung die ‚rote Magdalena‘, nun jedoch mit der Maskerade der Bürgersdame, bzw. Cocotte angetan:40 blondiert, geschminkt und schmuckbehangen. Als Liebhaberin des Oberst getarnt, arbeitet sie hier als Spionin und Waffenhändlerin für den revolutionären Untergrund. Sie hat also erneut die Rolle der Prostituierten angenommen, diesmal jedoch mit dem Ziel der Unterwanderung des imperialistischen Projektes und der Unterstützung der Unabhängigkeit des Rif.

40 Nach Angustias’ Aussage lassen sich diese ab einem bestimmten Alter nicht mehr unterscheiden (ebd.: 56).



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Die Prostituierte als Spionin ist eine wiederkehrende Gestalt der Kriegsliteratur, die auch auf die Angst vor der Unterwanderung durch die Frau an der ‚Heimatfront‘ verweist.41 Sie taucht z.B. in Bareas La ruta in Gestalt der jüdischen Bordelldame Luisa auf, mit der der erzählte Barea einen aggressiven sexuellen Machtkampf ausficht, wobei er selbst den Sieg davonträgt. Später erfährt Barea von der Spionagetätigkeit Luisas: „La zorra esa está chupando por los dos lados, o mejor, yo creo que por tres, porque me parece que está dando información a los moros por un lado y a los franceses de Tánger por otro.“ (Barea [1943]42 2000: 324) Die Bedrohung, die von der Prostituierten ausgeht, gleicht der Gefahr des sexuellen Kontakts mit der einheimischen Frau: Sie nutzt den Sexualtrieb des Mannes als Schwachpunkt; sein Begehren wird als gefährliche undichte Stelle des militärischen Panzers ausgenutzt, um das nationale Projekt zu unterhöhlen. Angustias versucht Arnedo seinerseits zu überreden, die Seiten zu wechseln und militärische Spionage für die Kommunisten zu betreiben, wobei sie ihn ein weiteres Mal als Verräter und Wendehals in seiner Männlichkeit zu kränken versucht: „¡Tienes miedo! ¡No te importa traicionar las ideas! Todos tus discursos, naturalmente, eran pura palabrería. [...] ¿Qué defiendes con tu fusil? [...] A los políticos, a los burgueses, a los curas, a los enemigos del pueblo.“ (Díaz Fernández [1928] 2007: 57) Diesmal kann sie den Erzähler allerdings nicht für ihr revolutionäres Projekt gewinnen, denn den Glauben an die Reinheit der politischen Doktrin hat er durch seine Erfahrung im Krieg bereits verloren. Bestimmend ist jetzt die unmittelbare Kameradschaft mit den spanischen Soldaten, die die Last des Kriegs auf ihren Rücken tragen: „Más que una idea vale un hombre.“ (Ebd. 58) Diese Einsicht ist natürlich ambivalent, denn die Anerkennung des Werts des einzelnen Menschenlebens gegenüber der politischen Idee beschränkt sich auf den engen Kreis der spanischen Kameraden, deren Aufgabe ja nun gerade darin

41 So stellt z.B. auch Vidal (1932: 164) die Prostituierte in Marokko unter Spionageverdacht. Vgl. auch López García 1994: 108-109: „La espía de los primeros años del siglo XX es una mujer que se halla envuelta en un halo de tipo romántico, una mujer misteriosa, fatal y mortífera que seduce y enloquece al protagonista.“ Eine solche Spioninnen-Figur und femme fatale findet sich u.a. in der Figur der Sofía Pankiewizcana in López Riendas Marokko-Kriegsroman Águilas de acero (1926). 42 Die spanischen Originaltexte der autobiographischen Trilogie Arturo Bareas, dessen zweiter Teil La ruta die Marokko-Erfahrung erzählt, sind verloren gegangen. Erstmalig erschien La ruta 1943 in englischer Übersetzung unter dem Titel The Track in Großbritannien, wo Barea im Exil lebte. Es handelt sich also bei dem spanischen Text, der hier zitiert wird, um eine Rückübersetzung.



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besteht, für die politische Idee des Kolonialismus zu sterben und zu töten. Arnedo zieht sich mit dieser Begründung in seinen militärischen Außenposten zurück, um sich vor Angustias in Sicherheit zu bringen, bzw. vor ihrem Drängen zur Sabotage des kolonialen Projekts, an das der Erzähler selbst nicht glauben kann. Es findet hier keine politische Reifung oder Läuterung statt, sondern vielmehr ein Prozess der Entkräftung, Verdrängung und Resignation: „Mi espíritu era ya un espíritu adaptado y cotidiano, incapaz de apresar el mundo con un ademán de rebeldía. [...] mi voluntad civil había quedado desgarrada y rota entre los alicates de la disciplina. [...] Mi juventud era aquella idea que apresuraba el pecho de Angustias; aquella idea que en otro tiempo me hacía sentirme camarada del africano o del mongol. Yo había renunciado al mejor heroísmo, y me sentía viejo de veras. Porque la vejez no es más que una suma de renunciaciones, de limitaciones, hasta que el espíritu queda transformado en una sombra, en un espectro de lo que fue.“ (Ebd.: 60)

Hier wird weder der Protagonist noch die Leserschaft zu einer eindeutigen ideologischen Lösung in der ‚Marokko-Frage‘ geführt,43 auch Angustias‫ ތ‬rabiater revolutionärer Aktionismus, dem jedes Mittel recht ist, wird hier problematisiert und delegitimiert. Das zweite und letzte Treffen mit Angustias in Marokko kommt unter noch beklemmenderen Umständen zustande und zwingt Arnedo nun, nicht nur seine politische Überzeugung, sondern auch seine ehemalige Kameradin zu verleugnen: Er wird beauftragt, einen Gefangenen zu verhören, der des Waffenhandels mit den Rifberbern überführt wurde, und hat zu seinem Schrecken ein weiteres Mal Angustias vor sich. Aus Angst, man könnte seine Verbindung zur Gefangenen aufdecken, lässt er sie sofort in das Gefängnisverließ führen und liefert sie dem militärischen Strafapparat aus. Nicht sie, die ‚Hure‘ und ‚Vaterlandsverräterin‘ macht sich in El blocao des schlimmsten Treuebruchs schuldig, sondern der männliche (Anti-)Held, der Unteroffizier Arnedo: „[Arnedo:] ¿Qué hago yo? [Angustias:] –Morirte de vergüenza. En cambio, yo entro ahí con la frente muy alta.“ (Ebd.: 63) Das Interludium der „Magdalena Roja“ endet für den Erzähler in einer doppelten Schmach: dem Wunsch nach der Selbsttötung und dem Eingeständnis, nicht einmal dafür den nötigen Mut aufzubringen: „¡Tampoco entonces tuve valor para pegarme un tiro!“ (Ebd.: 64) Durch das zentrale Zwischenspiel in der Heimat wird die koloniale Niederlage in Marokko in eine explizite Deutungsbeziehung zur Emanzipierung und Po-

43 Es lässt sich meines Erachtens keine Entwicklung feststellen, nach der Arnedo an „Kohärenz und Persönlichkeit“ gewonnen habe (López de Abadiada 1980: 90).



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litisierung der Frau in Spanien und der Destabilisierung der traditionellen männlichen Identität des Eroberers gestellt. In der Gestalt des Arnedo, der sein vergangenes Ich aus der Perspektive der selbstkritischen Rückschau erzählt, dekomponiert Díaz Fernández das Bild des soldatischen Mannes und zugleich seiseines vermeintlichen Gegenspielers: des ‚intellektuellen‘ Revolutionärs. 3.3.3 „Liebeskonvoi“: Das Tierische und Barbarische als Wiederkehr des militärisch Verdrängten Die Anhäufung sexueller Frustrationserlebnisse führt in El blocao, wie erwähnt, zu einer kontinuierlichen Steigerung der Spannung, die zweierlei Reaktionen zur Folge hat: zum einen ein irrationales Aggressionsverhalten, zum anderen eine Art depressive Regression, die mit der zunehmenden Verdinglichung und Fixierung auf Ersatzobjekte einhergeht. Dies wird eindrücklich vorgeführt im Kapitel „El reloj“, das im Zusammenhang mit der Raum-Zeit des Marokko-Kriegs näher analysiert wird (Kap. 5.1.2): Hier legt einer der Soldaten sein ganzes Sinnen und Trachten auf die Beziehung zu seiner riesengroßen Taschenuhr. Ein anderes Kapitel („Reo de muerte“) erzählt von dem Soldaten Ojeda, der sich die Liebe zu einem Hund zum wichtigsten Lebensinhalt macht. Es sind die einzigen beiden Kapitel, die nicht die (verhinderten) Geschlechterverhältnisse ins Zentrum stellen, sondern die intime Beziehung zu Substituten. Die Frustration nährt sich hier in erster Linie aus dem militärischen ‚Bestrafungssystem‘, das sich gerade durch seine Unsystematik und Willkür als so lähmend und demütigend erweist. Die Strafen, die die oberen Befehlshaber über ihre Soldaten verhängen, geben sich dabei ihrerseits als die aggressive Variante der Frustrationsreaktionen zu erkennen, die sie an den Untergebenen auslassen: In „Reo de muerte“ sind die Soldaten den schlechten Launen des Offiziers Compañón ausgeliefert, der sich die Freizeit damit vertreibt, die Weidetiere der umliegenden Kabylendörfer zu erschießen und an seine Soldaten schikanöse Aufgaben zu verteilen. Seine Aggressionen lenken sich schließlich auf den geliebten Hund von Ojeda, der ausgepeitscht und am Ende der Episode erschossen wird. Der Soldat ist nicht in der Lage, sich von dem Tierkadaver zu verabschieden, nach Wochen taucht er, von Fliegen umkreist, mit der Hundeleiche in den Armen auf. In El blocao ist somit ein Prozess der progressiven Entmenschlichung, Bestialisierung und der Rückentwicklung im Gange, der die koloniale Erzählung von Humanität und Fortschritt ad absurdum führt. Die sexuelle Wunschversagung und das Scheitern der Annexion des Anderen lässt im letzten Kapitel den tödlichen Pfeil, über dem sich der Erzählbogen spannte, auf schreckliche Weise entgleiten. In „Convoi de amor“ wird erzählt, wie eine Soldatenhorde im endgül-



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tigen Verlust der Selbstbeherrschung eine Frau zu vergewaltigen versucht und sie dabei zu Tode quetscht – eine viel entsetzlichere Erfahrung, wie der Erzähler feststellt, als ein Angriff der Rifrebellen: „Un fusil encuentra siempre su razón en el fusil enemigo. Pero esto es otra cosa, una cosa repugnante y triste.“ (Díaz Fernández [1928] 2007: 80) Die Geschichte hat Manolo Pelayo, ein Kamerad des Erzählers, erlebt, der seitdem zum zölibatären Frauenhasser geworden ist („Son la perdición... Son la perdición... – suele murmurar“), bzw. sein ‚Liebesleben‘, auf das rein Sexuelle beschränkt, in den Bergen auslebt (ebd.: 79). Der Nährboden für die tierische Regression, die sich hier ereignet, ist die militärische Kultur der Abschottung, die der Kolonialkrieg verlangt: Nach sieben Monaten des Einschlusses in der Männergesellschaft im blocao sind die Soldaten zu einem brodelnden Vulkan geworden, der kurz vor dem Ausbruch steht. In dieser Situation trifft nun die junge blonde Ehefrau eines Offiziers (Carmela) ein, die sich auf dem Weg zum Militärposten ihres Ehemanns befindet, um ihm nach einem Jahr der Abwesenheit einen Besuch abzustatten. Das Lager wird von einem Lust-Schauer geschüttelt: „Cada hombre era un nervio cargado de escalofríos voluptuosos. [...] Ella iba sembrando el escándalo de su juventud entre aquella chusma hambrienta, desorbitada y torva, que sentía al unísono el bárbaro acezar de la lujuria. [...] Yo vi aquel día a muchos compañeros míos aspirar fuerte el vapor de la viajera y tenderse después en la paja de la tienda, a solas con aquella fragancia, mareados deliciosamente por ella como por una droga.“ (Ebd.: 81)

Die sexuelle Spannung wird hier atmosphärisch durch die erdrückende Hitze unterlegt, die außerdem die junge Dame zum provokativen Ablegen von Kleidungsstücken veranlasst. Der diensthabende Oberst tadelt die Kühnheit von Carmelas Unterfangen und verweist auf die Gefahren, die durch die aufständischen Rifberber auf einer solchen Reise drohen. Wie sich jedoch herausstellt, lauert die Gefahr tatsächlich nicht in einem ‚barbarischen‘ Feind, sondern in den militärischen Reihen der eigenen Männer, die zum Schutz Carmelas aufgestellt sind, bzw. in der gefährlichen Verheißung der Frucht der „Eva“: Ein Konvoi wird organisiert, um die Frau sicher zum nächsten Stützpunkt zu bringen. Er wird dem Befehl Pelayos unterstellt, der mit seinem eigenen Leben für die Sicherheit der Frau haften muss. Der „Liebeskonvoi“ setzt sich wie ein brünstiges Rudel in Bewegung, in seiner Mitte die halbentkleidete, schweißnasse Carmela, die provokant mit den Soldaten flirtet. Auf Wunsch der Dame wird eine Ruhepause eingelegt, wobei man sich im Schatten eines Feigenbaums auf engstem Raum aneinanderdrängt. Zur Erfrischung bespritzt Carmela die anschmiegsamen Soldaten mit Parfüm und



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streckt sich in ihrer Mitte aus. In dem Moment, da sich Pelayo über den drohenden Triebeinbruch bewusst wird und den Männern den Aufbruch befiehlt, ist es bereits zu spät: „[...] todos se abalanzaron sobre la mujer al mismo tiempo, feroces, siniestros, desorbitados, disputándose a mordiscos, a puñetazos“ (ebd.: 89). Pelayo schießt ungezielt auf das brutale und gierige Menschenknäuel, das sich auf Carmela gestürzt hat. Als die Masse sich aufgelöst hat, bleibt die junge Frau zertreten und mit einem Kopfschuss in einer Blutlache zurück. Damit endet der ‚Roman‘. El blocao wendet so die koloniale Liebesthematik ins Groteske, wobei die ‚tierische Sexualität‘ hier nicht mehr als tabuisierte Lustphantasie dem Orientalischen angedichtet wird, sondern schließlich als das negierte Eigene hervorbricht. Wie Peter Fuß in seiner Studie zum Grotesken feststellt, ist die „groteske Reinszenierung des Marginalisierten [...] sowohl im psychischen als auch im sozialen Sinne Wiederkehr des Verdrängten“ (Fuß 2001: 174): „Das bei der Formation der Kultur Marginalisierte wird bei seinem Wiedereintritt in die Kultur zum Grotesken. Die Übertretung der im Zuge der Instituierung einer Kulturordnung gesetzten Grenze wirkt grotesk. Die Errichtung der Grenze in der Marginalisierung ist die Bedingung des Grotesken, das in der Rezentrierung des Marginalisierten entsteht.“ (Ebd.: 43)

Die kulturelle Verhaltensordnung wird in El blocao schließlich durch diejenigen brutal außer Kraft gesetzt, denen der koloniale Diskurs eine Kulturbringermission zuschreibt, wobei die Täter zugleich Opfer einer militärischen Frustrationsmaschinerie sind. Hier kehrt all das in der Mitte des Eigenen zurück, was die kolonialistischen und militaristischen Zeichenwelten an ihre Ränder verbannen, indem sie es dem kulturellen/geschlechtlichen Anderen attribuieren. Das Tierische und Barbarische verschafft sich so gerade deshalb im Raum des blocao, der Verbarrikadierung der Männergemeinschaft, umso brutaler seinen Raum.



4. Grenzerfahrung, Subalternität und Trauma: Der Marokko-Krieg und die DissemiNation

In seinem Artikel „DissemiNation“ beschreibt Homi K. Bhabha „die komplexen Strategien kultureller Identifikation und diskursiver Referenz (address), die im Namen ‚des Volkes‘ oder ‚der Nation‘ gebraucht werden und jene somit zu den immanenten Subjekten einer Reihe von sozialen und literarischen Geschichten machen“ (Bhabha [1990] 2007: 209). Er unterscheidet dabei zwischen einer pädagogischen und einer performativen Strategie nationaler Identifikation, die in einem Verhältnis der Spannung und zeitlichen Spaltung zueinander stehen: Die nationalistische Pädagogik beruht auf einer Autorität, die sich aus der Vergangenheit und dem Ursprung nährt und daraus eine zukünftige Mission der Nation ableitet. Die Strategie der Identifikation besteht hier darin, an die Mitglieder zu appellieren, zur Selbsterfüllung der essentialistischen Identität der Nation beizutragen. Die performative Art des narrativen addressing beruht hingegen auf der imaginierten Gemeinschaft als einer Form von erzählter Simultanität im Sinne von Benedict Anderson ([1983] 1996), die in der Gegenwart immer schon sie selbst ist, indem sich ein jedes Mitglied in seinem momentanen Tun als eines von vielen vorstellt. Der Einzelne ist somit gleichzeitig Angesprochener (d.h. ‚Objekt‘ der Pädagogik) und Sprecher (d.h. Subjekt der Bedeutungsprozesse) der nationalen Erzählung. Die Spannung zwischen performativer und pädagogischer nationaler Narration führt zu den widersprüchlichen Bedeutungen des Volks als homogener Gemeinschaft und historisch gegebener Essenz einerseits und des Volks, das sich als solches mit seinen unterschiedlichen Interessen und heterogenen Identitäten in der Gegenwart artikuliert (Bhabha [1990] 2007: 218-220). In dieser dauerhaften Ambivalenz vollzieht sich nach Bhabha die DissemiNation, sie eröffnet den Raum für „nationale Gegen-Geschichten, welche ständig die – wirklichen und begrifflichen – totalisierenden Grenzen der Nation zur Sprache bringen und verwischen“ (ebd.: 222) und die ideologische Pädagogik der Nation destabilisieren.

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Die meisten Marokko-Kriegstexte, die bisher analysiert wurden, sind von diesen Prozessen ambivalenter Bedeutungsproduktion durchsetzt: Sie vollziehen eine unentschlossene Bewegung zwischen der pädagogischen Affirmation einer imperialen spanischen Identität, die als Narration der Entsendung verstanden werden kann, und der performativen Infragestellung dieser in der Darstellung desaströser Ereignisse, die als Erzählung der Heimsuchung zu begreifen ist. Dabei zeigen sich in der Marokko-Literatur verschiedene Formen der Berufung auf die Kriegserfahrung, die verschiedene Subjektivitäten und politische Positionen begründen. Beide Formen machen die Liminalität der Kriegserlebnisse geltend und spielen diese aus der Position der Randständigkeit gegen den nationalen Repräsentationsanspruch des politischen Zentrums aus, beide Formen der Berufung auf Erfahrung sind in dieser Hinsicht emanzipatorisch und begründen eine politische Identität. Die eine lässt sich als reaktionär-kompensatorisch verstehen, sie radikalisiert in gewisser Hinsicht den historischen Auftrag und setzt diesen Anspruch in autoritärer und militanter Form im Namen des pädagogischen Nationalismus durch. Die Liminalität der Marokko-Erfahrung scheint in diesen Erzählungen nach einer solchen Affirmation geradezu zu verlangen, um eine Art Schließung des Sinns zu erreichen. An den Erzählungen ¡Mektub!, ¡Kelb Rumi! und Notas marruecas de un soldado hat sich beispielhaft gezeigt, wie die Ambivalenzen und Brüche, die sich in den kolonialen Sinnwelten auftun, die Erzählung in eine totalisierende, selbstbezügliche Logik führen: Die harte Hand wird gefordert, um die Spaltungen, die sich in den Erzählungen selbst auftun, zu kitten. Der afrikanistische Diskurs, der der Marokko-Unternehmung seine Legitimation verleiht, ist, wie beschrieben, an sich schon kompensatorisch. Dies impliziert bereits das Paradox, dass die Nation im Moment der Gegenwart der 1920er Jahre nicht identisch mit ihrem ‚wahren imperialen Selbst‘ ist. Im vom sozialen Dissens geschüttelten Spanien des Klassenkampfes, der peripheren Nationalbewegungen und der Prozesse weiblicher Emanzipation im Zuge einer – wenn auch vergleichsweise langsamen – gesellschaftlichen Modernisierung soll die Marokko-Unternehmung als Projekt kollektiver Identifikation und nationaler Selbstversicherung dienen. Die pädagogischen Strategien des nationalen addressing in der kolonialen Erzählung sind geprägt von bestimmten kulturellen Plots der Subjektbildung als Form des ‚Herr-Werdens‘: der Initiation und Katharsis, der (sexuellen) Eroberung, der Selbstbehauptung gegenüber dem Anderen. Die Literatur nimmt in ihrer liminoiden Funktion zum einen eine partielle Verkehrung dieser Plots vor, vollführt jedoch zum anderen ein Ringen um eine Reintegration, um die Wiederherstellung der Sicherheiten des pädagogischnationalistischen Diskurses.



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Es gibt jedoch auch Erzählungen, die kein solches Ringen vollführen, sondern das koloniale Desaster als Gegengeschichte erzählen, um die Idee einer nationalen Selbstverwirklichung durch Kolonialismus und Krieg zu widerlegen. Sie spielen das Performative gegen das Pädagogische aus. Diese Geschichten, die in diesem Kapitel im Zentrum stehen, unterscheiden sich von den Erzählungen des ‚Meisterns‘ dadurch, dass sie die ‚Herrenperspektive‘ ad acta legen und das Erzählersubjekt in der Tradition des kolonialen Bildungsromans verabschieden, das in Erzählungen wie Notas marruecas de un soldado, ¡Mektub! oder ¡Kelb Rumi! um seine Souveränität ringt. Stattdessen stellen sie protestartig die subalterne Position der Stimme oder Perspektive ihrer Hauptfiguren aus und erzählen dabei einen Prozess der Entsubjektivierung und Entmenschlichung. Unter ‚Subalternität‘ wird im Folgenden ein erzählerisches oder diskursives Konstrukt verstanden, das militärische Unterordnung (entsprechend der Herkunft des Wortes), politische Ohnmacht, (inszenierte) Sprachlosigkeit1 und soziale Marginalisierung beinhaltet, wobei der in diesem Sinne ‚Subalterne‘ zunächst als strategisches Objekt (pädagogisch) und dann als strategisches Subjekt (performativ) von Erzählungen in den Blick genommen wird. Im letzteren Fall wird das Erzählen selbst zu einer Art transformativem Projekt der politischen Ermächtigung (vgl. Beverley 2004: 75), denn die Subalternität als Subjektposition wird paradoxerweise überhaupt erst da sichtbar und relevant, wo sie sich als politische Kraft formiert.2 Knüpft man an postkoloniale Theoriekonzepte an, so können diese MarokkoErzählungen als eine Form des „writing back“ (Ashcroft/Griffiths/Tiffin 1989) oder „writing in reverse“ (Guha 1983: I) verstanden werden. Sie sprechen zwar von den kolonialen Rändern ‚zurück‘, sind aber nicht aus der Perspektive der Kolonisierten geschrieben – diese ist in der Kriegsliteratur auf auffällige Weise abwesend. Die Marokko-Unternehmung wird hier aus dem Blickwinkel von spanischen Kolonialsoldaten erzählt, die auf der gesellschaftlichen Skala der Heimatgesellschaft auf unterster Stufe stehen. Auf diese Weise konfrontieren diese Erzählungen das koloniale Metanarrativ von Fortschritt und Humanität,

1

Wie Gayatri Chakravorty Spivak in einem Interview in Bezug auf ihren bekannten Essay „Can the Subaltern Speak?“ erklärt, liege „in der Definition von Subalternität als solcher eine gewisse implizite Nicht-Befähigung, Sprechakte zu setzen“ (Spivak [1988] 2008: 123).

2

Vgl. Spivak [1988] 2008: 121: „Die kulturellen Konstruktionen, die innerhalb der – von anderen Mobilitätslinien abgeschnittenen – Subalternität existieren dürfen, werden in Militanz transformiert. In anderen Worten, jeder Moment, der als Fall von Subalternität bemerkt wird, ist unterminiert. Niemals sehen wir die reinen Subalternen.“



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das auf die nationale Einheit und den sozialen Konsens ausgerichtet ist, mit persönlichen Geschichten von gesellschaftlichem Ausschluss und Ausbeutung. Die tradierte Geschichte kolonialer Subjektivität wird aus der ‚Untersicht‘ umgeschrieben, um auf die innergesellschaftlichen Differenzen Spaniens zu verweisen: „Die primäre Referenzebene der Kolonialkriegsnarrativik bleibt vorrangig das ‚Eigene‘. Sie wird genutzt, um kritisch über den Zustand der eigenen Gesellschaft zu reflektieren“, stellt Elmar Schmidt (2011: 23) fest.3 Der Bruch zwischen historischem Anspruch und Wirklichkeit, den das Desaster impliziert, ist hier nicht mehr Anlass zur vergüenza, denn die Perspektive verweigert sich den pädagogischen Strategien, die den Einzelnen zum Verantwortlichen der imperialen Bestimmung machen. Vielmehr wird die Entfremdungserfahrung zum Ausgangspunkt einer antihegemonialen Subjektposition, die sich als Opfer gesellschaftlicher Unterdrückungsstrukturen und Marginalisierungsprozesse versteht. Sie stellt der Diskursivität des Pädagogischen die Realität des Ereignisses entgegen, und verbindet dieses mit der sozialen Randständigkeit. Wie sich in diesen Erzählungen zeigt, verliert in dem Maße, wie sich der Fokus auf die internen sozialen Ausgrenzungen Spaniens richtet, der Antagonismus der Kulturen, auf dem der Kolonialkrieg beruht, an Schärfe. Die Front verschiebt sich ins Innere der Nation. Damit wird die Marokko-Kriegsliteratur zum Feld, auf dem sich erzählerisch eine bedeutende „DissemiNation“ ereignet, die bekanntlich einen wichtigen Pflasterstein auf dem Weg in den spanischen Bürgerkrieg bedeutet. Es ist ganz bezeichnend, dass der subalterne Blickwinkel im Zusammenhang mit dem Desaster von Annual relevant wird: „the historical accident privileges the minoritarian perspective“ (Huddart 2007: 111). Es wurde bereits darauf verwiesen, dass das Ereignis das Aussetzen bestimmter Verknappungsmechanismen der sprechenden Subjekte bedeutet. Dabei wird der koloniale Un-Fall zum historischen Ort, an dem innerhalb des kolonialen Diskursfeldes eine neue Position der Artikulation entsteht. Dies geschieht zum einen, indem tatsächlich einfache Soldaten der unteren Bildungsschicht zur Feder greifen – darauf lassen manche Texte selbst schließen – und ihre Tagebücher und Kriegsnotizen veröffentlichen können, wie z.B. der Lastwagenfahrer Juan José Rodrigo mit seinem Diario de un soldado en la Campaña de Marruecos (s.a., [1922?]), oder Francisco Fusimaña, Autor des Romans Chumberas, y babuchas, der sich in der Widmung

3

In seiner Dissertation Die Darstellung des Rifkriegs in der spanischen und marokkanischen Gegenwartsliteratur, die in Kürze veröffentlicht wird, untersucht Elmar Schmidt neuere Erzählungen über den Rif-Krieg auch aus marokkanischer Perspektive.



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für seine „torpe pluma de obrero a jornal“ (Fusimaña 1934: 20-21) entschuldigt.4 Zum anderen wird in vielen Fällen diese Sprecherposition oder Perspektive (fiktional) inszeniert von Autoren, die eine mittlere (oder sogar höhere) Position in der militärischen Hierarchie innehatten, sich im Akt des Schreibens mit der subalternen Position solidarisieren und mit dem Verweis auf ihre eigene Kriegserfahrung in eine ähnliche problematische Beziehung zur historischen Realität stellen, wie z.B. Fermín Galán, Eliseo Vidal oder Ramón Sender. Das Potential der Autorisierung durch Erfahrung ist in diesen Fällen das der Un(ver)mittelbarkeit.5 Michel Foucault sieht im Erfahrungsbegriff eine Methode des abendländischen Denkens, die Realität des Diskurses zu verschleiern (Foucault [1970] 2007: 32-33) – der Effekt, den diese Kriegserzählungen hervorrufen wollen, ist jedoch zunächst gegenteilig: Die Erfahrung wird gegen den kolonialen, militaristischen und patriotischen Legitimierungsdiskurs ausgespielt; dieser wird als politisches Konstrukt sichtbar und hinterfragbar, indem sich die Erfahrung als uneinholbar präsentiert. Diese Form der Berufung auf Erfahrung – die in der ‚Evidenz der Uneinholbarkeit‘ andererseits selbst ihre Diskursivität verschleiert – lässt sich wiederum als eine Strategie verstehen, gegenhegemoniale Sprecherpositionen zu autorisieren (Scott 1991; Ireland 2004): Sie begründet oft Gruppenidentitäten in Differenz zu etablierten kollektiven Selbstentwürfen und ist der Gegenstand von Erzählungen, die hegemoniale Metanarrative entkräften wollen: „Experience, in short, represented the stuff [...] that, impervious as it appeared to be to ideological tampering, might furnish the material building blocks from which counterhistories could be constructed and subaltern cultures reinforced.“ (Ireland 2004: 11-12) Den offiziellen Geschichten wird eine ‚authentische‘ Geschichte ‚von unten‘ entgegengestellt. Die Erzählung versteht sich zugleich als Medium, eine politische und historische Signifikanz für das marginalisierte Erfahrungssubjekt geltend zu machen, ähnlich wie es John Beverley in

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Diese Entschuldigung für stilistische Schwächen – die in den meisten dieser MarokkoTexte durchaus angebracht ist – ist zugleich Teil der Authentizitätsinszenierung der subalternen Stimme. Rodrigos Tagebuch ist eine in sehr einfacher Alltagssprache geschriebene persönliche Dokumentation der Tagesereignisse im Marokko-Krieg. Fusimañas Roman erzählt die Geschichte eines Soldaten, der aufgrund der unmenschlichen Zustände im Afrika-Heer desertiert und sich hinter der Frontlinie, größtenteils als Gefangener der Rifberber durchschlägt.

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Die Unmittelbarkeit von Erfahrung wird auch in neueren Theoriediskussionen – z.B. von den Subaltern Studies – zum Zwecke der Autorisierung aktiviert und wird seit dem Lingustic turn immer auch mit Skepsis betrachtet. Vgl. hierzu Ireland 2004; Scott 1991; Jay 1998 u. 2001.



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Bezug auf die spätere lateinamerikanische Testimonialliteratur feststellt: „This presence of the voice [...] is the mark of a desire not to be silenced or defeated, to impose oneself on an institution of power and privilege from the position of the excluded, the marginal, the subaltern.“ (Beverley 2003: 321, Hervorh. im Original) In manchen Marokko-Kriegserzählungen wird die ‚desaströse‘ koloniale Erfahrung dabei zu einem strategischen Ort der politischen Delegitimierung der Monarchie und der Diktatur Primo de Riveras. Im Folgenden wird zunächst anhand der Narration der Fremdenlegion beschrieben, mittels welcher Formen des Einbezugs der afrikanistische Diskurs sozial marginalisierte Subjekte zu Vollfüllern der nationalen Mission erklärte und sie nach Marokko entsandte (Kap. 4.1). Als Form des „writing in reverse“ aus der ‚Untersicht‘ soll hier paradigmatisch Fermín Galáns La Barbarie Organizada (1926/1931) vorgestellt werden, eine Legionserzählung, die diese Strategien nationaler Inklusion radikal delegitimiert, die koloniale Unternehmung als Erfahrung des sozialen Ausschlusses und Prozess der Entsubjektivierung erzählt und aus der Randposition bestimmte Hierarchien und Wertigkeiten der kolonialen Zeichenwelten verkehrt (Kap. 4.2). In der Überlagerung der Gewalt des Kriegsereignisses mit der Erfahrung struktureller Gewalt bildet sich eine neue Vorstellung traumatischer Subjektivität heraus, die sich in der Unmöglichkeit der Rückführung subjektiver Grenzerfahrung auf die diskursiven Wahrheiten der Entsendung begründet und somit auch auf die Unmöglichkeit der Heimkehr im Medium der Erzählung. Das Schweigen oder Verstummen dient hier zur Autorisierung von ‚Dringlichkeitserzählungen‘. Hier entsteht im kolonialen Kontext ein neuer Typus von Zeugnisliteratur in Spanien, der auf eine Leerstelle und ein Unsagbares in der historischen Erzählung verweist (Kap. 4.3). Zuletzt wird anhand der Erzählung ¡¡¡Los muertos de Annual ya son vengados!!! vorgeführt, wie der Beginn der Republik die symbolische Heimkehr des marginalisierten Marokko-Kämpfers versprach: Die reale politische Veränderung wird hier zum Operator im Text, der die anfängliche Gegenerzählung in eine hegemoniale Erzählung verkehrt und Trauma in Triumph überführt (Kap. 4.4).

4.1 E NTSENDUNG : M ARGINALITÄT UND E RLÖSUNG IN DER N ARRATION DER L EGION Um zu verstehen, mit welchen Strategien der Identifikation der afrikanistische und militaristische Diskurs im Kontext des Marokko-Kriegs operierte, um gesellschaftlich marginalisierte Subjekte zu Trägern der imperialen Geschichte zu machen, soll zunächst ein Blick auf die Narration der Fremdenlegion geworfen



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werden. Dabei soll gezeigt werden, wie in der Ambivalenz zwischen pädagogischen und performativen Strategien der Inklusion ein „liminaler Raum“ entstand, in dem sich die Geschichten einnisten, die einen „quälenden Zusammenbruch von Sicherheit“ bedeuten (Bhabha [1990] 2007: 223). Bei der offiziellen Narration der Legion handelt es sich um eine Erlösungsgeschichte, die nicht nur den fuerzas de choque propagandistisch eingeimpft wurde und damit wesentlich den Sinnhorizont der Legionäre selbst organisieren sollte, sondern auch über eine stark schematisierte Literatur innerhalb der Heimatgesellschaft immer wieder kommuniziert wurde. Ein bedeutender Teil der Literatur, die über den MarokkoKrieg geschrieben wurde, führt diese Erzählung der Legion in Varianten aus.6 Der Gründer José Millán Astray rief 1920 das Tercio de Extranjeros, dessen Name an das Tercio de Flandes und damit an die Zeit des spanischen Imperiums anknüpft, bereits als Mythos ins Leben: Die Legion wurde von Anfang an als Legende erfunden, ausgestattet mit einer imperialen Tradition, einer Hymne, einer eigenen Bildsymbolik und eben jener spezifischen Heilserzählung, die die wirkungsvolle Rekrutierung von Kriegsfreiwilligen ermöglichte.7 Diese Erzählung ging von der extremen gesellschaftlichen Marginalität ihrer Protagonisten aus, sie ‚adressierte‘ explizit verfolgte Straftäter, ehemalige Gefängnisinsassen, Obdach- und Heimatlose, soziale Notleidende, gesellschaftlich Desintegrierte. Sie versprach, über die Mitgliedschaft im Tercio ihre prosaische Armut und soziale Randständigkeit in eine Art poetisches Außenseitertum umzuinterpretieren und mit einer neuen Würde zu versehen. In La ruta gibt Arturo Barea eine Rede Millán Astrays wieder, die diese Strategie verdeutlicht: „–¡Caballeros legionarios! Sí. ¡Caballeros! Caballeros del Tercio de España, sucesor de aquellos viejos Tercios de Flandes. ¡Caballeros!... Hay gentes que dicen que antes

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So z.B. Antonio de Hoyos y Vinent, Bajo el sol enemigo (1922), Rafael López Rienda, Juan León, legionario (1927), El Caballero audaz (alias José María Carretero), El héroe de la Legión (s.a.), Juan Ferragut (alias Julián Fernández Piñero), Memorias de un legionario (1925), Francisco Triviño Valdivia, Los del Tercio en Tánger (1926), José Asenjo Alonso, ¡Los que fuimos al Tercio! (1932), J. Bautista Ros Andreu, La conquista de Alhucemas o en el Tercio está el amor (1932) und viele andere. Vgl. hierzu López Barranco 1999.

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Millán Astray entwarf die spanische Fremdenlegion nach dem französischen Vorbild. Dazu unternahm er eine Reise nach Algerien, um die Organisation und PropagandaTaktik der französischen Fremdenlegion zu studieren. Vgl. dazu die Rede, die Millán Astray im Centro del Ejército y de la Armada am 14. Mai 1920 hielt (Millán Astray [1920] 1997).



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que vinierais aquí erais... yo no sé qué, pero cualquier cosa menos caballeros; unos erais asesinos y otros ladrones, y todos con vuestras vidas rotas, ¡muertos! Es verdad lo que dicen. Pero aquí, desde que estáis aquí, sois Caballeros.“ (Barea [1943]8 2000: 334)

In der neuen Anrede vollzieht sich hier die Verwandlung der gesellschaftlich Ausgeschlossenen in Subjekte einer nationalen, imperialen Mission. Der Begriff des Caballero ruft gleichzeitig die literarische Tradition der Ritterbücher und ihre romantische Deutung auf, die den Legionären die Konnotation von wagemutigen Abenteurern, freiheitsliebenden Ehrenmännern, enttäuschten Liebenden, untergetauchten Adeligen und tiefsinnigen Melancholikern verlieh. Als solche begannen die Fremdenlegionäre von nun an die Literatur zu bevölkern, die Legion war als literarischer Topos aus dem Boden gestampft worden, der emsig fortgeschrieben wurde:9 „Sólo la Legión ha tenido en esta guerra del norte de Marruecos atmósfera literaria. Bien está; por justa y por conveniente. Los bravos legionarios necesitan esa aureola romántica, acaso más que la comida, son poetas que viven bellos poemas en lucha constante con la muerte, y para ellos el uniforme representa un manantial de motivos líricos.“ (Juarros Ortega 1922: 124)

Eine derartige Poetisierung der Marginalität ging einher mit dem Versprechen einer neuen Gemeinschaft von grenzenloser Solidarität: Die performative Narration des Einbezugs zeichnete die Legion als bunt gemischte Gesellschaft, die keine Unterschiede zwischen Rasse, Kultur und Klasse kannte. So auch Los caballeros de la Legión, Carlos Micó Españas dokumentarische Erzählung über seine Zeit beim Tercio:

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Es handelt sich bei dem hier zitierten Text um eine Rückübersetzung aus dem Engli-

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Die Propaganda-Funktion der Literatur hatte Millán Astray von vorneherein als Stra-

schen. Zur Publikationsgeschichte von Bareas La Ruta vgl. Kap. 3.3.2, Fußnote 42. tegie eingeplant. Dafür analysierte er die Rolle der Literatur für die französische Fremdenlegion: „Dos aspectos distintos hallamos al analizar el espíritu de la Legión: el aspecto que proporciona la leyenda, que se ha formado merced a una exaltada literatura altamente patriótica, contando épicamente sus gloriosas hazañas, y otro aspecto, el esencialmente marcial y verdadero [...]. Se alcanzó el primero, con una constante propaganda en el libro y en el periódico, buscando el lado romántico de las aventuras guerreras, pintando en vivísimos y alegres colores la vida de campaña, con gloriosos combates y hechos heroicos, en los que la muerte aparece como la más alta recompensa [...]“ (Millán Astray [1920] 1997: 27-28).



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„[...] nos encontramos en el campamento, que es una pequeña Babel. Si coincide vuestra llegada con la hora de descanso, veréis por allí, dispersos o reunidos en pequeños y animados grupos, andando de un lado a otro o tumbados en el suelo, a unos mil quinientos hombres de todas las razas, credos y colores.“ (Micó España 1922a: 48)

Die Rhetorik von ethnischer und regionaler Diversität und Gemeinschaftlichkeit findet sich immer wieder in der Kriegsliteratur in Bezug auf die Legion.10 Sie zeigt ein Idealmodell der Nation jenseits von regionalem Separatismus und sozialen Konflikten.11 Besonders das Diario de una bandera von Francisco Franco, der bekanntlich seine militärische Karriere der Fremdenlegion zu verdanken hatte, führt hervorragend die performative Erzähltechnik der imaginierten Gemeinschaft vor: Franco hat ein Tagebuch eines ganzen Bataillons geschrieben, in dem er das Dasein an der kolonialen Front als pulsierende Form des Gemeinschaftslebens inszeniert.12 Dieses findet in der Schiffsfahrt nach Marokko folgendermaßen seinen Anfang: „Al embarcar en Algeciras, se apiñan en las barcazas, al costado del barco, un centenar de hombres de distintos aspectos; al barco de los trajes azules de mahón, blanquean los sombreros de paja, trajes claros, rostros morenos curtidos por el sol, hombres rubios de aspecto extranjero y jóvenes mozalbetes de espíritu aventurero. [...] En el barco, en franca camaradería, comienzan las bromas y distracciones, forman un corro sobre la cubierta, el

10 Vgl. auch Borrás 1922: 14: „No conocerán las diferencias de raza, ni de religión, ni de nacionalidad. Allí se borraron los colores, las fronteras. Un mismo Dios es el suyo, aunque tenga diferentes nombres. Sólo tienen una patria, un enemigo, una familia, un apelativo: son legionarios.“ 11 Vgl. hierzu auch Millán Astray ([1920] 1997: 42-43) über das Vorbild der französischen Fremdenlegion: „[...] al estar mezclados estos soldados sin tener en cuenta las nacionalidades, borra en lo posible los espíritus de nacionalidad, engendradores de celos y rencillas, sobresaliendo encima de todos partidismos, el alma de la Legión, que comprende a todos por igual. [....] En la Legión no hay como he visto en otras partes la casta de oficiales, la de clases y la de soldados perfectamente definidas y separadas, aquí, si bien distanciados por los escalones de la jerarquía, todos se tratan y quieren como buenos camaradas.“ Die kritische Literatur hingegen zeichnet, wie im nächsten Unterkapitel gezeigt wird, ein gegenteiliges Bild: Die Legion erscheint als extremes hierarchisches Machtgefüge, in dem der einfache Soldat einer besonders demütigenden Behandlung ausgesetzt war. 12 Vgl. hierzu die umfassende Analyse von Francos Diario de una Bandera bei Viscarri 2004.



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juego de paso se generaliza y pronto españoles y extranjeros saltan y ríen dando al olvido su vida anterior.“ (Franco Bahamonde [1924-1928] 1986: 57-58)

Die Gemeinschaft der Legion basierte auf einer Inklusionsidentität, die sich explizit nicht über die geographische oder soziale Herkunft, sondern die Zugehörigkeit in der Gegenwart und Unterwerfung unter das gemeinschaftliche Credo definierte. Sie musste gegenüber jeder Vergangenheit blind sein, da sie genau dies ihren neuen Mitgliedern versprach: eine komplette Neugeburt, frei von den Altlasten gesellschaftlicher Marginalisierung, sozialer Herabsetzung, moralischer und juristischer Schuld. So heißt es in der offiziellen Hymne der Legion: „Somos héroes incógnitos todos / nadie aspire a saber quién soy yo, / mil tragedias de diversos modos / al correr de la vida formó. / Cada uno será lo que quiera / nada importa mi vida anterior, / pero juntos formamos Bandera / que da a La Legión el más alto honor.“ (Rodríguez Jiménez 2005a: 127) Bei der Rekrutierung wurde kein Identitäts-Dokument verlangt, stattdessen erfolgte das explizite Angebot, sich einen neuen Namen zu erfinden: „¿Cómo se llama o se hace llamar?“ (Ebd.: 108) Die Anonymität ermöglichte dabei nicht nur dem Legionär, seine Vergangenheit zu vergessen, sondern auch der Heimatgesellschaft, sich bestimmter Individuen gedächtnislos zu entledigen: Millán Astray gab die Anweisung, keinerlei Information an zivile oder militärische Institutionen über die in der Legion verzeichneten Freiwilligen weiterzugeben. Wer in der Legion aufgenommen wurde, verschwand sozusagen, er war zwar vor strafrechtlicher Verfolgung sicher, verlor aber mit seinem früheren Namen auch den Status seiner staatsbürgerlichen Identität. Die gedächtnislosen Toten bedeuteten für die Gesellschaft zunächst weit weniger sozialen Sprengstoff als die Opferung von Familiensöhnen, die zum Dienst an der Waffe eingezogen worden waren: „[A la Legión] desde distintos ámbitos se le ha señalado como solución de un problema social y político, el del descontento por las bajas causadas [...] y como medio para resolver a medio plazo un problema militar, la inexistencia de un ejército preparado y motivado para la guerra colonial.“ (Ebd.: 97-98)

De facto bestand das Tercio de Extranjeros fast nur aus Spaniern, die ihrer Nation in bestimmter Hinsicht als Fremde gegenüber standen. Das Verhältnis der Legionäre zum ‚Mutterland‘, das bei Micó España als „madrastra“ (Micó España 1922c) bezeichnet wird, war in der Erzählung der Legion von einer unlösbaren Spannung zwischen Repräsentation und Ausschluss geprägt – eine Paradoxie mit weitreichenden Folgen. Obwohl die Legionäre im Dienste Spaniens kämpften, emanzipierten sie sich (teilweise verächtlich) gegenüber der Heimat und identifi-



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zierten sich vordergründig über die Ersatzgemeinschaft des Tercio: Zwar zog die Legion als Sturmtruppe für die spanische Nation in den Krieg, sie verstand sich jedoch als eigenständiges, vom nationalen Kollektivkörper abgetrenntes Corps. So beschreibt Arturo Barea in La ruta die Legion als „Estado dentro del Estado“: „[...] hasta el último de los soldados del Tercio compartía esta creencia y se sentía absolutamente independiente del resto del ejército español, como si fuera de una raza aparte. Formaban su sociedad aparte [...].“ (Barea [1943] 2000: 442) Die Legionäre kämpften unter eigener Fahne, sie starben den Opfertod in erster Linie nicht für das Vaterland, sondern für die Legion: „[...] no nos hablan del sentimiento de patria, sino de la Legión; no del honor militar, sino del honor de la Legión; de la gloria de nuestras banderas autónomas, que tienen su historia y vida independientes de la enseña nacional; [...] de lo bello que es morir [...] por un Cuerpo tal, que ingresar en él supone tanto sacrificio, que en ese momento le están a uno perdonadas las anteriores culpas, como si se bañase en las aguas del Jordán; tal es la virtud de las banderas del Tercio, que a su sombra se sienten amparados por el derecho de asilo, que trascendía en otros tiempos de los altares, los perseguidos de la justicia, y en él también encuentran el pan caliente de la cordialidad los que han hambre y sed de ella, los fracasados sentimentales.“ (Micó España 1922a: 52-53)

Dieses Zitat veranschaulicht das mit der Narration der Legion verbundene Paradox: Gemäß dieser Erzählung stellte sie nicht nur ein Sammelbecken der gesellschaftlich Verworfenen dar, sondern auch den Ort, an dem die Tugenden der Gemeinschaftlichkeit zu ihrer Vervollkommnung gelangten: „¡Tremenda ironía! Las virtudes morales han ido a refugiarse a la Legión, donde hay muchos a quienes un hombre moral no daría la mano si no fuesen legionarios.“ (Borrás 1922: 14) Die Legion, die sich als eigenständiger kollektiver Körper gegenüber der Nation verstand, wurde so zur letzten Bastion traditioneller vaterländischer Werte auserkoren – ein prekärer Balanceakt zwischen dem Anspruch, die höchste Norm zu repräsentieren, und dem endgültigen gesellschaftlichen Ausschluss. In obigem und in den folgenden Zitaten zeigt sich, wie die pädagogische Rhetorik der Entsendung mit der gegenwärtigen Performanz von Marginalität und Vielfalt in Spannung steht. Vom Standpunkt des ‚nationalen Interesses‘, in dessen Namen die imperiale Mission sich autorisierte, impliziert diese Spannung eine Unsicherheit: Was würde es bedeuten, wenn diese Delinquenten, gesellschaftlich Desintegrierten und Heimatlosen ihren performativen Repräsentationsanspruch gegen das pädagogische national-bürgerliche Metanarrativ ausspielten? Gegner der Legion, darunter Mitglieder der Juntas de Defensa, der Syndikate der JuniorOffiziere in Spanien, warnten schon bald vor der „revolutionären Natur“ der Le-



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gionäre (Jensen 2002: 143). Tatsächlich bildete sich, wie sich bespielhaft in ¡Mektub! gezeigt hat, innerhalb des Afrika-Heers eine Position heraus, die die Legitimität des Zentrums der zivilen Macht radikal in Frage stellte, indem man die eigene Tatkraft an der Front dem bloßen Reden der politischen Vertreter entgegenstellte – wie auch der Untätigkeit der auf der Halbinsel verbleibenden Militärs (der größte ‚innere‘ Feind der Afrika-Offiziere waren hier bekanntlich die Juntas). Im Kontext der Debatte um die Regelung militärischer Verdienste und Beförderungen („reglamento de recompensas y ascensos“) – dem erbitterten Streit zwischen den africanistas und den pensinsulares bezüglich der Frage, ob Beförderungen und Dienstgrade sich primär nach Kriegsverdiensten oder nach Dienstjahren richten sollten – werden die afrikanischen Truppen von Francisco Franco zu den wahren ‚Machern‘ des Vaterlands erklärt, die von diesem nicht ausreichend wertgeschätzt werden: „¡Ellos son los que hacen la patria! [...] nutren las filas de las tropas de primera línea. Infantes son los que en las heladas y tormentosas noches velan el sueño de los campamentos, escalan bajo el fuego las más altas crestas, y luchan y mueren, sin que su sacrificio voluntario obtenga el justo premio al heroísmo.“ (Franco Bahamonde [19241928] 1986: 85, Hervorh. im Original)

Nach dem Desaster von Annual sollte der Legion dann tatsächlich auch die Mission der Ehrenrettung der Nation zukommen. Die Schocktruppen wurden erstmalig zum Einsatz gebracht, als bereits alle Stützpunkte der Kommandantur von Melilla zusammengebrochen waren: Dank der Todesbereitschaft der Legion, so besagte die damals dominante Version der Geschichtsschreibung,13 konnte im letzten Moment die Einnahme der spanischen Enklave durch die Truppen Abdel-Krims verhindert werden. Auch der Erfolg bei der Rückeroberung wird im Allgemeinen der Effektivität der Legion zugeschrieben. So sah sich das Tercio de Extranjeros beauftragt, die Nation von der Schmach des kolonialen Desasters zu bereinigen: „[...] en noble emulación restauraron la dignidad de nuestra pobre patria [...]“ (Micó España 1922a: 289). Micó España entwirft das Bild von Männern, die auf ihrem Rücken „el peso imponderable de la decadencia de una raza“ tragen (ebd.: 31), und auch für Francisco Franco obliegt es eben jener Gesellschaft der Diversität, die Essenz des Spanischtums zu verteidigen: „Después de

13 Gemäß der Aussage Abd-el-Krims wurde die Einnahme Melillas durch seine Truppen von ihm selbst verhindert, um den Befreiungskampf der Rif-Berber nicht durch die Invasion von spanischem Territorium zu delegitimieren (vgl. hierzu Oteyza [1922] 1923: 80).



