Zwischen Leinwand und Bühne: Intermedialität im Drama der Gegenwart und die Vermittlung von Medienkompetenz [1. Aufl.] 9783839412664

Das Gegenwartsdrama gehört zu jenen Textgattungen, die im Deutschunterricht so gut wie keine Beachtung finden - obwohl e

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Zwischen Leinwand und Bühne: Intermedialität im Drama der Gegenwart und die Vermittlung von Medienkompetenz [1. Aufl.]
 9783839412664

Table of contents :
INHALT
Vorwort
1. Einleitung
2. Medienkompetenz und Deutschunterricht
2.1 Annäherung an den Begriff ›Medienkompetenz‹
2.2 Medienkompetenz als schulisches Lernziel
2.3 Medienkompetenz und Gegenwartsdrama
3. Gegenwartsdrama und Deutschunterricht
3.1 Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht
3.2 Geschichtliche Darstellung des Diskurses
3.3 Forderung der Forschung und Reaktionen in den Schulen
3.4 Die gemiedene Gegenwartsliteratur: Das Theater der neunziger Jahre
4. Wendepunkte in Theater und Theaterforschung
4.1 Krise des Dramas (Szondi)
4.2 Theater in der Postmoderne (Poschmann/Lehmann)
4.3 Soziale Geschichten (Schößler)
5. Theater und Kino: Intertextualität und Intermedialität als Ordnungskriterien
5.1 Intertextualität als Grundlage der Intermedialität
5.1.1 Intertextualitäten: Definitionsversuche
5.1.2 Der Wert der Intertextualität für das Phänomen Intermedialität
5.2 Stand der Intermedialitätsforschung
5.2.1 Abgrenzung des Medienbegriffs
5.2.2 Forschungsstand nach Rajewsky
5.3 Konkurrenzsituation mimetischer Künste: Theater und Film
6. Theater im Kino
6.1 Lars von Trier: »Dogville«
6.1.1 Intermediale Bezugnahmen in »Dogville«
6.1.2 Mittel des epischen Theaters in »Dogville«
6.1.3 Filmische Aktualisierung des epischen Theaters
6.2 Quentin Tarantino: »Kill Bill«
6.2.1 Dramatisches in »Kill Bill«
6.2.2 Postdramatisches in »Kill Bill«
7. Anpassung an filmische Konventionen im Theater der neunziger Jahre
7.1 John von Düffel: »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion«
7.2 David Gieselmann: »Herr Kolpert«
8. Innovation als Reaktion auf die Konkurrenzsituation
8.1 René Pollesch: »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr«
8.2 Tim Staffel: »Werther in New York«
9. Schluss
10. Literaturverzeichnis

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Christian Steltz Zwischen Leinwand und Bühne

Literalität und Liminalität hrsg. v. Achim Geisenhanslüke und Georg Mein | Band 13

2010-05-04 16-28-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ca240771914434|(S.

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Dr. Christian Steltz lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Dramentheorie, Film und Gegenwartsliteratur.

2010-05-04 16-28-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ca240771914434|(S.

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Christian Steltz Zwischen Leinwand und Bühne. Intermedialität im Drama der Gegenwart und die Vermittlung von Medienkompetenz

2010-05-04 16-28-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ca240771914434|(S.

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Die Arbeit wurde im Jahr 2009 von der Philosophischen Fakultät IV – Sprach- und Literaturwissenschaften – der Universität Regensburg als Dissertation angenommen. D355

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Christian Steltz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1266-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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INHALT Vorwort 9 1. Einleitung 11 2. Medienkompetenz und Deutschunterricht 15 2.1 Annäherung an den Begriff ›Medienkompetenz‹ 16 2.2 Medienkompetenz als schulisches Lernziel 20 2.3 Medienkompetenz und Gegenwartsdrama 28 3. Gegenwartsdrama und Deutschunterricht 33 3.1 Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht 33 3.2 Geschichtliche Darstellung des Diskurses 35 3.3 Forderung der Forschung und Reaktionen in den Schulen 48 3.4 Die gemiedene Gegenwartsliteratur: Das Theater der neunziger Jahre 57 4. Wendepunkte in Theater und Theaterforschung 63 4.1 Krise des Dramas (Szondi) 65 4.2 Theater in der Postmoderne (Poschmann/Lehmann) 71 4.3 Soziale Geschichten (Schößler) 83

5. Theater und Kino: Intertextualität und Intermedialität als Ordnungskriterien 89 5.1 Intertextualität als Grundlage der Intermedialität 90 5.1.1 Intertextualitäten: Definitionsversuche 93 5.1.2 Der Wert der Intertextualität für das Phänomen Intermedialität 113 5.2 Stand der Intermedialitätsforschung 121 5.2.1 Abgrenzung des Medienbegriffs 122 5.2.2 Forschungsstand nach Rajewsky 129 5.3 Konkurrenzsituation mimetischer Künste: Theater und Film 144 6. Theater im Kino 147 6.1 Lars von Trier: »Dogville« 148 6.1.1 Intermediale Bezugnahmen in »Dogville« 149 6.1.2 Mittel des epischen Theaters in »Dogville« 156 6.1.3 Filmische Aktualisierung des epischen Theaters 164 6.2 Quentin Tarantino: »Kill Bill« 171 6.2.1 Dramatisches in »Kill Bill« 174 6.2.2 Postdramatisches in »Kill Bill« 179 7. Anpassung an filmische Konventionen im Theater der neunziger Jahre 207 7.1 John von Düffel: »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« 211 7.2 David Gieselmann: »Herr Kolpert« 228

8. Innovation als Reaktion auf die Konkurrenzsituation 243 8.1 René Pollesch: »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« 244 8.2 Tim Staffel: »Werther in New York« 258 9. Schluss 275 10. Literaturverzeichnis 281

Vorwort Dass die vorliegende Studie in der jetzigen Form existiert, ist vielen liebenswürdigen Menschen geschuldet, denen ich an dieser Stelle meinen Dank für ihre Unterstützung aussprechen möchte. Zu allererst bin ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Achim Geisenhanslüke zu Dank verpflichtet; er hat das Projekt von Anfang bis Ende betreut, mich stets aufs Neue durch Zuspruch, Vertrauen und Optimismus motiviert und die Arbeit durch seine konstruktive Kritik maßgeblich beeinflusst. Zudem danke ich ihm und Prof. Dr. Georg Mein für die Aufnahme der Schrift in die Reihe ›Literalität und Liminalität‹. Darüber hinaus möchte ich mich für Rückmeldungen und Anregungen in zahlreichen Gesprächen bei meinen Regensburger Kollegen Prof. Dr. Dieter Heimböckel, Rasmus Overthun, Michael Hehl, Dr. Nicola Gess, Dr. Heribert Tommek, Michaela Putzke, Winfried Adam und Dr. Oliver Kohns bedanken. Matthias Kremkus danke ich für seine tatkräftige Unterstützung beim Korrekturlesen und für den moralischen Beistand, den er mir als geduldiger Gesprächspartner zukommen lassen hat. Bei den Abschlusskorrekturen haben mir Rasmus Overthun, Jan Kleine, Christian Berg, mein Vater Manfred G. Steltz und Eva Link geholfen. Letztere hat mich auch entscheidend unterstützt, indem sie mir in schwierigen Phasen Zuversicht und Vertrauen geliehen hat. Meiner Mutter Rosemarie Steltz danke ich für den psychologischen Rückhalt und die großzügige finanzielle Hilfe während der schwierigen Jahre. In dieser Hinsicht bin ich auch Nils Göner sowie meinem Vater zu Dank verpflichtet.

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1. E inleit ung In der Praxis des Deutschunterrichts vollziehen sich seit jeher heimliche Kanonisierungsprozesse. Für die Unter-, Mittel- und Oberstufe haben sich jeweils Texte herauskristallisiert, die in den verschiedenen Jahrgangsstufen immer wieder behandelt werden. Weshalb sich diese Texte an den Schulen zu regelrechten Dauerbrennern entwickelt haben, lässt sich nur ansatzweise klären. Häufig geht die Beliebtheit eines literarischen Textes unter den Deutschlehrern mit einer exponierten Stellung des Textes in der literaturwissenschaftlichen Forschung einher. Mit dem Gegenwartsdrama liegt ein literarischer Teilbereich vor, der für den Deutschunterricht bis dato lediglich in Ansätzen erschlossen worden ist und der für die Unterrichtspraxis bislang noch keine Bedeutung hat. Diese Randstellung wird institutionell noch dadurch verschärft, dass unter den für das Zentralabitur obligatorischen Titeln derzeit kein Raum für Theatertexte aus der Gegenwart vorgesehen ist, was bedauerlich ist, da sich für den Deutschunterricht wichtige Chancen und Möglichkeiten aus dem Umgang mit dem Gegenwartsdrama ergeben können. Zunächst bedarf eine Beschäftigung mit Theatertexten aus der Zeit um den Jahrtausendwechsel einer breit angelegten Grundlagenarbeit. So gilt es zunächst das schulische Lernziel Medienkompetenz in einem eigenständigen Arbeitsschritt näher zu bestimmen (Kapitel 2). Dazu gehört eine Schilderung der Schwierigkeiten bei der konkreten Definition ebenso wie eine Darstellung der verschiedenen Auffassungen von Medienkompetenz, die sich in der schulischen Praxis und der didaktischen Forschung herausgebildet haben. Hierbei wird deutlich, dass eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Lernziel Medienkompetenz Fragen aufwerfen muss, die wiederum nicht ohne Rekurs auf theoretische Aspekte der Intermedialitätsforschung zu beantworten sind. Daher ist es sinnvoll, eine ausführliche Darstellung der Intermedialitätstheorie in den Rahmen der vorliegenden Studie zu integrieren (die an späterer Stelle erfolgen soll, siehe Kapitel 5). Darüber hinausgehend lassen sich im Zusammenhang mit dem Lernziel Me-

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ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE dienkompetenz schlagkräftige Argumente für das Gegenwartsdrama als Unterrichtsgegenstand ausmachen. Einerseits stellt das Gegenwartsdrama eine Verbindung zur Lebenswirklichkeit der Schüler dar, da das öffentliche Leben ganz wesentlich durch eine Theatralisierung des Alltags geprägt ist. Andererseits hebt sich das Drama allgemein dadurch von der Lyrik und Prosa der Gegenwart ab, dass es als plurimediale Literaturform zu einer umfassenden Schulung der Wahrnehmung beiträgt, wie sie u.a. in der Fachdidaktik gefordert wird. Dieser genuine Vorzug kommt beim Drama der Gegenwart, das auch verstärkt filmische Mittel wie Clips und Live-Projektionen zum Einsatz bringt, in besonderer Weise zum Tragen. Von daher kann eine Behandlung von Gegenwartsdramen in besonderem Maße der Öffnung der Literaturwissenschaften gerecht werden, der ein zeitgemäßer Deutschunterricht, der neben Literatur- auch Medienunterricht sein muss, Rechnung tragen sollte. Um die im Kontext der Medienkompetenz aufgeführten Vorteile des Unterrichtsgegenstands Gegenwartsdrama vollkommen ermessen zu können, befasst sich das darauf folgende Kapitel mit dem Verhältnis von Gegenwartsdrama und Deutschunterricht (Kapitel 3). Für ein besseres Verständnis der aktuellen Diskussion um Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht wird eingangs die historische Entwicklung dieses Diskurses nachgezeichnet. Darauf aufbauend werden dann Bestandsaufnahmen und konkrete Forderungen seitens der Fachdidaktik wiedergegeben, die deutlich auf die Wichtigkeit einer generellen Berücksichtigung von Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht hinweisen. Insbesondere das Drama der Gegenwart, dies zeigen an dieser Stelle berücksichtigte empirische Befunde, hat keinen Platz im Deutschunterricht. Hier nimmt die vorliegende Studie ihren gedanklichen Ausgang. Damit die Beschäftigung mit dem Gegenwartsdrama aus der Warte der Intermedialität, die eine Schnittmenge aus schulischer Medienkompetenz und theatralischer Pluralität der Zeichen darstellt, auf einer soliden Basis steht, werden in einem weiteren Schritt ausgewählte Wendepunkte in der Theaterpraxis und -forschung der letzten hundert Jahre nachgezeichnet (Kapitel 4). Dieser Zeitraum ergibt sich aus dem kontrastiven Blick auf das Theater und sein Konkurrenzmedium Film. Für die spätere Deutung der Entwicklung des Dramas im 20. Jahrhundert bildet demgemäß auch die von Peter Szondi ausgerufene Krise des Dramas den Ausgangspunkt. Als weitere Wendepunkte werden das Theater in der Postmoderne, wie es vornehmlich in Hans-Thies Lehmanns Studie zum postdramatischen Theater und Gerda Poschmanns »Der nicht

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1. EINLEITUNG mehr dramatische Theatertext« beschrieben wird, und der sogenannte ›Neue Realismus‹ berücksichtigt, den Franziska Schößler unter dem Stichwort ›Soziale Geschichten‹ erfasst hat. Da jedoch weder die Studien zum Postdramatischen Theater noch die Veröffentlichungen zum Neuen Realismus als allumfassende Beschreibungen des Phänomens gelten können, unternimmt die vorliegende Argumentation den Versuch, das Theater der neunziger Jahre aus veränderter Perspektive zu betrachten. Hier kommt die Bezugnahme auf Peter Szondi zum Tragen, der die Anfänge der Auflösungserscheinungen des Dramas auf die Zeit um 1900 datiert. Ohne dass dieser Umstand bei Szondi explizit herausgearbeitet wäre, lässt die zeitliche Distanz von einem Jahrhundert einen Zusammenhang zwischen der Krise des Dramas und dem Aufkommen des Films vermuten. Diese Vermutung wird aufgenommen, wenn das Drama um den Jahrtausendwechsel aus einem Blickwinkel betrachtet wird, der auf den Zwischenraum von Drama und Film ausgerichtet ist. Intermedialität bietet sich hierbei als alternatives Ordnungskriterium neben Lehmanns postdramatischem Paradigma und den von Franziska Schößler untersuchten Themenschwerpunkten Mythos, Erinnerung, soziale Geschichten1 an. Damit die Untersuchung neben den konkreten Analyseergebnissen auch die Möglichkeit bieten kann, das modellhafte Analysevorgehen auf weitere Texte zu übertragen, wird die Intermedialitätsforschung einerseits so knapp wie möglich, jedoch auch so ausführlich wie nötig dargestellt, um als theoretisches Gerüst für weitere Selektions- und Kategorisierungsprozesse des deutschsprachigen Dramas um den Jahrtausendwechsel dienen zu können (Kapitel 5). Dies bedeutet konkret, dass zunächst Intertextualität als theoretische Grundlage der Intermedialität vorgestellt wird. Die Differenzierung zwischen einer poststrukturalistischen Ausprägung, die vornehmlich in den Anfangszeiten der Intertextualitätsforschung vorherrschend gewesen ist, und einem eingeschränkten Intertextualitätsverständnis, das auf eine möglichst hohe Anwendbarkeit ausgerichtet ist, erweist sich hierbei als richtungweisend für die spätere Entwicklung der Intermedialität, wie deutlich wird, wenn der Forschungsstand der Intermedialität in einer abschließenden Darstellung zusammengetragen wird. Aus dem intermedialen Blick auf das Drama der Gegenwart geht eine denkbar einfache Struktur hervor, denn es lassen sich im Wesentlichen lediglich drei Formen der Einflussbeziehung zwischen 1

Vgl. Franziska Schößler: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen: Gunter Narr 2004.

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ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Theater und Kino voneinander unterscheiden: zum einen eine Anpassung von Filmen an theatrale Gattungsmuster (Kapitel 6), dann eine Anpassung von Dramen an filmische Konventionen (Kapitel 7) sowie schlussendlich eine völlige Abkehr vom Mimesiskonzept auf der Bühne (Kapitel 8). Die Darstellung dieser drei Einflussbeziehungen erfolgt anhand exemplarisch herausgegriffener Text- und Filmbeispiele, die jeweils illustrieren, auf welche spezifische Art Film und Bühne in einem Spannungsverhältnis stehen. Als Beispiele für an Theaterkonventionen orientierte Filme werden Lars von Triers »Dogville« und Quentin Tarantinos »Kill Bill« analysiert, die mitunter als Übertragungen des epischen und postdramatischen Theaters auf das filmische Medium gelten können. Für den entgegengesetzten Fall einer Orientierung von Gegenwartsdramen am Konkurrenzmedium Film werden die Theatertexte »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« von John von Düffel sowie »Herr Kolpert« von David Gieselmann herangezogen, bevor letztendlich René Polleschs »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« und Tim Staffels »Werther in New York« für einen innovativen Umgang mit der Konkurrenz durch den Film angeführt werden. Neben den mitunter unkonventionellen Interpretationen der Stücke und Filme, die sich aus intermedialer Sicht ergeben, steht als Ergebnis des breiten Analyseteils eine vorläufige Überprüfung der ausgewählten Kategorien, die freilich noch anhand weiterer Text- und Filmanalysen zu verifizieren wäre. Bei den Analysekapiteln richtet sich der zwischen Theorie und Praxis des Theaters changierende Blick perspektivisch auf den Deutschunterricht: die Ordnung des breiten Feldes Gegenwartsdrama nach einfach nachzuvollziehenden Kriterien ist ebenso wie die beispielhaften Stück- und Filmanalysen dazu gedacht, zu einem Abbau von Vorbehalten gegen das Gegenwartsdrama seitens der Fachdidaktik und vor allem seitens des konkreten Deutschunterrichts in den Schulen beizutragen.

