Schreibenlassen: Texte zur Literatur im Digitalen 9783941360976

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Schreibenlassen: Texte zur Literatur im Digitalen
 9783941360976

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HANNES BAJOHR

SCHREIBENLASSEN Texte zur Literatur im Digitalen

August Verlag

INHALT

Vorbemerkung

9

I. Digitale als konzeptuelle Literatur Schreibenlassen. Gegenwartsliteratur und die Furcht vorm Digitalen

14

Vom Geist und den Maschinen. Autorschaft zwischen Mensch und Computer

33

Infradünne Plattformen. Print-on-Demand, Autofaktografie und postdigitales Schreiben

39

Das Reskilling der Literatur. Über das Verhältnis von Code und Konzept

69

II. Poetologie und Praxis L(t). Der literarische Prozess

85

Sagen, hören, lesen. Über digitale Literatur

101

Was ist Literatur? Eine Minimalposition

125

III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben Algorithmische Einfühlung. Für eine Kritik ästhetischer KI

131

Keine Experimente. Über künstlerische Künstliche Intelligenz

173

Künstliche Intelligenz und digitale Literatur. Theorie und Praxis konnektionistischen Schreibens

191

Textnachweise Bildnachweise

215 216

VORBEMERKUNG Alle Literatur ist heute digital, aber nicht jede weiß darum. Dieser Band versammelt Aufsätze über jene Art des Schreibens, die sich ihrer Digitalität bewusst ist. Es geht um Texte, die per Algorithmen produziert wurden, aber auch um konzeptuelle Praktiken, die ohne den Computer zu verwenden ein digitales Weltverständnis umsetzen. Ihre Werkzeuge sind Schere und Kleber, aber auch klassischer Computercode und das neuronale Netzwerk, das sich nicht mehr programmieren lässt, sondern von selbst lernt. Ihre Grundfragen lauten dabei stets: Was ist die Welt im Digitalen, wie beschreibt man sie oder besser noch: Wie lässt man ihre Mechanismen sich selbst beschreiben? Die hier zusammengestellten Texte sind im Laufe eines knappen Jahrzehnts entstanden. Ihr Zugriff schwankt zwischen beschreibender Distanz und unmittelbarer Teilnahme, mischt die akademische Analyse mit der Lust am Coding. Als Literaturwissenschaftler, der über, und als Autor, der selbst digitale Literatur schreibt, ist die Trennung der beiden Rollen für mich ohnehin eine künstliche. Statt diesen dauernden Positionswechsel zu verstecken, nehmen die folgenden Texte ihn als gegenseitige Horizonterweiterung auf. Insofern ist dieses Buch auch ein Beitrag zu einer praxeologisch fundierten Literaturwissenschaft. Die meisten der hier versammelten Texte sind in Zeitschriften erschienen, manche auf Websites, andere als Kapitel in Sammelbänden. Alle reagieren auf Entwicklungen im Zusammenspiel zwischen Literatur und Digitalität. Sie haben immer einen Zeit- und Kontextbezug, aus dem sie zu lösen unmöglich und den zu leugnen unsinnig wäre: Als der erste dieser Essays erschien, steckte die Technik des deep learning, mit der sich der letzte befasst, noch in den Kinderschuhen; die Poetik des Printon-Demand, von der die mittleren als aktueller Bewegung 9

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sprechen, ist bereits historisch geworden und hat ihren eigenen Kanon gebildet. So ist dieser Band auch Dokument einer Entwicklung in der Verbreitung und Diskussion digitaler Literatur und der Literatur im Digitalen. Trotzdem glaube ich, dass seine Grundargumente Bestand haben. Daher habe ich nur behutsam eingegriffen, an manchen Stellen Bezüge geklärt, Dopplungen getilgt – auch wenn sie sich nicht ganz vermeiden lassen – und aktuelle Forschungsliteratur nachgetragen. So nicht anders angegeben, sind alle Übersetzungen fremdsprachlicher Quellen von mir. Hannes Bajohr Berlin und Basel im Winter 2021/2022

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I. DIGITALE ALS KONZEPTUELLE LITERATUR

Abb. 1.1: Brion Gysin u. Ian Sommerville, „permutation poems (I AM THAT I AM)“ (ca. 1960), Ausschnitt

SCHREIBENLASSEN. GEGENWARTSLITERATUR UND DIE FURCHT VORM DIGITALEN Ian Sommerville schrieb Anfang der 1960er auf einem Honeywell-Computer ein äußerst simples Programm. Der Input bestand aus einer Zeichenkette (‚Satz‘), deren n Elemente (‚Wörter‘) durch Leerzeichen getrennt waren. Gemäß aller möglichen Kombinationen wurden diese Elemente neu zusammengesetzt und alle Permutationen (‚Zeilen‘) untereinander auf einem Monitor als Textblock ausgegeben (‚Gedicht‘). Bei einem ‚Satz‘ aus n ‚Wörtern‘ entsteht demnach ein ‚Gedicht‘ aus n! ‚Zeilen‘. Ist n=5, sind das 5·4·3·2·1=120. Aus dem Input „I AM THAT I AM“ wird so: I AM THAT I AM AM I THAT I AM I THAT AM I AM Und so weiter, bis Zeile 120. Der Ausgangssatz stammte vom Künstler und Schriftsteller Brion Gysin, der Sommerville den Auftrag für die kleine Programmierarbeit erteilt hatte.1 Die erklärte Absicht: Bedeutung sollte nicht von außen an das Ergebnis herangetragen werden, sondern der permutierte Text sollte seinen Sinngehalt von selbst preisgeben. Gysin und Sommerville arbeiteten nicht das erste Mal zusammen. Als Team hatten sie schon die Dreamachine erfunden, die nichts anderes war als ein durchlöcherter Lampenschirm, der auf einem Plattenteller rotierte und jenen Siehe Laura Hoptman (Hg.), Brion Gysin. Dream Machine, New York: Merrell 2010, S. 79.

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Stroboskopeffekt simulieren sollte, den ein schläfriger Beifahrer hinter geschlossenen Lidern erfährt, wendet er den Kopf vor vorbeisausenden Baumwipfeln gegen die Sonne. Sommerville und Gysin hofften, dass das künstlich erzeugte Flackern auf die Hirnwellen des Benutzers einwirken und ihn so in andere Bewusstseinszustände katapultieren könne.2 Ein kalter Technizist war Gysin also nicht und der Sinnsuche kaum abgeneigt. In seinen zunächst steril anmutenden Permutationsgedichten steckt derselbe Mystizismus. Der erste Satz, den das Programm verarbeitete, war ausgerechnet die göttliche Tautologie, das „Ich bin, der Ich bin“, die Namensoffenbarung Gottes vor Mose im Tanach. (Gysin hatte sie allerdings nicht aus dem Alten Testament, sondern in Aldous Huxleys Meskalin-Vademekum Die Pforten der Wahrnehmung gefunden.) Der Algorithmus wird hier zum Sinngenerator, der schon in der zweiten Zeile das himmlisch Offenbarte in numinose Selbstzweifel stürzt: „Bin ich, der ich bin“? Diese beiden Pole, die kalte Kombinatorik und die hehre Sinnerwartung, spielen auch bei der ‚Entdeckung‘ eine Rolle, die Gysins Nachruhm sicherte: der Technik des Cut-Up, bei der Texte – Zeitungsspalten, Buchseiten, Werbezettel – in Stücke geschnitten und zufällig neu zusammengesetzt werden. „Das Schreiben hinkt der Malerei fünfzig Jahre hinterher“,3 lautete sein berühmter Legitimationsverweis auf die Collagen der Vorkriegsavantgarden, mit dem er dem ganzen Unternehmen den Die Dreamachine war aber keinesfalls ein auf die Beatszene beschränktes Untergrundphänomen. Sie wurde 1962 auf der Ausstellung The Object im Musée des Arts Decoratifs in Paris das erste Mal gezeigt und sogar Albert Barr angeboten, dem Direktor des New Yorker MoMA; er lehnte ab mit den Worten: „Kinetische Arbeiten sind vorbei; Pop ist jetzt in.“ John Geiger, „‚A Great Something Else‘. A Summary of Brion Gysin’s Life“, in: Hoptman (Hg.), Brion Gysin, S. 11–27, hier S. 20. Erst später entwickelte sich die – nun per Versand vertriebene – Dreamachine zum Verkaufsschlager; selbstverständlich gibt es sie inzwischen auch als App für das iPhone. 3 Brion Gysin, „Cut-Ups Self-Explained“, in: Jan Herman (Hg.), Let The Mice In. With Texts by William S. Burroughs and Ian Sommerville, West Glover: Something Else Press 1973, S. 11. 2

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I. Digitale als konzeptuelle Literatur

Anstrich aufholender Notwendigkeit verlieh. Gysins Freund William S. Burroughs wandte Cut-Up später mit bestürzender Effektivität für seinen Schizo-Roman Naked Lunch an, und auch in diesem Zerschneiden und Neuzusammensetzen konnte Sinn in strahlender Plötzlichkeit zutage treten. Sicher, das Ganze ähnelte den Textexperimenten Tristan Tzaras, der 1920 Dada-Gedichte mit aus einem Hut gezogenen Wortschnipseln improvisierte. Tzara, den Gysin in den 1950er Jahren gelegentlich in Paris traf, beschwerte sich dann auch einmal dem Jüngeren gegenüber, dass die Literatur seit Dada nichts Neues mehr zustande gebracht habe.4 Er irrte. Das Neue aber waren nicht Gysins Cut-Ups, die tatsächlich ganz ähnlich wie Tzaras Hut funktionierten. Es war seine digitale Lyrik. Denn Gysins Permutationsgedichte waren nicht einfach eine modernisierte Form der Textcollage. Wie überall, wo das Digitale Einzug hält, gibt es plötzlich einen Sprung: Gysin ersetzte das Materiegeschnipsel durch einen Algorithmus, der ohne analoges Trägermedium auskommt. Mit Sommervilles Hilfe schuf er etwas noch nie Dagewesenes – digitale Literatur. Sein permutation poem ist ein ‚Gedicht‘, das kein Ding mehr ist, sei es eines aus Tinte und Papier oder ein fertiges ‚Werk‘. Es ist ein Unding aus flirrenden Elektronenimpulsen,5 ein Unwerk, das jederzeit weiter permutiert und verarbeitet werden kann, weil „Tristan Tzara und ich trafen uns in den späten Fünfzigerjahren manchmal gegen Mitternacht auf ein Steak und ein Bier an der runden Zinktheke des alten Royal Saint Germain, das heute zum monströsen Le Drugstore umgewandelt wurde, wo sich keine Dichter treffen, die es vermeiden können. Jedes Mal, wenn wir uns begegneten, maulte Tzara: ‚Würden Sie so freundlich sein, mir zu sagen, warum Ihre jungen Freunde darauf bestehen, das Thema von 1920 noch einmal aufzugreifen?‘ Was sollte ich sagen, außer: ‚Vielleicht haben sie das Gefühl, dass Sie es nicht gründlich genug behandelt haben.‘ Tzara schnaubte: ‚Wir haben das alles schon gemacht! Seit Dada hat sich nichts weiterentwickelt – wie sollte es auch! [...] Ich schuf Gedichte in der Luft, als ich ein Wörterbuch zerriss, um die Wörter aus einem Hut herauszuziehen und sie wie Konfetti zu verstreuen – und das alles schon 1920.‘“ „Interview with Brion Gysin“, in: Nicholas Zurbrugg (Hg.), Art, Performance, Media. 31 Interviews, Minneapolis: University of Minnesota Press 2004, S. 190. 5 Siehe Vilém Flusser, „Das Unding I & II“, in: ders., Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München: Hanser 1993, S. 80–89 4

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es nie zu einem Endzustand gerinnt, sondern fließend bleibt. Was Gysin voraussah, war die Entmaterialisierung des Textes. Er ahnte die flüssige Wirklichkeit unserer digitalen Welt. Die Liquidierung der Realität, die sich in ihrer finiten Substanz auf- und von ihrer materialen Fixiertheit loslöst, gehört zu den offensichtlichsten Umwälzungen der Gegenwart. Wer Texte am Computer schreibt, sie auf Tablets liest oder in der Cloud bearbeitet, ohne sie je zu Tinte und Papier werden zu lassen, hat an dieser Verflüssigung ebenso Teil wie diejenige, die sich an einem fremden Ort auf die GPS-Funktion ihres Smartphones verlässt, statt sich durch die Patentfaltung gedruckter Stadtpläne zu wursteln. Die Loslösung vom Materiellen findet sich im Hochfrequenzhandel der Börsen nicht weniger als im alltäglichen Konsumverhalten, von dem der Marketingsoziologe Russell Belk schrieb,6 dass materielle Güter, anders als noch vor dreißig Jahren, das Konsument:innenIch heute immer weniger definieren. Schließlich hat sich die Speicherkapazität digitaler Medien faktisch ins Unendliche erweitert; weil alles gespeichert werden kann, wird es auch gespeichert, und neben neuen Wissensformen entstehen neue Kontrollmöglichkeiten. Damit ist in unserer Gegenwart selbst das Vergessen Vergangenheit geworden. Natürlich sind auch Computer materiell. Platinen benötigen Seltene Erden zu ihrer Herstellung, deren Förderung inzwischen Geopolitik bestimmt, Serverfarmen verbrauchen Strom und produzieren CO₂ und Datacenter stehen sehr konkret am Rande von Industriegebieten. Trotzdem ist das Gefühl der Dematerialisierung real. Es drückt sich als Reaktion auf das Unding des Digitalen aus – nicht selten in einem Unbehagen, das sich in nostalgische Verweigerung flüchtet, wie die zunehmende Nobilitierung des Dings in Kunst, Theorie und Alltag Russell W. Belk, „Extended Self in a Digital World“, in: Journal of Consumer Research 40:3 (2013), S. 477–500. 6

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I. Digitale als konzeptuelle Literatur

zeigt. Der Aufstieg von Materialitäts- und Dingtheorien wäre dabei das akademische Äquivalent zur Auratisierung des Handgefertigten – jener Retrosemiotik aus Tweed und geprägtem Rindsleder, wie sie etwa in Spike Jonzes Film Her (2013) zum stilistischen Inbegriff einer Futuristik wird, die gerade deshalb völlig plausibel wirkt, weil sie in einer Welt körperloser Softwareakteure so offensichtlich die Sehnsucht nach handfester Stofflichkeit verkündet. Das ist nur eine Inkarnation der Furcht vorm Digitalen und sie mag lediglich die Signatur einer Übergangszeit sein, in der das Alte in noch zu frischer Erinnerung und das Neue noch nicht selbstverständlich genug ist, sodass die Spannung zwischen beiden Übersprungshandlungen generiert. Die Kunsthistorikerin Claire Bishop beklagte entsprechend im Magazin Art Forum,7 dass bildende Künstler heute zwar auf Schritt und Tritt und ganz selbstverständlich digitale Technologien benutzen, diese Tatsache aber entweder verschleiern, indem sie das Analoge fetischisieren (wie etwa Cyprien Gaillard, der seine mit der Handykamera gedrehten Videos auf 35-mm-Film überspielt und auf authentisch ratternden Großprojektoren laufen lässt),8 die bloß oberflächliche Aneignung von Netzinsignien betreiben (wie Dina Kelberman, die animierte GIFs zu Onlinecollagen zusammenfügt)9 oder sich gar nicht erst der Frage stellen, „was es bedeutet, wenn wir heute durch das Digitale denken und sehen und unsere Affekte filtern“.10 Was Bishop „das Digitale“ nennt, hat als neuer Erkenntnismodus nicht nur den Umgang mit, sondern auch den Zugang zur Welt verändert. So irritierend vage der Begriff auch ist, plausibel ist zumindest, dass mit dem Internet Gelehrsamkeit 7 Claire Bishop, „Digital Divide. Contemporary Art and New Media“, in: Art Forum 51:2 (2012), S. 434–441. 8 Cyprien Gaillard, Artefacts, Film, 2011, Museum of Modern Art, New York. 9 Dina Kelberman, Smoke and Fire, GIF-Collage, 2013, New Museum, New York, https://archive.newmuseum.org/exhibitions/2500, letzter Aufruf 21.1.2022. 10 Bishop, „Digital Divide“, S. 436.

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allein kein hinreichendes Merkmal der Gelehrten mehr sein kann und nach Google Maps der Flaneur, der es versteht, sich in der Großstadt zu verlaufen, eine noch artifiziellere Figur ist als schon zu Benjamins Zeiten. Der Aufgabe, dieses noch nicht geklärte Digitale zu artikulieren, hat sich die bildende Kunst laut Bishop bis auf Ausnahmen eher verweigert. Und die Literatur? Auch hier herrscht viel Furcht vorm Digitalen. Ein Beispiel: Reinhard Jirgl, der vom avantgardistischen Außenseiter zum Büchnerpreisträger aufgestiegen ist und dem man nur schwer formalen Konservatismus vorwerfen kann, echauffierte sich 2014 in der Neuen Rundschau über eine „elektronische Hybris“,11 die er allerorten zu wittern meinte. Die vom Verschwinden des Buches, der Autorschaft oder des souveränen Genies reden, oder dem Internet mehr als bloß praktischen Nutzen zusprechen, seien nur auf ihren Marktwert bedachte „Protagonisten in eigener Sache“.12 Überhaupt, dieses Internet: Eigentlich doch nicht mehr als eine bessere Eisenbahn, das heißt für die Literatur höchstens Requisite: „Wie haben in der Vergangenheit gravierende technischwissenschaftliche Neuerungen – Telefon, Relativitätstheorie, Kernspaltung, Automobil, Radio, Fernsehen, Flugzeuge, Weltallraketen etc. pp. – die Literatur beeinflusst? Die Literaturen anverwandelten sie zu ihren Themen. Nicht weniger, nicht mehr.“ Anderes werde auch im Fall des Internet und des Digitalen nicht geschehen: „Eigene neue Qualitäten hinsichtlich der Literaturen erwarte ich von diesen Medien keine.“13 Es wäre Zeitverschwendung, im Einzelnen auf die zahllosen Studien zu verweisen, die zeigen, wie Entwicklungen in Technik und Wissenschaft weit mehr als nur die Inhalte von Literatur beeinflusst haben – angefangen beim filmischen Erzählen 11 Reinhard Jirgl, „Im Stein jeder Gegenwart liegt die Skulptur der Zukunft“, in: Neue Rundschau 124:1 (2014), S. 70–80, hier S. 71. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 72.

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I. Digitale als konzeptuelle Literatur

bis hin zu den Auswirkungen, die die Theorie der Thermodynamik auf die Figurenkonstellationen in Prousts Recherche hatte. Hinter Jirgls Invektiven steht schlicht die Idee von Literatur als ewiger Substanz, die erhaben das Neue betrachtet, ohne von ihm je selbst berührt zu werden. Dass er der Literatur trotzdem die „Versinnlichung bewusster menschlicher Erfahrung“ als Aufgabe zuschreibt,14 macht in einer Welt, in der das Digitale ebenjene Erfahrung radikal verändert, seinen ganzen Ausfall nur noch ärgerlicher. Man sollte vielleicht nicht zu streng mit Jirgl sein, denn die Erwähnung des Digitalen ist im deutschen Literaturdiskurs heute selbst schon eine Anomalie. Blickt man etwa auf die länger vor sich hin köchelnde Literaturdebatte um die mittelschichtige Erfahrungsarmut junger Autor:innen zurück, die Florian Kessler Anfang 2014 in der Zeit anstieß, fallen zwei Dinge auf. Erstens, dass Literatur immer mit Prosa, genauer: dem Roman, gleichgesetzt wurde. Aber der Roman, dieses Mastodon des neunzehnten Jahrhunderts, so sehr Ding wie wenig anderes, ist womöglich überhaupt die falsche Gattung, um sich dem Digitalen zu nähern. Und damit zusammenhängend, zweitens, dass ein verblüffend enger Begriff von Erfahrung in Anschlag gebracht wurde, nämlich so etwas wie eine Reportageperspektive: Ich war dabei und kann davon berichten. Dass gerade dieser hypersubjektive Anspruch den im Digitalen stattfindenden Identitätsverwischungen gar nicht gerecht werden kann, bleibt dabei natürlich auf der Strecke. Nimmt man beides zusammen, verwundert es nicht, dass am Ende alles darauf hinauslief, anderen das Rederecht zu entziehen, weil sie nicht den nötigen Authentizitätsnachweis erbringen können. Dabei ist diese angepriesene Wunderformel aus Großnarration und Erlebnisgeprotze selbst fragwürdig. Sie garantiert eher effektives Personality Marketing als aufschlussreiche Gegen14

Ebd., S. 74.

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wartsdarstellung, denn oft ist dieses ‚Erleben‘ selbst eine Konstruktion, die bestimmten stereotypen Konstanten gehorchen muss, um als authentisch (und vermarktbar) zu gelten. Und wieder ist das Beispiel Gysin erhellend. Er lebte in Marokko und mit psychedelischen Drogen, brachte also alle Voraussetzungen zur Hyperauthentizität mit, aber statt dem großen BeatRoman produzierte er Lyrik, die sich standhaft weigert zu erleben. Und doch steht sie, als digitale, fester im Jetzt als all die monierten Schreibschulenabsolvent:innen und gelobten Echteweltautor:innen. Dass das Digitale in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur keine Rolle spielt, liegt durchaus auch am Reden über sie. Der kritische Apparat zur Analyse digitaler Literatur ist zwar, nicht zuletzt durch die Vorarbeit von Literaturwissenschaftler:innen wie N. Katherine Hayles oder Espen Aarseth im englisch- und Roberto Simanowski oder Christiane Heibach im deutschsprachigen Raum,15 geradezu überausgestattet, aber dessen Anwendung beschränkt sich zumeist auf einen Satz früh kanonisierter Werke, die wieder und wieder herangezogen werden – allen voran afternoon, a story (1987) von Michael Joyce, das als erstes Hypertextnarrativ in keinem Essay über elektronische Literatur fehlen darf (also auch in diesem nicht). Auch in Arbeiten der letzten Jahre sind die behandelten Werke höchstens noch aus den frühen Zweitausendern, was sicherlich an der normalen Latenz der Literaturwissenschaft liegt, dabei aber einen falschen Eindruck vom Stand der Dinge aufkommen lässt. Gerade diese frühe Hyperfiktion und ihre Lobreden, die vom nichtlinearen Erzählen schwärmten, von Texten ohne Zentrum, wirken heute als enthusiastische ZeugN. Katherine Hayles, Electronic Literature. New Horizons for the Literary, Notre Dame, Ind.: University of Notre Dame Press 2009; Espen J. Arseth, Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1997; Roberto Simanowski (Hg.), Text+Kritik 38:152, Themenheft „Digitale Literatur“ (2001); Christiane Heibach, Literatur im elektronischen Raum, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. 15

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I. Digitale als konzeptuelle Literatur

nisse einer vergangenen Zukunft fast rührend.16 Das liegt vor allem daran, dass hier die Vernetzung als willkommener Anwendungsfall liebgewonnener Konzepte der Postmoderne (Rhizom!) eher gesucht als gefunden wurde, aber ebenso daran, dass sich auch der Hypertext noch immer am Roman orientiert und allen Ansprüchen ausgeliefert ist, die an und gegen ihn erhoben werden.17 Wer sich heute dem Digitalen stellt, tut es, Gysin folgend, im Offenen der experimentellen Lyrik, die eher in den Grenzbereich zur bildenden Kunst hineinspielt, statt das große Erzählen zu propagieren. Das Spektrum ist breit und reicht von flarfPoesie, die aus der Ergebnisvorschau der Google-Suche Gedichte komponiert,18 über Kombinatorikexperimente wie Danny Snelsons EXE TXT, das Theorietexte zusammenwürfelt und sowohl als Buch wie auch als ZIP-Datei publiziert wurde,19 bis hin zu den in Acryl gemalten QR-Codes des Schriftstellers Douglas Coupland, die sich, mit der Handykamera gescannt, in Lyrik verwandeln.20 Deutschsprachige Vorstöße blieben dagegen bisher eher spärlich. Der Kulturwissenschaftler Stephan Porombka, der 2001 einst den Hypertext als „digitalen Mythos“21 verabschiedete und sich heute vor allem auf den sozialen Aspekt der Textproduktion im Internet, auf Twitter und Facebook als literariBeispielhaft sind hier die vor lauter Poststrukturalismus nur so knisternden Bücher von Jay David Bolter, Writing Space. The Computer, Hypertext, and the History of Writing, Hillsdale, NJ: Erlbaum 1991 und George Landow, Hypertext. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1992. 17 Siehe etwa Michel Chaouli, „How Interactive Can Fiction Be?“, in: Critical Inquiry 31:3 (2005), S. 599–617. 18 Gary Sullivan, „A Brief Guide to Flarf Poetry“, in: Poets.org, 14.2.2011, https://poets. org/text/brief-guide-flarf-poetry, letzter Aufruf 21.1.2022. 19 Danny Snelson, EXE TXT, o.O.: Gauss PDF 2015, https://www.gauss-pdf.com/ post/119280455505/gpdf172-gpdfe015-danny-snelson-exe-txt, letzter Aufruf 21.1.2022. 20 Ariane Colenbrander, „Douglas Coupland. Vancouver Codes“, in: Vancouver Scape, 13.1.2012, http://vancouverscape.com/douglas-coupland-vancouver-codes, letzter Aufruf 21.1.2022. 21 Stephan Porombka, Hypertext. Zur Kritik des digitalen Mythos, München: Fink 2001. 16

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sche Spielfelder konzentriert, gab 2012 unter dem Titel Flarf Berlin. 95 Netzgedichte eine Lyrikanthologie heraus,22 die flarf auch nach Deutschland bringen sollte. Doch scheinen die wenigsten der darin einmalig zum Experiment geladenen Autor:innen, außer vielleicht Alexander Gumz oder Jan Skudlarek, diese Ansätze auch für ihr eigenes Schreiben weiterverfolgt zu haben. Es gibt noch andere Versuche – wie 2014 On the Road von Gregor Weichbrodt, der die in Jack Kerouacs Roman genannten Orte in die Google-Maps-Routenplanung eingab, deren Richtungsangaben als Langpoem veröffentlichte und so einen hyperexaktes Metanarrativ schuf –,23 aber diese Versuche sind im Ganzen gesehen derartige Ausnahmen, dass sich aus ihnen keine hierzulande einflussreiche ‚Richtung‘ ablesen lässt. Trotz theoretisch geladener Symposien wie „Netzkultur“ und „Literatur Digital“ spürt man in der deutschen literarischen Praxis immer noch wenig vom Digitalen.24 Womöglich haftet flarf und ähnlichen Experimenten, die das Internet zur Textproduktion heranziehen, wie etwa twitterature, in der Twitter zum literarischen Operationsfeld wird, noch etwas allzu Wörtliches an, das es leicht macht, sie zu ignorieren. Sie fischen nur die Oberfläche des Internet ab, ohne sich in die Untiefen des Digitalen zu wagen. Das Internet ist auch Google, ist auch das Stimmengewirr der sozialen Netze, aber darin erschöpft sich das Digitale nicht. Wie es in der Gegenwartskunst den Unterschied zwischen net art und digital art gibt,25 sollte man auch Netzliteratur von digitaler Literatur trennen. Alexander Gumz, Stephan Porombka (Hg.), Flarf. 95 Netzgedichte, Hildesheim: edition paechterhaus 2012. Gregor Weichbrodt, On the Road, 2014, https://poetrywillbemadebyall.com/book/road, letzter Aufruf 21.1.2022. – Weichbrodts Buch und dieser Essay entstanden, bevor wir uns zum Textkollektiv 0x0a zusammenschlossen, auf dem auch On the Road wiederveröffentlicht wurde, siehe https://0x0a.li/de/text/on-the-road, letzter Aufruf 21.1.2022. 24 http://netzkultur.berlinerfestspiele.de; https://hkw.eu/de/app/mediathek/audio/26389, letzter Aufruf 21.1.2022. 25 Siehe dazu Christiane Paul, Digital Art, London: Thames and Hudson 22008, Kap. 2. 22

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I. Digitale als konzeptuelle Literatur

Das eine sind Schnappschüsse eines kulturellen, linguistischen und technologischen Augenblicks, der sich in der Geschwindigkeit verändert, mit der Memes und Plattformen auf- und wieder abtauchen; das andere sind Versuche, die Affektorganisation und Weltwahrnehmung durch das Digitale überhaupt darzustellen. Gleichwohl fehlt beides im Augenblick mehr als das große, dreckige Erleben, von dem dann authentisch zu berichten wäre. Identität, die Authentizität nun einmal voraussetzt, spielt im Digitalen ohnehin eine andere Rolle. Bereits Gysin nannte das Ergebnis seines Algorithmus ein „120-Zeilen-Gedicht ohne Autor:in“.26 Denn am Ende weiß niemand mehr genau, wer hier das Gedicht schreibt: Gysin, der Programmierer Sommerville oder, auch möglich, der Honeywell-Computer – was weniger absurd ist, als wenn man bei Tzara auf den Hut getippt hätte. Die Welt im Digitalen, das ist ein neuer Blick und ein großes Versprechen: Nichts ist mehr Ding, alles ist Text. Bilder, Töne, Filme sind Text. Sogar Text ist Text. Noch das Wort „Wort“ ist, auf einer tieferen Ebene, hexadezimal, als „57 6F 72 74“ codiert und, wieder darunter, in Maschinencode, binär, als „01010111 01101111 01110010 01110100“. Ein Foto von Reinhard Jirgl und seine Texte sehen auf diesen niedrigeren Ebenen strukturell gleich aus. Erst die Ausleseregel, der Codec, bestimmt, was aus dem untersten aller Texte wird. Sommervilles/Gysins ‚Gedicht‘ mit seinen 120 ‚Zeilen‘ hätte auch eine Melodie sein können. Das ist die Dimension der Transkodierung, die man mit N. Katherine Hayles unter dem Schlagwort des stets auf eine andere Codierungsebene verweisenden „flickering signifier“27 fassen kann und die im Digitalen den Übergang vom einen ins andere Ausgabeformat ermöglicht – so, als könnte man an William S. Burroughs u. Brion Gysin, The Third Mind, New York: Viking 1978, S. 9. N. Katherine Hayles, „Virtual Bodies and Flickering Signifiers“, in: dies., How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago: University of Chicago Press 1999, S. 25. 26 27

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einem Buch nicht nur die Lettern lesen, sondern auch Papier, Leimung und Heftfaden. Transkodierung ist zumindest ein zentrales Dispositiv des Digitalen. Weil im Digitalen alles fluktuiert, ist es unmöglich, bei null anzufangen. Stattdessen ist, und zwar wirklich erst heute, alles frei, wieder und weiter verarbeitet, transkodiert und prozessiert zu werden. Was Hans Blumenberg über die Poetik Paul Valérys schrieb, ist ganz wörtlich wahr geworden: dass nämlich „die ‚Fertigstellung‘ des Werkes in seiner Dinglichkeit nur ein willkürlicher Einschnitt ist und daß das aus dem Prozeß seines Werdens herausgetretene Werk unmittelbar in einen neuen Prozeß eintritt“.28 Dieser Einschnitt der Dinglichkeit ist im Unding aufgehoben. Das Digitale ist das Nichtendenmüssen, das Immerweitermachenkönnen. Wo alles Text ist, gibt es kein Werk mehr, nur noch „Halbzeug“,29 jenes Übergangsprodukt zwischen Rohstoff und Fertigfabrikat, das weder ganz unbehauen noch endgültig abgeschlossen ist. Und weil es gleichzeitig lesbarer Code und ausführbares Programm sein kann, beherbergt das Digitale auch die Sammlung von Instrumenten zu seiner eigenen Verarbeitung. Ins Arsenal einer wirklichen Gegenwartsliteratur gehören daher gerade jene Programme, Modelle und Funktionen, die auf der untersten Ebene des Digitalen ansetzen, data moshing betreiben und in den digitalen Urtext eingreifen. Und das führt zwangsläufig zurück zu den Techniken der Aleatorik, Iteration und Kombinatorik – jenen dadaistischen und surrealistischen Lieblingsspielen, die Gysin aufgriff und denen sich Hans Blumenberg, „Sokrates und das ‚objet ambigu‘. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstands“, in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 74–111, hier S. 83. 29 So beschrieb Blumenberg, der sich mit Industrieproduktion auskannte, einmal seine eigenen Texte: Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 29. – Ich habe dieses Wort später als Titel für einen Band mit digitaler Lyrik geborgt. 28

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I. Digitale als konzeptuelle Literatur

heute die zweite Generation der digitalen Literat:innen wieder zuwendet. Den Generationen-Begriff übernimmt die Literaturwissenschaftlerin Jessica Pressman von ihrer Lehrerin Hayles. Hatte sich die erste Generation noch in der Hoffnung auf das absolut Neue dem Hypertextenthusiasmus der 1990er verschrieben, so betreibt die zweite eine große Inventur und beruft sich auf die klassischen Avantgarden der 1920er Jahre, den Konzeptualismus der 1960er, auf Situationismus, konkrete Poesie und Oulipo – und versucht insgesamt, die Modernepoetiken des 20. mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts umzusetzen.30 Was Pressman „digital modernism“31 nennt, die Vermischung von neuen Medien und alten Avantgardeansätzen, zeigt sich am besten bei einer Literaturrichtung, die zunächst wenig mit dem Digitalen zu tun zu haben scheint: dem konzeptuellen Schreiben, dessen lauteste Stimme der Amerikaner Kenneth Goldsmith ist.32 Seine eigene Textproduktion ist zwar nicht born digital – er verfolgt einen literarischen Appropriationismus, den er „unkreatives Schreiben“ nennt, und tippte etwa für sein Buch Traffic die Verkehrsmeldungen aus dem Radio ab.33 Aber weil er sich weniger als Autor, denn als „Textmanager“ versteht, der vorhandenen Text nur rearrangiert statt neuen zu produzieren, ist das Digitale für ihn das größte aller Arsenale und das konzeptuelle Schreiben die reinste Form der Halbzeugrotation.

Freilich ist das Generationenmodell schon deshalb fragwürdig, weil Gysin darin gar nicht vorkommt; siehe neuerdings zu einer Kritik des Modells: Hannes Bajohr u. Annette Gilbert, „Platzhalter der Zukunft. Digitale Literatur II (2001 2021)“, in: Hannes Bajohr u. Annette Gilbert (Hg.), Digitale Literatur II. Sonderband Text+Kritik, München: edition text+kritik 2021, S. 7–21. 31 Jessica Pressman, Digital Modernism. Making it New in New Media, Oxford: Oxford University Press 2014. 32 Kenneth Goldsmith, Uncreative Writing. Sprachmanagement im digitalen Zeitalter, übers. v. Swantje Lichtenstein u. Hannes Bajohr, Berlin: Matthes & Seitz 2017. 33 Kenneth Goldsmith, Traffic, Los Angeles: Make Now Press 2007; siehe Marjorie Perloff, Unoriginal Genius. Poetry by Other Means in the New Century, Chicago: University of Chicago Press 2010, S. 199–228 für eine Lektüre dieses Buches, malgré lui. 30

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In seinem poetologischen Manifest Uncreative Writing lobt er Seite um Seite jene Autor:innen der zweiten Generation, die appropriieren, konzeptualisieren und vor allem programmieren, um aus vorhandenem Geschriebenem neuen Text zu schaffen. Sie bauen „Schreib-Maschinen“, indem sie sich selbstgewählten Prozeduren und Algorithmen unterwerfen, die sie, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr kontrollieren und deren Ergebnisse immer weiter verwendet werden können. Ihre Mittel sind oft digital, aber viel wesentlicher ist, dass es auch die Perspektive auf die Welt ist, die sich in diesen Texten ausdrückt. Wer wissen will, wie Literatur aussieht, die eine Ahnung hat, was ‚das Digitale‘ sein könnte: Hier ist sie.34 Das ist noch nicht das Ende vom Lied. Goldsmith, die Flarfer:innen und die digitalen konzeptuell Schreibenden eint die Hoffnung, dass es doch möglich sein sollte, den Autor:innengenius zu streichen und, im Maximalfall, Poesie ganz ohne menschliche Einmischung kontrolliert passieren zu lassen. So wie Vilém Flusser vom fünften Kultursprung als der Zeit des „Technobilds“35 sprach – des Bilds, das nicht mehr unmittelbar darstellend auf eine Wirklichkeit rekurriert, sondern allein durch Apparaturen hervorgebracht wird –, könnte man beim Extremfall dieser Literatur von Technotexten sprechen, wenn zu ihrer Herstellung die menschlichen Akteur:innen so weit reduziert wurden, dass ihr Einfluss, verglichen mit dem der Textmaschinen und Schreibalgorithmen, gegen null konvergiert. Doch auch hier ist nur die Herstellung technisch delegiert. Der kanadische Dichter Christian Bök sinnierte schon 2001 über eine „Robopoetik“, die den Algorithmen nicht nur die Produktion, sondern auch die Rezeption von Texten überSiehe neuerdings auch Stefanie Pohle, „Uncreative Writing. Eine Befreiung des Schreibens im digitalen Raum?“, in: Weertje Willms u. Martina Backes (Hg.), Kontexte kreativen Schreibens. Eine Standortbestimmung in Theorie und Praxis, Berlin: Frank & Timme 2021, S. 167–204. 35 Vilém Flusser, Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen: European Photography 1996, S. 53. 34

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lässt, eine „Poesie für nichtmenschliche Leser:innen, die noch nicht existieren, weil solche Aliens, Klone oder Roboter sich noch nicht zur Fähigkeit des Lesens fort entwickelt haben.“36 Solche Fantasien sind in Zeiten von Posthumanismus, object oriented ontology und Spekulativem Realismus zumindest als Limesvorstellungen plausibel. Das in diesen Denkrichtungen formulierte Ziel, mit der Demokratie der Dinge den Anthropozentrismus aller menschengemachten Ontologie zu unterlaufen, ist der Hoffnung analog, im Digitalen Autor:in wie Leser:in völlig aus der Literatur zu streichen – in beiden Fällen findet eine Dezentrierung menschlicher Agency statt. Es kann gut sein, dass ‚das Digitale‘, konsequent zu Ende gedacht, ganz ohne Menschen auskommt, oder sich Mensch und Digitales so weit vermischen, dass die Unterscheidung keinen Sinn mehr hat. Bis es aber so weit ist, bleibt die alte Kategorie des ‚Sinns‘ als Kriterium ästhetischer Urteile noch die unübertretbare Grenze des Posthumanismus. Auch Gysin, der als Großvater dieser Tendenz selbst noch ein digitaler Romantiker war, hoffte auf mystischen Sinn, und sogar Goldsmith gibt zu, dass der unoriginal genius, der er zu sein vorgibt, nur eine Fiktion ist: „Ich stimme zu, dass wir in dem Moment, in dem wir Urteilsvermögen und Qualität aus dem Fenster werfen, in die Bredouille kommen.“37 Das Schöpferische, so die Botschaft, bricht selbst im Unkreativen wieder hervor: Man kann nicht nicht schaffen, denn auch Textmanager:innen müssen immer noch auswählen und wegschmeißen. Im konzeptuellen Schreiben ist der auktoriale Akt nicht verschwunden, er verschiebt sich lediglich von der Ausführung eines Produktionsprogramms zu dessen Abbruch.38 Christian Bök, „The Piecemeal Bard Is Deconstructed. Notes Toward a Potential Robopoetics“, in: Object 10 (2001), https://www.ubu.com/papers/object/03_bok.pdf, letzter Aufruf 21.1.2022. 37 Goldsmith, Uncreative Writing, S. 22. 38 Für eine Unterscheidung verschieden ,distanzierter‘ Autorschaftskonzepte, siehe „Künstliche Intelligenz und digitale Literatur“ in diesem Band. 36

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„Halt“ zu sagen: Vielleicht ist das das Minimum von Autorschaft, das nicht totzukriegen ist. Auch das ist eine Lehre der alten Avantgarden. Die Musik von John Cage, die Literatur von George Perec sind gerade dort interessant, wo sie von den selbstgesetzten Regeln abweicht. Und als Gysin sein Gedicht ohne Autor:in dreizehn Jahre nach dessen Entstehen wiederveröffentlichte, waren aus den mathematisch vorgeschriebenen 120 Zeilen inzwischen 601 geworden – nach keiner Regel, sondern allein der Schriftbildästhetik und der Rhythmik der Zeilen folgend vervielfacht.39 Solange wir also noch keine Cyborgs sind, ist die Beibehaltung dieses erratischen humanen Elements womöglich der angemessenere Ansatz einer Literatur, die unsere Erfahrung des Digitalen – auch in seiner Vorläufigkeit – artikuliert. Dabei macht es gar nichts, dass unklar ist, wie diese Literatur das leistet, solange sie es nur versucht. Die Rückkehr zur Moderne mit dem Arsenal der Gegenwart kann zumindest ein Weg dahin sein. Viel schwerer als die unterstellte Unfähigkeit zu erleben wiegt nämlich die Unlust zu experimentieren.40 Dahinter steht die Einsicht, die Friedrich Kittler einmal formulierte: dass ein Text wie ein Molotowcocktail sei – man müsse ihn werfen.41 Und damit ist zweierlei gesagt, nämlich sowohl, dass ihm noch viel zur vollwertigen Bombe fehlt, der 39 Brion Gysin, „I AM THAT I AM“, in: ders., Back in No Time. The Brion Gysin Reader, hg. v. Jason Weiss, Middletown, Conn.: Wesleyan University Press 2001, S. 80–88. 40 Hierin liegt auch ein forschungskultureller Unterschied im Interesse an digitaler Literatur um 2000: Während in Deutschland die Germanistik vor allem über die Popliteratur zur digitalen Literatur kam – und an ihr vor allem als Ausdruck einer emphatischen ‚Gegenwart‘ interessiert war –, erreichte die amerikanische Leserichtung sie sehr viel eher über die Sprachexperimente einer sich als Avantgarde verstehenden weitergeführten Moderne, wie sie etwa von den L=A=N=G=U=A=G=E poets praktiziert wurde. Die Gegenüberstellung ,Experiment‘ vs. ,Erleben‘ ist also auch Resultat der je geltenden Erwartungen an digitale Literatur. Dass die deutsche Linie durchaus fortlebt, erkennt man auch an jüngsten Veröffentlichungen, etwa Eckhard Schumacher u. Elias Kreuzmair (Hg.), Literatur nach der Digitalisierung. Zeitkonzepte und Gegenwartsdiagnosen, Berlin: de Gruyter 2022. 41 In Bezug auf Kittler mündlich überliefert von Avital Ronell; geht auf Foucault zurück, der in seinen Büchern Brandbomben sehen wollte. Dass Mao von ihnen gar

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Text eher ein Guerillainstrument ist, als auch, dass er eben nicht ist, bevor er nicht geworfen wurde – dass man einen Text nicht einfach aus der Hand geben, sondern vielmehr schleudern soll. Das Ziel ist dabei fast egal, wenn es nur die Welt ist – und die ist heute, genau: digital.

Postskriptum: Es ist behaupteten worden, dass der Begriff der ‚digitalen Lyrik‘ in sich unsinnig sei, „da jede Literatur, die alphabetisch notiert ist und sich auf analogen Parametern wie [graphetischem] Schriftbild oder [phonetischer] Lautlichkeit nicht begründet, bereits digital, nämlich in diskreten Zeichen gespeichert ist.“42 So korrekt das formal ist, übersieht diese Insistenz aber den Unterschied zwischen der exakten Begrifflichkeit eines terminus technicus und seiner legitimen tropischen Anwendung. Dass Bishops an der etwas überstrapazierten Sprache der ontisch-ontologischen Differenz orientierte Prägung ‚das Digitale‘ bereits den metaphorischen und synekdochischen Charakter des Adjektivs ‚digital‘ überdehnt, macht den Begriff nur falsch für die, die meinen, dass von einer Episteme der Digitalisierung zu sprechen unsinnig sei. Insofern kann man bei der Verwendungsweise ‚das Digitale‘ von einer Rückterminologisierung einer Metapher sprechen, die auf einem exakten Begriff beruht.43 Dass ‚digital‘ in den allermeisten Verwendungsfällen mehr und anderes als nur ‚diskret‘ bedeutet, versteht sich schließlich von selbst. Stur auf der einen Grundbedeutung zu beharren hieße, sich eine heuristisch fruchtbare Dimension nehmen: Das als Atombomben gesprochen haben soll, legt eine ganz eigene Metaphorologie des Textes als Waffe nahe. 42 Florian Cramer, Exe.cut[up]able statements. Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts, München: Fink 2011, S. 11. 43 Nämlich: ‚digital‘ als technischer Begriff wird zu ‚digital‘ als Metapher für eine gefühlte Situation wird zu ‚digital‘ als Begriff für eine Episteme.

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Digitale bedeutet etwas, das über das Diskrete hinausgeht; dass wir noch nicht genau wissen, was das ist, macht weder den Begriff nutzlos noch seinen Ursprung vergessen.

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VOM GEIST UND DEN MASCHINEN. AUTORSCHAFT ZWISCHEN MENSCH UND COMPUTER 2015 stellten Swantje Lichtenstein und Tom Lingnau einer Reihe von Autor:innen die Frage: „Sind Künstler:innen für die Herstellung von Kunst heute überhaupt noch nötig?“1 Was am Ende ein schmales Büchlein wurde, nahm seinen Ausgang mit dem Projekt „Covertext“,2 das sich dem Konzeptualismus und der Appropriation in der Literatur widmete. Vor diesem Hintergrund also wurde die Frage formuliert, welche Verbindung noch zwischen Künstler:in und Kunst besteht – denn wenn in der konzeptuellen Literatur die Idee wichtiger als die Ausführung ist und wenn im reinen Sichaneignen und Kopieren fremden Materials keine Schöpfung im klassischen Sinne mehr vorliegt, ist die Idee der Autorschaft in der Tat in einer Zwickmühle angelangt. Sie verhält sich dem Werk gegenüber flüchtig und ausweichend: Wer ist Autor:in eines Buches, dessen Autor:in eigentlich ein:e andere:r ist? Borges’ Pierre Menard lässt grüßen. Ein Beiträger, Scott Myles, antwortete lakonisch: „Without the artist there’s no art“. Damit ist die Sache natürlich erledigt. So wie alle Junggesellen unverheiratet sind, ist alle Kunst von Künstler:innen gemacht. Was ist der Unterschied zwischen Junggesellen und Kunst? Womöglich der, dass Kunst und Künstler:in in keinem tautologischen Verhältnis stehen, sondern sehr gut voneinander getrennt gedacht werden könnten, weil sie historisch variable Größen sind. ‚Künstler:in‘ war nie ein objektiver Begriff; seine Aufgaben- und Einflussbereiche haben sich von der Renaissance über die Romantik, den NatuSwantje Lichtenstein u. Tom Lingnau (Hg.): Covertext. Is the Artist Necessary for Making Art Today?, Köln: Covertext 2015. 2 http://www.covertext.org/, letzter Aufruf 21.1.2022. 1

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ralismus, die klassische Moderne und Postmoderne von ‚Handwerker:in‘ zu ‚Genie‘ zu ‚Wissenschaftler:in‘ zu ‚Diskursknotenpunkt‘ stetig gewandelt; desgleichen ‚Kunst‘. Appropriation und konzeptuelle Literatur sind da lediglich die letzte Volte. Interessant an den eingehenden Antworten war dann auch, dass ein Großteil von ihnen diesen Kontext überhaupt nicht aufnahm. Stattdessen schoss man sich, im Guten wie im Schlechten, auf eine andere, aber verwandte literarische Spielart ein: Die Codeliteratur, die Text per geskripteter Algorithmen produziert. Einerseits zeigt das die Nähe von Code und Konzept, dass nämlich Codes Konzepte formalisieren und ausführbar machen können; andererseits scheint hier tatsächlich, wie Tobias Roth kürzlich formulierte, jene „eigentümliche Frenetik“ die Autor:innen bei der Vorstellung zu ergreifen, „dass die Maschinen ihnen die Arbeit abnehmen“ könnten.3 Gelegentlich grenzt diese Furcht vor dem Digitalen an ein neues Maschinenstürmertum, das sich am liebsten gleich alle technischen Eingriffe in das Wirken der Autor:innen verbitten möchte. Auch Roth selbst ist skeptisch. „Is the artist necessary for making art today?“ sei die „Vorspiegelung eines Umstandes, der nicht der Fall ist“. Indem er verschweigt, was denn hier vorgespiegelt wird (es ist ja nur eine Frage), leitet auch er ohne Erklärung auf das Thema technologisch generierter Kunst um. Dabei geht er die Frage zunächst differenziert an: Mag sein, dass Kunstproduktion vom Autor:innensubjekt fast völlig abgekoppelt werden kann, aber eben nur fast. Irgendjemand muss immer den Anfang machen, den ersten Anstoß geben, der was auch immer in Gang bringt. Und so richtig das ist, setzt Roth doch gleich hinzu: „Medium, Form, Werkzeug stehen in der 3 Tobias Roth, „Ein Cembalo wie du und ich“, in: Logbuch Suhrkamp, 2016, https:// www.logbuch-suhrkamp.de/tobias-roth/ein-cembalo-wie-du-und-ich, letzter Aufruf 21.1.2022.