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un pequeño alto, desfilan por la plaza de España, ante nuestro general en jefe, los legionarios; la gente se apiña a su paso, y es ante el desfile de estos recios soldados cuando se sienten las grandezas de la raza.“ (Franco Bahamonde [19241928] 1986: 64) Der spanischen Begriff der raza, der sich hier nicht mit dem biologischen Rassebegriff deckt (obwohl dieser in der Vorstellung der Dekadenz mit aufgerufen wird) impliziert gerade den Einbezug der kolonialen Ränder in eine bestimmte Form hispanischer ‚Spiritualität‘ und kondensiert die essentialistische Vorstellung der imperialen Identität Spaniens. So bildete sich durch diese ambivalenten Formen des addressing hier im kolonialen Kontext eine Form der Subjektivität heraus, die sich als das Andere der Gesellschaft und doch ihr bester Vertreter verstand und die nationale Gemeinschaft zutiefst in ihrer Schuld sah. Die implizite Drohung, die mit diesem Paradox verbunden war, neutralisierte bis zu einem gewissen Grad, da die Novios de la Muerte dem Tod angetraut waren: Die Legionäre waren dazu bestimmt zu sterben. Hier soll ein weiteres Mal die Rede Millán Astrays, wie sie Barea wiedergibt, zitiert werden, da sie eindrucksvoll die ganze Logik der Notwendigkeit des Todes der Legionäre vor Augen führt: „Os habéis levantado, de entre los muertos, porque no olvidéis que vosotros ya estabais muertos, que vuestras vidas estaban terminadas. Habéis venido aquí a vivir una nueva vida por la cual tenéis que pagar con la muerte. Habéis venido aquí a morir. Es a morir a lo que se viene a la Legión. ¿Quiénes sois vosotros? Los novios de la muerte. Los caballeros de la Legión. Os habéis lavado de todas vuestras faltas, porque habéis venido aquí a morir y ya no hay más vida para vosotros que esta Legión. Pero debéis entender que sois caballeros españoles, todos. Como caballeros eran aquellos otros legionarios que, conquistando América, os engendraron a vosotros. En vuestras venas hay gotas de la sangre de aquellos aventureros que conquistaron un mundo y que, como vosotros, fueron caballeros, fueron novios de la muerte. ¡Viva la muerte!“ (Barea [1943] 2000: 334)

Die symbolische Wiederauferstehung der Geächteten war nur vorübergehend und nur um den Preis des Todes zu haben: In der Institution der Legion ließ man ein Corps von Untoten heranwachsen, die eigentlich für die Heimatgesellschaft sozial gestorben waren, nun aber durch eine neue Würdigung zum Leben erweckt wurden, um überhaupt erst geopfert werden zu können.14 Nur über die

14 All dies lässt an Giorgio Agambens Monographie Homo sacer ([1995] 2002) denken, in dem dieser das Konzept des „nackten Lebens“ entfaltet. Darunter versteht Agamben das politisch nicht qualifizierte, rein kreatürliche Menschenleben, das außerhalb der Sphäre des Rechts getötet, aber nicht geopfert werden kann. In gewisser Hinsicht



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volle Anerkennung der nationalen Stellvertreterschaft durch die Heimatgesellschaft war das Opfer möglich, obwohl dieses aus Sicht der Legionäre für die Legion erbracht wurde. So musste man den Legionären eine paradoxe Identität einimpfen: ihren Status als imperiale Nachfolger der Konquistadoren, als Vertreter des Ritterkodex der raza, und im selben Zug ihre gesellschaftliche Nullwertigkeit und die unbedingte Notwendigkeit ihres Opfertodes. Damit lässt sich unter anderem der Exzess des Todeskultes der Legion erklären, den Jensen (2002: 145) als wichtigstes Merkmal der Ideologie Millán Astrays herausstellt, wie auch Rodríguez Jiménez in seiner Monographie über die Legion: „No deja de ser curiosa esta reiteración, [...] pero Millán Astray presta una especialísima atención no tanto a la derrota del enemigo, que también, sino a la propia muerte de sus soldados en el combate.“ (Rodríguez Jiménez 2005a: 125) Da solche Subjekte auch nach dem Krieg schwer zu demobilisieren und noch schwerer gesellschaftlich zu integrieren waren, implizierte ihre Rückkehr ins zivile Leben eine gewisse Unsicherheit; sogar unter den regulären Truppen der Kriegsdienstleistenden in Afrika hatte man Angst vor den Legionären. Diese schienen alle Verheißungen des nationalistischen Diskurses mit all seinen ‚narzisstischen Neurosen‘ in ihrer Ersatzgemeinschaft mit einer Radikalität umzusetzen, die ihnen ein Überlegenheitsgefühl gegenüber der Nation verlieh, und trugen dabei noch den untilgbaren (oder nur durch den Opfertod aufhebbaren) Makel der Subalternität. Die Legion entwickelte eine Gewaltkultur, die geradezu auf gesellschaftliche Tabubrüche, so scheint es, ausgerichtet war. Manche Transgressionen der zivilisatorischen Ordnung sind dabei als Kommunikationen lesbar, die sich an das ‚Mutterland‘ richteten: Sie waren darauf angelegt, die Heimatgesellschaft in schockierender Form mit dem zu konfrontieren, was die Narration der Entsendung verschwieg, implizit jedoch in Kauf nahm. Legendär wurde die Geschichte, die Micó España in Los Caballeros de la Legión erzählt und die 1922 auch als Zeitungsnachricht kursierte: Eine Gruppe Legionäre schickte als Zeichen ihrer

werden die Männer bei ihrem Eintritt in die Legion in ein solches „nacktes Leben“ verwandelt, indem sie ihre staatsbürgerliche Identität ablegen und dabei in eine Sphäre außerhalb der Legalität treten können, um schließlich ohne gesellschaftspolitische Folgen in den Tod geschickt zu werden. Dies führt insbesondere Fermín Galáns La Barbarie Organizada (vgl. Kap. 4.2) vor. Da das „nackte Leben“ jedoch nicht im Namen der Nation und ihrer imperialen Geschichte den Märtyrertod sterben kann, bedeutet die Aufnahme in die Legion eine zweifache Verwandlung: Auf eine komplette Entwertung („vuestras vidas estaban terminadas“) folgt die Revalidierung, die den Legionär zum Subjekt der nationalen Geschichte erklärt und für den Opfertod ‚qualifiziert‘ („Viva la muerte!“).



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‚Ergebenheit‘ der Duquesa de la Victoria, die mit einem freiwilligen Team an Krankenschwestern ein Lazarett betreute, die abgetrennten Köpfe zweier Marokkaner zu, umgeben von einem Bouquet roter Rosen (Jensen 2002: 146; Balfour 2002: 87). Micó España inszenierte seinerseits für die heimatliche Lesergemeinschaft mit grausamer Detailtreue die Enthauptung der Leiche durch einen der Legionäre: „Es más difícil de lo que parece cortar una cabeza: trabajo penoso al mismo tiempo que de habilidad. Hay que buscar los intersticios, como el que abre una ostra, de las vértebras; meter por uno de ellos el filo del machete, y apalancar fuertemente... [...] ¿Qué diría la señora al recibir el interesante regalo? [...] Hablemos de otra cosa: de flores, de mujeres, de música, de poesía...“ (Micó España 1922a: 175)

Der Satz, der die Szene beendet, liest sich als bösartige Ironisierung der Geste der Verdrängung, die die Romantisierung der Legion impliziert – eine Idealisierung, die der Text selbst immer wieder betreibt. In ihm kehrt jedoch auch ein Verweis auf das schreckliche Geschenk zurück, das die Legionäre für die Heimat in einem Arrangement aus Lyrik und Rosen parat halten. Ein solches hat auch Luys Santa Marina für die spanische Leserschaft bereitet. In seiner (bereits unter 3.1.1 erwähnten) „Elegie des Tercio“ Tras el Águila del César, eine Zusammenstellung lyrischer Textfragmente und Gedichte über die Legion in Marokko, treibt er die sublime Darstellung von blutrünstigen Obszönitäten und abnormalen Grausamkeiten in ein solches Extrem, dass sich nicht nur die Militärregierung Primo de Riveras, sondern auch das Franco-Regime zur Zensur des Textes veranlasst sah.15 Tras el Águila del César, das von Viscarri (2004) als ein Kompendium ultrarechter Ideologie analysiert wird, zeigt, wie sich das Narrativ des Martyriums der Legion auf unheilschwangere Weise verselbständigte. In dem Fragment „Regreso“ erzählt Luys Santa Marina die Rückkehr der Legionäre in ihr afrikanisches Feldlager wie das Eindringen einer Meute von Werwölfen im Blutrausch: „Terminóse, al fin, la jornada de muerte y sol, y con los arreboles ígneos del crepúsculo entró la Legión en su campo, sin orden, como banda de lobos, ebria de triunfo (ojos lucientes, quijadas carniceras, pechos velludos).“ (Santa Marina [1924] 1939: 24)

15 Vgl. Viscarri 2004: 255. Dies geschah, wie Viscarri mit einem Verweis auf die Ironie der Geschichte feststellt, nicht zuletzt deswegen, da man die Marokkaner, die während des Bürgerkriegs auf der Seite der Franquisten kämpften, nicht vor den Kopf stoßen wollte.



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Die Legionäre kehren hier ‚heim‘ nach einem ihrer Feldzüge der Brandstiftung und Verwüstung, wie sie in der „Elegie“ des Tercio besungen werden. Als Trophäen tragen sie, neben der Fahne des ‚Cäsar‘, auf Bajonette aufgespießte Marokkaner-Köpfe mit abgeschnittenen Nasen und Ohren (ebd.: 24). Hier liest sich die Erzählung des Fremdenlegionärs nicht mehr als Heilsgeschichte, sondern als eine düstere Drohung: „Sobre la tierra la banda de azores se abatió con las alas desplegadas nada quedaba oculto a las miradas agudas de sus ojos avizores. Nada quedaba oculto, e implacables, picos y garras para herir dispuestos, todo lo deshacían: sólo restos dejaron en los campos miserables. Hombres halcones de orgullosos ojos eran los legionarios, y en el Día de la Ira, en pos de banderines rojos, talan y arrasan con cólera fría cosechas y poblados. Todo arde, hoguera inmensa, bajo la azul tarde.“ (Ebd.: 21)

Die Brutalitäten, Vergewaltigungsorgien, körperlichen Verstümmelungen und Plünderungen, die in Tras el Águila del César geschildert werden, entladen sich zwar ‚nur‘ an den moros als den Antagonisten der nationalen Gemeinschaft, die Bilder niedergebrannter Dörfer und vernichteter Felder im obigen Sonett sprechen jedoch von einem Zorn, der sich auf die Zivilgesellschaft ganz allgemein richtet.16 Die Heimsuchung durch das ausgeschlossene Element, das Andere der Kultur, droht hier in der Gestalt des überlebenden Legionärs, seines Größenwahns, seiner Erniedrigung und narzisstischen Kränkung. Explizit wird dies auf den letzten Seiten, die von der Rückkehr erzählen: Im Gedicht „Desdén“ (Santa

16 Vgl. auch die zweite Strophe des Legionärslieds, das Francisco Franco als „uno de los cantos más bonitos hechos en la Legión“ wiedergibt: „Cuando avanzan sedientos de lucha / para detenerlos no hay fuerza capaz, / pues asolan, incendian y matan / como poseídos de furia infernal. / Segadores de vidas les dicen; / cada legionario semeja un Titán, / y gozosos, usan el machete / como un acerado y agudo puñal. [...]“ (Franco Bahamonde [1924-1928] 1986: 144).



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Marina [1924] 1939: 185-186) streift der überlebende Fremdenlegionär düster durch die Straßen seiner ehemaligen Heimatstadt, die ihm nichts als Missachtung entgegenbringt, und richtet seinen Hass nun nicht mehr auf den moro, sondern auf die blank geputzten Schuhe eines bürgerlichen Passanten: Das lyrische Ich kündigt an, dass es die Nächte der Unruhe und Bitterkeit in Marokko nicht vergessen wird. Tras el Águila de César endet mit der gesellschaftlichen Anklage dieses mit Schmerz beladenen marginalisierten Ichs, das sich gleichzeitig als letzter Vertreter des ‚wahren Spaniens‘ („último ibero“, ebd.: 193) versteht: „Y salí por la puerta del desprecio, y el nombre que gané en un año de mi vida (el más intenso, el más generoso) en vez de timbre ilustre y carta de nobleza, fué un estigma, la marca de fuego en la espalda del malhechor. Y aquellos primeros beneficiados con nuestro sacrificio (ricos cuya hacienda rescatamos y defendimos; padres de hijos cobardes que en trances angustiosos nos abandonaron, y que, sin embargo, si aún viven es por nosotros) alzaron su voz chillona y engreída para vilipendiarnos, y tratarnos de cuadrilla de bandoleros, que matan a sueldo...“ (Ebd.: 193-194)

Auch hier, so deutet sich an, verlangt die koloniale Entfremdungserfahrung in letzter Instanz nach einer politischen Aktion außerhalb der Textwelt, und es kündigt sich eine Inanspruchnahme nationaler Stellvertreterschaft und eine Begleichung der ‚Schulden‘ der bürgerlichen Gemeinschaft gegenüber den Legionären an: „¡Ya estamos hartos de calumnias!“ (Ebd.)

4.2 H EIMSUCHUNG : F ERMÍN G ALÁNS L A B ARBARIE O RGANIZADA (1926/1931) ¡Son bestias...! Los que mandan, porque mandan, los que obedecen, porque obedecen. FERMÍN GALÁN, LA BARBARIE ORGANIZADA (1926/1931)17

Durch den Titelzusatz Novela del Tercio ruft Fermín Galáns Erzählung La Barbarie Organizada die Propagandaliteratur der Legion von Beginn an als intertextuellen Bezugspunkt auf. Vor dem Hintergrund des Versprechens auf Erlösung, auf die Aufhebung gesellschaftlicher Minderwertigkeit durch den Opfertod, ist die durchgängige Unerlöstheit des Protagonisten und Erzählers zu betrachten, die die Atmosphäre des Textes grundlegend prägt. Die Erzählung kann als so-

17 Galán [1926/1931] 2008: 106.



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zialrevolutionäres „writing in reverse“ der kolonialen ‚Meistererzählung‘ verstanden werden, das aus einer subalternen Perspektive erfolgt und in der Ambivalenz zwischen pädagogischer und performativer Narration der Legion Fuß fasst. Kaum ein literarischer Text aus dem Marokko-Krieg inszeniert so deutlich die Herausbildung einer Subjektposition, die sich den kolonialen DiskursStrategien der nationalen Inklusion verweigert, und begründet so explizit eine politische Identität, die sich auf Marokko als Marginalisierungserfahrung beruft, wie Fermín Galáns La Barbarie Organizada. 4.2.1 Fermín Galán, der Aufstand von Jaca und die Politisierung der Kolonialkriegserfahrung Bevor die Analyse dieses Erzähltextes erfolgt, soll zunächst ein Blick auf die historische Gestalt Fermín Galáns geworfen werden, dessen Leben paradigmatisch die Politisierung der Marokko-Kriegserfahrung vor Augen führt. Nicht nur Galáns Führungsrolle bei der Sublevación de Jaca, der republikanischen Militärerhebung gegen die Monarchie 1930, sondern seine ganze Lebensgeschichte wurde zu Beginn der 1930er Jahre in den Rang eines lieu de mémoire der Zweiten Republik gehoben und somit zum Kristallisationspunkt für die neue politische Identität der Republik. Das zeigt sich an der umfassenden Biographisierungstätigkeit, die hier einsetzt: Eine Kurzbiographie aus der Feder seines Bruders wurde der Ausgabe von La Barbarie Organizada von 1931 als Prolog vorangestellt, im selben Jahr erschien die Biografía política Galáns von Joaquín Ardenius und José Díaz Fernández, dem Autor der Marokko-Kriegserzählung El blocao, sowie José Montero Alonsos Buch Vida, Muerte y Gloria de Fermín Galán: Los hombres que trajeron la república mit dem vielsagenden Titelzusatz Cómo quería Fermín Galán que fuese la Humanidad nueva. Rafael Alberti schrieb das Theaterstück Fermín Galán, das 1931 im Teatro Español de Madrid uraufgeführt wurde; das Leben Galáns wurde sogar unter der Regie Fernando Roldáns im ersten Jahr der Republik verfilmt und 1931 in einem Erinnerungsakt an den Militäraufstand von Jaca erstmalig gezeigt (Ballenilla y García de Gamarra 2004: 42). Galán, geboren 1899 in San Fernando (Cádiz) und Halbwaise durch den frühen Tod seines Vaters, der bei der Kriegsmarine u.a. im Kuba-Krieg diente, wurde schon früh Zögling militärischer Erziehungseinrichtungen: „[...] había vivido aislado de la sociedad, respirando solamente un ambiente militar desde los diez años“ (Francisco Galán [1931] 2008: 184). Sein militärischer Einsatz in Marokko begann 1919, im Alter von 20 Jahren, und erstreckte sich über sechs Jahre und damit über die längste Zeit des Kolonialkriegs. Bis 1924 diente Galán



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bei den Policías Indígenas, den marokkanischen Truppen, dann wechselte er zur Fremdenlegion. Hier war er nicht nur zeitweise dem Kommando Francisco Francos unterstellt, sondern schloss auch Freundschaft mit Emilio Mola, der 1930 versuchte, Galán von den Plänen einer republikanischen Militärerhebung abzubringen (Ballenilla y García de Gamarra 2004: 42-43) und 1936 bekanntlich selbst zusammen mit weiteren Generälen des Afrika-Heers (viele von ihnen aus der Fremdenlegion) – nun gegen die Republik – putschte. Schenkt man den zeitgenössischen Militärakten Glauben, dann zeichnete sich Galán durch seinen enthusiastischen Einsatz und „condiciones sobresalientes para comisiones especiales en Marruecos“ aus; er absolvierte eine durchaus erfolgreiche Militärkarriere und stieg zum Offizier und schließlich zum Hauptmann auf (ebd.: 45). Anders als seine Hauptfigur, der gescheiterte Legionär Gustavo in La Barbarie Organizada, war er also kein einfacher Soldat, sondern hatte in der militärischen Hierarchie einen relativ hohen Rang inne. Die historische Figur Galáns ist aufgrund der unterschiedlichen diskursiven Kontexte der Quellen janusköpfig: Die glorreichen Kriegsaktionen, die die zeitgenössischen Militärakten beschreiben, lassen ein ganz anderes Bild des Autors, und des Marokko-Kriegssoldaten im Allgemeinen entstehen, als es in La Barbarie Organizada gezeichnet wird. Diese fiktionale Kriegserzählung ist Ausdruck einer Umdeutung der Subjektivität des Kolonialsoldaten, bei der sich die Vorstellung geschichtsmächtigen Heldentums des episch-militaristischen Diskurses in ihr radikales Gegenteil – den Entwurf einer subalternen, traumatischen Opferidentität – verwandelte. Auch im Leben Galáns schien es in Folge seiner Zeit bei der Legion einen Wendepunkt gegeben zu haben, der seine Entwicklung zum Pazifisten und Anti-Militaristen einläutete (vgl. Gómez 1997: 45). „En Fermín Galán“, so schreibt sein Bruder über die Zeit nach 1924, „se aprecia un cambio radical. Viene terriblemente impresionado.“ (Francisco Galán [1931] 2008: 185) Galáns einziger fiktionaler Erzähltext wurde nach Angaben des Autors 1925 bei einem Krankenhausaufenthalt in Folge einer Kriegsverletzung begonnen und im Gefängnis fertig gestellt: Wegen Beteiligung an der Sanjuanada, dem ersten gescheiterten militärischen Putschversuch gegen die Diktatur Primo de Riveras vom 24. Juni 1926, wurde Galán 1926 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Bei seinem Aufenthalt in der Strafanstalt von San Francisco in Madrid und im Gefängnis von Montjuïc knüpfte er konspirative Kontakte zu anarchistischen und kommunistischen Aktivisten und entwickelte sein eigenes revolutionäres Idearium, das er in seiner politischen Schrift Nueva Creación zu Papier brachte – ein von beeindruckender Radikalität und utopischem Denken durchzogener anarchosyndikalistisch-humanistischer Gesellschaftsentwurf, der u.a. die Abschaffung der Institutionen des Militärs und der Kirche, eine Kollektivierung des Privateigen-



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tums und die bedingungslose Gleichberechtigung und sexuelle Freiheit der Frau vorsieht (Galán 1930). In La Barbarie Organizada wird dieses Idearium narrativ aus der verstörenden Marokko-Kriegserfahrung des subalternen Legionärs hergeleitet; so liest sich auch dieser Text, wie so viele andere Kriegserzählungen, wie ein politischer Thesenroman. Nach dem Rücktritt Primo de Riveras wurde Galán im Zuge einer politischen Amnestie entlassen und im abgelegenen Jaca stationiert, wo er in Zusammenarbeit mit dem Comité Nacional Revolucionario und mehreren Offizieren Umsturzpläne gegen die monarchistische Regierung der Zeit der sogenannten ‚dictablanda‘ schmiedete. Da er, nach mehrmaligen Aufschüben des Putschtermins, nicht rechtzeitig über die letzte Verschiebung unterrichtet wurde, setzte sich am vereinbarten Tag, dem 12. Dezember 1930, unter der Führung Galáns die Militärrevolte allein in Jaca in Gang: Die aufständischen Truppen besetzten die Stadt, Galán rief die Republik aus, und zwei Kolonnen begannen einen Marsch nach Huesca, um sich, wie ursprünglich geplant, mit der dortigen Garnison zu vereinen. Auf dem Weg dahin kam es schließlich zu einem gewaltsamen Zusammenstoß mit regierungstreuen Truppen, die die Aufständischen aufhielten. Es ist wohl kein Zufall, dass sich in diesem Moment der militärischen Konfrontation verschiedener politischer Zukunftsentwürfe Spaniens drei ehemalige Soldaten der nordafrikanischen Fremdenlegion gegenüberstanden: Galán und sein Kamerad Ángel García Hernández als Anführer der Aufständischen auf der einen Seite, Vallés Foradada, ehemaliger Hauptmann des Tercio als Kommandant der monarchietreuen Truppen andererseits (Ballenilla y García de Gamarra 2004: 51). Das republikanische Intermezzo in Jaca nahm ein schnelles Ende: Galán und García Hernández wurden zum Tod durch Erschießung verurteilt. Ihre Hinrichtung zwei Tage nach dem Aufstand führte zu einer Welle des Protestes gegen die Monarchie, die nur vier Monate später von der ersten demokratisch gewählten Regierung der Zweiten Republik abgelöst wurde. Als Leidensweg eines republikanischen Märtyrers ging die Lebensgeschichte Galáns in das Gedächtnis der Republik ein. Galán wurde, auch für die Schriftsteller der literatura de avanzada, darunter Autoren von anderen Marokko-Kriegserzählungen wie José Díaz Fernández, José Antonio Balbontín und Ramón Sender, zu einer Vorbildfigur (Fuentes 1980: 55, 75). Dabei wurde seine Erzählung der Legion zum Referenzpunkt für die sozialrevolutionäre Deutung des Kolonialkriegs als kollektive Erfahrung der Marginalisierung und imperialistischen Ausbeutung: „Cada legionario tiene su historia. Todas ellas a cual más triste. Son los componentes de aquella fuerza militar, despojos sociales que la sociedad con sus injusticias forma, hasta desplazarlo; después, con toda crueldad, les utiliza como carne de cañón en empresa impe-



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rialista, de dominación, tras de mercados y hombres que explotar...“ (Francisco Galán [1931] 2008: 185)

Der ‚Gedächtnisort Fermín Galán‘ wurde jedoch im Zuge der Aufarbeitungswelle der Bürgerkriegsgeschichte, bei der es zur Wiederbelebung der lieux de mémoire der Zweiten Republik und ihrer Verknüpfung mit der postfranquistischen Gegenwart kam, nur zögerlich wiederentdeckt. Dies lag vielleicht gerade an Galáns ambivalenter Karriere im Afrika-Heer, die ihn in die Nähe der Putschisten von 1936, allen voran Francisco Francos stellte.18 4.2.2 Gesellschaftlicher ‚Abschaumʻ mit zivilisatorischer Mission Obwohl La Barbarie Organizada ein deutliches Fiktionalitäts-Merkmal trägt – nämlich die Differenz zwischen dem Namen des Ich-Erzählers (Gustavo Pedrol de Nieva)19 und dem des Autors – lässt sich der Text als eine Form testimonialen Schreibens verstehen. Zum einen autorisiert sich die Erzählung über die Marokko-Erfahrung Galáns, die aus der beigefügten Autorenbiographie hervorgeht. Zum anderen weist sie strukturelle und stilistische Merkmale auf, die dem Muster autobiographischer Erlebnis-Notizen folgen: La Barbarie Organizada imitiert eine faktuale Erzählung nach Art des soldatischen Routentagebuchs. Galáns Text ist ein Beispiel für jene Form der Zeugnisliteratur aus dem Marokko-Krieg, deren Wahrheitsanspruch sich nicht über die Dokumentation einzelner historischer Ereignisabläufe begründet, sondern jenseits der Unterscheidung von Faktizität und Fiktionalität im engeren Sinne angesiedelt ist: Er eröffnet einen Raum der subjektiven Erlebniserzählung an einem kollektiven historischen Ort, der durch einen Prozess der Entsubjektivierung und das Ersticken individueller Wahrheit markiert ist. Dieser Ort des Sprechens ist allein deshalb notwendig ‚simuliert‘, da er durch eine gewisse Sprachlosigkeit markiert ist (vgl. hierzu Kap. 4.3).

18 Kürzlich lässt sich ein vermehrtes Interesse an Fermín Galán beobachten. So kam es z.B. 2008 zu einer bescheidenen Neuauflage von La Barbarie Organizada, daneben drehte Miguel Lobera 2007 den Dokumentarfilm La sublevación de Jaca. Capitanes del frío, der sich als Form der emotional-identifikatorischen Gedächtnisstiftung verstehen lässt; 2005 veröffentlichte Fernando Martínez de Baños Carillo die historische Dokumentation Fermín Galán Rodríguez: El Capitán que sublevó Jaca. 19 Der Protagonist legt sich allerdings diesen Namen als Pseudonym zu, als er sich als ‚Freiwilliger‘ bei der Legion meldet.



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Die Kapitelüberschriften bezeichnen die üblichen Erfahrungsstationen, die sich in der Literatur der Guerra de Marruecos mit auffallend geringer Variation wiederholen („Me incorporo al frente“, „Vida de campamento“, „El fuego“ „Hospital“ etc.). Ähnlich wie in vielen Erzählungen des Ersten Weltkriegs wird hier an der Seite Gustavos eine Kleingruppe von Kameraden zum Protagonisten: „una tropa desesperada de desahuciados“ (Galán [1926/1931] 2008: 31) – Legionäre diverser geographischer Herkunft, deren subalterne Stimmen dialogisch in Szene gesetzt werden. Die im Präsens verfassten, teilweise extrem kurzen Fragmente und Szenen in einfacher Sprache erwecken den Eindruck einer unmittelbaren Verschriftlichung der Erlebnisse, ohne übergeordneten Erzählbogen und durchstrukturierten Plot. Damit produziert der Text den Effekt eines dem nationalen Leben entgegengesetzten, adversativen ‚Unterdessen‘, eines zerstückelten perspektivlosen Jetzts, das die großen imperialen Vergangenheits- und Zukunftsentwürfe performativ entkräftet: „Nada quiero. A nada aspiro. No tengo ninguna ilusión. He renunciado a todo. [...] Para mí no hay reconstrucción de nada posible.“ (Ebd.: 31) Hier wird eine Erzählstimme in Szene gesetzt, die durch einen Mangel an Übersicht und Kontrolle über die Geschehnisse charakterisiert ist und um Sinnzusammenhänge ringt. Diese Perspektive unterscheidet sich fundamental von den üblichen Betrachterpositionen der kolonialen Texttradition, wie z.B. der einfrierenden Wahrnehmung eines Giménez Caballero, in der die Dominanz und das ästhetische Vergnügen korrelieren. In La Barbarie Organizada gibt es keine geschichtsmächtigen Subjekte und souveränen Helden, Gustavo ist wie seine Kameraden ein verängstigter Getriebener und Spielball der historischen und gesellschaftlichen Umstände: „¿Qué rumbo lleva mi vida? ¿Se lo trazo yo acaso? ¿No es ella la que sobre mí se impone y me empuja, me empuja?“ (Ebd.: 18) Die Wahrnehmung der erzählten Welt ist entsprechend geprägt durch die ständige Orientierungslosigkeit, mit der der Erzähler durch den militärischen Raum irrt, als der sich die Kolonie hier in erster Linie präsentiert: „[...] solo, sin saber adónde voy, vago por el campamento. Múltiples pensamientos se agolpan en mi mente amontonándose unos sobre otros. Mi cabeza arde. Anda sin orientación. Recorro el recinto a la ventura. Llego a unas rocas que me hacen tropezar. [...] Miro al cielo plagado de estrellas que tiemblan en la inmensidad del abismo. [...] Y veo la pequeñez de mi ser.“ (Ebd.: 22)

Die labyrinthische ‚Untersicht‘ auf den Raum geht hier einher mit dem Gefühl von Kontingenz und Insignifikanz. Gustavos Blick auf das Kolonialkriegsgeschehen ist geprägt durch Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht und das ständige Be-



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wusstsein seiner Marginalität und gesellschaftlichen Minderwertigkeit, die sich in den Reihen der Legion nicht auflöst, sondern durch die erniedrigende Behandlung und die brachiale Gewalt unter den Militärs nur noch potenziert. Die depressiv-einengende Stimmung des Textes wird transportiert in kurzen, nüchternen Sätzen und allgemeinen lakonisch-bitteren Feststellungen über die Grausamkeit des Daseins. Die Erzählung beginnt mit der Einschreibung des Protagonisten Gustavo in die Liste der ‚Freiwilligen‘ der Legion als Verzweiflungstat aus Hunger und blanker Not. Keine geheimnisvolle Lebensgeschichte führt den Protagonisten in die Reihen der Kriegsfreiwilligen, wie in der propagandistischen Legionsliteratur, sondern die Arbeitslosigkeit. Hier ruft weder das Abenteuer, noch das Versprechen einer moralischen Reinigung, noch die enthusiastische Identifikation mit dem kollektiven Projekt: „Mi vida no me pertenece. La he vendido para comer.“ (Ebd.: 28) „Es nuestra paradoja. Voluntarios de una voluntad ajena a la voluntad nuestra...“ (Ebd.: 30) Vom literarischen Legionärsideal des Caballero, des Kriegers und rebellischen Abenteurers, und auch von der würdevollen Tragik des Melancholikers ist der weinerliche, psychisch verwundbare Protagonist weit entfernt: „[...] subo la manta sobre la cabeza y lloro amargamente. ¡Pobre de mí! ¡Soy una cosa! ¡No soy nadie!“ (Ebd.: 23) Die radikale Verneinung jeden Selbstwertes wird in der Erzählung beschwörend wiederholt: „Soy nada, nada, nada.“ (Ebd.: 87) Der Titel des ersten Kapitels „Empieza mi vida“ weckt Erwartungen, dass so viel Elend auf die Wiederauferstehung hinausläuft, die die Narration der Legion verspricht. Tatsächlich findet hier auch ein – allerdings sehr deprimierendes – Erwachen statt, als Gustavo nach einem Selbstmordversuch im Militärkrankenhaus zu sich kommt. Zwar bahnt sich an dieser Stelle ein Prozess der Bewusstwerdung an, dieser bleibt aber bis zuletzt sehr ambivalent: Eine Identifikation mit der Leidensgemeinschaft der Legionäre und die Bejahung eines zweifelhaften neuen Freiheitsverständnisses setzt ein: „En adelante es preciso vivir como lo que somos. Como unas bestias.“ (ebd.: 32) Eine Auferstehung zum Ritter wird sich hier also nicht ereignen und so schließt das erste Kapitel mit den Worten: „Vuelvo a vivir– me digo–. Pero sigo siendo, lo que antes. Uno más de este rebaño humano sin libertad y sin vida. Uno cualquiera... ¡Nadie!“ (ebd.: 35) Diese ‚Wiedergeburt‘ des Protagonisten wird im zweiten Kapitel bei einem Bordellbesuch gefeiert. Doch auch dieses Männlichkeitsritual wird zu einem niederdrückenden Erlebnis, als die Soldaten in den Prostituierten das Spiegelbild ihrer eigenen Subalternität wiedererkennen: „[El legionario Bustillo:] –Siento asco de mí mismo.“ (Ebd.: 39) La Barbarie Organizada stellt somit eine direkte Verbindungslinie zwischen kolonialer Herrschaft, sozialer Unterdrückung und



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geschlechtlicher Repression her. Dabei dekomponiert der Text auf seine Weise das Bild des soldatischen Mannes, das in der Legionärsgesellschaft der ‚Bräutigame des Todes‘ extreme Züge trägt. Der Bordellbesuch ist hier eine Schlüsselszene: Die erkaufte Liebe wird zum traurigen Erlebnis, weil Gustavo sich in der gleichen Position eines Verschleißobjektes der Gesellschaft wiederfindet wie die Prostituierten – „cuerpos femeninos, que son después arrojados por la misma sociedad que los produce a la esclavitud en que estas miserables viven. [...] Estrechamente abrazados, veo nuestras libertades rotas en el huracán de la existencia.“ (Ebd.: 41) Der Bordellaufenthalt endet in Tränen und einer Schlägerei unter den volltrunkenen Kameraden. Auf diese Weise wird hier die Sinnstruktur männlicher Initiation, die so charakteristisch für die Legionärsliteratur ist – der symbolische Tod, die vermeintliche ‚Auferstehung‘ als Soldat und die Feier des neuen Männerbunds – aufgerufen und zugleich ihrer Sublimitäten entkleidet. Das Bild der Gesellschaft als einer riesigen Maschine, die Menschenkörper verbraucht, ist ein Leitmotiv der Erzählung. Auf das Systematische dieses grausamen Prozesses verweist schon der Titel des Buchs. Mechanistische Metaphern spielen in der Marokko-Kriegsliteratur – wie auch in der Literatur des Ersten Weltkriegs (Hurcombe 2004: 170) – eine zentrale Rolle in der Herausbildung einer Subjektivität, die sich als Opfer historischer und sozialer Umstände versteht. Automaten, seelenlose Puppen und ferngesteuerte Körper sind das Andere des Kolonialherrensubjektes, das in der Kolonie zur Meisterschaft gelangt.20 Der Einzelne nimmt hier nur noch an der imperialen Geschichte teil, indem er als Objekt der Kriegsmaschinerie verbraucht wird: „Encajados en las filas, como en un bazar se encajan los muñecos, varios cientos de hombres, sacados del gran almacén donde el azar los volcó como despojos sobrantes del mundo civilizado, esperamos formados a lo largo de la avenida de entrada al campamento, la llegada del tren especial que ha de trasladarnos a un punto de dislocación, camino de las posiciones avanzadas.“ (Galán [1926/1931] 2008: 43)

Wer hier an die kolonialen Ränder verfrachtet wird, ist das Abfallprodukt der Zivilisation, nicht ihr würdiger Repräsentant. In La Barbarie Organizada kommt zu keinem Moment der Verdacht auf, die subalternen Legionäre, die hier als Kanonenfutter verfeuert werden, verträten eine höhere nationale Norm in der gemeinschaftlichen Hinwendung zum Tod. Damit spricht die Erzählung gegen die Heilsgeschichte der Legion an: Sie verdeutlicht, dass die Opferung des Einzel-

20 Vgl. z.B. auch José Diáz Fernández’ Kriegschronik „Despedidas grises“ [1922] 2004: 114-117.



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nen im Namen der Zivilisation keine Aufhebung ihrer gesellschaftlichen ‚Wertlosigkeit‘ bedeutet, sondern seine konsequente Weiterführung. Die Soldaten erscheinen als biologisches Material von beliebiger Austauschbarkeit, des Anrechts auf die Anerkennung ihrer Subjektivität und Individualität beraubt: „La Civilización no entiende de cómo es cada cual. Los despojos son tirados al arroyo o recogidos por designio de la Providencia para ser utilizados hasta que no den más de sí. ¿Qué en esos despojos hay un hombre invertido? Es un accidente en el que no puede reparar, ni la Civilización ni la Providencia...“ (Ebd.: 50)

Die imperiale Vorhersehung wird über die Maschinen-Metaphorik zu einem selbstlaufenden Mechanismus der Entmenschlichung, der gar keine handelnden Subjekte mehr zulässt. So werden in La Barbarie Organizada die Strategien des addressing delegitimiert, die den Einzelnen zum souveränen Mitgestalter des Schicksals der Nation machen. Der Un-Fall in einer solchen Maschinerie, die das Ziel der Humanität längst aus den Augen verloren hat, besteht im plötzlichen Auftauchen menschlicher Individualität in der Masse des zivilisatorischen Abjekts (vgl. obiges Zitat). Vor dem Hintergrund solcher Entmenschlichungs- und Entfremdungsszenarien führt der Text in militärischen Reden die kolonialistische Rhetorik nationaler Stellvertreterschaft ironisch vor: „Vosotros, que os habéis formado bajo esta bandera gloriosa, lleváis en vuestros pechos el espíritu inmortal de nuestra raza. ¡Sed todos héroes! Que no sólo os honraréis a vosotros mismos y a vuestros pueblos, sino a la Legión que os alienta y os dirige, en nombre de la civilización. Designios de la Providencia, os envían para que llevéis, con la fuerza de vuestro empuje, la cultura y el progreso a estas tierras incultas, de oscuridad y tiranía.“ (Ebd.: 44)

Der koloniale Diskurs von Befreiung, Zivilisierung und Fortschritt erscheint den subalternen Soldaten, die in dieser Rede angerufen werden, wie die reinste Verhöhnung; er wird hier delegitimiert aus der Perspektive derjenigen, die gegen ihren Willen zu Trägern dieser Mission verurteilt sind: „Providencia... Civilización... ¡Qué horror!“ (Ebd.). Das Umschreiben aus dem Blickwinkel des subalternen Kolonialsoldaten, die Erzählung seiner Erniedrigung und Enthumanisierung bringt eine partielle Verschiebung der kolonialen Zuschreibungssysteme mit sich. Dies geschieht in La Barbarie Organizada unter anderem durch die plakative Selbstattribution von ‚Niedrigkeit‘, mit denen der koloniale Diskurs üblicherweise den kulturell Ande-



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ren belegt. Irrationalität, Passivität, Fatalismus, Sprachunfähigkeit sind hier nicht die ewigen Eigenschaften des ‚Orientalen‘, sondern charakterisieren die historische Situation des Erzählers und seiner Kameraden als Opfer einer Sozialisierungsmaschinerie von Hass und Gewalt: „Así es como se desarrolla desde los primeros años la animalidad que todos llevamos dentro.“ (Ebd.: 164) Die Bildlichkeit der Bestialisierung – gewöhnlich ein Gemeinplatz der Inferiorisierung des kolonialen Anderen – beschreibt hier in erster Linie das Dasein der spanischen Soldaten. So werden z.B. die im Militärlager auf engem Raum zusammengepferchten Legionäre mit einer Meute von dressierten Hunden verglichen: „Me veo encerrado entre estas murallas bajas y sigo pensando que somos como una jauría propiedad de alguien. De la Civilización nuestro amo, que nos alimenta y mantiene para emplearnos a su gusto en la caza de hombres y pueblos. Como perros estamos en estas casa-matas [...]“. (Ebd.: 52)

Die Kolonialerzählung liest sich hier nicht mehr als Bildungsgeschichte des zivilisierten Subjektes, sondern als Rückverwandlung des Menschen zum Tier. Ähnlich wie in Díaz Fernández’ El blocao kommt es zu sexuellen Triebeinbrüchen, die jede kulturelle Verhaltensordnung überschreiten. Sexuelle Perversionen, die der orientalistische, bzw. afrikanistische Diskurs üblicherweise als Zeichen der Anomalie und Dekadenz der orientalischen Welt in Szene setzt, werden hier vordergründig als Handlungen der spanischen Soldaten ausgestellt:21 Der Text enthält teilweise für die damalige Leserschaft schockierende Szenen von Sodomie, Inzest und Vergewaltigung. So dient eine Eselin den Soldaten im blocao zur sexuellen Befriedigung, die für dieses fragwürdige Vergnügen Schlange stehen: „Primero está con Ruibal. Luego Brabante. Luego otros... Todos salen con la cara congestionada y abrochándose. Todos lo toman a broma. Pero todos entran, incluso Trabal.“ (Ebd.: 60) Das Tier wird schließlich von einem alten Marokkaner, der im Lager auftaucht, zurückgefordert: Der einheimische moro vertritt hier den Pol der Normalität gegenüber dem abnormen Verhalten der Soldaten. Im selben Kapitel gesteht einer der Legionäre, ohne sein Wissen auf

21 Nebenbei wird auch das auf Jünglinge ausgerichtete homosexuelle Begehren der marokkanischen Regulares und die sexuelle Beziehung eines der Männer mit einem 12jährigen Jungen moralisch verurteilt, nicht zuletzt als Problem sexueller Ausbeutung, das der moro negiert (ebd.: 82). Doch auch hier trifft das Urteil zugleich die Verlogenheit des Zivilisierungsanspruchs der militärischen Unternehmung, in deren Rahmen diese Praktiken stattfinden.



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einem Maskenfest seine eigene Mutter vergewaltigt zu haben, die sich daraufhin das Leben genommen habe (ebd.: 67-68). Über die Schilderung derartiger Taten durch den Mund derer, die diese selbst begangen haben, hat La Barbarie Organizada nicht nur den Charakter einer Anklage aus der Perspektive von Opfern, sondern auch eines Bekenntnisses, wobei die Täterschaft zum Medium des Protestes wird – ähnlich dem tremendismo der Zeit nach dem Bürgerkrieg im Stil von Camilo José Celas La familia de Pascual Duarte. Die Literatur greift hier auf die Tradition der Beichte und des Geständnisses als Formen des subalternen Erzählens zurück.22 Der Erzähler selbst macht sich auf den letzten Seiten der Erzählung der mehrfachen brutalen Vergewaltigung einer marokkanischen Frau schuldig: Gustavo trifft nach seiner Flucht aus der Kriegsgefangenschaft in den Bergen auf eine Gruppe von Berberfrauen, die Feuerholz sammeln, und verwandelt sich augenblicklich in eine triebgesteuerte Bestie: „El deseo estalla en mí con caracteres que pueden ser funestos. Me domina, me arrastra, me impulsa hacia las leñadoras dispersas [...] Corro sobre las dos. Llego en una carrera de macho frenético. [...] Cojo las dos por los brazos y las arrastro a mi cueva. Van a gritar. [...] Me olvido de todo. Ante mí, solo veo a la mujer joven que me ciega. La arrollo impetuosamente. La vieja chilla. Pero la hago callar de un golpe rudo en la cabeza. Teme. [...] Y calla mientras yo venzo a la joven y la poseo brutalmente con fiebre delirante.“ (ebd.: 179)

Die Frauen werden den ganzen Tag und die darauffolgende Nacht von Gustavo in der Höhle gefangen gehalten, die ältere von ihnen bis zur Bewusstlosigkeit zusammengeschlagen und die jüngere ununterbrochen vergewaltigt. Erst der Marschschritt der spanischen Truppen reißt Gustavo aus seinem sexuellen Gewaltrausch und macht ihm die Ungeheuerlichkeit seiner Tat bewusst: „Vuelvo a la realidad, a la terrible realidad que llevo dentro.“ (Ebd.: 180) Eine solche exzessive Wiederkehr der kulturell verworfenen Teile des Selbst straft das koloniale Narrativ des mastering und der zivilisatorischen Perfektionierung der Lüge. Indem der Ich-Erzähler selbst vom Objekt zum Subjekt der Gewalt wird, zeigt sich, wie sich Missbrauch und Erniedrigung in einer Kette der Unterdrückung fortsetzen: Die Ohnmachtsgefühle und Frustrationen des Kolonialsoldaten entladen sich an der einheimischen Bevölkerung, die ihrerseits zum Opfer und Täter von Gewalt und Machtmissbrauch wird.