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2. Medienkom pet enz und Deut schunt erricht Im schulischen Kontext zeichnet sich das Gegenwartsdrama auf charakteristische Art und Weise aus. Insbesondere der Einbeziehung nicht-literarischer Medienprodukte (wie z.B. Film), die aus einer Öffnung des Literaturbegriffs im Deutschunterricht hervorgeht, kommt in didaktischer Hinsicht ein gesonderter Stellenwert zu. Die Entwicklung von einem traditionellen Literaturunterricht zu einem modernen Deutschunterricht, der neben Literatur- auch Medienunterricht sein sollte, nimmt vor dem Hintergrund des Lernziels Medienkompetenz eine exponierte Position ein. Wenn Intermedialität als Ordnungskriterium vom Leser/Zuschauer verlangt, dass er Bezüge zwischen einzelnen Büchern, Filmen, Gemälden etc. erkennen und beschreiben soll,1 dann basiert das gesamte Vorhaben entscheidend auf der Medienkompetenz des Rezipienten, die durch eine intermediale Beschäftigung mit dem Gegenwartsdrama noch stärker ausgebildet werden kann. In methodischer Perspektive trägt ein reflexiver Umgang mit Medialität zudem enorm zur Studierfähigkeit der Schüler bei, die im Sinne einer personalen, sozialen und fachlichen Bildung als Auftrag der Schulen anvisiert wird.2 Bedingt durch die skizzierte Ausgangssituation besteht zwischen Intermedialität und den Zielen des Deutschunterrichts, über die sich die Fachdidaktik unentwegt erneut verständigen muss, eine Beziehung, die in der Folge beschrieben werden soll. Nach einem Versuch, die Medienkompetenz von anderen Lernzielen abzugrenzen, sollen der Stellenwert der Medienkompetenz in der Schule und das Verhältnis von Medienkompetenz zum Fach Deutsch im Allgemeinen und zum Gegenwartsdrama im Speziellen dargestellt werden. Auf diese Weise lässt sich die Anbindung der intermedialen Be-

1 2

Siehe hierzu Kapitel 5. Vgl. z.B. Richtlinien NRW SEK II. Deutsch, hrsg. vom Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Frechen: Ritterbach 1999, S. XI.

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ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE schäftigung mit dem Gegenwartsdrama an die schulischen Rahmenvorgaben illustrieren.

2.1 Annäherung an den Begriff ›Medienkompetenz‹ Indem die Schule ihre übergeordneten Lernziele ständig hinterfragt und entsprechend aktualisiert, sorgt sie für zeitgemäße Bildungsund Erziehungsstandards. Eine Aktualisierung der Lernziele trägt dazu bei, dass die Schüler zu einer erfolgreichen und erfüllenden Teilnahme am gesellschaftlichen Leben befähigt werden. Dieses gesellschaftliche Leben und seine Teilnahmevoraussetzungen werden in den Richtlinien des Landes Nordrhein-Westfalen für das Fach Deutsch derzeitig wie folgt beschrieben: »Die Welt, in der die Schülerinnen und Schüler leben werden, ist in hohem Maße durch politische, wirtschaftliche und soziale Verflechtungen bestimmt. Ein Leben in dieser Welt erfordert Kenntnisse und Einblicke in die historischen, politischen, sozialen und ökonomischen Zusammenhänge. Es benötigt Verständnis für die eigene Kultur und für andere Kulturen, für interkulturelle Zusammenhänge, setzt Fremdsprachenkompetenz, Medienkompetenz, Erfahrungen im Ausland und die Bereitschaft, in einer internationalen Friedensordnung zu leben, voraus.«3

Für das Leben in einer globalisierten Welt, die nach US-amerikanischem Vorbild organisiert ist, gilt Medienkompetenz neben der sprachlichen und interkulturellen Kompetenz explizit als Grundvoraussetzung. Ihre Bedeutung für die Schule sollte demnach absolut basal sein, so die länderspezifische Einschätzung. Obwohl das Lernziel Medienkompetenz in den Richtlinien des Landes Bayern nicht explizit zu den übergeordneten Lernzielen zählt, kommt ihm auch hier ein hoher Stellenwert zu. So wird Deutsch als ein Fach beschrieben, »das [traditionell sowohl] die deutsche Sprache, anspruchsvolle Sach- und Gebrauchstexte, problemreflektierende und philosophische Texte«4 als auch »deutschund fremdsprachige Literatur, auch von weltliterarischem Rang«,5

3 4

Ebd., S. XIV. Internetseite des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung München: Deutsch, http://www.isb-gym8-lehrplan.de vom 15.03.2009.

5

Ebd.

16

2.1 ANNÄHERUNG AN DEN BEGRIFF ›MEDIENKOMPETENZ‹ sowie »Medien und grundlegende Methoden zum Gegenstand hat«.6 Die Bearbeitung von Medien äußert sich in Bayern in der Zuständigkeit des Deutschunterrichts für das Arbeitsfeld »Einsatz moderner Medien und Informationstechnologien«,7 womit eine Schulung methodischer Fertigkeiten gemeint ist. Damit kommt der Medienkompetenz zwar eine geringere Bedeutung zu als beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, wo die Vermittlung eines filmanalytischen Instrumentariums anhand der Behandlung eines Films in den Richtlinien obligatorisch genannt wird,8 die Wichtigkeit einer solchen Fertigkeit wird jedoch nicht bestritten. Die Notwendigkeit einer Schulung von Medienkompetenz zu leugnen, wäre angesichts der stark »ausgeprägten media awareness, die sich […] u.a. durch die Omnipräsenz der audiovisuellen bzw. digitalen Medien und eine fortschreitende Medialisierung des Alltags«9 in den achtziger und neunziger Jahren entwickelt hat, auch realitätsfremd zu nennen. Schließlich dient die Etablierung des Lernziels ›Medienkompetenz‹ »der Entwicklung der Persönlichkeit wie auch der Entfaltung sozialen Handelns in einer demokratisch verfassten Gesellschaft, die auf medienkompetente Mitglieder angewiesen ist.«10 Demzufolge stellt der hohe Stellenwert der Vermittlung von Medienkompetenz zumeist eine unhinterfragte Tatsache dar und scheint daher eher unproblematisch zu sein. Im Gegensatz dazu stehen Bemühungen um eine Definition dieser Fertigkeit zahlreichen Fragen gegenüber.11 Bemühungen um eine Definition des Begriffs stehen zunächst vor dem Problem, dass »[s]eine Omnipräsenz

6 7

Ebd. Internetseite des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung München: Das Gymnasium in Bayern. Unter derselben URL: http://www.isbgym8-lehrplan.de vom 15.03.2009.

8

Vgl. Richtlinien NRW SEK II, S. 20.

9

Irina O. Rajewsky: »Intermedialität – eine Begriffsbestimmung«, in: Marion Bönninghausen/Heidi Rösch (Hg.), Intermedialität im Deutschunterricht, Baltmannsweiler: Schneider 2004, S. 8-30, hier S. 10.

10

Petra Josting: »Medienkompetenz im Literaturunterricht«, in: Heidi Rösch (Hg.), Kompetenzen im Deutschunterricht, Frankfurt/Main: Lang 2005. S. 71-90, hier S. 82.

11

Vgl. Kaspar H. Spinner: »Ästhetische Bildung multimedial. Zum Begriff der Medienkompetenz«, in: Marion Bönninghausen/Heidi Rösch (Hg.), Intermedialität im Deutschunterricht, Baltmannsweiler: Schneider 2004. S. 31-39, Hier S. 31.

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ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE […] mit einer überaus diffusen Semantik«12 korrespondiert. Aus den heteronomen Ansätzen innerhalb der didaktischen Forschung zu Medienkompetenz, lässt sich am ehesten »die Zielvorstellung eines kritischen Umgangs mit den Medien«13 als gemeinsames Kriterium herausfiltern. Teil dieses kritischen Umgangs, so lässt sich ebenfalls feststellen, ist der Vorgang einer »zeichenspezifischen Dekodierung«,14 der den Einzelnen unter Berücksichtigung »der unterschiedlichen Wirkung verbaler, visueller, akustischer Ausdrucksmöglichkeiten«15 vornehmlich zu einer »Entschlüsselung vor allem auch kombinierter Formen«16 befähigt. Kritisch bedeutet in diesem Fall notwendigerweise auch distanziert und reflexiv, was eine Vermittlung kritisch-analytischer Kompetenzen voraussetzt, die den Einzelnen »zum kommunikativen Handeln mit Medien«17 befähigen.18 Als Ursache für die noch immer unklare Definitionslage der Medienkompetenz lässt sich zum einen der Umstand anführen, dass die didaktische Diskussion um Medien die Last ungeklärter Fragen aus der Medialitätsforschung mit zu tragen hat. So erklärt es sich beinahe von selbst, dass der begriffsgeschichtlich nicht klar umrissene Medienbegriff auch zu Unklarheiten in der Abgrenzung von Ableitungen wie ›Medienkompetenz‹ führen muss. In der Praxis wurde diese Problematik zumeist verlagert, indem Medien in didaktischen Kontexten vordergründig über Differenzkriterien zur Literatur bestimmt wurden.19 Teilweise ist Medienkompetenz auch unter Ausblendung der Definitionsschwierigkeiten allein über ihre Funktion bestimmt worden, so dass Medienkompetenz als Oberbegriff für Fähigkeiten verwendet wird, »die das Individuum innerhalb einer Me-

12

Klaus Neumann-Braun: »Medienkompetenz«, in: Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hg.), Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn: Fink 2005, S. 173-176. hier S. 173.

13

K. H. Spinner: Ästhetische Bildung multimedial, S. 31.

14

Jutta Wermke: »Literatur- und Medienunterricht«, in: Klaus-Michael Bogdal/ Hermann Korte (Hg.), Grundzüge der Literaturdidaktik, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2002, S. 91-104, hier S. 100.

15

Ebd.

16

Ebd.

17

K. Neumann-Braun: Medienkompetenz, S. 173.

18

Vgl. hierzu auch: Hans-Dieter Kübler: »Medienkompetenz – Dimensionen eines Schlagwortes«, in: Fred Schell/Elke Stolzenburg/Helga Theunert (Hg.), Medienkompetenz. Grundlagen und pädagogisches Handeln, München: KoPäd-Verlag 1999, S. 25-47, hier S. 27.

19

Vgl. J. Wermke: Literatur- und Medienunterricht, S. 91.

18

2.1 ANNÄHERUNG AN DEN BEGRIFF ›MEDIENKOMPETENZ‹ dien- und Informationsgesellschaft benötigt.«20 Dieser Sprachgebrauch deckt einen breiten Bereich ab: »Solche geforderten Fähigkeiten reichen von der bloßen Anpassung an die medienökonomischen und –technischen Vorgaben, also der Fertigkeit, Medien zu bedienen, bis hin zur kritischen Reflexion und aktiven Gestaltung nicht nur der Medienlandschaft, sondern aller sozialer Umgebungen, die mit dieser vernetzt sind.«21

Dieser operationale Charakter findet sich recht häufig und scheint daher in der Tat einen wesentlichen Bestandteil von Medienkompetenz auszumachen, die stets mit der Fähigkeit assoziiert wird, verschiedenartige Medien spezifisch für menschliche Kommunikationsund Handlungsprozesse zu nutzen.22 Insgesamt betrachtet, ist es ein unvorteilhaftes – wenn nicht unmögliches – Anliegen, die Definitionsschwierigkeiten in der didaktischen Forschung zur Medienkompetenz, die zu funktionalen Begriffsabgrenzungen wie der obigen führen, an dieser Stelle beheben zu wollen. Da die Schwierigkeiten jedoch eng mit dem zugrunde liegenden Medienbegriff verbunden sind, kann an späterer Stelle eventuell zu einer Klärung von offenen Fragen beigetragen werden. Im Zuge einer Darstellung des Forschungsstands zur Intermedialität soll der Medienbegriff im weiteren Verlauf erneut aufgegriffen werden (vgl. Kapitel 5.2). Im Augenblick muss es ausreichen, auf verschiedene Lösungsversuche seitens der Fachdidaktik hinzuweisen. So werden üblicherweise verschiedene Dimensionen unterschieden23 und diverse 20

Bernd Schorb: »Vermittlung von Medienkompetenz als Aufgabe der Medienpädagogik«, in: Deutscher Bundestag (Hg.), Enquete-Kommission. 1997. S. 63-75, hier S. 63. Zitiert nach: Achim Barsch: Mediendidaktik Deutsch, Paderborn [u.a.]: Schöningh 2006, S. 66f.

21 22

Ebd. Vgl. hierzu z.B. Hoffmanns Verweis auf Dieter Baackes Definitionsbemühungen. Bernward Hoffmann: Medienpädagogik. Eine Einführung in Theorie und Praxis, Paderborn, München [u.a.]: Schöningh 2003, S. 31.

23

Harald Gapski führt die instrumentelle, die kritisch-reflexive, die medienkundliche, die kreative, die ethische und die emotionale als jene Dimensionen auf, die üblicher Weise unterschieden werden. Vgl. Harald Gapski: »Zu den Fragen, auf die ›Medienkompetenz‹ die Antwort ist. Ein Aufruf zum interdiskursiven und interdisziplinären Dialog«. in: Heinz Bonfadelli [u.a.] (Hg.), Medienkompetenz und Medienleistungen in der Informationsgesellschaft, Zürich: Pestalozzianum 2004, S. 22-34, hier S. 25; K. NeumannBraun: Medienkompetenz, S. 173.

19

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Kategorien von Medienkompetenz beschrieben. Die drei zentralsten sieht Bernd Schorb in Medienwissen, Medienbewertung und Medienhandeln.24 Über diese Einteilung gelangt Schorb zu einer Definition, die im Wesentlichen an bewährte Vorarbeiten anschließt25 und im Folgenden als Richtwert verstanden sein soll: »Medienkompetenz ist die Fähigkeit auf der Basis strukturierten zusammenschauenden Wissens und einer ethisch fundierten Bewertung der medialen Erscheinungsformen und Inhalte, sich Medien anzueignen, mit ihnen kritisch, genussvoll und reflexiv umzugehen und sie nach eigenen inhaltlichen ästhetischen Vorstellungen, in sozialer Verantwortung sowie in kreativem und kollektivem Handeln zu gestalten.«26

2.2 Medienkompet enz als schulisches Lernziel Neben dem problematischen Medienbegriff wirkt sich auf die Definitionsansätze zur Medienkompetenz negativ aus, dass diese Kompetenz im schulischen Kontext verschiedene Bedeutungszuschreibungen erhält, was wiederum durchaus eine Folge der ungenauen Definitionslage sein kann. Jutta Wermke verweist in diesem Zusammenhang auf den Unterschied zwischen Mediendidaktik und Medienerziehung. Erstere befasst »sich mit den Mitteln der Unterrichtsorganisation«27 und legt somit ein sehr konkretes Verständnis des Mediums zugrunde (als Tafel, Landkarte, Hörkassette, CD, Video, Buch etc.), während sich die Letztere »mit Medien als Gegenstand von Lehr/Lernprozessen auseinander[setzt]«, wobei »die außerschulische Relevanz von Medien in Freizeit, Beruf, Öffentlichkeit«28 maß-

24

Vgl. Bernd Schorb: »Medienkompetenz«. in: Jürgen Hüther/Bernd Schorb (Hg.): Grundbegriffe Medienpädagogik. München: KoPäd.-Verlag 2005, S. 257-263; K. Neumann-Braun: Medienkompetenz. S. 173.

25

Beispielsweise an Wermkes Definition: »Medienkompetenz ist die Fähigkeit des Rezipienten bzw. Users zum sachgerechten und selbstbestimmten Umgang mit Medien. Medienkompetenz impliziert die Kenntnis nach Form und Inhalt unterschiedlicher Medienangebote und die Fähigkeit, die Qualität des Informationsgehaltes und der ästhetischen Realisierung zu beurteilen. Medienkompetenz setzt darüber hinaus Fertigkeiten im Gebrauch und Einsatz von Medientechnik voraus, die eigene Gestaltung ermöglichen.« J. Wermke: Literatur- und Medienunterricht, S. 99.

26

B. Schorb: Medienkompetenz. S. 262.

27

J. Wermke: Literatur- und Medienunterricht. S. 91.

28

Ebd.

20

2.2 MEDIENKOMPETENZ ALS SCHULISCHES LERNZIEL geblich ist, die zuvor als ›fortschreitende Medialisierung des Alltags‹ bezeichnet worden ist. Im Sinne einer Mediendidaktik wird also der Umgang mit Medien erlernt, d.h. dass ihre spezifische Anwendung sowohl in rezeptiver als auch produktiver Hinsicht erprobt wird. Somit wird eine zentrale Qualifikation für die Studien- und Berufswahl vermittelt, die im gymnasialen Oberstufenunterricht angestrebt wird: nämlich »die Fähigkeit, die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien nutzen zu können«.29 Da sich die einzelnen Zieldimensionen des Deutschunterrichts nicht isolieren lassen, geht auch die Mediendidaktik notwendigerweise mit der allgemeineren Medienerziehung einher. Schüler sollten nicht in der Nutzung eines medialen Angebots wie dem Internet geschult werden, ohne seinen medialen, sozialen, politischen und historischen Kontext zu reflektieren. Ebenso geht eine Schulung der Lesekompetenz stets auch mit anderen basalen Zielen wie Ästhetischer Bildung und Politischer Bildung oder eben auch Medienkompetenz einher.30 Diese Zusammengehörigkeit von Mediendidaktik und Medienerziehung wird in den Richtlinien für das Fach Deutsch berücksichtigt, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. In Bayern z.B. wird Medienkompetenz in der Aufzählung der überfachlichen Kompetenzen, die am Gymnasium erworben werden sollen, nicht explizit genannt. Sie wird jedoch impliziert, wenn neben ›Selbstkompetenz‹, ›Sozialkompetenz‹ und ›Sachkompetenz‹31 auch ›Methodenkompetenz‹ eingefordert wird, worunter allerdings eher der mediendidaktische Bereich schulischer Medienkompetenz verstanden wird. Damit ist also eher die Fähigkeit gemeint, neue Kommunikations- und Informationsmedien für die eigenständige Recherche und Präsentation von Wissen zu nutzen, die im Rahmen verschiedener »Techniken

29

Richtlinien NRW SEK II, S. XIV.

30

Vgl. J. Wermke: Literatur- und Medienunterricht, S. 99.

31

Unter ›Selbstkompetenz‹ werden subjektive Eigenschaften wie Leistungsbereitschaft, Ausdauer, Konzentrationsfähigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Zeiteinteilung oder Selbstvertrauen verstanden. ›Soziale Kompetenz‹ beinhaltet Fertigkeiten wie Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Toleranzbereitschaft, Gemeinschaftssinn und Hilfsbereitschaft, während unter ›Sachkompetenz‹ beispielsweise Wissen und Urteilsfähigkeit der Schüler gefasst werden. Vgl. Internetseite des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung München: Das Gymnasium in Bayern, http://www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/3.1/g8.de/index.php?Story ID=26350 vom 15.03.2009.