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Mitte und stellen kein Material, keine Initiative; sie haben auch kein Gedächtnis, vielleicht einen Speicher, wenn es hoch kommt.“ Das aber sind zwei verschiedene Argumente: Ein kausales, das nach dem Initial fragt, und eines, das viel eher das Ausmaß im Auge hat, in dem die Mittel, die ‚Werkzeugkästen‘ ihre einmal begonnene Arbeit verrichten und das eventuell von Quantität in Qualität umschlagen kann. Hier ist eine ganz eigene humanästhetische Ontologie im Spiel, wie sich bald herausstellt, denn Roth geht es dabei ums Ganze: „Welches Vermögen, welcher Begriff bezeichnet diesen Überhang, der Mensch von Maschine trennt?“ Die Antwort folgt: „Geist wäre ein Name für diese Kluft.“ Was sich hier auftut, ist eine Verknüpfung der Begriffe Maschine, Künstler:in und Geist, die alle auf den der Schöpferkraft, oder schlimmer: Kreativität, zulaufen. Maschinen (worunter auch Codes fallen) können nicht ‚kreativ‘ sein, oder zumindest ist gefragt, „ob die Maschine Musik auch machen kann oder sie nur abspielen. Oder Literatur, oder Malerei, es ist eine offene Liste.“ Weil den Maschinen Geist abgeht, der aber Voraussetzung für die Kreativität, am Ende für ‚Genie‘ ist, kann die Maschine niemals Kunstproduzentin werden; kreativ oder genial sind immer nur die Programmierer:innen, die sie in Gang setzen. Muss es aber ‚Geist‘ sein, muss es dieser ‚Geist‘ sein? Ist das alles eine gute Bestimmung von ‚Geist‘? Und von ‚Maschine‘? Versteht man unter Geist, was etwa der inzwischen klassische Teil der Philosophie des Geistes darunter versteht, nämlich die Emergenz von Bewusstsein (die Maschinen abgeht), lautet die Frage: Wie kann ohne Bewusstsein Kunst produziert werden? Versteht man unter Geist anima oder spiritus, den göttlichen Hauch, sind Maschinen ohnehin nicht gemeint; und noch die romantische Idee des Geistes als Genie ist in ihrem Kern (und ihrem Begriff nach) theologisch. Was aber, wenn

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man Geist anders versteht, in einer Weise, die die Differenz zwischen Mensch und Maschine verwischt? Hier ist die auf Andy Clark und David Chalmers zurückgehende Idee des extended mind4 hilfreich: Das ist eine Vorstellung von Geist, der sich eben nicht rein neuronal, physiologisch im Hirn verorten lässt, sondern der zu seiner Funktion auch auf die Welt zugreift, sodass sich am Ende der Genius nicht allein im Kopf, sondern eben im Raum zwischen Kopf, Hand und meinetwegen Gänsekiel abspielt. Ist man nicht eben hochbegabt, schreibt man schließlich nicht komplette Texte in einem Guss nieder, sondern schafft sie in einem stetigen Rückkopplungsprozess zwischen Objektwelt und Bewusstsein. Wenn ich den Text nicht schreiben könnte, ohne ihn auf dem Bildschirm oder Papier zu sehen, dann steckt diesem „aktiven Externalismus“ zufolge Geist eben auch im Blatt, in der Tastatur, im Kuli oder im Bildschirm.5 Aber auch ,Maschine‘ wird hier falsch verstanden. Die Metapher von der ‚Schreib-Maschine‘, die man sich baut, taucht in der Diskussion um Codeliteratur öfter auf. Dabei entsteht vielmals der Eindruck, als würden auktoriale Allmachtsfantasien gehegt, und man sieht in den Maschinen und den vielbeschworenen Algorithmen eine Form von Herrschaftswillen. Das könnte man den autoritären Fehlschluss nennen. Er besteht darin, in der Formulierung von Vorgaben für die Generierung von Text bereits das Vorgeben des Textes selbst zu sehen. Das vergisst aber, dass solche Formulierung von Regeln – die jede ‚Maschine‘, jeder Algorithmus zum Grund haben muss – ihr Ergebnis oft Andy Clark u. David Chalmers, „The Extended Mind“, in: Analysis 58:1 (1998), S. 7–19. 5 Ich wähle hier Clark/Chalmers, weil die analytische Tradition in Debatten um Autorschaft immer etwas zu kurz kommt. Natürlich ließe sich dieses Argument aber auch über die Akteur-Netzwerk-Theorie oder die Science and Technology Studies machen, siehe Jörgen Schäfer, „Reassembling the Literary. Toward a Theoretical Framework for Literary Communication in Computer-Based Media“, in: Jörgen Schäfer u. Peter Gendolla (Hg.): Beyond the Screen. Transformations of Literary Structures, Interfaces and Genres, Bielefeld: Transcript 2010, S. 25–70. 4

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überhaupt nicht kennt und eine komplexe Form der Kontrolle als nicht-eidetische Selbstauslieferung ist: Was am Ende dabei rauskommt, ist kaum in allen Details auszumalen. Ich habe etwa ein Programm gebaut, das mir den Roman Durchschnitt verfasst hat.6 Das in der Programmiersprache Python geschriebene Skript besteht zwar nur aus einer Handvoll Zeilen und operiert nach einem geradezu lächerlich simplen Algorithmus – berechne aus dem Textkorpus aller Romane aus Marcel Reich-Ranickis Kanon die durchschnittliche Satzlänge; lösche alle Sätze anderer Länge; sortiere diese Sätze alphabetisch –, aber das Ergebnis hätte ich mir nie vorstellen, noch auch nur realistisch manuell erarbeiten können. Hier ist eine Art ‚Esprit der Regel‘ am Werk, der darin besteht, dass auch bei der völlig deterministischen Vorgabe von Arbeitsschritten noch Überraschungen, Sinn und Witz auftauchen, die unmöglich vorherzusehen sind, bevor man die Maschine nicht in Gang gesetzt hat. Mein Geist springt in die Maschine, ohne die er nicht so hätte agieren können, wie er es getan hat. Nimmt man beides zusammen, den erweiterten Geist und die Maschine, die mehr weiß als ich, beginnt die Frage, wer eigentlich wessen Werkzeug und wessen Geisteserweiterung ist, langsam zu verschwimmen. Zumindest muss man sagen, dass hier die Maschine nicht nur eine weitere Einflussverlängerung des Prothesengottes Mensch ist, sondern in einem verflochtenen Sinne selbst geschaffen und produziert hat, weil ohne sie das nun existente Mehr an Kunst nicht in der Welt wäre. Von meinem primitiven Programm ausgehend ließe sich diese Angewiesenheit immer weiter fortsetzen, sodass bei der Zunahme von Komplexität die Abhängigkeit des Programms von den Programmierer:innen noch weiter abnimmt; den Limes dieser Entwicklung zu finden, wäre reizvoll. Dass die 6 Hannes Bajohr, Durchschnitt. Roman, Berlin: Frohmann Verlag 2016 – zuerst 2015 bei 0x0a erschienen.

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Netzwerkkommunikation immer mehr Sprache produziert, die allein zwischen Computern ausgetauscht wird, ohne menschliche Leser:innen zu finden, ist eine oft gemachte Beobachtung. Welchen Status hat ein Text, wenn keiner da ist, ihn zu lesen? David Jhave Johnston spricht in diesem Zusammenhang von einem „ästhetischen Animismus“, der ebenjene MaschineMaschine-Kommunikation als gleichermaßen belebt, eben ‚geistvoll‘, betrachtet.7 Vielleicht aber sollte man Begriffe wie Geist und Kreativität in Bezug auf Kunst und Literatur gleich ganz abschaffen; der Geist, den Roth meint, steht immer noch dem Begriff des Genies am nächsten, dem großen, autonomen, schöpferischen und mächtigen. Es scheint, als seien hier romantische Annahmen am Werk, die auch heute noch den Autor:innen- und Künstler:innenbegriff dominieren, wo er sich operationell auch auf Start/Stop-Rufe reduzieren ließe. Daraus ließe sich der Aufruf an die Schreibenden von heute ableiten, sich nicht allein auf dem heroisch-romantischen Autor:innenverständnis auszuruhen, sondern auch unkontrolliert zu schaffen, das eskalierte Schreibenlassen zu üben – und damit meine ich: programmieren zu lernen. Einerseits, wie es der Coder und Lyriker Jörg Piringer sagte, um den historisch von jeher immerzu versagenden Maschinenstürmern eine praktische Alternative entgegenzusetzen: „die poetinnen der kommenden jahre werden nicht zusehen und konzernen die hoheit über die sprachalgorithmen überlassen.“8 Und andererseits, um so mit dem Geist, der ohnehin schon in unseren Maschinen steckt, auch die Grenzen der Literatur noch weiter auszudehnen.

Davin Jhave Johnston, Aesthetic Animism. Digital Poetry’s Ontological Implications, Cambridge, Mass.: MIT Press 2016. 8 Jörg Piringer, „was wird literatur? was wird poesie?“, in: metamorphosen 12:1 (2015), S. 16–19, hier S. 19. 7

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INFRADÜNNE PLATTFORMEN. PRINT-ON-DEMAND, AUTOFAKTOGRAFIE UND POSTDIGITALES SCHREIBEN Der Roman, den Nanni Balestrini 1966 unter dem Titel Tristano bei Feltrinelli herausbrachte, war eigentlich nur ein Hundertbillionstel des Buches, das er im Sinn hatte, als er 1961 mit seiner Konstruktion begann. Tatsächlich ist dieser Tristano eher Baukasten als fertiges Produkt. Ähnlich wie etwas früher der Cut-Up-Erfinder Brion Gysin hatte Balestrini mit den poetischen Möglichkeiten von Computerpermutationen experimentiert und geplant, die 200 Absätze des Buches in allen möglichen Kombinationen zu publizieren. Aber die Idee, hundert Billionen Bücher zu drucken, jedes einzelne ein Original, scheiterte nicht nur an der astronomischen Gesamtzahl: Traditioneller Flachdruck rechnet sich nun einmal erst ab einer Auflagenhöhe, die pro Vorlage entschieden über 1 liegt. Vierzig Jahre später konnte Tristano dann aber doch in der geplanten Form erscheinen. Die Print-on-Demand-Technik macht es inzwischen möglich, sowohl die Permutationen des Satzes zu automatisieren als auch direkt, ohne den Umweg über eine eigens anzufertigende Druckplatte, ein einzelnes Exemplar von der Digitalvorlage zu drucken. Zwar werden die hundert Billionen sicher auch hier nicht voll – den ersten 6000 Exemplaren der italienischen Ausgabe folgten 2000 in der deutschen und 4000 in der englischen (eine französische ist geplant)1 –, aber theoretisch zumindest steht der stetigen FabNanni Balestrini, Tristano, Rom: DeriveApprodi 2007 (Berlin: Suhrkamp 2009; London: Verso 2014). 1

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rikation weiterer Tristano-Unikate nichts im Weg. Der im Geist computergestützter Kombinatorik konstruierte Roman war so digital, dass erst der Digitaldruck ihm zur Existenz verhelfen konnte – auf Papier. Digitale Literatur verträgt sich durchaus mit analogen Trägermedien. So schreibt der italienische Netzkünstler und Publizist Alessandro Ludovico: „Der Tod des Papiers – aus der Rückschau eine der unglücklichsten und peinlichsten Prophezeiungen des Informationszeitalters – ist ganz offensichtlich nicht eingetreten.“ Im Gegenteil sei das Verhältnis von Digitalund Analogtechnologien nicht antagonistisch zu denken, sondern komplementär. Ludovico nennt diese Verschränkung „postdigital“.2 Tristano zeigt, dass sie nicht nur Produktion, sondern auch Poetik betrifft: Zum einen ist das analoge Endprodukt Ergebnis digitaler Herstellungstechnik, zum anderen besteht sein ästhetischer Reiz gerade in der Schwierigkeit, materielles Objekt und informationelle Repräsentation zur Deckung zu bringen, Buch mit Datei und Reproduktion mit Permutation zu versöhnen. Postdigital an Tristano wäre dann dessen Fähigkeit, die von dieser Verwirrung im Digitalen heimgesuchte Weltwahrnehmung zu artikulieren. Mag Tristano nur wie die verspätete Rechtfertigung früher Megalomanie anmuten, sein postdigitales Produktions- und Darstellungsprinzip ist sehr aktuell. Resonanzen finden sich vor allem in einem Bereich experimentellen Schreibens, das man entsprechend postdigitale Literatur nennen könnte: Publikations- und Literaturkollektive wie Gauss PDF und Troll Thread in den Vereinigten Staaten oder Traumawien und 0x0a in Europa bedienen sich dabei ähnlicher konzeptueller Methoden wie Balestrini.3 Auch wenn sie von der Tradition elektroAlessandro Ludovico, Post-Digital Print. The Mutation of Publishing Since 1894. Eindhoven: Onomatopee 2012, S. 29. www.gauss-pdf.com; www.trollthread.tumblr.com; www.0x0a.li; www.traumawien.at, letzter Aufruf 21.1.2022. 2

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nischer Literatur beeinflusst sind, halten sie digitales Schreiben nicht notwendig für an ein einziges Medium gebunden. Im Gegenteil: Gerade dadurch, dass ihre Texte sowohl online lesbar als auch per Print-on-Demand (POD) zu bestellen sind, verwischen sie die ohnehin stets volatile Differenz zwischen digital und analog und bringen einen neuen Wirklichkeitsbegriff zum Ausdruck.4

Das Postdigitale als Technisierung Das Postdigitale ist seiner Popularität zum Trotz ein Begriff von einiger Vagheit. Im Kern ist damit dreierlei gemeint: die praktische Durchmischung und das Zusammenwachsen analoger und digitaler Medien; die Sehnsucht nach der Humanisierung digitaler Technologien – der dann oft die bewusste Rückwendung zur ‚Wärme‘ und ‚Qualität‘ analoger Werkstoffe folgt –; und das Gefühl, die digitale Revolution bereits hinter sich gelassen zu haben.5 Unausgesprochen bleibt in diesen DefiniZur Schwierigkeit der Differenz von ,digital‘ vs. ,analog‘, siehe Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a.M: Suhrkamp 1995, S. 154– 158 sowie Jens Schröter u. Alexander Böhnke, Analog/Digital. Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld: Transcript 2004. 5 Melvin L. Alexenberg, The Future of Art in a Postdigital Age. From Hellenistic to Hebraic Consciousness, Chicago: Intellect 22011, S. 10; Florian Cramer, „What is ‚Post-Digital‘?“, in: APRJA 3:1 (2014), https://aprja.net//article/view/116068, letzter Aufruf 21.1.2022; siehe für eine jüngste Bestandsaufnahme Florian Cramer u. Petar Jandrić, „Postdigital. A Term That Sucks but Is Useful“, in: Postdigital Science and Education 3:3 (2021), S. 966– 989. – Erfunden wurde der Begriff „postdigital“ von Kim Cascone, der 2000 damit noch die Glitch-Ästhetik von digital produzierter Musik meinte: Kim Cascone, „The Aesthetics of Failure. ‚Post-Digital‘ Tendencies in Contemporary Computer Music“, in: Computer Music Journal 24:4 (2000), S. 12–18; er bezog sich wiederum auf den WiredChefredakteur Nicholas Negroponte, der bereits 1998 verkündet hatte: „The digital revolution is over.“ Nicholas Negroponte, „Beyond Digital“, in: Wired 6:12 (1998), http:// archive.wired.com/wired/archive/6.12/negroponte.html, letzter Aufruf 21.1.2022. Für eine umsichtige Abwägung des Terminus, siehe Geoff Cox, „Prehistories of the PostDigital. Or, Some Old Problems with Post-Anything“, in: APRJA 3:1 (2014), https://aprja. net/article/view/116087, letzter Aufruf 21.1.2022. – Allerdings wird der Begriff vielfach unsinnig gebraucht, etwa bei Spencer Jordan, Postdigital Storytelling. Poetics, Praxis, Research, New York: Routledge 2020, der damit lediglich die Hypertextliteratur neu 4

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tionen das ihnen Gemeinsame, dass nämlich das Postdigitale vor allem eine Welterfahrung bezeichnet, die meistenteils unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleibt, wenn sie nicht eigens zu Bewusstsein gebracht wird. POD ist daher nicht postdigital im Sinne einer Nostalgie für materielle Buchkultur.6 Im Gegenteil, die so produzierten Objekte sind – mit blendend weißem Papier, schlechter Verklebung und schablonenhaftem Einheitslayout – meist ausgesprochen hässlich. Postdigital soll hier vielmehr epochal und ontologisch verstanden werden, Florian Cramers Idee folgend, der darin einen Zustand sieht, „in dem der durch digitale Informationstechnologien herbeigeführte Bruch bereits in der Vergangenheit liegt“.7 POD wäre also postdigital, weil es auf die Geschichtlichkeit dieses Bruchs verweist und ihn wahrnehmbar macht. Was heißt es für eine Technik, nicht länger neu zu sein? Hans Blumenberg hat gegen die ‚Technik‘ den Begriff der ‚Technisierung‘ abgesetzt.8 Technik schlägt sich als Tatsache in der Objektivität ihrer Artefakte nieder. Einmal eingeführt, ist sie nur da, um durch bessere, neuere Technik ersetzt zu werden. Technisierung hingegen ist der ständig fortlaufende Prozess, durch den Technik in den Hintergrund unserer alltäglichen Erfahrungen verblasst. Blumenberg nannte dieses Alltagsbewusstsein mit Edmund Husserl „Lebenswelt“.9 Ist Lebenswelt, was aufwärmt, oder bei Andreas Sudmann, „Szenarien des Postdigitalen. Deep Learning als MedienRevolution“, in: Christoph Engemann u. Andreas Sudmann (Hg.), Machine Learning – Medien, Infrastrukturen und Technologien der Künstlichen Intelligenz, Bielefeld: Transcript 2018, S. 55–73, der damit die „quasi-analoge“ Operationsweise von machine learning meint (mehr über diesen Text in „Algorithmische Einfühlung“ in diesem Band). 6 Kathrin Passig weist allerdings darauf hin, dass die Print-Veröffentlichung auch die Funktion eines sozialen Signals haben kann; Bücher in Papierform sind dann Zugangsvoraussetzung zum Betrieb oder Ausweis der eigenen literarischen Ernsthaftigkeit, siehe Kathrin Passig, Vielleicht ist das neu und erfreulich. Technik, Literatur, Kritik, Graz: Droschl 2019, S. 103f. Auf diesen Aspekt gehe ich im Folgenden nicht ein. 7 Cramer, „What is Post-Digital?“. 8 Hans Blumenberg, „Lebenswelt und Technisierung unter den Aspekten der Phänomenologie“, in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart: Reclam 1981, S. 7–54. 9 Blumenberg modifiziert Husserls Begriff der Lebenswelt erheblich, meint damit keinen tatsächlichen Zustand, sondern einen „Grenzbegriff“, d.h. etwas, das als regu-

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in ihrer unzweideutigen Evidenz allen Widerstand vermissen lässt, der sie für uns bemerkbar machen würde, bezeichnet Technisierung das langsame In-die-Lebenswelt-Sinken dessen, was einstmals künstlich, unnatürlich, aufdringlich und neu erschien. Jede Technologie ist im Prozess der Technisierung ‚immer schon‘ auf dem Weg hin zu dieser Transparenz und wird für ihre Nutzer:innen unsichtbar.10 Es ist gut möglich, dass wir heute, da die Verbreitung von Digitaltechnologien bereits mehr als eine Generation hinter uns liegt, einen Schwellenmoment einer solchen Technisierung erleben, der im Begriff des Postdigitalen aufgefangen wird. Die Tatsache, dass etwas digital produziert, verteilt oder rezipiert wird, ist, wenn überhaupt, nicht mehr das erste, was wir daran bemerken. Allmählich sinkt, wie Blumenberg schreibt, „die künstliche Realität, der Fremdling unter den vorgefundenen Dingen der Natur, […] zurück in das ‚Universum der Selbstverständlichkeiten‘, in die Lebenswelt.“11 Sind die heutigen Gegenstände der Technisierung also digitale Technik und ihre Praktiken, so könnte man das Ergebnis dieses Prozesses – ihr Lebensweltwerden – ‚das Digitale‘ nennen. So verstanden ist das Digitale erstens das epistemische Integral von Digitaltechnologien; Blumenberg nennt das einen Wirklichkeitsbegriff – etwas, das Welterfahrung bedingt, ohne lative Idee zwar unsere Gedanken leitet, aber nie tatsächlich erreicht werden kann. Die vollkommene Lebenswelt wäre die Abwesenheit jeglichen Widerstands gegen die Wirklichkeit; Blumenberg hat noch einen anderen Namen dafür: „Paradies“. Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, hg. v. Manfred Sommer, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 34, 50. 10 Ein ähnliches Argument findet man bei Marshall McLuhan, der Medien, gestaltpsychologisch ausgedrückt, als Relation von Figur und Grund versteht – also als Gegenstand der Erfahrung und als die Art der Erfahrung bedingend, siehe z.B. Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man, Cambridge, Mass.: MIT Press 1994, S. 136. Blumenberg geht aber über McLuhan insofern hinaus, als er im Begriff der Lebenswelt über eine scharfe Diagnostik jener „attention to the area of inattention“ verfügt, siehe Felix Stalder, „From Figure/Ground to Actor-Networks: McLuhan and Latour“, 1998, http://felix.openflows.com/html/mcluhan_latour.html, letzter Aufruf 21.1.2022. 11 Blumenberg, „Lebenswelt und Technisierung“, S. 37.

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selbst als Faktor dieser Erfahrung in Erscheinung zu treten.12 Da dieser Prozess der digitalen Technisierung aber nicht abgeschlossen ist, bestimmt das Digitale unsere Lebenswelt auch nicht absolut. Das Digitale verweist also zweitens auch auf eine Temporalität, das Schweben in einem Schwellenmoment, der nicht zwischen dem Alten und dem Neuen, sondern dem ‚opak‘ Neuen und dem ‚transparent‘ Evidenten prekär angesiedelt ist; es schwankt zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht. Wenn das Digitale ein Wirklichkeitsbegriff und eine Temporalität ist, die beide immer weniger wahrnehmbar werden, dann ist das Postdigitale vielleicht das, was jenen plötzlichen Ruck vollzieht, der sie wieder in Erscheinung treten lässt. Es provoziert eine Disharmonie in der Struktur des Offensichtlichen und lässt den Prozess der Technisierung neuerlich erfahrbar werden. Das Postdigitale bezeichnet also den ontologischen Status eines Gegenstandes zwischen dem bereits Evidenten und dem noch Auffälligen. Sobald es möglich ist zu fragen, welche Kategorie in einem bestimmten Fall zur Anwendung kommt, bietet das Postdigitale den notwendigen Widerstand, um den ansonsten so flüchtigen Prozess der Technisierung und den daraus resultierenden Wirklichkeitsbegriff wieder zurück ins Bewusstsein zu bringen.13 Die Fehlermeldung auf dem Bankautomaten oder der Glitch auf dem Handybildschirm sind noch gewissermaßen ‚natürliSiehe dazu neuerdings Hans Blumenberg, Realität und Realismus, Berlin: Suhrkamp 2020 und erläuternd Hannes Bajohr, „Grundverschieden. Immanente und transzendente Begründungsstrukturen bei Hans Blumenberg“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 46:2 (2021), S. 129–157. 13 Ist diese Unterscheidung plausibel, dann leben wir nicht in einem postdigitalen, sondern in einem digitalen Moment. Denn das Digitale und das Postdigitale sind dann keine entgegengesetzten Begriffe. Auch kommt das Postdigitale nicht ‚nach‘ dem Digitalen, vielmehr operieren beide auf unterschiedlichen kategorialen Ebenen. Als Wirklichkeitsbegriff/Temporalität ist das Digitale das, was durch die mehrdeutige Ontologie des Postdigitalen offengelegt wird. Mit Vilém Flusser könnte man das postdigitale Objekt daher auch wieder „Unding“ nennen – ein Objekt, das zwischen ontologischen Zuständen schwebt, siehe Vilém Flusser, „Das Unding I & II“, in: ders., Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München: Hanser 1993, S. 80–89. 12

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I. Digitale als konzeptuelle Literatur

che‘ postdigitale Unfälle. Kunst und Literatur dagegen können sie bewusst und kontrolliert herbeiführen und damit die von Viktor Šklovskij proklamierte Aufgabe erfüllen, durch das Verfahren des Ostranenie – der Verfremdung – eingefahrene Wahrnehmungsmuster zu „entautomatisieren“.14 Man kann dort von postdigitalem Ostranenie sprechen, wo Kunst versucht, durch Verfremdung sichtbar zu machen, was im Prozess der Technisierung des Digitalen unsichtbar zu werden droht. Anders als bei Šklovskij geschieht das nicht so sehr auf der Ebene von Diktion und Erzählperspektive, sondern im Bereich der künstlerischen Materialität selbst – des postdigitalen Objekts, des POD-Buchs.

Infradünne Plattformen Balestrinis Tristano wäre so ein Objekt, mehr noch aber sind es die Werke der zeitgenössischen postdigitalen Literatur von Gauss PDF, Troll Thread, Traumawien oder 0x0a. Möglich werden sie durch Print-on-Demand-Plattformen wie Lulu.com oder Blurb.com, über die ein hochgeladenes PDF sofort als Buch lieferbar wird und, dank automatischer ISBN-Vergabe, auch am Buchhandel teilnehmen kann. J. Gordon Faylor, der Betreiber von Gauss PDF, spricht von einer „infradünnen Plattform für die Inszenierung eingereichter Werke“, die er zur Verfügung stelle.15 „Inframince“ nannte Marcel Duchamp jene undefinierbare, reine Differenz, die etwa zwischen identisch produzierten Viktor Šklovskij, „Die Kunst als Verfahren“, in: Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München: Fink 1971, S. 5–35. 15 Caleb Beckwith, „Interview with J. Gordon Faylor“, in: ders. (Hg.), Reconfiliating. Conversations with Conceptual-Affiliated Writers, o.O.: easy press 2015, S. 1–14, hier S. 2. Es ist wichtig zu betonen, dass sich das „PDF“ in Gauss PDF nicht auf das Dateiformat, sondern auf die Gauss’sche Wahrscheinlichkeitsverteilung in der Statistik beziehen soll – obwohl klar ist, dass die Assoziation mit dem Dateityp durchaus erwünscht ist. 14

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Gegenständen noch besteht.16 Das Hauchdünne solchen Verlagsbetriebs liegt vor allem in der Tatsache, dass Gauss PDF nichts macht, was Autor:innen mit einem Mindestmaß an digitalem Weltwissen Lulu sei Dank nicht auch selbst bewerkstelligen könnten. Die Plattform vollzieht lediglich die publishing gesture,17 die eine Mindestvoraussetzung für die Teilhabe an Literatur als sozialem System ist. Auch im Digitalen bleibt diese Geste notwendig: Der Status einer auf einer privaten Website verfügbaren PDF-Datei ändert sich erheblich, sobald dieselbe Datei auf der Website eines ‚Verlags‘ ‚veröffentlicht‘ wurde.18 Gauss PDF, gegründet 2010, begann zunächst als Website für „digital-basierte Werke“.19 Ordnerinhalte, zip- und mp3Dateien sollten eigentlich die Grenzen des Literarischen im Digitalen ausloten: Wieso nicht das Video einer Google-Hangouts-Unterhaltung als Lyrik begreifen, wie etwa in Sophia Le Fragas „UND3RGR0UND L0V3R5“?20 Das etwa achtminütige Video ist ein kontinuierlicher Screengrab einer DesktopMarcel Duchamp, Duchamp du signe. Suivi de Notes, hg. v. Michael Sanouille u. Paul Matisse, Paris 2008, S. 264. Marjorie Perloff hat neuerdings aus dieser Idee eine ganze Analysekategorie kleiner Formen abgeleitet, die mit dem hier verwendeten Gebrauch freilich nur den Namen gemein hat, siehe Marjorie Perloff, Infrathin. An Experiment in Micropoetics, Chicago: University of Chicago Press 2021. 17 Ludovico, Post-Digital Print, S. 67. 18 Dies contra Florian Cramer: „Im 21. Jahrhundert jedoch ist das bisherige Grundkriterium von ‚Literatur‘ überholt: das der Publikation. Im Internet ist der Unterschied nichtpublizierten privaten Schreibens und publizierten öffentlichen Schreibens größtenteils aufgehoben, damit auch der Unterschied von Alltagskommunikation und Publizistik.“ Florian Cramer, „Postdigitales Schreiben“, in: Hannes Bajohr (Hg.), Code und Konzept. Literatur und das Digitale, Berlin: Frohmann 2016, S. 27–43, hier S. 33. Diese Position übersieht, dass der perlokutionäre Teil eines Sprechaktes (und die publishing gesture ist ein solcher) in seinem Ergebnis von der Identität und dem Status der:s Akteur:in abhängt, der:die ihn ausführt: Es macht einen Unterschied, wer was in welchem Kontext publiziert. Die Blindheit gegenüber diesen Bedingungen erklärt einen Großteil der enttäuschten Hoffnungen der frühen Internet-Utopien. 19 Kristen Gallagher, „The Gauss Interview. Chris Alexander Talks to J. Gordon Faylor“, in: Jacket2, 5. März 2013, http://jacket2.org/commentary/gauss-interview, letzter Aufruf 21.1.2022. 20 Siehe Harry Burke, „Page Break“, in: Texte zur Kunst 25:98 (2015), S. 119–123; siehe auch für einige andere Beispiele Hannes Bajohr, „In der Asche des Digitalen. Postdigitales Publizieren heute“, in: Kunstforum International 45:256 (2018), S. 150–159. 16

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I. Digitale als konzeptuelle Literatur

Oberfläche, die einen Chat im Twitter-Messenger zeigt; die ablaufende Konversation enthüllt sich als Re-Enactment von Jean Tardieus absurdem Filmdrama Les amants du métro (1952) in einer digitalen Umgebung – Le Fraga spricht von einem „Comedy-Ballet without Dance or Music“.21 Der Effekt ist eine postdigitale Verfremdung: Der scheinbar resignierende Rückzug auf das Dateiformat unterläuft eingefahrene Gattungszuschreibungen und entautomatisiert auf einer rein kategorialen Ebene klassische Erwartungen an Literatur. Doch obwohl er solche Werke weiter veröffentlicht, hat sich Faylor vom ausschließlich digitalen Publizieren entfernt. 2013 gründete er das Imprint GPDF Editions. Jeder dort erscheinende Titel ist kostenlos als PDF abrufbar und kann auf Lulu als Print-on-Demand-Buch erworben werden. Faylor lobt das „befreiende Potenzial“ von Print-on-Demand, das die starre Ontologie von digital und analog auflöse, indem Bücher „nun in jenem sonst Dateien vorbehaltenen System existieren können und in der Folge neue Möglichkeiten materieller Kombinationen und Verbreitung zulassen“.22 Diese Verschränkung, die digitale Datei und materielles Buch gleichrangig behandelt, ist auch der Ansatzpunkt von Lauren Klotzmans Meat Joy Error Failure, einer in einem Texteditor geöffneten Videodatei von Carolee Schneemanns Meat Joy von 1964.23 Während Schneemanns Body-Art-Performance, für die sich die Teilnehmer:innen unbekleidet in Fisch, Wurst und rohem Fleisch suhlten, den nackten Körper im Ritual entsexualisiert, geht es in Klotzmans Hommage um die Nacktheit 21 Sophia LeFraga, „UND3RGR0UND L0V3R5. A Comedy-Ballet without Dance or Music“, o.O.: Gauss PDF 2015, https://www.gauss-pdf.com/post/131096213655/gpdf188sophia-le-fraga-und3rgr0und-l0v3r5-a, letzter Aufruf 21.1.2022. 22 J. Gordon Faylor, „Lulu Freundlich“, in: Bajohr (Hg.), Code und Konzept, S. 217–219, hier S. 218; siehe auch Hannes Bajohr, „‚Dateitypen als Publikationstaktik.‘ Interview mit Gordon Faylor“, in: Kunstforum International 45:256 (2018), S. 166–171. 23 Lauren Klotzman, Meat Joy Error Failure, 8 Bd., o.O.: Troll Thread, https://trollthread. tumblr.com/post/118718537299/lauren-klotzman-meat-joy-error-failure-troll, letzter Aufruf 21.1.2022.

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der dekontextualisierten, nicht mehr ausführbaren Daten. Das als Rohtext geöffnete Video – eher ein konkretes Gedicht als Information – ist so transkodiert für Menschen nicht bloß unleserlich; gedruckt, als Print-on-Demand-Buch bei Lulu, ist die auf Papier gebrachte Datenstruktur mit 5500 Seiten in acht Bänden auch praktisch unlesbar. Erschienen ist das Buch 2015 bei Troll Thread, einem 2010 gegründeten Autor:innenkollektiv. Es kann als Erfinder des dualen Publikationsmodells aus PDF und Print-on-Demand gelten, das zu einer Art Industriestandard des experimentellen Schreibens avanciert ist.24 Auch das Kunstestablishment hat es sich bereits angeeignet: Die Zürcher Ausstellung Poetry Will Be Made By All, die 2014 von Hans Ulrich Obrist und Kenneth Goldsmith kuratiert wurde, stellte auf diese Weise Bücher von nach 1989 geborenen Autor:innen aus. Gregor Weichbrodt, dessen Produktion in Zürich in Form seines On the Road vertreten war – wofür er die in Jack Kerouacs Roman genannten Orte in die Google-Maps-Routenplanung eingab und die resultierenden Navigationsanweisungen in Kapitel einteilte –, gründete 2014 sein eigenes Textkollektiv 0x0a (zu dem auch ich gehöre). Auf deren Website hat Weichbrodt das Buch mit neuem Design und 0x0a als ‚Verlag‘ wiederveröffentlicht. Klotzmans Text oder Weichbrodts Buch hätten auch in das Programm von Traumawien gepasst. Ebenfalls 2010 gegründet, nennt sich die Plattform „paradoxical print publisher“. Das Paradoxe an diesem Projekt beschreibt der Mitgründer Lukas Jost Gross programmatisch als „die Übertragung hochaktueller digitaler Ästhetiken in Buchform“.25 Auch Traumawien vollzieht mit diesen Büchern eine dezidiert postdigitale Geste und Neuerdings wird dieses Phänomen auch in der „Library of Artistic Print on Demand“ wissenschaftlich archiviert: https://apod.li, letzter Aufruf 21.1.2022. 25 Traumawien, „Statement February 2010“ (nur noch über die Wayback Machine abzurufen: https://web.archive.org/web/20160316181957/http://traumawien.at/stuff/ about, letzter Aufruf 21.1.2022). 24

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I. Digitale als konzeptuelle Literatur

behandelt „von Computersystemen produzierte Texte – Protokolle, Verzeichnisse, Logdateien, Algorithmen, Binärcodes – als Literatur“.26 All diesen Gruppen ist neben der dualen Veröffentlichungsstrategie und dem Distributionsmedium Internet aber vor allem eine Ästhetik gemeinsam: Postdigitale Literatur ist Strategie und Genre in einem.

POD als zugleich digital und analog Die Literaturwissenschaftlerin Whitney Anne Trettien nennt das POD-Buch ein „durch und durch digitales Objekt“, wobei sie sich freilich auf die eher konventionellen Nachdrucke digitalisierter, aber vergriffener Bücher bezieht, die man etwa auf Amazon erwerben kann. Gerade das steht bei postdigitaler Literatur infrage. Anders als bei den von Trettien untersuchten Reprints, bei denen „erst dann, wenn ein Leser einen PODNachdruck erwirbt (in der Regel über das Internet) […] die formale Materialität des elektronischen Textes auf Papier aktualisiert wird“,27 wird im vorliegenden Genre jede Neigung zur Hierarchisierung der beiden Elemente – Text und Buch, das Immaterielle und seine Materialisierung – von den Autor:innen aktiv untergraben und verfremdet. Es wäre vielleicht sinnvoller, POD als Oberbegriff sowohl für die Datei als auch für das Produkt zu bezeichnen und diese Doppelstruktur als zugleich analog und digital zu begreifen. Das fertige, analoge POD-Buch besitzt eine inhärente Verbindung zur PDF-Datei; seine Existenz beruht auf einem digitalen Master, nach dem die Exemplare erstellt werden. AndeJ. R. Carpenter, „Paradoxical Print Publishers TRAUMAWIEN“, in: Jacket2, October 18, 2011, http://jacket2.org/commentary/paradoxical-print-publishers-traumawien, letzter Aufruf 21.1.2022. 27 Whitney Anne Trettien, „A Deep History of Electronic Textuality. The Case of English Reprints Jhon Milton Areopagitica“, in: Digital Humanities Quarterly 7:1 (2013), http:// www.digitalhumanities.org/dhq/vol/7/1/000150/000150.html, letzter Aufruf 21.1.2022. 26

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rerseits ergibt das PDF im Produktionszyklus von Lulu und Blurb wirklich nur als Ausgangspunkt des zukünftigen Buches Sinn, und die Attribute der Datei, wie Größe und Länge, werden durch die materiellen Zwänge des POD bestimmt. Darüber hinaus besitzt das PDF, wie Lisa Gitelman gezeigt hat, selbst eine hohe „ontologische Komplexität“, da es gleichzeitig die gedruckte Seite simuliert und hinter ihr zurückbleibt.28 „PDFs erreichen ein gewisses Maß an Fixiertheit durch die Art und Weise, wie sie sich gleichzeitig mit gedruckten Dokumenten vergleichen und mit anderen Arten von digitalen Dokumenten kontrastieren, die weniger fixiert – weniger papierartig – erscheinen, wenn sie benutzt werden“.29 Die hier besprochenen Plattformen spielen mit genau dieser verweisenden Komplexität zum Zweck des postdigitalen Ostranenie. Aufgrund der Leichtigkeit von Produktion und Verbreitung, die Dienste wie Lulu und Blurb bieten, kann der instabile ontologische Status von POD mit künstlerischen und literarischen Mitteln untersucht, manipuliert und in kristenhafte Extreme gestürzt werden. „Elektronische Textualität ist […] lokalisierbar, auch wenn wir nicht gewohnt sind, sie in physischen Begriffen zu denken“, wie Matthew Kirschenbaum in einer Diskussion eines „forensischen“ Zugriff auf Speichermedien betont.30 Diese Idee trifft auch für die hier vorgestellten Werke zu: Weniges illustriert „die Heterogenität digitaler Daten und ihrer verkörperten Einschreibungen“ so gut wie die Bücher auf den infradünnen Plattformen. Wenn POD ein postdigitales Objekt ist, das aufgrund seiner inhärenten ontologischen Ambiguität den Prozess der Technisierung erfahrbar macht, dann sollte jedes noch so banale Lisa Gitelman, Paper Knowledge. Towards a Media History of Documents, Durham: Duke University Press 2014, S. 128. 29 Ebd., S. 119. 30 Matthew Kirschenbaum, Mechanisms. New Media and the Forensic Imagination, Cambridge, Mass.: MIT Press 2008, S. 3. 28

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I. Digitale als konzeptuelle Literatur

POD-Buch in der Lage sein, diese Destabilisierung zu vollziehen, und zu einem gewissen Grad ist das auch der Fall. Die postdigitale Literatur, um die es hier geht, verschärft dieses Potenzial aber noch. Was ihre poetischen Strategien verbindet und auf die Ebene einer literarischen Gattung hebt, ist, dass sie alle von einem akuten Bewusstsein für die immer schon latente Selbsterschließung postdigitaler Objekte in ihrer Struktur, Herstellung und Verbreitung ausgehen. Ich möchte nun zwei Elemente dieses Genres betrachten, die es besonders zu charakterisieren scheinen: Der Einfluss generativer und konzeptueller Praktiken, die mit dem Status der Verbindung zwischen Datei und Objekt spielen, und die Hinwendung zur Faktografie, einer Art des Schreibens, die die strukturellen, sozioökonomischen und materiellen Bedingungen ihrer Produktion thematisiert.

Stuplimer Schwindel Viele der auf den infradünnen Plattformen angebotenen Titel sind eigentlich Antibücher. Wie bei Klotzmans Meat Joy Error Failure geht es ihnen nicht mehr darum, versunken und andächtig konsumiert zu werden. Sie verlangen statt eines close reading ein, wie N. Katherine Hayles es nennt, „hyper reading“: „Durchblättern, Überfliegen, Abtasten“ als Rezeptionsmodi.31 Wenn keine individuelle Wort-, Satz- oder Textbedeutung in einer auf Sinn angelegten Hermeneutik mehr zu entziffern ist, weil man beim Lesen solcher Literatur schier von Unsinn erschlagen wird, verschiebt sich das ästhetische Erlebnis auf den bewussten Genuss dieses Erschlagenwerdens, das wiederum seine eigene Hermeneutik hervorbringt. N. Katherine Hayles, How We Think. Digital Media and Contemporary Technogenesis, Chicago: University of Chicago Press 2012, S. 12.

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Die Literaturwissenschaftlerin Sianne Ngai nannte diesen Effekt „stuplimity“: „Wie das kantsche Erhabene [the sublime] weist das Dumm-Erhabene [the stuplime] die Grenzen unserer Vorstellungskraft auf – nicht durch die Grenzenlosigkeit oder Unendlichkeit von Begriffen, sondern durch eine nicht weniger erschöpfende Konfrontation mit der Wiederholung von Diskretem und Endlichem.“ Stuplimität ist „ein Synkretismus aus Langeweile und Erstaunen, […] aus exzessivem Reiz und extremer Desensibilisierung oder Ermüdung.“ Sie hat eine „affektive Neuorganisation unseres Verhältnisses zur Sprache“ zur Folge, die nicht mehr als transparent, sondern als materiell und widerständig erfahren wird und so aus ihrer lebensweltlichen Übersehbarkeit auftaucht.32 Die Lust am Exzess einerseits und andererseits der Wille, sonst gefürchtete literarische Langeweile im Sinne einer solchen stuplimen Hermeneutik bewusst herbeizuführen: Das sind Strategien, die aus der elektronischen Literatur und dem konzeptuellen Schreiben bekannt sind.33 Tristano, das durch die Sianne Ngai, „Stuplimity. Shock and Boredom in Twentieth-Century Aesthetics“, in: Postmodern Culture 11:2 (2000), https://muse.jhu.edu/article/27722, letzter Aufruf 21.1.2022. – Dieses Überfordertsein durch Text als eine Erfahrung des Erhabenen explizit in digitaler Literatur zu suchen, findet sich, als „ technological sublime“, neuerdings auch bei N. Katherine Hayles, „Literary Texts as Cognitive Assemblages. The Case of Electronic Literature“, in: Interface Critique 2:2 (2019), DOI: 10.11588/ic. 2019.2.66991. 33 Siehe zum Konzeptualismus „Code und Konzept“ in diesem Band sowie Nikolai Duffy, „Reading the Unreadable. Kenneth Goldsmith, Conceptual Writing and the Art of Boredom“, in: Journal of American Studies 50:3 (2016) S. 679–698 und Lori Emerson, „Conceptual Poetry“, in: The Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics, hg. v. Roland Greene, Princeton: Princeton University Press 2012, S. 292f.; siehe zur digitalen Literatur: Philippe Bootz u. Christopher Funkhouser, „Combinatory and Automatic Text Generation“, in: The Johns Hopkins Guide to Digital Media, hg. v. Marie-Laure Ryan, Lori Emerson u. Benjamin J. Robertson, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2014, S. 83–85 sowie neuerdings – bereits mit Bezug auf eine frühere Version des vorliegenden Texts – Zach Whalen, „Computer-Generated Books. Metonymic, Metaphoric and Operationalist“, in: ELMCIP, 2021, https://elmcip.net/sites/default/files/media/ critical_writing/attachments/101010.pdf, letzter Aufruf 21.1.2022; siehe zur Verbindung beider Richtungen: Kristen Gallagher u. Fernando Diaz, „Algorithms in Conceptual Writing“, in: Jacket2, 2013, http://jacket2.org/commentary/algorithms-conceptual-writing, letzter Aufruf 21.1.2022, und neuerdings: Nick Montfort, „Conceptual Computing 32

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I. Digitale als konzeptuelle Literatur

Kombination von Textelementen generiert wurde, ist ein Vorläufer zeitgenössischer elektronischer Literatur, die sich oft auf die Fähigkeit von Code verlässt, große Mengen Text automatisch herzustellen. Konzeptuelles Schreiben, das sich etwa bei Kenneth Goldsmiths bewusst tumben Appropriationen existierender Texte findet, verfährt strukturell ähnlich: Text soll, ohne Rücksicht auf ästhetische Entscheidungen, einer Regel folgend produziert, dessen Lektüre aber bewusst verunmöglicht werden – wie bei Klotzmans Dateitypenmissbrauch genügt das Erfassen der Regel selbst, um das Werk zu verstehen. Stephen McLaughlins Puniverse (Gauss PDF 2014), die „ingeniöse Kreuzung aus einem Satz Sprichwörtern und einem Reimlexikon“ (so der Untertitel), verbindet beide Elemente, indem es alle Reimkombinationen einer gegebenen Redewendung durchspielt und eine Vielzahl von Wortspielen, puns, generiert. Ein Ausdruck wie „a bad egg“ wird so multipliziert zu: an ad egg an add egg a brad egg a cad egg a chad egg a clad egg a dad egg a fad egg a gad egg a glad egg a grad egg a had egg a lad egg a mad egg and Digital Writing“, in: Andrea Andersson (Hg.), Postscript. Writing After Conceptual Art, Toronto: University of Toronto Press 2018, S. 197–210.

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a nad egg a pad egg a plaid egg a rad egg a sad egg a scad egg a shad egg a tad egg a bad beg a bad keg a bad leg a bad meg a bad peg a bad segue.34 Alles, was zur Kalauervermehrung nötig ist, ist die Ausführung eines Skripts, das die Elemente einer endlichen Menge von Redewendungen auf Reime ihrer Unterelemente prüft und das Resultat ausgibt; aber das Ergebnis dieser Funktion, einmal gedruckt, umfasst 57 Bände an Print-on-Demand-Büchern. Trotzdem kann weder elektronisches noch konzeptuelles Schreiben das postdigitale Genre erschöpfend bestimmen; beides sind lediglich Elemente, die nach Belieben ein- und wieder ausgesetzt werden können.35 Die von diesen Plattformen vollzogene „Rückkehr zum Druck“ steht im Gegensatz zur oft Stephen McLaughlin, Puniverse. Being the Ingenuous Crossing of an Idiom Set and a Rhyming Dictionary, Bd. 1, o.O.: Gauss PDF 2014, S. 8, http://dl.gauss-pdf.com/ GPDF100-SM-P-V01.pdf, letzter Aufruf 21.1.2022. 35 Troll-Thread-Mitglied Joey Yearous-Algozin: „Diese Art Literatur kommt nach dem konzeptuellen Schreiben. Ohne diesen Bruch wäre es nicht möglich gewesen, aber aus der Freiheit, die der Konzeptualismus uns gegeben hat, ist jetzt etwas ganz anderes entstanden […]; diese Arbeiten sind ein eigenständiges Genre geworden.“ Tan Lin, „Troll Thread Interview“, in: Poetry Foundation, 4. Mai 2014, https://www.poetryfoundation.org/harriet-books/2014/05/troll-thread-interview, letzter Aufruf 21.1.2022. Zur Diskussion um ein „postkonzeptuelles“ Schreiben, das aus dem Konzeptualismus hervorgeht, aber gegenwärtigere Ziele verfolgt, siehe Felix Bernstein, Notes on PostConceptual Poetry, Los Angeles, CA: Insert Blanc Press 2015. 34

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I. Digitale als konzeptuelle Literatur

behaupteten Genealogie digitaler Literatur als Fortsetzung – und also Abwendung – von experimenteller Printliteratur,36 von der häufig angenommen wurde, sie trage zur „Krise des Codex als Kulturform“, zum Niedergang des guten alten Buches bei.37 Das Dumm-Erhabene des generativ-konzeptuellen Textes – konstruiert, nicht gefunden; geschrieben, aber durch Code – verschärft sich noch einmal in seinem postdigitalen Verfremdungseffekt und erlangt seine eigentliche Qualität erst in der Geste des Publizierens als Print-on-Demand. Während Puniverse durchaus nur als PDF-Datei zirkulieren kann, braucht es doch wenigstens die Möglichkeit, das Ganze könne gedruckt werden, um seinen schwindelerregenden, stuplimen Effekt zu entfalten. Wie bei vieler konzeptueller Literatur ist ihr Potenzial ihre Potenzialität – es kann sehr gut sein, dass ihre Aktualisierung die Spannung, die aus dem Gedanken des Exzesses erwächst, eher neutralisieren würde; eine solche Akkumulation von Druckwerk wäre womöglich eher skulptural als literarisch. Worauf es aber ankommt, ist, dass sie realisiert werden kann – von Lulu, für schlappe 381,90 Dollar. Wo McLaughlins Text seine potenzielle Ausdehnung durch eine kombinatorische Operation erreicht, besteht ein anderer Weg zu diesem überwältigenden Effekt darin, nur einen Ausschnitt aus der Weite zu zeigen, die ein Konzept impliziert. Gregor Weichbrodts generativer Text I Don’t Know, der 2015 als Lulu-Buch auf 0x0a und zugleich im Frohmann Verlag erschien, beruht auf einem Python-Skript, das die Titel von verlinkten Wikipedia-Seiten mit einer Reihe von Ignoranz ausdrückenden Standardsätzen verbindet. Das Ergebnis ist ein N. Katherine Hayles, Electronic Literature. New Horizons for the Literary. Notre Dame: Notre Dame University Press 2009, S. 17. 37 Carlos Spoerhase, „Beyond the Book?“, in: New Left Review 103:1 (2017), S. 87–99, hier S. 87; siehe hierzu neuerdings Annette Gilbert, „Die Zukünfte des Werks. Kleiner Abriss der Gegenwartsliteratur mit Blick auf die Werkdebatte von Morgen“, in: Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs, hg. v. Lutz Danneberg, Annette Gilbert u. Carlos Spoerhase, Berlin 2019, S. 495–550. 36

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Monolog, in dem die Erzählstimme leugnet, etwas über die Themen zu wissen, die sie so akribisch aufzählt. Sie hebt an mit: Ich kenne mich in der Literatur nicht gut aus. Empfindsamkeit – was ist das? Was um Himmels Willen ist ein Nachwort? Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Und was die Buchgestaltung angeht, bin ich völlig unwissend. Was bedeutet noch mal „Schuber“, und was zur Hölle ist Boriswood? Der Kanon der Seitengestaltung – ich weiß nicht, was es damit auf sich hat. Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung. Wie soll ich mir einen Reim auf die traditionelle chinesische Buchbinderei machen, und was zum Teufel ist ein Initial?38 Nachdem er, in wahrhaft Latour’scher Manier,39 dumm-erhaben von Literatur zur Buchbindekunst zu Fußball zu Verbrennungsmotoren und einer Fülle anderer Themen gesprungen ist, die nur durch die internen Art-Gattungs-Relationen von Wikipedia zusammenhängen, endet der Text nach 351 Seiten, scheinbar nichts vom performativen Widerspruch ahnend, den er vollführt: Ich habe noch nie etwas von Postmoderne gehört. Was um alles in der Welt ist eine Dystopie? Ich weiß nicht, was die „I’m not well-versed in Literature. Sensibility – what is that? What in God’s name is An Afterword? I haven’t the faintest idea. And concerning Book design, I am fully ignorant. What is „A Slipcase“ supposed to mean again, and what the heck is Boriswood? The Canons of page construction – I don’t know what that is. I haven’t got a clue. How am I supposed to make sense of Traditional Chinese bookbinding, and what the hell is an Initial?“ Gregor Weichbrodt, I Don’t Know, Berlin: Frohmann Verlag 2015, S. 4, https://0x0a.li/en/text/i-dont-know, letzter Aufruf 21.1.2022. 39 Ian Bogost hat den Begriff „Latour litany“ für eine Liste von radikal unterschiedlichen Dingen geprägt, siehe Ian Bogost, Alien Phenomenology, or What It’s Like to Be a Thing, Minneapolis: University of Minnesota Press 2012, S. 49. Bogost spielt hier auf ein bei Bruno Latour beliebtes rhetorisches Mittel an, solche Listen in ermüdender Länge in seine Texte einzustreuen, um die Möglichkeit zu illustriert, die genannten Dinge als ontologisch gleichwertig zu betrachten. Bogost hat sogar einen Generator geschrieben, der solche Listen erzeugt, ebenfalls durch Zugriff auf Wikipedia, siehe http://bogost.com/writing/blog/latour_litanizer, letzter Aufruf 21.1.2022. 38

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I. Digitale als konzeptuelle Literatur

Leute mit „Informationszeitalter“ meinen. Digitalität – keinen Plan. Das Zeitalter der Unterbrechung? Woher soll ich das wissen? Was ist Informationsüberflutung? Ich weiß es nicht.40 Dass der Text hier endet, ist fast zu gut, um wahr zu sein: Die taxonomische Struktur von Wikipedia könnte zweifellos mehr Seiten füllen – aber wie viele genau? Indem er die Antwort zurückhält und einen ausgesucht bedeutsamen Punkt wählt, an dem der Text abbricht („Informationsüberflutung“), beschwört Weichbrodt das Gefühl jenes schwindelerregend Stuplimen, das einen auch bei Puniverse überkommt. Gerade, dass die Weiten des Nichtwissens nicht zu wissen sind, stürzt die Lesenden ins Dumm-Erhabene.41 McLaughlins und Weichbrodts Texte, seien sie nun völlig ausbuchstabiert oder nur in gekürzter Form zu sehen, sind endlich. Ihr Ende bestimmt sich durch die Logik des angewandten Systems – der Gesamtheit der Wikipedia oder der Anzahl von Iterationen einer nichtrekursiven Funktion, die Listenelemente kombiniert. Sobald aber rekursive Funktionen zur Anwendung kommen – Funktionen, die sich selbst aufrufen –, ändert sich die Sache dramatisch.42 Eine rekursive Funktion ohne eigens eingeführten Abbruchpunkt würde entweder für immer wei„I’ve never heard of Postmodernism. What the hell is A Dystopia? I don’t know what people mean by „The Information Age“. Digitality – dunno. The Age of Interruption? How should I know? What is Information Overload? I don’t know.“ Weichbrodt, I Don’t Know, S. 352. 41 „In I Don’t Know erstreckt sich das unerbittlich behauptete Unwissen des Erzählers vom Absurden – ‚I don’t know what people mean by A Building‘ (6) – über das HöhnischAbschätzige – ‚Do people even go to London?‘ (5) – bis zum völlig Vernüftigen: ‚Vinca alkaloids are unfamiliar to me. And I’m sorry, did you say Vinpocetine?‘ (282) Oft untergräbt der Text seine eigenen Behauptungen: ‚I’m completely ignorant of Art Deco architecture in Arkansas. Can you tell me how to get to The Drew County Courthouse, Dual State Monument, Rison Texaco Service Station or Chicot County Courthouse?‘ (212) Wenn der Erzähler von I Don’t Know nichts weiß, dann weiß er doch eine ganze Menge mehr über die Architekturgeschichte von Arkansas als ich.“ Julia Pelta Feldman, „Gregor Weichbrodt. No Offense“, in: Room and Board, 1. November 2015, https:// roomandboard.nyc/salons/gregor-weichbrodt-no-offense, letzter Aufruf 21.1.2022. 42 Siehe Anna Seipenbusch, „Rekursionen“, in: Bajohr (Hg.), Code und Konzept, S. 151–159. 40

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terlaufen, oder, was öfter der Fall ist, den Speicher überfüllen und den Computer abstürzen lassen. Ein so produzierter Text ist potenziell unendlich – und sprengt damit sogar noch die Kategorie der Stuplimität, die auf endlicher Wiederholung beruht. Endlichkeit selbst wird hier zum Indiz einer Intervention, sei sie nun auktorial oder algorithmisch, die Unendlichkeit nicht aufhebt, sondern als Symptom weiter mit sich führt. Dieser Vektor in die Unendlichkeit bleibt auch dann noch bestehen, wenn die Rekursion manuell ausgeführt wird. Auf jeder Seite von Lawrence Giffins Non Facit Saltus (Troll Thread 2014) steht nichts als die Anweisung, wie man zur nächsten gelangt. Etwa auf Seite 13: „Wenn Sie zur Seite 14 gelangen wollen, blättern Sie zur Seite 14.“43 Das ist die simpelste aller rekursiven Funktionen, die Inkrementierung (n=n+1); aber ohne ein externes Kriterium für ihren Abbruch würde sie endlos weiterlaufen. In Giffins Fall sind die Grenzen durch die Struktur des Buchs gezogen. Wegen der raumzeitlichen Stabilität des Mediums Buch – anders als etwa im Fall des potenziell endlosen Mitteilungsstroms eines Twitter-Bots – bezieht sich der Text auf ‚natürliche‘ distinkte Einheiten, nämlich Seiten, die direkt ‚aufgerufen‘ werden können. Wegen des unmissverständlichen Imperativs (turn!) braucht es dazu die Materialisierung der Seite oder zumindest ihre metaphorische Umsetzung, eine Simulation des Buches: ein PDF. Auch hier findet sich die gegenseitige Verweisstruktur zwischen Datei und Objekt wieder – eine weitere postdigitale Selbsterschließung.