22 Vgl. Raymond Williams, „The Writer: Commitment and Alignment“, Marxism Today 24 (1980), nach Beverley 2004: 29-30.



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Die destruktive und entzivilisierende Wirkung von Kolonisierung und Krieg wird nicht nur in Szenen ungeheuerlicher Brutalität und Unmoral eindrucksvoll vorgeführt, sondern immer wieder auch explizit benannt. Dies erfolgt entweder in Form dialogischer direkter Rede durch den Mund der Soldaten oder in den vielen Passagen, in denen der Text den erzählerischen Modus zugunsten des reflexiv-diskursiven verlässt: „No puedo comprender la razón de nuestros actos. Encuentro en ella una contradicción que no sé explicarme. La civilización trata de traer sus progresos a este pueblo atrasado. Y los trae destruyendo, incendiando, haciendo derramar sangre por ambas partes. La acción civilizadora inicial consiste en destruir al pueblo cuyo nivel de vida se trata de elevar; y a la vez, en destrozarnos a nosotros mismos. Pero me explico, sin embargo, perfectamente, la rebeldía, la oposición briosa que la civilización encuentra, para llevar a cabo la monstruosa generosidad de aniquilar al pueblo que trata de civilizar.“ (Ebd.: 70)

Hier wird immer wieder die Inversion der zentralen Pole vorgenommen, die das koloniale Diskurssystem organisieren – der Barbarei und der Zivilisation. Der Titel kann hier als Programm gelesen werden. Diese Umkehrung hat im Allgemeinen zweierlei Effekt: Sie relativiert einerseits die Hierarchie zwischen den Kulturen und delegitimiert andererseits die interne Stratifizierung der ‚zivilisierten Gesellschaft‘ und das kulturelle, soziale und politische Wertesystem, auf dem diese beruht. Die Dynamik der militärischen Machtstruktur steht hier stellvertretend für die Perversität hierarchischer Stufenleitern überhaupt: „Brabante ocupa el puesto de Trabal en nuestra escuadra. Su ascenso le regocija. Dice que es más bestia que nosotros y por eso debe ser el jefe. Para él, las jerarquías se adquieren, según el grado de bestialidad del individuo. A mayor brutalidad mayor graduación.“ (Ebd.: 76) Die Unrechtmäßigkeit der Kolonisierung und ihr Ausbeutungscharakter werden so vor allem mit den sozialen Macht- und Ausschlussstrukturen innerhalb Spaniens in Verbindung gebracht. Die gewöhnliche marokkanische Bevölkerung ist das Opfer der gleichen barbarischen Maschinerie wie die subalternen spanischen Soldaten. Obwohl der Text so den Überlegenheitsanspruch der spanischen Kolonisatoren programmatisch delegitimiert, setzt er doch im Rückgriff auf die Begriffswelten von Barbarei und Zivilisation das Entwicklungsnarrativ – in seiner sozialrevolutionären Variante – als Deutungsschablone implizit voraus: Als „rückständig“ und „atavistisch“ werden der Krieg, die imperiale Maschinerie und ihre gesellschaftlichen Hierarchien verurteilt, und in der Verwendung derselben Sprache evoziert Galán paradoxerweise an einzelnen Stellen die Wertungen der ‚kolonialen Stufenleiter‘, die er doch eigentlich zu Fall bringen will: „Desde el



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baluarte de sus montañas, esta gente brava [los rifeños], en su estado semibárbaro, resiste decididamente. Me parece lógico y no puede negársele la justicia que inspira su rebelión frente a la civilización que de esta forma llama a sus puertas.“ (Ebd.: 79) In Reflexionen der Erzähler- oder Figurenrede kommt so immer wieder Verständnis für die Perspektive der Kolonisierten auf, doch auf der Handlungsebene finden keine Schulterschlüsse zwischen spanischen Legionären und der Bevölkerung des Rif statt. Aufschlussreich sind hier die Begegnungen im letzten Kapitel, das die Gefangenschaft des Protagonisten in einem Berberdorf erzählt. Die Dynamik des Kolonialkriegs führt dazu, dass Erniedrigung und Gewalt sich nun in der Behandlung der Gefangenen durch die Rif-Kabylen fortsetzen und dabei auch die Beziehung zwischen den Schwächsten beider Gesellschaften prägen. Dies wird in einer Szene vorgeführt, in der sich die spanischen Legionäre in ihrem Gefängnisverschlag in der Gesellschaft zweier marokkanischer Mitgefangener wiederfinden: In kompletter Düsternis schlagen, beißen und kratzen sich die Eingeschlossenen in einem bestialischen Kampf halb tot – als Strafe handeln sie sich eine weitere Tracht Prügel durch die Aufseher ein. Nur im Zusammentreffen mit Alten und Kindern finden instinktive Gesten der Freundschaft und Solidarität statt, die einen Möglichkeitsraum von Menschlichkeit jenseits des kulturellen Antagonismus aufzeigen. Das cautiverio bedeutet – wie in so vielen anderen Marokko-Kriegserzählungen – den Übertritt auf die andere Seite, eine Auseinandersetzung mit der anderen Kultur aus nächster Nähe und eine direkte Konfrontation mit der Perspektive der Anderen. Ähnlich wie in ¡Kelb Rumi! wird eine Wechselrede zwischen den spanischen Protagonisten und dem Oberhaupt der cabila inszeniert, doch hier ist es die Stimme der subalternen Soldaten, die in den Dialog mit dem berberischen Machthaber tritt. Der Dialog führt das gegenseitige Unverständnis und die Unvereinbarkeit der Standpunkte vor. Die Legionäre geraten in Erklärungsnot, als sie den Sinn des kolonialen Unterfangens darlegen sollen, während das Kabylenoberhaupt für so viel Unmündigkeit nur Verachtung übrig hat: „Ordeno el pensar en lo que puedo. Y voy a expresarme, pero me contengo. ¿Cómo decir lo que es la civilización? ¿Cómo demostrar lo que es el progreso? –Nosotros no sabemos –digo–. Nos mandan. Sidi Ali se ríe. Su mirada es despectiva.“ (Ebd.: 167)

Die Legionäre unternehmen schwache Versuche, die Konzepte von Zivilisation und Fortschritt zu erklären und zu rechtfertigen, der Anführer der cabila delegi-



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timiert diese mit dem Hinweis auf die Unrechtmäßigkeit der kolonialen Aneignung und die Realität der allseitigen Zerstörung. Eine dauerhafte ‚Befriedung‘ des Rifs, so macht er deutlich, wird es nie geben: „[...] cada uno debe venir con lo que tienen en su país y dejar a los otros que vivan como quieran. [...] Ahora y siempre trabajaré para echaros de esta tierra.“ (Ebd.: 168) Daraufhin führen die Soldaten ihre subalterne Position, ihre eigene Rolle als Opfer gesellschaftlicher Ausbeutung zu ihrer Verteidigung ins Feld und starten Versuche einer Soldarisierung im Namen universeller Brüderlichkeit und Gleichheit über religiöse und kulturelle Grenzen hinweg: „La misión humana, el que todos seamos hermanos, ¿no es de por sí un ideal eterno de salvación...? ¿Para qué sirven las religiones sino para separar a los hombres? ¿Para qué sirven las fronteras sino para separar a los mismos de una misma religión? [...] mientras, como hoy, continúen siendo murallas que dividen y subdividen, la paz en la humanidad será una mera ilusión.“ (Ebd.: 169)

Auf derartige Ideen von Frieden, sozialer Gleichheit und Humanität folgt von Seiten des Kabylenoberhaupts nur Gelächter: „¿Y, cómo, si hablas así, has venido a pelear contra nosotros?“ (Ebd.) Hier bleibt kein Zweifel daran, dass eine Vereinigung im Namen der Menschlichkeit nicht erfolgen wird. Das kulturelle Wertesystem der Rifberber ist zutiefst religiös und hierarchisch geprägt; letztendlich, so zeigt der Ausgang des Gesprächs, wird der Anführer in erster Linie auf den Erhalt seiner Privilegien und seinen eigenen Profit achten. Der Blick auf die andere Seite dient so in La Barbarie Organizada in erster Linie dazu, die Parallelen der Unterdrückungs- und Ausbeutungsstrukturen beider Gesellschaften sichtbar zu machen und als universales Problem zu thematisieren. Dabei zeigt sich, dass die Verlierer des vermeintlichen Befreiungsprojekts auch auf marokkanischer Seite die der untersten sozialen Stufe sind: Bei einer Bombardierung des Dorfes durch spanische Flugzeuge – die aus der Bodenperspektive der Berber beschrieben wird – kommt ein schwarzer Sklave ums Leben, weil dieser im Durcheinander der Flucht in seinem Verschlag eingeschlossen bleibt. So erscheinen hier die Sklavenhaltung, der Objektstatus der Frau, all die Topoi des ‚orientalischen Despotismus‘, die die Kolonialisierung durch den Westen als Befreiungs- und Aufklärungsprojekt legitimierten, am Ende der Erzählung als Spiegelung der Verhältnisse der eigenen Kultur: Sie lassen an die Prostituierten vom anfänglichen Bordellbesuch, an das „nackte Leben“23 der Legionäre selbst denken.

23 Vgl. Kap. 4.1, Fußnote 14.



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In kleinen, eher seltenen Ausschnitten holt La Barbarie Organizada literarische Gemeinplätze des orientalistischen Exotismus wieder, die Umdeutungsprozesse ergreifen jedoch auch die alten Wunschbilder des kolonialen Begehrens. Als Beispiel kann folgende Textstelle dienen: Hier taucht bei der Fahrt der Automatensoldaten zur Front die orientalische Stadt als ‚Topos‘ hinter einem Berg auf und wird in einem einzelnen Satz beschrieben: „La blanca Tetuán, ciudad de inquietante misterio, con sus torres implorantes y sus harenes tiránicos, emerge de una pendiente como espuma abortada lentamente por los montes.“ Ebd.: 48, Hervorh. S.F.) Die Textstelle ist von einer Terminologie durchsetzt, die die Subalternität der Legionäre beschrieb: Tränen, Tyrannei und Abschaum tauchen hier in dieser exotistischen Text-Fata-Morgana als Attribute des Orientalischen wieder auf, nachdem sie vorher dazu dienten, die Grausamkeit der imperialen Kriegsmaschinerie aufzurufen. Der Topos der erotisierten, geheimnisvollen orientalischen Stadt wird dabei neu kontextualisiert: Im nächsten Absatz nämlich wird den Legionären, die wie Schlachtvieh transportiert werden und zwischen den Planen auf der Ladefläche eines Lastwagens eingesperrt bleiben, das Betreten des Raums der Verlockung von den Befehlshabern verboten. „¿Sabéis por qué? Porque dicen que somos unos bárbaros. ¿Qué os parece?“ (Ebd.) Damit bleibt auch das Versprechen orientalischer Verführung den Legionären versagt, die ‚Früchte‘, auf die sich das koloniale Begehren richtet, werden an den Subalternen vorbeigereicht. Es ist insgesamt charakteristisch für diese Form des Umschreibens aus der Perspektive von unten, dass exotistische Gemeinplätze selten werden. Stattdessen wird ein weiteres Mal das Legionärsparadox von Zivilisierungsmission und kolonialem Ausschluss vorgeführt und im selben Zug gezeigt, wie die Alteritätszuschreibungen in der Rede der Befehlshaber nach Belieben strategisch verschoben werden: Die Barbarei dient erst als Legitimation der Aneignung der Stadt und dann zum Ausschluss der subalternen Soldaten aus dieser. Dass die qualvolle Fahrt an Tetuan vorbei als „viaje incomprensible y fantástico“ (ebd.: 50) bezeichnet wird, scheint wie ein ironischer Fingerzeig auf die Tradition orientalistischer Reisebeschreibungen. 4.2.3 Heimaturlaub: Kulturelle Selbstethnologie und Sektion des Zentrums Gustavos koloniale Entfremdungs- und Ausschlusserfahrung führt zu einem neuen distanzierten Blick auf das eigene Land als ‚barbarische‘ Kultur. Das Kapitel des Heimaturlaubs („Madrid“) – ein fast obligatorisches Zwischenspiel in den Erzählungen des Marokko-Kriegs – wird in La Barbarie Organizada zum Ort der kulturellen Selbstethnologie, mittels derer die heimatlichen Werte- und



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Sinnstrukturen verfremdet und grundlegend hinterfragt werden. Der Begriff des Heimaturlaubs trägt dabei das Potential einer solchen Verkehrung schon in sich: „Aquí somos unos turistas y allá unos perros.“ (Ebd. 143) Dabei ist zu beachten, dass der kostumbristisch-ethnologische Diskurs in allen restlichen Kapiteln, die Marokko zum Setting haben, fast gänzlich abwesend ist. Stattdessen wird hier aus der Perspektive des gesellschaftlich marginalisierten Afrika-Soldaten die eigene Kultur zum Objekt forschender Betrachtung: „¿Qué clase de pensamiento es el de estos seres?“ (Ebd.: 130) Diese Form der nach innen gerichteten Ethnologie des Zentrums ist vielleicht eines der effektivsten Mittel des Aufbrechens nationaler Selbstidentität durch die Perspektive des Rands. Auf solche Weise erfolgt hier unter anderem eine Abrechnung mit den Institutionen der katholischen Kirche und ihren Glaubensinhalten, die zum Inbegriff barbarischen Aberglaubens werden: „Ante mi veo condensadas, en un todo unificado de superstición, las leyendas, los mitos y las religiones de nuestro pasado bárbaro, triunfante en nuestros días.“ (Ebd.: 133) Genauso wird die Monarchie als Staats- und Regierungsform einer despotischen Elite zum Ausdruck des prähistorischen Zivilisationszustandes der Heimat (ebd.: 134). Aus der Perspektive ethnologischer Verfremdung werden auch die Geschlechterrollen und ihre symbolischen Inszenierungen kritisiert: Das Gebaren der aufgeputzten, mit Juwelen behängten Madrider Bürgersdamen erscheint als urtümliches Balzverhalten, ihre Schminke wie pittoreske Stammes-Tätowierungen. „Es el atavismo de la barbarie. El atavismo conservado. Las mujeres salvajes de las civilizaciones derrumbadas y de las razas llamadas a desaparecer se adornan lo mismo.“ (Ebd.: 135) Die Kritik richtet sich in erster Linie auf die Ausstellung der Frau als passives Besitzobjekt des Mannes und ihre Degradierung zu einem primitiven Statussymbol: „[...] son sin duda prisioneras de los hombres que las llevan. [...] lo mismo que las mujeres de los pueblos semi-bárbaros en su dependencia del hombre [...].“ (Ebd.: 136) Ein weiteres Mal wird hier die Anklage geschlechtlicher Unterdrückungsstrukturen in die Kolonialerzählung einbezogen mit einer Explizitheit, die in der Marokko-Kriegsliteratur in dieser Form m.E. einmalig bleibt. In den obigen Bildern lächerlicher Maskerade wird erneut der hohle Inszenierungscharakter von ‚Zivilisiertheit‘ vorgeführt. Anders als bei Giménez Caballero wird diese groteske Theatralität in La Barbarie Organizada nicht als Ausdruck einer spanischen Minderwertigkeit in der imperialen Stufenleiter verstanden. Diese wird vielmehr insofern auf den Kopf gestellt, als die Ausübung imperialer Macht zum Zeichen zivilisatorischer ‚Unterentwicklung‘ wird. Den Kontrast zwischen diesen beiden Deutungen – die ganz andere Auslegungen der kolonialen Katastrophe implizieren – verdeutlicht die konträre symbolische Codierung des Felsens von Gibraltar, der immer wieder in der Kriegsliteratur die



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Überfahrenden zwischen Europa und Afrika zu Reflexionen anregt. Während er bei Giménez Caballero als schmerzhaftes Sinnbild der englischen Überlegenheit und der spanischen Schmach am Horizont erscheint, ist er bei Galán ein weiteres Symbol imperialer Barbarei: „Pienso también en los grandes explotadores de pueblos que rigen su sociedad. Me formo una idea del Imperio inglés y me inquieta la barbarie que encierra el Peñón de Gibraltar.“ (Ebd.: 121) Die Perspektive des entfremdeten ‚Heimat-Urlaubers‘ führt auch zu einer neuen Wahrnehmung der sozialen Geographie Madrids, des Kontrasts zwischen Elendsvierteln und dem kommerziellen Stadtzentrum mit Casinos, Banken, Firmen, Hotels – „vías sacras de la Civilización, una de las arterias vitales que la sostienen y la alimentan“ (ebd.: 137). Als ähnliches Heiligtum werden die Orte kultureller Wissensproduktion, allen voran die monumentale Bibliothek erforscht: „Aquí está el cerebro de la civilización.“ (Ebd. 139) Mit anatomischer Neugierde wird hier das Zentrum als Hauptschlagader und Gehirn des Kollektivkörpers seziert. Es folgt ein Versuch der Erschließung des zivilisatorischen Denkens, der zu großem Erstaunen führt: Tempelbau und „Strangulation“ anderer Völker, soziale Ungerechtigkeit, militärische Verbrechen und Verdinglichung der Frau entstammen alle der gleichen Form der Intelligenz. Die ganze Wissenschaft mit all den Wahrheiten und Normen, die sie etabliert, verliert damit ihren Wert: „Se derrumba aquello en mi idea estrepitosamente. La civilización me parece diminuta. Se me empequeñecen los labios. Y hasta parece que me desplomo por una inmensidad sin fondo. [...] Los grandes valores pierden su magnitud. Los grandes afanes se agrandan como temibles ambiciones. Los grandes hombres bajan, muy mesurados en grandeza.“ (Ebd.: 140)

Fermín Galáns Erzählung endet mit der endgültigen Rückkehr Gustavos in die Heimat nach seiner dreijährigen Dienstzeit bei der Fremdenlegion. Im Zug antizipiert der Protagonist seine Ankunft mit angstvoller Verzweiflung – einsam, mittellos, entwurzelt und ohne jede Zukunftsperspektive: „Temo llegar a los centros de la vida civilizada. Temo que el tren se detenga. Temo el momento de apearme. El momento de hallarme solo en esta espléndida barbarie organizada.“ (Ebd.: 183) In La Barbarie Organizada wird das Wertungs- und Zuschreibungssystem von Barbarei und Zivilisation, das die koloniale Aneignung im Namen der Höherentwicklung rechtfertigt, in Bezug auf den Kolonialkrieg demontiert. Die Umschreibung erfolgt hier vordergründig in Form einer Verkehrung der diskursiv fixierten Perspektive: Sie wird von unten und vom Rand her vorgenommen,



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aus dem Blickwinkel des gegenüber der eigenen Gesellschaft marginalisierten Fremdenlegionärs. Durch die adversative Darstellung dessen, was ‚unterdessen‘ an den Rändern der Nation geschieht, verliert hier die Erzählung des Kolonialismus als Projekt vereinter nationaler Interessen ihre Legitimation. Die Nation wird ‚disseminiert‘ im Sinne Bhabhas: Die Umkehrerzählung fasst dabei Fuß im ambivalenten Raum zwischen der pädagogischen Erzählung des Legionärs als Vertreter imperialer nationaler Norm und seiner Performanz als ‚Abschaum‘ am Rand der Nation.



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4.3 E RZÄHLUNG OHNE H EIMKEHR : Ü BER SPRACHLICHE O HNMACHT UND TRAUMATISCHE S UBJEKTIVITÄT Nuestros órganos sensoriales están congestionados. Las palabras todavía no obedecen a nuestras imágenes. No tenemos imágenes. No tenemos pensamientos. [...] De cuando en cuando alguno habla agitadamente, precipitadamente. Calla luego. Nos mira. Se mira a los botones, a las manos. Dice otra palabra suelta. Enmudece más tarde. Continua estático. Alguno se levanta. Encorva su espalda. Mira a algún lado. Se sienta después. Se queda quieto. FERMÍN GALÁN, LA BARBARIE ORGANIZADA (1926/1931)24 Me sucede lo que con el lenguaje de un hombre [sic!] que cada vez que habla se irrita, y a medida que su conversación se va prolongando, decrecen sus fuerzas, llegando rápidamente a cansarse, al agotamiento absoluto que le hace desistir de hablar. EL JOVEN DEL RIF, ¡¡¡LOS MUERTOS DE ANNUAL 25

YA SON VENGADOS!!! (1932)

4.3.1 Dringlichkeitserzählungen Die Perspektive des subalternen Kolonialsoldaten verschafft sich, wie oben erläutert, in der Literatur der Guerra de Marruecos im Verweis auf die ‚authentische Erfahrung‘ der desaströsen Kriegsereignisse Eingang in das koloniale Diskursfeld. Die Marokko-Erfahrung des Autors spielt, wie in Kapitel 1.2.1 dargestellt wurde, allgemein eine zentrale Rolle in der literarischen Kommunikationssituation der Rif-Kriegsliteratur: Sie dient in erster Linie dazu, die Version, die ein Text von den Ereignissen im Protektorat liefert, als wahr zu autorisieren. Ein Teil der Literatur beschränkt diesen Wahrheitsanspruch auf die objektive Rekonstruktion faktischer Ereigniszusammenhänge. Solchen Zeugnis-Texten

24 Galán [1926/1931] 2008: 89. 25 Vidal 1932: 19.



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geht es nicht zuletzt darum, im juridischen Sinne von Augenzeugenschaft26 Schuld zu lokalisieren und dabei konkrete Personen oder Gruppen zu be- oder entlasten. Daneben taucht in mancher Erzählliteratur der Guerra de Marruecos – gerade im Zusammenhang mit der subalternen Perspektive – noch eine andere Form des Wahrhaftigkeitsanspruchs auf, die in manchen Fällen quer zum Anspruch auf einen transparenten Zugriff der Sprache auf die Realität steht, den die Augenzeugenschaft des Chronisten impliziert: eine subjektive Wahrheit, die auf das ‚Reale‘ des Ereignisses zeigt und mit der Betonung gesellschaftlicher Inkommunikabilität und Nicht-Objektivierbarkeit einhergeht. Sie begründet ihre Wahrheit im „Gestus des Bezeugens“ (Weigel 2000) einer überindividuellen Schmerzerfahrung, die einen strukturellen Ort innehat und aufgrund gesellschaftlicher Entsubjektivierungs- und Ausschlussprozesse unterzugehen droht. Diese Form der Berufung auf Erfahrung soll hier als Authentifizierung durch Grenzerfahrung verstanden werden.27 Die politische Brisanz liegt dabei nicht so sehr im ideologischen Diskurs eines bedeutungsmächtigen Erfahrungssubjekts, das Sinn und Kohärenz garantiert, sondern in der Inszenierung eines Verlusts von Sprachmacht, Sinnkontrolle und der Desintegration des Subjekts: Sein ‚Stammeln und Verstummen‘ – nicht seine Worte – sollen die etablierten Erzählungen delegitimieren; die „Einschreibung begründet das Subjekt“ (Jara 1986: 2). Es lässt sich annehmen, dass diese Literatur des Desasters, ähnlich wie in mancher Literatur, die im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg in den beteiligten Ländern entstand,28 in Spanien mit den Grundstein für eine neue Vor-

26 Vgl. hierzu Smith (2007: 14): „Most commonly, historians have applied what Renaud Dulong called a ‚juridical model‘ (modèle judicaire) approach to firsthand testimony. That is to say, the historian treats the text the way a lawyer handles the deposition of a witness. Authenticity itself then constitutes the justification of the account [...].“ (Smith bezieht sich hier auf Renaud Dulong, Le Témoin oculaire: les conditions sociales de l’attestation personnelle (Paris: Éditions de l’École des Hautes Études en Sciences sociales 1998). Smith stellt eine Verschiebung von der juridischen zur moralischen Zeugenschaft in Bezug auf die Literatur des Ersten Weltkriegs fest: „The moral status of the witnesses places their stories, or at least the moral of their stories, in some sense beyond interrogation.“ (Smith 2007: 200) 27 Vgl. hierzu Jay 1998: 158, im Anschluss an Texte von Michel Foucault und George Bataille. 28 Vgl. hierzu Leonhard Smith (2007: 196) zur Literatur des Ersten Weltkriegs: „Only with trauma, a conception of permanently broken personal and historical time, did the story of experience in the trenches finally make sense.“



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stellung des historischen Subjekts als Opfer traumatischer Erlebnisse, bzw. für das Verständnis sozialer Strukturen und historischer Ereignisse als subjektive Traumata legt. Gesellschaftliche Marginalisierung und kolonialer Un-Fall werden dabei als Ursachen einer Verletzung der seelisch-psychischen Integrität verstanden, die mit dem Mangel an adäquater Symbolisierung einhergeht. Diese Vorstellung traumatischer Subjektivität ist somit mit der Problematik der gesellschaftlichen Vermittelbarkeit und der fehlenden Integration in die nationale Narration verknüpft. In ihr artikuliert sich ein Auseinanderbrechen von Einzelnen und Nation, das eine Delegitimierung des politischen Systems bedeutet. Die Literatur wird zum Medium des Protests einer ungehörten Stimme, zu einer „narración de urgencia“29, die mit Dringlichkeit ihre Berücksichtigung in der kollektiven Erzählung fordert, bzw. auf deren Umformulierung drängt. Dabei steht die Grenzerfahrung – in der Verknüpfung von Trauma und Subalternität – dem Diskurs oder der kollektiven Erzählung als das Andere gegenüber und besteht umso dringlicher auf ihrem symbolischen Einbezug. Diese Texte implizieren daher einen Balanceakt zwischen politischer Ermächtigung und Inszenierung traumatischen Schweigens: Die Literatur greift hier zu verschiedenen Strategien, um das gebrochene Sprechen, das misslingende Erzählen und das Verstummen – die verhinderte Erzählung als Leerstelle – zu ihrem Bestandteil zu machen. Das für die „narratives of struggle“ charakteristische Ringen um Sinn, das sich dort eher symptomatisch zeigt (vgl. Kap. 1.2.2), wird hier taktisch ausgestellt, die Geschichten präsentieren gewissermaßen „narrative as struggle“. So wird beim „Circumscribieren“30 des kolonialen Desasters ein expliziter Verweis auf die ‚Differance‘ der Erzählung – im Sinne einer nicht artikulierbaren ‚Schattenerzählung‘, die diese begleitet – und das Fremde im Innern des Erfahrungssubjekts eingeführt. Diese Form der Subjektivität ist im kolonialen Diskurskontext durchaus neu. Anhand von La Barbarie Organizada wurden bereits einige Merkmale der ‚untersichtigen‘ Perspektive des subalternen Erfahrungssubjekts aufgezeigt, die mit der Textform des Soldatentagebuchs verknüpft ist. Dazu gehören neben dem Mangel an Überblick das Zerfallen des Textes in unverbundene Fragmente und der minimale zeitliche Abstand des Erzählens zum Erzählten bis hin zu einer Gleichzeitigkeit im Präsens. Es gibt bei Galán nicht die Perspektive des retrospektiven Erzählers, der die Realität der Ereignisse, denen das erlebende Ich ausgesetzt ist, in der Rückschau in einen historischen oder biographischen Sinn-

29 Der Begriff stammt, gemäß Beverley (2003: 320), von Jara (1986: 3), lässt sich an der angegebenen Stelle jedoch nicht finden. 30 Vgl. Kap. 1.2, Fußnote 21.



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zusammenhang integriert. Das Subjekt der Erfahrung zerstreut sich in einer Aneinanderreihung von Jetzt-Momenten bis hin zum Verlust jeder Form der Orientierung in Zeit und Raum. Was die konsequente Inszenierung einer solchen ‚Untersicht‘ bedeuten würde, wird in La Barbarie Organizada (wie auch in Imán) immer wieder in Ausschnitten vorgeführt: „No oigo nada. Nada veo ni nada oigo. Pero mi cuerpo tiembla. Tiembla todo él con temblor de miedo que no es miedo. [...] ¿Qué hago?... Estoy neutralizado. No puedo huir ni defender. Estoy inmóvil, con la garganta oprimida, con el corazón exaltado y temblando. No puedo formarme ninguna idea. No tengo sentimientos. No razono. Soy..., nada.“ (Galán [1926/1931] 2008: 86)

Hier scheinen die vollen Implikationen eines subalternen, traumatisierten Erfahrungssubjekts durch: Es sieht nicht, es hört nicht, es hat kein ‚Bewusstsein‘ über seine Situation und ist keiner vernünftigen Gedanken fähig. Ein solches Subjekt kann die Funktion des wahrheitsverbürgenden Augenzeugen schlecht erfüllen. Die konsequente Umsetzung einer solchen Erzählsituation würde die Annullierung des Subjekts der Erzählung und die Auflösung der Geschichte in Unfassbarkeit bedeuten, und erst recht den Verzicht auf jede Form der Einordnung der Vorgänge in ein übergeordnetes Sinnsystem in Form einer ideologischen Deutung. Eben darauf will La Barbarie Organizada ebenso wenig wie die andere Marokko-Kriegsliteratur verzichten, denn die Grenzerfahrung begründet, wie oben erklärt, fast immer eine politische Position. Charakteristisch für die Erzählungen aus der Perspektive des subalternen Soldaten ist daher ein komplizierter Kompromiss: Sie inszenieren den Kolonialkrieg zum einen als Prozess des Verlernens und der zunehmenden Fassungslosigkeit in Form eines progressiven Bewusstseins-, Identitäts- und Persönlichkeitsverlusts. Und zugleich lassen sie daraus ein politisches Wissen erwachsen. Dies führt in manchen Erzählungen zu Inkonsistenzen in Stimme und Perspektive – zu Widersprüchen zwischen einem Diskurs der politischen Reflexion und Vereindeutigung einerseits und der Perspektive der Reflexionsunfähigkeit und des Verstummens des Erfahrungssubjekts andererseits. 4.3.2 Stammeln, Schweigen und erzählerische Entfremdungserlebnisse Eine beliebte Technik, um das gebrochene Sprechen oder Verstummen zum Teil der Marokko-Kriegserzählungen zu machen, ist die innerdiegetische Verdopplung der Erzählsituation. Dabei werden Gesprächsszenen zwischen Heimkehrern



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und Daheimgebliebenen kreiert, in denen der Protagonist, bzw. das erlebende Ich an der Vermittlung des subjektiven Sinns seiner Marokko-Erlebnisse scheitert. Hier zeigt sich die Unmöglichkeit einer gesellschaftlichen Anschließbarkeit dieser Erlebnisse in Situationen, in denen die Erzählung als Medium der Integration misslingt. So sieht sich Gustavo in La Barbarie Organizada bei seinem Heimaturlaub in seiner Stammkneipe von einer Gruppe von Bekannten umringt, die ihn erwartungsvoll zum Sprechen auffordern: „Empiezo a hablar. Pero las preguntas, los comentarios que mis palabras provocan, distan mucho de mis pensamientos, de lo que yo hablo, de lo que yo siento. Me llevan a una conversación donde la verdad fatalmente desaparece. Donde no hay más verdad de la que ellos tienen forjada. Donde mi verdad pierde su carácter verdadero.“ (Galán [1926/1931] 2008: 141)

Während der Unterhaltung, als Gustavo seine Erlebnisse in die diskursiven Koordinaten der Heimatgesellschaft umsetzen muss, entgleitet ihm seine persönliche Wahrheit auf fatale Weise: Mittels der Annahmen, die der Diskurs der Entsendung und Legitimierung voraussetzt, werden die Antworten bereits durch die Fragen unterstellt und entstellt („–¿Y qué? Mataís muchos moros?“, ebd.: 142).31 Der Heimkehrer findet sich in einer Situation sprachlicher Ohnmacht wieder, die das desintegrative Gewicht der Marokko-Erfahrung, die Verletzung der Grenze der symbolischen Struktur, die diese bedeutet, vor Augen führt: „Hago un esfuerzo en mí mismo para poner de acuerdo lo que ellos dicen con lo que yo digo, pero no es posible.“ (Ebd.: 141) Der symbolische Anschluss ist nur noch scheinbar und um den Preis einer Ich-Spaltung möglich, die sich im Prozess des Sprechens auftut: „Mi yo, se desdobla. Sonrío a cuantas preguntas me hacen. Pero ya no soy yo. Ya es otro el que habla. Que no es el que fue. Que no es el que soy. Un yo que no lo seré en mi vida.

31 Eine ähnliche Situation ereignet sich bei Gustavos Zusammentreffen mit seiner früheren Ersatzfamilie: „Doña Nieves desea que con una palabra, con un concepto, explique todo lo que he vivido desde que me hice soldado. Empiezo. A las pocas palabras me detengo. [...] No me expreso bien. No sé, no me entienden. Yo mismo me sorprendo. [...] No las cuento lo verdadero. [Sic! ...] No lo entenderían jamás. En mi interior, me decepciono. [...] Resbalo sobre la conversación que ellos siguen, que ellos cambian, que ellos dirigen y llevan. Estoy aquí con ellos, pero estoy solo. Estoy engañándome a mí mismo, engañándoles a ellos.“ (Ebd.: 129-130)



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[...] Es el yo que empleo, a mi pesar, en todos los casos, desde que llegué de allá. [...] Me siento descentrado.“ (Ebd.)

Der Erzählprozess bedeutet somit keine Ankunft, sondern ein Entfremdungsoder Depersonalisationserlebnis, bei dem sich das Erzählersubjekt von sich selbst entfernt. Indem der Protagonist die Erwartungen der Fragenden erfüllt, kommt ein wesentlicher Teil „seiner Wahrheit“ abhanden – eine Wahrheit, die in der intradiegetischen Kommunikationssituation nur als explizit Nicht-Gesagtes auftaucht. Sprachliche Ohnmacht, gesellschaftliche Vereinsamungs- und Krankheitsgefühle gehen in diesem Moment Hand in Hand: „Mi soledad se agranda. Sigo hablando, sigo contándoles cosas, sigo sonriendo. Pero sufro mucho. [...] Entre ellos y yo existe un abismo que ellos no notan, que no saben, que no pueden conocer. [...] Creo que estoy enfermo.“ (Ebd.: 142) Die Krankheit wird zum Zeichen der Unmöglichkeit einer symbolischen Integration der MarokkoErfahrung, sie weist damit in die Richtung eines Traumakonzepts, das einen sozialen und historischen Ort markiert. Eine ähnliche Desintegrationserfahrung vollzieht sich im Heimaturlaubskapitel „Recolecciones“ in Arturo Bareas autobiographischer Erzählung La ruta. Den Schock der Heimkehr vergleicht er mit dem Aufwachen aus der Bewusstlosigkeit nach einem Unfall, den er als Sechzehnjähriger erlitten habe: „La única reliquia del accidente fue el choque que recibí al despertar en mi casa, sin haber ido a ella conscientemente, y el encontrarme rodeado por las caras ansiosas de los míos. Un choque que se me repitió al encontrar las cosas y las personas tan absolutamente diferentes la primera vez que pisé la calle.“ (Barea [1943]32 2000: 368)

Auch der erzählte Barea ist zunächst nicht in der Lage, nach seiner Rückkehr über Marokko zu sprechen, stattdessen erbricht er sich am Familientisch über einem Fleischgericht und legt sich als Kranker ins Bett. In den Folgetagen macht er sich anhand von Zeitungsartikeln mit der Erzählung vertraut, die in der Heimatgesellschaft über das koloniale Desaster zirkuliert. „La guerra –mi guerra– y el desastre de Melilla –mi desastre– no tenían semejanza alguna con la guerra y con el desastre que estos periódicos españoles desarrollaban ante los ojos del lector.“ (Ebd.: 371-372) Die Selbstentfernung ereignet sich hier im Auseinanderfallen seines subjektiven Kriegserlebens und der Erzählung, die sich zur nationalen Geschichte formiert (ebd.: 370-373). Der heimkehrende Barea findet sich darin selbst in einer erzählerischen Struktur wieder, in der er zwar eine Ak-

32 Vgl. Kap. 3.3.2, Fußnote 42.



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teursrolle zugeschrieben bekommt, aber den Sinn seiner Zeichenhandlungen nicht kontrollieren kann, er erkennt sich als Spielball hegemonialer Bedeutungsintentionen: Seine Signifizierungsprozesse werden nicht nur demiurgisch gesteuert, wie die eines Schauspielers durch den Regisseur, auch das Endprodukt, der geschnittene Film, liegt außerhalb seiner Zeichenmacht: „El director le dice [al actor] que se coloque en un lugar determinado, que haga determinados gestos, que diga determinadas palabras. [...] Cuando el actor ve la película terminada, difícilmente se reconoce a sí mismo [...] ha dejado de ser él mismo y es una personalidad distinta, es parte de un argumento, es una persona con una vida artificial que depende de la forma en la cual las escenas que él interpretó se encadenan con las escenas que ejecutaron otros.“ (Ebd.: 371)

Der Griff des Kolonialsoldaten zur Zeitung ist in vielen Erzählungen der Moment, in dem sich Untersicht und Übersicht, subjektive und offizielle Wahrheit, Individuelles und Allgemeines als Teile eines Puzzles erweisen, das nicht zu einem kohärenten Bild zusammengesetzt werden kann. Barea spricht von einem Abgrund zwischen dem Heimkehrenden und den Seinen, vom Riss eines Fadens, der nur behelfsmäßig verknotet werden kann: „Si queríamos reanudar nuestras vidas juntas otra vez, teníamos que atar con un nudo las puntas rotas; pero un nudo no es una continuidad, es la unión de dos trozos con un roto entremedias.“ (Ebd.: 368) Der Knoten im Erzählfaden ist ein passendes Bild für die Unmöglichkeit eines problemlosen Textanschlusses. Die Erzählung der Grenzerfahrung inszeniert sich somit als eine nur behelfsmäßige Anbindung an die symbolische Ordnung der Heimatgesellschaft und verweist auf die Unmöglichkeit einer Rückkehr in das ‚Davor‘. In diesem Bruch zwischen Diskurs und Erfahrung und den Leerstellen im Text formiert sich der Auftrag dieser Rif-Kriegserzählungen: Was Gustavo in La Barbarie Organizada seinen Freunden auf der intradiegetischen Ebene verschweigt, was Barea am Familientisch für sich behält, als er sich übergibt, muss dem Leser in Form der Gesamterzählung übermittelt werden, wobei zugleich ein Verlust und ein Schweigen innerhalb des Textes verbleibt.33 Annual wird somit

33 An dieser Stelle sei auch auf die Rahmenkonstruktion in ¡Kelb Rumi! zurückverwiesen, in der der Erzähler der Binnengeschichte bei seiner Heimkehr zum psychiatrischen Fall wird und die Sprache verliert. Seine Mitteilungen gegenüber dem Arzt und Herausgeber der Geschichte beschränken sich auf die Wiederholung des Doppelsignifikanten ¡Kelb Rumi! und seine Aufzeichnungen versucht er vor dem Zugriff anderer zu schützen. Die Kohärenz dieser Aufzeichnungen, d.h. der discours der Binnenge-



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in Spanien zum historischen Ort, an der eine neue Form des Bezeugens Einzug hält, wie sie Sigrid Weigel (2000) beschreibt: Sie inszeniert „eine Unterbrechung, ein Innehalten oder einen Stillstand der Diskurse“ (ebd.: 119) mittels der „Sprache einer Ungleichzeitigkeit“ (ebd.: 127) und begründet dabei zugleich einen traumatischen Gedächtnisort, der in einem zentralen Bezugspunkt sozialrevolutionärer Identitätspolitik transformiert wird. 4.3.3 Stimme und Verstummen in Ramón Senders Imán (1930) Ein literarischer Text, der diesen Effekt noch stärker erzielt, ist Ramón Senders Imán. Hier werden, wie im 5. Kapitel vorgeführt wird, gerade ein zwanghaftes Sprechen jenseits des Sinns und das Verebben von Sprache zu Kernelementen einer Ästhetik des Absurden. An dieser Stelle sei zunächst nur ein Blick auf den Zusammenhang von sprachlicher Ohnmacht und subalterner Perspektive in Imán geworfen. Imán weist eine komplizierte Erzählsituation auf, bei der Erzählstimme und Fokalisierung stellenweise logisch inkompatibel sind. In der Forschungsliteratur zeigt sich immer wieder das Bemühen, diese Inkonsistenz in irgendeiner Art und Weise aufzulösen.34 Tatsächlich lässt sich die Erzählsituation in Imán mit keiner der überlieferten Erzählformen als typische Korrelationen von Stimme und Perspektive (die auktoriale, die autodiegetische und die personale Erzählhaltung) eindeutig in Einklang bringen. Die besondere Erzählhaltung in Imán lässt sich jedoch über das hier dargelegte Paradox der Erzählung von Sprachlosigkeit erklären; der Roman stellt einen Versuch dar, bestimmte Anliegen, die sich auch in anderen Marokko-Kriegstexten abzeichnen, miteinander zu vereinen. In Senders Roman erlaubt die Entkopplung von Erzählstimme und subalternem Subjekt der Grenzerfahrung – dem Protagonisten Viance –, dass die Zeichenmacht der Hauptfigur hauptsächlich auf ein unbeholfenes Stammeln oder ein schweigendes Achselzucken beschränkt bleibt. Kurze eingestreute Sätze weisen immer wieder auf die Abwesenheit von Viances Erzählstimme, sein verhindertes Sprechen in der Geschichte hin: „Viance mueve la cabeza queriendo decir algo que por fin se calla.“ (Sender [1930] 2008: 131); „Cree que habla a gritos;

schichte, bleibt von seinem Wahnzustand jedoch unbeeinträchtigt. ¡Kelb Rumi! bleibt nicht nur in der Erzähl- und Perspektivenstruktur dem traditionellen Erzählen weitgehend verhaftet, auch die Leerstelle, die sich in der Weigerung der Preisgabe der Erzählung öffnet, wird durch die Binnengeschichte restlos gefüllt. 34 Vgl. z.B. Vasquez 1981; Schneider 1992; López Barranco 1998; Peñuelas 1971: 109119; Carrascer 1970: 21-22, 1992 LXV-LXVI.



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pero la verdad es que no se le oye.“ (ebd.: 141); „Viance quiere hablar, en vano, y el viejo añade: –¿Qué dices?“ (ebd.: 200) etc. Das ‚Beinahe-Sprechen‘, das Ansetzen und Verstummen Viances ist ein ständiger Fingerzeig auf die Unmöglichkeit, die vagen Bedeutungsintuitionen in Bezug auf die Katastrophe in Marokko in irgendeiner Weise mit dem diskursiven Zeichenmaterial in Einklang zu bringen, das in Imán gleichzeitig auf exzessive, erratische Weise im katastrophischen Raum zirkuliert (vgl. Kap. 5.2.3). Viances Stummheit ist jedoch auch direkt bedingt durch seine mangelnde Bildung, arme bäuerliche Herkunft und die militärische Untergebenheit, über die auch seine Fertigkeiten des Schmiedehandwerks nicht hinweghelfen: „[...] no basta ser maestro en un oficio: hay que saber ‚explicarse‘. ‚Si se explica usted, ya será otra cosa.‘“ (Ebd.: 37) Viance kann sich nicht erklären und ist somit der Willkür des Militär-Apparates schutzlos ausgeliefert. Sein gesunder Menschenverstand ist in Marokko den militärischen Schikanen und den Schrecken des Kriegs zum Opfer gefallen, nur in kurzen Ahnungen blitzen übergeordnete Bedeutungen auf, erweisen sich jedoch als nicht konkretisierbar oder artikulierbar: „Quiere reflexionar sobre sí mismo; pero no puede. Se le pierde la idea como si quisiera dilucidar el origen del mundo. Se siente vacío de afectos. No tiene otras simpatías que las de un vegetal por la luz, el agua, la tierra.“ (Ebd.: 43) Die volle Reichweite des Desasters und die politischen Konsequenzen bleiben daher für Viance – anders als für Gustavo in La Barbarie Organizada – im Dunkeln. Das sprachliche ‚Gepäck‘ Viances beschränkt sich auf eine Anzahl wiederkehrender, abgedroschener Phrasen des Soldatenjargons: „‚Un rutina que soy.‘ ‚No te quedan aún que comer pocos trompitos.‘ ‚Respeta a tu abuelo.‘ ‚Mala suerte.‘ Ocho o diez frases así constituyen su bagaje, y lleva cuatro años repitiéndolas, según los casos, con su extraña risa sin objeto.“ (Ebd.: 80) Von der Reflexions- und Sprachverhinderung werden Protagonist und Leser bis zum Ende nicht befreit; auch der Wein, der Viance auf seiner Heimreise im Zug von einem spanischen Bauern gereicht wird, hilft nicht, die Zunge des Soldaten zu lösen: „Ganas de hablar. Torpedad de la lengua y un no saber dónde poner los ojos. Una mosca resbala por el cristal aleteando. Viance la aplasta con el dedo, suelta a reír y se limpia en el pantalón.“ (Ebd.: 335) An Stelle einer Erzählung des Heimkehrenden wird hier, begleitet von ausweichendem Blick und Gelächter, eine Fliege an der Fensterscheibe zerquetscht. Die Tatsache, dass der Roman fast durchgängig den – zumeist einsamen – Erlebnissen Viances folgt und immer wieder Einblicke in seine verstörte Wahrnehmung zulässt, ließe vermuten, dass hier eine personale Erzählhaltung vorliegt, die eine interne Fokalisierung durch die Hauptfigur mit der Stimme eines



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unbeteiligten, heterodiegetischen Erzählers kombiniert.35 Dies ist jedoch nicht der Fall: In Imán gibt es weder einen festen personalen noch auktorialen Blickpunkt, der als Zentrum und Einheit des Sinns fungiert, sondern einen ständigen Wechsel zwischen interner und externer Fokalisierung, der sich manchmal im gleichen Satz ereignet (so z.B. im obigen Zitat: „Cree que habla a gritos; pero la verdad es que no se le oye.“). In diesem Wechsel von Außen- und Innenperspektive wird die Depersonalisierung oder Selbstentfernung, die in obigen Beispielen auf der Ebene der histoire den Akt des Erzählens begleitete, hier im discours beim Lesen erfahrbar. Der Roman weicht jedoch offensichtlich von einer gewöhnlichen personalen oder auktorialen Erzählsituation auch deshalb ab, als sich sowohl im ersten als auch im dritten Teil des Romans ein homodiegetischer Vermittler des Geschehens zu Wort meldet, der als Nebenfigur und Beobachter auftritt und mit dem sich manche Momente externer Fokalisierung in Verbindung bringen lassen: Der Unteroffizier Antonio, der gegenüber Viance die Position eines Vorgesetzten einnimmt und versucht, diesen zu verstehen und ihm seine Geschichte zu entlocken: „Yo quiero que me cuente algunas de las cosas que él podría contar. Quiero averiguar el secreto de su actual impersonalidad fría y endeble que le hace parecer tan lejano de sí mismo. Pero comienza a hablar atropelladamente, con incongruencias, queriéndoselas dar de hombre enérgico sin venir a cuento.“ (Sender [1930] 2008: 66)

Somit wird in Bezug auf die Hauptfigur eine Außenperspektive eingeführt, die ihrerseits subjektiv und in ihrer Reichweite begrenzt ist. Der Ich-Erzähler Antonio könnte als gebildete Figur höheren militärischen Ranges, die sich für Viances Geschichte interessiert, ein Alter Ego des Autors darstellen.36 Über weite Erzählabschnitte unsichtbar, schiebt er sich eher überraschend als Vermittler zwischen Viance und den Leser und stört in gewisser Hinsicht die Transparenz der Figur Viances, die die Momente interner Fokalisierung suggerieren. Denn der subalterne Protagonist steht dem externen Blick Antonios immer wieder als undurchschaubar und anders gegenüber: Dessen Blickwinkel macht die Alterität Viances sichtbar (eine Alterität, die sich zugleich in der sozialen Marginalität und dem historischen Trauma begründet) – jedoch auf sehr ambivalente Weise.