21

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE des Wissenserwerb und der Wissensverarbeitung […], die in Schule, Studium und Beruf von zentraler Bedeutung sind«,32 angesiedelt ist. Medienerziehung wird im Lehrplan für das Fach Deutsch an anderer Stelle berücksichtigt, wenn nämlich »die Entwicklung einer eigenständigen und reflektierten Einstellung« zu Medien zum Ziel der Einbeziehung von Medien in den Deutschunterricht erklärt wird. Noch deutlicher wird die Zusammenhörigkeit in den Richtlinien des Landes Nordrhein-Westfalen, welche den in Bayern bevorzugten Aspekt der Mediendidaktik dem der abstrakten Medienerziehung weitestgehend unterordnen. Dort heißt es zum Wandel von Lebenswelt und Aufgaben des Deutschunterrichts: »Neben die traditionellen Gegenstände des Bereichs Reflexion über Sprache tre-

ten neue Formen der Informations- und Wissensvermittlung. Die neuen Medien fordern den Deutschunterricht zu einer konstruktiven Auseinandersetzung (rezeptiv wie produktiv) mit ihren besonderen Sprachverwendungsweisen heraus. Aufgeschlossenheit gegenüber den neuen Medien darf aber nicht mit kritiklosem Gebrauch gleichgesetzt werden, sondern muss von kritischem Nachdenken über die dadurch bewirkten Veränderungen begleitet sein.«33

Das eingeforderte kritische Nachdenken über Medien und ihre Folgen, das weiter oben als Charakteristikum von Medienkompetenz eingeführt worden ist, hat in der Didaktik schon früh zu einer Kategorisierung geführt, die aus der Publizistik entlehnt ist. Je nachdem, wie direkt die mediale Vermittlung erfolgt, wird von ›primären‹, ›sekundären‹ und ›tertiären‹ Medien gesprochen.34 Eine Vermittlung von Inhalten, die ohne technische Hilfsmittel auskommt, wird hierbei als primär bezeichnet. Primäre Medien sind also ›Menschmedien‹: natürliche Kommunikationsmittel wie Stimme, Gestik oder Mimik. »Sekundäre Medien setzen auf der Seite des Senders (irgend-)eine Technik oder Apparatur voraus, nicht jedoch beim Empfänger«.35 Im schulischen Kontext sind hier alle Objekte bedeutsam, die

32

Internetseite des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung München:

Deutsch,

http://www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/3.1/

g8.de/index.php?StoryID=26358&subtemplate=print&supertemplate= vom 15.03.2009. 33

Richtlinien NRW SEK II, S. 25.

34

Diese Differenzierung geht auf Harry Pross zurück. Vgl. Harry Pross: Mitteilung und Herrschaft. Anmerkung zur Rundfunkpolitik, Neuwied: Luchterhand 1972.

35

J. Wermke: Literatur- und Medienunterricht, S. 93.

22

2.2 MEDIENKOMPETENZ ALS SCHULISCHES LERNZIEL der Veranschaulichung in Lehr/Lernprozessen dienlich sind.36 Hierunter fallen sämtliche Schreibwerkzeuge, visuelle oder akustische Verstärker wie Bildschirme oder Mikrofone sowie archaische Zeichensysteme (Rauchzeichen, Trommelsignale, Instrumente etc.). Tertiäre Medien setzen schließlich auf beiden Seiten der Kommunikation technische Hilfsmittel zur Übermittlung der Botschaft voraus, was im Grunde genommen für die Gesamtheit der sogenannten neuen Medien zutreffend ist (also für Multimedia-Anwendungen wie CD-Roms oder DVDs), aber auch für die althergebrachten Massenmedien TV, Videotext, Kino und Radio.37 Wenn eine gleichartige technische Ausstattung auf Sender- und Empfängerseite einen Rollenwechsel ermöglicht, also »die Bearbeitung von Zeichen von beiden Seiten raum- und zeitunabhängig«38 vorgenommen werden kann, ist von quartären Medien die Rede. Dieser Fall liegt beispielsweise bei Internet-Chats und anderen Webdiensten vor. Gerade der technische Aufwand und das entsprechende Knowhow, die mit den tertiären Medien verbunden sind, können als Ursache für eine Privilegierung der Mediendidaktik ausgemacht werden, wie sie an den bayerischen Richtlinien veranschaulicht werden konnte. Auch wenn die Notwendigkeit einer Anleitung zur effizienten Nutzung neuer, zumeist digitaler Medien kaum zu leugnen ist, gerät eine Ausrichtung nach den Anforderungen der medial geprägten Lebenswelt verstärkt in die Kritik, da sie zum einen stark auf kurzfristige Bedürfnisse und zum anderen primär auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet sei. So lässt sich beispielsweise beobachten, dass in Medienkompetenzmodellen mit einer stark ausgeprägten Anwendungsorientierung andere zentrale Lernziele wie etwa die Ästhetische Bildung vernachlässigt werden. So beschreibt Bernd Schorb Medienkompetenz richtliniengemäß als »die Fähigkeit, Me-

36

Angefangen beim klassischen Füllfederhalter, der in der ersten Stunde des Englischunterrichts der Veranschaulichung des Satzes »This is a pen« dient.

37

Vgl. zu dieser Einteilung: Harry Pross: Medienforschung. Film – Funk – Presse – Fernsehen, Darmstadt: Habel 1972; Peter Hunziker: Medien, Kommunikation und Gesellschaft. Einführung in die Soziologie der Massenkommunikation, 2. überarbeitete Auflage, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996; Michael Jäckel: Medienwirkungen. Ein Studienbuch zur Einführung, Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999; J. Wermke: Literatur- und Medienunterricht.

38

A. Barsch: Mediendidaktik Deutsch, S. 18.

23

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE dien aktiv als Kommunikationsmittel nutzen [zu] können«39 und hebt zudem den Beitrag der Medienkompetenz zur Politischen Bildung hervor, indem er Medienkompetenz darüber hinaus als die Fähigkeit kennzeichnet, »die Medienentwicklungen erfassen, kritisch reflektieren und bewerten zu können«.40 Der Aspekt der Ästhetischen Bildung wird hingegen auf die Fähigkeit eingeschränkt, »selbstbestimmt, kritisch-reflexiv und genussvoll mit Medienangeboten und –inhalten umgehen zu können.«41 Anders als Schorb geht Bodo Lecke vor, der sich im Rahmen eines Beitrags für den von Michael Kämper-van den Boogaart herausgegebenen Leitfaden Deutsch mit dem Lernziel Medienkompetenz auseinandersetzt. Nicht nur wegen der Veröffentlichung im Leitfaden, der über Ländergrenzen und Differenzen in den Lehrplänen hinweg fachdidaktische Grundlagen für Studierende und Lehrende zugleich darstellt, können die vier unter Medienkompetenz gefassten Lernziele, die Lecke42 aufführt, als repräsentativ für den Forschungsstand und als richtungsweisend für zukünftige Entwicklungen angesehen werden. Nach Lecke verfolgt Medienkompetenz in einem integrativen Deutschunterricht folgende Lernziele:



»Ideologiekritik auf der Grundlage modellhaft-exemplarischer Einsichten in



Immunisierung gegen interessengeleitete Wirkungs- und Manipulationsme-



Erkenntnis potenziell demokratischer, aufklärerischer Tendenzen und ihrer



Anwendung der so gewonnenen sozio-ästhetischen Kategorien auf das ei-

dialektische (strukturhomologische) Zusammenhänge,

chanismen,

formalen (ästhetischen) und inhaltlichen (politischen) Manifestationen,

gene politische (Kommunikations-)Verhalten, verstanden als soziales Handeln.«43

Vor dem Hintergrund der Differenzierung in Mediendidaktik und Medienerziehung, die zuvor dargestellt worden ist, liefert Leckes Lernzielkatalog ein Musterbeispiel für ein Medienkompetenzver39

Bernd Schorb: »Jugend und Multimedia«, in: Volker Deubel/Klaus H. Kiefer (Hg.), MedienBildung im Umbruch, Bielefeld: Aisthesis 2003, S. 111-127, hier S. 116.

40

Ebd.

41

Ebd.

42

Zur Bedeutung von Leckes Arbeiten in diesem Kontext vgl. u.a.: K. H. Spin-

43

Bodo Lecke: »Medienpädagogik, Literaturdidaktik und Deutschunterricht«,

ner: Ästhetische Bildung multimedial, S. 31. in: Michael Kämper-van den Boogaart (Hg.), Deutsch-Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen 2003, S. 34-45, hier S. 39.

24

2.2 MEDIENKOMPETENZ ALS SCHULISCHES LERNZIEL ständnis, das nicht bloß auf ein anwendungsorientiertes Anleiten im Umgang mit verschiedenen medialen Formen und Formaten abzielt, sondern im Rahmen der abstrakt gefassten Medienerziehung auf persönlichkeitsbildende Auswirkungen einer tiefgreifenden Medienreflexion ausgerichtet ist. Die länderübergreifende Konzeption von Kämper-van den Boogaarts »Deutsch-Didaktik« ist insofern außergewöhnlich, als dass sich bezüglich der institutionellen Forderung nach und Förderung von Medienkompetenz normalerweise erhebliche Unterschiede in den Lehrplänen der einzelnen Bundesländer erkennen lassen. Der Tatsache, dass auch »konkurrierende bzw. komplementäre Medien«44 mittlerweile zunehmend die Funktion des Buchs als Träger des ›kulturellen Gedächtnisses‹ übernehmen, wird nicht nur auf fachwissenschaftlicher Ebene in Form einer Öffnung der Literaturwissenschaften, sondern zunehmend auch in fachdidaktischer Hinsicht Rechnung getragen. So kommt es, dass »Film, Fernsehen und PC [in einigen Bundesländern bereits] nahezu gleichberechtigter Partner der alten Schriftkultur (vgl. v.a. Sachsen-Anhalt)«45 sind, während sich die Lehrpläne anderer Bundesländer den neuen Medien weitgehend verschließen, was im Falle der letzteren zur Folge hat, dass dort »audiovisuelle Medien in den ›literarischen‹ Lehrplänen fast nur in Zusammenhang mit dem guten alten Hörspiel und der Literaturverfilmung« 46 in Erscheinung treten. Für die Zukunft des Deutschunterrichts lässt sich vermuten, dass der Stellenwert der Medien im Literaturunterricht auch in anderen Bundesländern so wie in Sachsen-Anhalt zunehmen wird. Wenngleich der universitäre Trend zur Rephilologisierung der Germanistik auch gegenteilige Implikationen für die Didaktik zulassen würde, gibt es eine Entwicklung hin zu einem integrativen Deutschunterricht, welcher der gegenwärtigen Rolle des Buchs als Einzelmedium in einem Medienverbund, das »nur noch bedingt isoliert betrachtet werden kann«,47 gerecht wird.48 Institutionelle Basis dieser

44

Ebd., S. 35.

45

Michael Kämper-van den Boogaart: »Lehrpläne und Deutschunterricht«, in: Ders. (Hg.), Deutsch-Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II, Berlin: Cornelsen 2003, S. 12-33, hier S. 32.

46

Ebd.

47

Jutta Wermke: Integrierte Medienerziehung im Fachunterricht. Schwerpunkt Deutsch. München: Kopäd.-Verlag 1997, S. 47.

48

Bodo Lecke verweist in diesem Zusammenhang auf die Beiträge von Schönert, Hickethier und Schmidt in dem von ihm selbst herausgegebenen Sammelband »Literatur und Medien in Studium und Deutschunterricht«, die

25

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Entwicklung ist der Beschluss, Medienkompetenz nicht in einem oder mehreren neu einzuführenden Schulfächern (wie etwa Filmkunde), sondern in »eines oder mehrere der bestehenden traditionellen Schulfächer integriert«49 zu vermitteln.50 Neben dem Fach Deutsch scheinen auch der Kunst-, Musik- und Sozialkundeunterricht hierfür geeignet. Kritik an den politischen Rahmenvorgaben, die einen integrativen Medienunterricht vorschreiben, entzündet sich häufig daran, dass aus einer vermeintlich modernen Medienbegeisterung heraus verschiedenste mediale Formen unter dem Etikett ›Neue Medien‹ undifferenziert in den Unterricht miteinbezogen werden sollen. So gibt Elisabeth Paefgen beispielsweise zu bedenken, dass es nicht vorteilhaft sei, die ›Neuen Medien‹ bereits in die Lehrpläne zu implementieren, während selbst das relativ alte Medium ›Film‹ »noch gar keinen sicheren Ort in der Schule gefunden hat«.51 Als Konsequenz ließe sich die Etablierung eines eigenständigen Schulfaches ›Filmkunde‹ fordern.52 Allerdings ist bei der Forderung und der Lehrplanentwicklung eines derartigen Schulfaches Vorsicht geboten. Schließlich werden kulturelle Leitbilder in der Mediengesellschaft »immer mehr durch medial vermittelte bestimmt[, die] sich nicht selten an ökonomischen Interessen«53 orientieren. Daher müssen ganz im Sinne von Jutta Wermke argumentieren. Vgl. B. Lecke: Medienpädagogik, Literaturdidaktik und Deutschunterricht, S. 35; Knut Hickethier: »Medienkultur und Medienwissenschaft im Germanistikstudium«, in: Bodo Lecke (Hg.), Literatur und Medien in Studium und Deutschunterricht, Frankfurt/Main: Peter Lang 1999, S. 85-112; Siegfried J. Schmidt: »Literaturwissenschaft als Medienkulturwissenschaft. Anmerkungen zur Integration von Literatur- und Medienwissenschaft(en)«, in: Bodo Lecke (Hg.), Literatur und Medien in Studium und Deutschunterricht, Frankfurt/Main: Peter Lang 1999, S. 64-83; Jörg Schönert: »›Kultur‹ und ›Medien‹ als Erweiterungen zum Gegenstandsbereich der Germanistik in den 90er Jahren«, in: Bodo Lecke (Hg.), Literatur und Medien in Studium und Deutschunterricht, Frankfurt/Main: Peter Lang 1999, S. 43-64. 49

B. Lecke: Medienpädagogik, Literaturdidaktik und Deutschunterricht, S. 37.

50

So ist es im Orientierungsrahmen zur »Medienerziehung in der Schule« der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung vom 12.5.1995 eindeutig festgelegt. Vgl. ebd.

51

Elisabeth K. Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik. Stuttgart, Weimar:

52

Ebd.

53

Ulf Abraham/Volker Frederking: »Einleitung: Nach PISA und IGLU – Konse-

Metzler 1999, S. 156.

quenzen für Deutschunterricht und Deutschdidaktik«, in: Ulf Abraham/Albert Bremerich-Vos/Volker Frederking/Petra Wieler (Hg.), Deutschdidaktik

26

2.2 MEDIENKOMPETENZ ALS SCHULISCHES LERNZIEL bereits zahlreiche dargebotene Unterrichts- und Lehr/Lernmaterialvorschläge auf ihre wirtschaftlichen Absichten hin überprüft werden, bevor eine Einbeziehung in den Schulunterricht angedacht werden kann. Das Fehlen eines solchen eigenständigen Schulfachs mit Medienbezug geht darauf zurück, dass sowohl im Orientierungsrahmen der Bund-Länder-Kommission (1995) als auch in den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (1995) die Aufgabe einer übergeordneten Medienerziehung den traditionellen Unterrichtsfächern zugewiesen wird. Neben den oben genannten Fächern (Deutsch, Kunst, Musik, Sozialkunde) stehen hierbei auch verstärkt andere Fächer des sprachlich-literarisch-künstlerischen Aufgabenfelds54 wie z.B. der Englischunterricht in der Pflicht,55 da in diesen Fächern das Besprechen von Literaturverfilmungen vorgesehen ist, häufig in der Form eines Vergleichs zwischen literarischer Vorlage und filmischer Umsetzung, wodurch wesentliche Überschneidungen zum Bereich der Filmanalyse gegeben sind.56 In solchen Fällen wird der Medienkompetenzerwerb durch intermediale Vergleiche angestrebt. Dies ist ein weit verbreitetes methodisches Vorgehen der integrierten Medienerziehung, die in diesem Fall darauf abzielt spezifische Eigenheiten verschiedener Medien, Gattungen, Genres oder Stile in der Vergleichssituation sichtbar zu machen. Von daher kann die Zusammenführung von intermedialer Theorie und Gegenwartsdrama als Gegenstand für den Deutschunterricht eine Vielzahl didaktischer Anschlussmöglichkeiten aufzeigen, die jedoch nicht explizit ausgeführt werden können. Da die und Deutschunterricht nach Pisa, Freiburg: Filibach 2003, S. 189-203, hier S. 198. 54

Vgl. zu den drei Aufgabenfeldern des Unterrichtsangebots: Richtlinien NRW

55

Vgl. J. Wermke: Literatur- und Medienunterricht, S. 91.

56

Vgl. hierzu: Wolfgang Gast: »Filmanalyse«, in: Praxis Deutsch, H. 140,

SEK II, S. XVI.

S. 14-25, hier S. 14f.; Robert Ulshöfer: Methodik des Deutschunterrichts 2. Mittelstufe I, Stuttgart: Klett 1976, S. 96ff.; J. Wermke: Literatur- und Medienunterricht, S. 99f. In den Richtlinien des Landes Nordrhein-Westfalen für das Fach Deutsch wird das Thema für die 12/II vorgeschlagen. An der Benennung »der Film als Medientext« lässt sich die theoretische Privilegierung des Intertextualitätskonzepts ablesen, welcher zufolge auch der Film als eine Textsorte geführt wird, wenn auch als mehrfach-kodierter Text (da audiovisuell). Vgl. Richtlinien NRW SEK II, S. 60. Hierbei zählt Film zu den ›Texten der Massenmedien und der Informations- und Kommunikationstechnologien‹, die zusammen mit ›literarischen Texten‹ und ›Sachtexten‹ die Gegenstände des Deutschunterrichts ausmachen. Vgl. ebd., S. 17.

27

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE fachdidaktischen Prämissen geklärt sind, kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass sowohl Methode als auch Gegenstand in ganz besonderer Weise zum Erreichen des Lernziels Medienkompetenz beitragen können.