Lawrence Giffin, Non Facit Saltus, o.O.: Troll Thread 2014, S. 13, https://trollthread.tumblr. com/post/78371419861/non-facit-saltus-lawrence-giffin-troll-thread, letzter Aufruf 21.1.2022. 43

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Postdigitale Autofaktografie Während relative Dokumenten-Layouts, wie etwa Websites oder Word-Dateien, es zulassen, dass ein Text per responsive design für jedes denkbare Ausgabegerät neu umbrochen werden kann, ist ein PDF, so wie die Seite eines Buches, in seiner Gestaltung absolut.44 Der De-facto-Standard kommerziellen E-Publishings, der auf die Lektüre mit Smartphones, Kindles und iPads abzielt, ist das Epub; für die hier genannten experimentellen Plattformen ist hingegen das PDF zum Standard geworden, weil die kommerziellen Print-on-Demand-Anbieter von diesem Format aus drucken. Daher bestimmt der Text nicht nur die Formatierung der Datei, auch ist die Datei durch die Vorgaben der Buchproduktion bestimmt, die wiederum die Textästhetik beeinflussen. Text, Datei und Buchobjekt sind so miteinander verschränkt, dass sie jeweils aufeinander verweisen – postdigitaler geht es kaum. Ein direktes Spiel mit dieser Verweisstruktur ist Joey YearousAlgozins 9/11 911 Calls in 911 Pt. Font (Troll Thread 2012).45 Der Text enthält ziemlich genau das, was sein Titel ankündigt: die ersten 911 Zeichen aus einem Telefonprotokoll von Anrufen bei der 911-Feuerwehrnummer am 11. September 2001 – das alles aber in der Schriftgröße 911, was den sonst wenige Zeilen umfassenden Text auf über neunhundert Seiten dehnt, die auf zwei Printon-Demand-Bände aufgeteilt sind. Die Buchstaben sind in dieser Schriftgröße zu groß für die einzelnen Seiten des Buchs; der Text, gedruckt in zwei twin-tower-artigen Bänden, ist in seiner Masse in etwa so unlesbar wie ein Bild unter der Lupe auf einem Röhrenmonitor: eine Art textueller Pointillismus. Öffnet man aber das PDF auf dem Computer und wählt den Text aus, 44 Günter Hack, „Philosophie des Responsive Design. Gestaltung und Kontrolle“, in: Merkur 69:5 (2015) sowie Gitelman, Paper Knowledge, S. 114–115. 45 Joey Yearous-Algozin, 9/11 911 Calls in 911 Pt. Font, o.O.: Troll Thread 2012, https:// trollthread.tumblr.com/post/21557376993/joey-yearous-algozin-911–911-calls-in-911-pt, letzter Aufruf 21.1.2022.

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kopiert ihn und fügt ihn in ein Textprogramm ein, werden die gesamten zwei Bände mit einem Mal wieder entzifferbar. Der Text, ‚versteckt‘ hinter den Beschränkungen der Druckseite, behält in der Datei seine Lesbarkeit bei. Weniger vorsätzlich, in der Wirkung aber ähnlich, geht American Psycho von Jason Huff und Mimi Cabell (Traumawien 2012) vor.46 Diese Arbeit spielt mit der Beziehung zu sogar noch einer weiteren Materialisierung desselben Texts: PDF und Lulu-Buch basieren unmittelbar auf dem Originallayout von Brett Easton Ellis’ American Psycho. Der Roman wurde zwischen zwei GmailAccounts Seite für Seite hin und her geschickt, sodass die vielen Markennamen aus Ellis’ Achtzigerjahreepopöe dem GoogleAdwords-Algorithmus genügend Anhaltspunkte gaben, um kontextrelevante Werbung einzublenden. Diese Werbenachrichten wurden dann wieder als Fußnoten in den ursprünglichen, nun geweißten Text eingefügt (Abb. 3.1). Das Ergebnis ist ein abwesender Text, der in der Aufteilung der Seitenumbrüche und Positionen der Fußnoten dennoch weiterhin formal anwesend ist. Freilich geht es Huff und Cabell hier eher um das privatsphärendurchdringende Werbemodell des Google-Imperiums, trotzdem benötigt der konzeptuelle Rahmen des Buchs die engstmögliche Ähnlichkeit zwischen In- und Output, zwischen Urtext, Datei und Print-on-Demand-Buch.47

Jason Huff u. Mimi Cabell, American Psycho, o.O.: Traumawien 2012, https://web. archive.org/web/20161030071246/http://traumawien.at/prints/american-psycho, letzter Aufruf 21.1.2022. 47 Siehe hierzu Karl Wolfgang Flender, „American Typo. Das digitale Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gednken [sic!]“, in: Schliff 4:9 (2018), S. 102–120. 46

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Abb. 3.1: Jason Huff u. Mimi Cabell, American Psycho (2012)

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Werke dieser Art werden sich der Bedingungen ihrer eigenen Herstellung bewusst und erlangen so die Qualität dessen, was in einer Richtung des sowjetischen Formalismus einmal „Faktografie“ hieß. Dessen bekannteste Beschreibung findet sich in Sergej Tretjakows „Biographie des Dings“ von 1929.48 Tretjakow schlug vor, den Roman nicht um die Protagonist:innenpsychologie zu zentrieren, sondern stattdessen den Fokus auf den Produktionsprozess eines Objekts zu legen. Damit erledigten sich mit einem Schlag bourgeoise Subjektivität und die damit einhergehende Ignoranz sozioökonomischer Prozesse. Die Biografie des Dings, „eine sehr nützliche kalte Dusche für die Literaten […], lässt sich mit einem Fließband vergleichen, auf dem das Rohprodukt entlang gleitet. Durch menschliche Bemühungen verwandelt es sich in ein nützliches Produkt.“ Statt Die Brüder Karamasow trüge solche Faktografie Titel wie „Holz, Getreide, Kohle, Eisen, Flachs, Baumwolle, Papier, Lokomotive, Betrieb“. Hatte Tretjakow noch immer ein darstellendes, weltabbildendes Modell im Sinn – einen realistischen Roman für Dinge statt Personen –, lässt die hier vorgestellte postdigitale Literatur Faktografie sich selbst schreiben; sie wird Autofaktografie. Yearous-Algozin und Huff/Cabell bringen das komplexe und oft zirkuläre Verhältnis zwischen Datei und Objekt in den Blick, ohne es direkt abzuschildern. Ihre Arbeiten „sagen“ nichts über die postdigitale Realität, sondern, mit Wittgenstein gesprochen, „zeigen“ sie,49 indem sie das Verhältnis von digital und analog anhand ihrer eigenen Materialität zur Aufführung bringen. Statt die Biografie des Dings zu schreiben, enthüllt das postdigitale Literaturobjekt seine Geschichte an sich selbst. Diese Sergej Tretjakow, „Biographie des Dings“, in: Arbeitsblätter für die Sachbuchforschung 3:12 (März 2007), https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/6147/12.pdf, letzter Aufruf 21.1.2022. 49 Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969, 4.12–4.1212. 48

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Abb. 3.2: Jean Keller, The Black Book (2013)

materielle Selbstreferentialität hat natürlich Vorläufer in Kunst und Literatur, etwa die berühmte schwarze Seite in Laurence Sternes Tristram Shandy (1759), Robert Rauschenbergs White Paintings (1951), oder, auditiv gewendet, Robert Morris’ Box with the Sound of Its Own Making (1961) – doch das je eher nebenbei, während in der postdigitalen Literatur der infradünnen Plattformen diese Reflexivität dagegen so zentralen Status hat, dass sie zum Genreelement geworden ist. Wenn Autofaktografie hier darin besteht, die medialen Aspekte der zugrunde liegenden Datenstrukturen zu performen, so schließt in anderen Arbeiten das autofaktografische Zeigen die ökonomischen Bedingungen der Produktion selbst ein – und unterminiert das ‚befreiende Potenzial‘ von Print-onDemand mit dessen eigenen Mitteln. Jean Kellers The Black Book (Selbstverlag, Lulu 2013, Abb. 3.2) ist ein ideales Beispiel für diese 63

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reflexive Institutionenkritik. Es ist ein Wälzer von 740 Seiten – der von Lulu erlaubten Maximallänge –, von denen jede völlig schwarz ist. Eine Gallone Tinte, etwas mehr als viereinhalb Liter, kostet über 4000 Dollar, erklärt Keller auf der Lulu-Verkaufsseite: Der Preis eines Buchs wird aber nicht entsprechend der in der Herstellung verbrauchten Menge an Tinte berechnet. Ein leeres Lulu-Buch kostet ein:e Künstler:in ebenso viel wie ein Buch voller Text oder großer Fotografien. Je länger zudem das Buch ist, desto weniger kostet eine Seite. Ein Buch mit der höchstmöglichen Anzahl vollkommen schwarz bedruckter Seiten ergibt daher für den:die Künstler:in die geringsten Kosten bei maximalem Wert.50 Eine solche Subversion, wie Kellers Hack es ist – es ist immerhin unklar, ob Lulu hierdurch einen, wenn auch infinitesimalen Verlust erleidet –, zeigt Autor:innen als Contentproduzent:innen, die im revenue stream für Firmen wie Lulu lediglich als Verrichtende immaterieller Arbeit auftauchen. Holly Melgard geht in Reimbur$ement (Troll Thread 2013) einen ähnlichen, wenngleich umgekehrten Weg. Auch sie stellt die Grenzen postdigitalen Schreibens mitsamt seiner Prekarität dar, konzentriert sich aber nicht auf die materielle Produktion des Werks, sondern auf dessen subsistenzielle Vorbedingungen. Manchmal bringt mir das Ergebnis meiner Arbeit weder Einkommen noch befriedigt es Lebensunterhalt oder Spieltrieb. Oft finde ich mich in der Situation wieder, zu bezahlen, um zu arbeiten, anstatt für Arbeit bezahlt zu werden. Wann

50 Jean Keller, The Black Book, o.O. 2012, https://www.lulu.com/shop/jean-keller/theblack-book/paperback/product-21008894.html, letzter Aufruf 21.1.2022.

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immer das geschieht, ziehe ich die Bilanz meiner Verluste und lasse mich auf das Glücksspiel um Alternativen ein. Das ist wörtlich zu verstehen: Das Buch ist gefüllt mit den Scans von Lottoscheinen und Rubbellosen – sechs Jahre des Spielens um „$ for life“ (was ebenso ‚lebenslang Geld‘ wie ‚Geld zum Leben‘ heißen kann). Weil Lulu es seinen Autor:innen überlässt, den Verkaufspreis eines Buchs zu bestimmen, während der Produktionspreis derselbe bleibt, kostet Melgards Buch 329,53 Dollar – was ihren gesamten Glücksspielinvestitionen entspricht, „plus die Summe, die Lulu für den Druck berechnet“. Reimbur$ement ist ein Projekt, das zugleich utopisch ist und dabei völlig dem gesunden Menschenverstand gehorcht, verlangt es doch nichts anderes als eine der Arbeitsleistung entsprechende Bezahlung, nur dass hier die Arbeit Spiel ist und das Spiel im Zocken um die Subsistenz besteht, die die Arbeit zuerst einmal möglich macht. In der digitalen Ökonomie ist die Position von Autor:innen so prekär wie überall, die niedrigschwellige Verfügbarkeit von privatwirtschaftlich betriebenen Produktionsmitteln letztlich eine bloße Hoffnung. Natürlich sind die generativ-konzeptionellen und autofaktografischen Praktiken nur zwei der Elemente, die diese Literatur in ihrer Strategie der Verfremdung und postdigitalen Selbsterschließung einsetzt, und ich will nicht sagen, dass es nicht noch mehr oder andere gäbe, oder dass dies die einzige Funktion ist, der sie dient. Ich glaube aber, dass die Relevanz postdigitaler Literatur von ihrer Fähigkeit herrührt, durch Verfremdung eine Instabilität zu adressieren, die auf einen allgemeinen Prozess digitaler Technisierung hinweist – sei es in seiner technologischen Form, bei der Untersuchung der ontologischen Oszillation zwischen Seite und Datei, Buch und PDF, digital und analog oder, wie Melgard und Keller es tun, in seinen sozioökonomischen Rahmungen. Die Medienwissenschaftlerin Sophie Seita sieht in dieser Bewegung eine neue Avantgarde, die nicht 65

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mehr dem make it new folge, Ezra Pounds Schlachtruf der Moderne, sondern ein make it now fordere und sich in „Gedankenexperimenten in Zeitgenossenschaft“ versuche.51 In der Tat liegt in der so gegenwärtigen Selbstreflexivität der Autofaktografie vielleicht ihr größtes politisches Potenzial, da sie in der Lage ist, auch die Bedingungen ihrer eigenen Existenz ins Visier zu nehmen. Man könnte Melgards und Kellers Interventionen als eine Institutionskritik am nur scheinbar befreienden Potenzial von POD und self-entrepreneurialism bezeichnen, die offenlegt, wie in der Ökonomie des Digitalen die Position der Schreibenden immer noch vom begrenzten Zugang zu den Produktionsmitteln abhängt und damit so prekär ist wie eh und je. Und doch zeigt diese Art von Literatur auch, dass es zu einfach ist, die POD-Technologie oder Unternehmen wie Lulu pauschal als Vertreter einer „aalglatten neoliberalen Logik“ beiseite zu wischen, die „individuelle Ermächtigung durch Selbstpublikation“ vorspiegelt, wie Lisa Gitelman meint.52 Vielmehr versuchen Keller und Melgard, sich den Zwängen dieser Logik zu stellen – wie es überhaupt alle Künstler:innen tun müssen –, weil sie wissen, dass der Eskapismus, den ostentativ ‚analoge‘ Produktionstechniken bieten, den Aporien der (Lohn-)Arbeit nicht entgehen kann. Anstatt neue Technologien und ihre kapitalistischen Verstrickungen schlicht zu meiden, liegt die Relevanz postdigitaler Literatur nicht zuletzt darin, dergestalt noch ihre eigenen Enttäuschungen hyperreflexiv produktiv zu machen. Das verleiht ihr eine größere politische Kraft als traditionelleren Formen ‚inhaltistischer‘ Literatur oder dem oft regressiven Luddismus jenes anderen VerständSophie Seita, Provisional Avant-Gardes. Little Magazine Communities from Dada to Digital, Stanford: Stanford University Press 2019, S. 176. 52 Lisa Gitelman, „Emoji Dick and the Eponymous Whale“, in: Book Presence in a Digital Age, hg. v. Kiene Brillenburg Wurth, Kári Driscoll u. Jessica Pressman, London: Bloomsbury 2018, S. 195–201, hier S. 199. 51

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nisses des Postdigitalen als Rückkehr zu älteren Druck- und Verlagstechnologien.53 Daher ist diese Literaturform enger an die Gegenwart gebunden als andere. Keine der hier diskutierten Gruppen ist älter als fünf Jahre, und niemand kann sagen, ob es sie in weiteren fünf noch geben wird.54 Das ist aber Stärke, nicht Schwäche dieser infradünnen Plattformen. In der Aktualität, mit der sie einen postdigitalen Wirklichkeitsbegriff artikulieren, vermögen sie mehr über diese Gegenwart zu zeigen, als es jedes deskriptive Schreiben sagen könnte.

53 Siehe Cramer, „What is Post-Digital?“. Nicht jeder Luddismus ist freilich regressiv, siehe Gavin Mueller, Breaking Things at Work. The Luddites Are Right About Why You Hate Your Job, London: Verso 2021. 54 Siehe für diesen Punkt Paul Soullelis, „Search, Compile, Publish“, 2013, http://soulellis.com/2013/05/search-compile-publish, letzter Aufruf 21.1.2022. – Das alles ist aus der Perspektive von 2016 geschrieben. Der Nachtrag aus der Zukunft von 2022 lautet: Es gibt sie noch; Traumawien aber hat zugemacht und Gauss PDF bereits angekündigt, seine POD-Publikationstätigkeit mit dem hundertsten Buch einstellen zu wollen, siehe Bajohr, „Dateitypen als Publikationstaktik“.

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DAS RESKILLING DER LITERATUR. ÜBER DAS VERHÄLTNIS VON CODE UND KONZEPT Das Folgende ist der Versuch, zwei Richtungen experimenteller Literatur dazu zu bringen, sich gegenseitig ihre Verbundenheit einzugestehen. Ihre Mittel und Methoden ähneln sich häufig, ihre Referenzgrößen und ihre Überzeugungen, was den Status von Text, Autor:in und Performance in der Literatur der Gegenwart angeht, sind oft dieselben. Und doch werden diese Richtungen, obwohl viele ihrer Vertreter:innen sich in beiden Traditionen zuhause fühlen und auf sie Bezug nehmen, selten zusammengedacht. Die Rede ist vom konzeptuellen Schreiben einerseits und digitaler Literatur andererseits. Konzeptuelle Literatur als Bewegung konsolidierte sich um die Jahrtausendwende, aber ihre Vorgänger und Einflüsse lassen sich bis in die historischen Avantgarden verfolgen, von Dada bis Situationismus, von conceptual art bis Oulipo. Wirklich bekannt wurde diese Form des Schreibens aber erst mit Autor:innen wie Christian Bök, Vanessa Place, Kenneth Goldsmith und Craig Dworkin.1 Sie setzen nun, was ihre Vorgänger in der bildenden Kunst geleistet haben, in der Literatur um und verwenden Techniken wie Appropriation und Plagiat, De- und Rekontextualisierung, Bearbeitung von gefundenem Text und Produktion unter selbstauferlegtem Zwang – aber immer nach einem mehr oder weniger strikt formulierten Regelwerk und

Einen – historischen wie gegenwärtigen – Überblick bieten: Craig Dworkin, Kenneth Goldsmith (Hg.), Against Expression. An Anthology of Conceptual Writing, Evanston: Northwestern University Press 2011 sowie Kenneth Goldsmith, Unkreatives Schreiben. Sprachmanagement im Digitalen Zeitalter, übers. v. Swantje Lichtenstein und Hannes Bajohr, Berlin: Matthes & Seitz 2017. 1

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gegen jeden Anspruch auf ‚Kreativität‘ und ‚Inspiration‘.2 Beispiele dieser ersten Hochphase sind etwa Kenneth Goldsmiths Day (2003), für das er eine gesamte Ausgabe der New York Times von vorne bis hinten abschrieb, ohne auf den Zeilenfall der Spalten zu achten, oder Vanessa Places Statement of Facts (2011), bei dem sie die Schriftsätze, die sie bei ihrer Arbeit als Pflichtverteidigerin erstellt, als Literatur deklarierte.3 Kenneth Goldsmith erläutert: „Beim konzeptuellen Schreiben ist die Idee oder das Konzept der wichtigste Bestandteil der Arbeit. Der Autor, der eine konzeptuelle Schreibweise anwendet, plant und entscheidet alles vorab, die Ausführung ist nebensächlich.“4 Christian Bök radikalisiert dieses Verständnis noch, wenn er über den Konzeptualismus schreibt, er umfasse „einen tautologischen Satz vorausbestimmter Regeln, deren Logik nicht in der pflichtmäßigen Herstellung eines konkreten Objekts kulminiert, sondern in einem potenziellen Argument für ein abstraktes Schema.“5 Abstrakte Schemata bestimmen auch die digitale Literatur. Unter digitaler Literatur ist zweierlei zu verstehen: 1) auf der einen, technischen Seite, ist damit eine Produktions- und eine Rezeptionsform gemeint; 2) auf der nicht-technischen Seite verstehe ich darunter den literarischen Bezug auf einen Wirklichkeitsbegriff, eine historische Episteme. Was 1) die technische Seite betrifft, würde ich für eine Privilegierung der Produktionsperspektive plädieren. Dann fallen unter diesen Begriff all jene Literaturformen, die ihre Texte zu Siehe für einen Überblick über Appropriationsliteratur: Annette Gilbert, Re-Print. Appropriation (&) Literature, Wiesbaden: Luxbooks 2014 sowie dies., Wiederaufgelegt. Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern, Bielefeld: Transcript 2011. 3 Kenneth Goldsmith, Day, Great Barrington, MA: The Figures 2003; Vanessa Place, Tragodía 1. Statement of Facts, Los Angeles: Insert Blanc Press 2010. 4 Kenneth Goldsmith, „Paragraphen zum konzeptuellen Schreiben“, in: Edit 21:63 (2014), S. 59–63, hier S. 59. Goldsmiths Text ist dabei nicht allein theoretisch, sondern performativ, denn er plagiiert Sol LeWitts „Paragraphs on Conceptual Art“ und tauscht dabei den Begriff ‚art‘ gegen den Begriff ‚literature‘ aus. 5 Christian Bök, „Two Dots Over a Vowel“, in: boundary 2 36:3 (2009), S. 11–24, hier S. 13. 2

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einem großen oder zumindest wesentlichen Teil durch die Ausführung formalisierter Algorithmen hervorbringen. Zwar lässt sich die Texterstellung mittels mathematischer Schemata, etwa durch Permutation oder Kombinatorik, bis ins Mittelalter zurückverfolgen, doch meine ich emphatisch solche Literatur, die durch einen auf einem Computer ausgeführten Programmcode hergestellt wird. Provisorisch möchte ich diese Form daher generative Codeliteratur nennen.6 Viele dieser Texte könnten ohne Weiteres als Bücher gedruckt werden, auch wenn manche von ihnen so umfangreich sind, dass es pragmatische Grenzen gibt. Davon möchte ich gerade jenen zweiten technischen Begriff digitaler Literatur abgrenzen, der sich vor allem auf die Rezeptionsperspektive bezieht und viel von dem umfasst, was man gemeinhin elektronische Literatur nennt – etwa all jene Hyperfiktionen der 1990er Jahre, die zwar zur Lektüre digitale Systeme voraussetzte, deren Textkörper aber wie klassische Romane ‚von Hand‘ geschrieben wurden.7 Das Problem besteht allerdings darin, dass die Rezeption von Literatur über digitale Systeme gerade nichts über ihre Poetik sagen kann; die wichtige Differenz zwischen echt digitaler und nur digitalisierter Literatur fällt hier weg und es gibt kein nur auf der Rezeptionsseite liegendes Kriterium dafür, etwa zwischen einem Text, der born digital ist, und den nur digitalisierten gesammelten Werken Shakespeares zu unterscheiden. Früheste Beispiele von digitaler Literatur als Produktionsform sind etwa Christopher Stracheys „Love Letters“ (1952) oder Theo Lutz’ „Stochastische Texte“ (1959), die kombinatorisch eine Reihe vorgegebener Ele-

6 Das parallel zu: Phillip Galanter, „What is Generative Art? Complexity Theory as a Context for Art Theory“, 2003, http://philipgalanter.com/downloads/ga2003_what_ is_genart.pdf, letzter Aufruf 21.1.2022. 7 Siehe dazu bereits die Kritik von Florian Cramer im Jahre 2001, der schrieb, die damals so gehypte „Netzliteratur“ nutze den Computer „mit seiner vorinstallierten Software nur als vernetztes Bildschirmlesegerät.“ Florian Cramer, „sub merge{my $senses;“, in: Text+Kritik 38:152 (2001), S. 112–123, hier S. 112.

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mente programmatisch neu anordneten.8 In jüngster Zeit folgen Codepoet:innen wie Nick Montfort, Gregor Weichbrodt oder Allison Parrish dieser Tradition. Hierbei ist das dem Text zugrunde liegende Konzept – etwa die Kombination von Elementen – programmatisch implementiert. Nun sind Code und Konzept offensichtlich nicht dasselbe. Der Quellcode einer Programmiersprache ist ein formalisierter Algorithmus, dessen Ausführung keiner Ambivalenz oder interpretatorischen Freiheit unterliegt (die, in der Sprache John Cages, keine indeterminacy zulässt); das in natürlicher Sprache formulierte Konzept eines Kunstwerks dagegen kann, man denke etwa an die Wall Drawings Sol LeWitts, je nur von einem Ausführenden interpretiert werden. Und doch sind die Ähnlichkeiten zwischen beiden Vorgehensweisen unverkennbar: Beide basieren auf der Formulierung von Regelschritten, die dem endgültigen Werk vorausgehen müssen. Eine Vorgabe wie etwa die für Wall Drawing #106, „Bögen von den Mittelpunkten zweier Seiten der Wand“, ist geometrisch exakt genug, um programmatisch ausgeführt werden zu können. Genau das hat Casey Reas mit seinen {Software}Structures getan, die Sol LeWitts Anweisungen in der Java-Umgebung Processing umsetzen, die Reas mitentwickelt hat: Hier wurde das Konzept in der Tat per Code realisiert.9 Reas schreibt dazu: Die Beziehung zwischen LeWitt und dem:der jeweiligen das Konzept umsetzenden Zeichner:in ist oft mit der Beziehung zwischen Komponist:in und Interpret:in verglichen worden, aber ich denke, dass es ebenso berechtigt ist, auf die Beziehung zwischen dem:der Programmierer:in und der Instanz der Applikation zu blicken. LeWitt schreibt Programme, die von Siehe dazu die Browser-Reimplementierung von Nick Montfort: Nick Montfort, „Memory Slam“, 2014/2016/2018, http://nickm.com/memslam, letzter Aufruf 21.1.2022. 9 Casey Reas, „Open Software Structures“, in: Whitney Museum of Art, 2004, http:// whitney.org/www/artport/commissions/softwarestructures, letzter Aufruf 21.1.2022. 8

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Menschen statt von Maschinen ausgeführt und interpretiert werden.10 Reas ist nun bildender Künstler und die Wall Drawings LeWitts sind, obwohl normalsprachlich konzeptualisiert, in ihrem Output keine linguistischen Objekte. Die Beziehung von konzeptueller und Codeliteratur ist seltener theoretisch betrachtet worden als entsprechende Phänomene in der bildenden Kunst.11 Was allerdings die Kunsthistorikerin Christiane Paul über digital und conceptual art schreibt, lässt sich ohne Weiteres auch über die Verbindung von konzeptueller und Codeliteratur sagen: Digitale Kunst hat sich nicht in einem kunstgeschichtlichen Vakuum entwickelt […], sondern weist starke Verbindungen zu vorhergehenden Kunstrichtungen auf, darunter Dada, Fluxus und conceptual art. Die Wichtigkeit dieser Bewegungen liegt in ihrer Betonung von formalen Anweisungen und ihrer Ausrichtung auf Konzepte […]. Dadaistische Poesie ästhetisierte die Konstruktion von Gedichten aus zufälligen Variationen von Wörtern und Zeilen, wobei formale Anweisungen zur Anwendung kommen, um ein Konstrukt zu schaffen, das aus einer Verbindung von Zufall und Kontrolle besteht. Die Idee, dass Regeln ein Prozess zur Herstellung von Kunst sein können, hat eine deutliche Parallele im Algorithmus, der die Basis aller Software und aller Computeroperationen bildet: eine Prozedur formaler Anweisungen, die Casey Reas, „Software and Drawing“, in: Whitney Museum of Art, 2004, http://artport. whitney.org/commissions/ softwarestructures/text.html, letzter Aufruf 21.1.2022. 11 Obwohl etwa Vanessa Place „prozessuale Arbeiten, die als Code funktionieren“, dezidiert zum Kanon konzeptuellen Schreibens zählt und Christian Bök meint, „dass die Poet:innen von morgen sehr wahrscheinlich Programmierer:innen ähneln werden“. Vanessa Place, „Was ist konzeptuelle Literatur?“, in: Edit 21:63 (2014), S. 70–75, hier S. 70; Christian Bök, „The Piecemeal Bard Is Deconstructed. Notes Toward a Potential Robopoetics“, in: Object 10 (2002), http://ubu.com/papers/object/03_bok.pdf, S. 17, letzter Aufruf 21.1.2022. 10

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ein ‚Ergebnis‘ in einer endlichen Anzahl von Schritten ausgibt. So wie bei dadaistischer Lyrik ist das Fundament aller Computerkunst die Anweisung als konzeptuelles Element.12 An genau jene dadaistische Gedichtproduktion schloss etwa Brion Gysin an, der Anfang der 1960er Jahre mit computergenerierten Permutationen experimentierte, die jene informellen Anweisungen formalisierten.13 Dada, Fluxus und conceptual art arbeiten mit Handlungsanweisungen, die dem performativen Element des Codes nahekommt. In den Worten Goldsmiths: „Die Idee wird zu einer Maschine, die den Text herstellt.“14 Die Wahrheit dieser Metapher liegt darin, dass sie wörtlich zu verstehen ist: Es gibt solche Maschinen. Sie heißen Computer. Damit ist die These bereits formuliert. Sie lässt sich in der Verhältnisgleichung darstellen: Code : Output = Konzept : Werk Zu lesen als: Der Code verhält sich zum Output wie das Konzept zum Werk. Die Gleichung mag in dieser Strenge nicht zu halten sein, weil die Terme auf beiden Seiten nicht streng äquivalent sind, aber sie dient als Provokation, auf die zu reagieren ist. Bevor ich auf eine besonders offenkundige Schwierigkeit eingehe, die sich bei dieser Identifizierung ergibt, möchte ich erst einmal ihre heuristische Plausibilität ansprechen. Was konzeptuelle Literatur und Codeliteratur verbindet, ist die Tatsache, dass beide die Idee eines starken Autor:innengenies und subjektiver Expressivität als modus operandi der Literaturproduktion negieren.15 Die Literaturwissenschaftlerin Marjorie Christiane Paul, Digital Art, London: Thames and Hudson 32015, S. 11–13. Siehe „Schreibenlassen“ in diesem Band. 14 Goldsmith, „Paragraphen zum konzeptuellen Schreiben“, S. 59. 15 Craig Dworkin, „The Fate of Echo“, in: Dworkin/Goldsmith, Against Expression, xxiii–liv. 12 13

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Perloff spricht gar vom „Unoriginalgenie“ als definierendem Autor:innenideal des konzeptuellen Schreibens.16 Eine ähnliche Haltung ließe sich auch für die Codeliteratur nachweisen. Einerseits hat diese ihre Wurzeln in den kollaborativen, autor:innendezentrierten Praktiken einer open source culture, die zudem aufgeschlossen für die unvorhersehbaren Ergebnisse generativer Prozesse ist.17 Andererseits ist, Charles Taylor zufolge, Code selbst dadurch gegenüber natürlichen Sprachen ausgezeichnet, dass er „Abbildung ohne Ausdruck [depiction without expression]“ ist, ein „Ideal nicht-rhetorischer Rede“, dem jegliche intersubjektive und expressive Dimension fehlt – und „keine menschliche Rede erreicht dieses Ideal“.18 Dieses Anti-Expressive ist auch im vom Code produzierten Output noch vorhanden; aller Ausdruck entsteht nachträglich, entweder auf Interpret:innenseite oder durch den Kontext des Literatursystems. Die Abwendung von allem ‚Kreativen‘ – sowohl im Sinne expressiver Originalschöpfung als auch der Zuschreibungsobsession jedes Geniedenkens – wird von vielen Beteiligten als Ausdruck einer neuen Wirklichkeit beschrieben, die direkt an den Aufstieg digitaler Technologien gekoppelt ist, allen voran der des Internet. So schreibt Swantje Lichtenstein dezidiert, dass sich die konzeptuelle Literatur dazu eigne, „einen erneuten Einstieg in die Frage nach einem zeitgenössischen, künstlerischen, experimentellen Schreiben im Zeitalter der Digitalität“ zu finden und Perloff versteht die Allverfügbarkeit von kopierbarem, verschiebbarem Text als technische Grundlage, aber auch als lebenswirklichen Impetus für die Experimente

Marjorie Perloff, Unoriginal Genius. Poetry by Other Means in the New Century, Chicago: University of Chicaco Press 2010. Inke Arns, „Code as Performative Speech Act“, in: Artnodes 3:4 (2005), https://raco. cat/index.php/Artnodes/article/view/53082, S. 2, letzter Aufruf 21.1.2022. 18 Charles Taylor, „Theories of Meaning“, in: ders., Human Agency and Language. Philosophical Papers I, Cambridge: Cambridge University Press 1985, S. 247–292, hier S. 267. 16

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konzeptueller Literatur.19 Doch diese Grundlage ist wiederum nur das materiale Substrat eines neuen Wirklichkeitsbegriffes: Man könnte ihn das Digitale nennen. Hiermit komme ich also endlich zu 2), der nicht-technischen Bedeutung von digitaler Literatur: Der möglichen Identifikation von Code und Konzept, wenn man sie vornehmen wollte, läge nur sekundär eine technische und primär eine epistemische Gleichung zugrunde. Dass die zwei vorgestellten Literaturrichtungen gerade in den letzten Jahren parallel zueinander florierten, mag dann damit zu tun haben, dass der Kern beider das Digitale ist. Neben der Codeliteratur wäre auch die konzeptuelle Literatur seine ureigene Ausdrucksform und beide damit gleichermaßen digitale Literatur. Natürlich ist das Wort ‚digital‘ irritierend vage und kann abwechselnd alles oder nichts bedeuten. Alles etwa, wenn Medienhistoriker:innen die Epoche des Digitalen bis in die frühe Neuzeit ausdehnen,20 es zum Fundament überhaupt jeglichen dichotomen Denkens machen wollen21 oder darauf bestehen, dass jede Textualität bereits digital sei, weil sie immer schon einen diskreten alphanumerischen Code (ein Alphabet) voraussetzt;22 nichts, wenn darauf hingewiesen wird, dass die materielle Basis digitaler Technologie selbst immer in der nichtdigital-stetigen Welt zu finden sein muss.23 Trotzdem 19 Swantje Lichtenstein, „Vom Lesen, Schreiben und den Konzepten“, in: Edit 21:63 (2014), S. 82–85, hier S. 85; Perloff, Unoriginal Genius, S. 17–18. 20 Bernhard Siegert, Passage des Digitalen, Berlin: Brinkmann und Bose 2003; eine ähnliche Ausdehnung neuerdings auch bei Armin Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München: Beck 2019. 21 Alexander Galloway, Laruelle. Against the Digital, Minneapolis: University of Minnesota Press 2014; ähnlich neuerdings auch ders., „Golden Age of Analog“, in: Critical Inquiry 48:2 (2022), S. 211–232. 22 Heinz Hiebler, Die Widerständigkeit des Medialen. Grenzgänge zwischen Aisthetischem und Diskursivem, Analogem und Digitalem, Hamburg: Avinus 2018, S. 384–386 oder Florian Cramer, Exe.cut[up]able statements. Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts, Paderborn: Fink 2011, S. 9–10. 23 Kathrin Passig u. Aleks Scholz, „Schlamm und Brei und Bits“, in: Merkur 69:11 (2015), S. 75–81.

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I. Digitale als konzeptuelle Literatur

meint die ubiquitäre Rede vom ‚Digitalen‘ etwas, wenn auch nicht ganz klar ist, was genau. Nimmt man die Prävalenz des Begriffs als Diskursmasse gerade in seiner Unbestimmtheit ernst, dann bezeichnet ‚digital‘ vielleicht am ehesten eine kulturelle Stimmung, die zwar ein technisches Fundament voraussetzt, aber vor allem davon abhängt, wie bewusst sie sich dieses Fundaments ist.24 Digitale Literatur wäre dann mehr als bloß digital produzierte, sondern solche, die dieses Wirklichkeitsverständnis zeigt, anstatt es nur zu sagen – Literatur, die das Digitale selbst performt, die autofaktografisch Beschreibung, Produktionsweise und Resultat in eins fallen lässt.25 Die Form des realistischen Romans hat sich seit dem 19. Jahrhundert nicht geändert; in Jonathan Franzens Unschuld mag zwar getwittert werden und eine snowdeneske Figur auftauchen, aber als digitale Literatur würde das Buch wohl niemand bezeichnen. Ein Text wie Ara Shirinyans „Your Country is Great“, ein episches Gedicht, das aus den Userbewertungen von Reisewebsiten besteht, Code und Konzept vereint, zeigt dagegen sehr viel mehr über die Erfahrung der Welt unter den Bedingungen des Digitalen.26 Soweit zu den Gemeinsamkeiten. Doch gibt es auch einige Unterschiede zwischen Code- und konzeptueller Literatur, die die behauptete Gleichung unterminieren können, vor allem die beiden ‚:‘ in ihr. Ian Burn brachte die ontologische Veränderung in der Konzeptkunst des 20. Jahrhunderts – in der Kunst nicht mehr ausschließlich im Objekt stattfindet, sondern, einer „Ästhetik der Beilage“ [aesthetics of the supplement] folgend,27 in den das Objekt umgebenden Referenzen und

Dazu neuerdings auch Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Berlin: Suhrkamp 2016. Siehe „Infradünne Plattformen“ in diesem Band. Ara Shirinyan, „Your Country is Great“, in: Edit 21:63 (2014), S. 76–77. 27 Hal Foster u.a., „1968b [On Conceptualism]“, in: ders. u.a. (Hg.), Art Since 1900. Modernism, Antimodernism, Postmodernism, Bd. 2, 2. Aufl., New York: Thames and Hudson 2011, S. 571–577, hier S. 573. 24 25

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Schreibenlassen

Beschreibungen – auf die Formel des Deskilling.28 Indem sich die Kunst von der Beherrschung von skills, also handwerklichen Fähigkeiten, fort- und auf die Schaffung von Konzepten zubewegt – die, wie Lawrence Weiner schrieb, erlauben, dass das Werk von jemand anderem als dem:der Künstler:in produziert werden kann oder es eben überhaupt nicht mehr zu produziert werden braucht, weil es auf das Konzept allein ankommt29 –, können sich Künstler:innen nicht mehr länger durch Virtuosentum ausweisen. Das Readymade ist die fundamentale Geste des Deskilling: Die Kunst besteht im performativen Akt des Zur-Kunst-Erklärens, in der Geste des Rahmens, die „alle Umgebung und also auch den Betrachter vom Kunstwerk aus[schließt] und dadurch [hilft], es in die Distanz zu stellen, in der allein es ästhetisch genießbar wird.“30 Auf diese „Doppelfunktion der Grenze“31 legt es auch die Praxis der konzeptuellen Schreiber:innen an, wenn etwa Christian Bök davon spricht, dass Konzeptualismus „das lyrische Mandat sicherer Selbstbehauptung ablehnt, um das readymade-artige Potential unkreativer Literatur zu erforschen.“32 Und Goldsmith schlussfolgert schließlich: „Sie ist für gewöhnlich unabhängig von der handwerklichen Fähigkeit der Schreibenden.“33 Doch genau in diesem „für gewöhnlich“ liegt die Crux der konzeptuellen Literatur: Sobald es nämlich zu ihrer Realisie28 Ian Burn, „The Sixties. Crisis and Aftermath (or the Memoirs of an Ex-Conceptual Artist)“, in: Alexander Alberro u. Blake Stimson (Hg.), Conceptual Art. A Critical Anthology, Cambridge, Mass.: MIT Press 1999, S. 392–409, hier S. 395. 29 „1. The artist may construct the piece 2. The piece may be fabricated 3. The piece need not be built. Each being equal and consistent with the intent of the artist, the decision as to condition rests with the receiver upon the occasion of receivership.“ (Lawrence Weiner. „Declaration of Intent“. Zit. in: Alexander Alberto, „Reconsidering Conceptual Art 1966–1977“, in: ders./Stimson (Hg.), Conceptual Art, S. xvi– xxxvii, hier S. xxiii. 30 Georg Simmel, „Der Bilderrahmen“, in: ders., Zur Philosophie der Kunst, Potsdam: Kiepenheuer 1922, S. 46–54, hier S. 47. Simmel ist hier natürlich ein Anachronismus, erfasst diese Rahmungsgeste aber durchaus treffend. 31 Ebd., S. 46. 32 Bök, „Two Dots Over a Vowel“, S. 11. 33 Goldsmith, „Paragraphen“, S. 59.

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I. Digitale als konzeptuelle Literatur

rung mehr als rudimentäre kulturtechnische Kompetenzen voraussetzt, über die Künstler:innen im entscheidenden Falle nicht verfügen, verliert das Konzept selbst an Wert. Das Werk muss sich eben doch machen lassen, denn erst am Ergebnis lässt sich das Konzept in seiner umfassenden Gestalt ablesen, deren Umfang dem Erfinder selbst nicht bewusst gewesen sein mag. Daraus lassen sich zwei mögliche Konsequenzen ziehen: Entweder ist noch die Idee einer Konzeptgestaltungsmacht ein Residuum des Autor:innengenies, wenn es sich auch seiner Auflösung annähert. Denn zwar mag gelten, dass „die Ideen, die wir für Werke haben, zu ‚Axiomen‘, und die Werke, die wir aus diesen Ideen generieren, zum optionalen ,Nachweis/Abzug‘ [proof] werden.“34 Damit verschiebt sich aber der Anspruch des Nicht-unbedingt-Herzustellenden. Die Resultate der Idee sind dann zwar auch nicht mehr das letzte Wort des Werkes, aber als proof des Konzeptes erhalten sie einen ähnlich zentralen Status wie vormals das Werk als Gegenstand, der der Begutachtung durch eine Connaisseurschaft unterliegt. Hinsichtlich dieser Beibehaltung und bloßen Verschiebung des Kreativen auf eine ‚tiefere‘ Ebene ist aber auch eine andere, extremere Schlussfolgerung möglich: Man kann nämlich überlegen, ob in der Annahme einer solchen Verschiebung nicht noch eine humanästhetische Ontologie versteckt ist, die ‚Autor:innengenie‘ immer mit ‚Geist‘ verknüpft, der dann Maschinen kategorisch abgesprochen wird. Weitet man aber das Verständnis von ‚Geist‘ aus, von einem entweder spirituellmetaphysischen oder physiologischen in Richtung des extended mind, den Andy Clark und David Chalmers als „aktiven Externalismus“ vorgeschlagen haben,35 dann kann Geist auch außerhalb des Kopfes stattfinden, in einem stetigen Rückkopplungsprozess zwischen Objektwelt und Bewusstsein. Autor:in und Bök „Two Dots Over a Vowel“, S. 13. Andy Clark u. David J. Chalmers, „The Extended Mind“, in: Analysis 58:1 (1998), S. 7–19. 34 35

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Maschine müssten dann als Einheit eines Geistes gedacht werden, bei dem die Frage, wo hier Geist, Kreativität, Genie, Intention und Werkzeug lokalisiert sind, nicht mehr ohne Weiteres zu beantworten ist.36 In beiden Fällen macht aber gegenüber alten Formen von Konzeptualismus das Können den Unterschied – selbst, wenn man Geist auf die Maschinen ausweitet. Gerade komplexere Konzepte, vor allem solche, die der linguistisch inkorporierten Tradition der conceptual art folgen, lassen sich oft nur durch höhere formalisierte Programmiersprachen umsetzen. Diese Grenze des Könnens straft die Behauptung Goldsmiths, die konzeptuell Schreibenden könnten „dumm“ sein, Lügen.37 Auch dafür gibt es historische Präzedenzfälle. „A House of Dust“ (1968) ist etwa eine Kollaboration zwischen der FluxusKünstlerin Alison Knowles (bekannt für den PerformanceKlassiker „Make a Salad“) und dem Programmierer und Soundkünstler James Tenney, der 1967 in den Bell Labs für Fluxus-Mitglieder ein informelles Seminar über die Programmiersprache FORTRAN gab.38 Tenney setzte dabei nicht einfach Knowles’ Idee um, sondern war Co-Autor, dessen Praxiswissen Knowles erst die Parameter des Konzeptes vorgab. Dick Higgins forderte ebenfalls 1968, dass Künstler:innen „ihre irrationale Haltung gegenüber Computern aufgeben“ und selbst mit dem Programmieren beginnen sollten, um „sich die Geschwindigkeit und Genauigkeit des Computers zunutze zu machen“,39 aber erst in den letzten Jahrzehnten ist nicht nur die Verfügbarkeit erschwinglicher Hardware gestiegen, sondern

Siehe „Vom Geist und den Maschinen“ in diesem Band. Kenneth Goldsmith, „Dumm“, in: Merkur 68:1 (2014), S. 83–85. Douglas Kahn, „James Tenney at Bell Labs“, in: Hannah Higgins u. ders. (Hg.), Mainframe Experimentalism. Early Digital Computing in the Experimental Arts, Berkeley: University of California Press 2012, S. 131–146, hier S. 135. 39 Dick Higgins, Computers for the Arts, Somerville, Mass.: Abyss Publications 1968, S. 17. 36 37

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I. Digitale als konzeptuelle Literatur

auch die generelle kulturelle Abneigung gegen Coding zurückgegangen. Heute ist die Trennung von Autor:in und Programmierer:in die Ausnahme. Es sind jetzt eher die Schreibenden selbst, die gegen das konzeptuelle Deskilling ein programmatisches Reskilling in Anschlag bringen. Nirgends zeigt sich das besser als in der Codekompetenz digitaler Autor:innen, die entweder als Literat:innen die Notwendigkeit erkannt haben, Programmierer:innen zu werden, oder als Programmierer:innen die Chance ergriffen haben, als Literat:innen zu wirken. Dahinter steht die Einsicht, dass Konzept oft Code benötigt und Code nichts ist ohne das zugrunde liegende Konzept; als Literatur bringen beide eine digitale Wirklichkeit zum Ausdruck.