35 Vgl. hierzu Carrasquer 1970: 21-22. 36 Vgl. Carrasquer 1970: 21: „Dentro de la realidad expuesta en la novela, el autor es el confidente del protagonista y se puede dar por supuesto que va reconstituyendo todos los pasos de éste por habérselo contado.“



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Denn er ähnelt gewissermaßen der Perspektive des Intellektuellen, der bemüht ist, sich mit der subalternen Position zu solidarisieren und politisch zu identifizieren.37 Antonio begegnet Viance mit einer Mischung aus Anerkennung und Ablehnung: „Me molesta pensar que lo que siento por Viance es un gran respeto; pero un respeto unido al desprecio que su falta de carácter, su aspecto físico, aniquilado por cinco años de atonía de espíritu, suscitan.“ (Ebd.: 299) Der IchErzähler spiegelt damit auch die Beunruhigung des Lesers in Bezug auf Viances Unzugänglichkeit wider, eine Reaktion, die zwischen Betroffenheit, Unverständnis und ungeduldiger Abneigung gegenüber dessen stumpfer Unbeholfenheit schwankt: „Le hablo y a veces tarda en contestar o no contesta.“ (Ebd.: 79) Über die manchmal erfolglosen Versuche Antonios, Viance zu durchschauen, kommt gewissermaßen das Problem des Intellektuellen als „Bauchredner“ des Subalternen ins Spiel, das mit der literarischen Inszenierung subalterner Erfahrung verbunden ist.38 Die Erzählkonstruktion in Imán erlaubt damit, das Desaster als subjektive Erfahrung des Subalternen nachvollziehbar zu machen und gleichzeitig die Transparenz, die eine personale oder autodiegetische Erzählsituation nahelegen würde, in Frage zu stellen. In intradiegetischen Kommunikationssituationen zeigt sich auch hier, wie anders die Berichterstattung des traumatisierten Überlebenden tatsächlich ausfallen würde: „El ayudante cura y va preguntando. Pero se ve que no le satisfacen las respuestas de Viance, demasiado vagas y concisas: ‚Hambre, sí, señor, no falta... Claro, en Annual... Monte Arruit creo que se ha entregado; yo no entré allí, pasé dando un rodeo y no me pu-

37 Die ambivalente Position dieses Ich-Erzählers, der gegenüber den einfachen Soldaten die Befehlsgewalt verkörpert und als Vertreter militärischer Werte agieren muss, sich jedoch mit ihrem Erleben identifiziert und somit an dem Sinn des ganzen Kriegs zweifeln muss, wird in den wenigen Szenen sichtbar, in denen Antonio als handelnde Figur auftritt. So bemerkt Antonio das Fehlen eines seiner Soldaten und findet den Mann schließlich dabei, wie er einem sterbenden alten Berber die Wunden versorgt und diesem in „krampfartigen Schreien“ zugesteht: „Vosotros tenéis la razón!“ Als der Soldat seinen Vorgesetzten entdeckt, versucht er sich zu rechtfertigen: „–Un hombre que va a morir tiene derecho a que le den la razón. ¿No es verdad? Y lo ha agradecido. ¿Ha visto usted cómo lloraba, sargento?“ Antonio wahrt, entgegen seiner spontanen Zuneigung für den Soldaten, die Distanz: „Yo querría abrazar al cabo, pero sus mismas disculpas me lo impiden. –No lloraba de gratitud –le digo sin la menor sequedad–, sino del escozor del yodo en la garganta.“ (Ebd.: 316-317) 38 Vgl. Steyerl 2008: 11: „Sie [die Intellektuellen] spielen eine Art Bauchredner für unterprivilegierte Gruppen, wobei sie gleichzeitig so tun, als wären sie gar nicht da.“



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de quedar a la mira... Como moscas, sí, señor... Eso pensaba yo, que no moriría de estas heridas.‘“ (Sender [1930] 2008: 262)

Es ist gerade Viances Mangel an Worten von Pathos und Entrüstung, der das ganze verstörende Ausmaß des Desasters, wie es auf der ersten Erzählebene ausgebreitet wird, als Erfahrung machtloser Soldaten spürbar macht.39

39 An dieser Stelle sei auf einen Text verwiesen, der das Desaster von Annual aus der Perspektive eines Überlebenden dokumentiert, und der m.E. einige auffällige Ähnlichkeiten mit Senders Imán aufweist: Annual (1922) von Eduardo Ortega y Gasset. Von Interesse ist dabei die Erzählsituation dieses dokumentarischen Textes, die – neben zahlreichen inhaltlichen Parallelen – vermuten lässt, dass er Sender bei dem Verfassen seines Romans vorlag. Auch wenn in Annual nur ein Ich-Erzähler explizit zu Wort kommt, werden im Grunde genommen zwei Erzählstimmen eingeführt: die eines Reporters, Chronisten oder Vermittlers, der als Ich auftaucht und mit dem Autor zu identifizieren ist, und die des einfachen Soldaten Bernabé Nieto, eines Überlebenden der Katastrophe von Annual, dessen Geschichte den ganzen ersten Teil des Buchs füllt. (Die zweite Hälfte ist eine Sammlung von Reportagen oder Chroniken des Autors, die über die journalistischen Gemeinplätze der Marokko-Berichterstattung kaum hinausgehen.) Die Erzählsituation des ersten Teils wird für eine bestimmte Form des testimonio typisch, die sich später als eigenständiges literarisches Genre etabliert: Der Autor im traditionellen Sinne verschwindet, bzw. nimmt die Funktion eines Herausgebers oder Aktivators an, der eine andere Stimme zum Sprechen bringt, die alleine nicht über das ‚kulturelle Kapital‘ verfügen würde, das literarische Feld zu betreten (Beverley 2004: 35). Annual unterscheidet sich zwar insofern von dieser Textform (und ähnelt damit Imán), als dass die Geschichte des Überlebenden in der dritten Person erzählt wird, der Text also nicht die wörtliche Erzählung aus dem Mund des Subjekts der Grenzerfahrung inszeniert. Er behauptet aber im Widerspruch dazu das Anliegen zu verfolgen, den authentischen Erzählstil des einfachen Soldaten zu erhalten: „[...] inicio este libro con el relato verídico, en el que he procurado conservar la originaria sencillez y espontaneidad que hace un soldado de sus desventuras en la derrota de Annual y de los terribles sucesos que presenció.“ (Ortega y Gasset 1922: 7) Dabei zeigt sich hier auch ansatzweise eine Abwendung vom objektiven historischen Wahrheitsbegriff hin zum moralischen Gewicht einer subjektiven Realität, die sich über die Einschreibung und den Schmerz begründet: „La descripción del conjunto de una batalla será siempre, tan sólo, unas líneas para la Historia, frías y sin alma. Pero la manera como en la sensibilidad de un soldado han dejado un surco imborrable los hechos que por sí mismo vió, los dolores que sufriera y los incidentes que en torno a él se desarrollaron, pueden aspirar a dar una más fuerte y exacta impresión que nos acerque



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Auch mit anderen Mitteln wird innerhalb des Romans das Thema von Ohnmacht und Dringlichkeitserzählung ins Spiel gebracht; zweimal fällt der Blick hier auf Graffiti, die von Sterbenden hinterlassen wurden: „Horas después el viejo ha muerto, y con un lápiz alguien –¿él mismo?– ha escrito en la pared, al lado: ‚Aquí ha muerto Juan García Soler, vinatero de Alicante, después de ver asesinar bilmente en sus propios ojos a toda su familia‘. Viance raspa con la uña el rabo de la b y recoge los cartuchos que llevaba en el cinto.“ (Ebd.: 241-242)

Das Graffito kann vielleicht als die subalterne Form des öffentlichen Textes par excellence verstanden werden. Die Schriftzüge, insbesondere der Rechtschreibfehler, fungieren hier als Tür zu einer anderen Geschichte, die ungeöffnet bleibt, bzw. nur einen kurzen Einblick erlaubt: Die eines ungebildeten Mannes, der sein Glück versuchte, indem er als Kantinenwirt im Kolonialkrieg Wein verkaufte. Die andere Inschrift, mithilfe eines Nagels in einen umgekippten Trog gekratzt, ist aufgrund des Tods des Schreibenden unvollständig geblieben: „‚Soy de la segunda y me llamo Ramir...‘ No dice más.“ (Ebd.: 246) Auch hier reagiert Viance mit einem Akt der Pietät, indem er den Namensschriftzug ergänzt: „Se arrodilla, y con el mismo clavo acaba de escribir el nombre. Luego se va.“ (Ebd.: 247) In Imán werden somit innerhalb des Textes ‚Schattenerzählungen‘ gestreut, die durch ihre abwesende Präsenz beunruhigen. Als solche tritt auch ein Brief in

todo lo posible a la realidad.“ (Ebd.) In Ortega y Gassets Erzählung wird diese Einschreibung jedoch am Ende gewissermaßen ausradiert, hier verbleibt kein Trauma, wobei die hastige Normalisierung nach so viel Leid und Horror nicht wirklich über– zeugt: „De todo ello sanó rápidamente el protagonista de este relato, y es hoy de nuevo en la tierra africana un bravo soldado, que ha superado el temor a los mayores riesgos.“ (Ebd.: 102) Die Beziehung zwischen dem Herausgeber und dem eigentlichen Subjekt der Erzählung ist hier ambivalent, da sie zwar eine Geste der Anerkennung der Kriegserfahrung des einfachen Soldaten beinhaltet, in dieser Geste jedoch das Machtgefälle wiederholt, das dessen Sprachlosigkeit ausmacht. Der HerausgeberAutor begegnet der Erzählung des ‚Subjekts der Einschreibung‘ wie der Naturwissenschaftler einer seltenen Pflanze, die es so authentisch wie möglich zu konservieren gilt: „Yo me acerco a este relato con el respeto admirativo que un naturalista al disecar entre dos hojas de papel una flor rara y perfumada. No me perdonaría a mí mismo el delito de alterar la verdad y descomponer las puras y espontáneas líneas del relato [...].“ (Ebd.: 17-18) Die Erzählsituation, die hier vorliegt und für das Problem der Inszenierung eines subalternen Erzählersubjektes bezeichnend ist, wird in Imán, wie oben dargestellt, problematisiert.



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Erscheinung, den ein verletzter Soldat Viance im Moment des Untergangs der militärischen Stellung übergibt (ebd.: 152). Er bleibt verschlossen, doch die merkwürdigen Verzierungen der Initialen des Adressaten und die darauf gemalte Blume verweisen auf etwas, das als menschliche Erfahrung der kollektiven Geschichte unzugänglich zu werden droht. Das Gekrakel an den Wänden, Viances inkohärentes Gestammel sind die Gegenerzählungen von Dringlichkeit, die in bestimmter Hinsicht ausbleiben. Der Roman zeigt so mit Deutlichkeit auf die Lücke, die in der symbolischen Struktur der kolonialen Erzählung verbleibt. Sie begründet die Notwendigkeit der Erinnerung als Aufgabe des Zeugnistextes und drängt dabei, wie sich in der folgenden Textanalyse zeigt, auf die Veränderung des politischen Systems und eine Neuformulierung des Nationsverständnisses.

4.4 ANKUNFT : P OLITISCHE E RMÄCHTIGUNG UND G EDÄCHTNISSTIFTUNG IN E LISEO V IDALS ¡¡¡L OS MUERTOS DE A NNUAL YA SON VENGADOS !!! (1932) 4.4.1 Wenn die Geschichte die Erzählung überrascht Die meisten kritischen Kriegserzählungen, die vor dem Beginn der Republik verfasst wurden, sind nicht nur als Zeugnisse einer historischen Erfahrung, sondern, wie beschrieben, als Grundlage eines politischen Projektes zu verstehen. Das Erzählen selbst präsentiert sich teilweise als eine Form der politischen Ermächtigung, gleichzeitig ist jedoch das Eingehen der Texte in den Prozess gesellschaftlicher Kommunikation von den textexternen Machtverhältnissen abhängig. Wie erwähnt, versuchte man insbesondere während der Diktatur Primo de Riveras mittels verschiedener Zensurmaßnahmen, die kritische Darstellung des Geschehens im Protektorat und der Verantwortungen einzelner militärischer und politischer Entscheidungsträger zu verhindern (vgl. Kap. 1.2.1). So erklärt sich, dass manche dieser ‚Gegenerzählungen‘ zwar (gemäß den paratextuellen Angaben) während des Kriegs entstanden, aber aufgrund der politischen Umstände erst kurz vor oder nach dem Beginn der Republik publiziert wurden, wie sich am Bespiel von Fermín Galáns La Barbarie Organizada bereits zeigte: 1926 im Gefängnis verfasst, wurde es erst 1931, nach der Exekution des Autors und dem Beginn der Republik veröffentlicht. In vielen Kriegserzählungen wird in den Paratexten darauf verwiesen, dass das Schreiben und die Redaktion der Erzählungen sich in mehreren Schritten vollzogen, und die Texte in ihrer Rohform auf Soldatennotizen aus dem Krieg beruhten. Sie weisen daher oft palimpsestartige Strukturen auf. Die Endredaktion und Publikation wird in man-



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chen Fällen erst durch die politische Veränderung erreicht. Andererseits ist auch davon auszugehen, dass nicht nur die Kolonialkriegserfahrung als Grundlage für die Herausbildung einer regimekritischen Position diente, sondern auch, dass die republikanischen Umwälzungen wiederum zur erzählerischen Uminterpretation der Kriegserfahrung beitrugen.40 Die Tatsache, dass einige kritische Erzählungen über den Marokko-Krieg nach 1930 erschienen, erklärt sich insofern zum einen aus der Steuerung des Publikationsgeschehens durch politische Faktoren, zum anderen aus dem Einfluss der Politisierung auf die Vergangenheitsdeutung. Der Text, der im Folgenden im Mittelpunkt steht, verdeutlicht dies: In Eliseo Vidals ¡¡¡Los muertos de Annual ya son vengados!!! (1932) wird das Problem von Zensur und Behinderung des Erzählprozesses thematisiert und dazu anschaulich vor Augen geführt, wie der Beginn der Republik eine Neuformulierung der nationalen Narration bedeutete, die nun die koloniale Erfahrung des einfachen Soldaten und die Toten von Annual in das kollektive Gedächtnis zu integrieren versprach. Vidals Erzählung, die unter anderem ausführlich von Fermín Galán und dem Aufstand von Jaca berichtet (vgl. Kap. 4.2.1), inszeniert den Beginn der Zweiten Republik als Moment der Erlösung vom Trauma des politischen und gesellschaftlichen Ausschlusses, das die Kolonialkriegserfahrung des Afrika-Soldaten bedeutete, und in dieser Richtung ist auch die Begeisterung über die vollzogene Rache im Titel zu deuten. Wie der historische Lauf der Dinge zeigen sollte, galt dieses Erlösungs- und Befreiungsversprechen der Republik jedoch schließlich nicht für die Marokkaner als Kolonisierte (vgl. hierzu auch den Epilog). Die Erzählung, die sich selbst wiederholt als „novela“ bezeichnet, zeigt die typische strukturelle Hybridität der Kriegstexte. Hier wird die autobiographische Erzählung direkt mit dem politischem Pamphlet verknüpft und jede narrative Episode mit einem politischen Fazit geschlossen: Am Ende der einzelnen Kapitel wird im wörtlichen Sinne ein Strich gezogen und das Erzählte in seiner Bedeutung ideologisch und programmatisch fixiert. Zugleich legt der Text eine starke Emphase auf die Subjektivität der Erfahrungserzählung und versieht aus dieser Position den gesellschaftspolitischen Diskurs mit einem hohen Maß an emotionalem und moralisierendem Pathos – von Entrüstung, Schmerz und Vergeltungswut gegenüber der Monarchie.41

40 Dies zeigt sich z.B., wenn man die frühen journalistischen Beiträge Ramón Senders aus den 1920er Jahren mit seinem Roman Imán von 1930 vergleicht (mehr dazu in Kap. 5.2). 41 Diese Emotionalität wird im Text selbst reflektiert: „Seguramente que a alguien le llamará la atención mi vehemencia. Y es que cuando hablo de estos asuntos, mi espíri-



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¡¡¡Los muertos de Annual ya son vengados!!! weist dabei eine Besonderheit auf, die hier von speziellem Interesse ist: Der Text kommentiert seine eigene Entstehung als Prozess mehrfachen Neuschreibens und erzählt die historische Gratwanderung mit, innerhalb derer die antihegemoniale zu einer hegemonialen Erzählung mutiert. Dabei vollführt er im Großen und Ganzen eine Bewegung von der Inszenierung der Sprachkrise hin zu einer aufdringlichen Rhetorik des Triumphes, wie schon die sechs Ausrufezeichen des Titels zeigen. Der Titel drückt dazu ganz treffend das Problem einer verspäteten Gegenerzählung aus, die als Zukunftsprojekt gestartet wurde, in der letzten Phase der Textentstehung jedoch zur Vergangenheit geworden ist: Wenn die Toten von Annual schon gerächt sind, dann hat sich das ursprüngliche Anliegen des Textes erledigt, die ‚nachzeitige‘ Überschrift gesteht dies gewissermaßen ein. An ¡¡¡Los muertos de Annual ya son vengados!!! lässt sich paradigmatisch zeigen, wie in mancher Kriegsliteratur historische Parameter die strukturelle Dimension der Erzählung determinieren: Die gesellschaftliche Reintegration der marginalisierten Marokko-Erfahrung soll in erster Linie durch die textexterne politische Veränderung erfolgen. Das Problem, das sich daraus ergibt, lässt sich mit Reisings Worten zusammenfassen: „Once these texts open up channels outside of themselves via such necessary social gesturing, their intranarrative structures and logics are themselves opened up to possibilities probably impossible to foresee, and certainly impossible to contain.“ (Reising 2002: 325) Die Erzählung hat im Grunde genommen ein Anliegen – die „Rache für die Toten von Annual“ –, das sich noch während des Prozesses des Erzählens durch den politischen Wandel erfüllt zu haben scheint; die Überraschung darüber ist dem Text anzumerken. Es ließe sich ja zunächst annehmen, dass das Erreichen des Ziels, das sich das Erzählprojekt so deutlich gesetzt hat, eine erfolgreiche Schließung der textinternen Sinnstruktur bedeutet. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn der wesentliche Motor der Dringlichkeitserzählungen ist, wie oben im Anschluss an Beverley beschrieben, die Notwendigkeit, das Schweigen zu durchbrechen, der Protest, die „bittere Stimme“. Sie verlangen als Endpunkt den Blick auf den noch ausstehenden Kampf, nicht die Feststellung, dass sich dieser bereits außerhalb des Textes erledigt hat. Es ist zunächst bezeichnend, dass ¡¡¡Los muertos de Annual ya son vengados!!! anonym, unter dem Namenssubstitut El joven del Rif publiziert wurde. Zum Zeitpunkt der Publikation hat sich, wie man annehmen kann, der praktische

tu se exalta y no puede detenerse en el justo medio que quisiera, puesto que mi intención es tan solamente el confeccionar un sencillo reportaje, y, sin darme cuenta, voy poniendo todas mis exaltadas e idealistas reflexiones.“ (Vidal 1932: 181)



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Grund, den es dafür ursprünglich gegeben haben mag, zugunsten des symbolischen Wertes aufgelöst. So wird im Vorwort zwar auf die politische Verfolgung angespielt, die der Autor während des Schreibprozesses zu erleiden hatte, die Anonymität der gegenwärtigen Publikation jedoch anders begründet: „Aunque se esconda mi modestia en un seudónimo, sé que soy conocido. No es mi fin el crearme fama.“ (Vidal 1932: 13) Tatsächlich handelt es sich nicht um ein Pseudonym, das eine falsche Individual-Identität vorgibt, sondern eine Art Variable, die die Austauschbarkeit und Kollektivität des Sprechersubjekts betont: „No soñó su autor con la creencia de haber hecho algo magno, extraordinario. ¡No! Es tan sólo uno más.“ (Ricardo Márquez im Vorwort zu Vidal 1932: 5) Es ist typisch für die Politisierung der Marokko-Erfahrung in der Testimonialliteratur, dass das Ich dem gesellschaftlichen Diskurs zwar eine individuelle Wahrheit entgegenstellt, dass es jedoch gleichzeitig für eine gesellschaftliche Gruppe – die jungen spanischen Rif-Soldaten – spricht: „The trick would seem to be to finding a commonality in singularity [...] and using that commonality politically as the basis for a new historical bloc capable of taking on reactionary hegemony.“ (Beverley 2004: 27) Da dieser neue historische Block bereits die Gegenwart der Publikation von ¡¡¡Los muertos de Annual ya son vengados!!! bestimmt, bekleidet sich die anfängliche Protest-Position im Vorwort nun mit Bescheidenheitsrhetorik. Betrachtet man die Ebene der (autobiographischen) histoire, so erscheint hier der Prozess der politischen Ermächtigung als kontinuierliche lineare Bewegung. Der Text lässt sich grob in zwei Teile teilen: Der erstere, längere hat Marokko in den letzten beiden Kriegsjahren (1926-27) zum Schauplatz und erzählt, wie die Kriegserlebnisse schrittweise mit einer politischen Bewusstwerdung einhergehen, die von der unkritischen Bejahung des Militärdienstes für die Monarchie aus der Perspektive des noch naiven Soldaten ausgeht und zu einer immer stärkeren Ablehnung des Kolonialkriegs, des Nationsverständnisses und der politischen Strukturen führt, die er impliziert. Der zweite Teil gibt die politischen Ereignisse nach dem Krieg wieder: Er erzählt von der Teilnahme des Autors an der Militärrebellion Fermín Galáns in Jaca als logische Konsequenz der Kolonialkriegserfahrung, die daraus resultierende Verbannung des Autors auf die Islas Chafarinas und schließlich die Anfänge der Zweiten Republik als Befreiung. Diese Chronologie der Ermächtigung erscheint in dieser Hinsicht kohärent, sie wird jedoch von komplizierten strukturellen Verwerfungen und (ideo)logischen Widersprüchen durchzogen, die die Geschlossenheit des Sinns unterminieren. Diese Komplexität ist, wie man aus den paratextuellen und autoreflexiven Kommentaren zur Textentstehung rekonstruieren kann, wohl der dreifachen Neu- oder Umschreibung der Erzählung geschuldet, die eine vielschichti-



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ge Zeit- und Perspektivenstruktur hervorgebracht hat. Zweimal habe man ihm, so der Autor und Erzähler, seine Manuskripte gestohlen und damit die – mühsam errungene – Sprachmacht wieder zu entreißen versucht: „¡Cuántas víctimas habré dejado de poner! Tal vez los que me los robaran creyeran que lograrían en mí el silencio. No ha sido así; conservo en mi mente todos los episodios, por remotos que sean; la memoria de ellos colaboró conmigo para escribir por tercera vez esta obra. Fui víctima del robo, pero triunfé al fin con los mismos argumentos.“ (Vidal 1932: 111)

Der Verlust, gegen den die Dringlichkeitserzählung ankämpft, misst sich hier direkt an der Anzahl der Toten, die durch den Diebstahl der früheren Versionen möglicherweise in Vergessenheit geraten sind. Gleichzeitig wird jedoch versichert, dass weder das Episodische noch Argumentative unter solchem Raub gelitten habe. Das Ergebnis legt allerdings das Gegenteil nahe: Es ist eine Art unfreiwillige Palimpsest-Konstruktion, eine verworrene Textur, in der sich die verschiedenen Perspektiven und Situationen des Erzählens aus vorherigen Textversionen überlagern. Dabei entsteht ein Amalgam oft widersprüchlicher Positionen: Die politische Realität der historischen Erzählgegenwarten hat hier jeweils die Bedeutungen der erzählten Ereignisse und der verwendeten Begriffe (wie den der venganza, vgl. unten) innerhalb desselben Textes verändert. Es zeigt sich so, wie die Deutung der Kriegserfahrung im Prozess der Erzählung und Geschichte selbst umstrukturiert wird. Gerade weil das erzählerische Projekt sich in mehreren Schritten des Neuschreibens vollzog und so stark von textexternen Faktoren bestimmt war, ist die Sinnstruktur hier so konfliktiv. Auf die verschiedenen Erzählzeitpunkte wird bereits im Vorwort von Ricardo Márquez Bezug genommen. Zum einen wird hier der Text als „narración de urgencia“42 par excellence ausgewiesen, indem auf die drohende Todesstrafe des Autors verwiesen und damit die stilistische Schwäche entschuldigt wird: „Pienso que es atrevimiento tacharla de poco prosódica cuando al escribirla se hallaba el autor bajo la amenaza de una pena de muerte [...].“ (Ricardo Márquez im Vorwort zu Vidal 1932: 10) Wie sich aus dem letzten Teil der Geschichte schließen lässt, ist diese Erzählsituation mit dem Moment zu identifizieren, da Eliseo Vidal aufgrund seiner Teilnahme an der von Fermín Galán angeführten Sublevación de Jaca von 1930 im Gefängnis sitzt und sich im unmittelbaren politischen Kampf um Anhörung befindet (Erzählsituation 2). Zum anderen erklärt der Verfasser des Vorwortes die erzählerische Notsituation unter den gegenwär-

42 Vgl. Kap. 4.3.1, Fußnote 29.



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tigen Zeitumständen – der linksregierten Republik – für behoben (Erzählsituation 3), die Gegenerzählung erscheint damit plötzlich anachronistisch: „Parece anticuada, fuera de su centro, pero que, en realidad ha sido actualidad hasta hace pocos días, pocas horas, pocos minutos, después de varios siglos de existencia.“ (Ebd.: 7) In der Überlagerung der historisch-politisch bedingten Erzählstandpunkte – von Verbitterung und Jubel – erscheint die Sinnstruktur damit tatsächlich merkwürdig dezentriert. Eine weitere Erzählperspektive scheint immer wieder durch, die sich als erste Schicht des Palimpsests ausfindig machen lässt: Sie ist die des Soldaten, der während des Kriegs seine Erlebnisse in Form von Tagebuchnotizen zu Papier bringt (Erzählsituation 1). Diese Position wird retrospektiv als die des Subalternen gedeutet; sie ist durch Repression, Furcht und den Mangel eines politischen Bewusstseins geprägt. Die Erzählsituation taucht besonders zu Beginn, aber auch an späteren Stellen der Erzählung auf und wird manchmal aus der Perspektive späterer Erzählzeitpunkte kommentiert: „Habrán notado mis lectores que todo cuanto refiero envuelto está en temor. No hay que extrañarse. Soy un recluta. [...] No sé más que lo que me deja vislumbrar mi escasa cultura. [...] tengo miedo de hablar..., confieso mi cobardía de recluta, de principiante, de colegial en la carrera de las armas. Pasado algún tiempo, quizá mi observación me ilustre, y entonces ya podré hablar, podré expresarme con toda claridad. Hoy no puedo.“ (Vidal 1932: 37)

Tatsächlich steigt Vidal im Verlauf seines Dienstes in Marokko in der militärischen Hierarchie auf, wie sich ganz nebenbei zeigt: An späterer Stelle heißt es z.B., er predige stets „seinen Soldaten“ die „unbedingte aufopfernde Liebe zur Kaserne“ (ebd.: 156). So liest sich ¡¡¡Los muertos de Annual ya son vengados!!! stellenweise als eine humanistisch-pazifistische Antikriegserzählung und reproduziert an anderen Orten wiederum getreu die Argumentationsmuster des afrikanistischen Militarismus (vgl. insbes. ebd., 124-127). Hier zeigt sich, wie sich die Gegenerzählung im Moment der Erfüllung ihrer hegemonialen Ansprüche in eine Erzählung der Zustimmung zur Macht verwandelt. Vidal versucht in einem schwierigen Spagat eine kriegskritische Position mit einer grundlegenden Wertschätzung des Militärs, besonders des Afrika-Heers, zu vereinen, das er, so erscheint es, auch gegenüber dem Anti-Militarismus der radikalen Linken zu verteidigen versucht. So unterbreitet er zahlreiche Vorschläge, um dem Militär als „ejército popular“ eine zentrale Position und einen wichtigen (zivilen) Nutzen in der neuen spanischen Republik zuzuweisen.



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Die neue Zustimmung zur Macht manifestiert sich insbesondere in der Bejahung einer ‚republikanischen‘ Variante des Kolonialismus in Afrika, die in erster Linie als ein umfassender Erziehungs- und Bildungsauftrag verstanden wird („enseñanzas de civilización y de paz eterna“, ebd.: 121). Zugleich wird jedoch eingeräumt, dass das Militär bereitstehen müsste, „para sofocar cualquier sublevación o desmán“ (ebd.: 122). Im Sinne der Entwicklung dieser politischen Position hat sich in der historischen Realität gezeigt, dass sich das Leben im Protektorat auch unter dem Banner der linksregierten Republik für die einheimische Bevölkerung nicht viel ‚menschlicher‘ oder freiheitlicher gestalten würde (vgl. hierzu den Epilog). Charakteristisch für die neue hegemoniale Position des republikanischen Marokko-Textes ist, dass dieser nun, im Namen der jungen modernen Demokratie, erneut in den kolonialen Wettstreit mit Frankreich und England tritt, und Spanien als „modelo de tolerancia, humanidad a grandes naciones colonialistas“ (ebd.: 123) zu sehen wünscht. In diesem Sinne wird auch dafür plädiert, Tanger den internationalen Status zu entziehen und dem spanischen Protektorat einzuverleiben. Politisch positioniert sich Vidal in der Erzählgegenwart der jungen Republik als gemäßigter Demokrat und damit weit weniger linksradikal als Fermín Galán, dessen engster Vertrauter und Sekretär er gewesen sein will. Im Epilog seiner Marokko-Kriegserzählung versucht Vidal in Bezug auf seine politische Position abschließend Klarheit zu schaffen und weist sie Anschuldigung zurück, er sei Kommunist. Dort dementiert er schließlich auch die anarchistische Position Galáns – die aus dessen eigenen Schriften deutlich hervorgeht. Das Palimpsest all dieser konfliktiven diskursiven und ideologischen Standorte lässt sich so auch über die Erfahrungserzählung nur schwer integrieren, die die Differenz in der Identität narrativ zu erfassen versucht: „Sonrío solo al pensar en la transformación que se va operando en mí de poco tiempo a esta parte. No soy el mismo.“ (Ebd.: 105)43 4.4.2 Erzählen als Rache: Die narrative Integration der Toten von Annual All diese Varianten der Neuschreibung werden jedoch einem übergeordneten Narrativ unterstellt – dem der Rache für die Toten von Annual, das sich als leitende Obsession durch die Erzählung zieht: „Annual, suelo mudo, donde duer-

43 So auch z.B ebd.: 81: „No puedo dar más detalles. Sea el lector el que comente. Más diría...; pero lo omito; el que lea este libro, en el transcurso de sus páginas, entenderá por antelación lo que el autor ha querido callar.“



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men unos huesos que piden venganza. Doquiera que me encuentre, allí oigo este nombre: Annual; parece lo llevo escrito en la frente con caracteres de fuego.“ (Vidal 1932: 145) In welcher Weise und an wem diese Rache vollzogen werden soll, ist jedoch nicht eindeutig. Das Schwanken der Sinnstruktur, die der Begriff der Rache aufruft, verweist auf einen Wechsel der Zuschreibungssysteme von Opfern und Tätern. An der Bedeutungsveränderung des Rachebegriffs in ¡¡¡Los muertos de Annual ya son vengados!!! zeigt sich exemplarisch die Schwächung des kulturellen Antagonismus und die Verhärtung der innergesellschaftlichen Grenzen, die sich im Zusammenhang mit dem Marokko-Krieg vollzieht. Die von den Medien im Anschluss an Annual viel beschworene venganza impliziert in erster Linie die Vorstellung eines erlittenen Unrechts (des „Verrats“, vgl. Kap. 2.3.2), das den Spaniern als protectores im Sommer 1921 durch die Truppen Abd-el-Krims zuteilwurde und mobilisiert für den gewaltsamen Gegenschlag im Rif. Tatsächlich lässt sich zwischen den Zeilen lesen, dass dies der ursprüngliche Grund für Vidals Kriegsteilnahme ist – auch wenn diese im Nachhinein einem veränderten ‚Racheprogramm‘ unterstellt wird, die der späteren Erzählsituation (2) entspringt.44 Dieses vollzieht sich im dokumentarischen Schreiben selbst: einerseits in der Aufklärung und öffentlichen Anklage der politischen Entscheidungsträger und Schuldigen des Desasters innerhalb der spanischen Gesellschaft (allen voran des Königs), die sich dank ihrer Privilegien der Verantwortung entziehen, andererseits im Einbezug der Gefallenen von Annual in die nationale Erzählung: „El final de mis anotaciones no era otro que vengar a los de Annual, recordándolos, haciéndolos cosa de actualidad y poniendo al descubierto a los culpables de esta catástrofe [...]“ (ebd.: 21); „¡Si pudieran hablar los de Annual!...“ (Ebd.: 23) Diese Form der Rache impliziert eine ganz andere Lagerung der Schuld und des Freund-Feind-Schemas: „Los moros no son dignos de odio; son aquellos que fueron los autores de estos estragos.“ (Ebd.: 41) Es ist bezeichnend, dass hier der gewaltsame Zusammenstoß bei Huesca und das Maschinengewehrfeuer der monarchietreuen Truppen auf die aufständischen Soldaten von Jaca als eine Neuauflage des Desasters von Annual bezeichnet werden (ebd.: 234). Fermín Galán – von Vidal mehrfach als moralische Autorität zitiert – lenkt seine Sterbebereitschaft vom Krieg auf die Revolution um: „¿Qué importa morir por los demás? Este es el lema –me dice– de toda mi vida.“ (Ebd.:

44 Gemäß dem Programm zu Beginn der Erzählung scheint es, als wäre das Motiv für die Teilnahme am Krieg schon immer das Racheprojekt im letzteren Sinne gewesen. Das lässt sich jedoch weder mit der anfänglichen Monarchie-Treue des Soldaten Vidals in Einklang bringen noch mit der Darstellung eines kontinuierlichen Prozesses der politischen Bewusstwerdung als Folge der Kriegserlebnisse selbst.



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211) Die Rache wird zu einer bedeutungsoffenen Kategorie, die vom Kolonialkrieg auf das Projekt des Umsturzes der Diktatur und Monarchie verschoben wird – und so auch die vergüenza, die sich in ihrer Bedeutung von der kollektiven ‚Schmach‘ der Niederlage auf die ‚Schmach‘ der Straffreiheit der politischen Verantwortlichen und der Kontinuität ihrer Macht verlagert. Ein direkter Umschlag des kriegslegitimatorischen in das revolutionäre Rachekonzept findet sich in dem Moment, als der Zeitpunkt des Kriegsendes erreicht ist: „Firmada la paz, mis ansias de venganza por medio de las armas han quedado nulas. [...] Pero acude a mi mente una idea: yo mismo me pregunto: ¿Cuál es la causa o engendro de esta pasada guerra de África? ¿Por qué ocurrió el desastre del 21? ¿Quién es el responsable de ello? ¿El Gobierno de entonces? O ¿acaso el rey Alfonso? [...] He de valerme de todos los medios lícitos a mi alcance para, en todo lugar y momento, llevar a cabo el propósito de este mi libro, o sea el vengar de la manera más enérgica, cumplida y ejemplar a los muertos de Annual.“ (Ebd.: 173)

Dabei verwandelt sich die Frage der Bewältigung des kollektiven Traumas von Annual zu einer Frage der Neubegründung des politischen Systems („hacer una España nueva“). Der Fortbestand der Monarchie ist gleichbedeutend mit dem Vergessen und der unbearbeiteten Schuld. In ihr setzt sich die Marginalisierung der Gefallenen und überlebenden Soldaten fort, sie steht für die Unabschließbarkeit des Traumas. Die Toten von Annual werden bei Vidal somit zu Wiedergängern, die nach Erlösung verlangen: „Los que quieran echar sobre esos muertos la tierra del olvido, sepan que no hay bastante tierra ni en España ni en Marruecos para cubrirles. Por bajo el sudario espantable impunismo sale su carroña como una acusación, como un interrogante, como una amenaza. Veámosles: contraídos sus músculos, despedazados, pidiendo en sus muecas horribles a sus hermanos la necesaria venganza. [...] El programa de la revolución expuesto por el capitán caudillo [=Fermín Galán] me llena de entusiasmo, pues lo estimo como una redención, la más total y perfecta de España.“ (Ebd.: 228)

Die Toten von Annual kommen erst durch die demokratische Umverteilung der Macht und im Akt der neuen Verfassungsgebung zur Ruhe. „Los muertos del 21 ya empiezan a ser vengados; en la Presidencia del Congreso habla un socialista, que fue presidiario del año 17 en Cartagena [...].“ (Ebd.: 280) Der Begriff der venganza ist hier jedoch letztendlich nicht mehr passend, da er die Konnotation einer (gewaltsamen) Rechtsausübung jenseits demokratischer Legitimität und



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staatlicher Institutionen aufruft („La venganza es el placer de los dioses“, ebd.: 283). 4.4.3 Von der Sprachkrise zur republikanischen Triumphrhetorik Im Bewusstsein struktureller und argumentativer Inkonsistenzen stellt sich der Akt des Erzählens selbst immer wieder als Versuch aus, den Geschehnissen eine sinnvolle Ordnung zuzuweisen. Eingestreute Kommentare zeugen von Konfusionen und Zweifeln in Bezug auf die Kohärenz der Erzählung: „Muy a menudo, al dar mis opiniones, pienso que tal vez vaya equivocado; pero en la práctica me he convencido de que, salvo alguna excepción, estoy lógicamente en lo cierto.“ (Vidal 1932: 205) Das Bemühen um Rationalität und Logik, die der Text sich so emphatisch zum Programm macht, steht in auffälligem Kontrast zur chaotischen Textstruktur: „Me he separado casi por completo del argumento de mi libro, pero no del todo. Para seguir el hilo de mi libro tengo que estudiar por partes y detalladamente cada uno de los componentes de mis argumentos.“ (Ebd.: 128) Vorübergehend und besonders zu Beginn wird der Schreibprozess in Form von autoreflexiven Thematisierungen zum Teil der darstellenden Erzählerrede. Hier wird der discours selbst zur histoire, die Schlacht wird beim Erzählen geschlagen in Form eines „performative writings“ im Sinne von Sibylle Peters (2003: 111): „In der Performanz [des Schreibens] selbst soll sich zeigen, was nicht mehr gezeigt werden kann und so nur noch im Entzug der Evidenz gegenüber der Referenz evident wird.“ In ¡¡¡Los muertos de Annual ya son vengados!!! wird auf diese Weise die Inszenierung des Misslingens des referentiellen Erzählens sozusagen zum Beweis der symbolischen Ausschlussstrukturen des politischen Systems. Das Schreiben wird zu Anfang als entkräftender Kampf inszeniert: Das erzählende Ich greift mit zitternder Hand zum Bleistift und denkt ans Vaterland, sieht jedoch davon ab, seine innere Realität zu Papier zu bringen: „Si dejase fluir algo de mi interior... ¡no!, nadie lo leería, ni comprendería, pues sería así como el grito inarticulado de un loco.“ (Vidal 1932: 19) Da die Erzählung sich jedoch nicht in dem „unartikulierten Schrei eines Verrückten“ erschöpfen kann, muss sie mühsam errungen werden. Wie es um das erzählende Ich bestellt ist, zeigt der krisenhafte Schreibvorgang selbst, bei dem das Niedergeschriebene sich in Unleserlichkeit aufzulösen droht: „Escribo cada vez peor, más desaliñado, más falto de prosodia, con más esfuerzo de intelectualidad para sacar una nueva frase, y cada vez mi escritura es menos legible. Carezco



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de resistencia para escribir cincuenta líneas seguidas, y otras veces sucede que apenas puedo leer la primera, cuando tengo escrita la tercera.“ (Ebd.: 19-20)

Kaum entstanden, werden die Buchstaben für den Schreibenden unentzifferbar. Auch die früheren Notizen, auf die das erzählende Ich zurückgreift, erweisen sich nachträglich als verblasste, ungeordnete Bruchstücke, die sich nur mühsam zu einem Mosaik zusammensetzen lassen. Der subjektive Sinn der Ereignisse ist sprachlich nicht fassbar, das Resultat ist unbefriedigend, bei der Relektüre hat sich das erzählende Ich bereits von seinem Text entfremdet: „Algunos acontecimientos no puedo consignarlos; para otros no encuentro las palabras debidas, para aquéllos no acierto con los conceptos claros que debieran de ser. Cuando hojeo mis anotaciones, cuando consulto el libro que a modo de diario comencé, me doy cuenta de que mis impresiones son mezquinas, carecen de expresión.“ (Ebd.: 19)

So ist das Erzählen hier zunächst ein Vorgang irritierenden Entgleitens, die befriedigende Vermittlung des Sinns und seine schriftliche Fixierung erscheinen unmöglich. Das Projekt droht in der kompletten Ermattung zu versiegen und im Schweigen zu verebben: „Será mucha la obra para mí. Estoy excesivamente agotado, mi moral se relaja, mi espíritu desfallece, me doy perfecta cuenta de que el desaliento se apodera de mí, y me siento, ¡triste sabiduría!, incapaz de operar en mi ánimo una reacción que dé fortaleza a ese mi valor quebrantado.“ (Ebd.: 20)

Die erzählerische Entkräftigung, das nachlassende Schreiben wird dabei explizit zum Beweis für den nationalen Niedergang: „Seguro estoy de la influencia invisible en este hecho, en que sean cada vez más raras, más breves mis anotaciones, dándome la mejor prueba de cuanto hemos descendido.“ (Ebd.) Umso enthusiastischer wird die Erlösung aus dieser Erzählkrise durch die neue imaginäre Solidar-Gemeinschaft der Republik begrüßt: „¡¡¡Llegó!!!... ¡¡¡Llegó!!!“ (Ebd.: 271) Die Krisensemantik macht hier einem Wortschwall lyrischer Triumphrhetorik Platz: „Unos pájaros que tras de revolotear se posan sobre las cerradas ventanas, dan con sus trinos armoniosos, un viva a la libertad, a la República, mezclado con un muera a la jaula, a la cárcel, al encadenamiento de la voluntad y del pensamiento; es un adiós al despotismo. La brisa fresca del mañana viene aureolada por un nuevo sol más pujante, más esplendo-



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roso. Los cantos de los pájaros son coreados por muchos millones de gritos entusiásticos salidos de bocas españolas.“ (Ebd.: 274)

Hier zeigt sich auch im Erzählstil, wie sich die erzählerische Metamorphose von Ohnmacht zu Macht vollzieht, und der Text damit auch das ästhetische Potential der Dringlichkeitserzählung verliert. Die Identifikation mit dem neuen politischen System erlaubt nun das erzählerische Zurücklehnen und ermöglicht, die chaotischen Fragmente zur – nun historischen – Erzählung zu strukturieren („después de tanto tiempo, cuando tranquilo y laborioso me siento ante mi mesa para escribir este libro, que es fiel copia de los muchos apuntes que mi afán de venganza ha reunido para recopilarlos en esta modesta novela-histórica“, ebd.: 102). Die zeitliche Unabschließbarkeit des Traumas scheint überwunden, die Untoten von Annual endgültig begraben. Die Rache ist letztendlich in Form der Gedächtnisstiftung und der innenpolitischen Veränderung erfolgt, indem die Erinnerung an die Gefallenen von Annual zum Teil der neuen republikanischen Gemeinschaft geworden ist. Das Desaster und die traumatische Zeitstruktur seiner Wiederkehr45 sind somit – vorübergehend, wenn man von dem bevorstehenden Bürgerkrieg weiß – zur Vergangenheit geworden: „Los huesos calcinados de Annual y las siluetas sanguíneas de los fusilados en los polvorines de Huesca posan tranquilamente en sus tumbas, porque ya se está vengando su memoria.“ (Ebd.: 300)

45 Die Toten von Huesca verweisen auf den Aufstand von Jaca, das ‚zweite Annual‘.



5. Vom orientalischen Chronotop zur Raum-Zeit des Absurden

Eine Stufe tiefer – und die Verfremdung ergreift uns: die Wahrnehmung, daß die Welt ‚dicht‘ ist, die Ahnung, wie sehr ein Stein fremd ist, undurchdringbar für uns, und mit welcher Intensität die Natur oder eine Landschaft uns verneint. [...] Eine Sekunde lang verstehen wir die Welt nicht mehr: jahrhundertelang haben wir in ihr nur die Bilder und Gestalten gesehen, die wir zuvor in sie hineingelegt hatten, und nun verfügen wir nicht mehr über die Kraft, von diesem Kunstgriff Gebrauch zu machen. [...] diese Dichte und diese Fremdartigkeit der Welt sind das Absurde. ALBERT CAMUS, DER MYTHOS DES SISYPHOS [1942]1

Das Schreiben der abendländischen Geschichte beginnt gemäß Michel de Certeau mit dem Be-Schreiben des ‚unbeschriebenen Blatts‘ der Neuen Welt: „Es ist eroberndes Schreiben. Dieses Schreiben wird die Neue Welt als leere (wilde) Seite benutzen, auf die der abendländische Wille zu schreiben ist.“ (Certeau [1975] 1991: 7) Die Transformation der Fremde in einen kolonisierbaren Raum beginnt mit der Projektionsmacht des aneignenden Blicks: Er entleert den fremden Raum, erklärt ihn zum weißen Fleck auf der Landkarte, um ihn dann einem Prozess der Resignifizierung zu unterwerfen: „[...] first, negation serves to reject the ambiguous object for which language and experience provide no adequate framework of interpretation; second, [...] negation acts as a kind of provisional erasure, clearing a space for the expansion of colonial imagination and 1

Camus [1942] 1989: 17-18.