2.3 Medienkompetenz und Gegenwart sdrama Die neunziger Jahre können rückblickend als ein Jahrzehnt bezeichnet werden, in dem nahezu alle Lebensbereiche von der Dominanz etablierter und vom Aufkommen neuer Medien geprägt worden sind. Als Folge können Reflexionen auf traditionelle Medien und verschiedene Kurswechsel beobachtet werden. Die Konsequenzen für das Theater hat der US-amerikanische Dramatiker und Drehbuchautor David Mamet in einer Usurpation herkömmlich theatraler Ausdrucksmittel durch neue Medien ausgemacht. Er stellt nüchtern fest, dass »[w]ir das Wetter, den Verkehr und andere unpersönliche Phänomene«57 routinemäßig dramatisieren, und zwar mittels »Übertreibung, ironische[r] Gegenüberstellung, Inversion, [und] Projektion«.58 Und die wahrhaftig großen Aufführungen verortet Mamet nicht mehr auf der Bühne, sondern im Bereich der Politik, »die sich augenblicklich enger an das traditionelle Drama«59 halte als das Theater. Diese Theatralität des Nichttheatralischen geht mit einer Selbstreflexion des Theaters und einer partiellen Enthierarchisierung seiner Ausdrucksmittel einher, die im Verlauf dieser Arbeit ausführlich beschrieben werden sollen. Für den Moment soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass diese Entwicklungen auch bedeutende Auswirkungen auf die Deutschdidaktik haben. Einer Lebenswelt der Schüler, die »zunehmend als theatrale erfahren werde«,60 kann man nur mit einer verstärkten Annäherung an diese Medienwirklichkeit begegnen, wie sie in der Etablierung des Lernziels Medienkompetenz gegeben ist. Da »[v]on der medialen Präsentation von Politikern über die alltäglichen Talkshows und Soap-Operas bis hin zur Insze-

57

David Mamet: Vom dreifachen Gebrauch des Messers. Über Wesen und Zweck des Dramas, Berlin: Alexander Verlag 2001, S. 8.

58

Ebd.

59

Ebd., S. 41.

60

Clemens Kammler: »Zeitgenössisches Theater und Unterricht«, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 48 (2001), H. 3, S. 372-393, hier S. 375.

28

2.3 MEDIENKOMPETENZ UND GEGENWARTSDRAMA nierung der eigenen Persönlichkeit«61 alles theatralisiert wird, so stimmt Clemens Kammler mit Mamets Einschätzung überein, könne völlig zu Recht von einer »Theatralisierung des öffentlichen Lebens«62 gesprochen werden. Hieraus folgt, dass die Beschäftigung mit dem Gegenwartsdrama zu einem Unterrichtsvorhaben wird, an dem sich über die konventionellen Lehr/Lerninhalte auch zahlreiche Schlüsselkompetenzen mit hoher Alltagsrelevanz vermitteln lassen. Der intermediale Blick auf Entwicklungen des deutschsprachigen Dramas in den vergangenen 15 Jahren ist von vorneherein mit Medienkompetenz verbunden, da das Drama aus dieser Perspektive als plurimediales Medium ernst genommen wird. Im Theater, insbesondere in seinen innovativen Ausprägungen, die aus der Konkurrenzsituation zum Film hervorgegangen sind, werden sämtliche Sinne angesprochen, weshalb sich das Drama auch stärker als andere Kunstformen für die geforderte »umfassende Wahrnehmungsbildung«63 eignet, wie Marion Bönninghausen betont.64 Gerade wegen seines intermedialen Charakters müsse das Theater als ein Ort der »[ä]sthetisch-theatrale[n] Wahrnehmungsschulung«65 aufgefasst werden, der synästhetische Effekte herbeiführt und somit »über additive Multimedialität hinausgeht«.66 Denn schließlich führe, so Bönninghausen an anderer Stelle, insbesondere das Theater exemplarisch vor Augen, dass Intermedialität in der Schule mediendidaktische Ziele anstrebe: »Ein neues Sehen, Lesen und Hören der Dinge soll ermöglicht werden, indem der Automatismus der (unreflektierten) Wahrnehmung unterbrochen wird.«67 Daher bieten sich hierfür insbesondere jene Ausprägungen des zeitgenössischen Theaters an, die Gerda Poschmann in ihrer Studie »Der nicht mehr dramatische Theatertext« untersucht, da die Zuschauerperspektive bei diesem

61

Ebd.

62

Marion Bönninghausen: »Inszenierung und Authentizität. Intermediales Theater im Deutschunterricht«, in: Dies. /Heidi Rösch (Hg.), Intermedialität im Deutschunterricht, Baltmannsweiler: Schneider 2004, S. 95-110, hier S. 99.

63

Kaspar H. Spinner: »Thesen zur ästhetischen Bildung im Literaturunterricht heute«, in: Der Deutschunterricht 50 (1998), H. 6, S. 46-54, hier S. 47.

64

M. Bönninghausen: Inszenierung und Authentizität, S. 107.

65

Ebd.

66

K. H. Spinner: Ästhetische Bildung multimedial, S. 37.

67

Marion Bönninghausen: »Intermediale Kompetenz«, in: Heidi Rösch (Hg.), Kompetenzen im Deutschunterricht, Frankfurt/Main: Lang 2005, S. 51-69, hier S. 66.

29

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Theater »als dynamische, gegenwärtige, unumkehrbare Wahrnehmung beschreibbar ist, welche sich angesichts einer Pluralität synchroner Codes selbst organisieren muß.«68 In diesem Sinne beantwortet Christel Weiler auch die von ihr selbst gestellte Frage, was den Zuschauer während jener Zeit beschäftige, die er sehend, hörend, denkend oder phantasierend im Theater verbringt, mit der simplen Erkenntnis: »Eben dies: das Sehen, das Hören, das Denken, das Schreiben, die Phantasie«.69 Somit rückt für das Theater eine Eigenheit in den Vordergrund, die aus dem Abbildungscharakter einer jeden medialen Vermittlung erwächst, wie Kaspar Spinner diesbezüglich festhält: »Medien verstärken den ästhetischen Charakter von Wahrnehmung, weil es nicht um den wahrgenommenen Gegenstand, sondern um das Erscheinende geht: Der Laib Brot auf dem Bild ist nicht zum Essen, zur Stillung des Hungers da, sondern existiert auf der Leinwand als ästhetisches Phänomen, das zu nichts anderem da ist, als betrachtet zu werden.«70

Gehen nun verschiedene Medien eine Hybridform ein, wie es beim Theater vorbildlich der Fall ist, muss der Wahrnehmungsprozess umso bewusster und reflektierter ausfallen, um den medienspezifischen Vorgaben gerecht zu werden. Während beim Lesen eines Theatertexts Lesekompetenz im Sinne einer ›impliziten Inszenierung‹ gefragt ist,71 erwerben Schüler bei der Analyse einer Inszenierung Strategien des Deutens und Verstehens, die im weitesten Sinne Teil der Medienkompetenz sind, welche ihrerseits wiederum zu einer vertieften Ausbildung der Lesekompetenz beitragen.72 Spinner schließt hier an eine frühe Forderung nach einer 68

Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen: Niemeyer 1997, S. 45.

69

Christel Weiler: »Am Ende/Geschichte. Anmerkungen zur theatralen Historiographie und zur Zeitlichkeit theaterwissenschaftlicher Arbeit«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin: Theater der Zeit 1999, S. 43-56, hier S. 55.

70 71

K. H. Spinner: Ästhetische Bildung multimedial, S. 35. Vgl. Andreas Höfele: »Drama und Theater. Einige Anmerkungen zur Geschichte und gegenwärtigen Diskussion eines umstrittenen Verhältnisses«, in: Forum Modernes Theater 6 (1991), H. 1, S. 3-23.

72

Vgl. hierzu: Internetseite des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung München: Deutsch. Dort heißt es zur Wechselwirkung zwischen Medien- und Lesekompetenz: »Die Schüler bilden ihre Lesekompetenz aus, indem sie vielfältige Strategien des Lesens und Verstehens von Texten und

30

2.3 MEDIENKOMPETENZ UND GEGENWARTSDRAMA »Wahrnehmungsbewusstwerdung« in den Wissenschaften an.73 »Der Theatertext stellt theatrale Zeichen (oder, genauer: Signifikanten) in Rechnung,« fasst Gerda Poschmann das Phänomen in Worte, »die er selbst nicht besitzt.«74 Die Realisierung des Theatertexts im Moment des Lesens, also das Zuordnen von Signifikant und Signifikat, ist eine weitere Aufgabe, der die Schüler beim Lesen eines Theatertexts nachkommen, so dass sich festhalten lässt: Wahrnehmungsförderung stellt also die Schnittmenge zwischen Lese- und Medienkompetenz sowie Ästhetischer Bildung dar. Kommt nun zum ohnehin bereits plurimedial beschaffenen Theater noch der Film hinzu, so setzt Wahrnehmungsbildung zudem die Kenntnis filmischer Mittel voraus. Hinzu tritt also der Erwerb einer filmischen Analysekompetenz, die ebenfalls einen Bestandteil von Medienkompetenz ausmacht, zugleich aber auch für »ästhetische Bildung in Anspruch genommen werden«75 kann, wie Spinner betont. Entscheidend ist, dass die Beschäftigung mit Film sich im Fall des Gegenwartsdramas aus der Sache erklärt und aufgrund der zu vermittelnden filmischen Mittel (Einstellungsgrößen, Kameraführung, Schnitttechniken, Musikeinsatz usw.) durchaus lernzielorientiert ist, so dass sie keinesfalls mit einer Resignation vor Lesehemmungen und Buchfremdheit der Schüler verwechselt werden darf. Anstatt auf die Differenz zwischen Buch und Theater/Film zu insistieren, soll im Folgenden auf »die Häufigkeit intermedialer Zitate in der Buchliteratur«76 hingewiesen werden, die »den monomedialen Nutzer als überholt erscheinen«77 lassen.

von medialen Darstellungen erwerben.«, http://www.isb-gym8-lehrplan.de /contentserv/3.1/g8.de/index.php?StoryID=26358&subtemplate=print&su pertemplate= vom 15.03.2009. 73

Im Zusammenhang mit der Herausbildung einer eigenständigen Medienwissenschaft hat Werner Faulstich bereits zu Beginn der achtziger Jahre ein Plädoyer für eine Schulung der Wahrnehmung gehalten. Vgl. hierzu: Petra Maria Meyer: Intermedialität des Theaters. Entwurf einer Semiotik der Überraschung. Düsseldorf: Parerga 2001, S. 17.

74

G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 42.

75

K. H. Spinner: Ästhetische Bildung multimedial, S. 31.

76

J. Wermke: Literatur- und Medienunterricht, S. 96.

77

Ebd., S. 97.

31

3. Gegenwartsdrama und Deutschunterricht Eine Untersuchung des Gegenwartsdramas und seiner didaktischen Funktion im gymnasialen Deutschunterricht auf der Sekundarstufe II kann nicht umher, zunächst auf das allgemeine Verhältnis von Deutschunterricht und Gegenwartsliteratur einzugehen. Hierzu gehört eine Illustration der historischen Genese des Spannungsfelds zwischen Literaturkanon und Gegenwartsliteratur ebenso wie eine komplexe Darstellung aktueller Entwicklungen innerhalb der Deutschdidaktik. Abschließend findet die tatsächliche Praxis in den Schulen anhand empirischer Untersuchungen Berücksichtigung, wodurch zugleich der mögliche Nutzen intermedialer Beispielanalysen angedeutet wird.

3.1 Gegenwart slit erat ur im Deut schunt erricht Die Beschäftigung mit dem Gegenwartsdrama entspricht aktuellen Forderungen der Forschung, die in der Ermöglichung einer Begegnung von Schülern und dem literarischen Leben der Gegenwart eine der Hauptaufgaben für die kommende Deutschlehrergeneration sehen. Clemens Kammler beispielsweise sieht in der Nichterfüllung dieser Aufgabe »eine Kapitulation vor unserer Zeit und gleichzeitig eine Kapitulation vor der Aufgabe, den Literaturunterricht interessant zu gestalten.«1 Um einer solchen Kapitulation entgegen zu wirken, fordert Kammler eine Neuorientierung in der Lehrerbildung: »Die Bereitschaft, Texte der Gegenwartsliteratur für die Schule neu zu entdecken, die methodische Fähigkeit, wissenschaftliche und künstlerische Verfah-

1

Clemens Kammler: »Gegenwartslücken. Anmerkungen zu einem Defizit des Literaturunterrichts«, in: Andreas Erb (Hg.), Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre, Opladen [u.a]: Westdeutscher Verlag 1998, S. 187202, hier S. 187.

33

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE ren anzuwenden, um literarische Texte zum Leben zu erwecken, muß an der Universität und in der Lehrerausbildung viel stärker gefördert und gefordert werden als bisher.«2

Die hier angedeutete prekäre Lage der Lehrerbildung und des Deutschunterrichts lässt sich auf die Institution Schule im Allgemeinen übertragen. Unter dem Motto »Öffnung der Schulen« wird seit längerem auf den akuten Veränderungsbedarf der Schulen hingewiesen. Damit wird nun flächendeckend eingefordert, was in Schulversuchen der siebziger Jahre wie der heute etablierten Bielefelder Laborschule punktuell als Experiment begonnen wurde. Hartmut von Hentig, der die Laborschule auf ihrem Weg begleitet hat, betont, dass sich »gerade die Schule als embryonic society [...] nicht von ihrer Umwelt abkapseln«3 dürfe. Von Hentigs Forderung soll der vorliegenden Arbeit als Wegweiser dienen. Die Beschäftigung mit dem Gegenwartsdrama garantiert einerseits eine Interaktion zwischen der Institution Schule und ihrer Umwelt, wie sie von Hentig vorschwebt, und stellt andererseits ein ernsthaftes Bemühen um einen interessanten Literaturunterricht und somit ein Aufbäumen gegen die drohende ›Kapitulation vor unserer Zeit‹ dar. Vor der Frage nach Merkmalen und Einsatzmöglichkeiten des Gegenwartsdramas im Deutschunterricht steht allerdings die Frage nach der Legitimation von Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht allgemein. Folgend soll dargestellt werden, wie sich der kontrovers geführte Diskurs um Gegenwartsliteratur geschichtlich entwickelt hat und auf welche Art und Weise der von Kammler erarbeitete Impuls von Deutschlehrern bereits im Schulalltag umgesetzt worden ist bzw. wo dies noch deutlicher geschehen könnte. Bei dieser historischen Darstellung kommt dem Risiko, das mit Gegenwartsliteratur im Unterricht verbunden ist, da unter dieser Bezeichnung stets »Texte jüngeren Erscheinungsdatums«4 geführt werden, »die weder durch literaturwissenschaftliche Interpretationspraxis noch durch didaktische Analysen und methodische Erprobungen abgesichert sind«,5 ein besonderer Stellenwert zu.

2

Ebd., S. 192.

3

Hartmut von Hentig: Die Bielefelder Laborschule. Aufgaben, Prinzipien, Einrichtungen. Eine empirische Antwort auf die veränderte Funktion der Schule. 4. Auflage, Bielefeld: Univ. Bielefeld, Laborschule des Landes NW 1995, S. 14.

4

E. Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S. 78.

5

Ebd.

34

3.2 GESCHICHTLICHE DARSTELLUNG DES DISKURSES

3.2 Geschichtliche Darstellung des Diskurses Seit 150 Jahren beschäftigt sich der Deutschunterricht mit Literatur, und seit beinahe der Hälfte dieser Zeit streiten sich Literaturwissenschaftler und Fachdidaktiker um die Rolle, die der Gegenwartsliteratur dabei zukommen soll.6 Als Hauptargumente dieses Disputs werden immer wieder der ästhetische Wert der Klassiker auf der einen sowie der Bezug zur Lebenswirklichkeit der Schüler auf der anderen Seite genannt. Diese Argumente bestimmen auch die aktuelle Diskussion um einen Lektürekanon für die Schule.7 Das derzeitige Problem ist demnach die Folge einer Entwicklung gegensätzlicher Orientierungen, die bereits seit wenigstens 75 Jahren den Diskurs um den Deutschunterricht begleiten. In diesem Zeitraum sind viele Texte, die der Kategorie Gegenwartsliteratur zugeteilt wurden, wieder aus dem Blickpunkt des Deutschunterrichts verschwunden und in Vergessenheit geraten. Andere aber – zugegebenermaßen wenige – waren als Gegenwartsliteratur Unterrichtsgegenstand und sind es unter anderer Bezeichnung heute noch; sie haben den Sprung in die Gruppe der Schulklassiker geschafft. Einige Kriterien, die über den Einzug von Texten in den Klassenraum 6

Diese Datierung richtet sich nach Clemens Kammler [Clemens Kammler: »Gegenwartsliteratur im Unterricht«, in: Klaus-Michael Bogdal/Hermann Korte (Hg.), Grundzüge der Literaturdidaktik, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2002, S. 166-176, hier S. 166]. Über den genauen Beginn der Argumentation besteht in der Forschung keine einstimmige Übereinkunft. Neben der Einschätzung von Kammler, die hier berücksichtigt wurde, steht beispielsweise die Auffassung von Cornelia Rosebrock, die den Diskurs um die Frage nach literarischem Kanon oder individueller Leseförderung im Kern auf »den Widerspruch einer musischen und einer rationalen Orientierung des literarischen Lernens« zurückführt [Cornelia Rosebrock: »Zum Verhältnis von Lesesozialisation und Literarischem Lernen«, in: Didaktik Deutsch (1999), H. 6, S. 57-68]. Somit wäre der Diskurs essentiell mit dem Literaturunterricht verwoben und bis zu dessen Ursprung zurückzuverfolgen.

7

Diese Opposition lässt sich bis zur Geburtsstunde des Unterrichtsfach Deutsch mit der scharfen Kritik von Kaiser Wilhelm II. an der Ausrichtung der Schule auf die Antike zurückverfolgen, die der Kaiser in seiner Eröffnungsansprache auf der Schulkonferenz 1890 äußerte. Vgl. hierzu: Michael Kämper-van den Boogaart: Lehrpläne und Deutschunterricht. Vgl. zudem: Hermann Korte: »Historische Kanonforschung und Verfahren der Textauswahl«, in: Klaus-Michael Bogdal/Hermann Korte (Hg.), Grundzüge der Literaturdidaktik, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2002, S. 61-77; E. Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S. 54-82.