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II. POETOLOGIE UND PRAXIS

L(T ). DER LITERARISCHE PROZESS Zunächst: Ich mag es nicht, mich vorschreibend über Literatur auszulassen.* Das Folgende ist daher unter dem Vorbehalt öffentlich getätigter, idiosynkratischer Privatüberlegungen zu lesen. Zum Thema: Mich interessiert nicht, was Lyrik ist. Ob es Lyrik überhaupt gibt, im Sinne einer Substanz oder einer Idee oder eines Ideals, dazu fällt mir wenig ein. Die Entscheidung, bei einem Text handele es sich um Lyrik oder nicht, ist ein Indizienprozess, der historisches Gattungswissen und kulturelle Erwartungen aufruft, aber weder etwas über die Möglichkeit sagt, was in Zukunft je vielleicht noch als Lyrik gelten könnte, noch darüber, ob die Produktion von Lyrik etwa notwendig die subjektive Verarbeitung von Eindrücken, überhaupt eine diese Eindrücke empfangende Person voraussetzt. Mich interessiert aber durchaus, was Lyrik macht. Der Unterschied ist nicht unerheblich. Statt vorzuschreiben, welche Eigenschaften Lyrik besitzen muss oder durch welche Formen sie notwendig verkörpert wird, kann man auch erkunden, was mit einem Text geschieht, von dem plausiblerweise anzunehmen ist, dass man ihn als solche liest. Das hat natürlich wieder etwas mit Erwartungen und Gattungswissen zu tun, aber aus dieser Leserichtung kann einem egal sein, ob das Behandelte ,wirklich‘ Lyrik ist oder nicht – es reicht, dass es für genug potenzielle Leser:innen so aussieht. Mich interessiert also, was passiert, wenn ein Text plötzlich als Lyrik gelesen – und das setzt voraus: als Lyrik gerahmt – wird. Lyrik als Rahmung, das könnte man auch so formulieren: Lyrik ist eine Funktion mit einem Argument. In schlichtester Notation also L(t)

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wobei L die Rahmung als Lyrik und das Argument t den jeweils diesem Prozess unterzogenen Text benennt. Die Rahmung als Ergebnis dieser Funktion bezeichnet das Verfahren, einer Reihe von Zeichen eine gewisse Leseregel zu suggerieren, die nicht unmittelbar in diesen Zeichen ausgesprochen ist. Das Gedicht ist als Rahmen sehr viel unproblematischer als etwa der Roman, der oft die dezidierte Gattungsbezeichnung zu seiner Identifikation benötigt, will man sich nicht auf metaphysische Theorien seiner Bestimmung verlassen.** Um etwas als Lyrik zu rahmen, reicht in unserer Kulturtradition dazu meist die banale Simulation dessen, was der kürzlich verstorbene Wiglaf Droste in formalistischer Hyperverdichtung so präzisierte: „Prosa ist horizontal, Lyrik ist vertikal.“ Ein Beispiel: Für das Gedicht „Die zumutbare Opfergrenze“ habe ich mit dem Gesetzestext eine Gattung gewählt, die zu den unpoetischsten überhaupt zählen muss. Abgesehen von den Gründen, die mich dazu bewogen haben, diese Abschnitte der Paragrafen 218 und 219 zu wählen und andere fortzulassen, bestand die Rahmung allein darin, Zeilenumbrüche einzufügen und meinen Namen darüberzusetzen. Die Funktion L wäre also, in ihrer minimalsten Form, als diese Operation des Umbrechens und der Autor:innenzuweisung zu formalisieren.† Es ist gut möglich, dass überhaupt kein Text nur t ist, sozusagen freiflottierendes Argument, sondern immer schon notwendig in einer Gattungsfunktion gebunden‡ – in diesem Fall etwa als G(t), wobei G die Gattungsnormen deutscher Gesetzestexte mit Paragrafen, Absätzen und Sätzen, aber auch einem thetischen Nominalstil bezeichnet. Man könnte diesen Prozess der Rahmung auch als Konvertierung verstehen: G(t)

L(t)

Ein anderes Beispiel, bei dem Konvertierung weniger schnurstracks verläuft, wäre mein Gedicht „Poetisch denken (Digest)“. 86

II. Poetologie und Praxis

Was hier eigentlich einen Funktionstausch erfährt, ist zunächst nicht ganz klar. Liest man die Herstellungsregel, die ich allen meinen Gedichten nachstelle, erkennt man, dass hier eine Konvertierung zweiter Potenz vorliegt: Ausgangspunkt waren die Werke von Ann Cotten, Jan Wagner, Monika Rinck und Steffen Popp (bei der Auswahl habe ich mich an Christian Metz’ Kanonvorschlag Poetisch denken gehalten), also allesamt bereits Texte, die in der Funktion L(t) formuliert sind. Im ersten Konvertierungsschritt habe ich sie, wenn nicht von ihrer Gattungsbindung gelöst – kein Text, wie gesagt, ist gattungsfrei –, so doch dezidiert entpoetisiert: Ich habe sie zum Korpus deklariert, zu einer Textsammlung, an der computerlinguistische Operationen durchgeführt werden können. Eine dieser Operationen ist die Identifikation von n-Grammen, den n häufigsten aufeinander folgenden Elementen eines Korpus. In diesem Fall wählte ich 3-Gramme. Bei Rinck ergibt das etwa „hört ihr das / so höhnen honigprotokolle“, da diese Reihung jedes Gedicht ihrer Honigprotokolle einleitet, bei Cotten kommt „la la la / tch tch tch“ heraus, was sich auf nur zwei diese Lautmalerei repetierenden Gedichte bezieht. Indem ich nun diese 3-Gramme wieder in Gedichtform bringe, vollziehe ich eine weitere Gattungskonvertierung.! Die sich so ergebende Formel L(t)

K(t)

L(t)

lässt sich weiter abstrahieren, indem man sie als potenziell unabschließbaren Kreis versteht, in dem jede Art von Literatur ( ) zu Nicht-Literatur (¬ ) und wieder zu Literatur werden kann, den man den ‚literarischen Prozess‘ nennen könnte ( ): = (t)

¬ (t)

Literatur, Verarbeitung, Literatur, Verarbeitung – das ist der nicht zum Ende kommende Kreislauf einer Gegenwartslitera87

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tur, die sich der Poetik des konzeptuellen Schreibens bedient und die um die Möglichkeiten weiß, die gerade digitale Prozesse bieten. (Ähnliches geschieht im Gedicht „Schützen vnnd schirmen“, wobei hier neben der Verarbeitung nach Verbalkonkordanzen wieder vor allem der – bereits in der Darstellung der Software nahegelegte – Umbruch die Gedichtfunktion hervorbringt.) Nun bin ich über das Thema hinausgeschossen, denn all das sind keine spezifischen Eigenschaften von Lyrik. So kann jede Konvertierung literarischer Gattungen beschrieben werden. Die Rahmung spezifisch als Lyrik hat aber den oben genannten Vorteil, rein immanent zu funktionieren, nur die formalen Elemente zu ändern (Umbruch) und nur aus diesen die Suggestion der Leseregel ‚Lyrik‘ abzuleiten (statt auf paratextuelle Marker zurückgreifen zu müssen). Alle textimmanenten Elemente werden beibehalten; t bleibt t. Und doch nimmt t genau dann, wenn es als Argument die Funktion L sättigt, jene Bedeutsamkeit suggerierende Unbestimmtheit an, die nicht nur der ursprünglichen nichtliterarischen Gattung (z.B. G), sondern auch anderen literarischen Gattungen (z.B. dem Roman R) fremd ist. Es bleibt t also gleich und wird doch anders gelesen, wobei sich das Paradox ergibt, dass t≠t Der Text ist derselbe und ist es nicht. Rahmung als Funktion und Konvertierung ist damit auch so etwas wie Transsubstantiation – nicht religiös gedacht, sondern so, wie ein Wasserglas in eine Eiche verwandelt werden kann, ohne dass sich seine Akzidenzien verändern. In gewisser Weise verhält sich speziell die Lyrik analog zur Stellung der bildenden Kunst: Sie ist der große Omnivor. Konnte jedes Objekt der Welt zu bildender Kunst werden – aber nicht unbedingt zu Tanz, der Körper braucht, nicht unbe88

II. Poetologie und Praxis

dingt zu Musik, die kein Objekt sein darf –, kann jeder Text zu Lyrik werden, sofern die Auszeichnung als Lyrik deutlich ist. Es ist allein diese Auszeichnung als Lyrik, die einer beliebigen Zeichenkette diesen Bedeutungsüberschuss unterschieben kann, der rein gar nichts mit dem Inhalt oder der vermeintlichen Poetizität ihrer Elemente zu tun hat. Das kann Lyrik besser als alle anderen literarischen Formen. Man könnte es so formulieren: Die Funktion L(t) findet das globale Maximum der Bedeutungspotenziale eines Textes t. Oder man kann all diese Formeln abkürzen: Ist das Gedicht Rahmung und Funktion, Konvertierung und Transsubstantiation, läuft es am Ende vielleicht darauf hinaus, dass es vor allem eins ist: ein Container für alles, was Gedicht sein soll; in ihm ist noch Platz.

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Anmerkungen: * Dieser Text folgte in der Zeitschrift Krachkultur auf den Abdruck einer Rede Ulla Hahns, in der sie sich digitaler Literatur gegenüber sehr ablehnend äußerte (Ulla Hahn, „Wenn Roboter das Wort führen. Nachdenken über die Folgen Künstlicher Intelligenz“, Krachkultur 26:20 [2019], S. 14–53). Mein Aufsatz ist keine Antwort auf diese Rede, entstand auch unabhängig von ihr. Einigen können wir uns allerdings auf ihre Aussage, die Zukunft bestehe „weniger in einer Konkurrenz als in einer Partnerschaft von KI und Autor“ (S. 40). Die Widersprüche müssten wir genauer diskutieren. Vielleicht kann ich aber erstens darauf hinweisen, dass ich unter digitaler Literatur nicht, wie Hahn, dasselbe wie „Netzliteratur“ verstehe (eine Strömung der 1990er Jahre, S. 19) und sie auch nicht für „ziellos und zweckfrei“ halte, wie sie den Literaturwissenschaftler Norbert Bachleitner zitiert (S. 20). Weil digitale Literatur meist konzeptuell ist, weiß sie oft viel besser, was sie will, als eine auf subjektive Inspiration und Expression gestützte Dichtung. Auch ist ihr „Erkenntnisgewinn“ sehr genau umrissen: Sie möchte digitale Weltwahrnehmung und Weltdurchdringung reflektieren. Digitale Literatur ist gerade keine blinde Huldigung digitaler Technik, sondern nimmt sie als Faktum ernst, das unsere Wirklichkeit bestimmt und daher untersucht, nachvollzogen und bewertet zu werden verdient. Zweitens bin ich skeptisch, ob Sprachreflexion so ohne Weiteres als bloße Oberflächenbeschäftigung bezeichnet werden kann. Dann müsste man den historischen Avantgarden nämlich dasselbe vorwerfen. Und schließlich würde ich betonen, dass ich auf kein Ersetzen und auch kein Festlegen ziele, sondern auf ein Erweitern dessen, was Literatur sein kann. ** (Solche lehnt etwa Blumenberg ab, siehe letzte Anmerkung.) Zugleich ist die Gattungszuweisung die simpelste Rahmung 90

II. Poetologie und Praxis

überhaupt: Schreiben Sie auf eine Bedienungsanleitung „Roman“ – Sie haben plötzlich einen Roman und niemand kann Ihnen das Gegenteil beweisen. Mir geht es in diesem Fall aber eher um im Text selbst liegende und vor allem plausible Gattungsmarkierungen, die keine Kenntnis literarischer Avantgarden voraussetzen, wie es bei der Bedienungsanleitung etwa der Konzeptualismus wäre. Doch, wirklich (und natürlich gibt es reputablere Gewährsleute; die Idee bleibt dieselbe). Zugegebenermaßen ist hier der Zeilenumbruch zum obersten Formprinzip erhoben und praktischerweise alle Unterkonvention der Lyrik ausgeblendet worden. Aber es geht eben nicht um die Grenzfälle etwa des Prosagedichts, bei denen die Gattungszuweisung problematisch wird, sondern um die offensichtlichen, plausiblen. Weiter könnte man sich natürlich die Mühe machen, für alle Untergattungen der Lyrik eigene Funktionsbeschreibungen zu formulieren, wie etwa Ls(t) für Sonette, etc. Das habe ich schon deshalb nicht vor, weil die ganze pseudomathematische Darstellung eine Metapher ist und ich es überdies recht angenehm finde, in diesem Essay den Druck der Beweislast links liegen zu lassen und einfach zu behaupten. DIE ZUMUTBARE OPFERGRENZE Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Die Schwangere ist nicht strafbar, wenn der Schwangerschaftsabbruch nach Beratung von einem Arzt vorgenommen worden ist und seit der Empfängnis nicht mehr als zweiundzwanzig Wochen verstrichen sind. Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. 91

Schreibenlassen

Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen. Dabei muß der Frau bewußt sein, daß das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat und daß deshalb nach der Rechtsordnung ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmesituationen in Betracht kommen kann, wenn der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, daß sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt.

[Textgrundlage: § 218, Abs. 1; §218a, Abs. 4, Satz 1; § 219, Abs. 1, Satz 1–3 StGB.] † Natürlich gibt es noch lauter soziale und paratextuelle Markierungen, aber bleiben wir, um einen Idealtyp herauszupräparieren, ruhig erst einmal formalistisch. ‡ Es gibt kaum sinnvoll Argumente ohne Funktion, aber es gibt „ungesättigte Funktionen“: G() wäre vielleicht so etwas wie das bloße Gerüst der Paragrafen, Absätze und Sätze, L() die plausibel zu erwartende Reihe von Zeilen im Umbruch. (Für all das siehe Gottlob Frege, „Begriff und Funktion“, 1891.) Wahrscheinlich ist Man Rays Lautgedicht die reinste Darstellung einer ungesättigten Gedichtfunktion:

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II. Poetologie und Praxis

Abb. 5.1: Man Ray, „Untitled“ (1924)

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Für mein Gedicht „Man Ray. Paris, mai 1924“ habe ich das Lautgedicht durch eine Texterkennung gejagt, die versucht, die schwarzen Zeilen als Text zu lesen – das heißt, die ungesättigte Funktion zu füllen und die potenzielle Lyrik (maschinell) in aktuale zu überführen:

Abb. 5.2: Hannes Bajohr, „Man Ray. Paris, mai 1924“ (2019)

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II. Poetologie und Praxis

POETISCH DENKEN (DIGEST) hört ihr das so höhnen honigprotokolle ab und zu in der ferne la la la tch tch tch ich ging hinaus in der zeit [Die je zwei häufigsten 3-Gramme aus den in Christian Metz’ Buch „Poetisch Denken“ erwähnten Lyrikpublikationen Monika Rincks, Jan Wagners, Ann Cottens und Steffen Popps mit CasualConc 1.9.7 nach der Häufigkeit ihres Auftretens geordnet; nacheinander ausgegeben (1. Strophe: Rinck; 2. Strophe: Wagner; 3. Strophe: Cotten; 4. Strophe: Popp).] Ich verwende das Programm CasualConc 1.9.7 zur n-GrammIdentifikation, aber es gibt viele andere, etwa die Online-Umgebung Voyant (http://www.voyant-tools.org) oder http://guidetodatamining.com/ngramAnalyzer – bitte ausprobieren! ! „Die erstaunliche Aussagekraft und ‚bemerkenswerte Leistungsfähigkeit von N-grammen‘ […] kann gegenwärtig noch kaum erklärt werden. Die zugrundeliegenden kausalen Zusammenhänge sind unklar, unter Beweis gestellt werden konnte bislang allein, dass n-Gramme – wie Häufigkeitswortlisten – ‚ein guter Stellvertreter für eine Reihe von anderen Merkmalen‘ sind.“ Annette Gilbert, „Möglichkeiten von Text im Digitalen“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistes95

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geschichte 91:2 (2017), S. 214; Gilbert zitiert hier Fotis Jannidis, „Der Autor ganz nah. Autorstil in Stilistik und Stilometrie“, in: Matthias Schaffrick u. Marcus Willand (Hg.), Theorien und Praktiken der Autorschaft, Berlin: de Gruyter 2014, S. 169–195, hier S. 188–189. Ich habe das mit der Metapher des „Halbzeugs“ beschrieben, jener „Ware zwischen Rohstoff und Fertigfabrikat, die schon verschiedene Fertigungsstufen hinter sich hat, aber noch weitere durchlaufen muss.“ Hannes Bajohr, Halbzeug. Textverarbeitung, Berlin 2018, S. 101. Siehe auch „Schreibenlassen“ in diesem Band. Man kann bei CasualConc einstellen, wie viele Wörter je links und rechts der ‚Säule‘ des Suchwortes angezeigt werden; die ‚Vertikalisierung‘ des Textes und damit seine mögliche Lyrisierung ist also bereits ein Parameter der Software. So sieht das aus:

Abb. 5.3: Lemma-Säule in CasualConc

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II. Poetologie und Praxis

Das Ergebnis: SCHÜTZEN VNND SCHIRMEN ſuperſtition vnnd Aberglauben gleichſam viel Völcker vnnd Länder bedeckt in die läng vnnd breite ſo weit zwiſchen den Türcken vnnd der Chriſten Religion daß vnſer liebes Teutſchland vnnd die Kirch darin ins Werck gebracht vnnd vnbillich der zorn Gottes iſt vnnd Heiſt der Zorn gottes vnnd ein Geiſſel GOttes über Teutſchland außbreiten vnnd alſo auch die Türcken vnnd Machometaner einmal zureiſſen vnnd der langwürigen Leſterungen verbrennet vnnd ihn zu ſtaub vnnd Aſchen machte Adam vnnd einfältige chriſten vnnd die den Türckiſchen vnnd Machometiſchen nicht ſchützen vnnd ſchirmen

[Alle Verbalkonkordanzen des Wortes ‚vnnd‘ aus der „Vorrede über den Alcoran/an den gutherzigen Leser“ von Solomon Schweiggers erster Teilübersetzung des Qu’ran als „ALCORANUS MAHOMETICUS, Das ist: Der Türcken Alcoran/Religion und Aberglauben. Auß welchem zu vernemen/Wann vnnd woher ihr falscher Prophet Machomet seinen ursprung oder anfang genommen/mit was gelegenheit derselb diß sein Fabelwerck / lacherliche und narrische Lehr gedichtet und erfunden…“, Nürnberg: Halbmeyer 1616 mit CasualConc 1.9.7 erstellt; anschließend manuell arrangiert und rechts und links selektiv geweißt.] Das meint Michael Craig-Martins An Oak Tree, 1973. Im Ausstellungsraum steht ein Glas Wasser, daneben findet sich auf 97

Schreibenlassen

einer Tafel dieser Text: „F. Könnten Sie zu Beginn diese Arbeit beschreiben? A. Ja, natürlich. Ich habe ein Glas Wasser in eine ausgewachsene Eiche verwandelt, ohne die Akzidenzien des Glases Wasser zu verändern. F. Die Akzidenzien? A. Ja. Die Farbe, die Haptik, das Gewicht, die Größe… F. Meinen Sie damit, dass das Wasserglas ein Symbol für eine Eiche ist? A. Nein. Es ist kein Symbol. Ich habe die physische Substanz des Wasserglases in die eines Eichenbaums verwandelt. F. Es sieht aus wie ein Wasserglas. A. Natürlich tut es das. Ich habe sein Aussehen nicht verändert. Aber es ist kein Glas Wasser, es ist eine Eiche. F. Können Sie beweisen, was Sie angeblich getan haben? A. Nun, ja und nein. Ich behaupte, die physische Form des Wasserglases beibehalten zu haben, und wie Sie sehen können, ist das auch so. Da man aber normalerweise nach Beweisen für eine physische Veränderung in Form einer veränderten Form sucht, gibt es keinen solchen Beweis. F. Haben Sie dieses Glas Wasser nicht einfach eine Eiche genannt? A. Ganz und gar nicht. Es handelt sich nicht mehr um ein Glas Wasser. Ich habe seine eigentliche Substanz verändert. Es wäre nicht mehr korrekt, es ein Glas Wasser zu nennen. Man könnte es nennen, wie man wollte, aber das würde nichts daran ändern, dass es eine Eiche ist.“ Und so weiter. So in etwa stelle ich mir die Konvertierung vor, die zwischen Gattungen stattfindet – oder vielleicht sogar zwischen bildender Kunst und Literatur, wie in diesem Fall. „Diesem Gedanken einer spezifischen Differenz poetischer und nicht-poetischer Elemente der Sprache und damit der Auffassung der Poesie als einer Extraktion einer vorgegebenen seltenen Substanz aus der Sprache folgen wir hier nicht; indem wir Poetisierung als eine Tendenz der Sprache beschreiben, fassen wir das poetische Moment nicht als eine inhärierende Qualität, als ein Merkmal möglicher Auslese, sondern als einen im Funktionszusammenhang des poetischen Gebildes erst möglichen und sich realisierenden Zugewinn der Sprache. Die 98

II. Poetologie und Praxis

Tendenz der Poetisierung geht nicht auf die Entdeckung vorgegebener, und sei es noch so wurzelhafter, Bedeutungen, deren Verständnis eine poetische Quasi-Linguistik zu widmen wäre, sondern auf die Bildung neuer Deutigkeiten. Das zeigt sich sehr schön daran, daß auch und gerade das Ausdrucksgut spezialisierter Regionalsprachen in den Horizont moderner poetischer Texte hereingeholt wird oder daß historisch-philologisch indiziertes und erkaltetes Material neu eingesprengt werden kann. Das banalste Alltagswort tritt neben die geweihte metaphysische Vokabel, und es ist dann unmöglich zu sagen, welchem der beiden Elemente eigentlich der poetische Effekt zuzuschreiben ist (z.B. großer Run der Äonen [das ist Gottfried Benn, „Chaos“, 1923, H.B.]), und es wäre das auch eine Frage, die sinnvoll nur im Rahmen jener substantialistischen Theorie der poetischen Sprache gestellt werden könnte.“ Hans Blumenberg, „Sprachsituation und immanente Poetik“, in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 127.

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SAGEN, HÖREN, LESEN. ÜBER DIGITALE LITERATUR „0x0a“ sagen „0x0a“ ist das Steuerzeichen, das in einer Textdatei für einen Zeilenumbruch sorgt. Wie man früher auf der Schreibmaschine den Arm für den Wagenrücklauf umlegte, so setzt „0x0a“ den Cursor an den Anfang der nächsten Zeile. Das Besondere an Steuerzeichen: Man kann sie – anders als grafische Zeichen, also alle sichtbaren Zahlen, Buchstaben und Symbole – auf der obersten Textebene, im Wordprozessor oder auf Papier, nicht sehen: „0x0a“ ist ein Befehl, den man nur an seiner Wirkung bemerkt – es ist Anweisung und Aktion, nicht Buchstabe und Symbol. Und weil es Handlung ist, kann es weder ausgesprochen werden noch auf Papier existieren.1 Steuerzeichen gibt es nur im Digitalen. „0x0a“ ist auch der Name des Textkollektivs für digitale konzeptuelle Literatur, das ich zusammen mit Gregor Weichbrodt betreibe. Seit 2014 erscheinen unter 0x0a.li Texte und Bücher, die digital generiert und einer am „konzeptuellen Schreiben“ geschulten Poetik folgend entstanden sind. Kennengelernt haben wir uns, als ich seinerzeit für den Merkur einen Essay über die „Furcht vorm Digitalen“ schrieb,2 in dem es um die vorherrschende Ablehnung digitaler Mittel in der deutschsprachigen Literatur ging: Waren in der anglofonen Welt mit flarf, also aus Google-Ergebnissen collagierter Lyrik, oder Code PoeNatürlich kann ich „Null Ix Null Ah“ sagen – aber damit habe ich doch nur den Namen des Befehls gesprochen, nicht aber seinen illokutionären Gehalt vollzogen, seinen Aktcharakter, der nur in einer Umgebung seine Performanz entfaltet, die ihn auch verarbeiten kann. 2 Siehe „Schreibenlassen“ in diesem Band. 1

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try, die per Programmiersprache Gedichte hervorbringt, digitale Ansätze relativ breit vertreten, gab es hierzulande so gut wie niemanden, der sich daran versuchte. Neben dem österreichischen Autor Jörg Piringer konnte ich nur Gregor finden, der digital arbeitete.3 Sein Buch On the Road,4 das Jack Kerouacs Beatklassiker kapitelweise in eine Reihe von Google-MapsRoutenangaben verwandelte, ist digitale Literatur in Reinform, und ich erwähnte es in meinem Essay. Erst danach trafen wir uns und beschlossen, eine Plattform zu gründen, die digitale, konzeptuelle Werke ausstellen sollte. „0x0“, der Befehl, den man nicht sprechen kann, der nur im Digitalen existiert, erschien uns als idealer Name. Eine Gemeinsamkeit zwischen digitaler und konzeptueller Literatur ist, dass sie – nicht ganz zufällig analog zur Unsagbarkeit – dazu tendiert, „unlesbar“ zu sein und diese Unlesbarkeit als eigene Qualität auffasst. On the Road ist eine 65-seitige Wegbeschreibung, die niemand ganz lesen wird, oder jedenfalls nicht so, wie man einen Roman liest – vertieft, konzentriert, aufgehend in Plot, Diktion und Beschreibung. Stattdessen wird man überfliegen und blättern, den Text als Illustration des Konzepts nehmen, das dahintersteht. Das ist auch bei Gregors Buch Chicken Infinite der Fall – von dem auch eine deutsche Version unter dem Titel Unendlicher Gulasch existiert –, für das er ein Programm schrieb, das Kochrezepte aus dem Internet herunterlädt (,scraped‘); anschließend teilte er sie in Zutaten und Anweisungen auf, sodass ein 534 Seiten langes Rezept für ein unkochbares Gericht entstand (allein die Zutaten zu besorgen – sie umfassen 70 Seiten – würde eine erhebliche Herausforderung darstellen).5 Statt selbst zu schreiben, geht es hier um Piringers Werk ist neuerdings auch in Buchform zu besichtigen: Jörg Piringer, datenpoesie, Klagenfurt: Ritter 2018. 4 Gregor Weichbrodt, On the Road, o.O.: 0x0a 2014, https://0x0a.li/de/text/on-the-road, letzter Aufruf 21.1.2022. 5 Gregor Weichbrodt, Chicken Infinite, o.O.: 0x0a 2014, https://0x0a.li/de/text/chickeninfinite, letzter Aufruf 21.1.2022. 3

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das Schreibenlassen. Ich ließ ebenfalls, nach einem ähnlich konzeptuell-digitalen Prinzip, den Roman Durchschnitt generieren: Dafür nahm ich mir alle Bücher aus Marcel Reich-Ranickis Romankanon in digitaler Form vor, stellte die durchschnittliche Satzlänge fest (18 Wörter), die ich ausgeben und kapitelweise alphabetisch sortieren ließ.6 Auch dieses Buch ist nicht im konventionellen Sinne lesbar und verweist illustrativ auf sein Konzept.7 Eine besondere Zusammenarbeit war unser Projekt Glaube Liebe Hoffnung.8 Ende 2014 nahmen die Dresdner Pegida-Märsche plötzlich eine besorgniserregende Größe an, die jenen bundesweiten Rechtsdrift ankündigte, dessen Auswirkungen heute bis auf Kabinettsebene zu beobachten sind. Die Märsche wurden ausschließlich auf den Facebook-Seiten der PegidaAbleger organisiert. Dass diejenigen, die das Abendland gegen den Islam verteidigen wollten, es mit den christlichen Tugenden nicht so genau nahmen, wussten die Veranstaltenden: Sie löschten die in den Kommentaren geposteten Ausfälle und Tiraden in regelmäßigen Abständen. Anfangs nur zu Dokumentationszwecken ließen wir diese Kommentare durch ein ScrapingSkript zweimal täglich sammeln und häuften so innerhalb von zwei Monaten 80 MB reinen Text an. Das so entstandene PegidaKorpus konnte soziolinguistischer Analyse dienen,9 wir aber verwendeten es – digital-konzeptuell – zur literarischen Weiter6 Hannes Bajohr, Durchschnitt, Berlin: Frohmann 2016; erschien zuerst 2015 auf 0x0a, https://0x0a.li/en/text/durchschnitt, letzter Aufruf 21.1.2022. 7 Obwohl Annette Gilbert einen Close-reading-Lektüreversuch unternommen hat: Annette Gilbert, „‚Möglichkeiten von Text im Digitalen‘. Ästhetische Urbarmachung von korpuslinguistischen Analysetools und Bots in der generativen Literatur der Gegenwart am Beispiel des Textkollektivs 0x0a“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 91:2 (2017), S. 203–221. 8 0x0a, Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: Frohmann 2016; erschien zuerst 2015 auf 0x0a, https://0x0a.li/en/text/glaube-liebe-hoffnung, letzter Aufruf 21.1.2022. 9 Nur ein Beispiel von vielen: Alexa Mathias: „Von ‚Parasiten‘ und anderen ‚Schädlingen‘. Feinddiskreditierung rechtspopulistischer und rechtsextremer Bewegungen in Deutschland“, in: Linguistik Online 82:3 (2017), https://bop.unibe.ch/linguistik-online/ article/view/3716, letzter Aufruf 21.1.2022.

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verarbeitung, indem wir die Verteidigung des christlichen Abendlandes mit den paulinischen Tugenden aus dem Hohelied der Liebe konfrontierten. Das Buch Glaube Liebe Hoffnung besteht aus den mit „Ich glaube“, „Ich liebe“, „Ich hoffe“ beginnenden Sätzen des Pegida-Korpus. Dass vor allem Deutschland geliebt wird, überrascht weniger als die Wünsche der Kommentierenden, die von Umsturz- und Gewaltfantasien bestimmt sind. Wie viel davon in den politischen und medialen Sprachgebrauch eingesickert ist, erscheint in der Rückschau mehr als deprimierend, macht aber Glaube Liebe Hoffnung zu einem historisch aufschlussreichen Dokument.10 Alle unsere Texte boten wir in dieser ersten Phase von 0x0a sowohl als PDF wie auch als Print-on-Demand-Buch an. Dafür verwendeten wir den PoD-Service Lulu.com, notorisch sowohl für seine einfache Zugänglichkeit wie die schlechte Druckqualität der Ergebnisse; damit waren wir eigentlich ein sich selbst finanzierender Verlag – sieht man einmal davon ab, dass wir uns weder für unsere Arbeitszeit bezahlten noch am Verkauf verdienten. Immerhin hatten wir durch Lulu keine Ausgaben – on demand heißt schließlich: keine Lagerkosten und kein Herumschlagen mit Distribution und Verkauf. Zudem lässt einem das Lulu-System einen recht großen Spielraum beim Layout der Bücher. Irgendwie lag es auf der Hand, unsere Bücher auch algorithmisch gestalten zu lassen. Die Idee der digitalen Selbstbeschreibung ernst nehmend, programmierte ich ein kleines Skript in der Java-Umgebung Processing, das aus dem Buchtitel zunächst seinen MD5-Hash erstellte (Abb. 6.1). Ein Hash ist eine Art Kontrollnummer, die vor allem in der Kryptografie zur Anwendung kommt. Sie gibt für jeden beliebigen String eine Neuerdings hat Annika Orich für diesen Prozess den Begriff der „archival resistance“ geprägt, also einer widerständigen Archivierung anderweitig flüchtiger Daten zum Zweck kritischer Bearbeitung: Annika Orich, „Archival Resistance. Reading the New Right“, in: German Politics and Society 38:2 (2020), S. 1–34. 10

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Abb. 6.1: Die algorithmische Herstellung der 0x0a-Cover

32-stellige Buchstaben-Zahlen-Kombination aus, die zwar nicht einzigartig, aber selten genug ist, als dass sie sich gut zur Identifizierung von Dateien oder zu ihrer Validierung eignet. Von diesem Hash, der also aus dem Titel generiert wurde – „Gregor Weichbrodt On the Road“ beispielsweise ergibt „65F9E8 AAA011 7ECC93 4E169F 5448AB“ – nahm ich die letzten fünf mal sechs Zeichen. Da ein MD5-Hash hexadezimal codiert ist, wie es auch Farbcodes sind, hätte man damit unmittelbar aus dem Titel eine Serie von sechs Farben generieren können. Weil mir das zu wenig war, habe ich jeden der fünf Codes noch einmal so aufgeteilt, dass ihre Bestandteile gemischt und im HSB-Format dreizehn Farben ausgaben, die dann regelmäßig und rasterförmig über das Cover verteilt wur-

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den. Fertig war der Titel, der sich ganz wörtlich selbst hervorgebracht hat. 2015 trafen Gregor und ich Christiane Frohmann, die als EinFrau-Unternehmen den Frohmann Verlag betreibt. Christiane überzeugte uns, nicht zuletzt wegen ihrer Kompetenz als Theoretikerin des Digitalen und sehr konsequente Praktikerin digitalen Verlegens,11 eine Kooperation mit ihr einzugehen: Als weiße Reihe erscheinen die 0x0a-Titel nun bei ihr in einer Printausgabe und gleichzeitig kostenlos als PDF auf 0x0a.li. Christianes Engagement für genuin digitale Literatur – die auch in ihrer Reihe „Kleine Formen“ zum Ausdruck kommt, wo neben der Twitteratur von Claudia Vamvas etwa die TinderMiniaturen von Sarah Berger erscheinen12 – und die explizite Markierung der Bücher als literarische waren für uns ausschlaggebend für diese Zusammenarbeit. Bei Frohmann kam auch der von mir edierte Band Code und Konzept heraus, der theoretische Texte zur digitalen Literatur mit Selbstaussagen ihrer Praktiker:innen zusammenbringt.13 Nicht alle unsere literarischen Produktionen erscheinen auch unter dem Label 0x0a: Gregor baut seit einigen Jahren erfolgreiche Twitter-Bots, deren Output potenziell in Buchform zu bringen wäre, aber gerade in der unvorhersehbaren, steten Abfolge von Einzeltweets seinen Reiz entfaltet. Bemerkenswert etwa ist der „Holiday“-Bot (@bot_on_holiday, Abb. 6.2), der Google-Street-View-Fotos durch eine Bilderkennungssoftware schickt und deren Ergebnisse tweetet: „Es gab eine Kirche, eine Religion und den Himmel, und ich schaute auf eine Tür. Es Zu beidem neuerdings: Christiane Frohmann, „Vom Verlegen. Ein Wirkstättenbericht“, in: Hannes Bajohr u. Annette Gilbert (Hg.), Digitale Literatur II. Sonderband Text+Kritik, München: edition text+kritik 2021, S. 186–197. 12 Claudia Vamvas, Sitze im Bus, Berlin: Frohmann 2016; Sarah Berger, Match deleted. Tinder shorts, Berlin: Frohmann 2017. Siehe hierzu Holger Schulze, „Trinken gehen, Bus fahren. E-Books und kleine Formen“, in: Merkur 70:1 (2016), S. 71–78. 13 Hannes Bajohr (Hg.), Code und Konzept. Literatur und das Digitale, Berlin: Frohmann 2016. 11

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Abb. 6.2: Gregor Weichbrodt, @bot_on_holiday

fühlte sich alt an.“ Besonderer Beliebtheit erfreut sich auch der Bot „Zufallshorst“ (@zufallshorst), der den seinerzeit berüchtigten Innenministerunsinn automatisiert und per Zufall entscheidet, ob etwas zu Deutschland gehört oder nicht: „Der Paragrafenreiter gehört zu Deutschland.“ Aber: „Die Konsistenz gehört nicht zu Deutschland.“ Ich habe unabhängig von 0x0a den Gedichtband Halbzeug im Suhrkamp Verlag veröffentlicht.14 Hier ist das Vorgehen noch immer digital und konzeptuell, aber durch die Gattung der Lyrik sind diese Texte in ihrer Kürze durchaus nicht unlesbar, sondern als Gedichte verständlich – freilich immer verbunden mit der Aufforderung, sich auf die konzeptuelle und digitale Dimension einzulassen, die ihrer Herstellung zugrunde 14

Hannes Bajohr, Halbzeug. Textverarbeitung, Berlin: Suhrkamp 2018.

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liegt. Halbzeug aber wäre ohne 0x0a nicht möglich gewesen. Und beide sind Teil desselben Aufrufs: sich mit einer Art des Schreibens zu beschäftigen, die keine Furcht vor dem Digitalen hat, die die Mittel ausschöpft, die heute zur Textverarbeitung bereitstehen, und die vor allem die Allverfügbarkeit von Text in Zeiten des Netzes produktiv zur Kenntnis nimmt – um das Digitale, das sich seiner Artikulation sperrt, doch in Worte zu fassen.15

„Schweigen“ hören Natürlich ist das Spiel mit dem Paradox des sagenden Nichtsagens älter. Ohne auf die christliche Mystik zurückgehen zu müssen, bietet sich ein 1969 veröffentlichtes Gedicht von Eugen Gomringer an: „schweigen“ ist ein Klassiker der Konkreten Poesie (Abb. 6.3). Dieses Schweigen, die aktive Nichthandlung, ist im Gedicht durch eine paradoxe Auslassung angezeigt, eine Atempause in der Textzeile. Denn woraus besteht „schweigen“, wenn nicht aus Text? Die Frage ist aber: aus welchem Text? Man könnte meinen, aus der mehrmals wiederholten, rechteckig angeordneten und schließlich in der Mitte unterbrochenen Zeichenfolge s, c, h, w, e, i, g, e und n. Das ist prinzipiell richtig, wenn man den Text des Textes als ideal existierend versteht. Es ist aber konkret falsch, wenn nämlich dieser Text digital dargestellt wird und selbst wieder als Text codiert werden muss. Selbst das merkwürdig doppelte Seit einiger Zeit steht dazu auch das von Gregor mit Kathrin Passig entworfene Repositorium „Textstelle“ online, das kostenlos Korpora versammelt, die man etwa zur Bot-Konstruktion verwenden kann: Abstrakta und Adjektive, Gefühle, Vogel- und sogar Pokémon-Namen stehen als Listen bereit, mit denen man einfach neue Texte generieren kann. Zudem ist es einfach, eigene Korpora hochzuladen – Kollaboration und eine open source culture sind bei digitaler Literatur schließlich zentrale Werte, https://textstelle.0x0a.li. Ebenfalls von Gregor stammt die App Plauder, mit der solche Listen leicht kombiniert werden können, https://plauder.app, letzter Aufruf 21.1.2022.. 15

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Abb.6.3: Eugen Gomringer, „schweigen“ (1969)

Schweigen, die Abwesenheit des Wortes „schweigen“, ist dann textlich konfiguriert. Aber weil das so ist, kann man dieses Schweigen auch hören. Warum, dazu muss ich ein bisschen ausholen – werde dabei aber auch einiges über digitale Literatur sagen. Digitale Literatur – wenn sie nicht nur die Schilderung von Menschen sein will, die digitale Geräte verwenden – ist Literatur, die weiß, dass heute alles Text ist und es zu ihm kein Äußeres gibt. Dabei ist das keine Metapher, die als dekonstruktivistischer Leitsatz längst zur Plattitüde geworden ist. Ganz unmetaphorisch, technisch verstanden beschreibt er nämlich unsere Wirklichkeit. Die Welt im Digitalen ist eine Welt aus Text, denn jedes Bild, jeder Ton, jedes Video, ja jedes Textdokument selbst ist nichts als alphanumerisch codierte Information – da ist der Zeilenumbruch „0x0a“ nur ein Stück Code unter vielen. Digitale Literatur wäre nun diejenige Literatur, die um diese Textlichkeit weiß und sie ernst nimmt, in sie eingreift und sie als stets potenziell literarisch versteht. Genau das war der Versuch, den ich mit Halbzeug unternommen habe. Digitale Literatur kann Coding verwenden, um Literatur zu produzieren, aber sie muss es nicht. In Halbzeug geht es nicht nur um die angeblich so sinistren Algorithmen. Bei der Aufre109

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gung um ihre Herrschaft – auch sie sind natürlich Text, wenn auch selbstausführender – wird jener andere Text, auf den sie angewiesen sind, gern übersehen: die Information, die Datenstruktur, ohne die jeder Algorithmus leerdrehen würde, weil er nichts zu verarbeiten hätte. Kann man sich einen Algorithmus wie ein Kochrezept vorstellen, eine Reihe von auszuführenden Regeln, dann sind Datenstrukturen die Zutaten; für den Kuchen braucht es beide. Nicht von ungefähr lautet eine inzwischen vierzig Jahre alte Definition: „Algorithmen + Datenstrukturen = Programme.“16 Für Halbzeug habe ich versucht, auch Datenstrukturen literarisch werden zu lassen. Interessant an ihnen ist, dass sie ihre Identität nie in sich tragen. Diese Abhängigkeit zeigt sich schon in den fundamentalen Datenstrukturen, die in jenem Quellcode stecken, in dem ein Programm geschrieben wird. Ob das Zeichen „111“ eine Ganzzahl (einen sogenannten Integer) oder eine Zeichenkette (einen String) bezeichnen soll, muss in vielen Programmiersprachen erst festgelegt werden und bestimmt dann die jeweils möglichen Operationen: Verstehe ich „111“ als Dezimalzahl, kann ich sie in ihre Primfaktoren zerlegen (nämlich die Zahlen 3 und 37); betrachte ich „111“ als Text, kann ich seine Zeichenlänge überprüfen (was dann wiederum eine Zahl ausgibt, nämlich 3).17 Der Datentyp ist also an eine Regel gebun-

Nikolaus Wirth, Algorithms + Data Structures = Programs, Upper Saddle River, NJ: Prentice-Hall 1976. Natürlich hat sich seit 1976 einiges getan. So spricht man nicht mehr nur von Daten und Algorithmen, sondern, seit Einführung der objektorientierten Programmierung, auf einem höheren Abstraktionsniveau eher von Objekten und Methoden; umgekehrt ist auf einer tieferen Ebene der Computer als Von-NeumannArchitektur gerade darauf ausgerichtet, Daten und Algorithmen unterschiedslos zu verarbeiten. Die hier gemachte Unterscheidung ist also, wie so oft, selbst eine heuristische Setzung – keineswegs falsch, aber immer im Kontext konkurrierender und korrigierender Setzungen zu denken. 17 Natürlich kann „111“ auch eine Binärzahl sein, die dezimal den Zahlenwert 7 besitzt. Und schließlich erlaubt jede Programmiersprache die Operation der Typumwandlung: In Python vollzieht etwa int('111') die Umwandlung von String zu Integer und int('111', 2) von Binär- zu Dezimalzahl. 16

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Abb. 6.4: „schweigen“ als .jpg und als .docx

den, die bezeichnet, was mit den Daten angestellt werden kann, aber nicht selbst Teil der Daten ist. Nun wäre ein Programm, das nur auf die Daten des Quellcodes angewiesen ist, sehr unflexibel. Daher beziehen Programme ihre Daten oft von außen, manchmal aus Nutzerabfragen, meistens aber aus anderen Dateien. Die Information, die eine Datei enthält, wird dann dem im Quellcode formulierten Auslesealgorithmus übergeben und von ihm verarbeitet. Hier wiederholt sich das Verhältnis von Datenstruktur zu Algorithmus, von Zeichen zu Typ: Die Ausleseregel, die entscheidet, wie mit den Daten einer Datei umgegangen werden soll – beschreiben sie ein Bild oder ein Textdokument? –, gehört nicht zur Datei, sondern zum die Datei interpretierenden Algorithmus. So gibt es zwei Texte: einen, der liest, und einen, der gelesen wird; jener erst gibt diesem seine Gestalt. Oft begnügt sich ein Programm mit der Dateiendung, um zu entscheiden, was eine Datei darstellt. Abbildung 6.4 links zeigt einen Scan von Gomringers Gedicht, der als JPEG-Datei gespeichert ist. Ich habe es aber auch in Word abgetippt und in 111

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Abb. 6.5: Die in Word geöffnete .jpg-Datei

Microsofts DOCX-Format abgespeichert (Abb. 6.4 rechts). Je nachdem, ob die Dateiendung von „schweigen“ nun „.jpg“ oder „.docx“ lautet – beide enthalten den Text des Gedichtes –, wird die Datei auf meinem Computer von der macOS-Vorschau oder in Word gelesen. Was passiert aber, wenn ich die Dateiendungen vertausche? Word beschwert sich zunächst, lässt mich aber die JPEG-Datei doch öffnen. (Abb. 6.5) Was ich hier sehe, ist der Nachweis, dass auch Bilder Text sind, der sich wieder lesen und, als Datei, öffnen lässt – und gleichzeitig, dass auch Text wieder Text ist. Denn das Zeichenwirrwarr zeigt keinen tatsächlichen ‚Code‘, ist also nicht die Informationsart, in der das Bildformat geschrieben wurde, sondern selbst die Interpretation eines ‚tieferen‘ Textes, der Binärdatei des JPEGs.18 Die Informationen aus Binärdateien können Jede Datei ist eine Binärdatei, aber nur manche Binärdateien sind Text-, Bild-, Tondateien. Das ist der Punkt: Es gibt einen maschinenlesbaren Urtext, den „stream“, der selbst erst wieder interpretiert werden muss, um zu dem zu werden, was die Schnitt18

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Abb. 6.6: Die Hexadezimaldarstellung der beiden Dateien

zufällig den Zuordnungen entsprechen, mit denen eine Ausleseregel aus Dateiinhalten mittels festgelegter Zeichensätze Text darstellt. Nicht alle Bytes der Datei entsprechen dabei der Ausleseregel, die Word vorschlägt (MacOS Roman, einem erweiterten ASCII-Zeichensatz); in einem Hex-Editor, der die Bytes der Binärdatei als Folge von Hexadezimalzahlen anzeigt, kann ich auch die unsichtbar gebliebenen Zeichen sehen (linkes Fenster, Abb. 6.6). Text ist Text: Die ersten zwei Bytes der Bilddatei, „FF D8“, bezeichnen die hexadezimale Schreibweise für die Dezimalzahlen 255 und 216. Im MacOS-Roman-Zeichensatz entspricht die Position 255 dem Zeichen „ˇ“ und die Position 216 dem Zeichen „ÿ“. Aber diese Übersetzungsregel wurde der Datei vom Programm aufgezwungen; ein Programm, das den JPEG-Codec beherrscht, erkennt „FF D8“ gar nicht als Elemente dieses Zeichensatzes, sondern als „Magische Zahl“, einen Marker, der eine Datei als JPEG kennzeichnet, sodass – wie etwa in Unix – auch ohne die Dateiendung klar ist, welche Ausleseregel stelle dem User ausgibt – was also mit diesem Urtext ,gemeint‘ ist; siehe dazu David M. Berry, „A Contribution Towards a Grammar of Code“, in: The Fibreculture Journal 5:13 (2008), https://thirteen.fibreculturejournal.org/fcj-086-a-contribution-towards-agrammar-of-code, letzter Aufruf 21.1.2022.

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angewandt werden muss. Das heißt aber auch, dass jeder im Digitalen dargestellte Text selbst eine Ebene tiefer aus hexadezimalem Text besteht, der immer bereits durch eine Regel interpretiert werden muss, um für uns lesbar zu werden. Im Fall des JPEG lassen sich etwa „Ducky“ (44 75 63 6B) und „Adobe“ (41 64 6F 62 65) als ASCII-codierte Wörter erkennen (sie zeigen an, dass das JPEG mit Adobe Photoshops „Save for Web“-Funktion gespeichert wurde). Und die .docx-Datei (rechtes Fenster, Abb. 6.6) scheint voller Text zu sein, der nicht mit dem Inhaltstext des Dokuments identisch ist; „schweigen“ verbirgt sich hier in der Encodierung des Word-Formats. Auf dieser Ebene, der bloßen Binärdatei, sehen Bild und Text gleich aus. Es kommt darauf an, wie man sie versteht. Das Spiel lässt sich umkehren, die Word-Datei als Bild öffnen. Auch dazu muss Photoshop überredet werden, indem man die Datei als raw data importiert, als unkomprimierte Rohdaten. Die Bytes der Word-Datei werden dann in Grauwerte umgesetzt. (Abb. 6.7) In beiden Fällen ändert sich nicht der jeweilige Urtext – die in der Datei gespeicherte Information bleibt identisch –, sondern nur die Ausleseregel, die diese Information interpretiert. Dass alles Text ist, heißt genau dies: Ein Bild kann gelesen werden wie ein Text, ein Textdokument betrachtet werden wie ein Bild, nur durch Änderung des unterstellten Codecs, der Ausleseregel. Und beide, Text und Bild, können schließlich auch gehört werden. Für „schweigen“, meine Transcodierung von Gomringers Gedicht, habe ich die beiden Dateien schweigen.docx und schweigen.jpg im kostenlosen Audioeditor Audacity geöffnet. Wie Photoshop kann auch Audacity raw data öffnen. Gedacht ist diese Funktion, um beschädigte oder unvollständige Dateien, in denen die Information über den Dateityp verloren gegangen ist, wiederherzustellen. Audacity fordert daher dazu auf, den Codec selbst zu bestimmen, samt einiger Parameter. Ich wähle als Codec GSM 6.10, das Format für Audiodatenkom114

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Abb. 6.7: Die in Photoshop geöffnete .docx-Datei

pression im Mobilfunk, und die Abtastrate 2000 Hz für das Bild sowie 1540 Hz für die Textdatei.19 Ich lege die Textdatei auf die linke, die Bilddatei auf die rechte Spur (Abb. 6.8). Jetzt kann ich dieses Arrangement als Stereo-MP3 abspeichern. Spiele ich es ab, höre ich das Rumpeln und Rauschen jener Texte, die Gomringers Text als Bild- und Textdokument sind, verstanden durch die Ausleseregel des Audio-Codecs. „schweigen“ ist nun hörbar. Ich lege die MP3 auf meinem Server Da die Textdatei kleiner ist als die Bilddatei, wähle ich die Hertzzahl entsprechend geringer, damit beide Spuren am Ende dieselbe Länge haben.

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JA AUF Ja auf auf auf auf auf Home

Abb. 6.8: Die in Audacity geöffneten .docx- und .jpg-Dateien

ab und lasse eine Kurz-URL (goo.gl/J2nMnb) dazu erstellen, aus der ich Gomringers ‚Konstellation‘ nachbaue. So steht „schweigen“ nun in Halbzeug (Abb. 6.9). Ein Text, der auf die Texte interpretierende Datei verweist, die selbst wieder Text ist und in allen ihren Umwandlungsschritten textlich transformiert wurde. Es [RobertUnd Filliou,zwar Imitating the Sound of Birds,201979, 0:55 Minuten, ist eben alles Text im Digitalen. wortwörtlich.

http://www.ubu.com/sound/filliou.html, mit der Spracherkennungsso Dragon Dictate 3 als Deutsch erkennen lassen.]

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Diese Operation der Transcodierung, die Veränderung des Codecs bei Beibehaltung des Urtexts, gibt nebenbei eine schöne Metapher für dem Umgang mit Text: Die Leseregel, die ich am Ende allem gebe (und die dem Text selbst nicht innewohnt) ist einfach: „Literatur“; siehe dazu „L(t). Der literarische Prozess“ in diesem Band. 20

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oftware

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SCHWEIGEN goo.gl/J2nMnb goo.gl/J2nMnb goo.gl/J2nMnb goo.gl/J2nMnb goo.gl/J2nMnb goo.gl/J2nMnb goo.gl/J2nMnb goo.gl/J2nMnb goo.gl/J2nMnb goo.gl/J2nMnb goo.gl/J2nMnb goo.gl/J2nMnb goo.gl/J2nMnb goo.gl/J2nMnb

[Bild und Text von Eugen Gomringer, schweigen, 1969, als Tondatei erkennen lassen, nachzuhören unter dem angegebenen Link. Dazu das Gedicht im JPG- und DOCX-Format als raw data in den Audioeditor Audacity 2.0.5 importiert; das JPG auf der rechten Spur als GSM 6.10 mit 2000 Hz Abtastrate, das DOCX auf der linken Spur als GSM 6.10 mit 1540 Hz Abtastrate; als MP3 exportiert und mittels URL illustriert.]

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Abb 6.9: Hannes Bajohr, „schweigen“ (2018)

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„Erotica“ lesen „schweigen“ ist also schon digitale Literatur, bevor das, was heute als wesentlich digital gilt, überhaupt berührt ist: das Internet. Gibt es also einen Unterschied zwischen digitaler Literatur und dem, was man „Internetliteratur“ nennt? Ich glaube, ja: Digitale Literatur beschäftigt sich, wie gezeigt, mit den Prozessen der Digitalisierung als Technik und als Weltwahrnehmung überhaupt; Internetliteratur ist, enger gefasst, die Literatur, die aus den Dynamiken des Netzes als sozialer und technischer Struktur erwächst. Halbzeug verstehe ich als Produkt digitaler Literatur; ein Text darin – „Erotica“ – stellt aber auch die Frage, was man als genuine Internetliteratur bezeichnen könnte. Was macht Literatur aus, die nicht nur zufällig im Internet steht, sondern wesentlich aus ihm hervorgeht und ohne es nicht möglich wäre? Die Antwort der 1990er Jahre hätte gelautet, dass man damit nur Hypertextliteratur meinen könne: Nichtlineare Texte, die zu ihrer Existenz die Interaktion der Lesenden benötigen, erschienen dem Netz am ehesten zu entsprechen. Diese allzu direkte Übertragung technischer auf literarische Strukturen erwies sich als Trugschluss: Schon damals gab es fast mehr Interpret:innen als Autor:innen dieser Literaturform; heute würde es schwerfallen, von beiden überhaupt noch welche zu finden. Derzeit blickt man wahrscheinlich eher auf die Texte, die in den sozialen Medien entstehen. Es gäbe einige Beispiele für Bücher, die auf Facebook geschrieben wurden, aber hier dient die Plattform oft eher als lose Notizensammlung, die, wie etwa im Fall von Stefanie Sargnagels Statusmeldungen, später auch als Buch erscheinen – allerdings in Auswahl, lektoriert und aller Rückkopplungsmechanismen wie Likes oder Kommentare entkleidet.21 21

Stefanie Sargnagel, Statusmeldungen, Reinbek: Rowohlt 2017.