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for the pursuit of desire. In this way, the structures of discourse, in which language is divided, subordinated, and made into a working system, recapitulate the historical process of establishing and maintaining colonial rule.“ (Spurr 1993: 92-93)

Praktiken der Raumerschließung und -beherrschung sind, das ist eine zentrale These postkolonialer Diskurstheorien, eng an Beschreibungs- und Bezeichnungsprozesse gebunden, die den Raum einer Ökonomie des Begehrens, der Identität und der Macht unterwerfen. Die realen politischen Geographien des (Post-)Kolonialismus sind nach Said das Produkt diskursiver Zuschreibungen, die der binären Logik von Identität und Alterität gehorchen und in erster Linie auf Grenzsetzungen basieren. Das (zentrale und randständige) Eigene und das Andere werden im Raum verankert in Form von Konzepten wie Feindesland, Kolonie und Heimat, an die politische Praktiken der Kartierung, Errichtung, Verteidigung und Expansion territorialer Grenzen geknüpft sind. Insbesondere im kolonialen und militärischen Raum haben Grenzen identitätsstiftende Funktion, sie machen ein antagonistisches Außen lokalisierbar und geben damit erst dem Inneren seine Kohärenz: „Das Außen basiert auf Grenzsetzungen, die den Raum des Inneren als dialektische Opposition zum Äußeren regeln. Das Außen ist Teil des inneren Raums, dessen Selbstidentität durch das Außen lediglich affirmiert wird, so dass sich das Selbe durch das Außen panoramahaft entfalten und offenbaren kann.“ (Borsó 2004: 34)

Der Anspruch auf koloniale Raumgewinnung geht einher mit der Verräumlichung von evolutionistischen Geschichtsauffassungen und wird auch im afrikanistischen Diskurs als Anrecht auf die eigene historische Selbstentfaltung formuliert. In enger Verbindung mit der Entleerung des Raums steht somit die Strategie der Verneinung der zeitlichen Veränderung des Anderen (Spurr 1993: 98): Der kolonisierbare Raum wird, wie beschrieben, zu einem Ort des historischen Stillstands oder Niedergangs, die geographischen Trennlinien markieren somit imaginäre Zeitschwellen, die den Übertritt in ein „vor langer Zeit“ oder „am Anfang“ erlauben (Said [1978] 2003: 55). Die Negation zeitlicher Dynamik läuft auch hier auf die Neubeschreibung im Zeichen der eigenen Identität hinaus, z.B. in Form von kolonialen Erzählungen der Rückkehr zu den eigenen Ursprüngen oder Initiationsgeschichten, in denen die Zeitreise zum Schritt in der Entwicklung und Selbstbildung des kolonisierenden Subjekts wird. Aufgrund der engen Verflechtung von Raum- und Zeit-Repräsentationen mit den kolonialen Praktiken der Macht und der Identitätskonstitution kommt der symbolischen Inszenierung von Raum und Zeit in der Marokko-Kriegsliteratur



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eine zentrale Bedeutung zu. Dieses letzte Kapitel widmet sich der Frage von Bruch und Umschreibung in Bezug auf koloniale Raum-Zeit in den RifKriegserzählungen. Im literarischen Umgang mit dem Raum, dem Zugeständnis oder dem Zusammenbruch von Übersicht und Kontrolle, fixen Referenzpunkten und sicheren Orten wird die Stabilität von Identitätsentwürfen und kulturellen Ordnungsmustern verhandelt. In der erzählerischen Konstitution von Zeit zeigt sich die (Un-)Möglichkeit von Kontinuität und Identität, der Rückbindung der Gegenwart an die Geschichte oder ihrer Projektion auf die Zukunft. Um Raum und Zeit als sinnstrukturierende Elemente einer literarischen Erzählung zu fassen zu bekommen, und somit gegenüber anderen (diskursiven) Repräsentationsformen zu spezifizieren, soll der Begriff des Chronotops von Michail Bachtin eingeführt werden: „We will give the name chronotope (literally ‚time space‘) to the intrinsic connectedness of temporal and spatial relationships that are artistically expressed in literature. [...] Time, as it were, thickens, takes on flesh, becomes artistically visible, likewise, space becomes charged and responsive to the movements of time, plot and history.“ (Bachtin [1975] 2000: 84, Hervorh. im Original)

Das Konzept des Chronotops beinhaltet die künstlerische Bearbeitung von kulturellen Erfahrungen und Imaginationen von Zeit und Raum, die durch eine Handlung in einer erzählten Welt bedeutsam gemacht werden. Es impliziert die Frage nach den Bewegungen oder dem Stillstand der Figuren im Raum, nach den Ordnungen, die in dieser Bewegung entstehen und den Blicken und Perspektiven, die diese konstituieren. Die Chronotopoi, die Bachtin beschreibt, sind RaumZeit-Universen, die der Eigengesetzlichkeit fest etablierter literarischer (Genre-)Traditionen gehorchen. Er spricht in seinem Aufsatz zum literarischen Chronotop jedoch auch davon, dass sich die Literatur in komplexen Prozessen neue historische Raum-Zeit-Erfahrungen einverleibt: „Isolated aspects of time and space […] have been assimilated, and corresponding generic techniques have been devised for reflecting and artistically processing such appropriated aspects of reality.“ (Ebd.) In der Literatur des Desasters von Annual lässt sich, wie in diesem Kapitel dargestellt wird, eine solche künstlerische Prozessierung feststellen, die dem Vorgang von Bruch und Umschreibung folgt. Wie sich beispielhaft in Notas marruecas de un soldado, ¡Kelb Rumi! oder ¡Mektub! gezeigt hat, ist die Raum-Zeit-Struktur der Konflikterzählungen aus dem Rif-Krieg von Inkonsistenzen durchzogen: Sie ist geprägt von einer eigentümlichen Koexistenz realistischer und irrealisierter Textwelten, die in erzählerische Sackgassen und zu diskursiven Brüchen führt. Die Reartikulation etablierter



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(Chrono-)Topoi der Erzähltradition über die orientalische Fremde steht hier der realistischeren Repräsentation einer ganz neuen Form der Raum-Zeit-Erfahrung des Kriegs gegenüber. Zum einen finden sich die exotistischen Welten, die sich in einer langen orientalistischen Erzähltradition – vom Siglo del Oro über die Romantik bis zum Modernismus – herausgebildet haben (so z.B. der orientalische Garten, der die Tropologie der Entschleierung in Gang setzt, oder die zeitliche Enklave der orientalischen Altstadt, die mit der labyrinthischen Suche nach den Ursprüngen verknüpft ist).2 Gemäß der dominanten literaturwissenschaftlichen Deutung sind diese literarischen Welten des Exotismus als Kompensationsräume oder Orte der projektiven Auslagerung gestaltet (vgl. Litvak 1985, 1986): „El cuadro exótico no es realista. Está compuesto por elementos subordinados a la visión. Tiene una función trascendente: desplazar al lector en el tiempo y fuera del tiempo, en el espacio y fuera del espacio.“ (Litvak 1986: 19) Zum anderen vollführt die Literatur eine Referenz auf die ‚desaströse‘ Realität des Kriegs und auf aktuelle politische und soziale Diskurse, die die selbstbezüglichen eskapistischen Räume zu stören beginnen. Die raum-zeitlichen Verwerfungen der Konflikterzählungen verlangen so geradezu nach einer Umschreibung, die (wie in Díaz Fernández’ El blocao) die Chronotopoi orientalistischer Diskurstradition destabilisiert und letztendlich (wie sich in Ramón Senders Imán zeigt) aufgibt. An ihre Stelle tut sich ein anderes symbolisches Universum auf: die Enklave als absurder Ort in Gestalt des militärischen Postens oder blocaos und die katastrophische Raum-Zeit des Desasters, bei dem diese Posten in einer Kettenreaktion zusammenbrechen. In diesem Kapitel werden zunächst die erzählerischen Momente der Destabilisierung tradierter kolonialer Raum-Zeit-Darstellungen in den Blick genommen, wie sie dem Leser/der Leserin in den meisten Erzählungen aus dem Krieg zunächst in Form von unsystematischen Einbrüchen begegnen. Das Interesse gilt den erzählten Augen-Blicken, in denen die räumlichen und zeitlichen Identitätsstrategien militaristisch-epischer und orientalistischer Texttraditionen aussetzen, sich die Strukturen von Innen und Außen, Fortschritt und Regression verkehren und die „provisorische Ausradierung“ der Fremdheit des Raums und damit die Entfaltungsmacht des Panoramablicks scheitern (5.1). Diese Aspekte werden in einem Prozess der Umschreibung in einigen Texten zu kunstvollen Chronotopoi ausgefeilt. Neben José Díaz Fernández’ Roman El blocao, auf den unter diesem

2

Vgl. Said [1978] 2003: 177: „[...] the Orient is less a place than a topos, a set of references, a congeries of characteristics, that seems to have its origin in a quotation, or a fragment of a text, or a citation from someone’s work on the Orient, or some bit of previous imagining, or an amalgam of all these.“ (Hervorh. im Original)



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Gesichtspunkt ein erneuter Blick geworfen wird (5.1.2), ist das eindrucksvollste Beispiel Ramón Senders Imán, der im Zentrum dieses Kapitels steht (5.2). Die raum-zeitlichen Erfüllungsversprechungen des Orientalismus in aufklärerischer, romantischer und modernistischer Tradition und des epischen Militarismus erweisen sich in Díaz Fernández’ und Senders Erzählungen als unhaltbar und machen einem „Chronotop des Absurden“ (Hurcombe 2004: 79-108) Platz: eine literarische Raum-Zeit, in der das Sinngerüst der historischen Selbstentfaltung, der Wiedererlangung des Ursprungs als auch des teleologischen Fortschritts nicht tragfähig ist. Ein dauerhafter Schwellenraum, in dem die raum-zeitliche Logik der Initiations- und Regenerationsgeschichten aus den Angeln gehoben wird. Eine ‚imaginäre Geographie‘, die keine klare Verortung des Anderen als antagonistisches Außen zulässt und keine sichere Heimat mehr kennt. Das Absurde, so soll insbesondere anhand von Ramón Senders Imán gezeigt werden, ist eine radikale Form der Delegitimierung selbstreferentieller diskursiver Logiken und gewissermaßen die literarische Inszenierung der Unsinnigkeit der ‚alten Sprache‘:3 „das Absurde [beruht] auf einem Bruch mit kulturellen Konventionen. Diese legen nicht nur fest, was als wirklich, sondern auch, was als sinnvoll gilt. Absurd ist, was dieser sinnverbürgenden Ordnungsstruktur nicht entspricht.“ (Fuß 2001: 134) In dieser Hinsicht ist es ein Phänomen, das einen historischen Bruch zwischen Diskurs und Erfahrung markiert. Die dogmatische Sprache und ihre rituelle Instituierung erweisen sich dabei als bodenlos, die Heimat als Zentrum und Befestigung von Sinn als verloren.

5.1 AUSSENPOSTEN DER Z IVILISATION UND I NSELN DER B ARBAREI : R AUM

UND

Z EIT

IM SISTEMA DE POSICIONES Eine Figur, die das Raumerleben in der Realität des Rif-Kriegs und in der Kolonialkriegsliteratur entscheidend prägt, ist die Enklave. Unter ihr wird im Allgemeinen ein geographisches Gebiet verstanden, das vollständig eingeschlossen innerhalb eines anderen Territoriums liegt, welches einer fremden politischen und kulturellen Ordnung untersteht. Insofern eine Enklave als Teil einer Ordnung verstanden wird, von der sie selbst räumlich komplett abgekoppelt ist, ist sie auch eine Exklave – die Begriffe werden daher in vielen Fällen als Homony-

3

Vgl. Görner 1996: 140: „Mit dem Surrealismus, wie Breton ihn verstand, ließ sich ein Aufbruch ins Unbekannte wagen. Das Absurde gehört dagegen eher zu den Endzeitphänomenen, genauer: Es tritt am Ende einer Epoche in Erscheinung.“



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me behandelt: Es handelt sich um eine Raum-Figur mit einer Doppelbedeutung von Ein- und Ausschluss. Diese Struktur, verbunden mit verteidigender Abschottung und Gefangenschaft, prägte schon seit Jahrhunderten die spanische Befindlichkeit auf dem Nachbarkontinent – und zwar in Form der Festungsstädte Ceuta und Melilla, die sich einerseits als militärische Vorposten christlicher, bzw. europäischer Kultur und damit als Bollwerke gegen den Islam verstanden. Andererseits dienten sie lange Zeit als Strafgefangenenlager und damit als Orte der Auslagerung derjenigen, die man aus der Gesellschaft des ‚Hauptterritoriums‘ verstieß.4 Ceuta und Melilla wiesen so einen ambivalenten Charakter auf: Die Städte galten als Sammelbecken marginalisierter, teilweise krimineller Gestalten, so dass sie sich zu einer Zone, wenn auch nicht der Rechtsfreiheit, so doch der Aufweichung des Rechts – der Korruption, der Cliquenwirtschaft – entwickelt hatten (Carabaza/Santos 1993: 25). Die Exklaven waren aufgrund mangelnder wirtschaftlicher Kontakte mit dem Hinterland auch auf die Versorgung über den Seeweg durch die spanische Halbinsel angewiesen. Verschärfte sich die politische Spannung gegenüber dem marokkanischen Sultan oder den benachbarten Kabylen, sahen sich die Städte im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder langen Zeiten der Isolation und Belagerung ausgesetzt, während derer man sich hinter den Festungsmauern der Innenstädte verschanzte. Hungersnöte, Epidemien von Infektionskrankheiten und Rebellionen innerhalb der engen Mauern der presidios waren keine Seltenheit (ebd.: 24-26). Als Orte der Verbannung und Städte der Belagerung, in denen zumindest latent das Kriegsrecht auf Dauer gestellt war, wiesen die presidios bestimmte Züge auf, die Giorgio Agambens lokalisierbaren Formen des dauerhaften Ausnahmezustands entsprechen (Agamben [1995] 2002). Diese Situation der Ausnahme begünstigte bis in die Zeit des Protektorats die harte und willkürliche Ausübung militärischer Autorität:5

4

„La población penada estaba formada por presos comunes, nobles y altos funcionarios caídos en desgracia, gitanos perseguidos por reales pragmáticas genocidas, prisioneros de guerra franceses capturados durante la Guerra de la Independencia... A lo largo del siglo XIX, la población penada se incrementará con los adversarios políticos desterrados por el gobierno de turno: liberales, carlistas, republicanos, insurrectos cubanos, dirigentes del primer movimiento obrero...“ (Carabaza/Santos 1993: 24)

5

Vgl. Carabaza/Santos 1993: 26: „Su poder [de los alcaides] era tan absoluto que, en la España de la época, existía un dicho evocativo: ‚Rey en Castilla, alcaide en Berbería‘“.



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„–Cuando se dobla el cabo de Tres Forcas se pierden todos los derechos de ciudadanía. Esta frase de una autoridad militar, repítese asiduamente en Melilla. Allí no hay Ayuntamiento, ni existe el derecho electoral, ni juzgan los tribunales civiles. Todos los vicios del caciquismo agrávanse allí sostenidos por el duro mando militar. Es un caciquismo militarista de ‚lo hago porque quiero y a quien no le parezca bien, que se vaya‘.“ (Ciges Aparicio 1912: 81)

Melilla erschien so zu Beginn des Jahrhunderts einerseits als „fuente lavadora de pecados sociales, destierro involuntario de cuantos en ella viven“ (Luque/Pita 1902: 27). Andererseits verstanden sich die stark militarisierten Städte als Außenbastionen und Repräsentanten Spaniens inmitten eines fremdkulturellen, zivilisationsfernen Gebiets. Als solche bildeten sie eine ausgesprochen dichte christliche und militärische Ritualkultur und einen starken Nationalismus heraus, der auch heute noch für einen großen Teil der spanischen Bevölkerung in Ceuta und Melilla bezeichnend ist (Meyer 2005: 279). All diese Elemente waren für die afrikanistisch-militaristische Kultur im Marokko-Krieg charakteristisch und prägten das Enklaven-Dasein im literarischen Raum der Guerra de Marruecos. Wie in der historischen Darstellung des Desasters von Annual beschrieben, basierte die Raum-Strategie der Spanier bei der Eroberung und Kolonisierung des Rifgebirges im Wesentlichen auf dem sistema de posiciones, der Taktik der Errichtung einzelner Stützpunkte in exponierter Lage, die einer begrenzten Zahl von Soldaten die militärische Beherrschung des umliegenden Territoriums ermöglichen sollte. Die Aneignung des Gebietes sollte so charakteristischerweise über das Ausüben visueller Macht erfolgen; zentral war dabei die „Scheidung von Sehen/Gesehenwerden“ wie sie Michel Foucault in Bezug auf das Panopticum beschreibt6: Man selbst dachte sich im Zentrum des umliegenden Raums, hinter den selbsterrichteten Wällen geschützt, während man die Umgebung der Kontrolle eines allumfassenden Blicks unterstellen zu können glaubte. In Francisco Francos Schrift „Necesidades sobre material y fortificación“ finden sich eine Anzahl schematischer Zeichnungen dieser Art von Stützpunkten, die nach dem Baukastenprinzip konzipiert waren und zur Stationierung von acht bis zu über hundert Mann dienen konnten (Abb. 2). Die simplen Abbildungen von Rechtecken, umgeben mit mehrfachen konzentrischen Kringeln, die die Schutz-

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Vgl. Foucault [1975] 1994: 251-292, hier: 259: „Das Panopticum ist eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen/Gesehenwerden: im Außenring wird man vollständig gesehen, ohne jemals zu sehen; im Zentralturm sieht man alles, ohne je gesehen zu werden.“



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Abbildung 2: Zeichnungen militärischer Posten von Francisco Franco Bahamonde in der Revista de Tropas Coloniales, April 19267

wälle darstellen, führen die naiven Autonomiephantasien vor Augen, die hinter dem sistema de posiciones standen. Mit dem Bau eines Postens oder blocao an einem strategischen Punkt betrachteten die spanischen Kommandanten das umliegende Gebiet als annektiert, tatsächlich vermauerte man sich jedoch meist in einem weiterhin von den Rifkabylen kontrollierten Territorium und sah sich in vielen Fällen ständig potentiell belagert und unter Beschuss. Der Aufenthalt im blocao wird so in vielen Marokko-Texten zum Grenzerlebnis schlechthin – so auch Carlos Micó Españas Ausflug zum Außenposten La Tercera Caseta, vordergründig ein weiteres episches Abenteuer, das er in seiner Funktion als Chronist der Legion und im Dienst des Lesers unternimmt. Die Beschreibung der Fragilität der ‚blocaos de la muerte‘ (vgl. Micó España 1922a: 134) in Los Caballeros de la Legión gehorcht im Ganzen der propagandistischen Absicht des Textes: Als Inseln, die der rauen Brandung der Kabylenangriffe standhalten müssen, fügen sich diese fragilen ‚Posten des Todes‘ als räumliches Motiv durchaus in die Narration von Martyrium, symbolischem Tod und Wiederauferstehung der ‚Ritter der Legion‘. Bei der Beschreibung seiner Nacht im blocao gelangt der Text jedoch an die Grenzen seiner gewöhnlichen Heldenrhetorik: „Por la noche no se puede abrir la puerta de la posición por ningún motivo ni bajo pretexto alguno, ni se puede disponer más que de una lata vacía de conservas por todo consuelo.

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Franco Bahamonde [1926] 1986: 37, 40.

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Se amarran fuertemente, cuando todos están ya dentro, las puertas de los dos cercos de alambradas de espino que rodean la caseta; después se procede a cerrar el acceso de ésta con una plancha de metal, sobre la que apoyamos gran cantidad de sacos terrenos. Quedamos encerrados, sin espacio, ni luz, ni aire casi; hay un olor punzante, agudo, que penetra hasta el estómago, que se absorbe hasta los sesos, olor agrio a rebaño humano, a pie de España [...] y bestia montaraz. ¡Puah!“ (Ebd.: 142)

Die Figur des Außenposten der ‚Zivilisation‘ schlägt so um in die Inversionsfigur eines stinkenden und bestialischen Käfigs. Nicht die Kabylen sitzen hier als Objekte der Sichtbarkeit eines kommandierenden Blickes in der Falle, vielmehr entpuppt sich der als autonom gedachte Beobachterposten als Gefängnis. Das Eingeschlossensein im blocao steht tatsächlich dem kolonialen Projekt der Raumgewinnung diametral entgegen. Nach Verlassen des blocao erleidet Micó España einen Anfall von wahnhafter Angst, der aus seiner Geschichte nationaler und individueller Regeneration durch den Krieg8 herausspringt: „Lancé una exclamación poco literaria: –¡Qué barbaridad! [...] empecé a correr, golpeando frenéticamente con los talones, por la vía del tren [...] Fue una exaltación morbosa, una ráfaga de locura; cosa de ver a un médico, si los médicos supiesen de esto.“ (Ebd.: 147-148) In der Gestalt des „reducidísimo fortín“ (ebd.: 141) zeigt sich die Absurdität des kleinen abgeschotteten Raums, die zu einem zentralen Motiv der antiepischen Umschreibung in Díaz Fernández’ El blocao wird: Die Kontroll- und Verteidigungsposten im Dienste des Fortschritts kippen um ins Barbarische, die von eigener Hand errichteten Schutzwälle werden zur fatalen Falle (vgl. Kap. 5.1.2). Die Konservendose, in der im obigen Zitat die Eingeschlossenen ihre Notdurft verrichten, taucht in Arturo Bareas La ruta wieder auf, wobei das Ausleeren des provisorischen ‚Klosetts‘ zur Frage von Leben und Tod und einzig möglichen Heldentat im militärischen Vorposten wird.9

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So beteuert der Text im letzten Kapitel die Gültigkeit dieses Sinnschemas und versucht, eventuelle Zweifel, die im Verlauf der Erzählung an verschiedenen Stellen daran hätten aufkommen können, definitiv hinwegzuwischen: „Los legionarios son caballeros, como dice frecuentemente nuestro teniente coronel, y es indiscutiblemente cierto. [...] El valor personal desarrollado en las batallas campales, el heroísmo, redime. [...]. La disciplina [...] me ha afirmado en mí, haciéndome caminar moralmente hacía mi centro, donde me he encontrado a mí mismo“ (ebd.: 289, Hervorh. im Original).

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„En un rincón había una lata de petróleo. [...] los hombres la usaban para orinar, porque si no tenían que salir afuera. Cuando los ataques del enemigo eran muy frecuen-



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Eine der Angstsattacke bei Micó España sehr ähnliche Reaktion beschreibt Fermín Galán bei der militärischen Befreiung eines belagerten blocao.10 Die dreizehn eingeschlossenen Männer verlassen das Fort in einem komplett derrangierten körperlichen und psychischen Zustand: „Están famélicos, barbudos, no tiene [sic!] fuerzas, se caen. Mientras abrimos, sale uno de dentro dando voces incoherentes. Con voz pálida y entrecortada, nos dice el más próximo: –Se ha vuelto loco en estos días. [...] Entramos. El olor es insoportable. Hay cuatro muertos en descomposición. [...] El médico llega. E inopinadamente sale corriendo por el monte, dando voces y gritos descompuestos. Se cae. Le recogen. Se lo llevan entre dos. Va desvaneciendo...“ (Galán [1926/1932] 2008: 85-86)

Dass gerade der Arzt einen psychischen Zusammenbruch erleidet – in ¡Kelb Rumi! hat er Protagonistenstatus –, verweist auf das schockierende Scheitern der Idee von Humanismus und Zivilisierung und auf die symptomatische Zeichenhaftigkeit zerstörter oder kranker Körper jenseits der symbolisch-rhetorischen Bedeutungsebene (vgl. 5.2.4). Im blocao gewinnt all das die Oberhand, was die Zivilisation von sich weist und verwirft: Dreck, Gestank, Parasiten, Infektion und Exkremente sind das kulturell Ausgeschlossene, das der koloniale Diskurs gewöhnlich dem ‚Wilden‘ attribuiert.11 So beschwert sich der Protagonist Pepín in Francisco Hernández Mirs Roman La tragedia del cuota (eine Erzählung, der eigentlich der Regenerationsgedanke zugrunde liegt), als er sich die Krätze zuzieht: „Aquí viene uno que sea limpio y se hace sucio, se contagia de la porquería ambiente. Al menos los moros desarrapados de las cabilas están acostumbrados a vivir así; pero nosotros, que venimos a civilizarlos, resulta que nos hacemos más abandonados que ellos mismos.“ (Hernández Mir 1922: 139) Die humanistischen Fortschrittsprinzipien von Hygiene, Regeneration und Disziplinierung, die die Kolonisierung legitimieren und den kulturellen Abstand zwischen Subjekten und Objekten der Kolonisierung etablieren, werden in den mili-

tes, la usaban para todo. Cuando la lata estaba llena, tenía que vaciarla fuera de la alambrada el que le tocaba el turno. Esto, frecuentemente, provocaba un tiro, algunas veces una baja, y entonces se perdía la lata. [...] Así, la lata de petróleo y su contenido se había convertido en un símbolo de vida o muerte [...]“ (Barea [1943] 2000: 315– 316). 10 Eine sehr ähnliche Szene findet sich auch in Vidal 1932: 171. 11 Zur rhetorischen Funktion von „filth and defilement“ im kolonialen Diskurs vgl. Spurr 1993: 76-91.



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tärischen Posten in ihr radikales Gegenteil verkehrt. Was hier so aufdringlich wird, ist das Abjekt im Sinne Julia Kristevas: „These body fluids, this defilement, this shit are what life withstands, hardly and with difficulty, on the part of death. [...] If dung signifies the other side of the border, the place where I am not and which permits me to be, the corpse, the most sickening of wastes, is a border that has encroached upon everything.“ (Kristeva 1982: 3-4)

Diese Abfallprodukte des Körpers und der Körper selbst als Abfallprodukt, die die Grenzen des Subjekts aufzulösen drohen, suchen hier ständig die Kolonialsoldaten heim. Der Horror vor dieser ekelerregenden Körperlichkeit wird in der Literatur immer wieder zum Thema, denn mit Wassermangel, Infektionskrankheiten und Parasitenbefall hatte man in den Militärlagern und blocaos ständig zu kämpfen (vgl. hierzu u.a. Balfour 2002: 223-227). In Imán wird diese Erfahrung ausgebaut zu einer Ästhetik des Grotesken, einer kalkulierten literarischen Inszenierung der Heimsuchung durch das Abjekt im Chronotop der Katastrophe. 5.1.1 Raumangst: Die unlesbare Landschaft und die Erfahrung der „Exteriorität“ Die Raumstruktur der Guerra de Marruecos entspricht also nicht dem kriegstypischen Ordnungsprinzip der Front, die als Linie das Territorium in zwei Hälften teilt: hier der sichere Boden, der bereits als peripheres Heimatland reklamiert und dem eigenen Gesetz unterstellt wird, dort das Feindesland als Raum der gegenkulturellen Ordnung, in der Gefahr und Vernichtung droht. Im Rif-Krieg kommt es selten zu Kampfhandlungen in Form einer Konfrontation mit einem Feind, der sich als sichtbares Gegenüber entlang einer Linie positioniert. Im sistema de posiciones, das den Raum des Anderen der Beherrschung durch den einseitigen Blick unterwerfen soll, entzieht sich das ‚Gegenüber‘ tatsächlich der visuellen Kontrolle. Die Idee des Feindes bleibt häufig unkonkret und vage, sie äußert sich meist nur im gelegentlichen paqueo, den Gewehrschüssen unsichtbarer Schützen, die sich nicht erwidern lassen: „No disparamos porque no se ve al enemigo –y ésa es la enorme desesperación de los combates contra los moros–.“ (Micó España 1922a: 133) Wer den Feind nicht sieht und nicht schießt, führt eigentlich auch keine „Schlacht gegen den moro“. So findet sich mancher, der sich eine Reinigung durch den Kampf erhofft, einer Enttäuschung ausgesetzt, wie auch der oben genannte Soldat Pepín, nachdem er die Krätze überstanden hat: „[...] yo he venido aquí a pelear con un enemigo franco, que no rehuye el encuentro cuando se le busca; no a perder la salud vegetando en la inacción,



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durmiendo en tierra, comiendo mal, sin ver el agua más que de meses a meses a lo sumo...“ (Hernández Mir 1922: 159) Die Unmöglichkeit der Verortung des Feindes untergräbt in Arturo Bareas La ruta explizit die Anknüpfung an die epische Geschichte: „La historia cuenta millares de hechos heroicos en el calor de la batalla. [...] Aquí no pasa nada de eso. Nosotros no luchamos, ni aun casi vemos al enemigo.“ (Barea [1943]12 2000: 340) Aufgrund der Unsichtbarkeit des Feindes bleibt das vermeintlich eroberte Gebiet ein Raum der undefinierbaren Bedrohung und des Ausgeliefertseins. Oft ist das Erreichen des Gipfels weniger ein Moment der Erhabenheit und Entfaltung des Blicks, es verkehrt sich stattdessen in das angstvolle Abtasten einer unheilschwangeren Landschaft. Man fühlt sich dauerhaft im Fadenkreuz des spähenden Blicks: „Mil ojos ignorados avizoran desde las entrañas de la noche, más densas en la barrancada, entre aliagas y tomillos. [...] El barranco está preñado de amenazas.“ (Sender [1930] 2008: 58) Der fremde Blick, der hier schnell zum tödlichen Projektil werden kann, verweist auf eine andere Ordnung, eine andere Existenz des Raums, die sich den spanischen Eroberern entzieht. Die Raumwahrnehmung gleicht der Erfahrung, die Vittoria Borsó im Anschluss an Emmanuel Levinas Begriff der „Exteriorität“ beschreibt. Diese unterscheidet sich vom Außen als dem Anderen des Subjekts insofern, als sie das Innen nicht als Spiegel der Identität umgrenzt und strukturiert, sondern entgrenzt und seiner Kohärenz beraubt: „Exteriorität ist eine Erfahrung, die die Stabilität des Inneren entkräftet. Levinas spricht von der Brechung des subjektiven Raums, die eine vollständige Reflexion nicht mehr möglich macht. Diese Brechung, diese Imperfektion der Sicht kann nicht korrigiert werden. [...] Die Exteriorität ist jene radikale, nicht hintergehbare Heterogenität (421, 424)13, die das Ich begrenzt und zur Andersheit öffnet, zu den Differenzen. Als Brechung des panoramahaft ausdehnbaren Raums der Totalität, öffnet die Exteriorität einen anderen Raum, jenen Raum, in dem sich die Ich-Subjekte nicht in ihrer Transparenz erfassen können. Diese ‚An-Archie‘, diese Abwesenheit von Urgrund und Ursprung, ist für die Heterogenität wesentlich.“ (Borsó 2004: 36)

Der subjektive Raum wird hier durch den fremden Blick der in der Landschaft getarnten Kabylen destabilisiert und irritiert. Die dauernden, isolierten Schüsse, deren Ursprung und Richtung nicht identifizierbar sind, berauben die spanische

12 Vgl. Kap. 3.3.2, Fußnote 42. 13 Bezugnahmen auf: Emmanuel Levinas (1987): Totalität und Unendlichkeit. Freiburg (Breisgau): Alber.



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Raumwahrnehmung im sistema de posiciones ihres Zentrums und verhindern die visuelle Machtentfaltung und die „panoramahafte Existenz des Seins“ (ebd.). Es ist vielleicht gerade diese Erfahrung der Exteriorität, die den Umschlag des Pittoresken der orientalistischen Tradition des 19. Jahrhunderts in die katastrophische Landschaft von ‚Annual‘ markiert. Ein eindrückliches Beispiel für diesen Wechsel findet sich in Gregorio Corrochaos ¡Mektub!, im Kapitel mit dem Titel „La agresión“. Auf diesen Seiten dringt die Gewalt des Kriegs ein in die exotistische Raum-Zeit und beendet die Utopie der penetración pacífica. Das Kapitel beginnt mit einer Warnung an den „Reisenden“, sich den Emotionen der poetischen Landschaftsbetrachtung hinzugeben – eine lyrische Übung, die der Text bis dahin selbst immer wieder praktiziert hat: „Los paisajes, que para el viajero son un motivo lírico de ejercicio visual, que el hombre delicado traduce en emociones, tienen para el indígena una intimidad de colaboración.“ (Corrochano 1926: 217) Die Landschaft steht unter dem Verdacht der Zusammenarbeit mit dem Feind, den Rifberbern scheint sie Schutz, Vertrautheit und Auskunft zu gewähren. Es sind hier die moros, die sich der Technik der Herstellung totaler Transparenz bedienen, während sie sich selbst den Blicken entziehen: „[El moro] Necesita ver y ver lejos; el árbol le estorba. Vivió siempre a la defensiva, que todo lo teme de lo que no ve. Esto se hizo axioma y habló así: ‚No hay noticia más cierta que la que se da por los ojos.‘ Arrancó el árbol, pero quedó la piedra y la capa de monte bajo que llaman gaba. Lo aprovechaba mejor el reptil que el hombre, y el hombre aprendió a reptar.“ (Ebd.: 218)

Der Vergleich der Rif-Krieger mit Reptilien, die unsichtbar durch die öde Landschaft kriechen, ist ein Gemeinplatz der Marokko-Kriegsliteratur, der die Paranoia vor der Nicht-Identifizierbarkeit des Feindes widerspiegelt. Das dem Rifberber angedichtete Bedürfnis der visuellen Freilegung des Raums entpuppt sich gleich in den nächsten Sätzen als eine Art Agoraphobie der Spanier: der Angst vor einem für sie ‚unlesbaren‘ Terrain, in dem das Auge verzweifelt nach Halt und Bedeutung sucht: „Dejarse llevar del paisaje, es caer en lo que tiene de inseguro. Hay que usar de la vista apoyándose, y pasar de una roca a una vaguada y luego a una mancha de gaba, y así, poco a poco, clavando la vista, como se clava un bastón, para no perder el apoyo, se va lejos. Pero desdichado del que quiere abarcar el paisaje en una mirada imprecavida y amplia.“ (Ebd.)



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Hier wird vom Versuch erzählt, Raumeinheiten zu schaffen und damit Informationen zu erlangen, das strukturierende Sehen scheitert jedoch in der fremdartigen Landschaft des Rif. Das sistema de posiciones gleicht einem verkehrten Panopticum: Der blocao verwandelt sich bei Barea in eine weithin sichtbare Bühne, ein Puppen- oder Schattentheater, auf der die vermeintlichen Eroberer angstvoll und hastig ihre Mini-Forts mit ihren Blechdächern zusammennageln. Die spanischen Soldaten fühlen sich wie Zielfiguren in einer Jahrmarkt-Schießbude: „Los moros saben lo que va a ocurrir y están esperando sin prisa. Nosotros lo sabemos también. Sabemos que están apuntando cuidadosamente al tejado no existente aún del blocao, esperando que surjamos allí con la hoja de chapa acanalada a cuestas, una silueta limpia contra la hoja de metal brillante al sol, contra la armadura de madera, contra la línea del cerro y el fondo del cielo. [...] Cogemos una hoja de chapa medio metro de ancha y dos de larga; trepamos por una escalera conservando el equilibrio [...]. Mientras tanto, diez, veinte o cien pares de ojos detrás de la mira de sus fusiles apuntan fríamente al muñeco que se destaca en negro sobre el espejo del metal brillante.“ (Barea [1943] 2000: 340)

Hier ereignet sich eine Veränderung in der Wahrnehmung des kolonialen Raums, die am deutlichsten im Kontrast zur Literatur und Malerei der Guerra de África (1859-1860) sichtbar wird. Dort dominiert die erhabene Panorama-Sicht ständig die malerische und literarische Darstellung der marokkanischen Landschaft und des Kriegs. Zeitgenössische mediale Repräsentationen des Geschehens, darunter auch Stereoskope, die das Betrachten von Schlachtenbildern in dreidimensionaler Optik ermöglichten, gaben die Perspektive vor, aus der die Spanier Marokko als Schauplatz epischer Selbsterfüllung wahrnahmen und trugen damit zur Popularisierung des Kriegs in der Heimat bei (vgl. Martín Márquez 2008: 125). Das meistgelesene Buch, Alarcóns Diario, ist gespickt von Momenten von panoramahafter Klarsicht und Erhabenheit: „¡Ah! ¡Yo no he visto en toda la campaña un cuadro de guerra tan clásico y aparatoso como el de ayer! La amplitud del terreno, las grandes distancias ocupadas por nuestras tropas y la pura diafanidad del ambiente comunicaban a las perspectivas cierta fantástica grandeza que se imponía severamente al ánimo.“ (Alarcón [1859-60] 1975: 253)

In der Literatur im Anschluss an das Desaster von Annual impliziert der Blick vom militärischen Posten aus weniger ein Erlebnis von Information und Macht. Er ist vielmehr geprägt durch eine Beklemmung, die zwischen dem Gefühl der



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unentzifferbaren Weite des Territoriums und der unheilvollen Einschließung oszilliert. Diese Mischung aus klaustrophobischer und agoraphobischer Raumwahrnehmung taucht immer wieder in Erzählungen des Kriegs auf, sie äußert sich in Bildern, die dem Himmel und Landschaftsraum und auch dem zeitlichen Wahrnehmungshorizont eine bedrückende, erstickende Opazität verleihen. Zeit und Raum verlieren ihre Dimensionalität, werden übermächtig und erdrückend: „La noche cae pesadamente sobre todo y sobre todos. El cielo, en parte estrellado, juega con grandes nubes apretándolas y estirándolas. El ambiente es turbio, gris plomo y no sé por qué me parece rojo.“ (Galán [1926/1931] 2008: 90) „El tiempo parecía haberse detenido en su curso y aplastarnos con su densidad: era como una carga de cadenas pesadísimas que llevásemos en los brazos y que colgasen de nuestras manos.“ (Micó Espana 1922a: 93)

Der Horizont schließt sich in beklemmender Enge. Die Zeitwahrnehmung reduziert sich auf minimale Sequenzen in einer entstrukturierten, monotonen Gegenwart und verliert ihre Perspektivität: „Los soldados no se cansan de mirar la cordillera azul, sinuosa, que como un altorrelieve cubre el raso del horizonte: los días son como una procesión gris, igual, inacabable, que no ofrece variedad de emociones; se le ve venir y marchar con indiferencia, como si el tiempo, preciso troquel de la vida, no tuviera valor ni objeto. [...] Las horas pasan sin dejar una huella, como una puñalada en el agua de una fuente. Sensación de quietud, de inercia y de aislamiento ésta que llena nuestros sentidos y nuestros nervios.“ (Díaz Fernández [1922] 2004: 163-164) „Paseando por el estrecho recinto sentía el paso lento y penoso de los días, como un desfile de dromedarios.“ (Díaz Fernández [1928] 2007: 7) „Estamos aquí como ensordecidos, como si no llegasen a nuestros oídos las sonoridades exteriores, y nadie puede imaginarse el tormento que constituye para un alma curiosa esta cerrazón del horizonte espiritual. Días vacíos, plúmbeos, indiferentes como si esta vecindad del cielo y monte no tuviera más fin que encerrar al espíritu en una soledad poco amiga [...].“ (Díaz Fernández [1922] 2004: 91 [=Crónica de la guerra „Quince días sin correo“])

Die Undurchdringbarkeit von Raum und Zeit, ihre Verselbständigung zu einer eigenen Materialität ist ein Ausdruck der beschriebenen Exterioritätserfahrung,



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die mit der Auflösung der Struktur des Innen einhergeht. Sie impliziert zugleich die Unmöglichkeit, das Außen in einen Projektionsraum von Identität, Begehren und Macht zu transformieren. Natürlich wird auch hier der Raum mit den Zeichen des Eigenen beschrieben, jedoch mittels Metaphern und Bildern, die das Scheitern der Aneignung und Strukturierung vorführen. In Imán entzieht sich der Raum der Erreichbarkeit, der Vormarsch gleicht einer optischen Illusion: „La columna sigue bajando sin novedad, parece que avanza mucho, pero la llanura infinita los rodea y estrecha cada vez más con su franca amenaza. El estruendo es enorme; pero el paisaje no pierde su enigmática serenidad.“ (Sender [1930] 2008: 105) Die unlesbare Landschaft zeigt hier eine undurchdringliche massive Gewalt und ein bedrohliches Eigenleben – Ausdruck einer irreduziblen Differenz, die sich nicht der transzendentalen Selbstversicherung unterwirft und auch keine zeitliche Orientierung mehr bietet: „Todo alternado como si el tiempo hubiera perdido su ritmo. Como si el espacio estuviera loco.“ (Galán [1926/1931] 2008: 103) Die Literatur des Marokko-Kriegs ist voller RaumWetter-Szenarien, die zum Ausdruck des Unheimlichen solchen Fremdheitserlebens werden. Insbesondere in der Verwandtschaft vieler Marokko-Kriegstexte zur Literatur des Ersten Weltkriegs zeigen sich hier Parallelen zu absurden Raum-ZeitWahrnehmungen, wie sie Martin Hurcombe in Bezug auf den französischen Roman des Ersten Weltkriegs aufgezeigt hat: „It is in the ensuing sense of entrapment and of the impossibility of progression that much of our notion of the Great War as an absurd process resides. While this is characteristic of the general boredom of the trenches [...], it is also highly suggestive of a novelistic awareness of the Absurd, differentiating the combat novel from its predecessors in its subsequent effects not only on the structure of the early twentieth-century committed novel, but also its very understanding of history.“ (Hurcombe 2004: 83)

Das Leben im blocao weist Ähnlichkeiten mit dem Lebensgefühl in den Schützengräben auf, das Hurcombe beschreibt: Das absurde Zeitgefühl des sinnlosen Wartens, die Verkehrung der Entwicklungsidee in die Richtung unaufhaltsamer Regression, ein langsames inneres Erstarren in abgründiger Leere und Apathie prägen das Dasein im blocao: „El tiempo me daba la sensación de un desgaste que sin notarlo nos reducía a la nada. Aquella inacción, aquella falta de objeto, la obligación de estar sin fin en determinado sitio, embotaba las potencias. Nos ahogábamos en el peor de los abismos, en el vacío. La máquina de los proyectos y del esfuerzo, moría en nosotros. ¡Qué árido todo! Alrededor,



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las mismas cosas constantemente, dejaban de tener fisonomía propia, se borraban en una única sensación: un color, un punto brillante, y esto nos hipnotizaba. El sonido dejando de serlo, no se oía, a fuerza de oír lo mismo. Estábamos como sordos. El letargo iba poniendo paralítica la memoria. Costaba trabajo unir las palabras y darlas ilación. Sobre todo, inmensa desesperanza que no se sabía definir, desgana llena de disgusto...“ (Borrás ([1924] 1963: 182)

Wie die angeführten Zitate zeigen, finden sich solche Wahrnehmungsmomente von Absurdität in Texten verschiedenster ideologischer Ausrichtung. Wie die hier angeführte Textstelle aus Tomás Borrás‫ ތ‬Marokko-Roman La pared de tela de araña fallen diese Momente aus den episch-militaristischen und orientalistischen Raum-Zeiten mancher Texte heraus.14 Dabei zeigt sich auch eine gewisse Tendenz, gerade aus dieser Erfahrung von Absurdität die Notwendigkeit politischer Aktion abzuleiten, bzw. einen ideologischen Gegenentwurf zu formulieren, wie dies in der Literatur des Ersten Weltkriegs geschieht: „Inevitably, if any sense is to be made of the war, it is in opposition to such an alienated vision of the world, and its concomitant sense of temporal and spatial entrapment, that the ideology of the combat novel will have to impose itself.“ (Hurcombe 2004: 104) Wie sich in Kap 2.2.3 zeigte, leitet auch Giménez Caballero seinen abschließenden Aufruf zur politischen Intervention aus der Erfahrung von sinnlos verbrachter Zeit ab („¡Tenemos que intervenir juntos otra vez en algo común, por lo menos en ese ansia de descargar sobre alguien las fatigas, las arbitrariedades sufridas, el tiempo perdido estérilmente!“, Giménez Caballero [1923] 1986: 187). In anderen Erzählungen hingegen wird das Absurde strategisch eingesetzt und ästhetisch kondensiert, um dem militaristischen und kolonialistischen Symbolgerüst den Boden zu entziehen. Die Irritationen räumlicher und zeitlicher Ordnungsmuster, die in den meisten Kriegserzählungen in Form verstreuter Angstbilder auftauchen, verdichten sich in den zwei fiktionalen Erzählungen El blocao und Imán zu literarischen Chronotopoi und werden zum Zentrum, das die Bedeutung der Geschichten organisiert: „The chronotope is the place where the knots of narrative are tied and untied. It can be said without qualification that to them belongs the meaning that shapes narrative.“ (Bachtin [1975] 2000: 250)

14 Tomás Borrás’ Roman lässt sich literaturgeschichtlich zwischen Modernismus/Decadence und faschistischer Avantgardeprosa ansiedeln (vgl. hierzu Albert 1999: 131138).



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5.1.2 José Díaz Fernándezʼ blocao: Chronotop der Entfremdung José Díaz Fernández führt in El blocao, so wurde in Kapitel 3.3 gezeigt, das koloniale Eroberungsnarrativ in Form der erzählerischen Gemeinplätze seiner Vergeschlechtlichung zum Scheitern. Die Figur des blocao wird in diesem Zusammenhang in den Rang einer Metapher für die sexuelle Blockade und verhinderte Aneignung gehoben. Sie etabliert dabei gleichzeitig die raum-zeitlichen Grundkoordinaten in Díaz Fernández’ erzählter Welt. So taucht der Erzähler gleich im ersten Kapitel („El blocao“) ein in die beklemmende Enge des militärischen Außenpostens, die die atmosphärische Basis für die anderen Teile des Buchs legt.15 „Llevábamos cinco meses en aquel blocao y no teníamos esperanzas de relevo“ (Díaz Fernández [1928] 2007: 5), so führt die Erzählung mit dem ersten Satz den paradoxen Zustand hoffnungslosen Wartens ein – eines Wartens auf das Ende durch Ablösung, um dann gleich in einer erinnernden Rückblende zum Moment der Ankunft des Erzählers im blocao zurückzuspringen, als zwanzig frisch gekleidete Neulinge eine verwilderte, bärtige Soldatenhorde in verschlissener Uniform ersetzen. Die erzählte Zeit wird damit von Anfang an eingeschlossen in die Logik einer Kreisbewegung, bei der Vergangenheit und Zukunft ‚kurzgeschlossen‘ werden: Bereits in der Vergangenheit tritt den Ankömmlingen ihre eigene traurige Zukunft in Form ihrer verrohten und entfremdeten Vorgänger entgegen, auf die die Eingeschlossenen nun in einer unabwendbaren Mechanik zusteuern: „Sin darnos cuenta, cada día nos parecíamos más a aquellos peludos a quienes habíamos substituido. Éramos como una reproducción de ellos mismos, y nuestra semejanza era una semejanza de cadáveres verticales movidos por un oscuro mecanismo.“ (Ebd.: 8) Das Chronotop des blocao ist geprägt von einer selbstlaufenden Automatik der Barbarisierung, die die Figuren in die Gegenrichtung der zivilisatorischen Perfektionierung treibt. „Hemos caído en una cueva de Robinsones“ (ebd.: 5), so lautet der ironische Kommentar des Erzählers gegenüber einem Gefreiten, während der ausgelöste Kommandant den blocao mit folgenden zynischen Worten übergibt: „Buena suerte, compañero. Esto es un poco aburrido [...]. Algo así como estar vivo y metido en una caja de muerto.“ (Ebd.) Das Leben der Soldaten verläuft von nun an in monotoner Qual und wird zu einer Schattenexistenz in einem Schwellenraum zwischen Leben und Tod: „[...] en mi blocao no podía morir, porque, siendo un ataúd, no era un ataúd de muertos.“ (Ebd.: 10) Die hermetische Einschließung im blocao lässt den Alb-

15 Diese ist auch für die anderen Kapitel prägend, obwohl sie unterschiedliche Orte des Soldatenlebens in Marokko zum Setting haben (vgl. Boetsch 1985: 64).