35

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE und über ihr dortiges Verweilen entscheiden, lassen sich aus der Darstellung der Opposition von Wirklichkeitsbezug und ästhetischem Wert literarischer Texte ableiten. Der erste Verweis auf die Schwächen einer Beschränkung der schulischen Aufmerksamkeit auf die Klassiker der Literaturgeschichte findet sich bereits im Jahr 1929.8 Auslösende Momente des Umdenkens waren die veränderten Lebensbedingungen in den industrialisierten Großstädten. Der Jugend sollte durch den Einsatz von zeitgenössischen Texten der Zugang zum Textkorpus der Klassik erleichtert werden. Seit dieser erstmaligen Forderung und den kontroversen Reaktionen in der Folgezeit9 prägt die Opposition von Gegenwartsliteratur und literarischen Klassikern den Diskurs um die Inhalte des Literaturunterrichts. Am Ausgangspunkt seiner historischen Entwicklung berührt der Diskurs um den Einsatz von Texten der Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht somit bereits elementare Fragestellungen der allgemeinen Pädagogik. Die Bevorzugung der Aktualität literarischer Texte gegenüber der Qualität, welche die Konzentration auf Gegenwartsliteratur einfordert, geht nach Schönbrunn zurück auf Veränderungen in der Wirklichkeit der Lernenden. Abstrahiert lassen sich Klassiker und Gegenwartsliteratur auf die Opposition von Wissenschafts- und Anwendungsorientierung zurückführen, die zahlreiche junge Debatten prägt.10 Wissenschaft und Praxis bedingen sich wechselseitig, ebenso wie die Bereiche Forschung und Lehre im wissenschaftlichen Dualismus. Bereits bei Aristoteles findet sich dieser Konflikt in Form der Untrennbarkeit von Forschung und Lehre in ein Gleichgewicht gebracht. Nur wer sein Wissen von einem Gegenstand weitergeben kann, könne von sich behaupten, den Gegenstand zu kennen.11

8

Wie Kammler darstellt, forderte der Deutschlehrer Schönbrunn in der Zeitschrift »Die Erziehung« eine Abkehr der Didaktik von der gängigen Klassikerrezeption. Vgl. C. Kammler: Gegenwartsliteratur im Unterricht, S. 166.

9

Kammler verweist exemplarisch auf Korffs Aufsatz in der gleichen Ausgabe von »Die Erziehung«, der die geforderte Annäherung an zeitgenössische Texte als »lächerlichen Modernitätsdünkel« abtut. Vgl. ebd.

10

Siehe den wirtschaftlichen Hintergrund der Modularisierung der geisteswis-

11

Hier zeigt sich der klassische Ursprung scheinbar moderner Didaktikkon-

senschaftlichen Studiengänge. zepte wie dem Kooperativen Lernen. Vgl. hierzu: Kathy Green/Norm Green: Kooperatives Lernen im Klassenraum und im Kollegium, 3. Auflage, SeelzeVelber: Friedrich 2007. Vgl. zum aristotelischen Ideal: Jonathan Barnes: Aristoteles. Eine Einleitung, Stuttgart: Reclam 1992, S. 11.

36

3.2 GESCHICHTLICHE DARSTELLUNG DES DISKURSES So betrachtet erscheint es nur folgerichtig, dass jede Veränderung in dem einen Bereich mit einer Wandlung des anderen einhergeht. Veränderungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ziehen zwangsläufig einen Wandel in der Wissenschaft nach sich. So versteht sich die Ursache-Folge-Relation des Einwands, den Schönbrunn äußert: gesellschaftlicher Wandel als eine Form der Wirklichkeitsveränderung muss zwangsläufig zu einer Reaktion in den Wissenschaften führen, in diesem Fall in der Fachdidaktik Deutsch. Als ein Bestandteil des »großen Werks der Erziehung«12 basieren Unstimmigkeiten über die Gestaltung des Deutschunterrichts, wie der dargestellte Diskurs eine verkörpert, grundlegend auf der Frage, was genau Erziehung auszumachen habe. Wenn Erziehung als die Vorbereitung auf das Leben der Erwachsenen in einer Gesellschaft definiert wird, ist dies eine sehr pragmatische Definition, die anwendungsorientierte Ziele verfolgt. Die Wirklichkeit wird erfasst, so wie sie sich darstellt, und die Schüler sollen bestmöglich auf diese Wirklichkeit vorbereitet werden. Die Erzieher einer Gesellschaft fungieren in diesem Modell als Begleiter der Sozialisation der nachrückenden Generation. Allerdings fasst eine solche Erziehungsdefinition mit dem Erwachsenenstatus ein konkretes Ziel ins Auge: Die Kinder sollen so werden wie die Erwachsenen es bereits sind. Eine solche Auffassung muss letztendlich in Stagnation resultieren. Der alleinige Wert des Lernens ist das Produkt am Ende des Lernprozesses: der erwachsene Mensch, der als unveränderliches Fixum gesehen wird.13 Somit steht dieses Konzept in direkter Opposition zu gegenwärtigen Forschungstopoi wie etwa dem Life-long-learning-Konzept. Das lebenslange Lernen realisiert auf institutioneller Ebene John Deweys Forderung nach einer Erziehung, die »beständige Neugestaltung, dauernden Neuaufbau, unaufhörliche Reorganisation bedeutet«.14 Die Einsicht, dass man die junge Generation nicht einfach der Elterngeneration gleichmachen kann, ist jedoch keine Neuerung der modernen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts. Es gab sie bereits vor John Dewey. Schon in Goethes Bildungsroman »Wilhelm Meis-

12

Erich Hylla: »Vorwort zur 3. Auflage«, in: John Dewey: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, hrsg. von Jürgen Oelkers, Weinheim [u.a.]: Beltz 2000, S. 5.

13

Eine ausführlichere Kritik an dieser – noch immer in der Praxis verbreiteten – Auffassung findet sich bei: John Dewey: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, hrsg. von Jürgen Oelkers, Weinheim [u.a.]: Beltz 2000, S. 80f.

14

Ebd., S. 75.

37

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE ters Lehrjahre« lassen sich solche Gedanken finden, was angesichts der gattungsspezifisch zentralen Stellung von Erziehungs- und Sozialisationsprozessen kaum verwunderlich ist. Den direkten Anspruch von Eltern und Lehrern auf Einflussnahme prangert Goethes Alter-Ego Wilhelm an, wenn es ausruft: »Jeder Mensch ist beschränkt genug, den andern zu seinem Ebenbild erziehen zu wollen. Glücklich sind diejenigen daher, deren sich das Schicksal annimmt, das jeden nach seiner Weise erzieht!«15

Wenn die glücklichen Heranwachsenden vom Schicksal erzogen werden, dann kommt der Elterngeneration lediglich die Rolle beobachtender Begleiter des Erziehungsprozesses zu. In dieser Hinsicht erweist sich Goethes Roman als ausgesprochen modern. Anstatt die Wirklichkeit so zu rezipieren wie sie zu sein scheint, kann man sie sich auch so vor Augen führen, wie sie sein könnte. Eine dementsprechende Erziehung betont die Wichtigkeit einer Schule mit einem »idealistischen Überfluß«16 und zielt eher auf Veränderung bestehender Verhältnisse als auf deren Aufrechterhaltung ab. Folgerichtig versucht ein solcher Deutschunterricht eben Texte von der Art zu behandeln, die mit einer eindeutigen pädagogischen Aussage und einem hohen Maß an Idealismus aufwarten; und das sind zumeist eher die Klassiker. Hierbei ist allerdings eine Erkenntnis von Belang, die der US-amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey in dem Werk formuliert, das als Ursprung des handlungsorientierten Unterrichts und somit als Meilenstein der modernen Didaktik und Mathetik gesehen werden kann. In »Demokratie und Erziehung« definiert Dewey im Jahre 1915 den Terminus der Lernumgebung, womit er der heutigen Auffassung von Lernerwirklichkeit sehr nahe kommt: »Andererseits können besonders bei einem menschlichen Wesen zur ›Umgebung‹ räumlich und zeitlich weit entfernte Dinge in höherem Grade gehören als manche der ganz nahen Dinge. Die wirkliche Umgebung eines Menschen bilden die Dinge, mit deren Veränderung ein verändertes eigenes Verhalten parallel geht.«17

15

Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. von Erich Trunz, 7. Auflage, Bd. 7, Romane und Novellen II, Hamburg: Wegner 1968, S. 121.

16

H. von Hentig: Die Bielefelder Laborschule, S. 16.

17

J. Dewey: Demokratie und Erziehung, S. 27f.

38

3.2 GESCHICHTLICHE DARSTELLUNG DES DISKURSES Aufgrund der Ausweitung des Umgebungsbegriffs über räumliche und zeitliche Grenzen hinaus, leitet Deweys Gedanke einen Kompromiss ein. Es kann bei der Auswahl von Inhalten der Erziehung kein einzelnes entscheidendes Kriterium geben. Inhalte sind genauso hinterfragbar wie die konkreten Formen und Methoden pädagogischen Handelns. Über jeden Zweifel erhaben ist lediglich die Notwendigkeit von Erziehung im Allgemeinen, wie Dewey betont: »Die Pflicht der Gesellschaft zu erziehen, ist […] ihre höchste sittliche Pflicht.«18 An die erstmalige Forderung nach Texten des gegenwärtigen literarischen Lebens durch Schönbrunn knüpfen also weiterführende Fragen an, die nicht wertneutral, sondern nur unter Berufung auf verschiedenartige theoretische Modelle der Pädagogik beantwortet werden können. Somit gewähren sie dem Gegenstand Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht eine Fülle möglicher Rezeptionsweisen, die den darzustellenden Diskurs um den Sinn und Unsinn von Gegenwartsliteratur erst ermöglichen. Diskussionen um die obligatorischen Titellisten in der Sekundarstufe II sind daher nur Weiterführungen dieses Diskurses. Wie der Diskurs unmittelbar vor und während des Zweiten Weltkriegs gestaltet wurde, lässt sich an dieser Stelle nicht rekonstruieren; in Zeiten materieller Not ruhen die Bemühungen um eine literarische Bildung der Jugend für gewöhnlich. Dass die Debatte um die Literatur der Gegenwart in den fünfziger Jahren nicht neu entflammt ist, ist aus heutiger Sicht und mit dem nötigen zeitlichen Abstand unschwer zu erklären. In den Nachkriegsjahren wurde angesichts der Gräuel der jüngsten Vergangenheit jeglicher Bezug zur Gegenwart gemieden; auch der Geschichtsunterricht bemühte sich um einen zeitlich möglichst großen Abstand zum Nationalsozialismus. Was heute als Unfähigkeit der Institution Schule, sich mit der Gegenwart auseinander zu setzen, gedeutet werden kann, legte die Literaturdidaktik der fünfziger Jahre anders aus. Clemens Kammler stellt in seinem Aufsatz »Gegenwartsliteratur im Unterricht« sehr anschaulich dar, inwieweit bedeutende Didaktiker der Zeit das Fehlen von Gegenwart im Deutschunterricht bewerteten. Während der Franzose Robert Minder ganz eindeutig von einer »anhaltenden Modernitätsangst« in deutschen Lesebüchern der fünfziger Jahre spricht,19 sieht Robert Ulshöfer, der hier wohl stellvertretend für die 18

E. Hylla: Vorwort zur 3. Auflage, S. 8.

19

Vgl. Robert Minder: »Soziologie der deutschen und französischen Lesebücher«, in: Alfred Döblin (Hg.), Minotaurus: Dichtung unter den Hufen von Staat und Industrie, Wiesbaden: Steiner 1953, S. 74-87.

39

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE deutsche Germanistik stehen darf, die Ursache für die Trennung von Gegenwartsliteratur und Deutschunterricht andersartig begründet. Wenn überhaupt, so Ulshöfer, legitimiere sich der Einsatz von Gegenwartsliteratur nur dadurch, dass er ggf. dabei behilflich sein könnte, das Interesse der Schüler »für echte Dichtung« zu wecken. Ulshöfers Aussage im Umkehrschluss gelesen würde bedeuten, dass Gegenwartsliteratur ›unechte Dichtung‹ sei. Eine Dichtung also, die nur nützlich sei, wenn sie »zu einem vertieften Verständnis von Literatur« führe.20 Die deutsche Literaturdidaktik rechtfertigt sich also, indem sie das Moderne an sich abwertet. Es sei am Rande bemerkt, dass sich unter der aus Ulshöfers Sicht ›unechten Dichtung‹ Werke eines späteren Literaturnobelpreisträgers finden. Bölls »Wo warst Du, Adam?« wurde 1951 veröffentlicht, also ein Jahr vor Ulshöfers Beurteilung der Gegenwartsliteratur. Mit den Veröffentlichungen von »Und sagte kein einziges Wort« (1953), »Haus ohne Hüter« (1954) und »Das Brot der frühen Jahre« (1955) ist das Frühwerk Bölls zudem auch in der Folge recht umfangreich. Ulshöfers Einschätzung, dass die zeitgenössische Literatur qualitativ minderwertig sei, ist trotz der erwähnten Romane Bölls nicht allzu überraschend. Schließlich gehört die Bewertung zeitgenössischer Literatur zu den schwierigeren Aufgaben der Germanistik: »Über das, was Gegenstand einer Literaturgeschichte ist, entscheidet [...] nicht die Mitwelt, sondern die Nachwelt, nicht die Zeit, sondern das Gedächtnis.«21 Wenn nicht Zeitgenossen, wie hier von Ernst Schlaffer behauptet, sondern die folgenden Generationen über den Wert von Literatur entscheiden, ist Ulshöfer seine Fehleinschätzung nicht zu verübeln. Erschwert wird die Literaturkritik heutzutage durch ein Umdenken innerhalb der Literaturwissenschaft. Die postmoderne Auffassung vom Leser als Co-Produzent des Textes verursacht eine ständige Wandelbarkeit der Textrezeption. Ironischerweise stehen Literaturkritiker und –schaffende hier ausnahmsweise einmal vor demselben Ausgangsproblem: »Gerade über die Zeit, der man selbst angehört, läßt sich am schwersten urteilen.«22 Der US-amerikanische Literaturtheoretiker Harold Bloom hat dieselbe Schwierigkeit ausgemacht und folgendermaßen kommentiert: »Große Kritiker nicken, und ganze Generationen schätzen ihre 20

Vgl. Robert Ulshöfer: Die Prosa der Gegenwart in der Schule, 1953, S. 8f.

21

Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München

22

Ebd., S. 133.

Zitiert nach: C. Kammler: Gegenwartsliteratur im Unterricht, S. 167. [u.a.]: Hanser 2002, S. 153.

40

3.2 GESCHICHTLICHE DARSTELLUNG DES DISKURSES eigenen Leistungen falsch ein.«23 Es scheint sich demnach in der Tat um eine allgemeine Schwierigkeit zu handeln, vor der nicht nur Ulshöfer steht. Für die Fachdidaktik des Deutschunterrichts stellen die fünfziger Jahre eine Wiederannäherung an den Bereich Gegenwartsliteratur dar. Im Unterricht genießen zeitgenössische Texte ein »Bleiberecht auf Widerruf«,24 wobei sie vor allem eine Brücke zwischen Schülern und Literaturkanon schlagen sollen. Hier zeigt sich die historische Verknüpfung eines solchen Kanons und der Forderung nach Gegenwartsliteratur in der Schule. Nach dem vollständigen Aussetzen der Debatte in den ersten Nachkriegsjahren »kam die Forderung nach Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht« auch in den sechziger Jahren noch »einer Revolte, einem Aufstand gegen das Althergebrachte gleich.«25 Erst in den frühen siebziger Jahren wurde sie wieder aufgenommen und mit wachsendem Eifer fortgeführt. Wie eine Mehrzahl der öffentlichen Einrichtungen wurde auch die Schule im Allgemeinen und der Literaturunterricht im speziellen einer massiven Kritik durch die 68er ausgesetzt. Ein umfassender Bruch mit Traditionen war die Zielsetzung; ein massives Auflehnen gegen etablierte Literaturwissenschaftler wie Ulshöfer die Folge. Kammler verweist in diesem Zusammenhang auf Hans-Joachim Grünwaldt, welcher der mehrheitlich niedrigen literarischen Qualität der Gegenwartstexte die Antiquiertheit der Klassiker entgegenhielt. Wenn die Klassiker keine Bezüge zur Schülerwirklichkeit mehr zulassen, so sind sie nach Grünwaldts Auffassung kaum mehr als »nutzloser Gedächtnisballast«;26 nicht mehr als ein willkommenes Mittel für das Bildungssystem, um »soziale Konflikte und Unterschiede zu harmonisieren bzw. zu manifestieren.«27 Allerdings war zu dem Zeitpunkt, wie Kammler betont, das Literaturangebot des Deutschunterrichts bereits um Titel der Gegenwartsliteratur ergänzt,28 womit der Deutschunterricht dann

23

Harold Bloom: Eine Topographie des Fehllesens, Frankfurt/Main: Suhrkamp

24

C. Kammler: Gegenwartsliteratur im Unterricht, S. 168.

25

E. Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S. 78f.

1997, S. 40.

26

Hans-Joachim Grünwaldt: »Sind Klassiker etwa nicht antiquiert?«, in: Diskussion Deutsch (1970), H. 1, S. 16-31, hier S. 18.

27

C. Kammler: Gegenwartsliteratur im Unterricht, S. 169.

28

Vgl. ebd.

41

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE auch einen anwendungsorientierteren Ansatz zum Ideal ernannt hatte.29 Freilich kann die Frage nach der Relation von Gegenwartsliteratur und Klassikerkanon nicht auf die vereinfachte Form einer Entweder-Oder-Entscheidung hinaus laufen. Grünwaldts radikale Abkehr von klassischer Literatur nimmt eine Außenseiterposition innerhalb der Debatte ein. Dem Alltag in den Schulen kann diese Außenseiterposition genauso wenig genügen wie eine Beschränkung auf Texte der Weimarer Klassik als anderes Extrem. Einen konstruktiveren Beitrag zum Fortschritt des Diskurses hat Kammlers Einschätzung zufolge Rolf Geißler geleistet. Da Geißler in seinem Beitrag »Wozu Literaturunterricht?« zunächst eine vermittelnde Rolle einnimmt, wird ein übersichtliches Bild von den konträren Ausrichtungen innerhalb der Deutschdidaktik gezeichnet. Geißler hebt fachbezogene Bemühungen hervor, die mittels fachlicher Reduktion zu einem »Abbau übertriebener Ansprüche geführt«30 haben. Literatur wird nüchtern als Lehrgegenstand betrachtet, an dem Schüler Einsichten in »Gattungsmerkmale, literarische Bauformen, Darstellungsmittel [...] und -möglichkeiten«31 gewinnen können. Dieser didaktischen Tendenz stellt Geißler eine andere gegenüber: nämlich jene »Richtung, die sich am literarischen Leben orientieren will, die also von vorneherein auf eine gesellschaftliche Relevanz des Deutschunterrichts abzielt.«32 Entscheidend ist, dass Geißler weder die eine noch die andere Richtung als optimale Orientierung bevorzugt. Stattdessen fügt er seiner Darstellung folgenden persönlichen Kommentar hinzu: »Beide Strömungen scheinen mir eine ungenü29

Noch deutlicher zeigte sich der Anwendungsbezug in der Fremdsprachendidaktik. Die Besatzungssituation und die stark anwachsenden Tourismusbewegungen ließen hier unter dem Begriff »Kommunikative Kompetenz« den tatsächlichen Sprachgebrauch zum Hauptanliegen des Englischunterrichts werden. Von dieser pragmatischen Zielsetzung wurden grammatikalische Korrektheit und Akzentuierung von Schriftsprache in den Hintergrund gedrängt. Vgl. beispielsweise: Werner Hüllen (Hg.), Neusser Vorträge zur Fremdsprachendidaktik, Berlin: Cornelsen und Klasing 1973; Wolfgang Pauels: Kommunikative Fremdsprachendidaktik, Frankfurt/Main: Diesterweg 1983; oder Hans-Eberhard Piepho: Kommunikative Didaktik des Englischunterrichts Sekundarstufe 1 [eins]. Theoretische Begründung und Wege zur praktischen Einlösung eines fachdidaktischen Konzepts, Limburg: Frankonius 1979.