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Eher noch eine eigene Literaturform wäre das, was vor einigen Jahren unter dem Schlagwort „Twitteratur“ diskutiert wurde. In der Tat entstand mit der formalen Beschränkung auf 140 Zeichen und der unabgeschlossenen, seriellen Ausgabe als Textstrom eine neue Art des Schreibens, auch wenn, nach der Erweiterung der Textgrenze auf 280 Zeichen, ihr Tod bereits schon wieder verkündet worden ist.22 Oft – aber nicht immer – ist es ohnehin richtiger zu sagen, dass Literatur auf Twitter oder auf Facebook stattfindet, das Ausgabemedium also einigermaßen gleichgültig ist – auch wenn es natürlich bestimmte formale Vorgaben macht und in bestimmte soziale Kontexte eingebettet ist.23 Und in den interessantesten Fällen verschwimmt die Unterscheidung zur digitalen Literatur, wenn nämlich mit Twitter-Bots die Plattform zum Ausgabemedium von generativer Literatur wird. Ein weiteres Problem besteht darin, die einzelnen Plattformen gleich für das ganze Internet zu halten und damit diese Plattform- mit Internetliteratur zu verwechseln. Dabei gibt es „soziale Medien“ jenseits dieser privatwirtschaftlich organisierten Plattformen überhaupt nicht, wohl aber ein (leider immer weniger) offenes, gerade nicht von Gewinnabsicht dominiertes Netz, in dem die Dynamiken des Internets besser zum Vorschein kommen können, weil sie mehr Zeit hatten, sich zu entfalten. Ich hätte einen anderen Vorschlag, die Frage zu beantworten: Wenn etwas verdient, „genuine Internetliteratur“ genannt zu Elias Kreuzmair, „Was war Twitteratur?“, in: Merkur Blog, 4. Februar 2016, https:// www. merkur-zeitschrift.de/2016/02/04/was-war-twitteratur, letzter Aufruf 21.1.2022. Siehe neuerdings hierzu: Elias Kreuzmair u. Magdalena Pflock, „Mehr als Twitteratur – Eine kurze Twitter-Literaturgeschichte“, in: 54Books, 24.9.2020, https://www.54books. de/mehr-als-twitteratur-eine-kurze-twitter-literaturgeschichte, letzter Aufruf 21.1.2022; Andreas Bülhoff, „Formate digitaler Umordnung. Literarische Praktiken zwischen Medienspezifik und Postdigitalität“, in: Johannes Schmid, Andreas Veits u. Wiebke Vorrath (Hg.), Praktiken medialer Transformation. Übersetzungen in und aus dem digitalen Raum, Bielefeld: Transcript 2018, S. 81–104; Niels Penke, „#instapoetry. Populäre Lyrik und ihre Affordanzen“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 49:3 (2019), S. 451–475; Berit Glanz, „‚Bin ich das Arschloch hier?‘ Wie Reddit und Twitter neue literarische Schreibweisen hervorbringen“, in: Bajohr u. Gilbert (Hg.), Digitale Literatur II, S. 106–117. 22

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werden, dann sind das nutzergenerierte Erotika. Von der FanFiction einmal abgesehen, gibt es kein anderes Textgenre im Internet, dass die Abwesenheit editorischer Kontrolle, die das offene Netz ausmacht, so für sich zu nutzen weiß wie geschriebene Pornografie. Natürlich ist das Genre erotischer Literatur kein neues, die spezifischen Eigenschaften von Interneterotika aber haben sehr viel mit ihrem Medium zu tun. Seit den frühesten Tagen des Usenet, dem direkten Vorgänger des grafischen Web, schreiben unbezahlt Millionen von Amateurautor:innen erotische Geschichten, die auf fast keinen der gegenwärtig existierenden sozialen Medien so ohne Weiteres veröffentlicht werden könnten. Neben dem Inhalt und dem kollektiv-anonymen Selbstverständnis der Schreibenden ist es vor allem ein bestimmter Stil, der diese Texte von anderen absetzt. Er ist voller Onomatopoeia und Umgangssprache, die kein:e Lektor:in durchgehen lassen würde, und enthält, was das Normalverständnis von Literatur angeht, viel an „non-standard speech“. Laut Wikipedia ist literotica.com eine der größten und ältesten Amateur-Erotika-Seiten und nimmt Platz 361 der am meisten besuchten Websites des Netzes ein. Literotica ist so umfangreich, dass es auch eigene Unterseiten auf Deutsch betreibt. Diese habe ich mit dem Webscraper Kimono in Gänze gescraped. Um die Eigenheiten der dort produzierten Sprache herauszustellen, habe ich versucht, gerade das Nicht-Standardisierte an ihr zu betonen. Ich schrieb ein Skript in der Programmiersprache Python, das aus dem Korpus alle Wörter entfernte, die es als korrektes Deutsch identifizieren konnte, und ließ weiterhin nur diejenigen übrig, die zwei oder mehr aufeinanderfolgende identische Buchstaben enthielten. Dieses Scrapen von Websites und das Erstellen von Korpora sind zentrale Schritte meiner Praxis von digitaler Literatur. Nicht immer ist klar, welche Möglichkeiten der Textverarbeitung für ein Korpus am angemessensten sind, weshalb ich gelegentlich mehrere Versionen produziere. Ein erstes Ergebnis aus 120

II. Poetologie und Praxis

dem literotica-Korpus war der Text „Vokale und Konsonanten“, der in der Literaturzeitschrift metamorphosen (38/2015) erschien. Der deviante Erotika-Stil war in diesem Stadium auf eine reine Liste gebracht, die all jenes enthielt, was seine Besonderheit ausmacht: aa aaa aaaaaa aaaaaaaaaaaaaaah aaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhh aaaaaaaaargh aaaaaaaah aaaaaaah aaaaaauuuuuuuuuiiiiiiiii aaaaah

aaaaahhrrrr aaaaahhrrrrr aaaaarggghhteteeeee aaaah aaaahhhh aaaahhhhhrrrrrr aaaahhhrrr aaaarrggghhh aaagggggggghhhhhhhhiiiiiiiiiiiiiiiii aaagggggghhhhhhhhiiiiiiiiiii […]

Das Ergebnis war ein (un-episches) Gedicht aus Onomatopoeia und bewussten Schreibfehlern, die den Sprachgebrauch bestimmen, der im Zeitalter vernetzter Kommunikation Erotik transportiert. Man könnte aber noch mehr mit diesem Korpus anstellen, meinte ich. Die Wörter der Liste schienen mir mit ihren Buchstabenwiederholungen eine grafische Qualität zu besitzen. Diese Qualität wollte ich betonen, weil sie in einem interessanten Kontrast zur rein textlichen Pornografie zu stehen schien, die ja die Abwesenheit von sichtbaren Körpern durch imaginierte wettzumachen versucht. Im Satzprogramm InDesign wählte ich als Schriftart daher einen Kursivschnitt der Bodoni, einer klassizistischen Antiquaschrift, die durch ihre starken Kontraste zwischen Grund- und Haarstrichen auffällt (wie Wikipedia weiß) und eben keine in ihrer Gestaltung ‚transparente‘, gewöhnliche Type ist, wie etwa die Times New Roman. 121

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Abb. 6.10: Die Satzoptionen in InDesign

Um statt der Fransen des Flattersatzes einen einheitlichen Textblock zu erzeugen, wählte ich für die Textausrichtung „Blocksatz (alle Zeilen)“ (Abb. 6.10). Damit stellte ich sicher, dass alle Zeilen nun dieselbe Länge besaßen. Diese Veränderung allein auf der typografischen Ebene gab dem Text eine völlig andere Anmutung: Die starken Kontraste der Schriftart und die sich durch die Textausrichtung ergebenden Muster ließen plötzlich körperartige Gebilde entstehen – ein Text-Bild, das die verbale Absurdität der Lust, wie sie in der Nicht-Standardsprache von Netzerotika formuliert wird und die sich nah an der Grenze zur Unverständlichkeit bewegt, wieder illustrativ auffängt. „Erotica“, wie der siebenseitige Text nun heißt und wie er sich in Halbzeug findet (Abb. 6.11), ist eine Antwort auf die Frage, was Internetliteratur ist; mit den Mitteln der 122

II. Poetologie und Praxis

digitalen Literatur stellt er ihre Besonderheiten aus; und wie 0x0a macht er sich an die Formulierung dessen, was als tendenziell Unsagbares im Digitalen oft unformuliert bleibt.24

Die Auswahl der deutschen literotica-Texte als Korpus ist auch der Länge des daraus resultierenden Textes geschuldet. Für Literaturzeitschriften und Gedichtbände sind sieben Seite ein noch annehmbarer Umfang. Für 0x0a, das nur mit für uns kostenlosem Print-on-Demand operiert, sind solche Längenbeschränkungen gegenstandslos. Mit dem gesamten, vor allem englischsprachigen Material von literotica, dessen Korpus etwa zehn Millionen Wörter umfasst, habe ich noch eine umfangreichere Version hergestellt: Erotica, das Buch, ist 56 Seiten lang und kann auf 0x0a eingesehen werden, http://0x0a.li/de/text/erotica-2, letzter Aufruf 21.1.2022. 24

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i i j a j a a j a a a j a a a a j a a a a a a a a a j a a a a a a a a a a a a j a a a a a a a a a a a a a j a a a a a h h j a a a a a h h h h j a a a a h a a j a a a a h h h h h j a a a a h h r r r j a a a c j a a a h h j a a a h h h j a a a h h h r j a a a h h h r r j a a a h h r r j a a a h h r r r j a a a h h r r r r j a a a h r j a a j a a h j a a h h j a a h h h h r r r 32

Abb. 6.11: Hannes Bajohr, „Erotica“ (2018), Ausschnitt

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WAS IST LITERATUR? EINE MINIMALPOSITION h h h r r

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h r r r r h h r r a hLiteratur h gibt r es nicht, r r r jedenfalls nicht ohne die Verabredung a h h dazu. Literatur ist vor allem die Geste, sie dazu zu erklären. h h r r r r r r Diese Gestenhaftigkeit, diese Äußerlichkeit der Literatur h h m m m bedeutet, dass man zwar mit einigem Recht vermuten kann, h m m ein unbekannter Text sei literarisch, aber umgekehrt nie ausm zuschließen vermag, er sei es nicht – vielleicht hat man nur die m h m Geste übersehen, h die ihn dazu h macht. Diese literarische Entgrenzung m h h h m m ist das Resultat einer Radikalisierungsbewegung, die durch m h h h r rdie Avantgarden des zwanzigsten Jahrhunderts – von Dada über m h h m m h hKonkretismus bis Oulipo – begonnen wurde und die von denen m h m h des 21. Jahrhunderts – in konzeptueller und digitaler Literatur m m h h– fortgeführt wird. Gerade die beiden letzteren drängen die m m h h hLiteratur noch weiter über ihre m mtraditionellen h hParameter h hinaus: h den Text als Grundbedingung m m vonhLiteratur h undhdie Grenze r zur r Welt, die diese Literatur darstellt. m hKonzeptuelle h h Literatur r r erklärt r die Geste selbst zum Text. Wie m mDuchamp h ein hUrinal zur r Kunst r machte, indem er es als Kunst m m auswies, h h rsie gewöhnlich r r nicht als literarisch gelesene nimmt m mTexte m h siehzu Literatur. h und erklärt Wie der Konzeptkunst ist m dieser m hLiteraturform h h der h Gedanke h wichtiger als sein Produkt, m m heißt, m dass h imhExtremfall h hgar kein Text mehr für das Werk was f f f nötig f fist:fElisabeth f h Tonnards h h h Invisible Book ist rein imaginär, wurde nie gedruckt – aber die Geste, die das Buch zum Buch erklärt,33erlaubte es Tonnard, alle ‚Exemplare‘ der auf 200 limitierten Auflage zu verkaufen, sodass es nun in Bibliotheken verzeichnet ist und auf Ebay gehandelt wird.1

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Elisabeth Tonnard, The Invisible Book, 2012, http://elisabethtonnard.com/works/ the-invisible-book, letzter Aufruf 21.1.2022; siehe dazu Annette Gilbert, Im toten Winkel 1

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Macht die konzeptuelle Literatur im Extremfall den Text selbst überflüssig, geht die digitale Literatur den umgekehrten Weg und besteht auf der radikalen Textlichkeit einer Welt, die heute vollends digital zu werden verspricht. Das ist, anders als die alte Metapher von der Welt als Buch, durchaus wörtlich zu verstehen. Im Digitalen ist tatsächlich alles Text, denn es ist alphanumerisch codiert – Bilder, Töne, sogar Text selbst sind, auf einer tieferen Ebene, Text, der wiederum bearbeitet, prozessiert und transcodiert werden kann. Damit ist wird das, was manchen als die große Gefahr der Gegenwart erscheint – die Manipulierbarkeit digitaler Daten –, zur Chance einer Literatur, die diese Daten selbst als literarisch auffasst und sich auf den Code der Welt versteht. Literatur gibt es nicht. Sie ist Verabredung, die vor allem vom Jenseits ihrer Ränder her, aus dem Raum des Nicht-mehr-Literarischen, immer aufs Neue auf die Probe gestellt und bestimmt wird. Nur so lernt man die Gesten zu erkennen, in der die künftige Literatur beschlossen liegt – vielleicht jenseits des Texts, vielleicht in dessen Überhandnehmen. Traditionalist:innen mögen diese Tendenz beklagen und sie für eine Profanierung des Literarischen halten. In Wirklichkeit ist es das Gegenteil: die tatsächliche und endgültige „Poetisierung der Welt“.2

der Literatur. Grenzfälle literarischer Werkwerdung seit den 1950er Jahren, Paderborn: Fink 2018, S. 60–63. 2 Novalis, Werke, hg. v. Gerhard Schulz, München: Beck 2001, S. 288

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III. KÜNSTLICHE INTELLIGENZ UND LITERARISCHES SCHREIBEN

ALGORITHMISCHE EINFÜHLUNG. FÜR EINE KRITIK ÄSTHETISCHER KI 1. Das prometheische Unbehagen, oder: Kreativität als letzte differentia Das Verhältnis von Kunst und Künstlicher Intelligenz lässt sich treffend anhand einer Beobachtung illustrieren, die der deutsche Philosoph Günther Anders 1942 im kalifornischen Exil aufzeichnete. In einem Tagebucheintrag, der später das erste Kapitel seines Buches Die Antiquiertheit des Menschen werden sollte, schilderte Anders den Besuch einer Technikausstellung, bei dem sich ein Freund recht merkwürdig verhielt – als schämte er sich, ein Mensch und keine Maschine zu sein. Anders glaubte, damit „einem völlig neuen Pudendum auf die Spur gekommen [zu sein]; einem Scham-Motiv, das es in der Vergangenheit nicht gegeben hat. Ich nenne es vorerst für mich ‚Prometheische Scham‘ – die Scham vor der beschämend hohen Qualität der selbstgemachten Dinge“.1 Angesichts der Perfektion, Zuverlässigkeit und Wiederholbarkeit moderner Maschinen und massenproduzierter Objekte empfinde der Mensch sich selbst als mangelhaft: Unfertig, unzuverlässig, gefangen in zerbrechlichen Körpern und konfrontiert mit dem Makel, geboren statt produziert worden zu sein; diese Verlegenheit des Schöpfers angesichts seiner Schöpfung sei nur das erste Anzeichen für die drohende Obsoleszenz des Menschen. Man mag Anders’ Analyse in ihrer Apokalyptik für sachlich fragwürdig halten, kann aber dennoch ihren heuristischen Nutzen anerkennen: Engel und Tiere – traditionell die kosmoGünther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck 1956, S. 23.

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logisch Überlegenen und die ontologisch Unterlegenen – bilden schon lange nicht mehr die Basis menschlicher Selbstvergleiche. In einer säkularen Gesellschaft, in der die Herrschaft über die Natur total geworden ist, werden Maschinen und das serialisierte Produkt zu den neuen Folien kulturell artikulierter Selbstverständnisse. Dennoch ist ‚Scham‘ vielleicht nicht das richtige Wort für das, was vielmehr als drückende Sorge, Nervosität und Unruhe an die Oberfläche drängt. Es mag sinnvoller sein, von einem prometheischen Unbehagen zu sprechen: dem Unbehagen, es könnte sich mit dem Statusverlust als Macher auch das hierarchische Verhältnis von Mensch und Maschine umkehren. Prometheisches Unbehagen scheint sich in jeder Epoche neu zu artikulieren.2 Die aktuelle Diskussion über Künstliche Intelligenz und Kreativität ist lediglich die jüngste Iteration dieser Angst und auch hier feiert der Mensch-Maschine-Vergleich fröhliche Urstände. Wo aber in früheren Zeiten das Denkvermögen zur differentia zwischen Mensch und Maschine wurde, ist die aktuelle Grenze solcher Vergleiche die Kunst. Auch sie ist eine mächtige Quelle prometheischen Unbehagens. Konnten 1968 in der Beschreibung der einflussreichen Ausstellung Cybernetic Serendipity computergenerierte Kunstwerke nüchtern als „kreative Formen, die durch Technologie hervorgebracht wurden“,3 vorgestellt – und damit als der Kontrolle durch ihre menschlichen Schöpfer:innen untergeordnet ausgewiesen – werden, so steht dieses klare Verhältnis heute in Zweifel, wenn es um die gegenwärtige Generation von KI geht:

Siehe Stefan Rieger, „‚Bin doch keine Maschine…‘. Zur Kulturgeschichte eines Topos“, in: Christoph Engemann u. Andreas Sudmann (Hg.), Machine Learning. Medien, Infrastrukturen und Technologien der Künstlichen Intelligenz, Bielefeld: Transcript 2018, S. 117–142. 3 „Cybernetic Serendipity“, in: The Magazine of the Institute of Contemporary Arts 5 (1968), S. 2. 2

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

Abb. 8.1: Obvious Collective, Portrait of Edmond de Belamy (2018). Die Signatur des Werks ist die Funktion, die es erzeugt hat.

machine learning.4 In Form künstlicher neuronaler Netze wird es auch zur Erstellung von Kunstwerken eingesetzt. Um nur das prominenteste Beispiel zu nennen: Portrait of Edmond de Belamy aus dem Jahr 2018 (Abb. 8.1),5 ein Tintenstrahldruck auf 4 Siehe zur Einführung Ethem Alpaydın, Machine Learning. The New AI, Cambridge, Mass.: MIT Press 2016 und John D. Kelleher, Deep Learning, Cambridge, Mass.: MIT Press 2019. 5 Obvious, Edmond de Belamy, 2018, https://obvious-art.com/portfolio/edmond-debelamy, letzter Aufruf 21.1.2022.

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Leinwand, der als das erste „KI-generierte Gemälde“ angepriesen wurde, erzielte 2018 bei Christie’s 432 000 Dollar. Obwohl mit Computern produzierte Kunst deutlich älter ist,6 gab die Tatsache, dass eine KI an der Produktion beteiligt war und sogar als Künstler:in auftrat (die Signatur unten rechts auf dem Gemälde ist die mathematische Formel des Lernalgorithmus) diesem Werk den Charakter einer Zäsur. Obwohl es weit anspruchsvollere KI-Kunstwerke gibt – man denke etwa an Trevor Paglens Serie Adversarially Evolved Hallucinations (2017) oder Hito Steyerls Installation Power Plants (2019) –, waren doch der stolze Verkaufspreis und die Verwendung traditioneller Attribute der Malerei bis hin zum vergoldeten Bilderrahmen ein Grund, warum Edmond de Belamy, wie Ian Bogost es genannt hat, einen „AI goldrush“ in der bildenden Kunst auslöste; seitdem gelangen mehr und mehr Werke wie dieses auf den Kunstmarkt.7 Auf dem Gebiet der Textkunst hat das maschinelle Lernen seit den frühen 2010er Jahren eine ähnliche Popularität erfahren, nicht zuletzt durch die Veröffentlichungen sogenannter „großer Sprachmodelle“ wie den vom Thinktank OpenAI entwickelten GPT-2 (2019) und GPT-3 (2020).8 Solche Sprachmodelle sind dazu in der Lage, erstaunlich menschenähnliche Texte zu produzieren, die über mehrere Absätze hinweg kohärent verlaufen. Der Blogeintrag von Open AI, in dem GPT-2 im 6 Siehe Grant T. Taylor, When the Machine Made Art. The Troubled History of Computer Art, London: Bloomsbury 2014. 7 Ian Bogost, „The AI-Art Gold Rush Is Here“, in: The Atlantic, 6. März 2019, https:// www.theatlantic.com/technology/archive/2019/03/ai-created-art-invades-chelsea-gallery-scene/584134, letzter Aufruf 21.1.2022; siehe für die Auseinandersetzungen mit KI in der Kunst: Joanna Zylinska, AI Art. Machine Visions and Warped Dreams, London: Open Humanities Press 2020 und, journalistisch, Hanno Rauterberg, Die Kunst der Zukunft. Über den Traum von der kreativen Maschine, Berlin: Suhrkamp 2021. 8 Dies sind nicht mehr die größten Modelle, aber ihre relative Benutzerfreundlichkeit sowie die Integration von GPT-3 in einen kostenpflichtigen Dienst haben sie zum Defacto-Standard für die nicht-professionelle Nutzung von automatischer Sprachgenerierung werden lassen; Open-Source-Initiativen wie GPT-NeoX (EleutherAI) haben, zumindest zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels, weit weniger Nutzer, siehe https://www.eleuther.ai, letzter Aufruf 18.2.2022.

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

Fanfarenton vorgestellt wurde, enthält als Beispiel die Aufforderung an das Modell, eine Eingabe fortzusetzen, die Figuren aus Herr der Ringe nennt – das Ergebnis ist in Struktur und Tonfall Fantasy-Fiction.9 GPT-3 wiederum ist etwa hundertmal größer als sein Vorgänger. Im Paper, das das Modell einführte, wurde GPT-3 selbst zur Lyrikproduktion animiert: „Schreibe ein Gedicht im Stil von Wallace Stevens mit dem Titel ‚Shadows on the Way‘.“ Ob das Resultat wirklich Stevens emuliert, sei dahingestellt, doch es ist ohne Frage ein Gedicht.10 Der Erfolg von Modellen wie diesen hat auf Seiten der Enthusiasten der computational creativity die Erwartung geschürt, dass maschinelles Lernen komplexe, kohärente Textwerke erstellen könne – nicht zuletzt auch literarische. Aber für die meisten anderen legen sowohl Edmond de Belamy als auch die GPT-Modelle mit einiger Regelmäßigkeit die Frage nahe, ob Künstler:innen durch Maschinen ersetzt zu werden drohen. So fürchtet die Lyrikerin Ulla Hahn die Gefahr einer poetischen KI und die „Bedrohung dessen, was der Mensch als sein Alleinstellungsmerkmal vor allen fleischgewordenen

Alec Radford u.a., „Better Language Models and Their Implications“, in: OpenAI Blog, 14. Februar 2019, https://openai.com/blog/better-language-models, letzter Aufruf 21.1.2022. Zu den ausführlichsten Untersuchungen des poetischen Potenzials von GPT-3 und dem Vorgängermodell GPT-2 gehören die Texte des pseudonymen „Gwern Branwen“, siehe „GPT-2 Neural Network Poetry“, 29. Oktober 2019, https://www.gwern. net/GPT-2, letzter Aufruf 21.1.2022; „GPT-3 Creative Fiction“, 11. Mai 2021, https://www. gwern.net/GPT-3, letzter Aufruf 21.1.2022 und „On GPT-3. Meta-Learning, Scaling, Implications, and Deep Theory“, 3. Juni 2021, https://www.gwern.net/newsletter/2020/ 05#gpt-3, letzter Aufruf 21.1.2022. 10 Eines der Gedichte, die auf diesen ,prompt‘ hin entstanden, lautet: „I must have shadows on the way / If I am to walk I must have / Each step taken slowly and alone / To have it ready made // And I must think in lines of grey / To have dim thoughts to be my guide / Must look on blue and green /And never let my eye forget / That color is my friend / And purple must surround me too // The yellow of the sun is no / Intrusive than the bluish snow / That falls on all of us. I must have / Grey thoughts and blue thoughts walk with me / If I am to go away at all.“ Tom B. Brown u.a., „Language Models Are Few-Shot Learners“, in: ArXiv, 28. Mai 2020, http://arxiv.org/abs/2005.14165, S. 49, letzter Aufruf 21.1.2022. 9

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Geschöpfen ansah: Sprachfähigkeit und Kreativität“.11 Das ist eine Äußerung prometheischen Unbehagens par excellence; auch sie identifiziert das Kunstschaffen als die differentia, durch die der Mensch seit je über die Maschinen triumphieren konnte, der aber heute Gefahr läuft, diesen Vorsprung zu verlieren. Andere gehen von der Verteidigung direkt zum Angriff über: Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Philipp Schönthaler hat in einem dicken Buch dargelegt, warum generative Verfahren der Literatur gar nichts anhaben können, schließlich übersteige sie stets ihre Parametrisierung, ja, arbeite ihr aktiv entgegen.12 Dass Hahn als Lyrikerin die Lyrik und Schönthaler als Romancier den Roman dabei als je besonders unprogrammierbar behaupten, kann man getrost als Hinweis auf die Bedrängnis verstehen, in der sie sich wähnen.13 Dieses Unbehagen kommt sogar bei solchen Autor:innen, die der computergenerierten Kunst und Literatur eigentlich positiv gegenüberstehen, in den ästhetischen und anthropologischen Kategorien zum Vorschein, die sie verwenden. In seinem Buch The Creativity Code untergräbt Marcus du Sautoy, Professor für Mathematik an der Universität Oxford, seinen Enthusiasmus angesichts der Möglichkeiten maschineller Kunst durch seine oft wiederholte Überzeugung: „[E]s ist die Kreativität, die uns menschlich macht“. Du Sautoy geht sogar so weit, einen biologisch verankerten „Kreativtrieb“ zu postulieren – hier wird die differentia evolutionär grundiert –, den er 11 Ulla Hahn, „Wenn Roboter das Wort führen. Nachdenken über die Folgen Künstlicher Intelligenz“, in: Krachkultur 26:20 (2019), S. 14–54, hier S. 30f., 48. 12 Philipp Schönthaler, Die Automatisierung des Schreibens und Gegenprogramme der Literatur, Berlin: Matthes & Seitz 2022. 13 Gemein ist Hahn und Schönthaler – neben einer Vorliebe für Martin Heidegger, auf den sie sich, erstaunlich unkritisch, für seine Lehre von der wahrheitsentbergenden Kraft der Dichtung beziehen –, dass sie stets mit dem Maximalprogramm einer totalen Ersetzung nichtprogrammierter durch programmierte Literatur rechnen; das geht am Gros der tatsächlich in der Gegenwart praktizierten digitalen Literatur völlig vorbei und konstruiert ein Konkurrenzverhältnis, das man auch nur wieder als Ausdruck des prometheischen Unbehagens beschreiben kann.

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

gegen das Vordringen der Maschinen in Kunst, Musik und Literatur ins Feld führt. So verfolgt er in seinem Buch die Frage: „Können Maschinen kreativ sein?“ und beschließt es mit der trotzigen Proklamation: „Kreativität bedeutet für Menschen zu zeigen, dass sie keine Maschinen sind.“14 Dass Kunst ein Testfall für die Mensch-Maschine-Differenz sein kann, glaubt auch Arthur I. Miller in seinem Buch The Artist in the Machine. Obwohl Miller nicht-menschlicher Ästhetik gegenüber aufgeschlossener ist als du Sautoy, kehrt seine Rhetorik dennoch stets zu jenem anthropologischen Vergleich zurück, den er doch als nur eine Option unter vielen behauptet. Er legt nahe, dass Maschinen weniger Vernunft oder Bewusstsein besitzen müssen, um Kunst zu machen, als vor allem Emotionen,15 die dann in ihren Produkten zum Ausdruck kämen. In der KI-Kunst, so Miller, „drücken Computer nicht nur ihre Kreativität, sondern ihr Seelenleben [their inner lives] aus.“ Die Rhetorik der Innerlichkeit und des Ausdrucks deutet auf eine sehr spezifische, postromantische Vorstellung vom Kunstschaffen hin. Es ist nicht überraschend, dass Miller das

14 Marcus du Sautoy, The Creativity Code. How AI is Learning to Write, Paint, and Think, London: Fourth Estate 2019, S. 297, 302. Stephanie Catani hat dieselbe Anthropologisierung der Kreativität festgestellt und auf ihre kunstgeschichtlichen Vorgänger verwiesen, etwa Joseph Beuys Gleichung „Kunst = Mensch = Kreativität = Freiheit“, Stephanie Catani, „Generierte Texte. Gegenwartsliterarische Experimente mit künstlicher Intelligenz“, in: Andrea Bartl, Corina Erk, Jörn Glasenapp (Hg.), Schnittstellen. Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Film, Fernsehen und digitalen Medien, Paderborn: Fink 2022, S. 247–266. 15 Das gemahnt an die bereits von Alan Turing ablehnend zitierte Forderung Geoffrey Jeffersons: „Not until a machine can write a sonnet or compose a concerto because of thoughts and emotions felt, and not by the chance fall of symbols, could we agree that machine equals brain – that is, not only write it but know that it had written it. No mechanism could feel (and not merely artificially signal, an easy contrivance) pleasure at its successes, grief when its valves fuse, be warmed by flattery, be made miserable by its mistakes, be charmed by sex, be angry or depressed when it cannot get what it wants.“ Zit. nach Alan Turing, „Computing Machine and Intelligence“, in: Mind 59:236 (1950), S. 433–460, hier S. 445f.

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Wort ,Genie‘ großzügig verwendet, um sowohl menschliche als auch maschinelle Künstler zu beschreiben.16 Miller und du Sautoy sind Beispiele aus der Populärliteratur, aber für eine wachsende Zahl von Autor:innen, die versuchen, das künstlerische Schaffen zu operationalisieren und zu simulieren, wird Kreativität zum entscheidenden Kriterium von Kunst. Häufig geschieht das über evolutionsbiologische oder neurowissenschaftliche Ansätze.17 Aber solche derart anthropozentrischen Kategorien ignorieren jede zeitgenössische ästhetische Theorie, die keine Neuroästhetik ist, und ihre Konzeption von Kunst ist eklatant veraltet.18 Es ist bezeichnend, dass die nicht-digitalen Kunstwerke in du Sautoys Buch kaum jünger als sechzig Jahre sind,19 als in den 1950er Jahren der Abstract Expressionism ein letztes Mal das spontane, kreative Genie feierte. Wichtiger aber: Diese Ansätze sind unzureichend, um das Bedürfnis zu befriedigen, das sie selbst artikulieren – eine Kritik ästhetischer KI zu entwickeln. Sie sind zu sehr mit prometheischem Unbehagen beladen, um zu erfassen, was für den ästhetischen Gebrauch von KI spezifisch ist. Stattdessen tendieren sie dazu, nach einer Logik der Übertragung zu arbeiten – zuerst vom Menschen auf die Maschine und dann von alten Medien auf neue. Edmond de Belamy ist hier das beste Beispiel: das alte Medium der Malerei in einem neuen medialen Gewand, nicht von Menschen geschaffen, sondern (angeblich) Arthur I. Miller, The Artist in the Machine. The World of AI-Powered Creativity, Cambridge, Mass.: MIT Press 2019, S. 54. Denis Dutton, The Art Instinct. Beauty, Pleasure, and Human Evolution, London: Bloomsbury 2009 plädiert für einen evolutionären Ansatz zur Erklärung des Phänomens Kunst, während Anna Abraham, The Neuroscience of Creativity, Cambridge: Cambridge University Press 2018 die neurowissenschaftliche Route wählt. 18 Siehe für meine Kritik an der Idee, Kunst ließe sich als Kreativität operationalisieren, „Keine Experimente“ in diesem Band. 19 Einzige Ausnahme ist Gerhard Richters Permutationswerk 4900 Farben (2007). Während du Sautoy anhand dieser Arbeit über die Verwendung von Mathematik in der Kunst nachdenkt, ignoriert er sie völlig als Beispiel für eine nicht-expressive, konzeptuelle Kunstpraxis, siehe du Sautoy, Creativity Code, S. 92f. 16

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

von einer Maschine produziert. Interessanter und produktiver als diese Übertragung mag es aber sein, ästhetische Ansätze jenseits der Folie des Menschlichen zu erforschen und die Möglichkeiten des neuen Mediums zu erkunden, statt schlicht alte zu replizieren. Ich möchte nicht von ‚bewussten‘ Maschinen sprechen – die gibt es nicht – oder einem spezifisch menschlichen Schaffensdrang das Wort reden. Vielmehr will ich die Art und Weise betrachten, in der diese Werke funktionieren und welche technologischen und ästhetischen Strukturen sie umsetzen. Obwohl viele meiner Ausführungen auf die Künste als Ganzes anwendbar sind, liegt mein Fokus auf der digitalen Literatur. Digitale Literatur ist als Testfall für eine Kritik der ästhetischen KI nützlich, weil sie eine gut erforschte Geschichte und ein klar definiertes Profil besitzt. Gerade der Vergleich mit den ‚traditionelleren‘ Arten digitaler Literatur streicht die Neuartigkeit von auf machine learning basierender Textproduktion heraus. Den neuen Typus möchte ich vorläufig das konnektionistische, den alten Typus das sequenzielle Paradigma nennen. Während das regelbasierte sequenzielle Paradigma der digitalen Literatur auf einen reichen kritischen Apparat zurückblicken kann, ist das statistisch operierende konnektionistische Paradigma noch untertheoretisiert. Im Folgenden werde ich einige Überlegungen zu den Unterschieden zwischen den beiden Paradigmen anstellen und andeuten, was bei der Entwicklung einer Kritik der ästhetischen KI im Auge zu behalten ist, damit sie die Fallstricke des prometheischen Unbehagens und ihrer Übertragung ästhetischer Kategorien zwischen Menschen und Maschinen vermeiden kann.

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2. Zwei Arten digitaler Literatur: Sequenziell und konnektionistisch Digitale Literatur ist ein komplexes Feld. Es beinhaltet eine derart große Vielfalt an Genres und Technologien, dass es schwierig ist, eine Definition aufzubieten, die über die grundlegendsten Merkmale hinausgeht.20 In der Formulierung der Electronic Literature Organization bezieht sich der Begriff auf „Werke mit einem wichtigen literarischen Element, die sich die Möglichkeiten und den Kontext zunutze machen, die der eigenständige oder vernetzte Computer bietet.“21 Die Literaturwissenschaftlerin Jessica Pressman stellte fest, dass sich viele neuere Werke der digitalen Literatur bewusst wieder an der Tradition der Moderne orientieren.22 Unter den Gattungen und Traditionen der digitalen Literatur ist die der Moderne am nächsten stehende zugleich auch die älteste. Man bezeichnet sie gemeinhin als generative Literatur und es ist dieses Genre, auf das ich mich in diesem Essay konzentrieren möchte. In ihrer grundlegendsten Form bezeichnet generative Literatur die automatische Produktion von Text nach vorgegebenen Parametern, die in der Regel einer kombinatorischen, manchmal auch aleatorischen Logik folgt. Sie betont eher die Produktion als die Rezeption des Werks (im Gegensatz etwa zur Hypertext-Literatur, die die Rezeptionsseite stark macht). Scott Rettberg hebt in seinem 2019 erschienenen Überblickswerk Electronic Literature die Verbindung der generativen Tradition

Siehe Thorsten Ries, „Digitale Literatur als Gegenstand der Literaturwissenschaft“, in: Hannes Bajohr u. Annette Gilbert (Hg.), Digitale Literatur II. Sonderband Text+Kritik, München: edition text+kritik 2021, S. 24–34. 21 Zit. nach N. Katherine Hayles, Electronic Literature. New Horizons for the Literary, Notre Dame: University of Notre Dame Press 2009, S. 3. 22 Siehe Jessica Pressman, Digital Modernism. Making It New in New Media, Oxford: Oxford University Press 2014. 20

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Abb. 8.2: Theo Lutz, „Stochastische Texte“ (1959), Ausschnitt

zu Dada und Surrealismus, zu Oulipo und Fluxus hervor; die Konzeptkunst ließe sich als weitere Referenz hinzufügen.23 Doch es ist nicht nur ihr Alter und ihre Tradition, sondern auch die Verwendung der zugrunde liegenden Technologie, die der generativen Literatur einen besonderen Status unter den vielen Spielarten der digitalen Literatur verleiht. Sie scheint ihre technische Grundlage bewusst zu reflektieren. Das zeigt sich schon in einer der ersten Instanzen generativer Literatur überhaupt: Theo Lutz’ „Stochastische Texte“, ein Jahr nach Erscheinen von Anders’ Buch über die prometheische Scham geschrieben – oder besser gesagt: generiert. „Stochastische Texte“ bezeichnet den Output eines Algorithmus, der Ele23

Siehe Scott Rettberg, Electronic Literature, Cambridge: Polity 2019.

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mente aus einem Franz Kafkas Schloss entnommenen Vokabular kombiniert.24 Jede Zeile enthält Aussagen, die durch Konjunktionen verbunden oder durch einen Punkt getrennt sind, wie zum Beispiel „NICHT JEDER BLICK IST NAH. KEIN DORF IST SPÄT“ oder „EIN SCHLOSS IST FREI UND JEDER BAUER IST FERN“ oder „JEDER FREMDE IST FERN. EIN TAG IST SPÄT“, usw. (Abb. 8.2). Lutz’ „Stochastische Texte“ gehören dem an, was ich das sequenzielle Paradigma generativer Literatur nennen möchte: Solche Werke entstehen als Ergebnis einer Abfolge von Regelschritten; ihre Gattungsidentität liegt eher in ihrer Produktion als in ihrer Rezeption begründet. Rul Gunzenhäuser, ein Kollege von Lutz, stellte zwar nicht den Programmcode zur Verfügung, skizzierte aber in einem späteren Artikel das Flussdiagramm des Programms, und dessen sequenzielle, schrittweise Natur ist in der Struktur von Wenn-Dann-Verweisungen offensichtlich (Abb. 8.3). Statt Intuition, Genie oder Ausdruck nachbilden zu wollen, ist es die Logik der Maschine selbst, also die Logik deterministisch ausgeführter Regelschritte, die in den „Stochastischen Texten“ ästhetisch normativ wird. Man könnte darin eine algorithmische Einfühlung erkennen, eine nichtanthropozentrische Einfühlung im Sinne eines hermeneutischen Verstehens, die nicht auf die psychischen Zustände einer Künstler:innenpersönlichkeit abzielt, sondern darauf, den Prozess der materiellen Herstellung des Werkes zu verstehen.25

24 Theo Lutz, „Stochastische Texte“, in: augenblick 4:1 (1959), S. 3–9. Siehe dazu Kurt Beals, „‚Do the New Poets Think? It’s Possible‘. Computer Poetry and Cyborg Subjectivity“, in: Configurations 26:2 (2018), S. 149–177 sowie die Beiträge in Barbara Büscher, Christoph Hoffmann u. Hans-Christian von Herrmann (Hg.), Ästhetik als Programm. Max Bense / Daten und Streuungen, Berlin u. Zürich: Diaphanes 2004. 25 Ich verwende den Begriff „Einfühlung“ hier etwas ironisch und in Anspielung auf die hermeneutische Tradition als Bezeichnung für eine Verstehensbewegung, die zu Erkenntnissen führt; in vorliegenden Fall ist die Einfühlung aber gerade nicht anthropozentrisch.

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

Abb. 8.3: Rul Gunzenhäuser, „Zur Synthese von Texten mit Hilfe programmgesteuerter Ziffernrechenanlagen“ (1963), Ausschnitt

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Für Lutz’ Text besitzen wir nur eine abstrakte Beschreibung der einzelnen Schritte – der von ihm verwendete Code ist (noch) nicht verfügbar.26 Bei einem Großteil zeitgenössischer digitaler Literatur ist das zum Glück anders. Ein neueres und komplexeres Beispiel für ein sequenzielles Werk, das zu algorithmischer Einfühlung einlädt, ist Nick Montforts Megawatt von 2014.27 Es reflektiert dabei nicht nur seine eigene strukturelle Beschaffenheit, sondern bezieht sich auch intertextuell auf die eines Klassikers der Moderne: Es ist sowohl eine Interpretation als auch eine Aneignung von Samuel Becketts Roman Watt.28 Zwischen 1942 und 1944 geschrieben und erst 1958 veröffentlicht, schildert Watt den Eintritt des titelgebenden Mr. Watt als Diener in den Haushalt des Mr. Knott. Es ist jedoch nicht die fabula, sondern die sprachliche Struktur, die textliche Oberfläche, die diesen Roman auszeichnet. Es fallen eine Reihe extrem repetitiver Passagen auf, die seit der Veröffentlichung von Watt als Versagen der Sprache und als Kritik an der unüberwindbaren Hyperrationalität der Moderne interpretiert worden sind.29 Exemplarisch eine Stelle, in der Watt einem Gesprächspartner nicht folgen kann, weil er von Stimmen in seinem Kopf abgelenkt wird:

Toni Bernhart ist dabei, den originalen Programmiercode für „Stochastische Texte“ zu beschaffen. Eine erste Vorschau findet sich in Toni Bernhart, „Beiwerk als Werk. Stochastische Texte von Theo Lutz“, in: editio 34:1 (2020), S. 180–206 sowie ders. u. Sandra Richter, „Frühe digitale Poesie. Christopher Strachey und Theo Lutz“, in: Informatik Spektrum 44 (2021), S. 11–18. 27 Nick Montfort, Megawatt. A Novel. Computationally, Deterministically Generated Extending Passages from Samuel Beckett’s „Watt“, Cambridge, Mass.: Bad Quarto 2014. Ich habe das Buch – im Code – ins Deutsche übertragen als: Nick Montfort, Megawatt. Ein deterministisch-computergenerierter Roman, Passagen aus Samuel Becketts „Watt“ erweiternd. Übertragen von Hannes Bajohr auf Grundlage der deutschen Erstübersetzung von Elmar Tophoven, Berlin: Frohmann 2019. 28 Samuel Beckett, Watt, New York: Grove Press 1970. 29 Siehe Linda Ben-Zvi, „Samuel Beckett, Fritz Mauthner, and the Limits of Language“, in: PMLA 95:2 (März 1980), S. 183–200, hier S. 183; Shane Weller, „Humanity in Ruins. Samuel Beckett“, in: ders., Language and Negativity in European Modernism, Cambridge 2018, S. 90–125. 26

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

Now these voices, sometimes they sang only, and sometimes they cried only, and sometimes they stated only, and sometimes they murmured only, and sometimes they sang and cried, and sometimes they sang and stated, and sometimes they sang and murmured, and sometimes they cried and stated, and sometimes they cried and murmured, and sometimes they stated and murmured, and sometimes they sang and cried and stated, and sometimes they sang and cried and murmured, and sometimes they cried and stated and murmured, and sometimes they sang and cried and stated and murmured, all together, at the same time, as now, to mention only these four kinds of voices, for there were others. And sometimes Watt understood all, and sometimes he understood much, and sometimes he understood little, and sometimes he understood nothing, as now.30 Eine jüngere Interpretation von Watt durch Amanda M. Dennis spricht von diesen Wiederholungen als „obsessive loops“. „In einigen Passagen scheint die Sprache ‚glitches‘ zu erleiden, als wäre sie ein fehlerhaftes Computerprogramm oder elektronisches Gerät.“31 Wenn man sich Megawatt ansieht – Nick Montforts an Watt angelehnten Text dieses Namens –, beginnt man zu zweifeln, ob die Metapher des „glitch“, also des technischen Beckett, Watt, S. 29; die deutsche Übersetzung lautet: „Bald sangen sie nur, bald schrien sie nur, bald sprachen sie nur, bald flüsterten sie nur, bald sangen und schrien sie, bald sangen und sprachen sie, bald sangen und flüsterten sie, bald sprachen und flüsterten sie, bald sangen und schrien und sprachen sie, bald sangen und schrien und flüsterten sie, bald schrien und sprachen und flüsterten sie, bald sangen und schrien und sprachen und flüsterten sie, alle zusammen, auf einmal, wie jetzt, um nur diese vier Arten von Stimmen zu nennen, denn es gab noch andere. Und bald verstand Watt alles, und bald verstand er viel, und bald verstand er wenig, und bald verstand er nichts, wie jetzt.“ Samuel Beckett, Watt, übers. v. Elmar Tophoven, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 233. – Siehe neuerdings auch Simon Roloffs Diskussion dieser Stelle, bei der er sich auf die englische Version des vorliegenden Aufsatzes beruft, Simon Roloff, „Halluzinierende Systeme. Generierte Literatur als Textverarbeitung“, in: Merkur 75:5 (2021), S. 73–81, hier S. 75f. 31 Amanda M. Dennis, „Glitches in Logic in Beckett’s Watt. Toward a Sensory Poetics“, in: Journal of Modern Literature 38:2 (2015), S. 103–116, hier S. 104. 30

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Fehlers, wirklich angemessen ist. Tatsächlich zeigt Megawatt, dass die „obsessive loops“ keine Pannen in Becketts Programm sind, sondern im Gegenteil seine konsequenteste Ausführung darstellen. In der Tat scheinen diese sich wiederholenden, listenartigen Schleifen einer immanenten Regel zu folgen – einem Algorithmus. Betrachtet man diese Passage aus Watt genauer, ist es möglich, auf das Produktionsprinzip dessen zu schließen, was Hugh Kenner Becketts „kartesische Sätze“ genannt hat.32 Der erste Satz wendet eine einfache Regel der Texterzeugung an: die Permutation von kombinatorischen Möglichkeiten aus einer endlichen Menge von Elementen. Die „voices“ können vier mögliche Zustände annehmen – „sang“, „cried“, „stated“, „murmured“ –, entweder einzeln oder in verschiedenen Kombinationen, und Beckett geht sie eine nach der anderen durch. Anschließend werden Watts Verstehen nacheinander die Werte „all“, „much“, „little“ und „nothing“ übertragen, wobei die Verben hier nicht permutiert, sondern nur aufgelistet werden. Informatisch betrachtet, ähnelt der Satz einer Funktion, die einer Variablen einen Wert zuweist; er könnte mit demselben Ergebnis automatisch auch von einem Skript erzeugt werden. Genau das ist Montforts Projekt in seinem Buch Megawatt. Es ist Rekonstruktion und Erweiterung von Becketts Roman in einem. Montfort wählte Passagen mit solchen „obsessive loops“ aus dem Original und baute sie in der Programmiersprache Python nach. Im ersten Kapitel, betitelt „The Voices“, wendet er sich der eben besprochenen Passage zu und generiert sie. Doch das Skript intensiviert zugleich den Urtext:

Hugh Kenner, The Mechanic Muse, New York: Oxford University Press 1987, S. 91. Kenner war es auch, der den ersten Versuch unternahm, einen Teil von Watt in der Programmiersprache PASCAL nachzuahmen – wobei er aber nicht, anders als Montfort, über das Original hinausging, siehe ebd., S. 94. 32

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

Watt heard voices. Now these voices, sometimes they sang only, and sometimes they cried only, and sometimes they stated only, and sometimes they murmured only, and sometimes they babbled only, and sometimes they chattered only, and sometimes they ranted only, and sometimes they whispered only, and sometimes they sang and cried, and sometimes they sang and stated, and sometimes they sang and murmured, and sometimes they sang and babbled, and sometimes they sang and chattered, and sometimes they sang and ranted, and sometimes they sang and whispered, and sometimes they cried and stated, and sometimes they cried and murmured, and sometimes they cried and babbled, and sometimes they cried and chattered, and sometimes they cried and ranted, and sometimes they cried and whispered, and sometimes they stated and murmured, and sometimes they stated and babbled, and sometimes they stated and chattered, and sometimes they stated and ranted, and sometimes they stated and whispered, and sometimes they murmured and babbled, and sometimes they murmured and chattered, and sometimes they murmured and ranted, and sometimes they murmured and whispered, and sometimes they babbled and chattered, and sometimes they babbled and ranted, and sometimes they babbled and whispered, and sometimes they chattered and ranted, and sometimes they chattered and whispered, and sometimes they ranted and whispered, and sometimes they sang and cried and stated, and sometimes they sang and cried and murmured. … And sometimes Watt understood all, and sometimes he understood most, and sometimes he understood much, and sometimes he understood half, and sometimes he understood little, and sometimes he understood less, and sometimes he understood bits, and sometimes he understood nothing, as now.33 Montfort, Megawatt, S. 1, 7; Hervorhebungen von mir. – Montfort rekonstruiert Becketts „Algorithmus“ mit einer solchen Präzision, dass, wie bei Watt, kommutativ auftretende Kombinationen nicht zweimal vorkommen. Man kann das mit numeri33

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Weil Beckett zugibt, dass es noch mehr Stimmen gibt („for there were others“, wie es am Ende des ersten Satzes der oben zitierten Originalpassage heißt), und weil Montfort weiß, dass in einer Permutationsreihe die Anzahl der Möglichkeiten pro Element exponentiell zunimmt, fügt er Becketts vier Verben vier weitere hinzu: „babbled“, „chattered“, „ranted“ und „whispered“. Ebenso kann Watt nun zusätzlich „most“, „half“, „less“ und „bits“ verstehen. Montforts eigener Beitrag besteht aus den ersten drei Wörtern, dem lediglich expositorischen ersten Satz („Watt heard voices“), und den acht zusätzlichen Elementen. Sowohl Becketts Text als auch die Erweiterungen werden jedoch rein durch den Code generiert. Es wird ausgegeben, was Beckett tatsächlich geschrieben hat (der kursive Text), und was er nach seinen eigenen Regeln hätte schreiben müssen, hätte er seinen Satz durch die entsprechenden Elemente vermehrt (der fettgedruckte Text). All das lässt sich klar am Python-Quellcode des Programms erkennen, den Montfort im Anhang des Buches abdruckt:34 1

#### THE VOICES

2

text.append('\n# I\n\n')

3

def combine(num, words):

4

final = []

5

if num > 0 and len(words) >= num:

6

if num == 1:

schen Platzhaltern ausdrücken: Nach der Aufzählung der Grundelemente 1, 2, 3, 4 kombiniert Beckett 1 und 2, 1 und 3 sowie 1 und 4 (wobei kein Element mit sich selbst kombiniert wird). Doch anstatt mit 2 und 1 fortzufahren – was bereits durch 1 und 2 abgedeckt ist – geht er direkt zu 2 und 3 über. So macht es auch Montfort mit seinen erweiterten acht Elementen. Dies ist insofern wichtig, als Beckett sich in anderen Passagen von Watt nicht strikt an seine selbst auferlegten Regeln hält, was deren programmatische Rekonstruktion erschweren würde (letztere Information verdanke ich Robert Stockhammer). 34 Montfort, Megawatt, S. 242f. Der Quellcode wird jedoch nicht einfach in den Text eingefügt, sondern generiert das Buch sowie den Anhang, der diesen Code wiederum selbst enthält. Diese rekursive Struktur ist ein häufiges Merkmal digitaler Literatur.