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traum des Lebendig-begraben-Seins zur Realität werden, in dem Ohnmacht, Kommunikationsunfähigkeit und gesellschaftlicher Ausschluss ihren radikalsten Ausdruck finden. Dieser Kontaktverlust zur Außenwelt zeigt sich in dem verzweifelten Versuch des Erzählers, mittels eines Heliographen oder Fähnchen-Telegraphen den wolkendichten Raum zu durchdringen und das Hauptlager wegen des drohenden Todes eines kranken Soldaten um Hilfe zu ersuchen: „Me pasaba las horas en la explanada del blocao, buscando entre la espesura de las nubes un poco de sol para mis espejos. En vano sangraban en mis manos las banderas de señales.“ (Ebd.: 9) Der Verlust einer natürlichen sozialen Einbettung lässt den Erzähler immer wieder neidvoll durch den Feldstecher auf das nächstgelegene Berberdorf schauen, auf das er seine Sehnsucht nach einem intakten gesellschaftlichen Mikrokosmos projiziert. Die Außenwelt steht dem Innern des blocao jedoch als beziehungslos gegenüber, ein konkreter Feind, der dem Handeln im Krieg seine einzige Legitimation und sinnvolle Basis verleiht, lässt sich auch hier nicht ausmachen. So besteht die tatsächliche Gefahr nicht in einem gegnerischen Außen, sondern in einem fortschreitenden Prozess innerer Selbstzersetzung: „El enemigo no estaba abajo, en la cabila, que parecía una vedija verde entre las calaveras mondadas de las lomas. El enemigo andaba por entre nosotros, calzado de silencio, envuelto en el velo impalpable del fastidio.“ (Ebd.: 8) So beginnt man im blocao verzweifelt auf einen Angriff zu hoffen und begrüßt mit Jubel einen vereinzelten Gewehrschuss, der sich in die Schanzwälle bohrt. Die hoffnungsvollen Vorbereitungen auf einen Angriff entpuppen sich jedoch als überflüssiger Aktionismus, denn der Kampf bleibt aus: „Dijérase que los moros preferían para nosotros el martirio de la monotonía. A las dos horas de esperarlos, yo me cansaba, y lleno de rabia mandaba hacer una descarga cerrada. Como si quisiera herir, en su vientre sombrío, a la tranquila noche marroquí.“ (Ebd.: 8-9) Mit dem Schweigen der marokkanischen Nacht auf das Gewehrfeuer läuft die „Sinnvermutung“ (Fuß 2001: 135) des Kriegs ins Leere und damit driftet die Handlung ins Absurde. Durch das Fehlen jeglicher Rückspiegelung durch das Außen verliert das Innen seine Kohärenz. Die koloniale Mission stellt sich hier als Prozess der kontinuierlichen Identitätsauflösung dar, der einer intrinsischen Dynamik folgt. Der blocao wird zu einem ankerlosen Schiff,16 das den Kontakt

16 Vgl. Micó España 1922b: 50: „Quedaban en las posiciones, envueltos en las sombras de la noche, aislados de toda posible protección humana, multitud de soldados de España, abandonados a su suerte, y sin otro aliento ni amparo moral que el de sus propios corazones, como náufragos de la desgracia en un ligero esquife, navegantes en un



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zur Heimat als Zentrum des Sinns verloren hat: „Siete meses en una posición pequeña, en uno de aquellos puestos perdidos, donde de repente le entra a uno el temor de que se han olvidado de él en las oficinas del Mando.“ (Díaz Fernández [1928] 2007: 80-81) Die Idee, die oberste Befehlsgewalt könnte sich ihrer ‚Befehlsempfänger‘ im Protektorat nicht mehr erinnern, lässt die subjektkonstituierende Macht der autoritären Anrufung zur reinen Vermutung werden. Die performative Kraft der Interpellation liegt, wie Judith Butler im Anschluss an Louis Althusser beschreibt, in der Zuweisung einer sozialen Existenz: „In the reprimand the subject not only receives recognition, but attains as well a certain order of social existence, in being transferred from an outer region of indifferent, questionable or impossible being to the discursive or social domain of the subject.“ (Butler 1993: 121) Mit der Möglichkeit eines Versagens der Interpellation entsteht dieser Außenraum des unentschiedenen, unmöglichen Seins; der militärische Außenposten wird zum Ort des ‚Bodenlosen‘, ähnlich wie ihn Flusser als Inbegriff des Absurden beschreibt: „Das Wort ‚absurd‘ bedeutet ursprünglich ‚bodenlos‘, im Sinn von ‚ohne Wurzel‘. [...] Etwa wie ein Planetensystem bodenlos ist, wenn man fragt, warum und wozu es sich um die Sonne dreht in der gähnenden, abgründigen Leere des Weltalls.“ (Flusser 1992: 9) Im zweiten Kapitel von Díaz Fernández’ El blocao – „El reloj“ – findet die absurde Zeit eine eindrucksvolle symbolische Verkörperung in einem Objekt mit surrealistischen Zügen: einer riesenhaften Taschenuhr, die die Aufmerksamkeit der ganzen Kompanie auf sich und ihren Besitzer, den Soldaten Villabona, lenkt. Das verfremdete Chronometer – „ojo de cíclope, rueda de tren, cebolla de acero“ (Díaz Fernández [1928] 2007: 17) – ist nicht nur die Materialisierung der absurden Zeit, sondern auch eine zentrale Requisite, auf die sich eine Reihe absurder Handlungen richtet. Zunächst ist die Uhr Sinnbild und Objekt der Überbrückung des Bruchs im Leben Villabonas, der bei seiner Rekrutierung im Anschluss an das Desaster von Annual seine noch unberührte Braut (gleich der zwiebelhaften Uhr noch eingewickelt, „como una castaña en su cáscara morena“, ebd.: 18) zurücklassen und vom Traualtar direkt in die Kaserne marschieren muss. Damit wird die sinnerfüllte lebensgeschichtliche Zeit für den Einberufenen suspendiert und macht der absurden Zeit des Kolonialkriegs Platz, die keine fassbare Beziehung zur Vergangenheit mehr aufweist (vgl. Boetsch 1985: 71). Ein Jahr später trifft per Post eine Nachricht der Braut ein, dass Villabona Vater geworden sei – angesichts der

mar proceloso, combatido por adversos vientos y poblado de caimanes, sin poder sacar un brazo, porque el enemigo ronda. ¡Qué sensación de ‚perro perdido‘, de absoluto desamparo y de infinita tristeza [...].“



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langen Abwesenheit und der ‚unvollzogenen Ehe‘ ein Ding der Unmöglichkeit, auf das er mit einem lethargischen Achselzucken reagiert. Villabonas Dasein findet seinen einzigen Halt in der Fixierung auf seine enorme Taschenuhr, die ein Substitut für den Verlust seiner zwischenmenschlichen Beziehungen darstellt. Während Villabona durch die in der Kaserne erlernte Hilflosigkeit zu einem passiven Gegenstand mutiert, erlangt die Uhr das Eigenleben eines gezähmten Tieres, auf das der Soldat seine ganze Zuneigung richtet: „[...] lo extraía del fardo de su bolsillo y lo colocaba en la palma de su mano, como una tortuga sobre una losa. El soldado espectador lo miraba con la misma prevención que se mira a un mamífero domesticado. Villabona, en cambio, sonreía; la feliz y bondadosa sonrisa podría traducirse así: –Ya ves; yo no le tengo miedo. Es muy dócil.“ (Díaz Fernández [1928] 2007: 18)

Villabonas enge Beziehung zu seiner Uhr ist eine Metapher für die Auflösung der Grenze zwischen Ding und Mensch, zwischen Mechanisierung des Lebendigen und Verselbständigung des Mechanischen. Diese Entmenschlichung und Verdinglichung im militärischen Machtgefüge veranschaulicht die Szene einer Truppeninspektion: Ironischerweise ist es hier gerade das Ticken der Uhr, deren selbstlaufende Mechanik und eigentümliche Verlebendigung sich nicht der Disziplin der Kompanie unterwirft: „En el silencio de la fila el reloj de Villabona jadeaba como una vulpeja en una trampa. Pasó primero el teniente, miope, distraído, que se detuvo, sin embargo, dos o tres veces inquiriendo aquel rumor insólito.“ (Ebd.: 19) Nachdem der Leutnant das Störgeräusch nicht verorten kann, werden nun nacheinander die nächst höheren militärischen Ränge hinzugeholt – Hauptmann, Major und Oberst. Letzterer schickt zunächst einen Soldaten ins Strafverließ, der den äußeren Maßstäben militärischer Männlichkeit nicht nachkommt: Ihm wächst kein Schnurrbart. Nach dieser willkürlichen Machtdemonstration bar jeden Sinns richtet sich die Aufmerksamkeit nun erneut auf das Pulsieren der Uhr: „El reloj de Villabona se oía más claro y preciso que nunca. Un escalofrío de terror recorrió la fila. El teniente coronel miraba al comandante, y el capitán al teniente. –¿Qué es eso? ¿Hay ratas por aquí?“ (Ebd.: 20) Als Villabona schließlich den ungehorsamen „monströsen Apparat“ aus seiner Hosentasche holt, ist die Überraschung groß: „–¡Qué barbaridad! –exclamó el coronel– ¿Esto es un reloj? Capitán, ¿cómo consiente usted que un soldado vaya cargado con este artefacto?“ (Ebd.) Der Zeitmesser als gefangenes und rebellisches Tier, das sich als einziges einem sinnentleerten Kontroll-Ritual widersetzt, ist ein eindrucksvolles Symbol absurder Zeit, die jedes Maß verloren hat. Die Verabsolutierung militärischer



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Normierung degradiert den Einzelnen zum stumpfsinnigen Automaten – die ‚Schnauzbartnorm‘ und Villabonas eigentümliche Intimität mit seiner Uhr führt das anschaulich vor Augen. Das Chronometer wird ironischerweise zum letzten verbliebenen Lebensinhalt des vereinsamten Soldaten: „Dijérase que el sonido del reloj era un idioma entrañable que sólo él entendía. Otro corazón oscuro, perdido en la campaña, ininteligible como el corazón de Villabona.“ (Ebd.: 2021) Es ist das Objekt, das die Welt noch hält. So erklärt sich, dass das Ende der Uhr auch das Ende der Geschichte Villabonas bedeutet: Man findet ihn hinter einem Kaktus, weinend das kaputte Chronometer in den Händen haltend: Es hat seinen Besitzer vor einem Gewehrschuss bewahrt, doch dem Überleben Villabonas ist nun endgültig jeder Sinn abhandengekommen: „Sollozaba entre los escombros de su reloj, como si su vida no tuviera importancia al lado de aquel mecanismo que acababa de desintegrarse para siempre. De morir también.“ (Ebd.: 20) Der kaputte Zeitmesser in El blocao ist ein Sinnbild für die Unmöglichkeit einer Wiederanschließung der Kolonialkriegserfahrung an die Raum-Zeit der Heimatgesellschaft. Ihre riesenhafte Größe verkörpert die Verhältnis- und Maßlosigkeit der Raum-Zeit der militärischen Exklave im Protektorat. Das Zerbrechen der Uhr führt die Fragmentarisierung der Zeit vor Augen, das Zersplittern des lebenszeitlichen und geschichtlichen Zusammenhangs. Der blocao als Außenposten der Zivilisation ist ein liminaler Raum par excellence, als „Schwellenchronotop“ (Bachtin [1975] 2000: 148) ist er der Ort von Bruch und Krise. Er ist jedoch ein Schwellenraum, der nirgendwo hinführt, der die Initiation nicht vollzieht und keine Wiederanbindung ermöglicht: Hier befindet man sich in einem kontinuierlichen labilen Schwebezustand, einem Niemandsland, das keine gewöhnlichen zwischenmenschlichen Relationen und sozialen Strukturen mehr aufweist. In diesem auf Dauer gestellten „betwixt and between“ (Turner 1967) wird das Festhalten an der symbolischen Ordnung des Kolonialkriegs zu einem Seiltanz über dem Abgrund des Absurden: Die Macht von Zeichenhandlungen, die Verbindung zwischen Autorität und Diskurs ist, wie in Anschluss an Judith Butler beschrieben, auf das performative Gelingen des Zitats angewiesen. Die kulturelle Ordnung ist im blocao ständig vor ihrem kompletten Kollaps bedroht und muss mittels einer rigiden Ritualstruktur ununterbrochen beschworen werden. In der Wiederholung vollzieht sich jedoch tatsächlich die Entleerung der transzendentalen Bedeutungen, derer man sich rituell zu versichern sucht. Indem manche Kriegsliteratur dieses Scheitern inszeniert und thematisiert, entblößt sie die Instituierung von Macht als profanen Selbstzweck des Rituals und entthront damit die militärische Autorität: Sie zeigt, wie leicht das Ritual seine performative Kraft verliert und zur Inszenierung hohler



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theatralischer Gesten mutiert. Das von der Kulturwissenschaft in Anschluss an Homi Bhabha mittlerweile so positiv belegte ‚Dazwischen‘, das zu einer produktiven Auseinandersetzung mit der kulturellen Symbolwelt führt (vgl. BachmannMedick 2006: 115-118), ist im Chronotop des blocao gleichbedeutend mit Erstarrung, radikaler Entfremdung und Sprachlosigkeit: „La quietud del blocao es aún mayor que la del campamento. No sabemos qué hacer ni qué decir. Las conversaciones carecen de sentido. [...] El presente monótono y mecánico nos tiene anulados...“ (Galán [1926/1931] 2008: 61) Das Absurde taucht auf in Gestalt des Heliographen, der Uhr, des Rituals und seinen Zeichensystemen, mit denen man die kulturelle Sinnwelt aufrechtzuerhalten versucht. Im Misslingen der Anrufung des ‚Oberkommandos‘ als Zentrum von Sinn wird das Zeichenhandeln im militärischen Posten in Marokko ad absurdum geführt. Beim Versagen der Kommunikation wird der Heliograph unweigerlich zur lächerlichen Requisite: „Sacan el heliógrafo. Un trípode enorme con el pequeño espejo redondo gracioso como un juego de niños. [...] El comandante dicta y el cabo [...] hace la llamada: ‚taca, tac tac taca.‘“ (Sender [1930] 2008: 99) Was in El blocao anklingt, wird zu einem zentralen Merkmal der Romanwelt Senders: Die Zentrumszuweisung (als „Sinnvermutung“) läuft ins Leere. Doch bevor das Augenmerk auf Imán gerichtet wird, soll hier noch ein Blick auf eine Erzählung geworfen werden, in der die Kommunikationssituation im blocao als tragendes Element einer komischen Handlung dient. 5.1.3 Die komische Dimension des blocao in Wenceslao Fernández Flórezʼ Aventuras del Caballero Rogelio de Amaral (1933) Eine der wenigen humorvollen Inszenierungen des Desasters von Annual findet sich in Fernández Flórez’ Satire Aventuras del Caballero Rogelio de Amaral von 1933 (vgl. López Barranco 1999: 733), auf die hier in einem kurzen Exkurs eingegangen werden soll. In vier Kapiteln verballhornt die Erzählung, die sich als Biographie ausweist und eine entfernte Verwandtschaft mit einer RitterromanParodie aufweist, die epische Selbstwahrnehmung des spanischen ‚Caballero‘, indem sie sich der lächerlichen Hauptfigur Rogelio Amaral an die Fersen heftet. Der Roman deckt zeitlich die letzten Jahre vor seinem Erscheinen ab und widmet nur das zweite der vier Kapitel dem Marokko-Krieg; dieses liest sich allerdings wie eine autonome Geschichte (Mature 1968: 99). Die Kernhandlung dieser Geschichte spielt sich in einem kleinen Posten („no pasaba de ser una especie de corraliza“; Fernández Flórez 1933: 81) in äußerster Lage ab, wo Amaral als Unteroffizier gemeinsam mit 25 Männern stationiert ist,



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die in erster Linie mit der patriotischen Mission beschäftigt sind, gegen Ungeziefer zu kämpfen und mittels des Heliographen die Nachricht „Sin novedad“ auszutauschen. In dieser Situation entwickelt Amaral mit seinen Kameraden die Gewohnheit, in der improvisierten Bar des Juden Ben Kassani Gelage auf das Wohl des Königs abzuhalten. Hier halten sich die drei Männer auf, als die spanischen Stützpunkte unter dem überraschenden Angriff der Berber zusammenbrechen und alle anderen Soldaten aus dem Vorposten fliehen. In Fernández Flórez’ Geschichte wird nun zu Ende phantasiert, was in El blocao angedacht wird: Der Posten wird schlichtweg von aller Welt – von den Eigenen und den Feinden – vergessen und geht auf diese Weise unversehrt aus der Katastrophe hervor. Umso größer ist die Begeisterung im Hauptquartier, als man nach der schmählichen Niederlage das Blitzen des Heliographen wahrnimmt: Als letzte Bastion des Widerstands gegen die aufständischen Kabylen scheint der Außenposten heroisch standzuhalten und wird zum Symbol der Ehrenrettung der Nation, die gebannt sein Schicksal verfolgt. „¡Qué esfuerzo ciclópeo el de aquellos soldados para mantener aún el prestigio de la Patria en la cima de un peñasco! Náufragos, sin posible auxilio, en un océano de sangre.“ (Ebd.: 92) Heldendenkmäler der Männer in erhabenen Posen werden entworfen, die Zeitungen stilisieren die Geschichte zur Sensation: „Allí, en el pico de un monte, estaban tres espécimen de la raza, de la verdadera raza que se pasó los siglos guerreando [...].“ (Ebd.: 93) Amaral und seine Kameraden leeren währenddessen auf ihrer einsamen Bergspitze die Weinfässer Ben Kassis, spielen Karten, stimmen patriotische Lieder an und schicken bisweilen erlogene, bzw. doppeldeutige Ruhmes- und Leidensnachrichten über das Spiegelsystem wie: „Nada que beber. Situación difícil. ¡Viva España!“ (Ebd.: 97). Nachdem der Weinvorrat zu Ende gegangen ist, kehren die Soldaten hinter die spanischen Linien zurück und werden dort als Vaterlandsretter gefeiert. Als man unter den ranghohen Militärs den Betrug entdeckt, einigt man sich jedoch auf die Aufrechterhaltung der Geschichte der glorreichen Verteidigung der Außenposition – „un oasis en la amargura de nuestro terrible fracaso“ (ebd.: 106) – und freut sich darüber, das nationale Mythenkorpus von Numancia, Gerona und Cascorro um eine neue Geschichte ergänzt zu haben. In Rogelio Amaral wird das komische Potential der Raumsituation des militärischen Vorpostens ausgekostet. Die Verbindung von Abschottung und patriotischer Repräsentationsfunktion führt zur Verselbständigung des HeldenDiskurses gegenüber der Realität, man begnügt sich darauf, die Imaginationen und Wunschvorstellungen zu bestätigen, mit denen die Heimatgesellschaft den kolonialen Kriegsraum belädt. Damit wird auf die heikle Kommunikationssituation verwiesen, der die Kolonialkriegsliteratur überhaupt untersteht, indem sie



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die räumliche Trennung von Textproduktion und Rezeption impliziert: das Bedürfnis des ‚Mutterlandes‘ nach Geschichten aus der Kolonie und von der Front, die kollektive Authentizitätsfiktion, der man aufsitzt und der Wunsch nach Bestätigung von Wahrheiten, auf denen die Entsendung in die Fremde beruhte. Die Erzählung führt vor, wie dies unweigerlich zum weiteren Ausbau eines jahrhundertealten Lügengerüstes führt, und erklärt ganz nebenbei die großen spanischen Gründungsmythen wie Numancia zu nationalen Fiktionen.

5.2 R AMÓN S ENDERS I MÁN (1930): ANNUAL , C HRONOTOP DES ABSURDEN Imán ist die bekannteste und aus literaturästhetischer Perspektive wohl faszinierendste Erzählung über das koloniale Desaster im Rif. Auch aufgrund der Kanonisierung von Ramón Sender ist dieser Roman als erster wichtiger literarischer ‚Wurf‘ des Autors mit einiger literaturwissenschaftlicher Aufmerksamkeit bedacht worden. Ähnlich wie José Díaz Fernández’ El blocao wird auch Imán als einer der Romane gehandelt, die in der spanischen Literatur die Wende von der literatura pura der Avantgarde hin zum Sozialrealismus vollzogen (vgl. u.a. Bosch 1970a: 251; Schneider 1992: 409-410). Dass er sich nicht ganz mit dem Etikett des Sozialrealismus fassen lässt, zeigt das Sammelsurium an literaturästhetischen Kategorien, mit denen man sich dem Text bereits genähert hat: Neorealismus, Impressionismus, Expressionismus, Surrealismus, Nuevo Romanticismo (im Anschluss an Díaz Fernández’ Programm der literatura de avanzada von 1930, vgl. Kap. 3.3), Tremendismo, Symbolismus, Magischer Realismus und vieles mehr (vgl. hierzu bes. Carrasquer 1970, 1992). Im Folgenden soll der Roman nicht im Lichte eines ästhetischen Programms gelesen werden, sondern – im Zusammenhang der testimonialen Marokko-Kriegsliteratur der 1920er Jahre – als Text, der gewissermaßen etwas zu Ende führt. Als Abschluss des hier vorgenommenen Deutungsentwurfs der Literatur des Desasters von Annual wird es möglich sein, einen neuen kulturwissenschaftlichen Blick auf Imán zu werfen. Dabei soll der Text als Form der Absage an bestimmte Formen des Schreibens und Sprechens über Marokko gedeutet werden und als besonders eindrucksvolle Inszenierung der Erschütterung des Kolonialismus und Militarismus als kulturelle Sinnsysteme, denen in der spanischen Gesellschaft eine zentrale Identitätsbildungs- und Orientierungsfunktion zukam. Viele Kritiker haben bereits einzelne Elemente in Imán als absurd bezeichnet, jedoch ohne genauer zu bestimmen oder systematisch zu untersuchen, wie das Absurde zustande kommt. Die Frage, wie der Roman in der



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Erzählung des Desasters eine absurde Raum-Zeit entstehen lässt, steht im Zentrum der folgenden Analyse. In vielerlei Hinsicht weist Imán eine enge Verwandtschaft zu den anderen Marokko-Kriegserzählungen auf und lehnt sich zudem deutlich an die pazifistische Literatur des Ersten Weltkriegs an (vgl. unten). Typisch sind u.a. die widersprüchlichen Signale von Faktizität und Fiktionalität, die Inkonsistenz von autobiographischer Referentialität und heterodiegetischen Erzählsituationen, die sich nicht aus der Augenzeugenschaft erklären lassen (vgl. hierzu Kap. 4.3.3). So gibt der Haupttext, u.a. in der Differenz zwischen Erzähler- und Autornamen, seine Fiktionalität zu erkennen, aber die Notiz, die der Erstausgabe von 1930 vorangestellt wurde, kündigt den Text als eine Sammlung von Soldatennotizen an, wie sie zahlreich bereits im Anschluss an 1921 in Spanien publiziert wurden: „Tenía estas notas desde hace tres años. Observaciones desordenadas, a veces demasiado prolijas, a veces sin forma literaria, recogidas durante mi servicio militar en Marruecos, a raíz del desastre del 21. [...] La imaginación ha tenido bien poco –nada, en verdad– que hacer. Cualquiera de los doscientos mil soldados que desde 1920 a 1925 desfilaron por allá podía firmarlas.“ (Sender [1930] 2008: 1)

Der Paratext knüpft hier an den testimonialen Authentizitätsanspruch der vielen Kriegstexte an und bleibt dabei auf geschickte Weise mehrdeutig, insofern er die Erzählung nicht als persönliche autobiographische Wahrheit im engeren Sinne ausgibt, sondern als stellvertretende – und damit symbolische – Wahrheit der Erfahrungsgemeinschaft der Afrika-Soldaten. Dieses Vorwort als autoreflexives Spiel mit Wahrheit und Fiktion zu verstehen und dem Gesamttext eine metaliterarische Dimension zuzuschreiben, wie Marshall Schneider dies getan hat (1992),17 würde bedeuten, die Ernsthaftigkeit der „Geste des Bezeugens“ zu verkennen, die sich eigentlich gerade „jenseits des Gegensatzes von Fiktion und Faktizität situiert“ (Weigel 2000: 116). Tatsächlich gelingt in Imán eine umfassende Literarisierung des Desasters, durchzogen von avantgardistischen (u.a. surrealistischen und expressionistischen) Elementen; hier jedoch stehen diese – im Kontrast zum ästhetischen Symbolismus anderer Kriegstexte wie Gregorio Corrochanos ¡Mektub!, Tomás Borrás La pared de tela de araña oder Ernesto Giménez Caballeros Notas marruecas de un soldado – der dokumentarisch-realistischen Referentialität

17 Vgl. z.B. ebd.: 413: „The fictionalized prologue, riddled with imagined truth and creative half-truth, is best viewed as a Magritte-like cautionary sign, an aporia similar to the one found in his famous painting of a pipe.“



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nicht als artifizieller Gestus gegenüber. Die mächtigen Verfremdungseffekte treten in Senders Textwelt nicht als Kunst-Spiel auf der Ebene des discours in Erscheinung – und damit setzt sich der Roman entscheidend von der Literatur der Avantgarde ab. Vielmehr ist die Verfremdung ein fundamentaler Bestandteil der Realitätserfahrung auf der Ebene der histoire, genauer gesagt: der Desintegration der Wirklichkeit in der realistischen Beschreibung der Gewalt und der apokalyptischen Zerstörungsszenarien des Kriegs. In dieser Hinsicht hat Imán einiges mit manchen pazifistischen Texten über den Ersten Weltkrieg gemeinsam, so mit Henri Barbusses Le feu, aber auch mit Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues: Der Mensch als Schlammwesen, das in Kraterlöchern dahinvegetiert, das irreale Geräusch- und Licht-Erleben im Hagel der Flugobjekte und Geschosse, die surrealistische Zweckentfremdung der alltäglichen Objektwelt als Teil eines soldatischen Erfindungsreichtums, der allein dem mühsamen Überleben dient, schließlich die große Überflutung einer nicht mehr wiedererkennbaren Landschaft, die einmal die Heimat gewesen sein soll – all dies erhebt hier tatsächlich auf erschreckende Weise den Anspruch des Bezeugens einer historischen Realität. Das Mythische und Mystische, das in diesen Szenarien sein Gesicht zeigt, ist nicht ein integraler Bestandteil des Weltverstehens, sondern geht vielmehr aus der Unmöglichkeit des Begreifens eines physisch-realistischen Weltenzusammenbruchs hervor. Senders Annual-Roman markiert auf diese Weise das Ende kolonialer Rhetorik, er verabschiedet sich von der zweideutigen Bewegung der Darstellung des ‚Desaströsen‘ und seiner pathetischen Sublimierung. Er macht sich zugleich die Inszenierung des komischen Scheiterns autoritärer Sprache zum Programm und legt die Intention von Rechtfertigung und Berichtigung, die Klärung der Schuldfrage in der Zuweisung einzelner Verantwortungen ad acta: „Y todo bajo la indiferencia del cielo estrellado, tan lejos, [...] hace pensar en un gran error y en un gran responsable. ¿Dónde? ¿Quién?“ (Sender [1930] 2008: 112) Er verzichtet zudem auf eine allzu explizite ideologische Schließung in Form einer politischen These oder eines finalen Aufrufs – und setzt sich darin auch von anderer kriegskritischer Literatur ab (wie von Galáns La Barbarie Organizada oder auch von Barbusses Le feu). Dennoch ist Imán einer der zentralen Marokko-Kriegstexte, die Annual als traumatischen Gedächtnisort mit politischer Bedeutung begründen – ein Ort, der zweifach markiert ist durch Gewalt des historischen Un-Falls und die strukturelle Gewalt der sozialen Marginalisierung und des militärischen und kolonialen Systems (vgl. Kap. 4). An Imán zeigt sich jedoch auch, dass erst jenseits einer allzu offensichtlichen politischen Indienstnahme ein Bedeutungsüberschuss generiert wird, der eine existentielle Dimension erlangt.



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Ramón Senders Aufenthalt in Marokko ist in Vicente Moga Romeros Bildband El soldado occidental. Ramón J. Sender en África (2004) umfassend dokumentiert: Im Alter von 22 Jahren gelangte Sender, nachdem er aufgrund eines Losentscheids ins Afrika-Heer einberufen worden war, im Februar 1923 nach Melilla (Moga Romero 2004: 28). Dort wurde er als gewöhnlicher Soldat dem Infanterieregiment Ceriñola Nummer 42 zugeteilt – der Truppeneinheit, deren kollektives Schicksal in Imán miterzählt wird. Das Regiment Ceriñola 42 hatte bereits einen Marathonlauf durch die Kolonialgeschichte Spaniens hinter sich: Ab der Guerra de Melilla von 1893 war es in allen wichtigen Operationen in Marokko und auch im Kuba-Krieg zum Einsatz gekommen, bis es beim Desaster von 1921 praktisch ausgelöscht wurde und von Grund auf neu organisiert und aufgebaut werden musste (ebd.: 92, 104). Als Angehöriger dieser Truppen wurde Sender – allerdings erst eineinhalb Jahre nach dem Desaster – in den Kasernen von Cabrerizas Altas stationiert, einem Stadtteil Melillas, der Jahrzehnte später als Namensgeber und Setting seines dritten Romans über den Marokko-Krieg fungieren würde (Sender [1944] 1965). Hier trafen im Sommer 1921 die Überlebenden der Niederlage von Annual ein und verwandelten die alte Kaserne von Ceriñola in einen Zufluchtsort für die verschreckten und erschreckenden, von der Katastrophe gezeichneten Gestalten (Moga Romero 2004: 96), die in der Figur des Viance, dem Protagonisten in Imán, ein eindrucksvolles literarisches Gesicht gefunden haben. Bis Juli blieb Sender in Melilla stationiert und wurde dann in verschiedene Militärposten im Rif versetzt, wobei er ungewöhnlich schnell zum Feldwebel und Unteroffizier befördert wurde (ebd.: 106-107). Bereits Ende Januar 1924 wurde er aus dem Dienst in Marokko entlassen und trat die Heimreise an. In den militärischen Dokumenten als Student verzeichnet, arbeitete Ramón Sender schon vor seiner Einberufung nebenbei als Journalist und setzte diese Tätigkeit in Marokko fort: Im El Telegrama del Rif publizierte er zwischen April 1923 und Januar 1924, dem letzten Monat seines Marokko-Aufenthalts, unter den Titeln „Arabescos“ und später „Impresiones del carnet de un soldado“ eine Reihe von Kriegschroniken, die deutlich von dem pro-kolonialistischen, afrikanistischen Gedankengut durchsetzt sind, das für die Tageszeitung aus Melilla charakteristisch ist.18 Der Prozess des Umschreibens lässt sich hier innerhalb der Textproduktion eines einzelnen Autors beobachten: Zwischen seinen Zeitungsar-

18 Diese wurden von Moga Romero in seinem Bildband über Ramón Sender in Afrika erneut herausgegeben (Moga Romero 2004: 181-211).



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tikeln und frühen fiktionalen Erzählungen über Marokko19 einerseits und Imán andererseits klafft ein ideologischer (und ästhetisch-stilistischer) Abgrund. Sender selbst hat die Wende in seinem politischen Denken auf seine MarokkoErfahrung zurückgeführt: „Yo fui a Marruecos y volví muy radicalizado a la izquierda.“ (Vived Mairal 1993: XLVII) An den Zeitungsartikeln wird jedoch erkennbar, dass die Hinwendung zum sozialrevolutionären Gedankengut, die so deutlich mit dem Umschreiben des ‚Marokko-Textes‘ einhergeht, erst nach der Heimkehr einsetzte.20 Ein kurioses Produkt mehrfacher Adaptation ist Senders Marokko-Erzählung „Una hoguera en la noche“, die sich, ähnlich wie in Bezug auf ¡¡¡Los muertos de Annual ya son vengados!!! beschrieben (Kap. 4.4), durch das Neuschreiben schrittweise zu einem Palimpsest voller Inkonsistenzen entwickelte. Sie wurde erstmalig 1923 in der Zeitschrift Lecturas publiziert, versehen mit einem verlegerischen Paratext, der die Erzählung als aktuelles, der Nachtruhe des Afrika-Soldaten abgerungenes Produkt ausweist.21 In der ersten Publikation in Buchform von 1980 ist die Erzählung allerdings mit „Zaragoza 1917“ unterzeichnet, obwohl sie verschiedene Referenzen auf historische Realitäten enthält, die sich erst nach 1917 ereigneten: So endet die Erzählung mit dem Beschluss der Hauptfigur, sich der Legion anzuschließen, die jedoch erst 1920 ins

19 Neben dem Roman Una hoguera en la noche (Sender [1923] 1980) sind dies zwei Kurzgeschichten, die ebenfalls in der Zeitschrift Lecturas erschienen: „Ben-Yeb el cobarde. Recuerdos e impresiones“, Lecturas, Sept. 1925 und „El negro Tscho-Wak. Recuerdos e impresiones“, Lecturas, Sept. 1926. 20 Im letzten der Artikel, die er in seiner Dienstzeit in Marokko verfasste, reflektierte Sender den Mangel an zeitlicher Distanz zum Geschehen als Problem, die MarokkoEreignisse erzählerisch zu fassen zu bekommen: „¿En qué sentido [las notas] pueden ser interesantes? Creemos que en ninguno. Además, nuestras observaciones, demasiado recientes, con el matiz –probablemente engañoso– de la impresión primera, no podían tener valor de lo que se ve hoy y se comprueba mañana con el juicio seguro y la imaginación dormida, que es como quisiéramos que estuviera la imaginación en el discurso de estos discreteos intrascendentales.“ Ramón J. Sender, „De la universidad al cuartel“, El Telegrama del Rif XXII, 8181 (17.1.1924), S. 1, hg. von Moga Romero in: ders. 2004: 207. 21 „Ramón Sender [...] se encuentra actualmente en tierra de moros luchando en las filas del ejército español. Allí, en ratos de descanso y restándose horas de dormir, concibió y escribió esta narración; y como la compuso viviendo aquel ambiente, hay en toda su obra ese encanto especial, ese sabor de vida y de verdad que da siempre el natural.“ (Vorwort zu „Una hoguera en la noche“, Lecturas 26 [Juli 1923], S. 677, zit. nach Moga Romero 2004: 133, Hervorh. im Original).



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Leben gerufen wurde. Der Palimpsest-Struktur der Edition von 1980 liegt eine modernistisch-exotistische Erzählwelt zugrunde, die durchaus der rein literarisch genährten Phantasie eines 16-Jährigen entspringen konnte und als Entstehungsjahr 1917 plausibel erscheinen lässt:22 Es handelt sich um eine Liebesgeschichte zwischen dem heldenhaften und zugleich mit einer hypersensiblen Phantasie ausgestatteten Offizier Ojeda, der sich in einem isolierten Vorposten in Marokko in eine mit allen orientalistischen Stereotypen ausgestattete mora (Kind-Frau und Tochter eines Stammesfürsten) verliebt und nach einer leidenschaftlichen Beziehung von wenigen Tagen ihren Tod betrauert. Erst später hat Sender, wie Moga Romero in seinem Vergleich der Textvarianten gezeigt hat (Moga Romero 2004: 132-139), Una hoguera en la noche von eindeutig afrikanistischen Textstellen befreit und in Skepsis und Desillusion enden lassen,23 den befremdlichen freudianischen Haschischtraum in den Text eingebaut und damit den Offizier mit einem komplexen psychologischen Hintergrund versehen (Sender [1923] 1980: 92-121). Sender war bereits Mitarbeiter der anarcho-syndikalistischen Zeitung Solidaridad Obrera und hatte aufgrund seiner politischen Opposition gegen die Diktatur Primo de Riveras einen Gefängnisaufenthalt hinter sich (Martínez de Pisón 2001: 46), als Imán im Jahr 1930, das das Ende der Monarchie und Diktatur markierte, publiziert wurde. Der Roman wurde in den 1930er Jahren in mehrere europäische Sprachen übersetzt24 – ein weiteres Zeichen seiner besonderen Nähe zur europäischen Anti-Kriegsliteratur: Imán lehnt sich nicht nur deutlich an diesen transnationalen Erzähldiskurs an, sondern ist selbst wiederum in diesen eingegangen.

22 Der Protagonist ist selbst beeinflusst durch seine Lektüre, mittels derer er sein Dasein im militärischen Vorposten imaginativ ausstaffiert: „En mangas de camisa abrió una de las maletas y pasó revista a su pequeña provisión de libros. Había una geografía descriptiva y media docena de volúmenes con nombres de autores muy raros: Kaldhun, Roland, Frejus, Tomassy, Baudelaire.“ (Sender [1923] 1980: 8) So nimmt der Text auf die Opium- und Haschisch-Welten von Baudelaire Bezug, sowie auf Balzac (ebd.: 20), Poe (ebd.: 38), Alarcón (ebd.: 9) und die Scheherazade (ebd.: 22). 23 „Sonreía Ojeda con escepticismo, amargura y sarcasmo. Y se alegraba de haberse incorporado a una unidad [la Legión] en la que suponía que la mayor parte buscaban la muerte. Esa muerte de los silencios locos o de las canciones estúpidas. Porque todas las canciones del mundo carecían ya de sentido.“ (Sender [1923] 1980: 139) 24 Zu den Übersetzungen und Editionen, vgl. Espadas 1995: 190-191. Der Roman wurde zuerst ins Deutsche (1931), dann ins Russische (1933), zweimal ins Englische (1934, 1935) und ins Portugiesische (1935) übersetzt.



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5.2.1 Verlust von Heimat im Dominoeffekt oder Viances Lauf auf dem Rand der Struktur Imán besteht aus drei Teilen, von denen der zweite mit dem Titel „Annual – La catástrofe“ der umfangreichste ist und das Bedeutungszentrum des Textes bildet. Hier wird das eigentliche Desaster von Annual erzählt, das gegenüber dem ersten und dem letzten Teil in der Vergangenheit liegt und als erzählerischer Mittelpunkt wie ein Magnet (imán) die gesamte Romanwelt in das Kraftfeld der Katastrophe zieht: Schon zu Beginn der Erzählung ist der Protagonist Viance ein Überlebender und somit tief gezeichnet vom Unglück, und auch der Ausgang des Romans erweist sich als konsequente Weiterführung der Kettenreaktion des Desasters. Wie El blocao beginnt der erste Teil des Romans „El campamento – El relevo“ mit einer Truppenablösung, der Ankunft neuer Soldaten, die jedoch durch den Gewaltmarsch durch die Wüste bereits am Ende ihrer Kräfte sind. Das Eintreffen der neuen Truppen vermischt sich mit einer Rückschau auf die eigene Ankunft im Lager. So eröffnet sich auch hier die perspektivlose Zeitstruktur des „circulus absurdus“ (Görner 1996: 110), verknüpft mit dem Bild endlosen, schlafwandlerischen Marschierens: „Andaremos siempre, y será mejor porque en el momento que nos detengamos caeremos a tierra como peleles. No se piensa en nada ni se ve nada. [...] Hace dos horas que se ve el campamento casi al alcance de la mano y un espíritu satánico lo aleja.“ (Sender [1930] 2008: 30) Das Bemühen etwas zu erreichen, das sich immer wieder entzieht, prägt die raum-zeitliche Grundstruktur des Romans. Auch Imán hat die für die Kriegsliteratur typische episodische Struktur, er weist jedoch keine raum-zeitliche Ordnung nach Art des Routen-Tagebuchs auf, das die Erfahrungsstationen des Soldaten in chronologisch und topologisch angeordnete Kapitel gliedert, noch präsentiert er in sich geschlossene Tableaus mit kostumbristischen Zügen, wie sie viele der Marokko-Texte im Anschluss an die Zeitungschronik und Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts entwerfen. Stattdessen besteht er aus Handlungsfragmenten, Fetzen von Soldatendialogen, Bruchstücken militärischer Rituale, durchwoben von unheimlichen Landschaftsbeschreibungen und Szenerien physischer Zerstörung.25 Sie erscheinen wie eine Ansammlung von Trümmern, die das Abhandenkommen eines geordneten Sinnhorizonts erfahrbar machen. Mittels der Bewegung der Hauptfigur wird das Geschehen jedoch ab dem zweiten Teil der raum-zeitlichen Logik einer Flucht

25 Rafael Bosch (1970b: 262) spricht von „imágenes artísticas yuxtapuestas que simplemente tropiezan unas con otras“.



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unterstellt, die einem Lauf auf einer schiefen Ebene gleicht: „Si anda es porque, al salir de la fosa, el campo está en declive y la brisa le empuja.“ (Ebd.: 154) Es ist keine für den Protagonisten Viance fassbare logische Verkettung, sondern die Macht des Verhängnisses, die den zerstörerischen Ereignisverlauf bestimmt: Auf den Spitznamen Imán wurde Viance in der Schmiede, seinem ehemaligen Arbeitsplatz, getauft, da er Unglück und Gewalt wie ein magnetischer Pol anzuziehen schien: „No había hierro en el taller que no hubiera chocado alguna vez contra sus huesos.“ (Ebd.: 51) Das Verhängnis zeigt sich nicht so sehr im mythischen Gewand der Vorsehung oder des Schicksals, sondern unter anderem, ähnlich wie in den Erzählungen Kafkas, in Form der Herrschaft des militärischen Systems, das schuldlose Vergehen und ungerechtfertigte Strafen produziert, die über Viance verhängt werden.26 Zweimal wird so Viances Dienst in Marokko kurz vor seiner Entlassung verlängert, zu Beginn der Erzählung ist er bereits ein Veteran. („Un rutina que soy“ ist einer der typischen Kommentare Viances, in dem sich zugleich sein Mangel an Überraschung und sein ständiges Erstaunen ausdrückt.) Viance ähnelt insofern in manchen Aspekten dem Sisyphos in seiner existentialistischen Interpretation (vgl. Peñuelas 1971: 132), dem Inbegriff des absurden Helden bei Camus, wie auch den Figuren Kafkas, die sich einer unberechenbaren und willkürlichen Maschinerie der Macht ausgesetzt sehen. Über Viance sagt man im Lager: „‚Lo han calao.‘ Se dice esto del que está procesado por algún delito o simplemente vigilado y malquisto. No se dice es un ‚tal‘ o un ‚cual‘, sino esta frase más exacta y expresiva: ‚Lo han calao‘. Si los calan a todos, en todos encontrarán los mismos delitos en potencia. Es una cuestión de suerte el tener buena fama. Que no te calen, porque también te encontrarán en el fondo la sana resistencia contra el absurdo.“ (Sender [1930] 2008: 76)

Die unpersönliche grammatische Form und das für den Betroffenen resultierende Passiv dieses Satzes sind ausschlaggebend, jede Form des aktiven Aufbegehrens gegen das Verhängnis führt nur zur Verschärfung der Strafe. Letzte Überbleibsel eines absterbenden Gerechtigkeitssinns brechen aus Viance ganz unsystematisch, in Form von irrationalen, erratischen Racheakten hervor. Gegenüber dem militärischen Apparat sind sie effektlos, bringen jedoch die schlimmsten Konsequenzen für den Ungehorsamen mit sich. Im Marokko Imáns sind alle einfachen Soldaten mehr oder minder ‚angeschmiert‘, Viance aber ist – in der Alterität seines ‚Gezeichnet-Seins‘, seiner Subalternität und Entfremdung (vgl. hierzu Kap.

26 Zum Verhältnis von Gesetz und Verhängnis bei Kafka vgl. Görner 1996: 63.



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4.3.3) – mit einem besonderen sozialen Stigma behaftet und wird daher noch dazu von der Lagergemeinschaft gemieden und geächtet. Im ersten Teil, der zeitlich ungefähr zwei Jahre nach dem Desaster einsetzt (ebd.: 91), wird ein atmosphärisches Bild des Daseins im Militärlager in Marokko gezeichnet, das sich radikal von der Darstellung ‚bunten‘ militärischen Lebens unterscheidet, wie es manche Erzählungen des Rif-Kriegs in der Tradition der ‚romantischen‘ Guerra de África entwerfen.27 Demütigende Schikanen und Misshandlungen, Vorteilsnahmen im System sozialer und militärischer Hierarchien, dramatische Entbehrung, Überanstrengung und Verwahrlosung werden hier nicht im Gewand der Anklage oder im Ton der Entrüstung oder Verbitterung beschrieben, es ist vielmehr die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Soldaten in der Eigenlogik des Systems eingerichtet haben, die das ganze Ausmaß der Entfremdung des militärischen Lagers in Marokko vor Augen führt: Gerade die Regelhandhabung und Techniken ihrer partiellen Umgehung, die die Soldaten zum Zwecke ihres nackten Überlebens entwickelt haben, wirken in ihrer Verselbständigung gegenüber dem vermeintlichen ‚Sinn‘ des Kolonisierungsvorhabens absurd. So hat die militärische Führung, um die wachsende Rattenpopulation im Lager zu bekämpfen, auf jede getötete Ratte eine Belohnung ausgesetzt, und die unterversorgten Soldaten widmen sich nun der Fälschung von Rattenschwänzen und der Rattenaufzucht. In dieser Abkopplung der ‚Logik‘ gegenüber dem ‚Sinn‘ vollzieht sich eine Aufmerksamkeitsverschiebung, in der die schockierendsten Umstände und Geschehnisse wie Banalitäten gehandhabt werden. So denkt ein Soldat, der den Pfarrer mit einem mechanischen ‚Amen‘ bei der Segnung der Leichen begleitet: „La finalidad de todos estos hombres era morir, para que yo ayudara al clérigo“ (ebd.: 55). Mittels dieser Fragmente des Lagerlebens erfolgt die Einführung des Erzähler-Ichs und der Hauptfigur Viance, der zugleich die zentrale Fokalisierungsinstanz darstellt, und damit die Etablierung der vertrackten Erzählperspektive des Romans (vgl. Kap. 4.3.3). Der Leser erfährt hier vom Vorleben Viances, das der Erzähler diesem zum Teil in einer intradiegetischen Erzählsituation entlockt (wobei, wie beschrieben, ständig auf die sprachliche Unbeholfenheit des Protagonisten verwiesen wird). Die Rückschau auf die Ereignisse von Annual setzt in dieser Form ab dem 5. Kapitel des ersten Teils ein und wird dann von einem extradiegetischen Erzähler im Präsens weitergeführt. Das Erzähler-Ich taucht erst nach dem Ende der Analepse im 3. Teil wieder auf.

27 Tatsächlich lässt sich bei diesen Bruchstücken nicht mehr von „cuadros“ oder „estampas“ sprechen (so bei Peñuelas 1971: 103), obwohl der Text in diversen Momenten gemäldeartige expressionistisch-surrealistische Bildeffekte hervorbringt.



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Die Erzählung des Desasters von Annual beginnt mit der Darstellung der Ereignisse im Stützpunkt R., einem kleinen Posten in der Nähe von Annual, wiederum zum Zeitpunkt der Truppenablösung. Viance trifft hier mit seinem Regiment 42 kurz vor Beginn der Belagerung ein, wobei sich die Situation um Annual bereits so zugespitzt hat, dass die ‚abgelöste‘ Kolonne auf ihrem Rückmarsch dem sicheren Tod entgegengeht. Sender erzählt nun den Ablauf des Desasters, wie man ihn immer wieder in der Literatur des Marokko-Kriegs nachlesen kann – zumindest was die externe Ebene der histoire angeht, die eine auffällige Übereinstimmung mit den spezifischen Ereignissen zeigt, wie sie sich in Igueriben zugetragen haben:28 Die feindlichen Kabylen kontrollieren bereits das Terrain und verschärfen den Druck auf die umzingelten Stellungen. Es beginnt damit die Phase der Einschließung, die Telefondrähte sind gekappt, verzweifelt wartet man auf den Konvoi aus Annual, der die Versorgung sicherstellen soll. Die Toten häufen sich innerhalb des Lagers, Verletzte und Kranke können nicht evakuiert werden, das Wasser geht aus, man beginnt, den eigenen Urin zu trinken. Immer mehr Soldaten verlieren den Verstand, es droht die Meuterei der tropas indígenas, die im eigenen Lager zur Gefahr werden. Schließlich bricht der Stützpunkt zusammen, wer bis hierhin nicht an Krankheit oder Durst gestorben ist oder sich selbst erschossen hat, wird nun zum Opfer des blutigen Massakers der eindringenden Belagerer. Viances Flucht, die den Großteil des Romans ausmacht, beginnt. In einem nie endenden ‚Rückzug‘ versucht Viance als einer der wenigen Überlebenden einer sich ständig verschiebenden Frontlinie hinterherzulaufen, die sich durch die im Domino-Effekt fallenden Stützpunkte konstituiert, und einen sicheren Ort zu erreichen: Zunächst ist Annual – ironischerweise retrospektiv der Eigenname der Katastrophe – der imaginäre Ort der Erlösung: „Annual. Está muy cerca del campamento general, donde todo se acabará: el sueño, el hambre, el cansancio. Allí habrá agua, pan o galleta y bastantes tropas para de vez en cuando echar una buena siesta. Los sentidos se solazan en la esperanza. Annual, Annual, lugar de redención. Annual, dormir agua..., y dormir y dormir... Pero estas sensaciones se producen en el aire, fuera de su voluntad y de su materia. Para adquirir la conciencia de sí mismo tiene que acordarse de R., donde todos han sucumbido seguramente, hasta él mis-

28 Vgl. Pérez-Dueño 1992: 185. Igueriben war der vorderste Posten, der von der Versorgung durch Annual abhängig war, und der erste, der von den Rifberbern eingenommen wurde (vgl. Kap. 1.3.2). Während des Desasters wurde er vom Infanterieregiment Ceriñola, dem Viance in Imán angehört, verteidigt, wobei fast alle der über 300 dort stationierten Männer starben.