30

Rolf Geißler: »Wozu Literaturunterricht?«, in: Diskussion Deutsch (1970), H. 1, S. 3-15, hier S. 7.

31

Ebd.

32

Ebd.

42

3.2 GESCHICHTLICHE DARSTELLUNG DES DISKURSES gende Begründung für den literarischen Unterricht zu liefern.«33 Während Geißler bei der ersten Strömung eine kritische Hinterfragung des »selbstverständlichen Rangs literarischer Bildung« vermisst, läuft die zweite seiner Meinung nach Gefahr, sich – ebenfalls unkritisch – in kurzlebigen Modetrends zu verirren. Die nur undeutlich umrissene Bedeutung dessen, was ›literarisches Leben‹ ausmache, lässt den Unterrichtsgegenstand Literatur mit anderen Disziplinen verschmelzen. Literaturunterricht würde sich dann schlimmstenfalls bloß noch an wirtschaftlichen, psychologischen und gesellschaftlichen Prozessen orientieren.34 Wie die Hinweise auf Schwachstellen der Extreme im Diskurs um Gegenwartstexte bereits erahnen lassen, schließt Geißlers Beitrag einen Kompromiss, der in der heutigen Realität des Deutschunterrichts noch dieselbe Gültigkeit besitzt: »Der Literaturunterricht [...] hat die Lebenswirklichkeit ständig im Auge zu behalten und für sie zu erziehen und zu bilden, aber zugleich auch den jungen Menschen mit den Dingen zu konfrontieren, mit denen er sonst nie und nie wieder in Berührung kommt.«35

Die beiden Verpflichtungen des Literaturunterrichts, die Geißler hier benennt, prägen den Deutschunterricht bis heute. Die Herausforderung für Fachlehrer und Didaktiker liegt darin, beide Verpflichtungen in einem ausgewogenen Verhältnis bei der Unterrichtsplanung zu berücksichtigen. Dass ein auf Klassikerlektüre beschränkter Literaturunterricht von den Schülern als langweilig empfunden wird, ist sehr wahrscheinlich. Über kurz oder lang müsste ein solcher Unterricht schlimmstenfalls »einen dem Lateinunterricht vergleichbaren Status erhalten.«36 Auf der anderen Seite: ein Unterricht, der die Lebenswirklichkeit zum alleinigen Planungskriterium erhebt, läuft Gefahr, der Schule zu einer »eigenen Irrealität«37 zu verhelfen. Das, was allgemein hin als Lebenswirklichkeit bezeichnet wird, ist schließlich rapiden Veränderungen unterworfen und befindet sich ständig im Wandel. Eine Übertragung von Prinzi-

33

Ebd.

34

Vgl. ebd.

35

Ebd., S. 9.

36

Clemens Kammler: »Was kommt nach Dürrenmatt und Frisch? Anmerkungen zu einem Defizit des Deutschunterrichts«, in: Ders.: Neue Literaturtheorien und Unterrichtspraxis. Positionen und Modelle, Hohengehren: Schneider 2000, S. 123-137, hier S. 123.

37

R. Geißler: Wozu Literaturunterricht?, S. 9.

43

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE pien aus anderen gesellschaftlichen Bereichen auf den Literaturunterricht – wie die Forderung nach Aktualität sie darstellt – ließe daher schwerwiegende Textkriterien wie z.B. die ästhetische Qualität außen vor, wie Heinz Schlaffer unterstreicht: »Die Forderung nach Aktualität, die in der Technik, der Ökonomie, der Politik angebracht ist, macht sich auch auf ästhetischem Gebiet geltend, wo sie sinnlos ist, da es hier keine Fortschritte, sondern nur Schwankungen der Qualität gibt. Doch die Lektüre klassischer Texte wäre Wiederholung, also eine Verschwendung von Zeit.«38

Für den Deutschunterricht beinhaltet die Ebene der Lebenswirklichkeit ganz besonders die Lesegewohnheiten der Schüler. Eine Ausrichtung nach diesen Gewohnheiten verzichtet auf das Kriterium der literarischen Qualität. Mit dem Ziel der Leseförderung durch den Deutschunterricht wurde diese Ausrichtung vermehrt im Deutschunterricht der späten achtziger und frühen neunziger Jahren umgesetzt. Allerdings ohne nachhaltigen Erfolg, was Geißlers weiter oben zitierte Einschätzung bekräftigt, dass eine einseitige Ausrichtung auf entweder klassische Kanontexte oder Gegenwartsliteratur nur fehlschlagen könne. Wie Klaus-Michael Bogdal zynisch zu einer derartigen Orientierung an Schülerlesegewohnheiten bemerkt hat, könnte das Germanistik-Studium dann getrost auf ein einziges Seminar über Stephen King beschränkt werden.39 Bogdals Kommentar stammt aus dem Jahre 1993, kann aber auch 15 Jahre später bestätigt werden, wenn man den Namen Stephen King gegen Joanne K. Rowling austauscht. Obwohl bereits dreißig Jahre alt, stützt sich Geißlers Einschätzung auf Faktoren, die auch den weiteren Verlauf der Debatte um Leseförderung oder klassischen Literaturunterricht bis zum aktuellen Stand mitbestimmt haben. Einer dieser Faktoren ist die Schnelligkeit, mit der sich Gegenwärtiges verändert. Die Schnelligkeit geht Hand in Hand mit einer den Einzelnen überfordernden Komplexität. Demgegenüber hat ein langsames Medium wie das Buch eine schwere Stellung. Daher trifft die 1970 von Geißler abgegebene Beurteilung der gesellschaftlichen Relevanz von Literatur auch für die Gegenwart zu. Geißler stellt fest:

38

H. Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, S. 151f.

39

Klaus-Michael Bogdal: »›Mein ganz persönlicher Duft.‹ ›Das Parfum‹, die Didaktik und der Deutschunterricht«, in: Diskussion Deutsch (1993), H. 130, S. 124-133, hier S. 124.

44

3.2 GESCHICHTLICHE DARSTELLUNG DES DISKURSES »Gesellschaftlich-ökonomische Faktoren, die Überfülle politischer Ereignisse und die Forderung, sich auch im Unterricht mit den politischen Problemen zu beschäftigen, die Auslieferung an technische Informationen und Sensationen scheinen Dichtung so überflüssig zu machen, daß schon die Frage nach ihrem Sinn heute unangemessen scheint.«40

Im Informationszeitalter, das heutzutage nur allzu gerne ausgerufen wird, hinterfragen die beeinflussenden Faktoren, die hier genannt werden, nicht nur Unterrichtsinhalte wie die Dichtung, sondern auch Methoden des Lehrens sowie die Effektivität der Institution Schule im Allgemeinen.41 Ansonsten ist Geißlers Argumentation angereichert mit Schlagwörtern wie ›Verfall der Identität‹ (S.3), ›Ertrinken in Informationsfülle‹ (S.10) und ›Wiederherstellung von Identität durch Konsum‹ (S.10), die heute – also beinahe vierzig Jahre später – keineswegs an Aktualität eingebüßt haben. Geißlers theoretische Überlegungen zum Thema sind durchaus konstruktiv, da sie zwischen zwei Extrempositionen zu vermitteln suchen. Mit seinen Beiträgen zur Unterrichtspraxis kann er diesen konstruktiven Charakter weiter festigen. In »Zur Interpretation des modernen Dramas« (1960) und »Möglichkeiten des modernen deutschen Romans« (1962) unterbreitet er den Kollegen an den Schulen konkrete Unterrichtsvorschläge. Neben Entwürfen zu Texten von Alfred Andersch und Heinrich Böll wird auch »Andorra« von Max Frisch didaktisch aufbereitet. Übertragen auf das Drama der neunziger Jahre entsprechen Geißlers Anregungen dem Anliegen der vorliegenden Arbeit; Geißler skizziert seine Intention folgendermaßen: »Die in diesem Band vorliegenden Analysen unternehmen nun den Versuch, beispielhafte Romane aus dem deutschen Sprachbereich einer vertieften Lektüre zu erschließen. Sie wenden sich vor allem an den Lehrer der höheren Schulen und der vielfältigen Formen der Erwachsenenbildung und wollen ihm die Behandlung solcher Romane im Unterricht ermöglichen.«42

40

R. Geißler: Wozu Literaturunterricht?, S. 3.

41

Bogdal verweist hierzu auf die Diskussion um konkurrierende Modelle der Wissensvermittlung, die sie sich in Wirtschaft, Administration und Militär bewährt haben. Vgl. Klaus-Michael Bogdal: »Literaturdidaktik im Spannungsfeld von Literaturwissenschaft, Schule und Bildungs- und Lerntheorien«, in: Klaus-Michael Bogdal/Hermann Korte (Hg.), Grundzüge der Literaturdidaktik, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2002, S. 9-29, hier S. 18.

42

Rolf Geißler: Möglichkeiten des modernen deutschen Romans, Frankfurt/ Main [u.a.]: Diesterweg 1970, S. 1.

45

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Wie dieser Anspruch nahe legt, brauchen Lehrer anscheinend eine gewisse Hilfestellung bei der Behandlung von Gegenwartsliteratur in ihrem Unterricht. Insbesondere die Selektion von Texten, die bei Texten aus der Vergangenheit durch komplexe Kanonisierungsprozesse bereits vorweggenommen ist, fällt den Deutschlehrern schwer. Welche Texte aus der unüberschaubaren Menge heutiger Romane, Dramen und Gedichtbände eignen sich für den Deutschunterricht? Welche Texte sind literarisch wertvoll? Und wie lassen sie sich am besten behandeln? Vor allem die Frage nach der Textqualität erinnert an die Kriterien der literarischen Kanonbildung. Dort, angesichts der Fülle an Texten aus der Vergangenheit, ist sie auch angemessen. Für das literarische Leben der Gegenwart allerdings hat die Frage nach der Zukunft der Texte einen geringeren Stellenwert, wie Klaus-Michael Bogdal hervorhebt: »Abgesehen von prinzipiellen Einwänden, halte ich die Frage ›Was bleibt?‹ angesichts einer sehr dynamischen Gegenwartsliteratur für wenig effektiv. Sie lenkt nur von den die Schüler interessierenden Fragen ›Was ist?‹ und ›Was wird?‹ ab und hat mit dem Lesealltag in der Schule wenig zu tun.«43

Dass viele Lehrer trotzdem mit der Frage ›Was bleibt?‹ an Gegenwartsliteratur herantreten, weist auf eine ausgeprägte Unsicherheit bei der Textauswahl hin. Der Wegfall jener Kriterien, die für historische Kanones bestimmend sind (›Was bleibt?‹), hinterlässt ein schwer zu füllendes Vakuum. Momentan versucht die Forschung, dieser Unsicherheit entgegen zu wirken. Hermann Korte tut das beispielsweise, indem er umfassend feststellt, dass es an und für sich gar keine verbindlichen Auswahlkriterien geben kann: »Alle Versuche, ein literaturwissenschaftlich und didaktisch weitgespanntes Planungssystem für eine fundierte Textauswahl zu konstruieren, enden mit der recht bescheidenden Einsicht, dass es kein einheitliches Auswahlverfahren geben kann.«44

Es wäre viel erreicht, wenn dieses Zugeständnis seitens der Forschung zu einer erhöhten Risikobereitschaft unter den Deutschlehrern führen würde. Während bei den Texten des Kanons die Textauswahl von der Forschung bereits getroffen worden ist, bevor sie

43

K.-M. Bogdal: ›Mein ganz persönlicher Duft‹, S. 130.

44

H. Korte: Historische Kanonforschung und Verfahren der Textauswahl, S. 76f.

46

3.2 GESCHICHTLICHE DARSTELLUNG DES DISKURSES im Deutschunterricht behandelt werden, sollen bei Gegenwartstexten die Deutschlehrer selbst entscheiden, mit welchen Texten sie arbeiten wollen. Hierbei sind viele Lehrer noch unsicher, und müssen daher zusätzlich ermutigt werden. Dass damit schon viel erreicht wäre, meint neben Korte auch Clemens Kammler. Er ist überzeugt: »ein Unterricht, der nichts riskiert, kann nur langweilig sein.«45 Demnach würden auch die Schüler von mehr Risikobereitschaft ihrer Lehrer profitieren. Den Lehrern könnte ein Lossagen von allzu strengen Vorgaben des literaturwissenschaftlichen Kanons zu einem autonomeren Unterricht und einem zufriedenstellenden Berufsalltag verhelfen. Im Hinblick auf zukünftige Aufgaben des Deutschunterrichts wäre es fatal, wenn Deutschlehrer auch weiterhin unsicher an ihren Unterrichtsalltag herantreten würde. Durch den Einfluss neuer Medien, vornehmlich durch die Dominanz des Kino- und Fernsehfilms als Erzählform für Geschichten, hat der Literaturbegriff einen wesentlichen Wandel erfahren. Der Deutschunterricht muss einen ständigen Aktualisierungsprozess einleiten, will er mit der Öffnung der literaturwissenschaftlichen Fächer für kulturwissenschaftliche und medientheoretische Fragestellungen Schritt halten. Für die Lehrerbildung besteht in der fachlichen Neuorientierung eine große Herausforderung. Auf diese zukünftige Verantwortung weist Bogdal explizit hin: »Innerhalb dieses Rahmens vermag die Literaturdidaktik einen erheblichen Beitrag zur ›Medienkulturkompetenz‹ zu liefern, die in Zukunft die entscheidende Forschungs- und Ausbildungsleistung der Germanistik insgesamt sein wird.«46

Die Vermittlung von ›Medienkulturkompetenz‹ wird zu den hauptsächlichen Zielen des Deutschunterrichts gehören; das lässt sich bereits heute prognostizieren. Somit stellt sie eine mögliche Beantwortung der von Bogdal im Bereich des Schülerinteresses ausgemachten Frage nach dem ›Was wird?‹ dar. Getrennt von der akuten Frage nach dem ›Was ist?‹, die für Bogdal ebenso schülerrelevant ist, lassen sich mögliche Aufgabenbereiche und Erscheinungsformen des Deutschunterrichts nur schwer determinieren. Daher sollen diese beiden essentiellen Fragestellungen im Folgenden im Mittelpunkt des Interesses stehen. Als Ausgangspunkt dient hierbei die historische Entwicklung der Forderung nach Gegenwartsliteratur im Unterricht. Wie deutlich gemacht wurde, sind die konträren For45

C. Kammler: Was kommt nach Dürrenmatt und Frisch?, S. 124.

46

K.-M. Bogdal: Literaturdidaktik im Spannungsfeld von Literaturwissenschaft, Schule und Bildungs- und Lerntheorien, S. 12.

47

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE schungsmeinungen seit den fünfziger Jahren (Ulshöfer 1952, Grünwaldt 1970) ebenso untrennbar mit der aktuellen Debatte verbunden wie Geißlers Beitrag, der auf eine Vermittlung der oppositionellen Auffassungen abzielt (Geißler 1970a).

3.3 Forderung der Forschung und Reakt ionen in den Schulen Nachdem die historischen Grundlagen der gegenwärtigen Situation in Forschung und Schulalltag dargestellt worden sind, soll nun der Versuch einer Standortbestimmung beider Bereiche unternommen werden. Dieser Versuch orientiert sich hauptsächlich an Überlegungen Clemens Kammlers, die um die immer wieder gestellte Frage kreisen, ob der Deutschunterricht den Anschluss an das literarische Leben der Gegenwart zu verlieren drohe,47 und eine Vielzahl bedeutsamer Impulse für die Literaturdidaktik liefern. Im Folgenden sollen Kammlers Forderungen inhaltlich dargestellt und auf ihre Auswirkungen im Hinblick auf die schulische Praxis untersucht werden. Angesichts der öffentlichen Konzentration auf die Diskussion um einen verbindlichen Lektürekanon,48 die mittlerweile zu obligatorischen Titeln für die Sekundarstufe II im Hinblick auf das Zentralabitur geführt hat, weist Kammler in seinem erstmalig 1995 in der Fachzeitschrift »Diskussion Deutsch« veröffentlichten Aufsatz »Was kommt nach Dürrenmatt und Frisch?« auf eine zweite Verantwortung der Deutschlehrer hin. Neben der Arbeit mit und am Kanon sei es auch Aufgabe der schulischen Beschäftigung mit Literatur, die Schüler zum literarischen Leben der Gegenwart zu führen. Vor dieser Herausforderung zu kapitulieren birgt wie dargestellt immense Gefahren. Eine vollständige Nichtberücksichtigung von Gegenwartsliteratur kommt einer Kanongläubigkeit gleich, die auch bzw. gerade in den Zeiten der starken Vorgaben durch das Zentralabitur Gefahr läuft zu einem für alle Beteiligten langweiligen Unterricht zu führen, 47

Vgl. beispielsweise C. Kammler: Gegenwartsliteratur im Unterricht, S. 174.

48

Hierbei verweist Kammler auf die Kulturteile der FAZ und ZEIT und dort im

Sowie C. Kammler: Plädoyer für das Experiment, S. 3. speziellen auf die Artikel von Böhme (Gottfried Böhme: »Warten auf Handke: Welche Inhalte sollen den Deutschunterricht prägen?«, in: Die Zeit vom 24.11.1995) und Seibt (Gustav Seibt: »Freiraum Bastille – Wozu der literarische Kanon gut war«, in: FAZ vom 30.4.1996). Vgl. C. Kammler: Was kommt nach Dürrenmatt und Frisch?, S. 123.