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

7 8

final = final + [[words[0]]] else:

9

final = final + [[words[0]] +

10

c for c in combine(num – 1, words[1:])]

11

final = final + combine(num, words[1:])

12

return final

13

## In Watt the voices = ['sang', 'cried',

14

## And Watt understood = ['all', 'much',

15

## Here the voices did eight things and there

16

voices = ['sang', 'cried', 'stated', 'murmured',

'stated', 'murmured']

'little', 'nothing']

are eight levels:

'babbled', 'chattered', 'ranted', 'whispered'] 17

understood = ['all', 'most', 'much', 'half', 'little', 'less', 'bits', 'nothing']

18

para = ''

19

preface = ', and sometimes they '

20

for num in range(len(voices)):

21 22

for word_list in combine(num + 1, voices): para = para + preface + ' and ' .join(word_list)

23

if len(word_list) == 1:

24

para = para + ' only'

25

para = ('Watt heard voices. Now these voices,' + para[5:] + ', all together, at the same time, as now, to mention ' + 'only these ' + spelled_out[len(voices)] + ' kinds of voices, for ' + 'there were others. And sometimes Watt understood ' + ', and sometimes he understood ' .join(understood) + ', as now.')

26

text.append(para)

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Nachdem Montfort in den Zeilen 3–12 die Funktion combine definiert hat – ein Teilprogramm, das am Ende den endgültigen Text zusammensetzt – zeigt er, wie Becketts eigener Text als eine Menge von Elementen einer Listenvariablen (manchmal ‚Array‘ genannt) verstanden werden kann, also als einzelne Variable, die eine Reihe von Elementen enthält. Hier, in Zeile 13, heißt die Variable voices und ihre Werte lauten „sang“, „cried“, „stated“, „murmured“ – also genau jene Verben, die in Watt permutiert werden. Da dieser Zeile aber das Rautezeichen (#) vorangestellt ist, erkennt der Python-Interpreter, dass sie lediglich ein Kommentar ist, der nicht ausgeführt werden soll, und ignoriert sie. Becketts ursprüngliches Konzept ist im Code noch vorhanden, wurde aber ‚ausgeknipst‘. Stattdessen definiert die Zeile 16 – die nun wieder ausführbar ist – die neue Listenvariable, diesmal erweitert um Montforts Beitrag. Sie enthält neben den ursprünglichen vier Verben auch die vier zusätzlichen: „babbled“, „chattered“, „ranted“ und „whispered“. Dasselbe geschieht für die Variable understood – zuerst listet Montfort in einem Kommentar in Zeile 14 die vier ursprünglichen Elemente auf, dann in Zeile 17 seine erweiterte Reihe. Der Rest dieses kurzen Codeabschnitts setzt diese Elemente zusammen. Zeile 18 definiert die leere Variable para – ihr wird am Ende der fertige Text zugewiesen –, Zeile 19 die Variable preface, die die regelmäßig wiederkehrende Aussage „and sometimes they“ enthält. In den Zeilen 20 bis 23 folgt eine doppelt geschachtelte Schleife: Sie durchläuft die Listenvariable voices und fügt die in preface gespeicherten Wörter „and sometimes they“ hinzu. Schließlich wird in Zeile 25 der erste Satz (der mit den Stimmen) vervollständigt, und der zweite Satz (der über das Verstehen) angehängt. Im zweiten Satz werden die Elemente nicht permutiert, sondern einfach die in der Variablen understood gespeicherten Werte aufgelistet. Das Ergebnis ist der neue, erweiterte Text – den ich nicht komplett abdru-

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

cken kann, weil er exponentiell angewachsen ist und nun 27 Seiten umfasst. Megawatt stellt eine Form algorithmischer Einfühlung dar, die nicht Kopie, sondern Rekonstruktion ist. Aber während Megawatt im Verhältnis zu Watt durchaus dem nahekommt, was Jorge Luis Borges’ „Pierre Menard“ im Fiktiven für Cervantes’ Don Quixote ist – ein literarisches Reenactment –, ist es andererseits, da nicht nur rekonstruktiv, sondern produktiv, auch das, was Ulysses für die Odyssee ist: ein Mehr, das über die Vorlage hinausgeht. Überdies ist Megawatt nicht bloß als literarisches Produkt interessant, als Adaption eines bestehenden Textes. Es produziert tatsächlich auch Wissen über Becketts Text, indem es eine hermeneutische Bewegung nachvollzieht, wenn auch eine nicht-anthropozentrische. Diese beginnt mit der Rekonstruktion des Originals, wobei die immanente Regel aus Becketts Original explizit gemacht, aber in Kommentarzeilen ausgeschaltet wird; und sie geht über zur Extrapolation dieser nun explizit gemachten Regeln und ihrer Erweiterung. Die Erweiterung dient dabei als Nachweis für das Verständnis von Becketts Prinzip. Dass diese Form der Rekonstruktion möglich ist, stützt dabei Jessica Pressmans These, dass die digitale Literatur zu den Operationen der historischen Avantgarden zurückkehrt, diese aber – als digital modernism – mit angemesseneren Mitteln und konsequenter umsetzt. Und schließlich legt Montforts Buch auch nahe, dass Becketts Original selbst algorithmisch ist, eine Art proto-digitaler Literatur. Indem Megawatt Watt nicht nur nachahmt, sondern gewissermaßen sprengt, nicht nur imitiert, sondern über sich selbst hinaustreibt, hebt es jene Teile von Watt hervor, die sich am besten für die digitale Exploration eignen – und das auf eine hermeneutisch gewinnbringende Weise.35 Für dieses Suchen nach Vorläufern im Geiste hat François Le Lionnais im Kontext der Oulipo den Begriff „anoulipisme“ geprägt („wenn nötig mit Computern“) und dessen Wert gelobt, François Le Lionnais, „La LIPO“, in: La littérature potentielle (créa35

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Megawatt ist ein aktuelles Beispiel für das sequenzielle Paradigma als ältester Art von generativer und tatsächlich „genuin digitaler Literatur“.36 Ich habe auf die Explikation seines Codes einige Zeit verwendet, um zu veranschaulichen, wie gut man durch die genaue Lektüre des Quellcodes ein Gefühl für seine innere Arbeitsweise bekommen kann: Jeder Schritt seiner Sequenz ist klar vor uns ausgelegt.37 Als Gegensatz zum sequenziellen Paradigma möchte ich die neueste Art generativer Kunst als konnektionistisches Paradigma bezeichnen.38 Dazu gehören Arbeiten wie Edmond de Belamy und Textgeneratoren wie GPT-2 und GPT-3. Mit ‚konnektionistisch‘ beziehe ich mich auf mehrschichtige künstliche neuronale Netze (KNNs) als die am weitesten verbreitete Technologie sogenannten ‚tiefen‘ maschinellen Lernens (deep learning).39 tions, re-créations, récréations), Paris: Gallimard 1988, S. 18, 17. Philipp Schönthaler müsste das für Unsinn halten. Er ist so sehr auf die Unprogrammierbarkeit von Literatur fokussiert, dass er nichts an Megawatt gelten lässt, statt sich auf das einzulassen, was von Montfort in anoulipistischer Manier zu lernen wäre. Das ist Ausdruck eines systematischen Ressentiments: Zwar räumt Schönthaler ein, dass schon Becketts Buch Kombinatorik und Narration in ein „Wechselverhältnis“ setze; zugleich hat er bereits von vornherein die Wahl getroffen, nur Narration als sinnvolle Literatur zuzulassen, sodass die kombinatorischen Passagen lediglich „den Erzählfluss in der Binnenlogik irritieren“. Statt also Montfort zuzugestehen, einen Teil des Beckett’schen Wechselverhältnisses zu untersuchen, verwirft er sein Buch, weil er allein den anderen Teil für das Wesentliche hält: Schönthaler, Automatisierung des Schreibens, S. 286, 282. 36 Für diesen Begriff, siehe neuerdings Hannes Bajohr u. Annette Gilbert, „Platzhalter der Zukunft. Digitale Literatur (2001 2021)“, in: dies. (Hg.), Digitale Literatur II, S. 7–21. 37 Eine solche „Quellcodekritik“ (Markus Krajewski) ist auch für andere Werke digitaler Literatur zu wünschen; siehe vorbildlich Mark Marino, Critical Code Studies, Cambridge, Mass.: MIT Press 2020, siehe dort v.a. die Lektüre von Nick Montforts „Taroko Gorge“, S. 199–226. 38 Siehe zum Folgenden auch „Künstliche Intelligenz und digitale Literatur“ in diesem Band. 39 Die Bezeichnung „konnektionistisch“ geht dabei auf die bahnbrechende Studie Parallel Distributed Processing zurück, die neuronale Netze – nach ersten Versuchen in den 1960er Jahren – ab den 1980er Jahren mathematisch und informatisch erschloss, siehe David E. Rumelhard, James McClelland u. Geoffrey Hinton, „The Appeal of Parallel Distributed Processing“, in: David E. Rumelhard, James McClelland u.PDP Working Group (Hg.), Parallel Distributed Processing. Explanations in the Microstructure of Cognition, Cambridge, Mass.: MIT Press 1986, S. 3–45, hier S. 43. Für den historischen und theoretischen Hintergrund neuronaler Netze, siehe Hannes Bajohr, „Gestalt und Künstliche Intelligenz (1943 bis zur Gegenwart)“, in: Eva Geulen u. Claude Haas (Hg.), Formen des Ganzen, Göttingen: Wallstein 2022, S. 126–137.

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

KNNs folgen, zumindest auf einer sehr grundlegenden und vereinfachten Ebene, der Logik des Netzwerks von Verbindungen (Konnexionen) zwischen Neuronen und Synapsen im Gehirn. (Das erste neuronale Netz stammt übrigens ebenfalls aus der Zeit von Anders und Lutz, als Frank Rosenblatt 1958 das „Perzeptron“ schuf – gebildet nicht nach dem Vorbild des Gehirns sondern des optischen Nervs –, das in der Lage war, grundlegende Muster zu lernen und zu erkennen).40 In seiner abstraktesten Form besteht ein neuronales Netz aus drei Hauptelementen: einer Eingabeschicht, einer oder mehreren versteckten Schichten und einer Ausgabeschicht. Tiefe KNNs umfassen eine Vielzahl von verborgenen Schichten, die aus ‚Neuronen‘ zusammengesetzt und durch ‚Synapsen‘ verbunden sind, deren Verbindungsstärken die Wirkung auf das nächste Neuron bestimmen. Das Ziel eines KNN ist es, eine mathematische Funktion zu erstellen, die die Eingabedaten einer gewünschten Ausgabe anpasst; das resultierende Modell kann verwendet werden, um Ausgaben zu erzeugen, die den Eingaben ähneln. Der zentrale Punkt ist jedoch, dass ein neuronales Netz nicht explizit programmiert werden kann; neuronale Netze lernen implizit durch einen wiederholten Prozess des Vergleichs von Eingabe und Ausgabe und der Anpassung der Funktion anhand der in jeder Iteration auftretenden Fehler. Es gibt dabei keinen Code, der zu inspizieren wäre, sondern nur eine Liste von Zahlen, die die Struktur des Netzes und ihre gewichteten Verbindungen darstellen; eine solche Liste ist jedoch ausgesprochen schwer zu interpretieren. Dies ist das berühmte ‚Black-Box‘-Problem neuronaler Netze.41 Siehe Frank Rosenblatt, „The Perceptron. A Probabilistic Model for Information Storage and Organization in the Brain“, in: Psychological Review 65:6 (1958), S. 386–408; Nils J. Nilsson, The Quest for Artificial Intelligence. A History of Ideas and Achievements, Cambridge: Cambridge University Press 2010, S. 64–74. 41 Davide Castelvecchi, „The Black Box of AI“, in: Nature 538 (6. Oktober 2016), S. 20–23; siehe aber die Anmerkungen zur Diskussion um explainable AI weiter unten in Fußnote 46. – Man beachte überdies, dass die Opazität neuronaler Netze sie auch 40

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Edmond de Belamy ist ein Beispiel für das konnektionistische Paradigma: Trainiert auf einen Datensatz von 15 000 Porträts aus dem 14. bis 19. Jahrhundert, erzeugte das neuronale Netz eine Ausgabe, die den Werken des Trainingssatzes statistisch ähnelt.42 Da die Grundoperation darin besteht, eine Eingabe an eine Ausgabe anzupassen, wurden neuronale Netze bisher meist dazu verwendet, die stilistischen Merkmale der Trainingsmenge zu reproduzieren, allerdings ohne die Möglichkeit, die Regeln, nach denen dies geschieht, auch explizit zu definieren. Weil Wiederholung in der Natur von neuronalen Netzen liegt, müssen ihre Konstrukteure sich darum bemühen, das Phänomen des sogenannten „overfitting“ zu vermeiden, bei dem nicht nur mit dem Input Ähnliches, sondern Identisches herauskommt.43 Normalerweise geschieht dies entweder durch das Einführen von Rauschen oder durch die Begrenzung der Trainingsmenge. Im Fall von Edmond de Belamy scheint es, dass das Training abgebrochen wurde, bevor die Ähnlichkeit mit den Eingabebildern zu groß wurde, was dem Porträt seine spektrale Qualität verleiht. In der KI-Literatur sind ähnliche Effekte zu beobachten, die durch das Versagen semantischen Verständnisses aufseiten des Modells hervorgerufen werden. Fast schon kanonisch ist „Sunspring“ von Ross Goodwin, ein KI-generiertes Filmskript, das anschließend professionell produziert wurde. Goodwin trainierte ein neuronales Netz (namens „Benjamin“) auf über 300 Science-Fiction-Filmskripte und ließ es ein neues ausgeben. Während das proprietäre Modell von GPT-3 beeindruckend von Markov-Ketten unterscheidet, die in diagrammatischer und expliziter Form ausgedrückt werden können, obwohl auch sie probabilistisch arbeiten; in meiner Trennung zwischen dem sequenziellen und dem konnektionistischen Paradigma würden Markov-Ketten entweder einen dritten Bereich darstellen oder müssten mit Abstrichen einem der beiden anderen Typen zugeschlagen werden. 42 Siehe Jan Løhmann Stephensen, „Towards a Philosophy of Post-Creative Practices? – Reading Obvious’ ‚Portrait of Edmond de Belamy‘“, in: Proceedings of POM Beirut, 2019, S. 21–30. 43 Kelleher, Deep Learning, S. 20.

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

kohärenten Text produzieren kann, bleiben die meisten, von Grund auf trainierten Modelle durch begrenzte Netzwerkgrößen und kleine Datensätze eingeschränkt. Ebenso neigt „Sunspring“ in seiner Aneinanderreihung von inkongruenten Elementen zum Absurden, mit Regieanweisungen wie: „Er hebt einen Lichtschirm auf und kämpft gegen die Sicherheitstruppe der Partikelübertragung auf seinem Gesicht.“44 Wie bei den meisten Werken der KNN-Literatur ist davon auszugehen, dass hier noch einige Handarbeit, zumindest Selektion, im Spiel war – sicher wissen können wir es aber nicht, da es keinen Code gibt, den wir wie im Fall von Megawatt studieren könnten. Das Werk bleibt nicht nur so opak wie die sprichwörtliche Black Box, sondern auch so undurchsichtig wie der Geist des guten alten ‚Genies‘.

3. Für eine Kritik ästhetischer KI Es besteht eine Reihe fundamentaler Unterschieden zwischen dem sequenziellen Paradigma der generativen Literatur, das lineare Algorithmen verwendet, und dem konnektionistischen „INT. SHIP We see H pull a book from a shelf, flip through it while speaking, and then put it back. H In a future with mass unemployment, young people are forced to sell blood. That’s the first thing I can do. H2 You should see the boys and shut up. I was the one who was going to be a hundred years old. H I saw him again. The way you were sent to me... that was a big honest idea. I am not a bright light. C Well, I have to go to the skull. I don’t know. He picks up a light screen and fights the security force of the particles of a transmission on his face.“ Ross Goodwin (Benjamin), „Sunspring“, 2016, https://www.docdroid. net/lCZ2fPA/sunspring-final-pdf, letzter Aufruf 21.1.2022; siehe auch Catani, „Generierte Texte“ und, was die Tendenz zum Absurden in KI-Literatur betrifft, „Künstliche Intelligenz und digitale Literatur“ in diesem Band. 44

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Paradigma, das auf KNNs basiert. Diese Unterschiede können helfen, eine Kritik ästhetischer KI zu entwerfen, die ihre Werke nicht einfach mit menschlichen Werken vergleicht. Der erste Unterschied besteht darin, dass ein klassischer Algorithmus explizit angegebene Verfahrensregeln benötigt, während ein neuronales Netz durch Beispiele lernt und seine Erzeugungsregeln nicht unmittelbar sichtbar sind. Während Montfort die Anzahl der Wörter und ihre mögliche Position in einem Satz auswählen konnte, wurden bei der Produktion des „Sunsprings“-Skripts keine solchen Entscheidungen getroffen. Vielmehr wird der Text durch den Trainingsprozess des KNNs erzeugt, der auf einem Satz von Trainingsdaten basiert. Das erste Paradigma funktioniert also top-down, das zweite bottomup; bei dem einen stehen die expliziten Regeln am Anfang, bei dem anderen werden die impliziten Regeln (das statistische Modell) am Ende generiert. Der klassische Algorithmus funktioniert zudem deterministisch, wobei ein identischer Anfangszustand immer einen identischen Endzustand erzeugt; KNNs hingegen arbeiten per statistischer Induktion, die unscharf ist – by design, denn sie folgt dem informatischen Ansatz des „approximate computing“, dessen Priorität gerade nicht auf der Genauigkeit ihrer Ergebnisse, sondern auf der Effizienz der Verarbeitung großer Datenmengen liegt.45 Aus diesem Grund täte sich ein KNN auch um ein Vielfaches schwerer damit, Watt so exakt zu rekonstruieren wie Megawatt. Hieraus folgt ein zweiter Punkt: Für das sequenzielle Paradigma ermöglichen explizite Regeln und der deterministische Prozess ein höheres Maß an Transparenz. Offensichtlich ist der Code selbst lesbar, womöglich wichtiger aber ist, dass es auch relativ leicht ist, die zugrunde liegenden Regeln abzuleiten, indem man das Programm wiederholt ausführt und dessen Siehe Weiqiang Lu, Fabrizio Lombardi u. Michael Schulte, „Approximate Computing. From Circuits to Applications“, in: Proceedings of the IEEE 108:12 (2020), S. 2103–2017. 45

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

Ausgabe beobachtet. Das ist bei neuronalen Netzen schwerer, deren Innenleben zwar nicht unmöglich nachzuvollziehen ist – „explainable AI“ arbeitet daran46 –, die aber als komplexe statistische Modelle nicht einfach auf explizit formulierte (und formulierbare) Regeln reduziert werden können. Die Beobachtung der Ausgabe von KNNs mag zwar vage Hinweise auf deren inneren Prozess geben, kann aber nie exakte Vorhersagen ermöglichen. Dieses Problem wird drittens noch dadurch verschärft, dass, während lineare Algorithmen eine strikte Trennung zwischen Programm und Daten, zwischen prozeduralen Regeln und Elementen in einer Datenbank vornehmen, das ‚Wissen‘ in einem neuronalen Netz nicht an einem bestimmten Ort lokalisiert ist. Vielmehr sind Daten und ‚Programm‘ als statistische Abhängigkeit über das ganze System verteilt. Konnte Montfort noch auf Wortlisten aufbauen, so ist „Sunspring“ – unter Verwendung eines LSTM-RNN-Netzes – zeichenbasiert, sodass keine tatsächlichen Wörter im Modell kodiert sind, sondern nur die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Zeichen auf das nächste folgt.47 Anstatt nach atomistischen Elementen vorzugehen, die ein Ganzes aus individuellen Teilen zusammensetzen, haben neuronale Netze emergente Eigenschaften, die, metaphorisch aus46 Wojciech Samek u. Klaus-Robert Müller, „Towards Explainable Artificial Intelligence“, in: Wojciech Samek u.a. (Hg.), Explainable AI. Interpreting, Explaining and Visualizing Deep Learning, Cham: Springer 2019, S. 5–22. Allerdings ist trotz aller Fortschritte, in die Black Box zu schauen – etwa durch membership attacks und andere Methoden –, immer noch kein Weg gefunden, ihre Vorgänge wieder in Regelschritte zu übertragen; wahrscheinlich ist das auch prinzipiell nicht möglich. Dazu passt, dass KNNs als Objekte der Forschung immer durch eine Außenperspektive bestimmt sind, sie nicht anders untersucht werden als Hirnstrukturen oder Sternencluster, während klassischer Code eine hermeneutische, eine Innenperspektive erlaubt. Das verum ipsum factum, Grundprinzip der Differenz zwischen Naturalismus und Hermeneutik, greift auch hier: Einen menschengeschriebenen Code wird man immer anders lesen als ein maschinengemachtes Gewichtungsmodell – da helfen auch alle auf KNNs angewandte imaging-Techniken nichts. 47 Siehe den einflussreichen Blogbeitrag von Andrej Karpathy, „The Unreasonable Effectiveness of Recurrent Neural Networks“, in: Andrej Karpathy Blog, 2015, https:// karpathy.github.io/2015/05/21/rnn-effectiveness, letzter Aufruf 21.1.2022.

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gedrückt, nach einer ‚Gestalt‘-Logik funktionieren.48 Hier sind Ganzheiten nicht einfach auf ihre Teile reduzierbar, vielmehr erlaubt es der Trainingsprozess dem KNN, die Gestalt von ‚so etwas wie‘ einem Gemälde im Stil des Akademismus des 19. Jahrhunderts oder die Gestalt von ‚so etwas wie‘ einem Science-Fiction-Film zu erlernen.49 Viertens spielt ein nicht unumstrittener Punkt eine Rolle, den der deutsche Medientheoretiker Andreas Sudmann in die Diskussion eingeführt hat: Ein linearer Algorithmus mit seinen in einem Flussdiagramm darstellbaren Wenn-Dann-Bedingungen folgt der digitalen Logik diskreter Zustände – Ein und Aus, Null und Eins, tertium non datur. Zwar feuern auch in neuronalen Netzen die ‚Neuronen‘ in jeder Schicht entweder oder nicht, aber die Gewichtungen, die ihre Aktivierung hemmen oder verstärken, werden durch Fließkommazahlen auf annähernd analoge, auf „quasi-analoge Weise“ beschrieben, wie Sudmann es ausdrückt. Wenn das konnektionistische Paradigma quasi-analog ist, steht es tatsächlich in einem fundamentalen Gegensatz zum sequenziellen Paradigma.50 Man muss Sudmann nicht bis zu diesem Extrem folgen, aber klar ist, dass es einen radikalen Unterschied in der technischen Substanz der beiden Systeme gibt. Und dieser technische Unterschied muss sich, meine ich, in einem Unterschied der ästhetischen Theoretisierung solcher Systeme niederschlagen. Ein Ansatz für eine solche ästhetische Kritik von KNNbasierten Werken wäre es, zu untersuchen, in welcher Weise sich das sequenzielle und das konnektionistische Paradigma 48 Siehe dazu Hannes Bajohr, „Die ‚Gestalt‘ der KI. Jenseits von Holismus und Atomismus“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 12:2 (2020), S. 168–181. 49 Dies ist anhand KNN-Lyrik gut dargestellt in Boris Orekhov u. Frank Fischer, „Neural Reading. Insights from the Analysis of Poetry Generated by Artificial Neural Networks“, in: Orbis Litterarum 75:5 (2020), S. 230–246. 50 Andreas Sudmann, „Szenarien des Postdigitalen. Deep Learning als MedienRevolution“, in: Christoph Engemann u. Andreas Sudmann (Hg.), Machine Learning – Medien, Infrastrukturen und Technologien der Künstlichen Intelligenz, Bielefeld: Transcript 2018, S. 55–73, hier S. 66.

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

zu einem der ältesten ästhetischen Konzepte verhalten, dem der Mimesis. Denn sowohl Megawatt als auch „Sunspring“ folgen einer Logik der Nachahmung, aber sie tun dies auf radikal unterschiedliche Weise: Von Montforts Buch könnte man sagen, dass es sich an das hält, was Hans Blumenberg Nachahmung als „Konstruktion“ genannt hat – die Annäherung an einen bestehenden Zustand durch die Herleitung jener Regeln, die den ihn hervorbringenden Prozessen zugrunde liegen. „Sunspring“ dagegen würde eher dem Modell der imitatio naturae folgen, der bloßen Wiederholung des Realen, ohne solche prozessuale Einsicht. Für Blumenberg sind beide Mimesismodelle deutlich mit der Frage nach dem Neuen verbunden: Die Konstruktion verweist auf die Möglichkeit, über das Gegebene hinauszugehen, indem man die Regeln seiner Erzeugung auf anderes anwendet, wie Megawatt zeigt, und ist damit dezidiert modern. Die imitatio naturae dagegen ist auf die Welt als verbindlichem Vorrat an Darzustellendem angewiesen und gehört, so Blumenberg, einer antiken Ästhetik an.51 Ich möchte nicht behaupten, dass neuronale Netze in irgendeiner Weise ästhetisch vormodern wären, aber ich glaube, dass die Frage nach dem Neuen und insbesondere nach dem Wechselspiel zwischen Neuheit und Nachahmung in Bezug auf diese Technologie eine fruchtbringende Forschungsfrage ist.52 Anstatt diesen Weg zu verfolgen, möchte ich mich hier jedoch auf eine andere Möglichkeit des Vergleichs zwischen dem sequenziellen und dem konnektionistischen Paradigma konzentrieren. Sie konfrontiert uns mit den Konsequenzen dieSiehe Hans Blumenberg, „‚Nachahmung der Natur‘. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen“, in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 9–46, hier S. 41, 9ff., 13; ders., „Paul Valérys möglicher Leonardo da Vinci“, in: Forschungen zu Paul Valéry/ Recherches Valéryennes 25 (2012), S. 193–227, hier S. 201ff. 52 Für den Umstand, dass KNNs, werden sie als autonome künstlerische Systeme verstanden, strukturell konservativ zu werden drohen, weil sie die Domäne ihrer Trainingsdaten nicht transzendieren können, siehe „Keine Experimente“ in diesem Band. 51

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ser Unterscheidung für die Medientheorie und wirbt für eine doppelt medienspezifische Analyse – sie ist media- and mediumspecific. Das Englische kennt den Begriff Medium sowohl als medium wie als media. Es ist keine neue Beobachtung – sie wurde unter anderem von Rosalind Krauss, Florian Cramer und Alan Liu gemacht –, dass der Begriff medium mehrere Disziplinen durchquert, die ihn auf unterschiedliche Weise verwenden.53 Die beiden Hauptdisziplinen sind die Kunstgeschichte – mit medium im Singular und mediums im Plural – und die Medientheorie, einschließlich der Digital Humanities – mit medium im Singular und media im Plural (wobei, wie Liu bemerkt hat, hier zunehmend media auch im Singular gebraucht wird).54 Die erste Verwendung, im Sinne eines künstlerischen Mediums wie Malerei oder Skulptur, geht auf das 18. Jahrhundert zurück, aber seine Bedeutung im 20. Jahrhundert ist vor allem mit dem Kunstkritiker Clement Greenberg verbunden. Er führte in den 1940er Jahren den Begriff der medium-specificity ein und argumentierte für die innere Differenzierung zwischen den Medien der Künste.55 Greenberg griff einen Gedanken Gotthold Ephraim Lessings auf, der bereits in seinem Laokoon für die Trennung der bildenden Künste von der Literatur nach ihrer inhärenten Strukturlogik plädiert hatte: Während die Literatur in ihrer linearen Textualität inhärent temporal ist, eine Reihe in der Zeit, und damit am ehesten geeignet, Handlungen zu repräsentieren, befassen sich die bildenden Künste 53 Rosalind Krauss, „A Voyage on the North Sea“. Art in the Age of the Post-Medium Condition, London: Thames and Hudson 1999; Florian Cramer, „Nach dem Koitus oder nach dem Tod? Zur Begriffsverwirrung von ‚Postdigital‘, ‚Post-Internet‘ und ‚PostMedia‘“, in: Kunstforum International 43:242 (2016), S. 54–67; Alan Liu, Friending the Past. The Sense of History in the Digital Age, Chicago: University of Chicago Press 2018. 54 Liu, Friending the Past, S. 227. 55 Clement Greenberg, „Avantgarde and Kitsch“, in: ders., Art and Culture. Critical Essays, Boston: Beacon Press 1989, S. 3–21; ders., „Towards a Newer Laocoon“, in: ders., The Collected Essays and Criticism, Bd. 1, 1939–44, Chicago: University of Chicago Press 1986, S. 23–38.

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

mit zusammenhängenden Dingen im Raum, also ihrer Ausdehnung, und sind damit besser geeignet, Objekte darzustellen.56 Greenberg dehnte dieses Argument auf die Medien der bildenden Künste selbst aus und fand in der am weitesten fortgeschrittenen modernen Kunst eine Tendenz zur Trennung von Malerei und Skulptur, die sich in seiner Zeit maximal ausdifferenziert hatte. Für ihn wie für Lessing ist das Ausmaß, in dem ein Kunstwerk die spezifischen strukturellen Merkmale seines Mediums hervorhebt, ein Maß für seine künstlerische Reinheit. Und während Greenberg ursprünglich nur einen historischen Differenzierungsprozess aufzeigen wollte, erlangte medium-specificity schließlich normativen Rang.57 Wenn also nach Greenberg das, was die Malerei von anderen Medien unterscheidet, Zweidimensionalität, flatness, ist, dann sind jene Gemälde am reinsten, die am flachsten sind – also abstrakte Gemälde, denen alle räumliche Illusion abgeht; Dreidimensionalität gehört nicht zum Medium der Malerei, sondern zu dem der Skulptur. Die zweite Verwendung des Begriffs medium – im Sinne eines Kommunikationskanals – steht meist im Zusammenhang mit einem normalerweise unbeachteten, aber mit einer eigenen Ideologie ausgestatteten Träger von Information, wie er von Marshall McLuhan in die Medientheorie eingeführt wurde. McLuhan definierte Medien zwar als „Ausweitungen des Menschen“, beschränkte sich jedoch auf Massenmedien und elektronische Medien im engeren Sinne.58 Die zeitgenössische Medientheorie hat die Tendenz, den Gebrauch des Wortes auf Gotthold Ephraim Lessing, „Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“, in: ders., Laokoon, Briefe, antiquarischen Inhalts, hg. v. Wilfried Barner, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 2007, S. 114–129. 57 Dass diese normative Interpretation auch ein Ergebnis der Rezeption seines Werkes, insbesondere durch seinen Schüler Michael Fried ist, bemerkte Greenberg mit einigem Unmut, siehe Thierry de Duve, Clement Greenberg Between the Lines. Including a Debate with Clement Greenberg, Chicago: University of Chicago Press 2010, S. 147f. Ich danke Colin Lang, der mich auf diese Stelle hingewiesen hat. 58 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle, Düsseldorf: Econ 1992, S. 269. 56

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so ziemlich alles auszudehnen, was als Vermittler zwischen zwei Bereichen fungiert; aus diesem Grund hat die proteische Natur der Medien die Gleichsetzung von mediums und media begünstigt. Aber es könnte gute Gründe geben, diese Verwechslung zu vermeiden oder zumindest auf der Besonderheit jedes Mediums zu bestehen. In ihrem Essay „Print is Flat, Code is Deep“ von 2004 prägte Katherine Hayles den Begriff mediaspecificity – die Anspielung auf Greenberg fällt bereits im Titel, obwohl Hayles seinen Namen nicht nennt.59 „Media-specific analyis“ bedeutet, die Materialität von Medien zu fokussieren; für digitale Literatur folgt daraus die Einsicht, dass elektronische Werke – im Gegensatz zu gedruckten Büchern – Oberflächentexte haben, aber auch einen zugrunde liegenden Code, der diese Oberflächentexte bestimmt. Doch für Hayles ist die Kontrastfolie zur elektronischen Textualität immer noch das gedruckte Buch – elektronische und nicht-elektronische Literatur sind die beiden wichtigsten operativen Kategorien. Meine Unterscheidung zwischen dem sequenziellen und dem konnektionistischen Paradigma deutet jedoch darauf hin, dass eine weitere ästhetische Binnendifferenzierung möglich und nötig ist – nicht anders als Greenberg Lessings Trennung zwischen Literatur und bildender Kunst erweiterte, um letztere erneut zu unterteilen. Alle Ansätze, die diese Binnendifferenzierung übergehen, machen sich nicht nur, in den Worten Matthew Kirschenbaums, der Privilegierung der „formalen Materialität“ (Kalkül und Symbolsystem) zuungunsten der „forensischen Materialität“ (konkrete maschinelle Implementierung) schuldig,60 wie bei allen Theorien, die von Computern ausgeführte Algorithmen als letztlich identisch mit manuellen Regelschritten und so etwa Oulipo-ProN. Katherine Hayles, „Print Is Flat, Code Is Deep. The Importance of Media-Specific Analysis“, in: Poetics Today 25:1 (2004), S. 67–90. 60 Siehe Matthew Kirschenbaum, Mechanisms. New Media and the Forensic Imagination, Cambridge, Mass.: MIT Press 2007, S. 10f. 59

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zesse bereits als digital verstehen. Mehr noch, ignoriert man den Unterschied zwischen dem sequenziellen und dem konnektionistischen Paradigma, weil beides irgendwie ‚mit dem Computer‘ geschieht, übersieht man zudem, dass nun nicht nur die forensische, sondern auch die formale Materialität von ihren Vorgängern abweicht: Lineare Algorithmen und KNNs teilen nicht einmal mehr dieselbe Logik von deterministischen Regelschritten, von ihrer technischen Implementierung ganz zu schweigen. Ich möchte nur zwei Beispiele für die Notwendigkeit dieser weiteren Differenzierung anführen, die zeigen, dass das bisherige theoretische Arsenal generativer Literatur erschöpft ist. Mit dem Aufkommen des konnektionistischen Paradigmas ergibt es nur noch wenig Sinn, von dem zu sprechen, was Lev Manovich in The Language of New Media die „Datenbanklogik“ elektronischer Textualität genannt hat, in der jedes Element die gleiche Bedeutung hat wie jedes andere, weil das Arrangement dieser Elemente variabel ist.61 Wenn es aber keine explizit kodierten Elemente mehr gibt, auf die einzeln zugegriffen werden kann – keine „Datenbank“ –, sondern nur noch statistische Abhängigkeiten, die über das ganze System verteilt sind, haben wir es nicht mehr mit einer Datenbanklogik, sondern mit etwas völlig anderem zu tun. Auch die vom Literaturwissenschaftler Espen Aarseth eingeführte Unterscheidung zwischen „texton“ und „scripton“ – einer Zeichenkette, wie sie in der Ausgabe erscheint, etwa auf einem Bildschirm, und einer Zeichenkette, wie sie im Code steht und unterschiedlich instanziiert werden kann – verliert ihre Beschreibungskraft, wenn „textons“ nirgends mehr im Code verortet sind, ja, wenn es in neuronalen Netzen gar keinen Code im traditionellen Sinn gibt.62 Die Lev Manovich, The Language of New Media, Cambridge, Mass.: MIT Press 2000, S. 218. 62 Espen J. Aarseth, Cybertext. Perspectives on Ergotic Literature, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1997, S. 62. Neuronale Netze verwenden zwar immer noch tex61

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Metapher von „Tiefe“ und „Oberfläche“, auf die sich Hayles verließ und die immer noch die Möglichkeit impliziert, letztere mit ersterer zu verbinden, muss angesichts der radikal anderen Struktur des Konnektionismus und seiner tendenziellen Opazität neu überdacht werden. Das konnektionistische Paradigma erschüttert damit einige der grundlegenden Denkweisen über elektronische Textualität und digitale Literatur im Besonderen. Im letzten Teil dieses Essay will ich auf die Folgen eingehen, die diese Erkenntnis für die Beurteilung der Werke digitaler Literatur hat. Während Hayles’ media-specificity auf die normative Ausrichtung von Greenbergs medium-specificity verzichtet und nur eine Art der Analyse beschreibt, die die Besonderheiten eines Mediums berücksichtigt, glaube ich, dass es nützlich sein könnte, etwas von dieser Normativität wieder aufleben zu lassen. Die Bedeutung von Megawatt besteht zum Teil darin, dass die ihm zugrunde liegende Struktur, der lineare Algorithmus, die Struktur des resultierenden Textes so gut widerspiegelt. Mit dem konnektionistischen Paradigma entsteht eine neue Form der visuellen und textuellen Kunst, und es ist noch nicht klar, wozu sie fähig ist. Aber weil das so ist, sollte die ästhetische Kritik solcher Werke vielleicht denjenigen besondere Aufmerksamkeit schenken, die die Spezifität ihres Mediums untersuchen, und zwar in beiden Bedeutungen des Wortes.

4. Medienspezifische Kategorienverwechslungen Ich möchte versuchen, ein Beispiel für diesen Gedanken zu geben. Ein:e Leser:in dieses Aufsatzes könnte sich fragen, warum ich in einem Text über digitale Literatur auch auf visutuelle Basiselemente, doch handelt es sich dabei lediglich um einzelne Zeichen oder Zeichenkombinationen („byte-pair encoding“). Mein Punkt ist hier, dass solche Basiselemente keine ‚Datenbank‘ in irgendeiner sinnvollen Bedeutung des Wortes darstellen.

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

elle Werke Bezug genommen habe. Damit habe ich angedeutet, dass ein und dasselbe Medium (media) – neuronale Netze – mit unterschiedlichen Medien (mediums) – Text und Bild – arbeiten kann (und hier beziehe ich mich eher auf Lessing als auf Greenberg). In der Verbindung beider Unterscheidungen mag man sogar noch weiter differenzieren, denn nicht alle neuronalen Netze sind für alle Medien nützlich. Die grundlegendste KNNArchitektur zur Erzeugung von Bildern sind convolutional neural networks (CNNs), während für Texte sogenannte recurrent neural networks (RNNs) verwendet werden. Sie arbeiten aufgrund der Struktur des von ihnen Produzierten auf unterschiedliche Weise; sie sind, könnte man sagen, verschiedene media, die verschiedene mediums erzeugen (Abb. 8.4). Digitale Bilder sind kontinuierlich in zwei Dimensionen; ihre kleinste Einheit ist das Pixel mit einem Farbwert, das in einer Matrix angeordnet ist, die für gewöhnlich über alle Elemente des Datensatzes hinweg gleichbleibt (alle Trainingsbilder haben etwa die Größe von 512 × 512 Pixeln). Die Beziehung

Ausgabeschicht

Versteckte Schicht

Eingabeschicht CNN

RNN

Abb. 8.4: Convolutional Neural Network (links), Recurrent Neural Network (rechts)

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zwischen Pixeln basiert auf der Korrelation qua Nähe: Je näher zwei Pixel beieinander liegen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie in einer sinnvollen Beziehung zueinander stehen und ein übergeordnetes Ganzes bilden. Ein CNN nutzt diese Logik der Kontiguität in einem bottom-up-Prozess, um wesentliche Merkmale aus dieser Pixelmatrix zu extrahieren, indem jede der versteckten Schichten damit beauftragt wird, die hervorstechenden Muster der vorherigen Eingabeschicht zu erkennen. Da dies progressiv zwischen den Schichten geschieht, ist hier ein Abstraktionsprozess am Werk: Die erste Schicht betrachtet vielleicht eine Kombination von einigen Pixeln und gibt das Ergebnis an die nächste Schicht weiter, die nun eine Kombination von mehreren Pixeln betrachtet, und so weiter. Es ‚denkt sich‘ also, könnte man sagen, von Kanten über einfache Formen bis zu komplexen Objekten ‚hinauf‘.63 Text hingegen erfordert ein anderes Verfahren. Im Gegensatz zu einem Bild, das aus Pixeln besteht, ist er nicht kontinuierlich in zwei Dimensionen mit gleichen Grundeinheiten geteilt, die vorgegebene Werte (Farben) annehmen. Vielmehr ist Text eindimensional kontinuierlich und seine Grundeinheit ist das alphanumerische Zeichen. Der Unterschied in der Dimensionalität von textverarbeitenden RNNs erfordert eine andere Struktur als die von bildverarbeitenden CNNs. RNNs müssen sich an frühere Zeichen ‚erinnern‘ können, um komplexe statistische Modelle über deren wahrscheinliches Auftreten zu erstellen, weshalb die Neuronen ihrer Netze nicht nur mit der nächsten Schicht, sondern auch mit sich selbst verbunden sind (dies ist der Netzwerktyp, der für „Sunspring“ verwendet wurde). Ein CNN befasst sich normalerweise nicht mit Text, während ein RNN selten für Bilder verwendet wird; medium und media sind korreliert. Siehe für diesen aufsteigenden Prozess Yann LeCun, Yoshua Bengio u. Geoffrey Hinton, „Deep Learning“, in: Nature 521 (Mai 2015), S. 436–444. 63

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

Während die Funktionsweise gegenwärtiger neuronaler Netze deutlich komplexer ist – GPT-3 etwa beruht auf einer sogenannten Transformerarchitektur, die in mehrere Richtungen simultan arbeitet und ihre eigene medienspezifische Beschreibung erforderte64 –, ist diese Dichotomie dennoch nützlich, um unser medienästhetisches Urteilsarsenal zu verfeinern. Diesem Gedankengang folgend, können digitale Literatur und Kunst entlang zweier Achsen diskutiert werden: in Bezug auf ihre media-specificity als dem Bewusstsein ihrer technischen Strukturen und Affordanzen; aber auch gemäß ihrer medium-specificity als dem Bewusstsein der internen künstlerischen Logik des Mediums, in dem sie operieren. Im sequenziellen Paradigma ist Megawatt ein Beispiel für eine Parallelität von beidem: die Struktur des media, der lineare Algorithmus, spiegelt die Struktur des medium, modernistische Literatur, ausgesprochen gut wider. Aber diese Achsen müssen nicht parallel zueinander verlaufen. Eine kluge Illustration des Zusammenspiels der media/ medium-Achsen im konnektionistischen Paradigma ist Allison Parrishs unaussprechlicher Text Ahe Thd Yearidy Ti Isa (2019).65 Er operiert mit einer absichtlichen Verwechslung und behandelt Text als Bild, indem er die entsprechenden KNN-Architekturen umkehrt und mit den asemischen Effekten spielt, die dieser technologische und semiotische Kategorienfehler erzeugt. Parrish verwendet einen bestimmten Typ von CNN, das sogeSiehe Ashish Vaswani u.a., „Attention is all you need“, in: ArXiv, 12. Juni 2017, https:// arxiv.org/abs/1706.03762; für eine anschauliche Diskussion der technischen und politischen Implikationen von Transformer-Architekturen, siehe Dieuwertje Luitse u. Wiebke Denkena, „The Great Transformer. Examining the Role of Large Language Models in the Political Economy of AI“, in: Big Data & Society, online first 2021, doi: 10.1177/20539517211047734. Es gibt einige Hinweise darauf, dass Transformer keinen starken Unterschied zwischen Bild und Text mehr ziehen und somit einen völlig neuen Fall darstellen. 65 Allison Parrish, Ahe Thd Yearidy Ti Isa (asemic GAN-generated novel), https://github. com/NaNoGenMo/2019/issues/144, letzter Aufruf 21.1.2022. Der Roman war ein Beitrag zum National Novel Generation Month 2019. 64

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Abb. 8.5: Allison Parrish, Ahe Thd Yearidy Ti Isa (2019), Ausschnitt

nannte generative adversarial network (GAN), das sich bei der Generierung von Bildern als äußerst erfolgreich erwiesen hat.66 Seine Architektur teilt die Erzeugung und die Bewertung seiner Ausgabe in zwei separate Prozesse auf: Während der Generator Bilder erzeugt, hat der Discriminator die Aufgabe, zu beurteilen, wie nahe diese Bilder dem erwarteten Ergebnis kommen. In diesem Fall wurde das GAN mit Pixelbildern von Wörtern gefüttert. Hier liegt der Kategorienfehler: Solche Wort-Bilder sind menschen-, aber nicht maschinenlesbar und werden vom Computer nicht als Text registriert. Die verarbeitbare Information des Bildes ist also nicht identisch mit der Information, die das abgebildete Wort repräsentiert; seine technische Materialität ist von seiner Signifikanzfunktion getrennt. Ian J. Goodfellow u.a., „Generative Adversarial Networks“, in: NIPS’14. Proceedings of the 27th International Conference on Neural Information Processing Systems, Bd. 2, Cambridge, Mass.: MIT Press, S. 2672–2680. Übrigens erhielt „Edmond de Belamy“, für den ebenfalls eine GAN-Architektur verwendet wurde, seinen Titel durch die augenzwinkernde Übersetzung des Namens „Ian Goodfellow“. 66

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III. Künstliche Intelligenz und literarisches Schreiben

Abb. 8.6: Allison Parrish, Ahe Thd Yearidy Ti Isa (2019), Ausschnitt aus dem Titelblatt

Das GAN behandelt Wörter wie Bilder, also nicht anders als Bilder; der Discriminator kann daher nicht, wie ein RNN, Zeichenketten aus diskreten Zeichen vergleichen, sondern nur statistische Verteilungen von Pixelwerten. Das Ergebnis sieht für den Discriminator wie Text aus, hat aber für Menschen keinen semantischen Wert, sodass Parrish von ihrem Werk als „asemic novel“ sprechen kann (Abb. 8.5). Das ist eine eminent nicht-menschliche Art des Lesens – ein probabilistisches Lesen: Text-als-Bild, gesehen durch die Augen einer Maschine. Und in einer letzten Wendung, als wollte sie die Sinnlosigkeit des ganzen Prozesses herausstreichen, verwendet Parrish am Ende den ‚korrekten‘ Bild-zu-Text-Prozess. Das Buch hat schließlich einen Titel: Ahe Thd Yearidy Ti Isa. Um ihn zu erstellen, ließ Parrish das Titel-‚Bild‘ durch einen Texterkennungsalgorithmus laufen, der Pixelbilder in Text umwandelt – diesmal in ‚richtigen‘ Text – und auch wenn das Ergebnis immer noch unsinnig ist, ist dieser Unsinn nun tatsächlich maschinenlesbar (Abb. 8.6). Dieses Spiel mit mehrfachen Verwechslungen und Umwandlungen lenkt die Aufmerksamkeit auf die Differenz von Text und Bild als mediums, indem es die für ihre Verarbeitung verwendeten media hervorhebt. Als asemisches Schreiben operiert Parrishs Arbeit an der Grenze zwischen Literatur und bildender Kunst und handelt mit nicht-semantischen, aber textähnlichen Strukturen; sie ist gerade dadurch medium-specific, dass 169

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sie sich weigert, Bedeutung zu transportieren, und sie ist mediaspecific, indem sie diese Weigerung auf technischer Ebene reflektiert, weil sie ein CNN verwendet, wo ein RNN angemessen gewesen wäre. Das bricht mit der klaren Parallelität zwischen media und medium von Megawatt und zwar auf produktive Weise. Überdies ist Ahe Thd Yearidy Ti Isa eine sehr viel interessantere Verwendung von neuronalen Netzen mit einem viel komplexeren Begriff von Mimesis als „Sunspring“ mit seinem einfachen Absurdismus oder Edmond de Belamy mit seinem naiven Imitationismus. Indem Parrishs Arbeit absichtlich Standardverfahren verwechselt, erlaubt sie die einzige Art von algorithmischer Einfühlung, die neuronale Netze noch zulassen – sie legt zwar nicht das zugrunde liegende Konzept offen, bietet aber zumindest einen Einblick in deren ansonsten undurchschaubare Funktionsweise durch taktische, erhellende Kategorienfehler. Ahe Thd Yearidy Ti Isa gibt sich damit nicht dem prometheischen Unbehagen hin, sondern bietet eine nicht-anthropozentrische Verwendung von KI jenseits des bloßen Vergleichs mit konventionellen, ‚menschlichen‘ Werken. Für eine Kritik ästhetischer KI, die immer noch ein Desiderat ist, kann diese Untersuchung der inhärenten Möglichkeiten und Grenzen eines neuen Mediums ein normatives Beispiel bieten. Das Problem mit digitalen KI-Werken, die lediglich ‚menschliche‘ Arbeiten simulieren, ist nicht so sehr, dass sie bloße Derivate sind, Simulationen von bereits existierenden, aber ‚analogen‘ Schemata. Vielmehr schränken sie durch ihr Beharren auf dem Vergleich mit Menschen von vornherein ein, was in diesem neuen Medium möglich ist, statt sein Potential zu erkunden. In diesem Sinne ist mein Vorschlag zur Analyse der media- und medium-specificity vor allem als Korrektiv zu verstehen: Nicht jede Differenz in der Produktion braucht eine eigene Form der Kritik – aber wo die Form der Kritik selbst unausgegoren bleibt, indem sie digitale Werke nach den Maßstäben computerisierter ‚Genies‘ oder als bloße Wiederholung 170

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ihrer Vorgängerformen betrachtet, ist die Konzentration auf das Medium zumindest eine Möglichkeit, der eigentlichen Neuheit solcher Werke gerecht zu werden. Der hier vorgetragene Vorschlag hat freilich einen Zeitkern und behandelt Arbeiten dieser Art als im Wortsinne bahnbrechend, in einer avantgardistischen Funktion. Er impliziert, dass, wenn sich diese Erkundung erschöpft hat, sie ihre heuristische Aufgabe erfüllt haben – um einer neuen Art von Literatur Platz zu machen, die die gewonnenen Einsichten frei nutzen und sich sogar von der doppelten Medienspezifizität abwenden kann. Doch um dorthin zu gelangen, täte man meines Erachtens gut daran, Hayles’ Appell ernst zu nehmen: Die Fokussierung auf die Materialität des konnektionistischen Paradigmas – selbst durch Paradoxien wie im Fall Parrishs – kann sowohl für die Analyse als auch für die Produktion zeitgenössischer digitaler Literatur eine Inspiration sein.