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mo. Esta idea de su propia muerte no le abandona. Pero es duro que la muerte no sea como el sueño, sino que prolongue la zozobra, el dolor.“ (Sender [1930] 2008: 162)

Im Moment, da Viance sich dem rettenden Terrain des spanischen Stützpunktes ganz nahe glaubt, löst sich der Schutzraum jedoch auf: Viance erfährt, dass auch Annual gefallen ist. Seine Hoffnung richtet sich nun nacheinander auf die Stellungen Dar Drius, Tistutin, Monte Arruit, Zeluán und Nador, die alle nur Szenerien der Zerstörung, des Wahnsinns, der Gewalt bieten. Die Erzählung des Desasters gleicht damit einem unendlichen Versuch der Wiedererlangung des sicheren Bodens, der in einer Kettenreaktion vor den Füßen Viances wegbricht. In ihm wiederholt sich immer wieder Viances Versuch, vom Raum des Chaos, der physischen Vernichtung, in den Raum der rettenden Ordnung zu gelangen: „¡Son los nuestros, son tropas de Annual! ¡El tanque del agua, quizás el hospital! Se acercan; al frente, un oficial y un sargento: –¡A la orden! ¡A la orden! Soy de ...; ¡a la orden! –¿Eh? ¿Qué hablas? El sargento lo aparta y le dice que entre en la columna. Los soldados tienen el mismo aire macilento y visionario.“ (Ebd.: 163)

Viance nähert sich den zusammengebrochenen Stützpunkten oder verstreuten Ranghöheren ständig von neuem mit der Bereitschaftskundgabe, in die Befehlsstruktur einbezogen zu werden („¡A la orden de usté! Vengo de R. ¿Dónde debo presentarme?“, ebd.: 171), doch eine Anerkennung dieser Unterwerfungsgeste durch die Autorität erfolgt nicht mehr: „El oficial se encoge de hombros y luego balbucea: –Búrlate si quieres. Ya da lo mismo.“ (Ebd.) Auch hier versagt somit die subjektkonstituierende Macht der Interpellation: Viance befindet sich in einem unentscheidbaren, formlosen Außen jenseits der militärischen Ordnung und versucht vergeblich, sich mittels der Meldung der Anerkennung seiner Existenz zu versichern. Der Schrecken, der mit dem Gewahrwerden des Versagens der Befehlsmacht einhergeht, zeigt sich, als Viance den Offizier ‚duzt‘. Erst in diesem Moment bricht die Selbstbeherrschung des Offiziers, der mit zermatschtem Fuß in der Landschaft sitzt, zusammen: „Descubre ahora en el oficial la desesperación que apenas lograba contener y que desborda al sentirse tuteado.“ (Ebd.: 171) So wird auch hier ein Raum der Unentscheidbarkeit kreiert: Viance kämpft sich durch ein unendliches Niemandsland, das zwischen der Aufrechterhaltung des Systems der Macht und ihrem Zusammenbruch liegt. Dieses ‚Laufen auf dem Rand‘ zwischen Struktur und Chaos ermöglicht es, ein Grenz-Chronotop



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der symbolischen Ordnung zu entwerfen und dabei den schmalen Rahmen – der Autorität – ins Zentrum zu stellen, der sie (nicht mehr) hält. So stellt sich Viance nach seinem schrecklichen Entkommen aus R. mehrfach die Frage der Notwendigkeit der Erfüllung seiner militärischen Pflicht: Muss er das Gewehr mit sich tragen, das ihm seine Flucht nur noch mühsamer macht? „[...] en Annual me acogerán como a un buen soldado, y si no conservo todo esto, si lo dejo aquí, la verdad es que no lo mereceré.“ (Ebd.: 155-156) Mit der Rettung ist auch die Gültigkeit von Gesetz und Strafe verbunden. Die ‚Erlösung‘, dies ist das grausame Paradox, bedeutet nichts weiter als den Wiedereintritt in den Raum der militärischen Befehlsstruktur, der Viances Verhängnis im oben genannten Sinn bedeutet. Die Ironie dieses paradoxen Raums zeigt sich, als Viance bei dem langersehnten Übertritt auf die andere Seite, seiner Ankunft im belagerten Melilla (der letzten spanischen Bastion), im Verteidigungsgraben auf einen Soldaten trifft, der in die Gegenrichtung flieht: „–¿Estás loco? –Loco será el que vuelva a comenzar otra vez por su gusto. Allá –señala Melilla– paso hambre, frío, aguanto palos, no tengo un céntimo y estoy como en una cárcel. ¿Todo pa qué? Pa que ocurra lo que acabamos de ver. La única herida que llevo me la ha hecho un oficial, y yo veo que entre los moros se ayudan y que no hay tanta estrella y tanta casta.“ (Ebd.: 256)

Diese Verkehrung der Fluchtbewegung führt die ganze Sinnlosigkeit von Viances verzweifeltem Lauf vor Augen, denn auf der anderen Seite von Chaos und Zerstörung warten nur die Strafen und die Gewalt des militärischen Systems. Als „falso hogar“ (ebd.: 234) erweisen sich auch die vier Wände der Mehlfabrik bei Nador, in der sich Viance mit anderen Flüchtlingen verschanzt: Die vermeintliche Ordnung, die hier noch in Bruchstücken existiert, lässt keine Geborgenheitsgefühle aufkommen, sondern nur die Angst vor der Wiedereinschließung in die genormte militärische Struktur: „No es una impresión de seguridad, sino una vaga sensación de encarcelamiento. [...] la habitación los pasillos, el choque con la ordenanza militar, ha venido a cuadricular, a geometrizar el miedo, la desolación, la desesperanza, a encasillar las posibilidades de salvación.“ (Ebd.: 231)

Als Viance letztendlich zu Beginn des dritten Teils („Salvación – La guerra – Licenciamento – La paz de los muertos“) Melilla erreicht und damit wieder den Raum der militärischen Ordnung betritt, wird ihm direkt die Position der Unter-



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ordnung zugewiesen: Der Übertritt vollzieht sich, genauer gesagt, in dem Moment, da Viance der Ordnungswidrigkeit des falschen militärischen Grußes überführt wird und dann der ‚Grußunterlassung‘: „Viance pasa. Una voz le retiene: –¿Qué es eso? ¿No le han enseñao a usía a saludar? –Voy descubierto, no llevo gorro. –¡Qué hablas! ¡Silencio! ¡Firmes!“ (Ebd.: 261) Doch auch in der spanischen Enklave wird Viance kaum Schutz oder Hilfe zuteil, man verweigert ihm ein Krankenhausbett, da er keine Abmeldung von seinem Regiment vorweisen kann. Niemand überlässt ihm einen Schlafplatz oder etwas Essen. Der ersehnte Moment der Ankunft verschiebt sich so auch innerhalb des vermeintlichen ‚sicheren Hafens‘ immer weiter. Schließlich bleibt ihm nichts weiter übrig, als sich, halb tot vor Erschöpfung, wieder in seinem Regiment einzufinden. Viance glaubt, durch seine Konfrontation mit dem Tod und das Überleben des Desasters eine neue Würde gewonnen zu haben. Er wagt es, darauf zu bestehen, dass man ihn anhört, und widerspricht dem Militärarzt, der ihn, längst ein menschliches Wrack, für tauglich befindet und ihm die augenblickliche Fortsetzung des Dienstes anordnet. Die Erzählung seiner Grenzerfahrung hat hier keinen Platz: Sie wird durch die übliche Dienstsprache und die formelhaften Botschaften, die diese zulässt, reduziert und erstickt. Als Strafe für seinen Widerstand wird Viances Dienstzeit in Marokko um zwei Jahre verlängert. Der paradoxe Raum des Kriegs ist so geprägt durch die absurde Logik der Interpellation: In der wiederholten Anrufung der militärischen Autorität scheitert Viances Bemühen um Anerkennung seines Überlebens; im Moment, da sich diese vollzieht, geht sie direkt mit der Bestrafung und Erniedrigung einher. An dieser Stelle kehrt die Erzählung zurück zur Zeitebene des Romananfangs. Der Ich-Erzähler meldet sich als Vermittler des Lagergeschehens wieder zu Wort, das sich in der gleichen sinnlosen Art in den nächsten zwei Kapiteln fortsetzt. Eine weitere Kriegsaktion folgt, die im Zeichen des Wiedereroberungsfeldzugs steht, begleitet von Luftbombardements und Giftgasattacken. Bei der Operation geht es um die Errichtung eines neuen blocao; die absurde Kreisbewegung der Kolonialkriegsgeschichte, der ewige Marsch, so wird hier angedeutet, wird zum Perpetuum Mobile. Die letzten Kapitel erzählen von Viances Rückkehr nach Spanien: Der Ich-Erzähler trifft den Soldaten ein Jahr später bei seiner Entlassung kurz vor der Überfahrt in Melilla wieder. (Viance hat sich also, so kann der Leser folgern, ein weiteres Strafjahr eingehandelt.) Hier erfolgt noch einmal der Perspektiventausch zwischen den Fokalisierungsinstanzen des erzählenden Ich und Viance, dem nun wieder ein extradiegetischer Erzähler bei seiner einsamen Reise ‚nach Hause‘ folgt. Doch die vermeintliche Heimat bietet Viance kein warmes Willkommen, stattdessen scheinen sich auf fatale Art und Weise manche Szenen des Desasters im ‚Vater-



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land‘ zu wiederholen (vgl. Vásquez 1984: 49). So taucht während der Flucht in der zerstörten Landschaft des Rif, gleich einem Phantasma, ein Auto mit Offizieren auf, das Viances Rettung zu bedeuten scheint („¡A la orden, mi comandante!“, Sender [1930] 2008: 171), als Viance jedoch den leeren Platz neben dem Fahrer zu erklimmen versucht, schlagen und schubsen die Insassen ihn weg und überlassen ihn dem (augenscheinlich) sicheren Tod. Eine ähnliche Szene ereignet sich in Spanien, auf Viances kilometerlangen Fußmarsch vom Bahnhof zu seinem Heimatdorf: Man verweigert ihm einen Sitzplatz in einem Auto und behandelt ihn wie einen Aussätzigen. Als Viance schließlich sein Dorf Urbiés zu erreichen glaubt, findet er das Land überflutet vor: Das Heimatdorf liegt unter den Wassermassen eines gewaltigen Stausees: „Ahora cree pisar sobre la niebla, sobre el aire. Su vida comienza en el infinito, sin base, sin donde poner los pies para tomar impulso.“ (Ebd.: 341) In der Nähe hat man ein Substitut errichtet – eine falsche ‚Ersatz-Heimat‘, in der, so zeigt die letzte Szene des Romans, Viance keinen Schutz, sondern nur grausame Verhöhnung findet: In seinem Waffenrock, der ihm eine groteske effeminierte Note verleiht (ebd.: 327), wird Viance zum Gespött in einer Bar, indem eine Prostituierte die wertlose Kupfermedaille, die Viance gefunden und sich angesteckt hat, als Requisite in ihrer Gesangsdarstellung unter „¡Viva España!“-Rufen ‚entweiht‘. Die gesamte Bedeutungsstruktur von Imán ist geprägt durch eine Raum-Zeit, die die Ankunft verweigert.29 Die unerträgliche Reise durch das Niemandsland wird getragen durch die hoffnungsvolle Erwartung der Heimkehr und ihrer wiederholten Enttäuschung: „Queda todavía una fe en la fuerza, en la Orden de la zona y en las guarniciones de los campamentos. Una vaga impresión alucinada le hace aceptar, sin embargo, la posibilidad de que el torrente va avanzando delante de él con una gran fuerza devastadora [...]“ (ebd.: 177–178). Damit konstruiert der Roman eine Erfahrungswelt, wie sie für die existentialistische Auffassung des Absurden charakteristisch ist: „Es ist jener Zwiespalt zwischen dem sehn-

29 Auch Marshall Schneider (1991) stellt die Heimatlosigkeit in Imán heraus: Sie interpretiert diese vor dem Hintergrund des Motivs der Reise und vertritt die These, der Roman parodiere damit epische Texte, insbesondere das Poema de mio Cid: „Thus just as the relationship of the text of Imán to its principal intertext Poema has fashioned a degraded hero, so has the relationship of the genre of the novel to the epic form, created a debased text [...].“ (Ebd.: 272) Obwohl der Roman offensichtlich epische Textwelten dekonstruiert, ist die Beziehung, die Schneider zum Poema de mio Cid als „wichtigsten Intertext“ herstellt, m.E. nicht nachvollziehbar. Ebenso wenig erfasst m.E. die Kategorie der Parodie die existentiell-absurde Dimension der Textwelt von Imán.



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süchtigen Geist und der enttäuschenden Welt, es ist mein Heimweh nach der Einheit, dieses zersplitterte Universum und der Widerspruch, der beide verbindet.“ (Camus [1942]1989, 46) Das Resultat der kolonialen Katastrophe, die sich wie eine große zerstörerische Flutwelle mit ständigem Vorsprung dahinwälzt, ist der dauerhafte Verlust der Heimat, die für immer verweigerte Rückkehr zu festen Referenzpunkten: „¿Quién soy yo? ¿Dónde estoy yo? Porque nada de esto es mi tierra. ¿Yo soy un hombre forastero?“ (Sender [1930] 2008: 337) Die Diskrepanz zwischen Viances Hoffnungen auf eine mögliche Ankunft, der Anstrengung, mit der er am Leben festhält und doch lieber tot wäre in einer Welt des Verstoßen-Seins, und seiner vagen Ahnung der Sinnlosigkeit seines Überlebens über das Ende hinaus machen ihn zum absurden Helden. 5.2.2 Unheimliche Landschaftsbilder und die Heimat als „punctum“ Fast jedes Erzählfragment in Imán ist durchsetzt von eigentümlichen Landschaftsbildern, Himmel- und Wetterbeschreibungen, die häufig nur in wenigen eingestreuten Sätzen die kleinen menschlichen Szenen des Leids mit einem riesenhaften, weiten Hintergrund versehen.30 Man könnte die Erzähltechnik mithilfe filmischer Termini so umschreiben, das hier ständige Cut-Ins und Cut-Outs erfolgen, Einstellungen, die zwischen körperlichen Detailbildern, Nahaufnahmen von Viances Erleben und weiten Szenenbildern hin- und herspringen. In seinem Aufsatz zur Funktion der Landschaft in Imán spricht Patrick Collard davon, dass die Ebene („llanura“) gleichsam in Paradigmen durchdekliniert werde, wobei die Konnotationen, die Einfärbungen je nach Situation und Tageszeit variieren (Collard 1997: 200-202). Dass die Landschaftsdarstellung sich in ein Zeichen des Erlebens der Hauptfigur verwandelt, wie Collard argumentiert, ist einleuchtend. Gleichzeitig vollzieht sich ein definitiver Bruch mit der Repräsentation des kolonialen Raums als blank space, der dem Subjekt zur projektiven Selbstentfaltung dient. Die Chronotopoi der exotistisch-orientalistischen Erzählliteratur sind aus dieser Romanwelt verschwunden, und das Pittoreske als Wahrnehmungsform macht Bildeffekten Platz, die den Zusammenbruch perspektivischer Ordnungen vorführen. Hier werden die agoraphobischen und klaustrophischen Raumwahrnehmungsmomente der Kriegsliteratur ausgebaut zu einem eigentümlichen ent-setzenden Chronotop der schmerzhaften Ausweglosigkeit und Horizontverschließung:

30 Marcelino C. Peñuelas spricht von einer „fusión orgánica entre los elementos ‚escénicos‘ y ‚panorámicos‘ (Peñuelas 1971: 108).



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„El barranco lo acoge como una cárcel. Se oscurece el pensamiento y el ánimo; se ahoga uno en esa hendidura y el cerco de imposibles de allá fuera se ha solidificado en las vertientes grises escarpadas y duele ya como un vendaje de acero sobre el corazón. Teme además que se desplome una parte de la ladera y lo aplaste, que se junten las dos vertientes y lo entierren vivo. Tiene extraños temores de topo y cuando buscando un lugar de acceso ve que, más arriba, el barranco se estrecha y las laderas se yerguen verticales, grita y retrocede espantado.“ (Sender [1930] 2008: 218-219)

Ein Horizontzusammenbruch ereignet sich auch in der subjektiven Erfahrung von Zeit, die sich komplett auf das Augenblickliche und Kontingente reduziert:31 Das Erleben Viances ist beschränkt auf minimale Sinnsequenzen eines fortgesetzten punktuellen Überlebens in einem qualvollen ewigen Jetzt. Im Raum der militärischen Struktur ist dies an die Undurchschaubarkeit der vermeintlichen Logik des militärischen Apparats geknüpft: So wissen die Soldaten grundsätzlich nicht, wann und wohin man zum Marsch aufbrechen wird, und fixieren sich auf den Rucksack ihres Vordermanns. Im Raum des Chaos ereignet sich diese Minimalisierung der Zeit-Sinn-Sequenz dagegen im ständigen Wegbrechen eines Fluchtpunktes (im wörtlichen und metaphorischen Sinne). Das Überleben gegen jede Wahrscheinlichkeit, der längst eingetretene ‚gefühlte‘ Tod bringt auch auf der Ebene des Zeiterlebens Momente der dissoziativen Selbstentfernung hervor: So treten Szenen der Gegenwart bereits als Erinnerung in Erscheinung (vgl. ebd.: 151). Das absurde Chronotop liegt in einer Art Synkope der objektiven Zeitrechnung: „ –¿A cuántos estamos? ¿Será hoy lunes, martes o qué? [...] –Ni lunes, ni martes, ni estamos a ningún día de mes. Estos días no están en ningún calendario, y si hay luna, tampoco será como la de antes. ¿No ves que todo anda revuelto?“ (Ebd.: 250) In Imán taucht auch die erstickende Dichte des Raums wieder auf, der keine Durchdringung erlaubt: Der Raum erscheint mal wie eine Wattekabine (ebd.: 104), die die Projektile verschluckt, mal durchflutet von Quecksilber (ebd.: 119); er ist schwer, bedrückend, bleiern. Diese impermeable Massivität ist auch eine Umschreibungsform des Außer-Ordentlichen, des Realen, da sie keine Lücke der Differenzierung, Abgrenzung und damit begrifflichen Erfassung zulässt: „El viento llega cálido, huracanado, y no trae sonido de cornetas, sino esa voz,

31 „Entonces [antes de la guerra], para hacerse una idea sobre algo circunstancial y pasajero, formaba imágenes generales que rozaban lo universal y lo eterno. [...] Los minutos no contaban en su vida. [...] Ahora le impresiona el más pequeño escorzo de cada instante“ (ebd.: 50); „la esperanza está siempre cerrada por el riesgo de mañana“ (ebd.: 63).



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lejanías que canta de noche la angustia interplanetaria. El aire, más caliente y pesado bajo las nubes, dificulta la coordinación de ideas.“ (Ebd.: 177) Der Himmel und all seine erdenklichen Wettererscheinungen agieren hier undurchschaubar und eigenwillig – mal mit mondlandschaftlicher Kälte, mal mit ebenso gleichgültiger Lieblichkeit, mal mit tobsüchtiger, apokalyptischer Wut. Im Raum der Entfremdung steht die Natur den physischen Qualen der Menschen vollkommen beziehungslos gegenüber (Vásquez 1984: 47f). Viance erlebt seine Flucht mit dem Gefühl absoluter Einsamkeit. Im Angesicht der Beharrlichkeit, mit der die Sonne immer wieder über der Szenerie des Desasters aufgeht, erscheint der menschliche Überlebenskampf lächerlich augenblickshaft, klein und absurd: „La indiferencia del sol convierte la tragedia en una cosa tonta y vulgar, sin sentido. Dan ganas de reírse.“ (Sender [1930] 2008: 159) Der Dichte des Raums steht das wiederkehrende Motiv unendlicher Leere entgegen. Sie ist in Imán jedoch keine Eigenschaft der Fremde, sondern des Blicks, der seine imaginäre Dimension, seine Projektionsmacht verloren hat: „Va andando con una mirada turbia, inánime. Cuando detrás de los ojos no hay una aspiración del panorama ideal que corresponde a cada paisaje, la mirada aparece vacía. Así miran siempre los idiotas. Los locos sólo ven lo imaginado, y tienen una mirada demasiado lejana, demasiado expresiva de lo inmaterial. Viance mira de ambas maneras. La idiotez y la locura se dan la mano sobre una realidad muerta.“ (Ebd.: 270)

Die Landschaft zeigt sich in Imán auf diese beiden Weisen: In Form einer toten Beziehungslosigkeit, auf die sich der leere ‚idiotische Blick‘ richtet, oder als eine Art Gemälde, das eine wahnhafte Innenwelt abbildet, die die Raum-Ordnung der Subjektbildung längst verlassen hat. Das Außen dient hier nicht mehr als Spiegelfläche zur Stabilisierung von Identität, vielmehr zeigt sich in der Vermischung von Landschaftsbildern und Wahnbildern die Auflösung der trennenden Barrieren zwischen Innen- und Außenwelt. In den Beschreibungen in Imán werden diese Grenzen ständig durchquert und somit der Prozess der Ich-Auflösung, den Viance auf seiner Flucht durchläuft, effektvoll bebildert: „Las balas no se oyen pasar y la noche las recoge en su entraña de algodón. Una gota ha hecho un ruido metálico contra una lata, ahí al lado. Al silencio del desierto sucede, con el agua, un rumor de selva. Las primeras gotas caen como proyectiles sobre Viance, que se encoge, tiembla, querría incrustarse en la tierra. Pero algo sustancial y, al mismo tiempo etéreo y fluido, se eleva sobre él, y llama la atención de los mil ojos de la noche. Sobre el cuello le pesa un pie descarnado y una voz resuena contra la bóveda del cráneo: morir, morir [...].“ (Ebd.: 184)



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Durch das oben beschriebene Hin- und Herspringen zwischen Nah- und Fernbildern wird die psychische Depersonalisation (vgl. Kap. 4.3.2 u. 4.3.3) in Form der Raumstruktur erfahrbar: Der Leser erlebt die Textwelt durch eine Fokalisierungsinstanz, deren Ich-Hier-Zentrum gestört ist; die Verhältnisse von Hintergrund und Vordergrund, die Dimensionalität des Raums ist grundlegend destabilisiert. Häufig erscheinen die Landschaften wie mittels stark verfremdeter Farben, Linien und Formen gemalt, die in vielen Fällen an expressionistische Kunst erinnern (Vasquez 1981: 357-358). Sie werden zum Ausdruck einer Wahrnehmungskrise, die sich in täuschenden Verschiebungen und Distorsionen des Raums niederschlägt: Mal dreht dieser sich wie eine Schallplatte (Sender [1930] 2008: 197), mal erscheint er ver-rückt wie in einem surrealistischen Bühnenbild: „En otro lado juegan al billar sobre una vieja mesa sin tapete y ruedan las bolas descascarilladas saltando y retrucando. Hay tales desniveles en el pavimento que, al dar la vuelta a la mesa, el jugador casi desaparece.“ (Ebd.: 38) Durch die Augen des orientierungslosen Viances betrachtet, steht die Welt buchstäblich Kopf: „El cielo no está arriba, sino enfrente. La raya del horizonte ha descendido y ha pasado bajo los pies como si se saltara con ella a la comba. ¿Qué es esto de volcarse de pronto el mundo sobre el azul matinal fresco y húmedo y quedarse uno así, cara al infinito? No. Todo está como debe estar. Lo que ocurre es que Viance está tumbado boca arriba en lo hondo de un barranco que amarillea a la izquierda, en unos estratos. Esto es todo. Pero ¿qué hace ahí, con la cabeza en el suelo, las piernas tendidas? ¡Ah, sí! Huía de algo, de alguien.“ (Ebd.: 165)

Hier hat Sender ein Kippbild im wörtlichen Sinne gezeichnet, das sich beim Weiterlesen im Kopf des Rezipienten dreht. Die Störung der Dimensionalität des Raums führt – neben der Selbstentfernung – zu einer zu großen Nähe des Realen, dem Viance schutzlos ausgeliefert ist. Die verzerrten Raumwahrnehmungen steigern sich so in manchen Momenten zu paranoiden Halluzinationen und Heimsuchungen durch das Abjekte, wie in folgender Szene, in der die verwesende infektiöse Nacht ihre Fangarme nach Viance ausstreckt, die dieser verzweifelt mit Schüssen niederzumähen versucht, während die abgetrennten Glieder weiter nach ihm zu greifen drohen: „El aire es tan denso, que nos asfixiará cuando menos lo esperemos. Esas sombras tentaculares son larvas de la noche podrida, que envía desde más abajo tufaradas nauseabundas. Viance hace fuego con precipitación epiléptica. [...] Se han roto los tentáculos. Las ametralladoras los han inmovilizado. Pero alguno ha podido a lo mejor arrastrarse hasta el pa-



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rapeto, alzarse, envolverle en sus duras y viscosas ventosas. [...] Una tienda se inclina, con el mástil roto, cae de lado, como un enorme gorro.“ (Ebd.: 138-139)

Hin und wieder tauchen in dieser Wahnwelt mythische Bilder auf, es sind jedoch uralte kulturelle Bilder der Angst, die keine Zuflucht in einem geordneten kosmischen Zusammenhang bieten – phantasmagorische Endzeitszenarien, in denen die Naturerscheinungen zu personifizierten Gewalten werden: „La llanura pertenece a un planeta que no es el nuestro. Un planeta muerto, aniquilado por las furias de un apocalipsis. Silencio y muerte infinitos, sin horizontes, prolongados en el tiempo y en el espacio hasta el origen y el fin más remotos. [...] La soledad grita al sol en mil destellos sin eco: ‚Tu irás por Occidente; yo por Oriente, y al final nos encontraremos en un lugar de desventura.‘ Sin un rumor de brisa, sin un pájaro, en el silencio que ahonda la mañana hasta la lividez de la última mañana del universo.“ (Ebd.: 167–168)

Dieses apokalyptische Treffen von Sonne und Einsamkeit, Okzident und Orient ist Ausdruck einer Fremderfahrung, die sich nicht mehr in Gestalt kultureller Differenz oder mittels des Feind-Freund-Schemas fassen lässt, ebenso wenig wie der Trupp Reiter, die in ihrem schäumenden, eisenklirrenden Galopp wie mythische Rachegötter erscheinen: „Ni moros ni españoles. Seres superiores, ángeles, demonios, todos ellos con sus corazas y sus espadas de fuego.“ (Ebd.: 179) In diesem Szenarium der Fremdheit tauchen jedoch immer wieder unerwartet Versatzstücke von Friedensbildern, Vokabeln des Idyllischen auf. Sie lassen vorübergehend die Ahnung von Heimat aufblitzen und geben damit dem Verlust, der hier für immer erfolgt, ein Gesicht: „Los cañones tienen una voz más blanda en la mañana de julio que se alza desplegando sus fuertes colores. Todo en paz –en el cielo, en la tierra.“ (Ebd.: 151) „Arriba, el cielo, de un malva oscuro, ilumina, haciéndolo resaltar, un oleaje blanco de nubecillas. No se sabe de dónde sale esa luz de resol, que da en lo alto de la tienda. Es de nuevo dulce la hora, el silencio, la suave brisa. Siguen tronando las baterías de Annual; pero demasiado espaciadas.“ (Ebd.: 109)

In den Bildern der Angst und Zerstörung sind diese Wörter des Friedens das „punctum“ (Barthes [1980] 1985: 36), das den Leser tatsächlich verletzt: Sie führen „empfindliche Stellen“ ein, die für kurze Momente Gefühle der Trauer zulassen, die die Welt des Absurden und Grotesken im Grunde genommen nicht



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erlaubt. Das „punctum“ verweist nach Barthes auf eine andere Ordnung, die schmerzlich abwesend ist, es ist wie ein „kleines Loch“, durch das der Blick auf einen anderen Raum fällt, zu dem der Zugang versperrt ist:32 „Los recuerdos tienen un lenguaje distinto. De hablar en presente a hablar en pasado hay la diferencia de la realidad forzosa a una realidad desaparecida ya y vuelta a crear, más en el sentimiento que en la imaginación.“ (Sender [1930] 2008: 63) Der Text führt somit in das Chronotop der Katastrophe eine emotionale Dimension von Nostalgie und Traurigkeit ein, ohne in irgendeiner Form eine ‚echte‘ verlorene Heimat zum Teil der Realität des Romans zu machen. Die Vorgeschichte Viances und auch seine Rückkehr legen vielmehr nahe, dass es eine Heimat in Form eines beschaulichen Idylls niemals gegeben hat; vor dem Hintergrund der fortgesetzten sozialen Marginalisierung ist die Heimat immer nur im Gefühl des Heimwehs präsent: „La tarde es ahora de color de miel y en el olvido momentáneo de todo –un olvido tan suave, tan fácil, hundido en la armonía del cielo, del aire, de la propia conciencia virgen– se desean oír las esquilas de la campiña española. Quizá las oye algún soldado en el fondo de esa dramática indiferencia que es cansancio; pero no sólo el cansancio de tres noches en vela, de tres meses casi sin agua, sino de dos mil años de injusticia.“ (Ebd.: 102-103)

Sehr ähnlich verhält es sich mit einzelnen kleinen Gesten der Freundlichkeit, die das Ausmaß an Unmenschlichkeit des Geschehens in Marokko erst recht vor Augen führen. Die unverhältnismäßige Dankbarkeit Viances, mit der dieser auf das Geschenk eines Päckchens Zigaretten reagiert, lässt die Abwesenheit von Kameradschaft und sozialer Wärme in der Romanwelt auf erschütternde Weise hervortreten. In dieser radikalen Abwesenheit von ‚kleinen Idyllen‘ in der erzählten Realität unterscheidet sich Imán auch von den kriegskritischen Romanen des Ersten Weltkriegs: Es gibt hier keine Mikro-Gemeinschaft der genuinen Brüderlichkeit, die sich als Alternative zum nationalen Kollektiv formiert, keine utopische Kleinform einer revolutionären Gesellschaft als Kern einer besseren Welt.

32 Borsó erfasst eine solche Punktierung des Raums mit dem Begriff der „Exteriorität“ (2004: 37).



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5.2.3 Erosion der Zeichenwelten: Annual und das Rutschen des Sinns Das Chronotop der Katastrophe ist durch Viances Lauf auf dem Rand der Ordnung als Verräumlichung des Wegbrechens von Sinn lesbar: Das Fallen der Stützpunkte im Domino-Effekt wird zu einer unendlichen Kette von vergeblichen Versuchen, den Sinn durch Zentrumszuweisungen zu verankern. Im militärischen Posten des kolonialen Raums ist, wie oben erläutert, der Status der symbolischen Ordnung prekär: Man befindet sich in einer hermetisch abgeschlossen Welt mit einem Übermaß an eigenlogischen Gesetzlichkeiten („Se barre de nueve a once“, Sender [1930] 2008: 33) in einer Umgebung, die die diskursiven Praktiken nicht anerkennt. Das Gelingen von Zeichenhandlungen hängt an dem dünnen Faden der militärischen Autorität, der beim Desaster von Annual letztendlich reißt, und damit verlieren alle Handlungen ihren Sinn. Mittels der Inszenierung dieses Wegbrechens von Autorität wird in der erzählten Welt von Imán das militärische Kolonialisierungsvorhaben ad absurdum geführt: „Viendo este silencio, estos pasos falsamente enérgicos con los cuales el oficial demuestra al capitán, al comandante, su espíritu militar, esa alineación correcta, se piensa que todo este ceremonial entre piojos, miseria, hambre, harapos, es una pesada broma de locos. Nadie se engaña en el fondo. No hay ya uno solo que crea en la necesidad de nada de esto. Todos saben, además, lo que aguarda fuera. Dan ganas de gritar: ‚¡Es más cómodo para todos romper filas y pegarnos un tiro!‘“ (Ebd.: 101-102)

Indem die Gültigkeit des militärischen Systems plötzlich zur Disposition steht, entblößt dieses seine Selbstreferentialität: „[...] comienzo a pensar en todo este galimatías y no doy en quién ha de hacer las propuestas de ascenso y de condecoración. ¿Quién va a añadir todo esto en la hoja de servicios? ¿Quién lo va sacar en la orden? ¿En qué orden?“ (Ebd.: 233) Die Interpretation der Realität beginnt zu schwanken zwischen der Möglichkeit einer kompletten Aufhebung der Regeln und der Tatsachen, die diese produzieren, und dem Fortbestehen ihrer Gültigkeit: „¿No será antirreglamento esto de dormir, ahora que se está otra vez en contacto con el reglamento?“ (Ebd.: 243) Die Werte richtig/falsch erweisen sich als nicht mehr eindeutig verteilbar. Eben im Umstürzen der Logik des Systems, das sich gegenüber dem praktischen Kontext verselbständigt hat, (und nicht in der Abwesenheit des Sinns) manifestiert sich das Absurde (Görner 1996: 40). Es hat seinen Ursprung „in einem Vergleich zwischen einem Tatbestand und einer bestimmten Realität, zwischen einer Handlung und der Welt, die stärker ist als sie.“ (Camus [1942] 1989: 30)



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In der Raum-Zeit der fallenden Stellungen wiederholt sich der Moment des Umkippens von Sinn in Unsinn. So wird die tückische Verschiebung vom Epos zur Farce, die der Un-Fall bewirkt, in Imán in einer fragmentarisierten Kette von Einzelszenen immer wieder von neuem vorgeführt. In Senders Chronotop der Katastrophe verlieren die Performanzen des Afrika-Heers ihre wirklichkeitskonstituierende Macht, sie wirken wie ein „irrsinniger Scherz“ oder eine lächerliche Simulation:33 „Guardias civiles, artilleros, paisanos e infantes mezclados, con los restos de la disciplina que ha saltado hecha añicos en los campamentos, tienen que trazar una nueva epopeya, cuyo comentador más adecuado sería el trujimán de las ferias andaluzas o el pintor de aleluyas.“ (Sender [1930] 2008: 234) „El comandante, desde un lugar estratégico, los pies juntos, los brazos pegados al cuerpo, las grises greñas al aire, da la voz de firmes [...]: –¡Soldados de España! [...] ¡La Patria, os pide!... Granadas y ráfagas de ametralladora ahogan su voz. El asalto se reanuda. El comandante grita tres veces epilépticamente: ‚¡Viva España!‘, con una embriaguez que lo transfigura.“ (Ebd.: 150)

Gesten und rituelle Gebärden verwandeln sich hier in Zwangshandlungen, die Körperdisziplin verselbständigt sich in epileptischen Zuckungen. Die militärischen Symmetrien erscheinen im Chaos des Desasters immer wieder als bizarre Formationen willenloser Puppen, während einzelne Körperteile ein unkontrollierbares Eigenleben entwickeln: So vergleicht eine der Figuren die Überlebenden des 42. Regiments mit Eidechsen, deren zerhackte Gliedmaßen selbständig weiterkriechen (ebd.: 180). Das Gebiet, das Viance durchquert, ist ein Raum des Chimärischen, in dem die vertrauten Elemente der Kultur entkontextualisiert, mit dem Ungeheuerlichen durchkreuzt und somit fremdartig werden: Im Durcheinander von menschlichen Gliedmaßen, militärischem Gerät, Regen und Erde, trinkt ein Offizier ein Bier, oder zwei Rifberber essen Zahnpasta.

33 Das absurde Lebensgefühl geht so einher mit dem – auf Dauer gestellten – Moment, in dem das Performative scheitert und die Welt sich als Kulissentheater entpuppt, wie auch Camus andeutet: „Dieser Zwiespalt zwischen dem Menschen und seinem Leben, zwischen dem Schauspieler und seinem Hintergrund ist eigentlich das Gefühl der Absurdität.“ (Ebd.: 11) Der Schauspieler wird entsprechend von Camus – u.a. neben der Figur des Reisenden und des „Fürsten ohne Reich“ – als Paradigma des „absurden Menschen“ beschrieben (ebd.: 67-70).



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Wie die rituellen Handlungen wird in Imán auch die Sprache in ihrer Orientierungsfunktion zerstört und in Nonsens verwandelt. In Dialogen des ‚Aneinander-vorbei-Redens‘ wird vor Augen geführt, dass insbesondere die dogmatischdiskursive Sprache ihren praktischen Zweck der Kommunikation im Moment des Zusammenbruchs der Autorität nicht (mehr) erfüllen kann. Stattdessen ist der Roman gespickt mit wörtlichen Reden ohne Mitteilungswert und einem ständigen zwanghaftem ‚Vor-sich-hin-Geplapper‘ (dem Komplementärphänomen zur sprachlichen Ohnmacht und Unfassbarkeit des traumatisierten Subjekts): „Comenta en voz alta, con extrañas tonalidades, quedándosele a veces la voz en la garganta: –¡Dice que le quedan dos meses! ¿Y si yo quiero decir que he cumplido ya? Aquí no hay más que hablar y hablar. Y los demás hacen cara de creerlo a uno [...] Los cabos reparten para cada tres una cantimplora llena de orina. Fidel lleva, como siempre, una toalla arrollada a la cabeza contra ‚la serena‘. Viance le pregunta: –¿Y el relevo? O es que crees que somos espantapájaros pa estarnos aquí siempre? No sé quién dirige esto. [...] Le sale de los dientes sólo un confuso rumor. Fidel se encoge de hombros y dice, pasando con andar inseguro: –¡Cállate! Hablas como una gallina. [...] –¿Qué soy yo? Hablo, hablo y no sé para qué, porque aquí nadie escucha. Es igual que grites como que hables al oído. Se ríen y se van. Y si dices que es una injusticia, se están riendo hasta el toque de silencio. Nada, nada eres, Viance. ¡Voceras, coño, que os hartáis de mearos y creéis en el convoy de mañana!“ (Ebd.: 140-142)

Der Stützpunkt R. befindet sich hier bereits im kompletten Ausnahmezustand, eine Rettung ist so gut wie aussichtslos. Das zusammenhangslose Gerede der Soldaten bezieht sich auf Sachverhalte, die mit dem Zusammenbruch des Positionssystems im Begriff sind, ihren Wirklichkeitswert zu verlieren: die Frage der Dienstzeit, das Ausbleiben der Ablösung und der am nächsten Tag fällige Konvoi. Im Desaster sind diese Gespräche bodenlos. Sie sind genauso absurd wie Fidels Handtuch-Turban gegen die ‚Nachtfeuchte‘ (vgl. obiges Zitat) in einer Situation, in der der gewaltsame Tod allgegenwärtig und unabwendbar ist: „Muérase usted primero y luego da un parte ‚por escrito‘ protestando.“ (Ebd.: 119) In diesem plapperhaft-absurden Protestieren findet man die Sprache in Imán im Prozess der Erosion. Militärische Formeln zerbröckeln wortwörtlich und ver-



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ebben im Nichts: „–¿Qué hay? –Sin novedad. Los cuatro durmientes, desde lo más hondo de su inconsciencia, contestan también. El espíritu se contagia del automatismo de los pies y de la disciplina: ‚Sinoedá‘, ‚Inovedá‘, ‚Oedá‘.“ (Ebd.: 54) Hier machen vier Soldaten Meldung, die im Schlaf in Reihe und Glied wie kalte Leichen auf dem Boden liegen. Ebenso wie die epileptische Gebärdensprache, bedarf die formelhafte Meldung keines wachen Bewusstseins, sie hat sich längst verselbständigt und ist zum Text ohne Subjekt geworden, dem die Figuren nur noch als Medium dienen. Diese Loslösung der Sprache von einem kontrollierenden Bewusstsein wird in Imán effektvoll inszeniert, indem sie wahnsinnigen, fiebernden oder schlafenden Sprechern in den Mund gelegt wird: „–Taratitaaaa, taratatiiii. ¡Coronel, parte! –El loco toca llamada a infantes. Luego dos o tres exclamaciones demasiado expresivas y de pronto parece coger el hilo de su divagación–: [...] ‚¡Cuarta del primero! Comunico a usía que el capitán de la expresada merece dos pensionadas, porque le han matado a cincuenta hombres.‘ Y vengan cruces. ¡Eeeh! Por la derecha al frente en guerrilla. Y la retirada a botes, como los cigarrones. Después la madrina envía bollos y escribe en un papel virguero. ¡Granujas! Mis pantalones han cumplido el año pasao, y los piojos hace tiempo que piden otros, porque entra frío por los agujeros. ¿Un destino en plaza?“ (Ebd.: 80-81)

Immer wieder kreuzen Verrückte die Szenerie und werden in Ausschnitten hörbar, mit einer inkongruenten Aneinanderreihung von diskursiven Versatzstücken, die wie objets trouvés erscheinen. Das irrsinnige Sprechen zielt hier ganz kalkuliert auf die Hervorkehrung des Anderen der autoritären Sprache: „Wenn nun die Besessenheit die Sprache spricht, die ihr aufgezwungen wird und die ihre Stelle einnimmt, wird der entfremdende, aber notwendige Diskurs, den sie führt, die Spur – die „Wunde“ – der Andersheit aufweisen, die das Wissen zu verbergen vorgibt.“ (Certeau [1975] 1991: 179) In dieser ‚Wunde‘ des Diskurses zeigt sich das Absurde. Den Figuren ist es nicht möglich, das Desaster in irgendeiner Form zu kategorisieren oder als Ereignis zu konstituieren. Es ist das ‚Ding‘, dessen Ungeheuerlichkeit man erahnt, für dessen Erfassung jedoch keine bedeutungsgebenden Schemata bereitstehen: „Hace ademán de hablar, pero no le sale la voz. Se acerca Viance. El otro, con voz congestionada –el aliento quema y sale con secos impulsos– le coge del brazo: –¡Compañero! Aquí ha pasado algo; acuérdate de que te lo digo yo. Aquí ha pasado algo.“ (Sender [1930] 2008: 127, Hervorh. S.F.) In diesem Mangel an Bezeichnungsmöglichkeiten wird der Bruch des symbolischen Rahmens, das Anderswerden der Realität vorgeführt.



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Insbesondere die automatisierte Lagemeldung „Sin novedad“ wiederholt sich in Senders Roman.34 Dabei wird hier das absurde Potential dieser Meldung, die Remarques Im Westen nichts Neues den Titel gab, erst richtig entfaltet: Die Beharrlichkeit des subjektlosen Textes, sich der Neuigkeit zu verweigern, steht im krassen Gegensatz zum Schrecken der Ereignisse. In ihr manifestiert sich letztendlich das Problem, dass das Geschehen mittels der alten Sprache nicht erfassbar ist. Die Technik der „Verknappung“ (‚Sinoedá‘, ‚Inovedá‘, ‚Oedá‘) und das „Einüben in variationsarme Wiederholungen des verknappt Gesagten“ ist ein Mittel der Absurdisierung (Görner 1996: 96). In Imán bewirkt es ein Hervortreten der Lautlichkeit der Signifikanten, eine Verfremdung durch Wiederholung und Betonungsverschiebung: „El enfermo habla incoherentemente y los dientes le castañetean. Cada vez que voy a hablarle me interrumpe, haciendo un gran esfuerzo por incorporarse: –¡Sinovedá! Y lo repite dos o tres veces de manera confusa, poniendo todo el ímpetu en la ‚a‘ final.“ (Sender [1930] 2008: 71) Hier ereignet sich die Materialität der Zeichen, wie zu Beginn in Anschluss an Dieter Mersch beschrieben wurde (vgl. Kap. 1.2), die Zeichen verlieren ihre Verweisungsmacht und Transparenz in Bezug auf die Bedeutungen.35 Sie werden zu widerständigen Dingen, an denen sich „ein Unverfügbares aufblitzender Existenz“ (Mersch 2003a: 44) enthüllt: „Mit ihm bekundet sich ebensosehr das unauslöschbare Auftauchen einer ‚Alterität‘, die dem Begrifflichen ebenso beharrlich widersteht, wie es den logos in seine andauernde Krise versetzt.“ (Ebd.: 45, Hervorh. im Original) Dieses geradezu dadaistische Element kommt in Imán wiederum nicht als Sprachspiel zum Einsatz, sondern als Widerfahrnis der Kriegswirklichkeit, in der den erlebenden Subjekten die Schlüsselsignifikanten des patriotischen Diskurses wie König, Held und Vaterland abhandenkommen: „–¿El rey? –¡Sí, el rey! –¡Ah, el rey! Los dos han querido en vano explicar algo repitiendo esa palabra con distintas inflexiones de voz, pero no saben qué decir en concreto.“ (Sender [1930] 2008: 204-205) „[Viance:] –[...] Oye, tú, muchacho: ¿Sabes qué es la Patria? El de al lado lo mira desde lo hondo de las órbitas cárdenas y se encoge de hombros. Insiste Viance, obsesionado. El otro habla, por fin:

34 Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1928) greift diese Formel im Titel auf. Es ist möglich, dass Ramón Sender sich von Remarque inspirieren ließ. Einen wenig aufschlussreichen Vergleich von Senders und Remarques Romanen nimmt Charles Olstad (1977) vor. 35 Vgl. hierzu auch Fuß 2001: 136-139.