48

3.3 FORDERUNG DER FORSCHUNG UND REAKTIONEN IN DEN SCHULEN was für keinen der Beteiligten wünschenswert wäre. In der überarbeiteten Fassung von 1998 nennt Kammler seinen Beitrag im Untertitel demgemäß auch »Anmerkungen zu einem Defizit des Literaturunterrichts«. Am Anfang von Kammlers Plädoyer für einen Umgang mit Gegenwartstexten steht die Feststellung, dass Gegenwartsliteratur im Schulunterricht andere Formen annimmt, als man zunächst annehmen sollte. So ist der Begriff Gegenwartsliteratur »in der Schule weitgehend Synonym für Nachkriegsliteratur«.49 Kammlers Einschätzung entspricht den Ergebnissen einer Umfrage des Kultusministeriums in Schulen in NRW zum Einsatz von Ganzschriften in der Sekundarstufe I. Diese Untersuchung führt mit »Der Richter und sein Henker« und »Andorra« die aus der Schweiz stammenden Autoren Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch auf den Plätzen eins und zwei der am häufigsten im Deutschunterricht behandelten Texte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.50 Im Einklang mit diesen empirischen Befunden resümiert Kammler: »Die Gegenwart unserer Schulklassiker endet lange, bevor unsere heutigen Abiturienten das Licht der Welt erblickten.«51 So treffend Kammlers Aussage die Situation in den Schulen beschreibt, so sehr lenkt sie auch davon ab, dass das Gleiche bis vor kurzem ebenso für viele Teilnehmer am Forschungsbetrieb galt. In diesem Sinne gestaltet Christof Hamann seine Rezension zum Sammelband »Baustelle Gegenwartsliteratur«,52 mit dem die Literatur der neunziger Jahre – spätestens – in den literaturwissenschaftlichen Blickpunkt gerückt ist. Hamann bescheinigt der Literaturwissenschaft bis zu diesem Zeitpunkt, dass sie an Neuerscheinungen kein Interesse gehabt habe: »Wenn überhaupt, dann wird Autoren wie Frisch, Grass oder Dürrenmatt Aufmerksamkeit geschenkt, deren Werke bei der leider wieder in Mode gekommenen Kanondiskussion Erwähnung finden.«53 Diese parallele Entwicklung lässt vermuten, dass der Deutschunterricht vor der Neuregelung der Lektürevorschriften durch das Zentralabitur demselben Wandel unterworfen gewesen ist wie der Forschungsbetrieb,

49

Ebd., S. 123.

50

Vgl. Kultusministerium NRW (Hg.), Lektüre von Ganzschriften im Fach Deutsch der Sekundarstufe I des Gymnasiums in NRW, Frechen: Ritterbach 1994, S. 36f.

51

C. Kammler: Gegenwartslücken, S. 186.

52

Vgl. Andreas Erb (Hg.), Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre,

53

Christof Hamann: »Gescratchte Geschichte. Zur Literatur der Neunziger

Opladen: Westdeutscher Verlag 1999. Jahre«, in: Der Deutschunterricht 50 (1998), H. 6, S. 74-76, hier S. 74.

49

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE lediglich zeitverzögert. Im Gegensatz zur Forschung, in der eigene Kanonisierungstendenzen bevorzugt heimlich vorgenommen werden, ohne explizit thematisiert zu werden, kann der Deutschunterricht von den generellen Vorteilen eines Literaturkanons profitieren, die Harro Müller-Michaels treffend zusammengefasst hat: »Ein Kanon hält die Diskussion über das, was gelesen werden soll, in Gang, und diese Diskussion liefert die Argumente für seine kontinuierliche Revision. Der Kanon als Konstrukt auf Widerruf sichert die Vielfalt der Lektüre.«54

Entscheidend ist hierbei die Aufgabe, die der Kanondiskussion zugeschrieben wird. Wenn der Kanon als ein »Konstrukt auf Widerruf« definiert wird, kann er konstruktiv auf Textselektionsprozesse einwirken und so tatsächlich »die Vielfalt der Lektüre« sichern. Diesem Umstand wird aktuell durch die regelmäßig vorgesehene Variation der Titel für das Zentralabitur Rechnung getragen. Allerdings, auch das muss gesehen werden, hat selbst der jüngste literarische Text für die gymnasiale Oberstufe, Christa Wolfs »Kassandra«, augenscheinlich nur sehr wenig mit der Wirklichkeit von Oberstufenschülern im Jahr 2008 zu tun. Vor dem Hintergrund der Gegenwartsferne des Literaturunterrichts stellt Kammler in seinem Aufsatz die Frage, ob zeitgenössische Literatur per se schuluntauglich sei, wie die Ergebnisse der Befragung zum Einsatz von Ganzschriften nahe legen könnten. Ein Großteil der Deutschlehrer – insbesondere der Teil, der sich dem Pensionsalter nähert – würde diese Frage bejahen.55 Kammler ist sich dessen bewusst, nimmt aber selbst eine Gegenposition ein. Die Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur sei zwar riskant, aber dennoch unerlässlich. Denn didaktische Vorhaben, die nicht mit Risiko 54

Harro Müller-Michaels: »Sichtung und Kommentierung der Ergebnisse der Umfrage zur Lektüre von Ganzschriften im Deutschunterricht der Gymnasien in der Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen«, in: Kultusministerium NRW (Hg.), Lektüre von Ganzschriften im Fach Deutsch der Sekundarstufe I des Gymnasiums in NRW, Frechen: Ritterbach 1994, S. 54-60, hier S. 58.

55

In der Literaturwissenschaft ist die Meinung, dass Nachkriegsliteratur qualitativ minderwertig sei, eher die Ausnahme. Der vielleicht auffälligste Vertreter dieser Meinung ist wohl Heinz Schlaffer, der sich Hans Werner Richters Meinung über die Gruppe 47 anschließt, wonach es sich bei den Mitgliedern der Gruppe, unter denen mit Böll und Grass immerhin zwei Literaturnobelpreisträger sind, gar nicht um Literaten, sondern höchstens um »politisch engagierte Publizisten mit literarischen Ambitionen« handele. Vgl. hierzu H. Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, S. 148.

50

3.3 FORDERUNG DER FORSCHUNG UND REAKTIONEN IN DEN SCHULEN verbunden seien, könnten nur langweiligen Unterricht hervorbringen, so Kammler. Den Gegnern der Gegenwartsliteratur unter den Deutschlehrern entgegnet er: »Wenn man pauschal behauptet, die Gegenwartsliteratur tauge nichts mehr, meint man eine Gegenwart, der man sich nicht mehr gewachsen fühlt.«56 Wie treffend dieses Argument ist, wird im späteren Verlauf noch deutlicher zu erkennen sein, wenn es gilt eventuelle Ursachen für die Abneigung vieler Lehrer gegen die Literatur der Gegenwart auszuloten. Bei Kammlers Plädoyer stehen zwei Möglichkeiten im Vordergrund, die sich durch die Behandlung von Gegenwartsliteratur ergeben. Mit Gegenwartstexten lassen sich Gegenwart und Geschichte aus einer reflektierten Perspektive betrachten, und das mit der dem Leseprozess eigenen Langsamkeit, die ihn von den rapiden Rezeptionsweisen von TV, Video- und Computerspielen abhebt. So kann es gelingen, den Blick auf das zu lenken, was Schüler als Gegenwart erfahren und als Zukunft vor sich haben.57 Welche Schwierigkeiten der Gegenwartsbegriff in diesem Konzept birgt, soll ebenfalls später bei der versuchten Ursachenforschung thematisiert werden. Auf den ersten Blick einleuchtend ist jedenfalls, dass der Blick auf die Gegenwart in erster Linie durch solche Texte eröffnet werden kann, die auch wirklich aus der Gegenwart stammen. Das gute Abschneiden von Frisch und Dürrenmatt bei der Ganzschriften-Studie des Kultusministeriums deutet allerdings darauf hin, dass mit der Bezeichnung ›Gegenwartsliteratur‹ im Deutschunterricht ein Etikettenschwindel betrieben wird. Deshalb warnt Kammler vor der Gefahr der Stagnation: »Wenn wir als Lehrer diese Texte [gemeint sind »Die Physiker« und »Homo Faber«] heute noch als Gegenwartsliteratur ausgeben, laufen wir Gefahr, in unserem vermeintlich fortgeschrittenen Denken zu stagnieren und dabei unseren Schülern Modell zu stehen.«58

Kammlers Warnung vor fachdidaktischer Stagnation steht im Einklang mit basalen Erkenntnissen der allgemeinen Didaktik und Mathetik. John Dewey hält für seine philosophische Pädagogik fest, dass vielerorts eine falsche Auffassung von Erziehung vertreten werde. Nicht selten sollen Kinder mittels Erziehung ihren Eltern angeglichen werden. Eine bloße Angleichung von Kindern an die Erwachsenenwelt bedeutet für Dewey aber das Gegenteil von Fort56

C. Kammler: Was kommt nach Dürrenmatt und Frisch?, S. 124.

57

Vgl. ebd., S. 126.

58

Ebd., S. 127.

51

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE schritt; er weist auf einen gefährlichen Nebeneffekt dieser falschen Erziehungsauffassung hin: »Übereinstimmung wird als identisch mit Gleichförmigkeit angesehen. Infolgedessen ergibt sich Interesselosigkeit an allem Neuartigen, Widerwillen gegen Fortschritt, Furcht vor dem Ungewissen und Unbekannten.«59

Für den amerikanischen Pädagogen liegt eine Lösung dieses Konfliktes in der Bereitschaft zu stetigem Wandel, vor allem zu Selbsthinterfragung und -erneuerung. Dies stellt für ihn zugleich eines der Hauptlernziele dar: »Die Bereitschaft, vom Leben selbst zu lernen und die Lebensbedingungen so zu gestalten, dass alle im Vorgang des Lebens lernen, ist das beste Ergebnis der Schularbeit.«60 Für die Deutschlehrer hieße das, dass sie ihrem eigenen Interesse folgend die Auseinandersetzung mit literarischen Neuerscheinungen suchen müssten. Im Rahmen dieses Konzeptes gesehen, das auf institutioneller Ebene in Form des Life-long-Learning-Konzepts höchsten Aktualitätswert besitzt, würden Deutschlehrer ihre Schüler alleine schon durch vorgelebte Begeisterung für Literatur an Texte aller Art heranführen. Dass solche Verhaltensweisen unter Lehrern in der Praxis eher selten gesichtet werden, wird daraus deutlich, dass Kammler diese scheinbar selbstverständlichen Qualitäten explizit einfordern muss, wenn er schreibt: »Deutschlehrer dürfen sich nicht auf die Pflege des Kanons beschränken, müssen sich der Unübersichtlichkeit des Literaturmarktes stellen.«61 Nachdem Kammler auf diese Weise die Dringlichkeit einer Behandlung von Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht unterstrichen hat, skizziert er verschiedene Vermittlungsmöglichkeiten und macht eigene Vorschläge, mit welchen Texten Deutschlehrer die Gegenwartslücken62 in ihrem Unterricht schließen könnten. Kammlers Kritik, die »sich sowohl gegen ein ängstliches kanonisches Denken als auch gegen nicht lesende Deutschlehrer«63 richtet, ist somit von Grund auf konstruktiv angelegt. Die geforderte Auseinandersetzung mit Gegenwartstexten ist mit einem hohen Maße an Selbstverantwortung und Eigenständigkeit

59

J. Dewey: Demokratie und Erziehung, S. 77.

60

Ebd.

61

C. Kammler: Was kommt nach Dürrenmatt und Frisch?, S. 127.

62

In einer Überarbeitung von »Was kommt Dürrenmatt und Frisch?« hat Kammler den Titel des Aufsatzes in »Gegenwartslücken« geändert. Vgl. A. Erb, Baustelle Gegenwartsliteratur.

63

E. Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S. 83.

52

3.3 FORDERUNG DER FORSCHUNG UND REAKTIONEN IN DEN SCHULEN der Lehrer verbunden. Während bei Kanontexten »die unüberschaubare Fülle aller Werke, die je geschrieben wurden« 64 schon auf jene Werke reduziert ist, »die noch für die Nachwelt bedeutsam sind oder bedeutsam werden sollten«,65 müssen Deutschlehrer die Auswahl von Gegenwartstexten meistens eigenständig legitimieren. Hilfestellung bekommen sie dabei allenfalls von Fachzeitschriften, wenn diese denn konkrete Unterrichtsvorschläge bereitstellen. In der Tat hängt die Umsetzung der Forschungsforderungen ausschlaggebend von Lektüre- und Interpretationshilfen und anderen Anregungen seitens der Fachdidaktik ab. Wie sich die Bearbeitung von Gegenwartsliteratur in der schulischen Praxis tatsächlich darstellt und welche Einstellungen die unterrichtenden Lehrer dazu haben, ist ebenfalls von Clemens Kammler untersucht worden. Zusammen mit Volker Surmann hat er eine Umfrage an Bielefelder Schulen initiiert, deren Ergebnisse in dem Aufsatz »Sind Deutschlehrer experimentierfreudig?«66 zusammengefasst und im Zusammenhang schulischer Praxis gedeutet werden. Da bereits mehrfach auf die Scheu der derzeit tätigen Lehrer vor Gegenwartsliteratur hingewiesen wurde, lässt sich der rhetorische Charakter von Kammlers Frage von vorneherein erkennen. Dies belegen auch die Zahlen; so haben beispielsweise, »nur 9 von 62 Befragten [...] schon mehrere Buchtitel aus den letzten zehn Jahren ausprobiert.«67 Das ist ein geringer Anteil, besonders wenn man die paradox erscheinenden Tatsache berücksichtigt, dass 77% der Befragten gleichzeitig angeben, dass sie Gegenwartsliteratur für bedeutsam halten und sich literarisch auf dem Laufenden zu halten.68 Selbstredend ist eine Befragung wie die durch Surmann und Kammler nur bedingt repräsentativ. Allerdings ist diese Datenerhebung die einzige ihrer Art, so dass sie hier zwingend, wenn auch unter Vorbehalt, berücksichtigt werden muss. Was für die vorliegende Argumentation einen besonderen Stellenwert besitzt, ist das Ergebnis, dass die Lehrer an Gegenwartsliteratur durchaus interessiert und ihrem Einsatz im Unterricht gegenüber sehr wohl aufgeschlossen sind. Allerdings, so lesen sich die Ergebnisse der Umfrage, besteht ein großer Bedarf an Fortbildungsund Unterrichtshilfen. Bei der Suche nach möglichen Ursachen 64

H. Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, S. 155.

65

Ebd.

66

Vgl. Clemens Kammler/Volker Surmann: »Sind Deutschlehrer experimentierfreudig? Ergebnisse einer Befragung zur Lektüre von Ganzschriften in der Sekundarstufe II«, in: Der Deutschunterricht 52 (2000), H. 6, S. 92-96.

67

Ebd., S. 93.

68

Vgl. ebd.

53

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE stößt Kammler auf die Unübersichtlichkeit des Literaturmarktes. Sich dieser Unübersichtlichkeit zu stellen, ruft in vielen Deutschlehrern ein Gefühl der Unsicherheit hervor: »Erklärbar wird dieser Wunsch nach verstärkter Fortbildung und mehr Publikationen zum Thema durch ein relativ starkes Gefühl der Verunsicherung bezüglich der Entwicklung der Gegenwartsliteratur.«69

Das Gefühl der Verunsicherung scheint so stark ausgebildet, dass es neben organisatorischen Gründen als die wichtigste Ursache für eine Nichtbehandlung der Literatur der neunziger Jahre angeführt wird. Für Clemens Kammler und Volker Surmann ist die verbreitete Unsicherheit als beiläufiges Resultat Grund genug, weitere Überlegungen anzustellen: »Wir möchten angesichts dieser Ergebnisse die Hypothese aufstellen, dass – wahrscheinlich aufgrund der festgestellten Unsicherheiten in Bezug auf Gegenwartsliteratur, in diesem Bereich nach festen Größen Ausschau gehalten wird – also ein Trend zur Kanonisierung zu verzeichnen ist.«70

Diese Hypothese wird durch weitere Ergebnisse der Umfrage bestätigt. In ihren Fragebögen haben Kammler und Surmann die Fachkollegen aufgefordert, jeweils fünf Lektüreempfehlungen zur Gegenwartsliteratur zu benennen. Das Ergebnis war nicht, wie angesichts des veröffentlichungsreichen Literaturbetriebs anzunehmen gewesen wäre, ein Durcheinander vieler unterschiedlicher Titel, sondern eine übersichtliche Auflistung von insgesamt nur 79 Buchtiteln. Dass sich drei Titel deutlich an der Spitze etablieren konnten, gibt die hypothetisch angenommenen Kanonisierungstendenzen wieder. Der Hang des Einzelnen, sich an festen Größen zu orientieren, führt an dieser Stelle zu einem in besonderem Maße entscheidenden Punkt der Argumentation. Ein Rückzug der Lehrer auf kanonisierte Texte der Gegenwartsliteratur geht deutlich aus der Bielefelder Umfrage hervor. Auch die dahinter angenommene Unsicherheit der Lehrenden kann aufgrund der Umfrageergebnisse als Tatsache angenommen werden. Es stellt sich bei der Betrachtung der Umfrageergebnisse allerdings noch eine entscheidende Frage: Weshalb wurden die genannten Texte in die Top Ten der empfohlenen Ganzschriften aus den achtziger und neunziger Jahren aufgenommen?

69

Ebd., S. 94.

70

Ebd.