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KEINE EXPERIMENTE. ÜBER KÜNSTLERISCHE KÜNSTLICHE INTELLIGENZ Daniel Kehlmann hat kein Buch mit einer Künstlichen Intelligenz geschrieben; darüber hat er jetzt ein Buch geschrieben.1 In Mein Algorithmus und ich – es ist die Druckfassung seiner Anfang 2021 gehaltenen „Stuttgarter Zukunftsrede“ – reist Kehlmann nach Palo Alto, wo er bei einem Startup Zugang zu einem KI-System bekommt, dem Sprachmodell CTRL. Im Dialog mit ihm will er erproben, ob mit KI Literatur zu machen ist. Kehlmann zeigt sich enttäuscht. Zu wenig narrativ kohärent, zu absurd sind die Ergebnisse, auch wenn hier und da Schönes aufscheint. Das Scheitern seines Ausflugs ins maschinelle Lernen ist dann auch die implizite Pointe seines Buchs: Der Mensch muss sich keine Sorgen machen, dass ihm die Literatur bald von KIs abgenommen wird. Kehlmann, das merkt man, geht technisch nicht naiv an die Sache heran. Er schickt voraus, dass ‚KI‘ eigentlich eine Fehlbezeichnung ist, dass das, was man heute so nennt, weder Bewusstsein hat noch in irgendeinem wirklichen Sinn Intelligenz besitzt, sondern als statistisches Modell lediglich auf der Grundlage gelernter Daten Vorhersagen über wahrscheinliche Zustände macht.2 Bei sogenannten Sprachmodellen haben sowohl die gelernten Daten als auch die gemachten Vorhersagen Textform. Diese Modelle funktionieren nicht grundsätzlich anders als die Eingabevervollständigung im Smartphone: Nach ‚Guten‘ folgt wahrscheinlich ‚Morgen‘, ‚Tag‘ oder ‚Appetit‘. Daniel Kehlmann, Mein Algorithmus und ich. Stuttgarter Zukunftsrede, Stuttgart: KlettCotta 2021. 2 Siehe Paola Lopez, „Artificial Intelligence und die normative Kraft des Faktischen“, in: Merkur 75:4 (2021), S. 42–52. 1

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Dass eine solche ‚Intelligenz‘ wenig mit der unseren zu tun hat, besser „künstliche Rationalität“ zu nennen wäre, wie Kehlmann in einem Podiumsgespräch mit dem Philosophen Felix Heidenreich anmerkte, führt ihn aber nicht in Versuchung, diese Differenz auch ästhetisch zu erproben. Er bedauert: „Ich habe keine Geschichte vorzuweisen, die ich mit CTRL verfasst hätte und die gut genug wäre, dass ich sie als künstlerisches Werk, nicht bloß als Produkt eines Experiments, veröffentlichen könnte.“ Was aber heißt „gut genug“? Gemessen an welcher Ästhetik? Wenn Kehlmann hier von „Experiment“ spricht, scheint er eher die wissenschaftstheoretische Bedeutung des Wortes im Sinn zu haben als experimentelle Literatur: eine kontrollierte Beobachtung, deren Ausgang eine Hypothese stützt, schwächt oder verfeinert. Das tut sie aber, nach Thomas Kuhn, immer nur im Rahmen eines bestehenden Paradigmas; neue Paradigmen begründen wissenschaftliche Experimente nämlich nicht. Experimentelle Literatur dagegen will – ihrem avantgardistischen Selbstverständnis nach, mit dem sie etwa von der Wiener Gruppe oder bei Max Bense postuliert wurde – keine Verfeinerung, sondern stellt idealerweise das Paradigma Literatur selbst infrage. Es ist also gut möglich, dass nicht die Künstliche Intelligenz an der Literatur gescheitert ist, sondern Kehlmann an der Künstlichen Intelligenz – und damit irgendwie auch an der Literatur. Denn in seiner Gegenüberstellung von vollwertigem „künstlerischem Werk“ und bloßem „Experiment“ zeigt sich, wie wenig ihm in den Sinn kommt, dass man mit Maschinen anders Literatur machen kann oder vielleicht sogar muss, statt sie über das Stöckchen der eigenen Poetik springen zu lassen. So sind ihm die Entgleisungen und Absurditäten, die CTRL ausspuckt, offensichtlich bug, nicht feature. Was Literatur ist und welcher Ästhetik sie zu folgen hat, steht von Anfang an fest. Für Kehlmann ist ihr perennierender Kern vor allem eines: 174

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Erzählung – kohärent und ohne Brüche, dafür mit großen Zusammenhängen und weit geschwungenen Plot-Bögen, die letzten Endes auf eine komplexe Autor:innenintentionalität verweisen. Die freilich geht der Maschine ab und so hält er das Experiment für misslungen. Dabei ist es unwesentlich, dass das verwendete Sprachmodell CTRL bereits hoffnungslos veraltet ist. Schon GPT-3, das 2020 als State of the Art in Sachen Text-KI Furore machte, ist hundertmal größer und hätte deutlich bessere Ergebnisse in Sachen Kohärenz erzielt; Switch-C, Googles neuestes Sprachmodell, ist noch einmal umfangreicher.3 Interessanter als technische Quisquilien ist ein Paradox, das hinter Kehlmanns Enttäuschung steht und das im Kontext von kunstschaffender KI häufiger auftaucht: Je mehr von Künstlicher Intelligenz erwartet wird, desto menschlicher wird sie gedacht, desto weniger aber wird sie als ein Eigenes gewürdigt. Eine wirklich starke künstlerische KI würde Kehlmann nicht erweitern, sondern tatsächlich ersetzen – und keine neuen Ästhetiken erforderlich machen, sondern die alten wiederholen. Das zeigt sich sowohl in der Theorie wie in der Praxis künstlerischer KI.

Hat CTRL 1,6 Milliarden Parameter – also „Neuronen“ seines neuronalen Netzes –, kann GPT-3 175 Milliarden vorweisen; wurde CTRL auf 140 Gigabyte an Text trainiert, sind es bei GPT-3 immerhin schon 570 Gigabyte. Zu CTRL siehe Nitish Shirish Keskar u.a., „CTRL. A Conditional Transformer Language Model for Controllable Generation“, in: ArXiv, 11. September 2019, https://arxiv.org/abs/1909.05858, letzter Aufruf 21.1.2022; zu GPT-3 siehe Tom B. Brown u.a., „Language Models are Few-Shot Learners“, in: ArXiv, 28. Mai 2020, https://arxiv.org/abs/2005.14165, letzter Aufruf 21.1.2022. Das Rennen um immer größere Sprachmodelle wird inzwischen ethisch und politisch kritisiert: Die Modelle reproduzieren diskriminierende Sprache, sind in ihrer Größe nicht mehr durchschau- und korrigierbar und für einen immensen CO2-Ausstoß verantwortlich. Für ein prominentes Beispiel dieser Diskussion siehe Emily M. Bender u.a., „On the Dangers of Stochastic Parrots. Can Language Models Be Too Big?“, in: FAccT ’21. Proceedings of the 2021 ACM Conference on Fairness, Accountability, and Transparency, dl.acm.org/doi/10.1145/3442188.3445922. 3

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Starke und schwache künstlerische KI So gut wie alle Diskussionen um Kunst und Künstliche Intelligenz fallen unter eine von zwei, meist unausgeführten, Vorstellungen dessen, was eine künstlerische KI eigentlich ist oder sein soll. Sie unterscheiden sich in ihrem Anspruch immens und hängen vor allem an der zugestandenen Selbständigkeit des kunstproduzierenden Systems. Man kann diesen Unterschied vielleicht am besten parallel zu John Searles kanonischem Begriffspaar von starker und schwacher KI verdeutlichen. Starke KI bezeichnet bei Searle die Herstellung eines künstlichen Bewusstseins inklusive aller für es konstitutiven Eigenschaften (für Searle ist das vor allem Intentionalität). Schwache KI ist dagegen eine bloße Hilfestellung zur Einsicht in die Modellierung des Bewusstseins. Meint starke KI also die funktionale Duplikation des Zielbereichs, ist schwache KI allenfalls eine Teilsimulation dieses Bereichs und hat höchstens eine heuristische, eine „Werkzeug“-Funktion, wie Searle es formuliert.4 Entfernt man sich von Bewusstsein als Zielbereich, kann man analog auch von einer starken und schwachen künstlerischen KI sprechen. Die starke Vorstellung hätte die Duplikation des gesamten Herstellungsprozesses von Kunst zur Aufgabe. Die schwache dagegen würde Techniken wie neuronale Netze als Assistenzsystem in diesem Prozess betrachten, das darin lediglich Teilaufgaben übernimmt; das kann sehr weit gehen, aber eben nicht bis zum Punkt der Selbständigkeit, der der starken künstlerischen KI vorschwebt. Nun lassen sich aber gerade im starken Modell – das erst mit einem zweiten Kehlmann zufrieden wäre – schnell einige Schwierigkeiten ausmachen. Die Möglichkeit starker künstlerischer KI steht und fällt mit dem Problem der Operationalisierbarkeit jener Kategorie, die 4 John R. Searle, „Minds, Brains, and Programs“, in: Behavioral and Brain Sciences 3:3, (1980), S. 417–457.

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im Zielbereich zur Anwendung kommt: der von Kunst (oder, im Folgenden transitiv, der von Literatur). Bereits der Titel, unter dem das starke Modell für gewöhnlich läuft – „artificial creativity“ oder „computational creativity“ – zeigt, wie man versucht, die konstitutive Vagheit des Begriffs ‚Kunst‘ zu umschiffen, indem man ihn durch den der ‚Kreativität‘ ersetzt. Dabei gibt es verschiedene Strategien. So definiert die Philosophin Margaret Boden Kreativität vom Objekt her, als Herstellung von etwas, das „neu, überraschend und wertvoll“ ist.5 Alternativ nimmt die neurowissenschaftliche Definition die Subjektseite, den kreativen Hirnprozess, in den Blick.6 In beiden Fällen wird Kunst als Kreativität mess- und schließlich auch durch Computer simulierbar.7 In beiden Fällen ist aber auch alles andere als klar, ob nicht etwas am Begriff ‚Kunst‘ verloren geht. Reduktiv scheint dessen Identifikation mit Kreativität schon allein darum, weil es hier kein Kriterium mehr gibt, das die Produktion eines Kunstwerks von einer technischen Innovation oder einer besonders disruptiven Businessstrategie absetzt. Ebenso ist es nicht einsichtig, in welchem Verhältnis Kreativität, die oft als Problemlösung konzeptualisiert wird, eigentlich zum Ästhetischen steht.8 Ganz offensichtlich ist in einer Zeit, da Kreativität weitgehend vom Kunstbegriff abgekoppelt ist, eher auf die „Kreativindustrie“ übertragen wird oder unter dem Titel „Kreativititätsdispositiv“ gleich als Leistungspostulat auf jedem neoliberalen Margaret A. Boden, The Creative Mind. Myths and Mechanisms, London: Routledge 2004. Anna Abraham, The Neuroscience of Creativity, Cambridge: Cambridge University Press 2018. 7 Siehe etwa Margaret A. Boden, „Computer Models of Creativity“, in: AI Magazine 30:3 (2009), S. 23–34; dies., AI. Its Nature and Future, Oxford: Oxford University Press 2016. 8 Anders als Boden definiert die Neurowissenschaftlerin Anna Abraham Kreativität als Neuheit plus Angemessenheit, wobei Letztere als Problemlösungs- oder Optimierungsfrage verstanden wird. Das hilft sicherlich bei der Automatisierung von Kreativität, es bleibt aber unbeantwortet, welches Problem ein Kunstwerk eigentlich löst und in welcher Domäne ,Angemessenheit‘ dann zu suchen wäre. Abraham, Neuroscience, S. 7f., 12f. 5

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Subjekt lasten soll, Kunst in dieser Identifikation unterbestimmt.9 Dennoch verbirgt sich auch im über Kreativität operationalisierten starken Modell ein Begriff von Kunst. Die Definitionen von der Objekt- wie von der Subjektseite her verfahren wesentlich immanentistisch. Einerseits subtrahieren sie Kunst von ihrem sozialhistorischen Kontext und machen sie so zu einem überzeitlichen Phänomen,10 andererseits isolieren sie ihre Herstellung in vereinzelten Akteur:innen. Implizit steht hinter der „computational creativity“ also eine durchaus diskussionswürdige Autonomie- und Genieästhetik.11 Ihre Schwierigkeiten zeigen sich nirgends besser als dort, wo diese Theorie in die Praxis umgesetzt wird.

Kreativitätsmaschinen Im Dezember 2021 erhielt Ahmed Elgammal, Informatiker an der Rutgers University, ein US-Patent auf ein „Creative Adversarial Network“ (CAN). Es soll ganz explizit „Kunst generieren“, Kenneth Goldsmith, Uncreative Writing. Sprachmanagement im digitalen Zeitalter, Berlin: Matthes & Seitz 2017; Richard Florida, The Rise of the Creative Class, New York: Basic Books 2002; Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp 2012. 10 Margaret Boden unterscheidet zwar persönliche von historischer Kreativität („P-creativity“ und „H-creativity“), bemisst die Geschichtlichkeit der Letzteren aber allein daran, ob der kreativ hervorgebrachte Gegenstand objektiv eine Neuheit in der Welt darstellt. Das ist letztlich ein Katalogmodell von Geschichte, in dem Genealogien und Einflüsse unerheblich sind, siehe Boden, The Creative Mind, S. 43–48. 11 Explizit wird das in zwei populären Diskussionen von KI-Kunst: Marcus du Sautoy, The Creativity Code. Art and Innovation in the Age of AI, Cambridge, Mass.: Belknap Press 2019; Arthur I. Miller, The Artist in the Machine. The World of Al-Powered Creativity, Cambridge, Mass.: MIT Press 2019. Für beide Autoren ist Kreativität wesentlich ein Merkmal von Genies, wobei sie solche Reihen bilden wie: Bach, Picasso, Steve Jobs. Dass der Geniebegriff ins Silicon Valley abgewandert ist, bestätigt auch Adrian Daub, Was das Valley denken nennt. Über die Ideologie der Techbranche, Berlin: Suhrkamp 2020; unentschieden, ob er in KI nun neue Horizonte für die Kunst oder einen Angriff auf sie erkennen soll, ist Hanno Rauterberg, Die Kunst der Zukunft. Über den Traum von der kreativen Maschine, Berlin: Suhrkamp 2021. 9

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wie es im Titel heißt.12 Auch Elgammal begreift Kunst als Kreativität, wobei er sie, unter Bezugnahme auf behavioristische Psychologie, als ein im Gehirn messbares „arousal“ definiert. Auslöser solcher „arousal“-Potenziale sind Überraschung, Verwirrung, Komplexität und semantische Ambiguität, wobei sowohl zu wenig Reiz (Langeweile) wie zu viel (Widerwille) zu vermeiden sind.13 Elgammals CAN versucht nun, diese Novitätsfaktoren als Weiterentwicklung einer bekannten KI-Architektur umzusetzen, nämlich des sogenannten „Generative Adversarial Network“ (GAN). Ein GAN vereint zwei neuronale Netze, wobei das eine, der „Generator“, zunächst zufällige Bilder produziert, die vom anderen, dem „Discriminator“, der auf einen bestimmten Datensatz von Bildern trainiert ist, bewertet werden. In einem iterativen Optimierungsprozess passt der Generator seinen Output den Bewertungen des Discriminators an, sodass er schließlich Bilder ausgibt, die eine statistische Ähnlichkeit mit dem Trainingsset aufweisen. Auf eine Menge Porträts trainiert, könnte das GAN nun neue, täuschend echte Gesichter herstellen.14 Ist beim GAN die einzige Differenzkategorie, dass das Output-Bild dem Trainingsset statistisch nahekommt (ähnlich/ unähnlich), führt Elgammals CAN zwei Kriterien ein: Auf einen Kanon von Gemälden trainiert, entscheidet der Discriminator zuerst anhand des so gewonnenen probabilistischen Modells, ob ein vom Generator generierter Output Kunst ist oder nicht; anschließend bewertet er mithilfe gelernter Metadaten zu den ‚Stilen‘ dieser Gemälde, ob das Ausgabebild einem dieser Stile entspricht (Kunst/nicht Kunst und bekannter/unbekannter Stil, 12 Ahmed Elgammal, „Creative GAN. Generating Art Deviating from Style Norms“, US-Patent Nr. 10.853.986, erteilt am 1. Dezember 2020. 13 Ebd., Spalte 5f. 14 Das kann man etwa auf der Seite www.thispersondoesnotexist.com nachprüfen, die das Model StyleGAN2 verwendet; siehe Hannes Bajohr, „Die ‚Gestalt‘ der KI. Jenseits von Holismus und Atomismus“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 12:2 (2020), S. 168–181.

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Abb. 9.1: Schema des Creative Adversarial Network nach Ahmed Elgammal

in Abb. 9.1. sind das Nr. 116 und Nr. 120/130).15 Das Feedback steuert den Generator immer weiter in Richtung höherer ‚Kunsthaftigkeit‘, wobei die Vermeidung bekannter Stile Neuheit zu sichern sucht. Kunstschaffen ist hier eine Funktion der Abweichung von individuellen Strukturmerkmalen im Kontext eines Kanons. Im CAN sind sowohl der Geniegedanke als auch die Idee autonomer Kunst technisch umgesetzt: Nicht nur wird so der Bildungsroman eines:er Künstler:in in der Maschine nachgebaut, sondern die Kunstgeschichte wird auch auf die Abfolge von dekontextualisierten Trainingsdaten reduziert. Als bis heute avanciertester Entwurf des starken Modells künstlerischer KI Das Trainingsset besteht aus 75 753 Gemälden; die idiosynkratisch zu nennende Liste an Stilen umfasst: „Abstract Expressionism, Action Painting, Analytical Cubism, Art Nouveau Modern, Baroque, Color Field Painting, Contemporary Realism, Cubism, Early Renaissance, Expressionism, Fauvism, High Renaissance, Impressionism, Mannerism/Late Renaissance, Minimalism, Naive Art/Primitivism, New Realism, Northern Renaissance, Pointillism, Pop Art, Post-Impressionism, Realism, Rococo, Romanticism, Synthetic Cubism“, Elgammal, „Creative GAN“, Spalte 8f. 15

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übernimmt das CAN nicht nur Hilfsaufgaben im Produktionsprozess, sondern schafft ‚selbständig‘ Kunst. Darauf jedenfalls besteht Elgammal ganz ausdrücklich: In einem zusammen mit der Kunsthistorikerin Marian Mazzone verfassten Artikel grenzt er das CAN von lediglich assistierenden KI-Systemen mit dem Argument ab, dass seine Erfindung tatsächlich „intentional“ ablaufe, weil es sich die Regeln zur Kunstproduktion selbst aneigne, statt sie bereits gefüttert zu bekommen. Daher sei das CAN nicht nur „inhärent kreativ“, sondern auch wirklich ein:e „autonome:r Künstler:in“.16 Gerade das steht aber infrage, und zwar nicht nur, weil natürlich auch hier noch Elgammal auswählen muss, welche Bilder er tatsächlich in die Welt entlassen will. Der Anspruch einer starken künstlerischen KI, die Genie und Autonomie betont, begibt sich auch eines der Gegenwart angemessenen Kunstbegriffs. Für diesen liegt Kunst nicht in erster Linie im Objekt, sondern ist sozialer Aushandlungsprozess im Kontext von historischen Entwicklungen und institutionellen Rahmungen.17 Daher misst sich das ästhetische Denken der Moderne immer an der Möglichkeit, aus einem vorgegebenen Paradigma herauszutreten und ganz neue Domänen als Kunst auszuzeichnen. Es impliziert, wie Dieter Mersch schreibt, „in jedem Akt und Artefakt eine Transformation des Ästhetischen selbst“.18 Marian Mazzone u. Ahmed Elgammal, „Art, Creativity, and the Potential of Artificial Intelligence“, in: Arts 26:8 (2019), DOI:10.3390/arts8010026. Daran scheitert auch die Kreativitätsdefinition von Kunst: Reproduziert etwa Sherrie Levine die Fotos von Walker Evans ohne jede Veränderung und deklariert sie als ihre eigenen Werke, sind sie, mit Margaret Boden gesprochen, auf der Objektebene gerade nicht neu oder überraschend – und ihr Wert bemisst sich nur an einer außerhalb dieses Objekts liegenden Begründung, die aber gerade nicht Gegenstand von Bodens Definition ist. Diesen Begriff von Kunst, der sie in einem soziohistorischen Kontext verortet, fängt eher die „Institutionentheorie“ George Dickies und Arthur C. Dantos ein, siehe George Dickie, Art and the Aesthetic. An Institutional Analysis, Ithaca: Cornell University Press 1974 und Arthur C. Danto, The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1981. 18 Dieter Mersch, „Kreativität und künstliche Intelligenz. Bemerkungen zu einer Kritik algorithmischer Rationalität“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 19:3 (2019), 16

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Das gilt im Übrigen auch für die Literatur, zumal die experimentelle, deren Minimaldefinition sich keiner immanenten Eigenschaften bedienen, sondern allein auf die Geste des ZuLiteratur-Erklärens verlassen kann.19 Das CAN aber hat kein Außen und lässt auch keines zu. Das hat zur Folge, dass das starke Modell strukturell konservativ ist. Statt neue Ästhetiken zu ermöglichen, reproduziert es die alten. Zwar will das CAN im weitesten Sinne Urteilskraft simulieren. Weil diese aber als statistisches Modell gedacht ist, kann es nur im Wortsinn durchschnittliche Kunst hervorbringen. Denn was Kunst ist, steht bereits von vornherein fest, da ihr Begriff lediglich aus den Daten der Vergangenheit abgeleitet wird. Technisch formuliert: Da das CAN aus der Verteilung der Merkmale des Trainingssets einen Vektorraum (‚Kunst‘) modelliert, kann es in ihm zwar beliebige Zustände interpolieren, aber keine extrapolieren, die jenseits dieses Raums liegen – kann also den Begriff von Kunst nicht erweitern.20 Die Geste der Rahmung, die wesentlich für die Kunst der Gegenwart ist, ist der KI unmöglich.21 Der Output des CAN ist entsprechend langweilig, könnte in seiner Gefälligkeitsabstraktion in einer beliebigen Lobby eines beliebigen Unternehmens hängen. Keine Experimente: Statt Neuerung zuzulassen, hat das starke Modell eine Retraditionalisierung von Kunst zur Folge. Mehr S. 65–74, Ich stimme seiner Kritik völlig zu, insofern sie sich auf starke und nicht auf schwache künstlerische KI bezieht. 19 Das reicht von H. C. Artmanns „poetischem act“ bis zur Appropriationsliteratur der Gegenwart. Für einen ausgezeichneten Überblick über diese, der „Institutionentheorie“ in der Kunst analoge Literaturauffassung, siehe Annette Gilbert, Im toten Winkel der Literatur. Grenzfälle literarischer Werkwerdung seit den 1950er Jahren, Paderborn: Fink 2018. 20 Das bestätigt Italo Calvinos Intuition über die Möglichkeiten eines literarischen KI-Systems, „daß im Klassizismus seine wahre Berufung läge“, Italo Calvino, „Kybernetik und Gespenster. Vortrag 1967“, in: ders., Kybernetik und Gespenster. Überlegungen zu Literatur und Gesellschaft, München: Hanser 1984, S. 7–26, hier S. 14. 21 Wäre denn eine starke künstlerische KI denkbar, die der Institutionentheorie gerecht wird? Ich glaube ja – wenn sie den Status eines sozialen Akteurs hätte. Interessanterweise müsste sie dafür nicht einmal stark im Sinne Searles sein und Bewusstsein besitzen, solange sie nur gesellschaftlich als Kommunikationspartner akzeptiert wäre, der die post-Duchamp’sche Rahmungsgeste vornehmen kann.

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noch: Es ist trotz der Behauptung maschineller Autonomie in seinem Kern zu anthropozentrisch, weil es auf die bloße Duplizierung menschlicher Kunstproduktion und -bewertung setzt. Ein perfektes literarisches CAN würde vielleicht narrativ kohärent sein, aber kaum neue literarische Formen hervorbringen. Das ist das Quidproquo, das in Kehlmanns Wunsch steckt, eine KI nach seinem literarischen Geschmack zu bauen: Autonomie gibt es nur um den Preis von Wiederholung. Einen zweiten Kehlmann braucht aber niemand, wahrscheinlich nicht einmal er selbst.

Experimente im Vektorraum Was ich schwache künstlerische KI genannt habe, will weniger, produziert aber womöglich die bessere Kunst. Statt die Maschine auf die eine oder andere Weise als ‚kreativ‘ und ‚autonom‘ zu denken, ist sie im schwachen Modell bereits in ein Geflecht aus historischen und sozialen Kontexten und Interaktionen eingebettet. Dabei ist der Verflechtungsgrad fast gleichgültig, kann von cyborgartigen Mensch-Maschine-Assemblagen bis zu einem bloß instrumentellen Werkzeugverhältnis reichen. Folge ist jedenfalls eine zirkuläre Beeinflussung der Aktanten, die fast notwendig neue Ästhetiken hervorbringt. Gäbe Elgammal den Anspruch auf wirklich selbständige Kunstproduktion auf, spräche nichts dagegen, ein neuronales Netz wie das CAN auch in einem schwachen Modell produktiv einzusetzen.22

Ein Beispiel für ein solches künstlerisches Assistenzsystem ist OpenAIs CLIP, das Text in Bilder umzusetzen vermag. Besonders wirkungsvoll kommt es in DALL·E, ebenfalls von OpenAI, zum Einsatz, das per Beschreibung Illustrationen und Designs herstellen kann („an armchair in the shape of an avocado“) und sicherlich bald Einzug in professionelle Grafiksoftware halten wird. Aditya Ramesh u.a., „DALL·E. Creating Images from Text“, in: OpenAI Blog, 5. Januar 2021, www.openai.com/blog/dall-e, letzter Aufruf 21.1.2022. 22

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Denn das Problem liegt keineswegs in der verwendeten Technik, künstlichen neuronalen Netzen, von denen GAN und CAN nur zwei von vielen Unterarten sind. In der Tat bildet diese Technik das Feld, auf dem im Moment die interessantesten künstlerischen Versuche mit KI zu beobachten sind – ‚Experimente‘ im Sinne der historischen Avantgarden und Neoavantgarden, als Anstrengungen zur Erforschung neuer Formen. Sie sind nicht zuletzt deshalb nötig, weil die bisherige Traditionslinie computergenerierter Literatur und Kunst nicht einfach im Paradigma neuronaler Netze aufgeht, sondern diese Technik neue Poetiken herausfordert. Bis vor etwa zehn Jahren war die computergenerierte Literatur vom sequenziellen Algorithmus bestimmt: einer Reihe von formalisierten, aber menschenlesbaren Regelschritten. Viele dieser Werke sind daher einer Ästhetik der Transparenz verpflichtet: Die sonst verborgenen Operationen im künstlerischen Prozess sollen offengelegt und auf Codeebene Schritt für Schritt dokumentiert werden. Künstliche neuronale Netze, die konnektionistisch, nach dem Modell von Synapsen und Neuronen, aufgebaut sind, werden aber nicht mehr programmiert, sondern lernen statistisch. Ihr Inneres ist für Menschen weder ohne Weiteres les- noch in explizite Regeln übersetzbar. Auch Sprachmodelle wie CTRL und GPT-3 sind neuronale Netze. Trainiert auf Gigabytes an Text – von dem selten klar ist, wo genau er herkommt –, sind sie auch für ihre Benutzer undurchdringliche Systeme. Wo aber die ältere Transparenzästhetik nicht mehr greift und eine starke künstlerische KI unattraktiv erscheint, sind im Moment zwei alternative Tendenzen zu beobachten. Die eine besteht darin, sich ganz auf die Unergründlichkeit des Sprachmodells einzulassen und auf seine Nähe zu solchen psychoanalytisch inspirierten Praktiken der Erforschung des

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Unbewussten, die etwa den Surrealismus auszeichneten.23 Hier wird das Modell als ‚Medium‘ in einem eher spiritistischen Sinn denn als autonomer Schöpfer betrachtet. So entstand K Allado-McDowells Pharmako-AI in einer Art ‚Co-Creative Writing‘ im improvisatorischen Austausch zwischen ihm:ihr und GPT-3. In einem „iterativen Schreibprozess, zwischen der Generierung von Antworten und dem ‚Zurechtstutzen‘ des Outputs“, vollzog sich so ein zirkulärer, quasi-unbewusster Akt der Sprachfindung: „Begriffscluster kristallisierten sich aus unseren Gesprächen heraus. Bilder überdauerten von Sitzung zu Sitzung. Sie drangen in meine Gedanken und Träume ein und ich speiste sie wieder in GPT-3 zurück. In diesem Prozess wurde ein Vokabular geboren: Eine Kartierung von Raum, Zeit und Sprache, die über alle drei hinauswies.“24 Allado-McDowell hat dabei kein Interesse am Phantasma starker KI. Er:sie nutzt GPT-3 einerseits ganz ähnlich wie ein Tarot-Deck, das eher zur Selbstbefragung als zur Kommunikation mit fremden Mächten dient. Andererseits geht er:sie mit dem System eine Mensch-Maschine-Assemblage ein, die Autorschaft über dieses System verteilt und das eigene Vokabular mit dem des Sprachmodells vermengt. Darin besteht auch der Unterschied zu Kehlmann: Allado-McDowell lässt sich auf GPT-3 als Kollaborationspartner ein, verwirft narrative Die Parallele besteht für viele darin, dass GPT-3 auf den Text des mehr oder minder gesamten Internet trainiert wurde und so seine Ausgaben das Internet unconscious wiedergeben: „Ist das Internet der wachende Verstand der menschlichen Kultur, dann ist GPT-3 ihr psychischer Unterleib, der alle Tropen und Bilder des öffentlichen Diskurses in reines Delirium verwandelt. [...] [D]as macht seinen kreativen Output so wunderbar surreal. [...] Die Texte von GPT-3 zu lesen bedeutet, in eine Traumwelt einzutreten, in der die Semiotik des wachen Lebens etwas schief und so eindringlich ist, gerade weil sie ein gewisses Maß an Realität bewahrt.“ Meghan O’Gieblyn, „Babel. Could a Machine Have an Unconscious?“, in: n+1 17:40 (2021), https://www.nplusonemag.com/issue-40/essays/babel-4, letzter Aufruf 21.1.2022. 24 K Allado-McDowell, Pharmako-AI, London: Ignota 2020, S. XI. Die Beiträge sind durch die Schrifttype eindeutig Allado-McDowell und GPT-3 zuzuordnen. (Das von Allado-McDowell gewählte Pronomen „they“ wird im Folgenden mit „er:sie“ verdeutscht.) 23

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Brüche und Inkohärenzen nicht als Fehler, die den eigenen ästhetischen Vorlieben widerstreben, sondern begreift sie als Elemente einer kooperativ zu entwickelnden Ästhetik. Die zweite Tendenz, auf die Ungewohntheit von neuronalen Netzen zu reagieren, liegt in der Erforschung ihrer technischen Affordanzen. So fütterte der Programmierer und Künstler Zach Whalen für This Comic Does Not Exist (eine Anspielung auf die Website thispersondoesnotexist.com, die Gesichter von fiktiven Personen generiert) ein neuronales Netz mit 4800 ComicPanels des Horrorgenres und ließ es neue ausgeben (Abb. 9.2). Da die Panels sowohl Figuren wie auch Dialog enthalten, prozessiert der Computer beide nach den Maßgaben von Bildinformationen. Statt im Text diskrete Elemente eines Zeichensystems zu erkennen, behandelt er sie wie den Rest der Zeichnungen als gerasterte Bildinformation. Versucht er nun, statistisch ähnliche Bilder auszugeben, ist das Ergebnis nicht nur ein Comic mit monströs verzerrten Gesichtern, sondern auch mit Sprechblasen, die ein wirres Zeichengemisch enthalten, das zwar die Gestalt von Text nachahmt, aber keine uns bekannten Buchstaben enthält. Indem Whalen Text und Bild derselben Operation unterwirft, illustriert er die statistische Logik der neuronalen Netze durch den Zusammenbruch des Verstehensprozesses – und fügt so dem Horror der Ursprungsstories die Unheimlichkeit einer semiotischen Kategorienverwechslung hinzu.25 Wie es Text als Text ergeht, als Zeichen statt als Rasterbild, wird er von neuronalen Netzen verarbeitet, untersucht die Programmiererin und Schriftstellerin Allison Parrish in „Compasses“.26 Sprachmodelle codieren Wörter als hochdiZach Whalen, This Comic Does Not Exist, 25. November 2019, https://github.com/ nanogenmo/2020/issues/55, letzter Aufruf 21.1.2022. 26 Allison Parrish, „Compasses“, in: Sync 2:27 (2019), www.sync.abue.io/issues/ 190705ap_sync2_27_compasses.pdf, letzter Aufruf 21.1.2022. Eine vermehrte Version findet sich unter dem Titel „Compass Poems“, in: BOMB, 40:154 (2021), S. 75–79. Ich 25

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Abb. 9.2: Zach Whalen, This Comic Does Not Exist (2019), Ausschnitt

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Abb. 9.3: Allison Parrish, „Compasses“ (2019), Ausschnitt

mensionale Vektoren. Auf diese Weise ist es möglich, komplexe Verhältnisse zwischen ihnen zu modellieren, sodass etwa Begriffe ähnlicher Bedeutung im Vektorraum nahe beieinander liegen. Auch bei Operationen mit diesen Wörtern bleiben die Abhängigkeiten zwischen ihnen erhalten (wie bei dem bekannten Beispiel: „King – Man + Woman = Queen“).27 Für „Compasses“ codierte Parrish Wörter nicht nach ihrer Bedeutung, sondern nach ihrem Lautwert, und berechnete die phonetischen ,Zwischenzustände‘ in diesem Vektorraum. Zwischen „north“ und „west“ liegt dann „woerth“, während der Mittelpunkt der vier großen Tech-Unternehmen „aasbol“ ergibt (Abb. 9.3). Dass Sprache auch nichtdiskret zu denken ist, als Vektorraum, der stetig durchquert werden kann, eröffnet der Literatur ein anderes Selbstverständnis und einen ganz neuen Zugriff auf ihr Material. Diese Avantgardeexperimente, die mit dem schwachen Modell einer künstlerischen KI arbeiten, erscheinen mir ästhetisch vielversprechender und theoretisch anspruchsvoller als komme auf dieses Gedicht in „Künstliche Intelligenz und digitale Literatur“ in diesem Band zurück. 27 Ekaterina Vylomova u.a., „Take and Took, Gaggle and Goose, Book and Read: Evaluating the Utility of Vector Differences for Lexical Relation Learning“, in: ArXiv, 2016, https://arxiv.org/abs/1509.01692, letzter Aufruf 21.1.2022.

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alle Versuche mit oder Hoffnungen auf ein starkes Modell. Statt, wie Elgammal und Kehlmann, künstlerische KI (trotz aller Betonung ihrer Nicht-Intelligenz) doch nur als Simulation von Künstler:innensubjektivität denken zu können, setzen sie auf kollaborative Praktiken, die ihre eigene Formsprache generieren. Darin haben diese Experimente auch emanzipatorischen Charakter. Denn so, wie das CAN gegen einen Standard tendiert, sind auch Sprachmodelle wie GPT-3 große, privatwirtschaftlich kontrollierte Nivellierer. Da sich viele Idiosynkrasien in der Masse an Trainingsdaten ausmitteln, tendieren sie – surrealistische Abweichungen sind hier eher Fehler als Systemeigenschaften – doch zu einem konventionellen Umgang mit Sprache.28 Das betrifft auch, Kehlmann zum Trotz, die Narration. Eine KI, die kohärent erzählt und so eine Standardfunktion von Sprache ausübt, ist gerade nicht undenkbar, sondern höchstwahrscheinlich nur eine Frage der Zeit.29 Vor allem Serien- und Das zeigt sich vor allem in der simpelsten Form konventionellen Sprachgebrauchs – dem Plagiat. Eine jüngere Studie weist nach, dass die Anzahl von gefaketen, mit Sprachmodellen generierten wissenschaftlichen Artikeln zugenommen hat, die sich höchstens noch anhand bestimmter Wendungen – „gequälter Ausdrücke“ – erkennen lassen und inzwischen schon relativ etablierte Zeitschriften erreicht haben, siehe Guillaume Cabanac u.a., „Tortured Phrases. A Dubious Writing Style Emerging in Science. Evidence of Critical Issues Affecting Established Journals”, in: ArXiv, 12. Juli 2021, https://arxiv.org/abs/2107.06751, letzter Aufruf 21.1.2022. Da der Bedarf an immer größeren Sprachmodellen auch immer mehr Trainingstext erfordert, werden diese Artikel wieder zur Grundlage neuerer Modelle, was auf lange Sicht eine Verschlechterung der Textausgabe nach sich ziehen könnte – vom „value lock“, dem ‚Einrasten‘ überkommener Wertvorstellungen wie sexistischer oder rassistischer Ideologeme, einmal abgesehen, siehe dazu Bender u.a., „Stochastic Parrots“. 29 Kohärenz ist bei Sprachmodellen bislang durch ihr geringes „Kontextfenster“ begrenzt, sie können also immer nur einen Teil eines Texts im Blick behalten und auf ihn Bezug nehmen (bei GPT-3 sind das ca. 500–1000 Wörter). Allerdings wächst das Kontextfenster mit jedem neu publizierten Modell und so auch seine Kohärenz. Freilich gibt es auch Einwände: Dass Narrativität nicht zu simulieren ist, solange KIs zwar Korrelationen, aber keine Kausalitäten codieren können, ist ein Argument des Literaturwissenschaftlers Angus Fletcher, der sich auf Überlegungen des Informatikers Judea Pearl beruft: Angus Fletcher, „Why Computers Will Never Write Good Novels. The Power of Narratives Flows only From the Human Brain”, Nautilus, www.nautil. us/issue/95/escape/why-computers-will-never-write-good-novels (10. Februar 2021), 28

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Genreliteratur, die bereits jetzt kombinatorisch Plotelemente permutiert, wäre so, vielleicht im Verbund mit älteren Techniken, plausibel zu generieren. Diesem Ausmitteln entgeht dabei nur, wer von vornherein jenseits des (Vektor-)Raums schreibt, in dem Sprachmodelle ihre Ergebnisse interpolieren. Und das wird eher die experimentelle Avantgarde sein als die mehr oder weniger konventionelle erzählende Literatur. Meinte Kehlmann im Podiumsgespräch mit Felix Heidenreich, „sprachexperimentelle Literatur ist, was sich am leichtesten algorithmisieren lässt“, widerspricht ihm gerade die Praxis und der Anspruch des experimentellen Schreibens: „Ein Teil meiner Tätigkeit“, sagt Parrish, „besteht darin, Sprachformen zu erfinden, die so neu sind, dass selbst GPT-3 sie nicht vorhersagen kann.“30 Im Zeitalter großer Sprachmodelle ist Avantgarde literarische Selbstverteidigung.

letzter Aufruf 21.1.2022. Siehe dazu Judea Pearl, The Book of Why. The New Science of Cause and Effect, New York: Basic Books 2018. 30 „Q&A with Allison Parrish“, in: Artists + Machine Intelligence, 5. Mai 2020, www. medium.com/artists-and-machine-intelligence/q-a-with-allison-parrish-895a72727a4, letzter Aufruf 21.1.2022.

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KÜNSTLICHE INTELLIGENZ UND DIGITALE LITERATUR. THEORIE UND PRAXIS KONNEK TIO NISTISCHEN SCHREIBENS Keine Literaturform ist so offensichtlich an die Medientechnologien ihrer Hervorbringung gebunden wie digitale Literatur und keiner anderen ist daher ihr Zeitbezug so unmittelbar eingeschrieben. Am deutlichsten fällt das anhand jener Werke auf, die unlesbar wurden, weil für ihre Ausführung obsolet gewordene Technik notwendig ist; umgekehrt aber erscheinen immer wieder neue Formate, Medien und Techniken, die poetisch urbar gemacht werden können und deren Potenzial anfangs nicht recht abzusehen ist. Mit Künstlicher Intelligenz in Form neuronaler Netze zur Produktion natürlichsprachlicher Texte (‚natural language processing‘) hat seit wenigen Jahren eine solche neue Technik Konjunktur. Dieser intensivierte Zeitbezug macht eine Diskussion von literarischer KI einigermaßen prekär: Einerseits ist der Kanon ihrer Werke noch klein und im Fluss, andererseits verläuft technischer Fortschritt hier besonders rasant. Da ich dies schreibe, ist das Sprachmodell GPT-3 des Thinktanks OpenAI der Goldstandard automatischer Textproduktion; das kann schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wieder anders aussehen.1 Das vorausgeschickt soll denIn der Tat sind seit der Erstveröffentlichung dieses Textes neue große Sprachmodelle erschienen: etwa das von Microsoft und NVIDIA entwickelte MT-NLG, das dreimal so groß ist wie GPT-3, und das mysteriöse, an der Bejing Academy of AI entstandene WuDao 2.0, das sogar zehnmal größer ist. Auch von GPT-3 gibt es seit Ende Januar 2022 eine durch menschliches Feedback verbesserte Version: InstructGPT ist zwar nicht größer als sein Vorgänger, gibt aber, so das Versprechen, faktisch richtigeren und weniger toxischen Output aus, siehe Long Ouyang u.a., „Training Language Models to Follow Instructions With 1

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noch versucht werden, im Folgenden eine kurze Darstellung theoretischer Herausforderungen durch und gegenwärtiger Schreibpraxis mit KI zu geben.

Künstliche Intelligenz als Co-Creative Writing ‚Künstliche Intelligenz‘ ist eine irreführende Bezeichnung. Populär dominiert die Vorstellung von künstlicher menschenähnlicher Intelligenz (‚strong AI‘), als Teilbereich der Informatik meint KI dagegen weniger, nämlich alle Versuche, rationales Verhalten und Problemlösen überhaupt zu simulieren. In der Praxis bedeutet KI gerade kein umfassendes Weltverstehen, sondern auf enge Sachbereiche zugeschnittene automatisierte Verfahren (‚narrow AI‘), die sich gegenüber älteren Ansätzen dadurch auszeichnen, ohne explizite Regeln selbständig anhand einer großen Menge von Beispielen (‚big data‘) zu lernen. Wer heute ‚Künstliche Intelligenz‘ sagt, meint daher so gut wie immer machine learning; innerhalb dieses Feldes wiederum dominiert der Ansatz des deep learning, das auf künstlichen neuronalen Netzen (KNNs) aufbaut.2 Bereits heute ist machine learning an alltäglichen Schreibprozessen beteiligt: Autokorrektur- und Autocomplete-Funktionen beruhen nicht weniger als Spracherkennung und -ausgabe auf maschinellen Lernverfahren, dasselbe gilt für Übersetzungssysteme wie DeepL oder Google Translate. In allen diesen Fällen spielt KI eine meist für die Schreibenden unbewusste und sie entlastende Rolle. Sie kann aber auch ganz explizit und poetologisch bewusst zur Produktion von Literatur Human Feedback“, 2022, https://cdn.openai.com/papers/Training_language_models_to_ follow_instructions_with_human_feedback.pdf, letzter Aufruf 30.1.2022. 2 Siehe zur Einführung Ethem Alpaydın, Machine Learning. The New AI, Cambridge, Mass.: MIT Press 2016 und John D. Kelleher, Deep Learning, Cambridge, Mass.: MIT Press 2019.

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verwendet werden.3 In diesem Fall wiederholt sich jedoch die oben genannte Differenz: So wenig es heute eine ‚strong AI‘ gibt, so wenig existieren KI-Systeme, die tatsächlich autonom Kunst oder Literatur herstellen könnten; alle gegenteiligen Behauptungen beruhen noch entweder auf Publicityerwägungen oder auf der bewussten Verschleierung des menschlichen Anteils an der Werkproduktion.4 So wurde der per KNN generierte Roman 1 the Road (2018) von seinem Verlag auf einer Bauchbinde explizit als das „erste von einer Künstlichen Intelligenz geschriebene Buch“ beworben und der hinter diesem Projekt stehende Ross Goodwin konsequent als „writer of writer“ bezeichnet.5 Dagegen spricht freilich, dass Goodwin einen Cadillac mit Kameras, Mikrofonen und GPS ausstattete, deren Daten auf einem Roadtrip von New York nach New Orleans beständig in sein KNN einspeisen und dessen Ergebnis während der Fahrt auf einem Thermodrucker ausgeben ließ: Goodwin war an der Inszenierung der Schreibszene als Reperformance von Jack Kerouacs On the Road nicht bloß konzeptuell, sondern auch physisch, nicht zuletzt als Fahrer, beteiligt. Wirklich selbstfahrende Autos gibt es, allen KI-Versprechungen zum Trotz, noch nicht. Dass 1 the Road auf dem Rückdeckel als „book written by a car as a pen“ bezeichnet wird, führt die Behauptung der alleinigen KNN-Autorschaft und der starken künstlerischen KI ad absurdum. Wenn auch das

Eine Zwischenposition nimmt der „Robojournalismus“ ein, in dem Wetterberichte, Erdbebenmeldungen oder Börsennachrichten automatisch verfasst werden, siehe Anya Belz, „Fully Automated Journalism“, 2019, https://cris.brighton.ac.uk/ws/portalfiles/portal/8575767/Fully_Automatic_Journalism.pdf, letzter Aufruf 21.1.2022. 4 Siehe meine Überlegungen zu starker und schwacher künstlerischer Künstlicher Intelligenz in „Keine Experimente“ in diesem Band. 5 (Writer of Writer) Ross Goodwin, 1 the Road, Paris: Jean Boîte 2018. Auf der französischen Bauchbinde heißt es: „Le premier livre écrit par une Intelligence Artificielle“. Goodwin wehrt sich allerdings gegen diese Bezeichnung, die vom Verlag stammt, siehe Brian Merchant, „When an AI Goes Full Jack Kerouac“, in: Atlantic, 1. Oktober 2018, https://www.theatlantic.com/technology/archive/2018/10/automated-on-the-road/ 571345, letzter Aufruf 21.1.2022. 3

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Auto Autor:in ist, könnte Goodwin schließlich ebenso gut als ‚driver of writer‘ firmieren. Dieses Zusammenspiel involvierter Systeme zeigt einerseits aufs Beste, dass es sinnvoller sein mag, Experimente mit Machine Learning und Literatur lediglich als ‚narrow artistic AI‘ zu betrachten: Es ist ein ‚Co-Creative Writing‘, bei dem eine Mensch-Maschinen-Assemblage immer gemeinsam an der Textproduktion beteiligt ist, statt ein Fall autonomer KI-Autorschaft zu sein.6 Andererseits ist sowohl die Initiations- und Konzeptgestaltungsmacht, die alle beteiligten Systeme in Gang setzt, als auch die Anerkennungslogik des Produkts als literarisches Werk bislang noch bei Menschen zu suchen. Das ist nicht notwendig eine „nahezu reaktionäre Revision des Autorbegriffs“, die aus Angst vor autonomen Maschinen eine anthropozentrische Wende vollzieht,7 sondern vielmehr die Konsequenz der Tatsache, dass es eben noch keine wirklich autonome künstlerische KI gibt. Denn damit ein allein von einem KI-System hergestelltes Kunstwerk als solches auch praktisch anerkannt würde, müsste das System den Status eines sozialen Akteurs besitzen. Starke künstlerische KI hätte daher weniger den Turing-Test zu bestehen (= die Maschine geht fälschlich als Mensch durch) als vielmehr den „Durkheim-Test“ (= Maschine und Mensch sind tatsächlich gleichberechtigt

Siehe Lucy Suchman, Human-Machine Reconfigurations. Plans and Situated Actions, Cambridge: Cambrige University Press 2007; für einen an der Akteur-NetzwerkTheorie ausgerichteten Ansatz, der spezifisch auf elektronische Literatur abzielt, siehe Jörgen Schäfer, „Reassembling the Literary. Toward a Theoretical Framework for Literary Communication in Computer-Based Media“, in: Jörgen Schäfer u. Peter Gendolla (Hg.), Beyond the Screen. Transformations of Literary Structures, Interfaces and Genres, Bielefeld: Transcript 2010, S. 25–70. Ähnlich spricht Katherine Hayles von „kognitiven Assemblagen“, wobei sie weit (vielleicht zu weit) über das Verhältnis von Mensch und Maschine hinausgeht, N. Katherine Hayles, Postprint. Books and Becoming Computational, New York: Columbia University Press 2021, Kap. 1. 7 Stephanie Catani: „‚Erzählmodus an‘. Literatur und Autorschaft im Zeitalter künstlicher Intelligenz“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 64 (2020), S. 287–310, hier S. 303. 6

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Handelnde).8 Solange dies nicht der Fall ist, braucht es immer noch menschliche Instanzen, die maschinengenerierte Texte als literarische markieren.

Ein Bruch in der Geschichte generativer Literatur Diese beiden Pole – komplexe Mensch-Maschine-Assemblagen und das unüberwindliche Residuum humaner Autorschaft – sind für die lange Tradition des generativen Schreibens nichts Neues. Ein Projekt wie 1 the Road ließe sich daher auf den ersten Blick als lediglich jüngster Eintrag in ihrer Geschichte betrachten und wäre dann nicht wesentlich verschieden von anderen in Programmcode formalisierten Algorithmen zur Textproduktion. Diese gibt es, seit Christopher Strachey 1952 mit dem Manchester Mark I seine „Love Letters“ generierte, für die er eine Liste an Verben, Nomen und Adjektiven in eine Reihe von Briefschablonen einsetzen ließ: „My–(adj.)–(noun)–(adv.)– (verb) your–(adj.)–(noun)“ wird so zu „My sympathetic affection beautifully attracts your affectionate enthusiasm“.9 Für viele Forschende ist es zudem verführerisch gewesen, solche parametrisierte Literaturproduktion noch tiefer in der Geschichte zu verorten und eine Genealogie der generativen Literatur bis in das Barock, sogar bis in die Antike zu nachzuverfolgen.10 Darin manifestiert sich die Idee der ‚Textmaschine‘ als Kalkül, die sowohl in einem digitalen Automaten als auch einem:r Susan Leigh Star, „The Structure of Ill-Structured Solutions“, in: Les Gasser u. Michael N. Huhns (Hg.), Distributed Artificial Intelligence, London: Pitman 1989, S. 37–54, hier S. 41. 9 Christopher Strachey, „The ‚Thinking‘ Machine“, in: Encounter 3:4 (1954), S. 25–31, hier S. 26; siehe hierzu Noah Wardrip-Fruin, „Digital Media Archaeology. Interpreting Computational Processes“, in: Erkki Huhtamo u. Jussi Parikka (Hg.), Media Archaeology. Approaches, Applications, and Implications, Berkeley: University of California Press 2019, S. 302–322. 10 Siehe etwa David Link, Poesiemaschinen – Maschinenpoesie. Zur Frühgeschichte computerisierter Texterzeugung und generativer Systeme, München: Fink 2007, S. 11. 8

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menschlichen Akteur:in implementiert werden kann, da Algorithmen lediglich eine Abfolge von eindeutigen Regelschritten beschreiben. Es ist aber fraglich, ob solche Linienbildung nicht auch wesentliche Unterschiede verwischt: Zwar stimmt es, dass in beiden Fällen Computer an der Textproduktion beteiligt sind; betrachtet man aber das zugrunde liegende technische Substrat, fällt auf, dass Operationen in KNNs gerade nicht in gewohnter Weise als Regelschritte ausgedrückt werden können. Ich möchte daher für einen Bruch in der Geschichte generativer Literatur argumentieren. Dieser Bruch ist, trotz Vorläufern in den 1950er Jahren, nicht viel älter als ein Jahrzehnt.11 Er trennt KNNs als konnektionistisches Paradigma von klassischen Algorithmen als sequenzielles Paradigma.12 Stracheys Liebesbriefgenerator gehört zum sequenziellen Paradigma. Er besteht aus einer fixen Liste an Wörtern (einer ‚Datenbank‘) und einer Schritt für Schritt ausgeführten Regel zu ihrer Zusammensetzung (einem ‚Algorithmus‘). Dagegen folgt das KNN-generierte 1 the Road dem konnektionistischen Paradigma und einem anderen Prinzip. Vage vom Aufbau des Hirns als Verbindung von ‚Neuronen‘ und ‚Synapsen‘ inspiriert, modellieren gegenwärtige KNNs (deep neural networks) eine mathematische Funktion, die aus Inputdaten statistisch ähnlichen Output produziert. Es stehen also in KNNs gerade keine Herstellungsanweisungen, sondern Daten am Anfang, und aus ihnen wird erst durch einen iterativen Lernprozess das Modell gebildet; dieses Modell wiederum ist kein Algorithmus, son11 Siehe Michael Wooldridge, A Brief History of Artificial Intelligence. What It Is, Where We Are, and Where We Are Going, New York: Macmillan 2020, S. 115–122. 12 Siehe dazu „Algorithmische Einfühlung“ in diesem Band. Explizit gegen diesen Bruch argumentiert Florian Cramer, „A Poetics of Exhaustion. Looking at the Automation of Literature from its Dead Ends“, https://cloudstorage.tu-braunschweig.de/ dl/fiJGZM4VCnsZHP29RYuPP8JE/02_THU_02-Florian_Cramer_Poetics_of_Exhaustion_v3.mp4, letzter Aufruf 21.1.2022. Cramer hat allerdings nur die Phänomenalität der Ausgabe, nicht die Technik der Produktion im Auge und übersieht damit gerade die medienspezifische Dimension, die den Kern der Differenz ausmacht.