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–El sargento nos lo dijo de quintos: pero no me acuerdo.“ (Ebd.: 130) „‚Yo soy un héroe. ¡Un héroe! ¡Un hé-ro-e!‘ La palabra, al repetirla, pierde sentido y llega a sonar como el gruñido de un animal o el ruido de una cosa que roza con otra.“ (Ebd.: 148)

Auf diese Weise bleiben von den transzendentalen Signifikaten, den ‚letzten Bedeutungen‘, mittels derer die Zeichenhandlungen im Kolonialkrieg verankert werden, nur noch Worthülsen übrig, die auf sprachliche Uneinholbarkeit des Ereignisses verweisen. Hier brechen die „Stepppunkte“ weg, die nach Jacques Lacan ein Diskurs generell benötige, um seine Bedeutungen zu fixieren: „Um diesen Signifikanten herum strahlt, gestaltet sich alles, in der Art jener an der Oberfläche eines Gewebes durch den Stepppunkt gebildeten kleinen Kraftlinien. Das ist der Konvergenzpunkt, der erlaubt, rückwirkend und vorauswirkend alles zu situieren, was sich in diesem Diskurs abspielt.“ (Lacan [1955-1956] 1997: 316-317)

Mit dem Verlust der Stepppunkte, der für Lacan dem Zustand der Psychose gleichkommt, verflüssigt sich die gesamte symbolische Ordnung zu einer Wahnwelt, die durch das Wegbrechen des Sinns geprägt ist. Das Problem des Schreibens des Un-Falls mittels der Sprache, die durch diesen zerbrochen ist, findet auf diese Weise eine literarische Form. Der Hergang des Desasters als nie endende Kette sich ständig verschiebender Zentrumszuweisungen wird zu einem unaufhaltsamen Rutschen, durch den Verlust privilegierter Referenzen am Ende der diskursiven Verweisungen, bzw. der ‚Polsterknöpfe‘ als Heimat von Sinn. 5.2.4 ‚Organspracheʻ: Über die physische und groteske Dimension des ‚Un-Fallsʻ Während die Zeichenhandlungen ihre Sinnverankerung verlieren, tritt in Imán eine schockierende physische Gewalt in Erscheinung. In der Materialität der verletzten und toten Körper, in Detaildarstellungen von blutigem Fleisch und vegetativen Fehlfunktionen verschafft sich das Groteske seinen Raum: „Lleva los pantalones enrojecidos, como si orinara sangre. [...] Sangre intestinal, roja y espesa. Luego se alza mucho más amarillo y con los pantalones caídos muestra el vientre desnudo, reconoce él mismo la herida. Viance ve en él una imagen grotesca de la tragedia, con los órganos sexuales descubiertos bajo el vientre destrozado.“ (Sender [1930] 2008: 225)



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In der Ästhetik des Grotesken, wie sie hier in den nackten Sexualorganen unterhalb der offenen Eingeweide des Bauches verbildlicht ist, wird der Kolonialkrieg systematisch seiner Sublimitäten entkleidet. Stattdessen taucht man hier tief in das Chaos der niederen Materie ein. Menschliche Kadaver vermischen sich mit den Lebenden und werden von diesen ununterscheidbar: „Con una rodilla en tierra, el cura lee sus latines y unge al primero [de los cadáveres]. Pero el supuesto cadáver retira el pie, lo frota contra la pierna y se incorpora. El de la vela, con los ojos extraviados, exclama: –¡Anda, la hostia! [...] Borracho, pues, debió acostarse junto a los muertos, confundiéndolos con su compañía.“ (Ebd.: 55)

Wie an dieser Stelle taucht zusammen mit dem Grotesken ab und zu das Komische in Imán auf, manche Szenen gleichen einem karnevalesk anmutenden Totentanz. Die Grenze zwischen Leben und Tod ist hier grundlegend aufgehoben (vgl. Carrasquer 1970: 41). Man lebt im blocao in der Allgegenwart der Leichen wie mit alten Bekannten, man beklaut sie, macht Späße über sie, räumt sie noch nicht einmal aus dem Weg. Während die Kadaver manchmal das Eigenleben tückischer Objekte oder geisterhafter Automaten zeigen („Dan ganas de mandarles: ¡En... pie! Alguno, por la fuerza de la costumbre, se levantaría“, Sender [1930] 2008: 147), sind die Überlebenden eigentlich lebendige Tote: „La sensación de los supervivientes es la que podrían tener los muertos si pudieran alcanzar la conciencia de que acaban de morir.“ (Ebd.: 153) Tod und Leben werden aufgrund der Entsubjektivierung und Mechanisierung des Lebens, des Verlusts eines reflexiven Bewusstseins in der unmittelbaren Präsenz des Todes ununterscheidbar. Das Groteske entblößt die Rhetorik von Vaterlandsopfer und Heldentod als trügerisch. Der Materialisierung lautlicher Zeichenkörper („hé-ro-e“) entspricht die Zeichenhaftigkeit menschlicher Körper, die auf die physische Dimension des Un-Falls verweisen – der Zusammenprall der Stoffe, abgehackte Körperteile, plattgefahrene Leichen, durchbohrte Gehirne: „[...] la bala respetó la masa encefálica y fue a dar la vuelta por dentro, rozando la bóveda para salir por el lado contrario. Curó mal. Bajo el cuero se notan los dos círculos blandos de la herida, y oprimiendo por uno de ellos suavemente, se alza la piel por el otro. Tiene defectos de coordinación en los movimientos.“ (Ebd.: 56)

In einer Textwelt, in der die imaginäre und symbolische Dimension abhandenkommt, beginnt sich die Bedeutung der Ereignisse auf biochemische Vorgänge



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zu reduzieren: „Todos sus sentimientos se producen con completa autonomía del espíritu: reacciones químicas o fisiológicas puras.“ (Ebd.: 158) Nichts anderes geschieht hier, als das Eingehen von organischen Stoffen in die mineralische Welt, so die diffuse Ahnung Viances, die den Un-Fall plötzlich im Licht einer gewissen Gesetzmäßigkeit erscheinen lässt und Viance vorübergehend ein Gefühl des Trostes vermittelt: „No es cierto lo que los poetas y clérigos quieren demostrarnos. Son ganas de no comprender la sencilla grandeza de este accidente, que nos equipara a algo tan sereno y milagroso como las piedras y los árboles [...].“ (Ebd.: 197-198) Die Rezentrierung der körperlichen Dimension des Kriegs und die anatomisierende Beschreibung des Geschehens sind bereits in anderen Kriegserzählungen an einzelnen Stellen aufgetaucht, z.B. in der zwischen Epischem und Grotesken oszillierenden Szenerie des Desasters in ¡Kelb Rumi! (vgl. Kap. 2.3.2). Auch in Fermín Galáns Erzählung wird das verletzte oder tote Fleisch zur symptomatischen Botschaft: „Frente a la farsa, frente a tanta mentira, está la realidad incontestable de la muerte. De carnes desgarradas.“ (Fermín Galán [1926/1931] 2008: 109) Der Legitimierungsdiskurs wird hier durch die groteske Untermischung medizinischer – und in Imán auch physikalisch-chemischer – Beschreibungen destabilisiert.36 Die expliziteste Form dieser Kritik findet sich in Fernández Flórez’ Aventuras del Caballero Rogelio de Amaral. Die Familie Amaral beruft sich auf eine lange militärische Familientradition, in der sich die männlichen Mitglieder seit Urzeiten dem Töten als edler Beschäftigung widmen (Fernández Flórez 1933: 63). In der Erzählung werden die epischen Euphemismen, die die ekelhafte körperliche Dimension des Kriegs vertuschen, mittels ironischer Kommentare in der Erzählerrede dekonstruiert. So sei z.B. das Wort „cadáver“ aus gutem Grund zu vermeiden: „El cadáver es un accidente con el que no cuenta el guerrero, al que el fenómeno de la putrefacción no le interesa poco ni mucho y aún, en ocasiones, le molesta.“ (Ebd.: 64) Auf diese Weise thematisiert der Text all das, was die epische Beschönigungsrhetorik ausschließt: „[...] casi todos los varones de aquella ilustre familia sirvieron a la humanidad machacando cráneos y abriendo brechas terribles pero provechosas, ya en la cavidad abdominal, ya en la pectoral de sujetos para ellos desconocidos“ (ebd.: 66). Wenige Seiten später wird eine Heldengeschichte Juan de Amarals, die von seinem triumphalen Sieg in einem Scharmützel erzählt, in einer ganz anderen ‚diskursiven Variante‘ durch den Mund der Figur Diego Sandoval wiedergeben: in Form eines medizinischen Be-

36 Zur dieser Form grotesker Strukturdestablisierung vgl. Fuß 2001: 372, 375.



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funds, in dem die Verletzungen der Opfer mit allen abstoßenden wissenschaftlichen Details beschrieben werden. Als Erklärung fügt Diego hinzu: „Es que a mí me parece que sólo se podrán apreciar con justicia y en toda su realidad los heroísmos belicosos cuando los narre un médico. Se trata de matar, de destruir tejidos, de perforar entrañas, de perturbar funciones vitales. Y un poeta no suele entender de eso, y a un historiador no le importa.“ (Ebd.: 79)

In Rogelio Amaral wird an dieser Stelle eine regelrechte Übersetzung der Geschichte vom literarischen oder historischen Diskurs in den medizinischbiologischen vorgenommen, die sichtbar werden lässt, wofür die Geschichtswissenschaft und epische Dichtung blind sind. Der Diskurs entblößt sich als Brille, durch die man die Wirklichkeit betrachtet, des einen Epos erweist sich als des anderen Trauma im körperlichen Sinne. Der Widerspruch der Verlobten des vermeintlichen Helden spiegelt die modellhafte Reaktion einer Rezipientin der Erzählung wider und liest sich so wie ein autoreflexiver Text-Kommentar: „Es usted incorregible, Diego. No se conforma hasta que encuentra una manera original de presentar las cosas más corrientes y aceptadas. [...] Si fuese así, no habría héroes. Todos llegarían a parecernos criminales o, al menos, despertarían en nosotros la antipatía y el desagrado. Su labor nos atormentaría. No, prefiero a los poetas, que no ven nunca las asas intestinales del vencido, sino la gallardía del vencedor, o a los historiadores, que no incluyen entre los efectos de la derrota esos cerebelos pinchados de que me habla usted.“ (Ebd.: 79-80)

In dieser Symptom- oder ‚Organsprache‘37 hat der Körper keine synekdochische oder metonymische Bedeutung mehr, wie der uniformierte Soldatenkörper im militärischen Ritual und patriotischen Diskurs, sondern eine indexikalischsymptomatische im Sinne von Charles Peirce: „[The index] is a real thing or fact which is a sign of its object by virtue of being connected with it as a matter of fact and by also forcibly intruding upon the mind, quite regardless of its being interpreted as a sign.“38

37 Der Begriff wird heute in der Psychosomatik verwendet und findet sich bei Sigmund Freud in „Das Unbewusste“ (Gesammelte Werke X, Frankfurt a.M.: Fischer 1969, S. 297). 38 Charles Sanders Pierce (1974), Collected Papers, Bd. III-IV, hg. von Charles Hartshorne/Paul Weiss, Cambridge (Mass.): Univ. of Harvard Press, S. 359.



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Die unvermittelte Einschreibung der Verletzung geht in Imán einher mit Bildern, die einen bedrohlichen Übersprung der symbolischen und imaginären Dimension und eine Art Kurzschluss von Realem und Körper bedeuten. Der Körper erscheint als Medium von Spannungen, Entladungen und tödlichen Strömen: „Los ojos siguen clavados en la raíz obsesionados, y en la garganta, en la nuca, siente el zumbido de un bordón o de un abejorro. De vez en cuando parten del occipucio dos ráfagas luminosas y, cada una por su lado, dan la vuelta a los sesos, bajo el cráneo, para ir a reunirse en la frente sobre el arranque de la nariz. Al mismo tiempo se adormece aterrado; pero antes de que las varillas se junten da un respingo y sacude la cabeza. Tiene la seguridad de que si llegasen a establecer contacto entre las cejas caería muerto [...].“ (Sender [1930] 2008: 161)

Mit Vorliebe werden in Imán Bilder von Telegraphie und Elektrizität aufgerufen (Carrasquer 1970: 46), um das physische Erleben des Desasters zu beschreiben: „La fiebre golpea en sus sienes y va volviendo a sentir dentro del cráneo un zumbido de telégrafo, la cabeza vacía y caldeada.“ (Sender [1930] 2008: 176) Der Leib wird zum schutzlosen Kreuzungspunkt fremdbestimmter Einwirkungen,39 es scheint so, als würden die äußeren Reize direkt auf die Organe einprasseln, ohne dass in irgendeiner Form ihre Bedeutung bewusst ‚prozessiert‘ würde:40 „Viance vuelve a reflexionar; pero se pierde en un laberinto, no de ideas, sino de sugestiones materiales, vivas, de luz y voces y ruidos. Disparos, carnes amarillas, violáceas, un sueño confuso y remoto en España y el tope eterno del mañana. Quiere penetrar por un dédalo cuyo primer camino se le va.“ (Ebd.: 201-202)

39 An dieser Stelle sei auf das Phänomen der Kriegszitterer („shell shock“) des Ersten Weltkriegs verwiesen. Was die heutige Medizin als posttraumatische Belastungsstörungen der Frontsoldaten kategorisiert, wurde als Krankheit erklärt, die durch die Einwirkungen von Druck- oder Schallwellen der Explosionen auf den Körper, bzw. die Nerven zustande kam. 40 Derartige Beschreibungen finden sich immer wieder in der Literatur des Desasters, vgl. z.B. Ruiz Albéniz 1922a: 157: „Mi substancia cerebral, como una esponja, se había hinchado ante el gemir constante de los heridos, y sin tregua me martirizaba, destilando gota a gota los quejidos dolorosos de que estaba impregnado todo yo.“



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Das Phänomen körperlicher Entgrenzung, das Durchlässigwerden für äußere Einflüsse ist auch in der Titelmetapher des Magneten enthalten: Die koloniale Katastrophe wird dargestellt als die Einwirkung von Kraft auf Materie. Körperliche Auflösungsphantasien prägen auch das Erleben des Desasters in Arturo Bareas La ruta. Barea gehört nicht zu den Soldaten, die sich im Moment der Niederlage innerhalb der zusammenbrechenden Stützpunkte aufhalten, sondern gelangt erst einige Tage später zu den Orten, an denen sich die Katastrophe ereignet hat. Als Militär-Ingenieur ist er bei der Wiedererrichtung der Stellungen in der unmittelbaren Nähe von Melilla beteiligt, er erlebt das Desaster also, indem er auf dessen Spuren stößt, die sich in einer eingefrorenen Szenerie des Horrors vor ihm ausbreiten. Das Kapitel „Desastre“ stellt dabei den traumatischen Höhepunkt in Bareas autobiographischer Erzählung dar, der in erster Linie als Zersetzung der Körpergrenzen, als Abtauchen in eine Art Magma der Verwesung und ein direktes Durchtränktwerden mit Sinnesdaten beschrieben wird: „No puedo describir el olor. Penetramos en él como se entra en las aguas de un río. Nos sumergimos en él y allí no había ni fondo ni superficie; no había escape. Saturaba los vestidos y la piel, se filtraba a través de la nariz en la garganta y en los pulmones, nos hacía toser, estornudar, vomitar. El olor disolvía nuestra substancia humana. La empapaba instantáneamente y la convertía en una masa viscosa. Frotarse las manos era frotar dos manos que no eran más de uno, dos manos que parecían pertenecer a un cadáver en corrupción, pegajosas e impregnadas de olor. [...] Aquél día comenzamos a vomitar y seguimos vomitando días y días incontables. [...] Yo no puedo contar la historia de Melilla de julio de 1921. Estuve allí, pero no sé dónde; en alguna parte, en medio de tiros de fusil, cañonazos, rociadas de ametralladora, sudando, gritando, corriendo, durmiendo sobre piedra o sobre arena, pero sobre todo vomitando sin cesar [...].“ (Barea [1943] 200041, 347-348)

Das unablässige Erbrechen von Barea in La ruta macht deutlich: Gegenüber der Organsprache, die Informationen in körperlichen Symptomen codiert, ist das diskursive Sprechen hilflos geworden. 5.2.5 Die koloniale Differenz im absurden Kriegsraum und der „Kollaps in das Objekt“ Es bleibt in Bezug auf Imán die Frage, welche Position in diesem Szenarium der Heimsuchung durch das Andere der Kultur hier noch der kulturell Andere hat – der moro. Im Moment, da das Sinnsystem des Kolonialkriegs seine prekä-

41 Vgl. Kap. 3.3.2, Fußnote 42.



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re Eigengesetzlichkeit offenbart, kommt ihm im Grunde genommen keine zentrale differenzgebende oder grenzsetzende Funktion mehr zu. Zwar sind die moros als ständige Bedrohung präsent, vor der Viance sich verstecken muss, und in der Identifikation mit dem Protagonisten übernimmt der Leser diese Angstwahrnehmung. Doch auch die spanischen Soldaten, die halluzinierend wahllos um sich schießen, werden für Viance zur Gefahr: „Son de los nuestros, pero hay que huirles, porque tiran ya sobre todo Cristo.“ (Sender [1930] 2008: 213) In einem Raum wiederum, in dem die Schutzgemeinschaft der ‚Eigenen‘ versagt, wird der Zusammenschluss der Kabylen zur vorgestellten Alternativgemeinschaft: So desertiert der oben erwähnte Soldat, der den Schützengraben um Melilla in die Gegenrichtung zu Viance überquert, in der Sehnsucht nach der Solidarität unter den moros. Damit ist eine klare Unterscheidung zwischen Feind und Freund hier eigentlich problematisch geworden. Im chimärischen Raum ist der moro vielmehr ein weiteres chaotisches Element: So taucht er z.B. als Verrückter auf, der einen seltsamen Laternentanz vollführt und die bruchstückhafte Sprachwelt mit unverständlichen fremdsprachlichen Ausrufen ergänzt (ebd.: 87). Die Beschreibungen der Gräueltaten der Rifberber, die in der MarokkoKriegsliteratur üblicherweise dazu dienen, die koloniale Hierarchie von Barbarei und Zivilisation aufrechtzuerhalten, finden sich auch in Imán, jedoch an der Seite der Grausamkeiten abgestumpfter spanischer Soldaten, denen ihrerseits der menschliche Maßstab komplett abhandengekommen ist. So zieht es eine Gruppe Soldaten, die einen moro als Gefangenen zur nächsten Stellung eskortieren müssen, aus Faulheit vor, ihn zu erstechen und verbluten zu lassen, und geht gut gelaunt ihres Weges (ebd.: 88). An einer späteren Stelle im Roman, als die Rückeroberung begonnen hat, verzichtet man darauf, die Leiche eines moro aus der Fahrrinne der spanischen Lastwagen zu schaffen: „Siguen pasando los camiones ya sin desviarse y el cadáver se alza, se incorpora, vuelve a caer rebotando con movimientos como de sorpresa y protesta. Viance, embotada la sensibilidad, ríe también desde el parapeto. Pero algunos protestan: –Luego nos quejamos de lo que hacen los moros con nosotros y los llamamos salvajes.“ (Ebd.: 285-286)

Es findet hier also keine klare moralische Polarisierung entlang der ‚Frontlinie‘ statt, und auch nicht die Spaltung in den ‚guten‘ und den ‚bösen‘ moro, die für viele Marokko-Erzählungen so charakteristisch ist. Der moro amigo sitzt als Soldat der policía indígena ebenso apathisch wie die spanischen Soldaten im Lager herum, „con las piernas cruzadas, completamente ajeno a nosotros“ (ebd.: 97). Die fremde Unzugänglichkeit der tropas indígenas lässt sich hier von der



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entfremdeten Teilnahmslosigkeit eines Viance kaum unterscheiden; ihr ‚Verrat‘ steht an der Seite der Desertion spanischer Soldaten. Exotistische Sehnsuchtsräume sind hier genauso verloren gegangen wie das Idyll der Heimat. Ein Bild des Lebens der Rif-Berber im ‚Protektorat‘ wird nur in drei marginalen Szenen im letzten Teil entworfen und dabei das orientalistische Mytheninventar der Marokko-Literatur problematisiert: Der zoco hat hier das Gewand des orientalischen Bazars, der orientalischen Fülle abgelegt und wird zum Sinnbild der Armut und Unterdrückung durch die militärische Administration; und die ‚verführerische‘ mora bekommt das Gesicht eines ausgemergelten, von den spanischen Soldaten sexuell ausgebeuteten Opfers von Kolonialismus und Krieg (ebd.: 279-181). In einer Tee-Zeremonie unter den Regulares schließlich spiegelt sich auch das Problem ihres kulturellen Dazwischenseins als schmerzliche Erfahrung. In den Soldatengesprächen wird der moro zwar diskreditiert und beschimpft, doch der diskriminierende Diskurs ist hier Teil der besessenen Rede, die auf ihr unheimliches Anderes verweist. So richtet Viance wütende Schreie an die Leichen der moros, die in bizarren Stellungen im Stacheldraht vor dem Militärstützpunkt hängen: „–¡Hala, irse por cabila! ¡Marranos, hijos de puta! Ya sale el sol. ¿No rezáis al Dios grande? ¡Alá hené, cabrones! ¡S’alam alicum, maricas!“ (Ebd.: 145) Tatsächlich ist der Hass auf die moros nur eine von vielen erratischen Empfindungen in einer Welt ohne sinnvolle Referenzpunkte und identitätsstabilisierende Grenzen. Wenig später schlägt er um in eine ebenso augenblickshafte neidvolle Faszination, als Viance in einem Versteck einige Berber beobachtet, die unbekümmert wie jeden Donnerstag zum Markt ziehen (ebd.: 157). Ihre Raum-Zeit-Ordnung wird von dem Untergangsszenarium, das Viance erlebt, gar nicht tangiert, ihre Sorglosigkeit relativiert und ergänzt das Chronotop der Entgrenzung um eine ganz andere Möglichkeit der raum-zeitlichen Daseinsform. Dekonstruiert und ad absurdum geführt wird auch die religiöse Sinnkonstituente der kulturellen Gegnerschaft. So ist Gott selbst in einem Traum Viances zum Renegaten, zum religiösen Überläufer (und zum kulturellen Cross-Dresser) geworden: „–Y tú, ¿quién eres? –Dios. Yo soy Dios. ¿No lo ves en mi chilaba nueva, en el albornoz blanco? –Dios es español. –Me he pasado a los moros. Dios está siempre del lado del que puede más. –¡Mientes! Eso no es cierto.



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–¡A mí no se me habla con ese desenfado! Te digo que me he pasado a los moros.“ (Ebd.: 221)

Dem Opportunismus eines Gottes, der sich auf die Seite der Gewinner schlägt, steht die mehrmalige Einsicht einzelner Soldaten in die Legitimität des Widerstands der moros gegenüber: „–¡Cabo, somos fuertes y tenemos buenas armas! ¿Por qué nos han de poder esos piojosos? Yo sí que lo sé. Porque ellos tienen la razón y eso pesa mucho.“ (Ebd.: 236) In solchen Gesprächen über den moro, dem oft willkürlichen Umschlag von Gefühlen von Hass zu Verständnis, wird in Imán die dialogische Unaufgelöstheit, die für viele Kriegstexte typisch ist, zum Bestandteil der Realitätserfahrung des subalternen Soldaten. Anders als viele Marokko-Kriegstexte durchläuft der Protagonist des Romans keinen politischen Bewusstwerdungsprozesses nach Art des Thesenromans (wie z.B. die Hauptfigur in ¡Mektub!, vgl. Kap. 3.2). Doch der qualvolle Marsch Viances, der sich schließlich von Afrika nach Spanien fortsetzt, bringt vage Ahnungen hervor, die an einzelnen Stellen, und schließlich auch im Schlusskapitel, in einen expliziten politischen Diskurs überführt werden: „El caso de España es el mismo que el de Marruecos. La aristocracia goda ‚corre los moros‘ y busca títulos de grandeza, y en España corre a los españoles y busca títulos de la Deuda de acuerdo con los auténticos bárbaros del Norte. Por ignorarlo, se pierde su razón en laberintos. Lo cierto es –concluye– que todo, en este regreso a España, tiene un aspecto absolutamente nuevo y sombrío.“ (Ebd.: 332)

So wird eine Imperialismus-Kritik, die eine ausdrückliche Parallele zwischen den kolonialen Ausbeutungsstrukturen und den sozialen Hierarchien in Spanien zieht, auch in Imán formuliert, wenn auch weniger vordergründig als in La Barbarie Organizada. Ein ebensolcher Moment findet sich, als Viance auf das zerstörte industrielle Gelände des Minenbaus bei Melilla herabschaut. Die Diskursform entspricht hier wiederum nicht der auf dunkle Intuitionen beschränkten Reflexionsfähigkeit der Fokalisierungsfigur Viance, sie wird jedoch aus seiner subjektiven Perspektive von einer konfusen Empfindung von Wut, einer irrationalen „satisfacción maligna y vengativa“ (ebd.) eingefärbt: „Ahí está el anacoreta de los millones, el místico de la industria pregonando la virtud, la abstinencia, el ayuno, y bautizando al indígena con el polvo rojizo del mineral. Bautismo de esclavitud, de vasallaje. Prostitución del trabajo impuesto y mal pagado. Nada de jornadas establecidas ni jornales mínimos. La procesión de encapuchados, cubiertos de polvo rojizo y de piedra manchada por la entraña sangrante de la montaña, hormigueaba de la



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mina al tren, del tren a la mina, silenciosa, aguardando la caída del sol y los seis reales. Civilización de Occidente, trenes mineros, sociología de piedad cristiana y, detrás, el ejército, la vida joven y poderosa con tres palabras vacilantes en los labios: patria, heroísmo, sacrificio. [...] Y al pie... Al pie se han refugiado algunos para morir.“ (Ebd.: 192-193)

Über das verwüstete Minengebiet mit seinen blutenden Bergen und sterbenden Menschen wird hier ein Panorama-Blick entfaltet, der punktuell eine (ideologische) Klarsicht erlaubt: Aus der Vogelperspektive macht er das Kolonisierungsprojekt als Kreisbewegung der sozialen Ausbeutung, sowohl von Marokkanern als auch Spaniern, sichtbar. Das ameisenhafte Hin und Her der Arbeiter zwischen Eisenbahn und Mine (das auch an den Leichenfraß von Insekten erinnert) zeigt so ein weiteres Mal die absurde Logik des unendlichen Laufens auf, das die ganze Struktur des Romans prägt. Trotz alledem haben manche Textstellen den Kritikern nahegelegt, dass Imán eine übergeordnete Erlösungsperspektive eröffnet. So schreibt z.B. Peñuelas (1971: 136): „[...] puede también vislumbrarse en la novela una fe implícita en la perfección de la realidad, de las cosas, en la armonía del universo, donde las limitaciones de los hombres, los horrores y la muerte, forman parte de dicha armonía.“ Tatsächlich gibt es Momente, in denen der über das menschliche Maß gequälte Viance eine Art metaphysische Geborgenheit zu spüren bekommt. Diese mystischen, quasi-religiösen Erlebnisse des Protagonisten haben die Kritik veranlasst, von einem „metaphysischen Essentialismus“ oder „Pantheismus“ in Imán zu sprechen (Carrasquer 1992: CXXVII, CXVI; Rueda 2005: 187-189). M.E. weist der Roman jedoch dem Leser in letzter Instanz keinen Weg zu einem Trost spendenden harmonischen Schutzraum auf. Dieser eröffnet sich nur augenblicksweise und ist das Produkt der psychischen Desintegration des Protagonisten. Mehr oder minder in der Mitte des Romans, als Erschöpfung und Schmerz ihren Höhepunkt erreichen, kriecht Viance in den Bauch eines Pferdekadavers: Hier vollzieht sich nun der endgültige Zusammenbruch der IchGrenzen: Nach diesem Erlebnis hat Viance seinen Namen vergessen. Die Selbstauflösung ereignet sich konsequenterweise im vollständigen Eintauchen in den verwesenden Leichnam, des ‚Kollaps in das Objekt‘, wie ihn Kristeva beschreibt: „[The abject] represents the crisis of the subject [...] insofar as it would not yet be, or would no longer be separated from the object. Its limits would no longer be established. It would be constantly menaced by its possible collapse into the object. It would lose defini-



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tion. It is a question, then, of a precarious state in which the subject is menaced by the possibility of collapsing into a chaos of indifference.“ (Kristeva 1983: 39)

Viances Hinwendung und Aufgehen im Leichnam ist der Moment der Selbstaufgabe und damit auch ein Moment der Befreiung vom Kampf gegen den Tod:42 „Siente sus propias palpitaciones en las costillas del caballo. ¿Es que quizá su vida transciende a las vísceras muertas y las anima de nuevo? Siente también que su materia es igual a la que la circunda, que hay sólo un género de materia y que toda está animada por los mismos impulsos ciegos, obedientes a una misma ley. Le invade una vaga ternura, el deseo de hacer bien y de encontrarlo todo dulce y bueno. [...] Viance se siente hundido en una conciencia nueva de sí mismo, del dolor, de la vida. Ésta es un accidente físico.“ (Sender [1930] 2008: 197, Hervorh. S.F.)

Viance erlebt hier einen Moment der Regression, die Einkehr in den Pferdekörper gleicht einer Heimkehr in den Mutterleib, bei dem die imaginären Objektbeziehungen vor der Errichtung der Ich-Grenzen und dem Eintritt in die symbolische Ordnung wiederhergestellt werden. Viances Aufenthalt im Pferdeleichnam ist das Zerrbild der initiatorischen Rückkehr zum Ursprung, die die koloniale Unternehmung versprach. Solche scheinbar metaphysischen Passagen suggerieren m.E. nicht die Existenz eines tieferen Weltsinns als Gegengewicht zur brutalen Hölle des Desasters (vgl. King 1974: 52), sondern treiben die Darstellung der physischen Gewalt auf die Spitze, indem sie vorführen, wie diese nur noch durch die Flucht aus der historischen Realität ertragbar ist. So verhält es sich auch mit dem plötzlichen Freiheitsgefühl, das mit dem „Kollaps in die Indifferenz“ (vgl. obiges Zitat) einhergeht: „Ahora tiene una libertad bárbara e implacable, más dura que la peor disciplina, una libertad [...] enorme e inútil. Sus cavilaciones se resuelven en el vacío como cabezazos contra un ataúd.“ (Sender [1930] 2008: 193) Freiheit und Harmonie sind – und dies ist das zentrale Argument gegen eine vermeintliche transzendentale Erlösungsperspektive in Imán – kein außerhalb der maßlosen Qual der historischen Realität (des physischen Unfalls, vgl. obiges Zitat) gelegener und erreichbarer Raum. Entsprechend bricht diese metaphysisch und mythisch anmutende Dimension des Textes nicht mit dem Absurden, denn es handelt sich um Momente, „die keine andere Tiefe haben als die des menschlichen Schmerzes“ (Camus [1942] 1989, 97).

42 Auch diese Hinwendung zum Tod und der Hoffnungsverzicht als einziges Freiheitserlebnis machen Viance zum absurden Helden im Sinne von Camus (vgl. Camus [1942] 1989: 52-53).



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In anderen Szenen blitzt die Ahnung einer allumfassenden Bedeutung auf, sie wird jedoch für Viance nie wirklich greifbar und ist immer schon in dem unheilvollen Prozess der Verschiebung begriffen, dem die katastrophale Raum-Zeit untersteht. Dies zeigt z.B. die Szene, die unmittelbar auf die ‚Uterus-Reise‘ im Pferdekörper folgt: Viance trifft hier auf einen Renegaten, einen Deserteur aus dem Afrika-Krieg des 19. Jahrhunderts, der ihm Hilfe und Unterschlupf bietet. Der Renegat, der als einzige Figur eine Art ‚Weisheitsdiskurs‘ führt, stellt Viance einen tieferen Sinn seines Leidens in Aussicht, indem er dieses zu einer Ich-stärkenden Initiationserfahrung erklärt: „Tú, sigue, sigue andando de noche y procura llegar a Melilla. Si estas cosas que ves no te aniquilan, serás un hombre cabal. Le has visto los dientes al lobo.“ (Sender [1930] 2008: 206-207) Gerade die Rede der Weisheit gibt Viance jedoch Anlass, am Urteilsvermögen des alten Mannes zu zweifeln („¡[...] hace falta estar un poco majareta para soltar ese discurso en este momento!“, ebd.: 203). Viance selbst wird in dieser Interaktion durch die Perspektive des Alten als wahnsinnig lesbar, wobei er seinerseits den Wahnsinn des Renegaten zu erahnen beginnt, der sich in der Codierung der Vergangenheit in indexikalischen, dinghaften Zeichenkörpern äußert: So bewahrt der Alte den Totenschädel seiner Frau, einer mora auf, die er eigenhändig umgebracht hat, um sich ihrer ewigen Liebe zu versichern: „Todo en el mundo es lucha. En cambio, yo inventé un pacto que nos hizo a los dos felices. Ése es el único pacto que en la vida se puede hacer con los demás. No lo olvides. [...] ¡Je, je, je!“ (Ebd.: 208) Das alte Motiv der fatalen Liebe des spanischen Renegaten zur mora taucht hier also nur noch in Form dieses grotesken materiellen Überbleibsels – des Schädels – auf. Und die einzigen Rückschlüsse, die der ‚weise Alte‘ schließlich aus dem Desaster zieht, sind ein Haufen Nägel: „Haz como yo. No reflexiones nunca sobre esto porque te volverás loco o idiota. ¿Sabes cuál es la única consecuencia que saco de esta catástrofe? Mírala. Le muestra las herraduras y un montón de clavos que saca debajo de la chilaba.“ (Ebd. 207) Die Möglichkeit, einen zeichenhaften Bezug zur Katastrophe herzustellen, ist hier nur noch auf den Verweisungscharakter kontingenter Reste beschränkt. Am Ende des Gesprächs ist die Welterfahrenheit des Renegaten in reinen Irrsinn übergegangen, Zuflucht und Heimatsgefühle haben sich spätestens hier wieder aufgelöst: „Viance entrevé algo nuevo que pone brumas lejanas más allá de la posibilidad de salvarse y de volver a España: las sepulturas próximas, la zanja abierta y el olor pestilente le hablan ahora más al cerebro que al corazón. Presiente algo inconcreto. No sabe qué. Pero lo que sea le deja una impresión confusa y amarga, más dolorosa que el balazo que lleva en el hombro.“ (Ebd.: 208)



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Mit Ramón Senders Imán soll hier die Darstellung des Umschreibungs- und Umschreibungsprozesses, den das Desaster von Annual als Ereignis in Gang gesetzt hat, zum Ende gelangen. Sie hat es möglich gemacht, einen Moment der Destabilisierung und Öffnung im kolonialen Erzählfeld sichtbar werden zu lassen und schließlich zu Texten geführt, die aus den Kreisbahnen dieses Universums ausbrechen. Im Zentrum der Analyse stand nicht die Frage nach der Wiederkehr der diskursiven Strukturen des Kolonialismus, sondern nach der erzählerischen Darstellung des Anderswerdens der Realität gegenüber dem diskursiven Beharren, dem Verhältnis von ‚alter Sprache‘ und widerständiger Realität und der tückischen Macht des performativen Misslingens. Mit Viances Lauf auf dem ‚Rand der Struktur‘ ist eine eindrucksvolle Literarisierung dieser Problematik gelungen: In Imán steht die historische Raum-Zeit des Kriegs nicht mehr in argumentativer oder stilistischer Inkonsequenz neben den identitätsstrategischen Topoi kolonialer Raum- und Zeitdarstellungen, vielmehr wird ‚Annual‘ zur Metapher für den Verlust von Grenze und Identität, für das Entgleiten symbolischer Ordnungen und transzendentaler Referenzen. In der Textwelt von Imán kondensieren sich Elemente, die im Verlauf der Textanalysen immer wieder in den Blick genommen wurden, zu einer literarischen Welt des Absurden: Die ‚Ankunft‘ des Anderen des Diskurses, die sich in der Ironie von Nachahmung und Verschiebung, im Umschlag des Epos zur Farce ereignet, zeigt hier in der Materialität der Zeichen, den leeren Ritualen und der besessenen Sprache ihr unheimlichstes Gesicht. Dient die koloniale Erzählung zur Fixierung des Fremden in einem relationalen Außen der Kultur, so kehrt es hier in der grotesken Rezentrierung des Abjekts als gespenstisches Eigenes zurück. Vereint die Meistererzählung des Imperiums die Interessen der Nation, so wird hier in der Umkehr der diskursiv fixierten Perspektive und dem inszenierten Verstummen des traumatisierten subalternen Subjekts die Narration der Nation disseminiert. Bei diesem Grenzmarsch durch das absurde Chronotop, das von Afrika nach Spanien führt, bekommt der relational Andere, der moro, eine neue Spiegel-Bedeutung in der Beziehung von kolonialer und sozialer Ausbeutung und Marginalisierung. Ist der Marokko-Text die spanische „Schutzdichtung“ (Bronfen 2007: XII) des Eigenen und Fremden, so wird sie hier aufgebrochen und ist zur Erzählung der Selbstentfremdung mutiert.



Epilog

Mit dem Einstürzen des kolonialen Luftgebäudes beim Desaster von Annual ist die spanisch-marokkanische Kolonialgeschichte nicht zu Ende, mit rabiaten Mitteln wurde das verlorene Gebiet zurückerobert und das ‚Miniatur-Imperium‘ erneut errichtet. Dieses schwierige Erbe ging nach der Proklamation der Republik, die, wie beschrieben, nicht zuletzt auch eine Folge der gesellschaftlichen Politisierung durch den Kolonialkrieg war (vgl. Kap. 4.2.1), an die linksrepublikanische Regierung Manuel Azañas über. Marokko sollte zur Achillesverse des kurzlebigen ‚neuen Spaniens‘ werden, wie Azaña später feststellte (Martín 1973: 172; Balfour 2002: 244): Die Inkonsequenz in der Kolonialpolitik kann als eines der großen und eventuell ausschlaggebenden Versäumnisse der Zweiten Republik gedeutet werden.1 Das Ende der Diktatur und des Restaurationsregimes weckte zunächst die Hoffnungen der Protektoratsbevölkerung und der – sich zu Beginn der 1930er Jahre zunehmend als politische Bewegung im engeren Sinne formierenden – marokkanischen Nationalisten auf mehr politische Freiheiten und ein Ende der oft schlimmen Repressionen, der die Rifberber nach der militärischen Niederschlagung des Widerstandes ausgesetzt waren. In öffentlichen Verlautbarungen wurde die Republik begrüßt und marokkanische Arbeiter demonstrierten für bessere Arbeitsbedingungen (Madariaga 2013: 173-174, 223). Doch die Unruhen wurden unter der Leitung des Hohen Kommissars General José Sanjurjo, der auf eine Karriere in der kolonialen Armee in Kuba und Afrika zurückblickte, sogleich gewaltsam unterdrückt (ebd.: 173, 175). Mehrere marokkanische Delegationen reisten nach Madrid, um unter Freundschaftsbekundungen mehr politische Selbstbestimmungsrechte und soziale Reformen aller Art mit der Regierung

1

Zu diesen Versäumnissen vgl. insbesondere die polemische Darstellung von Martín 1973: 103-205. Eine positive Gegendarstellung der republikanischen Protektoratspolitik findet sich bei Madariaga 2013: 171-255.

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Azaña auszuhandeln (vgl. Martín 1973: 108-110; Madariaga 2013: 223-226). Diese zeigte sich zwar grundlegend diplomatisch im Umgang mit den marokkanischen Vertretern (ebd.), eine Unabhängigkeit Marokkos zog sie jedoch nicht ernsthaft in Betracht: Die Kolonialpolitik Madrids folgte ein weiteres Mal dem Druck der Großmächte Frankreich und Großbritannien, die sich versichern ließen, dass sich die ‚junge Republik‘ ihrer internationalen Position einer Kolonialmacht gewachsen und gegenüber den nationalistischen Bestrebungen im Protektorat ‚standhaft‘ zeigen würde (Martín 1973: 140; Madariaga 2013: 179-182; vgl. hierzu auch Paz 2000). So demonstrierte sie mehrfach ihre Bereitschaft, die ‚Ordnung‘ im Rif auch mittels militärischer Gewalt aufrechtzuerhalten. Zu große freiheitliche Zugeständnisse an Spanisch-Marokko hätten vielleicht das ganze koloniale System in Nordafrika ins Wanken gebracht und Spaniens außenpolitische Beziehungen zu den mächtigen Protektoratsnachbarn schwer beschädigt. Mit dem Machtwechsel erinnerten sich die republikanischen Politiker ihrer eigenen kolonialen Diskurstradition, die vordergründig die friedliche ‚Tutorschaft‘ Spaniens und die Bruderschaft zu den Marokkanern in den Vordergrund stellte und sich – in der Denktradition Joaquín Costas – dem gesellschaftlichen, kulturellen Fortschritt und der zivilisatorischen Mission in Marokko verpflichtet sah (vgl. Madariaga 2013: 199, 202, 218). Die Gradwanderung, die hier manche Republikaner vom Anti-Kolonialismus hin zu einer Rhetorik der Zustimmung vollzogen, hat sich beispielhaft in der Analyse von Eliseo Vidals ¡¡¡Los muertos de Annual ya son vengados!!! (1932) gezeigt (Kap. 4.4). Zwar bemühte sich die Regierung Azaña um eine Umverteilung der Macht im Protektorat von militärischen an zivile politische Vertreter sowie um verschiedene administrative und infrastrukturelle Reformen (Madariaga 2013: 177180, 240-255). Doch war man kaum in der Lage, effektive und für die Bevölkerung Nordmarokkos wahrnehmbare Verbesserungen der durch den Krieg noch prekärer gewordenen Lebensbedingungen zu erreichen. Die Regierung verfolgte in erster Linie eine Politik der Kostensenkung, um den Haushalt nicht weiter übermäßig durch das ‚Marokko-Problem‘ zu belasten. Dem Protektorat kam so nicht die nötige politische Aufmerksamkeit der neuen republikanischen Regierung zu, die bekanntlich mit schwerwiegenden innenpolitischen Spannungen zu kämpfen hatte und hier einen komplizierten Balanceakt zwischen den verschiedenen radikalisierten Interessensgruppen in Spanien vollführen musste. Damit überließ sie den afrikanistischen Militärs, die mit der marokkanischen Gesellschaft vertraut waren, das Protektorat als Einflussbereich für ihre antirepublikanische Propaganda. Die Mehrheit der afrikanistischen Offiziere identifizierte sich mit der Monarchie, bzw. der Diktatur, und einzelne signalisierten, dass sie ihre Interessen gegenüber der Republik zur Not mit Gewalt durchsetzen



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würden. Die von Azaña geplanten militärischen Reformen, die Verminderung des Offiziersapparates, das Insistieren des radikalen linken Flügels auf einem Untersuchungsausschuss, der die Frage der Verantwortlichkeiten beim Desaster von Annual wieder aufgreifen sollte, und die Revision der Auszeichnungen und Beförderungen durch Kriegsverdienste trafen die Empfindlichkeiten der afrikanistischen Militärs (Balfour 2002: 239; Madariaga 2013: 183-185). Die Regierung Azaña ergriff bekanntlich alle möglichen Maßnahmen, um die afrikanistischen Generäle zu isolieren und an abseitigen Orten zu stationieren, doch diese wurden später während des bienio negro wieder weitgehend rückgängig gemacht (Balfour 2002: 249, 257). Das Afrika-Heer führte seine nationale ‚Rettungsmission‘ in einem innenpolitischen Interventionismus fort: Bereits 1932 unternahm José Sanjurjo einen Putschversuch gegen die linksrepublikanische Regierung, der jedoch erfolglos verlief. Die afrikanischen Einheiten, die hier noch zur Verhinderung des Staatstreichs zum Einsatz kamen, wurden dabei nach und nach in den Rang einer inneren Eingreiftruppe gehoben. Ein Schlüsselereignis in dieser Entwicklung war die brutale Niederschlagung der Oktoberrevolution 1934 in Asturien durch koloniale Truppen: Hier mobilisierte die ab November 1933 im Amt befindliche rechte Regierungskoalition der Republik die Legion und die marokkanischen Regulares, um die Aufstände und Streiks der Bergarbeiter zu unterdrücken. Zum ersten Mal führten hier nationalistisch-autoritaristische Generäle marokkanische Söldnertruppen und Legionäre gegen ihren innenpolitischen Feind ins Feld: Bei dieser Operation, die weitgehend von Franco gesteuert wurde und im Nachhinein als eine Art Generalprobe für den Militärputsch von 1936 interpretierbar ist, bekam nun die spanische Zivilbevölkerung in der Heimat die Gewaltkultur der kolonialen Truppen zu spüren und wurde zum Opfer von Plünderungen, Vergewaltigungen und Massenexekutionen (ebd.: 253). Die Niederschlagung der Oktoberrevolution durch marokkanische Truppen trug einiges dazu bei, dass sich die Solidarisierung der sozialrevolutionären Gruppen mit der marokkanischen Unabhängigkeitsbewegung auflöste (Martín 1973: 131). Hier zeigt sich bereits die kuriose Frontverschiebung und diskursive Verkehrung, die für den Bürgerkrieg charakteristisch werden sollte und einen neuen Prozess der Umschreibung der spanischmarokkanischen Beziehung in Gang setzen würde: Die spanische Linke startete eine Hetzkampagne gegen das Afrika-Heer und bildete dabei eine Propagandarhetorik aus, die die alten Negativstereotype des moro wiederbelebte. Die spanische Rechte hingegen begann, eine kulturübergreifende Gemeinschaft mit dem islamischen Nachbarn zu beschwören, in der sich die Gläubigen im Kampf gegen die ‚kommunistischen Atheisten‘ zusammenschlossen. Hier wurden die lang angestauten Hassgefühle der Rifbevölkerung gegen die Spanier umgelenkt gegen



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den inneren Feind des autoritären Spaniens (vgl. hierzu Madariaga 2002a; Balfour 2002: 280-287) und zugleich alle Attribute des kolonialen Anderen auf die ‚roten Horden‘ der republikanischen Seite umgewendet: „[...] the practice of this colonial discourse was transported to the homeland, just as the colonial army was transported across the Straits of Gibraltar.“ (Balfour 2002: 280) Der Marokko-Krieg hatte dazu geführt, dass eine Gruppe von radikalisierten Generälen über eine koloniale Eingreiftruppe in nur 14 km Entfernung zum ‚Mutterland‘ verfügte, mit der sie in einer Mischung aus Marginalisierungs- und Überlegenheitsgefühlen ihren Repräsentationsanspruch als Vertreter des ‚wahren Spaniens‘ gelten machen konnten. Der Putsch, der Spanien in den Bürgerkrieg führen würde, ging bekanntlich von Marokko aus: Den Putschisten gelang es in einem Handstreich, sich sämtlicher wichtiger Einrichtungen im Protektorat zu bemächtigen und große Teile ihrer tropas de choque auf die Halbinsel zu überführen. Sie brachten die brutale Gewaltkultur, die sich im Marokko-Krieg ausgebildet hatte, vom ‚Protektorat‘ zurück ins ‚Mutterland‘. Schon wenige Tage nach dem Putsch begannen die Rekrutierungen neuer marokkanischer Söldner für den Bürgerkrieg, die mit großem Erfolg verliefen: Bereits im nächsten Jahr kämpften ca. 14% der Bevölkerung des Protektorats auf den Seiten der Franquisten in Spanien (Martín 1973: 175; Balfour 2002: 278). Der wichtigste Grund dafür war wohl die blanke Not, die nicht zuletzt eine Folge der gewaltsamen Kolonisierung war: Man versprach vergleichsweise hohe Solde, die in den meisten Fällen letztendlich nicht voll ausgezahlt wurden.2 Neben Gewalt- und Zwangsmaßnahmen war vor allem die geschickte Agitation und Propaganda der afrikanistischen Putschisten von zentraler Bedeutung für die Rekrutierung von marokkanischen Söldnern: Die Ironie der Geschichte wollte, dass nun die afrikanistischen Generäle auf Seiten Francos zu Propagandazwecken gratis Pilgerschiffsreisen nach Mekka organisierten und Freiheitsversprechungen an die Protektoratsbevölkerung machten (vgl. Martín 1973: 186-187). Wie Abel Paz (2000) dokumentiert hat, traf wenige Wochen nach dem Putsch, im September 1936, eine Delegation des Marokkanischen Aktionskomitees als Repräsentant der marokkanischen Unabhängigkeitsbewegung in Barcelona ein. Diese arbeitete mit dem Comité Central de Milicias Antifascistas, das sich aus Anarchisten und Vertretern anderer linker Gruppierungen formierte und in Barcelona in den ersten Kriegswochen die politische Führung übernahm, ein Abkommen aus: Demnach wollten die marokkanischen Nationalisten einen Aufstand in Nordmarokko gegen die Putschisten anzetteln, wenn die spanische

2

Zu der Rolle marokkanischer Söldnertruppen im Spanischen Bürgerkrieg, vgl. insbes. Madariaga 2002a und Balfour 2002: 268-317.



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Republik im Gegenzug dem Rif die Unabhängigkeit zuerkannte. Die republikanische Zentralregierung erklärte sich jedoch auch in der prekären Lage nach dem Putsch nicht bereit, öffentlich die Aufgabe des Protektorats zu verkünden, wobei sie ein weiteres Mal auf ihre internationalen Verpflichtungen gegenüber Frankreich verwies. Mit dieser Absage – die von der Geschichtsschreibung zum spanischen Bürgerkrieg weitgehend vergessen wurde (Paz 2000: 20) – verspielte die Republik wohl eine wichtige Chance, den Bürgerkrieg zu gewinnen. Betrachtet man diese historischen Entwicklungen, so kann das Ereignis des kolonialen Desasters in Marokko – je nach Blickwinkel – in zweierlei Licht erscheinen: Zum einen offenbart es seine Folgenschwere, zum anderen jedoch relativiert es sich im Gang der Geschichte. Und so wird in Spanien der MarokkoText weiter gewebt und entwebt wie der Teppich der Penelope und nach dem zentralen Faden gesucht, der das ‚Knäuel‘ zu entwirren verspricht.



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Lettre Madleen Podewski Komplexe Medienordnungen Zur Rolle der Literatur in der deutsch-jüdischen Zeitschrift »Ost und West« (1901-1923) Dezember 2013, ca. 450 Seiten, kart., ca. 42,80 €, ISBN 978-3-8376-2497-7

Tanja Rudtke Kulinarische Lektüren Vom Essen und Trinken in der Literatur Dezember 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2374-1

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Oktober 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts Juni 2013, 312 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4

Natalia Borisova Mit Herz und Auge Liebe im sowjetischen Film und in der Literatur Februar 2013, 264 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2295-9

Carola Gruber Ereignisse in aller Kürze Narratologische Untersuchungen zur Ereignishaftigkeit in Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel November 2013, ca. 360 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2433-5

Daniel Henseler, Renata Makarska (Hg.) Polnische Literatur in Bewegung Die Exilwelle der 1980er Jahre März 2013, 368 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2032-0

Annette König Welt schreiben Globalisierungstendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Schweiz Juli 2013, 198 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2436-6

Johanne Mohs Aufnahmen und Zuschreibungen Literarische Schreibweisen des fotografischen Akts bei Flaubert, Proust, Perec und Roche Oktober 2013, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 37,80 €, ISBN 978-3-8376-2491-5

Petra Moser Nah am Tabu Experimentelle Selbsterfahrung und erotischer Eigensinn in Robert Walsers »Jakob von Gunten« August 2013, ca. 184 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2341-3

Stefan Schukowski Gender im Gedicht Zur Diskursreaktivität homoerotischer Lyrik April 2013, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2231-7

Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 März 2013, 322 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8

Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur Juli 2013, 190 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)

Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012

2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3. Jahrgang, 2012, Heft 2

2012, 208 Seiten, kart., 12,50 €, ISBN 978-3-8376-2087-0 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 6 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik kann auch im Abonnement für den Preis von 12,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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