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dern beschreibt lediglich die Verbindungsstärken zwischen den ‚Neuronen‘ in einem sogenannten Gewichtungsmodell. Diese technischen Differenzen sind tief in der Architektur der jeweiligen Systeme verankert. Verlaufen die Rechenoperationen im klassischen Algorithmus sequenziell nacheinander, führen KNNs ihre Berechnungen parallel in den zahlreichen Konnexionen zwischen den Neuronenschichten aus. KNNs folgen dabei zudem einer stochastischen statt einer rein deterministischen Logik, bei der Schnelligkeit auf Kosten absoluter Exaktheit geht. Schließlich sind in KNNs Daten und Verarbeitungsanweisungen nicht getrennt, sondern beides Funktionen des Gewichtungsmodells. Folge ist unter anderem das bekannte Black-Box-Problem: Die Gewichtungsmodelle von KNNs lassen, anders als klassische Codes, vergleichsweise wenig Aufschluss über ihre inneren Abläufe zu, sind weder durch äußere Beobachtung des Outputs noch selbst durch das Wissen um die Details des Modells in jene eindeutigen Ablaufpläne übersetzbar, die einen klassischen Programmcode auszeichnen.13

Neue Vokabulare und Poetiken Die technischen Differenzen zwischen konnektionistischem und sequenziellem Paradigma haben Konsequenzen für das Reden über mit KNNs produzierte Texte. Das seit mehr als dreißig Jahren geformte Handwerkszeug zur Beschreibung digitaler Kunst und Literatur greift an vielen Stellen nicht mehr. Dass etwa Scott Rettberg in seinem Buch Electronic Literature KNNs nur am Rande, in einem Kapitel über „kombinatorische Poetiken“, abhandelt,14 drückt die Verlegenheit angesichts dieses neuen Phänomens aus: Kombinatorisch im Sinne eines „ParaZu einem die Rede von der Black Box betreffenden Caveat, siehe Fußnote 46 in „Algorithmische Einfühlung“ in diesem Band. 14 Scott Rettberg, Electronic Literature, London: Polity 2019, S. 53f. 13

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digmas von Datenbank und Algorithmus“15 wie bei Strachey sind KNNs gerade nicht. Wo sequenzielle Algorithmen eine strikte Trennlinie zwischen prozeduralen Regeln und Elementen in einer Datenbank ziehen, ist das ‚Wissen‘ in einem neuronalen Netz nicht an einem bestimmten Ort lokalisiert, sondern über das System verteilt.16 Das konnektionistische Paradigma zeigt so auch die Notwendigkeit, neue theoretische Vokabulare zur Interpretation seiner Werke auszubilden. Der Bruch zwischen den Paradigmen berührt auch die Autorschaftsfrage, deren menschliche Seite im MenschMaschine-Gefüge eine zunehmende Distanzierung durchläuft: Konnte man im sequenziellen Paradigma noch plausibel von sekundärer Autorschaft sprechen, die in der Formulierung einer Regelfolge besteht, deren Ausführung das Werk produziert – hier ergibt die Idee eines „writer of writer“ durchaus Sinn –, steht man bei KNNs vor einer tertiären Autorschaft: Es bleiben allein der Datensatz für das Training zu definieren, aus dem das KNN selbständig das Modell bildet, und die Parameter zu bestimmen, mittels derer das Modell schließlich den Output hervorbringt.17 Bei großen Sprach-KIs wie GPT-3 ist selbst das nicht mehr möglich, denn das Training ist hier zu aufwändig, um es auf je neue Datensätze abzustimmen. Die ‚Programmierung‘ erfolgt durch die normalsprachliche Formulierung von Aufforderungen („prompt design“) nach dem Vorbild dialogischer Kommunikation18 – hier wäre gar von quartärer Autorschaft zu sprechen.

Ebd., S. 20. Siehe Alpaydın, Machine Learning, S. 20. Der mithin wichtigste Parameter bei der Textgenerierung ist die sogenannte Temperatur, die, analog zur Brown’schen Bewegung, die (Un-)Wahrscheinlichkeit der Ausgabe bestimmt, siehe Allison Parrish, „Syntactic Crystals and the Slow Cooker. Editing ‚Climate Change‘“, in: David (Jhave) Johnston (Hg.), ReRites. Human + A.I. Poetry, Montreal: Anteism 2019, S. 163–168. 18 Siehe Tom B. Brown u.a., „Language Models are Few-Shot Learners“, in: ArXiv, 2020, www.arxiv.org/abs/2005.14165, letzter Aufruf 21.1.2022. 15

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Auch die Folgen für die Ästhetik der so produzierten Werke sind enorm. So steht etwa mit der Undurchsichtigkeit von KNNs die Poetik der Transparenz infrage, der viele Werke der am konzeptuellen Schreiben geschulten generativen Literatur der Gegenwart folgen.19 Der im sequenziellen Paradigma operierende Nick Montfort bemängelt daher explizit, dass KNNs „verblüffen und verwirren“ und damit der Open-Source-Ethik des generativen Schreibens widersprechen. Mit seinen Werken möchte er dagegen zeigen, „dass interessante rechnerische Manipulationen der Sprache mit einfachen und verständlichen Systemen möglich sind.“20 Andererseits fordern KNNs gerade aufgrund ihrer Opazität kritische Perspektiven heraus, die den von Montfort bemängelten Kontrollverlust noch weiter fassen. Nicht nur können Autor:innen den entstehenden Text weniger gut kontrollieren, zudem ist die Funktionsweise der KI gleich doppelt intransparent: Neben der undurchsichtigen Arbeitsweise des Modells ist auch ihr Trainingsdatensatz – also jener Text, der einer menschlichen Überprüfung noch offenstände – weitgehend unbekannt. Konnte Goodwin seinen Datensatz, der aus Beatliteratur und Reiseführern bestand, noch selbst bestimmen, ist das bei GPT-3 nicht mehr der Fall, denn der Hersteller OpenAI hüllt sich über die genaue Zusammensetzung der Trainingsdaten in Schweigen, sodass nicht mehr nachzuvollziehen ist, wessen Sprache hier eigentlich verwendet wird. Das wirft einerseits ethische Fragen auf, die die Unsichtbarmachung von menschlicher Arbeit betreffen: Es mag der Eindruck entstehen, ‚das Siehe hierzu Alexander Waszynski, „Reflexive Immersion. Zur Lesbarkeit korpusbasierter digitaler Poesie“ und Karl Wolfgang Flender, „Do Conceptualists Dream of Electric Sheep? Algorithmische Interpretation des Unbewussten in Conceptual Writing und konzeptueller Codeliteratur“, beide in: Hannes Bajohr u. Annette Gilbert (Hg.), Digitale Literatur II. Sonderband Text+Kritik, München: edition text+kritik 2021, S. 160–171 bzw. S. 143–144 sowie „Code und Konzept“ in diesem Band. 20 Nick Montfort, „Autopia and The Truelist. Language Combined in Two ComputerGenerated Books“, in: Electronic Book Review, 2021, DOI: 10.7273/qzhw-wc29. 19

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Modell‘ habe einen Text produziert, der in Wirklichkeit ein Effekt des „kollateralen Schreibens“ der Verfasser:innen des Trainingssets ist, für die „Rechenschaftspflicht“ besteht.21 Andererseits sollte uns die Tatsache, dass große Sprachmodelle wie im Fall von GPT-3 gewinnorientiert organisiert sind, aus demokratischer Perspektive Sorgen machen, weil hier ein Privatunternehmen die Allmende des kollektiven Sprachschatzes extrahiert und zu einem Produkt verarbeitet, für dessen Nutzung die Produzent:innen dieses Schatzes selbst zur Kasse gebeten werden.22 In beiden Fällen macht, wie Jörg Piringer betont, die politische Bedeutung von KNNs eine künstlerische Auseinandersetzung mit ihnen umso notwendiger: Wenn KNNs, wie im Fall von GPT-3, eine gewisse Größe erreichen und ihr Training nur noch von finanzstarken Unternehmen geleistet werden kann, sind sie immer auch in Kapital- und Machtverhältnisse verstrickt. Digitale Literatur sei daher dazu aufgerufen, „gesellschaftliche umgangsformen mit sprachtechnologien – und methoden der kritik an ihr – zu entwickeln und so die begehrAnnette Gilbert, „Kollaterales Schreiben. Digitale Kollaboration im Zeitalter von Crowdworking und Algotaylorismus“, in: Bajohr u. Gilbert (Hg.), Digitale Literatur II, S. 62–74; Berit Glanz, „Der Kohletransporter im Intertext. Über Menschen und Daten“, 14. Januar 2022, https://www.youtube.com/watch?v=DcVN4OMxhK0, letzter Aufruf 21.1.2022. Glanz schlägt dort „vier Kriterien für eine ethisch angemessene algorithmische Imagination“ vor, die diese unsichtbare Arbeit reflektieren und die sich zukünftige KI-Literatur zum Leitstern nehmen soll: „1. Die an den Algorithmen beteiligten Menschen, besonders die Crowdworker*innen, tauchen in digitaler Literatur nicht nur als Fußnote der Künstlichen Intelligenz auf. 2. Das algorithmische Interesse wird im Text nicht als einziges legitimes Interesse präsentiert. 3. Die Rechenschaftspflicht gegenüber den in vielfältiger Form am Algorithmus beteiligten Menschen ist Teil der ethischen Orientierung des Textes. Die Trainingsdatenkorpora werden diesbezüglich kritisch reflektiert. 4. Der Text entwickelt zumindest implizit ein Gefühl dafür, dass die Entstehung von Algorithmen ein Prozess ist, an dem Menschen in vielfältiger Form beteiligt sind.“ 22 Siehe zu einem Vorschlag der Vergemeinschaftung großer Sprachmodelle Hannes Bajohr, „Wer sind wir? Warum künstliche Intelligenz immer ideologisch ist“, in: Republik, 4. April 2021, https://www.republik.ch/2021/04/06/warum-kuenstliche-intelligenzimmer-ideologisch-ist, letzter Aufruf 21.1.2022. 21

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lichkeiten der internetgiganten, nach den netzen und kommunikationsgeräten auch noch die sprache zu kontrollieren, abzuwehren.“23

Lean in: Affirmative Kontrollabgabe Das konnektionistische Paradigma verstärkt die Tendenz zur „Verteilung und Zerstäubung“ von Autorschaft, die MenschMaschine-Assemblagen immer anhaftet.24 Verglichen mit den (ohnehin idealisierten) Vorstellungen auktorialer Kontrolle in sekundärer Autorschaft müssen sich jeweils weiter distanzierte Autorschaften zur Erfahrung einer zunehmenden Kontrollabgabe verhalten. Schreibenden bleiben dabei grundsätzlich zwei Möglichkeiten: lean in or resist. Im Folgenden will ich Werke vorstellen, die sich entweder ganz der Opazität des Systems hingeben oder umgekehrt versuchen, Licht ins Dunkel der Black Box zu bringen. Zur simpelsten Technik der ersteren Form gehört die ästhetische Affirmation von Inkongruenz und Absurdität, die auch im sequenziellen Paradigma existiert.25 So hat sich Janelle Shane, Eigenbezeichnung „AI humorist“, auf die bewusste Überforderung des begrenzten Weltverständnisses von Machine-Learning-Systemen verlegt. Auf Tausende von Kochrezepten trainiert, sind die KI-generierten Kreationen mit Sicherheit kaum genießbar oder semantisch sinnvoll („Bright Grilled Evaporated Milk“)26, und Shanes „AI weirdJörg Piringer, „elektrobarden“, in: Transistor 2:2 (2019), S. 78–83, hier S. 82f. Von Piringer finden sich einige KNN-Gedichte in seinem Buch datenpoesie, Klagenfurt: Ritter 2018. 24 Siehe Jasmin Meerhoff, „Verteilung und Zerstäubung. Zur Autorschaft computergestützter Literatur“, in: Bajohr u. Gilbert (Hg.), Digitale Literatur II, S. 49–61; dort auch eine Diskussion der politischen Aspekte großer Sprachmodelle. 25 Siehe Kathrin Passig, „Wenn man nicht alles selber schreibt. Sieben Gründe für das Generieren von Texten“, in: ebd., S. 120–133. 26 Janelle Shane, „Delicious Recipe Titles Generated by Neural Network“, in: AI Weirdness, 2017, https://aiweirdness.com/post/159091493897/delicious-recipe-titles-generated-by-neural, letzter Aufruf 21.1.2022. 23

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ness“ zieht ihren Humor gerade aus der Nicht-Intelligenz von KNNs, deren „cuteness“27 weniger der Aufklärung als der Nachsicht bedarf. Versteht sich Shane als nicht-literarische Humoristin, schließen andere Autor:innen bewusst an literarische Traditionen des Absurden an. „Sunspring“ (2016), ein Drehbuch Ross Goodwins, wurde von einem auf Science-Fiction-Skripts trainierten KNN generiert und anschließend verfilmt.28 Das Sprunghafte der Dialoge, die Alogismen der Regieanweisungen werden gerade in der Kurzfilmfassung zu einer Aktualisierung des absurden Theaters, demgegenüber „Sunspring“ semantische Kohärenz und Kohäsion weitaus radikaler auflöst. Wie auch 1 the Road – das nur deshalb nicht unmittelbar absurd erscheint, weil die Sätze protokollartig durch Zeitstempel organisiert sind – beruht „Sunspring“ auf einer LSTM-RNN genannten Netzwerkarchitektur. Dieses „long short-term memory recurrent neural network“ war 2015 dafür verantwortlich, KI-Textgenerierung breitenwirksam zu popularisieren,29 konnte aber immer noch nur sehr begrenzt kohärente Ausgaben produzieren. Absurdität anzunehmen reagiert zunächst also auf ein doppeltes contrainte: einerseits auf die Intransparenz des Systems und andererseits auf seine technische Beschränktheit. Gelegentlich führt das zum Verdacht, „dass die Probleme der technisch generierten Sprache durch pubertäre Krassheiten nobilitiert werden sollen.“30 Sianne Ngai spricht von „cuteness“ als einer „Ästhetik der Machtlosigkeit“ und einer „affektiven Reaktion auf Schwäche“, Sianne Ngai, Our Aesthetic Categories. Zany, Cute, Interesting, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2012, S. 22, 24. 28 Siehe für das Script: Ross Goodwin/„Benjamin“: „Sunspring“, 2016, https://www. docdroid.net/lCZ2fPA/sunspring-final-pdf, letzter Aufruf 21.1.2022; für den Kurzfilm: https://www.youtube.com/watch?v=LY7x2Ihqjmc, letzter Aufruf 21.1.2022. 29 Große Wirkung hatten dabei ein breit rezipierter Artikel des Tesla-KI-Forschers Andrej Karpathy: „The Unreasonable Effectiveness of Recurrent Neural Networks“, Andrej Karpathy Blog, 21. Mai 2015, https://karpathy.github.io/2015/05/21/rnn-effectiveness, letzter Aufruf 21.1.2022. 30 Simon Roloff, „Halluzinierende Systeme. Generierte Literatur als Textverarbeitung“, Merkur 75:5 (2021), S. 73–81, hier. S. 79. 27

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Mit der Einführung der sogenannten Transformer-Architektur, die dem KNN eine höhere ‚Aufmerksamkeit‘ für Satzkontexte verleiht und auf denen die großen Sprachmodelle wie GPT-2 und, als bislang mächtigste Ausführungen, BERT und GPT-3 aufbauen, hat sich die Kohärenz der Textausgabe dramatisch verbessert, wobei aber immer noch kein echtes semantisches Verständnis erreicht ist.31 Die Entscheidung für das Absurde ist damit nun Sache bewusster Rahmung geworden. So bezieht sich Vladimir Alexeev (Pseudonym „Merzmensch“) offensiv auf Kurt Schwitters und aktualisiert dessen Zeitschrift Merz mit seiner eigenen Merz AI, indem er auch auf die collagenhafte Seitengestaltung des Originals anspielt (Abb. 10.1). Weil er GPT-2 mit Texten von Schwitters und anderen Avantgardisten fütterte, ist die dadaistische Anmutung nicht mehr nur technisches Artefakt, sondern auch Effekt des Datensets selbst.32 Alexeev verwendet zudem GPT-3, das hundertmal mächtiger ist als GPT-2 und daher zu groß, um eigens mit Textmaterial trainiert zu werden – er muss sich darauf verlassen, dass das Sprachmodell Schwitters bereits im Lernprozess begegnet ist. Ein über Schwitters generierter Essay schlägt diesen ohne Umschweife dem Surrealismus zu; dass das nicht stimmt, bemerkt Alexeev selbst, sieht in dieser Fehlattribution aber ausdrücklich eine Schwitter’sche Geste.33 In der Tat ist surrealistisch neben dadaistisch eine zweite oft zu hörende Beschreibung KI-generierter Literatur. Gerade das Kontrollabgabemodell pflegt, wie Simon Roloff schreibt, ein „Traditionsbewusstsein“, das den ‚halluzinatorischen‘ Strang

Siehe Luciano Floridi und Massimo Chiriatti, „GPT-3. Its Nature, Scope, Limits, and Consequences“, in: Minds and Machines 30:4 (2020), S. 681–694. 32 Merzmensch, „Merz AI – Art(ificial) Kunst(liche) Intelligentsia. Issue #01“, in: Perspektive 28:102/103 (2020), S. 112–115. Weitere Ausgaben werden auf Twitter unter dem Hashtag #KImerzAI veröffentlicht. 33 Merzmensch, „First Encounters with GPT-3“, in: Merzazine, 13. Juli 2020, https:// medium.com/merzazine/gpt-3-first-encounters-676fcb8feac9, letzter Aufruf 21.1.2022. 31

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Abb. 10.1: Merzmensch, „Merz AI – Art(ificial) Kunst(liche) Intelligentsia. Issue #01“ (2020), Ausschnitt

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der Moderne aufruft.34 Bretons Feststellung, „eigentlich bewähren sich die Formen der surrealistischen Sprache am ehesten im Dialog“,35 wird dann auch dort ernst genommen, wo das KNN als Kooperationspartner einer verteilten ‚écriture automatique‘ fungiert. Da vor allem große Sprachmodelle mit Onund Offline-Text trainiert wurden, können ihre Äußerungen als Artikulationen eines kollektiven Unbewussten gelesen werden. Das ist der Ansatz K Allado-McDowells, der:die auch an 1 the Road beteiligt war und für Amor Cringe den Dialog mit GPT-3 als kollaborativen Schreibprozess versteht. Das durch die libidinöse Vermischung von Mensch und Maschine hergestellte gemeinsame Unbewusste erlaube eine „deepfake autofiction“, in der sich „absurde Einsichten mit Blitzen der Transzendenz“ vermischten. Die Abgabe von Kontrolle, zumal im quartären Autorschaftsmodell, imaginiert an seinem Extrem die völlige Verschmelzung von Mensch und KI.36

Resist: Kritik und Selbstermächtigung Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Versuche, die Opazität von KNNs technisch und poetologisch zu bändigen. Eine Art Mittelstellung nehmen dabei Werke ein, die ebenfalls Dialogizität betonen, aber versuchen, sie nachvollziehbar zu machen oder zur bloß subalternen Assistenzleistung herabzustufen. In Mattis Kuhns Selbstgesprächen mit einer KI geht es zwar auch um die Neigung zur „Verbindung oder Verschmelzung“ von menschlicher:m und KI-Autor:in, der dann eine Art maschinell vermittelte Selbsterkenntnis folgt („eine Maschine, Roloff, „Halluzinierende Systeme“, S. 80. André Breton, „Erstes Manifest des Surrealismus“, in: ders., Manifeste des Surrealismus, Reinbek: Rowohlt 2009, S. 25. 36 K Allado-McDowell, Amor Cringe, New York: Deluge 2022. Anders als im Vorgänger Pharmako-AI ist die Autorschaft nicht mehr durch die Type zuordenbar. 34 35

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die mich schreibt“).37 Zugleich aber bildet die intensive Kuratierung und Dokumentation des Projekts eine Gegenbewegung zum fröhlichen Obskurantismus Allado-McDowells: Nicht nur ist das seinem selbsttrainierten Modell zugrunde liegende sehr kleine Korpus von lediglich 2732 Sätzen aus literarischen, geistes- und naturwissenschaftlichen Texten vollständig abgedruckt und damit die ‚unsichtbare Arbeit‘ der Autor:innen sichtbar gemacht, auch werden die verwendeten Verfahren genau erklärt und sogar eigens die Trainingscodes dokumentiert – freilich ohne das alles entscheidende Gewichtungsmodell, dessen Abdruck auch kaum erhellend wäre. Dennoch ist hier ein klarer Wille zur Offenlegung am Werk. Eine andere Art von Dialog, die dem menschlichen Anteil an der Autorschaft eine sehr viel dominantere Rolle einräumt, bietet Davin „Jhave“ Johnstons ReRites.38 Zwischen Mai 2017 und 2018 trainierte Jhave jede Nacht ein KNN und edierte am nächsten Morgen den generierten Output in einem Prozess, den er „carving“ nennt, von Hand: Der „Klotz an generiertem Text, massiv und unverständlich“, ist dabei nur das von einer „Assistenztechnologie“ vorbereitete Zwischenfabrikat, dem erst durch die mühsame ‚Meißel‘-Arbeit in einem Texteditor die endgültige Form gegeben wird, sodass ihr lyrischer Mehrwert sichergestellt ist.39 Die Ergebnisse eines jeden Monats sammelte Jhave in je einem Buch, sodass ReRites nun zwölf Bände umfasst.40 Zugleich macht die Rahmung als jahrelanges Ritual (rite) des Umschreibens (rewrite) das Projekt zu einer Langzeitperformance, die an die Arbeiten des Performance-

Mattis Kuhn, Selbstgespräche mit einer KI, o.O.: 0x0a 2021, S. 55. Johnston, ReRites. Das Buch geht auf Vorarbeiten von 2015 zurück, die zu den ersten dezidiert literarischen KNN-Texten zählen müssen; siehe ders.: Aesthetic Animism. Digital Poetry’s Ontological Implications, Cambridge, Mass.: MIT Press 2016, S. 127ff. 39 David (Jhave) Johnston, „Why A.I.?“, in: ders., ReRites, S. 171–177, hier S. 175, 171. 40 https://www.anteism.com/shop/rerites-david-jhave-johnston, letzter Aufruf 21.1.2022. 37

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Künstlers Tehching Hsieh denken lässt.41 Ohne dieselbe Entsagung Hsiehs zu erreichen, der etwa ein Jahr in einem Käfig lebte (Cage Piece, 1978–1979), ist doch die Körperlichkeit des Künstlers Bedingung der Werkautorisierung. Dass dieser in einem Auswahlband seine Gedichte dem unedierten und nicht eigens als Werk markierten „Raw Output“ gegenüberstellt, betont dabei nur das klare Autorschaftsgefälle: Jhave ist zwar ein „augmentierter Dichter“, die KI aber nicht mehr als eine „maschinengestützte Muse“.42 Gewinnt diese auktoriale Selbstermächtigungsgeste zwar eine gewisse Kontrolle zurück, leistet sie für Lesende doch noch keinen Beitrag zum Verständnis des Systems (auch wenn der Autor, in einer Art künstlerischer Forschung, mehr über diese Technologie lernt). Andere Autor:innen dagegen dringen in kritischer und didaktischer Absicht tiefer in die tatsächlichen Operationsprozesse von KIs ein. Berit Glanz’ Projekt „Nature Writing/Machine Writing“ macht sich die bewusste Inkongruenz zunutze, das Genre der Naturbeschreibung, das konstitutiv eine menschliche Beobachtungsposition voraussetzt, von KISystemen generieren zu lassen.43 Sie verwendet dafür frei verfügbare KI-Modelle, die sie in elf Variationen verschiedenen Versuchsaufbauten unterzieht. In „Versuch K“ ist es das KNN 41 Siehe Nick Montfort, „Computational Writing as Living Art“, in: Johnston, ReRites, S. 139–143, hier S. 140. 42 Johnston, „Why A.I.?“, S. 176. – Zwei hier nicht diskutierte Arten, auf einer solchen Autorfunktion zu bestehen, sind die Erkundung des Prozesses und die Rahmung des Ergebnisses von KI. Ein Beispiel für Ersteres wäre Hannes Bajohr, „Vollendungen“, in: EDIT 28:84 (2021), S. 180–194, wo ich GPT-3 die Anfänge sprachlich komplexer literarischer Texte fortschreiben lasse und das Ergebnis sowohl Fähigkeiten wie Grenzen der Technik aufzeigt. Ein Beispiel für Letzteres ist 0x0a (Hg.), Poetisch denken, Bd. 1–4, Berlin: Frohmann 2020, das auf Grundlage der Werke von Monika Rinck, Jan Wagner, Ann Cotten und Steffen Popp je dem kleinen Datensatz entsprechend halbgare Gedichte enthält, wobei aber jeder Band wieder als neues Werk der Autor:innen gerahmt ist. Monika Rinck hat ,ihr‘ Buch schon einer Selbstlektüre unterzogen, siehe https://www.aargauer-literaturhaus.ch/shop/rinck-poetikvorlesung, letzter Aufruf 26.2.2022. 43 Berit Glanz, „Nature Writing/Machine Writing“, 2020–21, https://www.beritglanz. de/netzresidenz/ueber-das-projekt, letzter Aufruf 21.1.2022.

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Abb. 10.2: Berit Glanz, „Versuch K: .png/.jpg“ (2020)

„Img2Poem“, das gewissermaßen eine poetische Bilderkennung darstellt – es wandelt Bilddateien in Gedichte um (Abb. 10.2).44 Die dahinterstehende Technik (und der in einem white paper ihrer Erfinder:innen formulierte Anspruch, „Poetizität“ zu extrahieren),45 ist aber für „Versuch K“ einigermaßen irrelevant: Glanz wendet das KNN auf zwei für Menschen iden44 Dies., „Versuch K: .png/.jpg“, 2021, https://www.beritglanz.de/netzresidenz/2021/01/ 22/versuch-k-png-jpg, letzter Aufruf 21.1.2022. 45 Bei Liu u.a., „Beyond Narrative Description. Generating Poetry from Images“, in: ArXiv, 2018, https://dl.acm.org/doi/10.1145/3240508.3240587.

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tisch erscheinende Fotos einer Eisscholle an, die aber einmal im JPEG-Format und einmal im Format PNG encodiert sind. Dass diese für uns unsichtbare Differenz von der Maschine dennoch je anders ‚gelesen‘ wird und andere Gedichte auswirft, ist zwar noch kein Blick in die Black Box der KI, macht sie aber selbst thematisch. Diesen letzten Schritt gehen schließlich jene literarischen Experimente, die sich mit der Codierung von Sprache selbst befassen, die in KIs vor sich geht, wie Allison Parrish in ihren jüngsten Werken. Damit Sprache im Machine Learning statistisch verarbeitet werden kann, werden Wörter numerisch, als hochdimensionale Vektoren („word embedding“) repräsentiert.46 Für „Compasses“ trainierte Parrish gleich zwei Modelle: Das eine, der „sounder-out“, wandelt Wörter in ihre Lautwerte, das andere, der „speller“, Lautwerte in geschriebene Sprache um.47 Für eine Reihe semantisch ähnlicher Wörter als Eingabe gibt das System anschließend die plausible Schreibweise eines Vektors auf halbem Weg zwischen einem Wortpaar oder den Mittelpunkt aller Wörter aus („woerth“ ist dann das Mittel von „north“ und „west“). Solche Reisen durch den Vektorraum haben nicht nur den Effekt, das gemeinhin diskret gedachte Zeichensystem der Sprache als stetig vorzustellen, sondern erlauben zudem, das Prinzip jenes für Machine Learning so wichtigen „word embedding“ intuitiv anschaulich zu machen. KI wird dabei weder als autonome Größe noch als gleichberechtigter Mitspieler, sondern lediglich als ein der Autor:in unterstehendes Instrument verstanden – und in der Tat ist Parrishs Metapher für ihr Vorgehen ein „Theremin zur Lyrik-

Ethem Alpaydın, Introduction to Machine Learning, Cambridge, Mass.: MIT Press 2020, S. 303–306; siehe Waszynski, „Reflexive Immersion“ für eine Diskussion von Parrishs „Articulations“, das ähnlich vorgeht. 47 Allison Parrish, „Compasses“, in: Sync 2:27 (2019), www.sync.abue.io/issues/ 190705ap_sync2_27_compasses.pdf, letzter Aufruf 21.1.2022. Eine vermehrte Version findet sich unter dem Titel „Compass Poems“, in: BOMB, 40:154 (2021). 46 4

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produktion“.48 Mit dem „Nonsense Laboratory“ hat Parrish diese Metapher auch tatsächlich in ein Interface überführt, das es Usern ermöglicht, phonetische Worteigenschaften einzustellen, als seien sie die Regler auf einem Mischpult.49 Piringers Aufruf, die politischen Probleme KI-gestützter Sprachtechnologien in den Blick zu nehmen, ist aber auch bei Parrish nicht recht Genüge getan, auch wenn ihrer Entscheidung, auf proprietäre, kostenpflichtige Systeme wie GPT-3 zu verzichten, politische Überlegungen zugrunde liegen. Ein politisches und ethisches Problem solcher großen Sprachmodelle besteht, neben ihrem enormen Energieverbrauch, unter anderem in der Schwierigkeit, die zu ihrem Training verwendeten Daten nachzuvollziehen. Weil sie meist ohne jede Kuratierung auf große Massen an Text trainiert werden, sind in ihnen auch sexistische oder rassistische biases (Tendenzen/Verzerrungen) enthalten,50 denn im Vektorraum werden Abhängigkeiten zwischen Begriffen, die im Korpus bloß latent waren, operabel und können Ideologeme des Urtexts wiederholen. Ein Beispiel sind Gendernormen in Maschinenübersetzungen, die nurse stets als weiblich, doctor stets als männlich verdeutschen.51 48 Allison Parrish, „Experimental Creative Writing with the Vectorized Word“, 2017, https://youtu.be/L3D0JEA1Jdc, letzter Aufruf 21.1.2022. 49 Allison Parrish, „Nonsense Laboratory“, 2021, https://artsexperiments.withgoogle. com/nonsense-laboratory, letzter Aufruf 21.1.2022. Diese Idee gemahnt an Michel Chaoulis hypothetischen „Literaturequalizer“, der Texteigenschaften regelbar machen soll, siehe Michel Chaouli, „Remix: Literatur. Ein Gedankenexperiment“, in: Merkur 63:6 (2009), S. 463–476. 50 Siehe für einen populären Überblick James Zou u. Londa Schiebinger, „AI Can Be Sexist and Racist – It’s Time to Make It Fair“, in: Nature 559 (12. Juli 2018), S. 324–326 und für technische Aspekte Haoran Zhang, Amy X. Lu, Mohamed Abdalla, Matthew McDermott u. Marzyeh Ghassemi: „Hurtful Words. Quantifying Biases in Clinical Contextual Word Embeddings“, in: Proceedings of the ACM Conference on Health, Inference, and Learning, New York: The Association for Computing Machinery 2020, S. 110–120. 51 Das Phänomen sexistischer Übersetzungs-KI wird für Jörg Piringer zur Grundlage des Gedichts „tätigkeiten“, in: ders., datenpoesie, S. 62, das Sätze aus dem Deutschen ins Türkische und zurück ins Deutsche übersetzt. Da das Türkische über geschlechtslose Personalpronomen verfügt, ist die Entscheidung, wie sie verdeutscht werden sollen, den Wahrscheinlichkeitserwägungen der Maschine überlassen, die den Bias einer patriarchalen Gesellschaft reflektiert: „sie ist ärztin. / o bir doktor. / er ist ein arzt. //

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Diesem Phänomen widmet sich Li Zilles in Machine, Unlearning.52 Zilles durchsuchte ein bereits trainiertes Sprachmodell nach 100 häufigen Substantiven und ließ zunächst mit ihrem Kontext korrelierte Adjektive, in einem zweiten Schritt als ähnlich bewertete Substantive und wiederum deren entsprechende Kontext-Adjektive ausgeben. Die so entstandenen Wortlisten wurden anschließend in Schablonen eingetragen, die an jene Stracheys erinnern: „Is [ORIGINAL_NOUN] [SAMPLED_ ADJECTIVE_CONTEXT] like a [SAMPLED_NOUN] is [SAMPLED_ADJECTIVE_CONTEXT]?“53 Der Text reicht von erwartbaren („Can CONTROVERSY be produced in the same way reactions are produced?“) über absurde („Should TELEVISION be distilled like cupcakes?“) bis zu offensichtlich Bias aufweisenden Äquivalenzen („Will LIFE ever wane in the same way femininity wanes?“).54 „Unlearning“ bezeichnet das aktive, therapeutische Verlernen veralteter oder toxischer Gewohnheiten, und entsprechend ist die Frageformulierung der Verszeilen als Aufgabe an die Lesenden zu verstehen, die Richtigkeit der Vergleiche zu bewerten und sich nicht auf die Suggestionen des Sprachmodells zu verlassen. Ziel war, so Zilles, „einige der ‚Annahmen‘, die in diesen Einbettungen kodiert sind, als mehr oder weniger sinnvoll zu entlarven, [und] uns Menschen dazu zu bringen, sie mit einem kritischeren Auge zu betrachten.“55 Eine andere Art eines solchen Verlernens nähme eine bewusst utopische Wendung. Statt bestehende Sprachmodelle auf ihren impliziten Rassismus und Sexismus zu untersuchen, er arbeitet als krankenpfleger. / o bir hemşire olarak çalışıyor. / sie arbeitet als krankenschwester.“ Ebd., S. 47. 52 Li Zilles, Machine, Unlearning, Denver: Counterpath 2018. 53 Email an Zilles, 6. Mai 2021. Die von Zilles verwendeten Wort- und Kontext-Vektoren finden sich hier: https://levyomer.wordpress.com/2014/04/25/dependency-basedword-embeddings, 2014, letzter Aufruf 21.1.2022. 54 Zilles, Machine, Unlearning, S. 2, 26. 55 Email an Zilles, 6. Mai 2021.

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ginge es dann darum, neue zu schaffen, die frei von solchen Tendenzen sind. Das ist die Idee hinter „Someone Tell the Boyz“ von Arwa Mboya, einer aus Kenia stammenden und in den USA lebenden Coderin.56 Für dieses Projekt trainierte sie ein neuronales Netz mit feministischer Literatur von bell hooks, Simone de Beauvoir, Betty Friedan und Audre Lorde. Der Output erscheint auf einer Website und wird bei jedem Aufruf neu generiert; zudem sind nicht nur die Textkorpora, sondern auch die Trainingsparameter jeweils detailliert aufgelistet. Natürlich weiß auch Mboya, dass der Anspruch „Teaching AI Feminism“ sich auf diese Weise nicht realisieren lässt. Sinn und Ziel des Werks liegen eher in der Provokation, die Utopie einer feministischen KI überhaupt vorzustellen – als eine gerechtere Zukunft von Sprachmodellen, in der Rechenschaftspflicht mit Repräsentation einhergeht.

Neue Standards Das Co-Creative Writing in Mensch-Maschine-Assemblagen kann viele Formen annehmen und ich habe versucht, zwei gegenwärtige Tendenzen zu beschreiben. Diese waren allerdings auf literarische Anwendungen von KI beschränkt. Die größten Auswirkungen auf das konventionelle Leseverhalten werden dagegen kaum von den konnektionistischen Avantgarden zu erwarten sein, sondern von maschinell produzierten Gebrauchstexten jeder Art, von Wetterberichten über Informationsmaterial bis hin zu, sollte es technisch bald möglich sein, strukturell einfach reproduzierbarer Genreliteratur. Mit ihrer Zunahme stünde eine Verschiebung der Standardannahmen über unbekannte Texte zu erwarten. Bislang ist es noch so, dass Arwa Mboya, „Someone Tell the Boyz. Teaching AI Feminism “, in: Generative Unfoldings, 2021, https://generative-unfoldings.mit.edu/works/someonetellboys/view.html, letzter Aufruf 21.1.2022. 56

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Geschriebenes, das nicht explizit als maschinenproduziert markiert ist, als menschengemacht gelesen wird. Das verleitet dazu, hermeneutische Ambiguitäten vor dem Hintergrund eines vermeintlich gemeinsam geteilten Bedeutungshorizontes zu harmonisieren.57 Diese Standardannahme menschlicher Autorschaft könnte sich mit der Verbreitung maschinell produzierter Texte in Richtung einer agnostischen Position verschieben, die deren Ursprung zumindest offenlässt. Über die genauen Auswirkungen einer solchen Verschiebung kann man nur spekulieren. Zu bedenken wäre aber, dass mit ihr die Hoffnung auf eine starke, wirklich autonome künstlerische KI von selbst unterminiert würde: Wenn ich nicht mehr sicher sein kann, dass ein Roman allein von einem Menschen geschrieben ist, verlieren die an Menschen ausgerichteten, zu simulierenden Merkmale wie Intention und Expression als implizite Kategorien seiner Betrachtung an Wert. Solange Menschen bereit sind, einen solchen Text als künstlerisches Objekt zu betrachten, ist es einerlei, wie er zustande gekommen ist – er hätte den Durkheim-Test auch ohne ‚strong AI‘ bestanden. Die Folge wäre, dass nicht KI menschlicher würde, sondern sich Menschen und KI einander annäherten. Hier ist immer die Alternative des Luddismus als Gegenbewegung möglich, die dann gerade menschlich-authentische Produktion hochhielte, aber an der Verschiebung der Leseerwartungen änderte das nichts, es würde sie eher negativ bestätigen. Die Alternative von Verschmelzung mit den Maschinen und ihrer subalternen Instrumentalisierung hätte sich dann bereits durch die neue Standarderwartung an Texte entschieden. Wo die Differenz zwischen menschen- und maschinengeschrieben ihren Sinn verliert, gäbe es dann freilich auch keine digitale Literatur mehr. Siehe Suchman, Human-Machine Reconfigurations, S. 48; dies wäre ein Fall einer auf KI-Text übertragenen „intentional stance“: Daniel Dennett, The Intentional Stance, Cambridge, Mass.: MIT Press 1987. 57

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TEXTNACHWEISE „Schreibenlassen. Gegenwartsliteratur und die Furcht vorm Digitalen“ erschien zuerst in: Merkur 68:7 (2014), S. 651–658; die hier vorliegende, leicht erweiterte Version erschien zuerst 2014 auf der Website von 0x0a, https://0x0a.li/de/schreibenlassen-gegenwartsliteratur-und-die-furcht-vorm-digitalen, letzter Aufruf 21.1.2022. „Vom Geist und den Maschinen. Autorschaft zwischen Mensch und Computer“ erschien mit anderem Untertitel zuerst in: Logbuch Suhrkamp, 6. Juni 2016, http:// www.logbuch-suhrkamp.de/hannes-bajohr/vom-geist-und-den-maschinen, letzter Aufruf 21.1.2022. „Infradünne Plattformen. Print-on-Demand als Strategie und Genre“ erschien zuerst in: Merkur 70:1 (2016); der vorliegende Text wurde um Überlegungen aus zwei anderen Aufsätzen erweitert: „Experimental Writing in its Moment of Digital Technization. Post-Digital Literature and Print-on-Demand Publishing“, in: Annette Gilbert (Hg.), Publishing as Artistic Practice, Berlin: Sternberg Press 2016, S. 100–115 und „Infrathin Platforms. Print on Demand as Auto-Factography“, in: Book Presence in a Digital Age, hg. v. Kiene Brillenburg Wurth, Kári Driscoll und Jessica Pressman, London: Bloomsbury 2018, S. 71–89. „Das Reskilling der Literatur. Über das Verhältnis von Code und Konzept“ erschien mit anderem Untertitel zuerst als Einleitung des Sammelbandes Code und Konzept. Literatur und das Digitale, hg. v. Hannes Bajohr. Berlin: Frohmann 2016, S. 7–21. „L(t). Der literarische Prozess“ erschien ohne Untertitel zuerst in: Krachkultur 26:20 (2019), S. 57–66. „Sagen, hören, lesen. Über digitale Literatur“ erschien zuerst in drei Teilen in: Logbuch Suhrkamp, 25. April 2018, https://www.logbuch-suhrkamp.de/hannes-bajohr/ schweigen-hoeren; 23. Mai 2018, https://www.logbuch-suhrkamp.de/hannes-bajohr/ erotica-lesen; 17. Juni 2018, https://www.logbuch-suhrkamp.de/hannes-bajohr/0x0asagen, letzter Aufruf für alle 21.1.2022. Zusammengefasst erschienen die drei Texte in: Screenshots. Literatur im Netz, hg. v. Katrin Lange u. Nora Zapf, München: edition text+kritik 2020. „Was ist Literatur?“ erschien zuerst ohne Untertitel als Beitrag im Programm 1 /2021 des Deutschen Literaturarchivs Marbach, S. 16–17. „Algorithmische Einfühlung. Für eine Kritik ästhetischer KI“ erschien zuerst auf Englisch unter dem Titel „Algorithmic Empathy. On Two Paradigms of Digital Generative Literature and the Need for a Critique of AI Works“, in: Basel Media Cultures and Cultural Techniques Working Papers 4 (2020), DOI: 10.5451/unibas-ep79106; die deutsche Version erschien in leicht gekürzter Form und mit anderem Untertitel zuerst in Sprache im technischen Zeitalter 59:4 (2021), S. 471–497. „Künstliche Intelligenz und digitale Literatur. Theorie und Praxis konnektionistischen Schreibens“ erschien unter diesem Titel zuerst in: Hannes Bajohr u. Annette Gilbert (Hg.), Digitale Literatur II. Sonderband Text+Kritik, München: edition text+kritik 2021, S. 174–185.

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BILDNACHWEISE Abb. 1.1 und Umschlag: Brion Gysin, „I AM THAT I AM“, aus: Brion Gysin u. William S. Burroughs, The Third Mind, New York: Viking 1978. © Brion Gysin Estate. Mit freundlicher Genehmung von The Wylie Agency. Abb. 3.1: Jason Huff u. Mimi Cabell, American Psycho, o.O.: Traumawien 2012. © Jason Huff u. Mimi Cabell. Mit freundlicher Genehmigung der Autor:innen. Abb. 3.2: Jean Keller, The Black Book, o.O.: Lulu 2013. Foto: Hannes Bajohr. Abb. 5.1.: Man Ray, „Untitled“, aus: 319, Nr. 17 (1924). Abb. 5.2: Hannes Bajohr, „Man Ray. Paris, mai 1924“, 2019. Abb. 5.3: Screeshot CasualConc. Foto: Hannes Bajohr. Abb. 6.1: Gregor Weichbrodt, On the Road, o.O.: 0x0a 2014. © Gregor Weichbrodt. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Illustration: Hannes Bajohr. Abb. 6.2: Gregor Weichbrodt, @bot_on_holiday, 2015. © Gregor Weichbrodt. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Foto: Hannes Bajohr. Abb. 6.3: Eugen Gomringer, „schweigen“, aus: Eugen Gomringer (Hg.), konkrete poesie. deutschsprachige autoren. eine anthologie, Stuttgart: Reclam 1972. © Eugen Gomringer. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Abb. 6.4: Screenshot zweier Dateien. Foto: Hannes Bajohr. Abb. 6.5.: Screenshot einer Word-Datei. Foto: Hannes Bajohr. Abb. 6.6: Screenshot Hexeditor. Foto: Hannes Bajohr. Abb. 6.7: Screenshot Adobe Photoshop. Foto: Hannes Bajohr. Abb. 6.8: Screenshot Audacity. Foto: Hannes Bajohr. Abb. 6.9: Hannes Bajohr, „Schweigen“, aus: Hannes Bajohr, Halbzeug. Textverarbeitung, Berlin: Suhrkamp 2018. © Hannes Bajohr. Abb. 6.10: Screenshot Adobe InDesign. Foto: Hannes Bajohr. Abb. 6.11: Hannes Bajohr, „Erotica“, aus: Hannes Bajohr, Halbzeug. Textverarbeitung, Berlin: Suhrkamp 2018. © Hannes Bajohr. Abb. 8.1: Obvious Collective, Portrait of Edmond de Belamy, 2018. © Obvious. Mit freundlicher Genehmigung der Autor:innen. Abb. 8.2: Theo Lutz, „Stochastische Texte“, aus: augenblick 4:1 (1959), S. 3–9.

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Bildnachweise Abb. 8.3: Rul Gunzenhäuser, „Zur Synthese von Texten mit Hilfe programmgesteuerter Ziffernrechenanlagen“ in: MTW 10:4 (1963), S. 4–9. Abb. 8.4: Schema eines RNN und eines CNN. Grafik: Hannes Bajohr, adaptiert aus: Melanie Mitchell, Artificial Intelligence. A Guide for Thinking Humans, New York: Farrar, Straus and Giroux 2019. Abb. 8.5: Allison Parrish, Ahe Thd Yearidy Ti Isa, 2019, aus: https://github.com/ NaNoGenMo/2019/issues/144. © Allison Parrish. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Abb. 8.6: Allison Parrish, Ahe Thd Yearidy Ti Isa (Titel), 2019, aus: https://github.com/ NaNoGenMo/2019/issues/144. © Allison Parrish. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Abb. 9.1: Ahmed Elgammal, Schema eines CAN, aus: Ahmed Elgammal, „Creative GAN. Generating Art Deviating from Style Norms“, US-Patent Nr. 10.853.986. Abb. 9.2: Zach Whalen, „This Comic Does Not Exist“, aus: https://github.com/ nanogenmo/2020/issues/55. © Zach Whalen. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Abb. 9.3: Allison Parrish, „Compasses“, aus: Sync 2:27 (2019), www.sync.abue.io/ issues/190705ap_sync2_27. © Allison Parrish. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Abb. 10.1: Merzmensch, „Merz AI – Art(ificial) Kunst(liche) Intelligentsia. Issue #01“, aus: Perspektive 28:102/103 (2020), S. 112–115. © Vladimir Alexeev. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Abb. 10.2: Berit Glanz, „Versuch K: .png/.jpg“, 2021, aus: https://www.beritglanz.de/ netzresidenz/2021/01/22/versuch-k-png-jpg. © Berit Glanz. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

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IMPRESSUM Schreibenlassen erscheint im August Verlag. Der August Verlag ist ein Forum für Theorie im Schnittpunkt von Philosophie, Politik und Kunst. Seit 2021 ist der August Verlag ein Imprint von Matthes & Seitz Berlin. August Verlag [email protected] www.augustverlag.de Erste Auflage Berlin 2022 Copyright der deutschen Ausgabe © 2022 MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, Göhrener Straße 7, 10437 Berlin Alle Rechte vorbehalten. Gestaltung: Selitsch Weig nach einem Entwurf von Christoph Stolberg Satz: Selitsch Weig Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar Printed in Germany ISBN 978-3-941360-97-6

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Anna Häusler, Elisabeth Heyne, Lars Koch, Tanja Prokic´ VERLETZEN UND BELEIDIGEN ISBN 978-3-941360-70-9 Jörg Kreienbrock DAS MEDIUM DER PROSA Studien zur Theorie der Lyrik ISBN 978-3-941360-66-2

Katja Müller-Helle (ed.) THE LEGACY OF TRANSGRESSIVE OBJECTS ISBN 978-3-941360-64-8

Ludger Schwarte DENKEN IN FARBE Zur Epistemologie des Malens ISBN 978-3-941360-71-6

Samo Tomšicˇ THE LABOUR OF ENJOYMENT Towards a Critique of Libidinal Economy Lacanian Explorations IV ISBN 978-3-941360-56-3

Henning Trüper SEUCHENJAHR Kleine Edition 33 ISBN 978-3-941360-83-9

Gilles Deleuze, Claire Parnet DIALOGE ISBN 978-3-941360-48-8

Hanna Hamel ÜBERGÄNGLICHE NATUR Kant, Herder, Goethe und die Gegenwart des Klimas ISBN 978-3-941360-80-8

Anne Sauvagnargues ETHOLOGIE DER KUNST Deleuze, Guattari und Simondon Kleine Edition 30 ISBN 978-3-941360-60-0

Peer Illner (ed.) UNWORKING ISBN 978-3-941360-67-9 Gilles Châtelet LEBEN UND DENKEN WIE DIE SCHWEINE ISBN 978-3-941360-79-2

Eric Fassin REVOLTE ODER RESSENTIMENT Über den Populismus Kleine Edition 31 ISBN 978-3-941360-68-6

Didier Debaise VOM REIZ DES MÖGLICHEN Natur als Ereignis ISBN 978-3-941360-78-5

Jörg Dünne KOSMOGRAMME Geohistorische Skalierungen romanischer Literaturen Kleine Edition 32 ISBN 978-3-941360-69-3

Martina Dobbe und Francesca Raimondi (Hg.) SERIALITÄT UND WIEDERHOLUNG: REVISITED ISBN 978-3-941360-75-4

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Johanna Bussemer, Katja Kipping GREEN NEW DEALS ALS ZUKUNFTSPAKT Die Karten neu mischen Kleine Edition 37 ISBN 978-3-941360-88-4 Hanna Sohns und Johannes Ungelenk (Hg.) BERÜHREN LESEN ISBN 978-3-941360-84-6 Hervé Guibert ZYTOMEGALIEVIRUS Krankenhaustagebuch Kleine Edition 36 ISBN 978-3-941360-87-7 Hervé Guibert DEM FREUND, DER MIR DAS LEBEN NICHT GERETTET HAT ISBN 978-3-941360-86-0 Alexander García Düttmann DIE HOFFNUNGSLOSEN ISBN 978-3-941360-90-7 Saidiya Hartman DIESE BITTERE ERDE (IST WOMÖGLICH NICHT, WAS SIE SCHEINT) ISBN 978-3-941360-91-4

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