54

3.3 FORDERUNG DER FORSCHUNG UND REAKTIONEN IN DEN SCHULEN Hierbei sollte berücksichtigt werden, dass »Kanonbildung [...] kein inner-literarischer Prozess [ist], sondern eine kulturelle Selektionspraxis, deren Werte einen Bezug zur Alltags- und Lebenswelt haben«.71 Um nämlich die oben aufgeworfene Frage nach den Ursachen der Kanonisierung zu beantworten, ist es unumgänglich zunächst zu klären, welchen Bezug die Texte zur Lebenswelt haben. An der Spitze der ›Top Ten‹-Liste stehen Bernhard Schlinks »Der Vorleser« (1996), Patrick Süskinds »Das Parfum« (1985) und »Schlafes Bruder« (1992) von Robert Schneider. Wenn man diese drei Werke auf ihre ›Bezüge zur Alltags- und Lebenswelt‹ untersucht, lassen sich zwei mögliche Ursachen für ihre Spitzenpositionen erkennen. Die erste entspricht der Deutung Kammlers: Als größtes Hemmnis des Einzugs aktueller Literatur in den Literaturunterricht wird die Unsicherheit der Lehrer gesehen. Bestätigt wird diese Vermutung von Karl-Heinz Fingerhut, der explizit auf Motivationen von Lehrern bei Textauswahlentscheidungen eingeht: »Bei den genannten Entscheidungen spielt die fachdidaktische Ratgeber-Literatur eine große Rolle: Gibt es neben der Reclam-Ausgabe eine Dokumentation in der ›grünen Reihe‹? Gibt es in einem der Schulbuchverlage ›Lektürehilfen‹ oder ›Epochenhefte‹ oder stehen autorisierte Materialien aus Fortbildungsveranstaltungen zur Verfügung?«72

Ebenso wie Fingerhut deutet auch Kammler die Unsicherheit der Lehrer, als eine Reaktion auf die Vielzahl der Veröffentlichungen und die Unübersichtlichkeit des Marktes. Demzufolge müssten logischerweise jene Texte am weitesten oben auf der Empfehlungsliste stehen, zu denen es ausreichend Sekundärliteratur und Interpretationshilfen gibt. Eine Überprüfung der Spitzenreiter auf derartige Unterstützung durch Arbeitsmaterialien bestätigt Kammlers Vermutung. Zur neuesten Veröffentlichung unter den Lektürerennern, zu Schlinks obligatorisch vorgesehenen »Der Vorleser«, gab vor der Einführung des Zentralabiturs bereits neun unterschiedliche Arbeitshilfen für den Schulunterricht, darunter auch die unter Lehrern beliebten Oldenbourg-Interpretationen.73 Dass die Oldenbourg-Reihe

71

H. Korte: Historische Kanonforschung und Verfahren der Textauswahl, S. 63.

72

Karl-Heinz Fingerhut: »Didaktik der Literaturgeschichte«, in: Klaus-Michael Bogdal/Hermann Korte (Hg.), Grundzüge der Literaturdidaktik, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2002, S. 147-165, hier S. 154.

73

Stand: 1. Dezember 2006. Mittlerweile ist die Zahl auf über 20 angestiegen (Stand: 15.03.2009).

55

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE außerdem auch Bände zu »Das Parfum« und »Schlafes Bruder« im Programm hat, fällt nach Kammlers Deutung der Umfrage ebenfalls ins Gewicht. Für Süskinds Bestseller gab es daneben noch acht weitere Lernmaterialienbände,74 Schneiders Roman qualifizierte sich mit insgesamt sechs Begleitbänden für die Planungen der weniger sicheren Kollegen.75 Wenn also das Vorhandensein von Forschungsliteratur als entscheidendes Kriterium angenommen wird, erscheinen die drei am häufigsten genannten Gegenwartswerke wenig überraschend an der Spitze der Empfehlungsliste. Außerdem kann festgehalten werden, dass der von Kammler und Surmann hypothetisch angenommene Trend zur Kanonisierung durch die angestellten Betrachtungen nur bestätigt werden kann. Die Gründe für die dem obligatorischen Kanon vorausgegangene heimliche Kanonisierung können nicht eindeutig ermittelt werden. Es ist aber nicht auszuschließen, wie Elisabeth Paefgen hervorgehoben hat, »daß gerade die postmoderne Freiheit in der Wahl der Schullektüre […die] freiwillige Rückkehr zum ›Kanon‹ provoziert hat.«76 Bezüglich der Ursachen für das gute Abschneiden der drei Umfragesieger wurden eingangs bereits zwei mögliche Deutungen angekündigt. Die oben dargelegte Deutung von der Verfügbarkeit von Interpretationshilfen, wie Kammler sie vertritt, ist die eine. Die andere fußt auf der Tatsache, dass die drei Romane neben dem ausführlichen Sekundärliteraturangebot noch eine weitere hier ausschlaggebende Gemeinsamkeit aufwiesen. Obwohl alle drei Werke vom Veröffentlichungsdatum her (zwischen 1985 und 1996) noch eher in den Zeitraum der Gegenwart fallen als Dürrenmatts und Frischs Werke, spielen die Handlungen jeweils weit in der Vergangenheit. Der junge Vorleser Michael trifft in Schlinks Roman gegen Ende der fünfziger Jahre auf die Straßenbahnschaffnerin Hanna; dies führt zu einer rückblickenden Thematisierung des Holocaust. Robert Schneiders Roman um das musikalische Genie Johannes Elias Alder umfasst zwar eine sehr weite Zeitspanne, ist zeitlich allerdings auch ebenso weit von den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entfernt.77 »Das Parfum« liegt zeitlich noch weiter zurück, so dass es selbst den Rahmen Mannscher Erzählung »in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit«78 sprengt. Das geniale Scheusal 74

Stand: 15.03.2009.

75

Stand: 15.03.2009.

76

E. Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S. 83.

77

Die Hauptfigur Johannes Elias Alder kommt im Hochsommer 1803 zur Welt.

78

Thomas Mann: Der Zauberberg, Frankfurt/Main: Fischer 1996, S. 9.

56

3.4 DIE GEMIEDENE GEGENWARTSLITERATUR: DAS THEATER DER NEUNZIGER JAHRE Jean-Baptiste Grenouille, dessen Lebensweg geschildert wird, erblickt 1738 das Licht der Welt. Die befragten Bielefelder Lehrer empfehlen aus dem Spektrum Gegenwartsliteratur also hauptsächlich solche Werke, deren Handlung nicht in der Gegenwart angesiedelt ist. Da die Umfrage an Bielefelder Schulen die einzige ihrer Art ist, soll sie hier repräsentativ für die Reaktion in deutschen Schulen auf die geschilderten Forschungsforderungen aufgefasst werden. Die aus ihr gewonnenen empirischen Daten zeigen, dass die aktiven Lehrer den von der Forschung erhobenen Forderungen nachkommen. Unterrichtsvorschläge wie beispielsweise »Mein ganz persönlicher Duft«79 sind anscheinend auf fruchtbaren Boden gefallen. Wenn Gegenwartsliteratur jedoch im Deutschunterricht thematisiert werden soll, um die »sich rasch vergrößernde Kluft zwischen den Wahrnehmungsweisen und der Wissensaneignung im Lebensalltag heutiger Schüler und der Praxis des Deutschunterrichts«80 zu überwinden, dann ist die schulische Umsetzung den Forderungen aus der Germanistik immer noch einiges schuldig. Vor diesem Hintergrund möchte ich die These aufstellen, dass die Unsicherheit vieler Lehrer bei der schulischen Bearbeitung von Gegenwartsliteratur primär aus einer Unsicherheit im Umgang mit der Gegenwart im Allgemeinen resultiert. Gegenwartsliteratur bedeutet für eine Mehrzahl der Lehrer die Konfrontation mit einer Gegenwart, der sie sich, wie Kammler andeutet, nicht mehr gewachsen fühlen. Als erste Belege hierfür sollen theoretische Überlegungen zum Gegenwartsdrama dienen. Zunächst aber soll der gegenwärtige Stellenwert des aktuellen Theatergeschehens im Deutschunterricht dargestellt und erklärt werden.

3.4 Die gemiedene Gegenwart slit erat ur: Das Theater der neunziger Jahre Dass der derzeitige Deutschunterricht in der großflächigen Nichtbeachtung von Gegenwartsliteratur ein deutliches Defizit aufweist, haben Kammlers Erwägungen zweifellos veranschaulicht. Andererseits zeigt die zusammen mit Volker Surmann unternommene Umfrage ebenfalls, dass es auch in den achtziger und vor allem neunziger Jahren deutschsprachige Texte gibt, die sich sehr gut für den Einsatz in der Schule eignen. Hier kann angesichts der gängigen Nen79

Vgl. K.-M. Bogdal: ›Mein ganz persönlicher Duft‹.

80

K.-M. Bogdal: Literaturdidaktik im Spannungsfeld von Literaturwissenschaft, Schule und Bildungs- und Lerntheorien, S. 21.

57

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE nung nur weniger Texte (»Das Parfum«, »Der Vorleser«, »Schlafes Bruder«) von einer einsetzenden Kanonisierung gesprochen werden. Was nun aber für den weiteren Verlauf entscheidend sein soll, lässt sich der Befragung als marginales Ergebnis entnehmen. Unter den Empfehlungen finden sich ausnahmslos prosaische oder lyrische Werke, worauf Kammler und Surmann auch explizit hinweisen: »Beim Blick auf die Vorschlagliste zur Gegenwartsliteratur fällt auf, dass unter den dort genannten 79 Titeln kein einziges Theaterstück zu finden ist.«81 Obwohl dieses Ergebnis im Rahmen der Untersuchung eine Randposition einnimmt, wird es von Kammler und Surmann mit einer gesonderten Deutung versehen. Die beiden Interpreten sehen darin einen Beleg dafür, dass Matthias Müllers These zum Theater der achtziger Jahre auch für die Bühnenstücke der darauf folgenden Dekade durchaus noch Gültigkeit besitzt. Müller hat in seinem Beitrag »Zwischen Theater und Literatur« die These erhoben, dass die zeitgenössische Dramatik nur ein Stiefkind der literarischen Sozialisation sei.82 Wenn im Folgenden kurz verdeutlicht werden soll, welche Umstände Müller zu seiner These geführt haben, wird Kammlers Verdacht, dass das Theater der neunziger Jahre nicht über diesen vernachlässigten Status hinaus gelangt sei, zusätzlich verdichtet. Als ersten Hinweis auf die Stiefkindrolle hat Müller die Lehrpläne für das Fach Deutsch aufgefasst. Diese verdeutlichen, dass »wenige Texte und noch weniger Autoren genügen, um das Spektrum des Dramas nach 1945 abzudecken.«83 Die wenigen Nennungen sind dieselben wie auch heute noch; die mittlerweile zu Schulklassikern gewordenen Dürrenmatt und Frisch vorneweg. Zudem soll ein Blick auf die aktuellen Ziele des Deutschunterrichts, wie sie in den Lehrplänen für NRW formuliert werden, die immer noch schwierige Stellung des Gegenwartsdramas vorführen: »Im Zentrum des Deutschunterrichts steht die Auseinandersetzung mit Literatur, Sachtexten, Theater und Film sowie mit Print- und elektronischen Medien.

81

C. Kammler/V. Surmann: Sind Deutschlehrer experimentierfreudig?, S. 95f.

82

Vgl. Matthias Müller: »Zwischen Theater und Literatur. Notizen zur Lage einer heiklen Gattung«, in: Richard Weber (Hg.), Das deutsche Drama der 80er Jahre, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 399-430, hier S. 410.

83

Ebd.

58

3.4 DIE GEMIEDENE GEGENWARTSLITERATUR: DAS THEATER DER NEUNZIGER JAHRE Diese sollen in ihren Strukturen begriffen und in ihre Traditionszusammenhänge eingeordnet werden.«84

Die Unterscheidung zwischen Literatur und Theater in den Richtlinien führt vor Augen, dass im Bewusstsein der Deutschlehrer neben dem eigentlichen Theatertext idealiter auch die Inszenierungspraxis präsent sein sollte. Neben den Lehrplänen verschiedener Bundesländer hat Müller vor allem Forschungsliteratur zum Gegenwartsdrama bei der Erarbeitung seiner These berücksichtigt. Für die stiefmütterliche Beachtung des Theaters von Seiten der Fachdidaktik führt Müller an, dass selbst Themenhefte zur Gegenwartsliteratur keine Beiträge zum Theater enthalten.85 Um die Aktualität der Stiefkindthese auch aus dieser Perspektive zu überprüfen, muss die Sekundärliteratur zur Literatur der neunziger Jahre also ebenfalls beachtet werden. Bei den beiden Fachzeitschriften, die ihre Intention offenkundig im Namen tragen, »Deutschunterricht« und »Der Deutschunterricht«, lassen Themenwahl und Beitragszusammenstellung diesbezüglich einiges erkennen. Hier nämlich wird das Feld der Gegenwartsliteratur emsig beackert. Autoren wie Sten Nadolny und Uwe Timm aber auch die Popliteratur-Fraktion um StuckradBarre, Kracht und Lebert scheinen im Hinblick auf die eingeforderte Leseförderung allesamt schultauglich zu sein. Auch Judith Hermann, Robert Gernhardt oder Christoph Peters werden den Lehrern ans Herz gelegt. Die Liste der Autoren wäre erweiterbar um solche Autoren und Autorinnen wie Max Goldt, Durs Grünbein oder Ulrike Draesner. Sie wäre geradezu beliebig zu ergänzen, unter einer Bedingung allerdings: dass es sich bei den entsprechenden Autoren nicht um Dramatiker handelt. Wenn Gegenwartsliteratur nämlich auf zeitgenössische Theatertexte eingeengt wird, dann ist die Ausbeute bei weitem geringer. Es sind vornehmlich Prosaautoren in Begleitung einiger weniger Lyriker, die der Gegenwartsliteratur den Einzug in die Schulen ermöglichen. Eine Erfassung der Forschungsbeiträge zum Gegenwartsdrama im Deutschunterricht ergibt zudem, dass Bemühungen wie die von Clemens Kammler definitiv die Ausnahme darstellen. So gesehen müssen die von Müller diagnostizierten Mängel auch der heutigen Situation des Gegenwartsdramas bescheinigt werden. Weder im Lehrplan noch in der 84

Ministerium für Schule, Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes NRW (Hg.), Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen, Frechen: Ritterbach 1999, S. 6.

85

Vgl. Literatur für Leser 9/2 (1986) [Themenheft »Gegenwartsliteratur«].

59

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Forschung hat sich sein Rang verbessern können, was sich wohl kaum ausreichend mit der Position des Gegenwartsdramas zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft erklären lässt.86 Daher muss Müllers Stiefkindthese auch mehr als zehn Jahre später auf ein Neues bestätigt werden. So bewertet auch Kammler selbst die eigenen Forschungsergebnisse.87 Vor diesem Hintergrund bedarf es einer Suche nach möglichen Ursachen für die Entfremdung von Theatergegenwart und schulischem Literaturunterricht. Eine offensichtliche Ursache ist der institutionelle Rahmen, der die Randstellung von Gegenwartsliteratur maßgeblich bedingt. In den Richtlinien für den Deutschunterricht in der gymnasialen Oberstufe wird Gegenwart als der Zeitraum seit der Nachkriegszeit definiert.88 Allerdings ist diese institutionelle Vorraussetzung recht oberflächlich; eine effektive Ursachenforschung müsste darüber hinaus gehen, allerdings ist die Forschung eine detaillierte Klärung der Ursachen bis zum heutigen Stand schuldig geblieben. Bevor im weiteren Verlauf ausführlich auf die theoretischen Vorraussetzungen des Theaters der neunziger Jahre eingegangen wird, soll auf drei Hemmnisse hingewiesen werden, die dem Einsatz von zeitgenössischen Theatertexten im Deutschunterricht erschwerend gegenüberstehen. Grundlegend ist es für die Behandlung von Gegenwartsdramen hinderlich, dass der literarische Markt in diesem Bereich weit hinter den der Gegenwartsprosa oder des klassischen Dramas zurückfällt. Viele Theatertexte sind unveröffentlicht, andere könnte man seinem Deutschkurs nur als Kopie zu Verfügung stellen.89 Die Texte, die es zu einer Veröffentlichung in gewohnter Buchform gebracht haben, sind in nur niedrigen Auflagen und – daraus resultierend – zu hohen Preisen erhältlich.90 Neben der Textbeschaffung stellt auch die Textauswahl ein Problem dar, schließlich gilt: »die Unübersichtlichkeit des Neuen ist groß, die Grenzen zwischen E und U sind oft fließend.«91 Somit werden die ohnehin schon unsicheren Lehrer noch weiter dazu verführt, sich durch den Rückgriff auf Kanonisches ab-

86

Vgl. hierzu: G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 13.

87

Vgl. C. Kammler: Gegenwartsliteratur im Unterricht, S. 173.

88

Vgl. Ministerium für Schule, Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung

89

Die monatlich erscheinende Fachzeitschrift »Theater heute« enthält bei-

90

Während Goethes »Faust« als Hamburger Leseheft für 2,20 € erhältlich ist,

des Landes NRW (Hg.), Richtlinien und Lehrpläne. Deutsch, S. 56. spielsweise in jeder Ausgabe einen Stückabdruck. liegen die Beschaffungskosten für Marius von Mayenburgs Erfolgsstück »Feuergesicht« zur Zeit bei 13,00 € (Stand: 15.03.2009). 91

C. Kammler: Zeitgenössisches Theater und Unterricht, S. 381.

60

3.4 DIE GEMIEDENE GEGENWARTSLITERATUR: DAS THEATER DER NEUNZIGER JAHRE zusichern. Um dem entgegenzuwirken hat Kammler eine weitere Befragung durchgeführt. Unter Berücksichtigung von Textempfehlungen, die von den befragten Intendanten deutscher Theaterhäuser ausgesprochen wurden, präsentiert Kammler unter dem Titel »Das kommt nach Frisch und Dürrenmatt«92 Antworten auf die selbst gestellte Frage. Auf diesen Beitrag soll allerdings erst im späteren Verlauf eingegangen werden. Die dritte Schwierigkeit, die hier angeführt werden soll, liegt in der Qualität der Texte. Das Gegenwartsdrama sei schlichtweg zu schlecht, ließe sich argumentieren. Dieser Einwand lässt sich allerdings mit dem Verweis auf die internationale Bühnenrelevanz deutschsprachiger Dramatiker wie Dea Loher oder Marius von Mayenburg mit Leichtigkeit als falsch entlarven. Die drei geschilderten Schwierigkeiten bei der Behandlung von Gegenwartsdramen (Textbeschaffung, Unübersichtlichkeit des Marktes, schwer einzuschätzende Qualität der Stücke) haben gemein, dass sie zu der gesteigerten Verunsicherung der Deutschlehrer beitragen. Die Behandlung von Gegenwartsdramen im Unterricht wirft eine Vielzahl von Fragen auf: Welchen Text soll ich auswählen? Werden die Schüler ihn verstehen können? Verstehe ich den Text überhaupt selbst richtig? Gibt es eine Form des richtigen Verstehens? Lässt sich der Text überhaupt verstehen? Wie diese Fragen verdeutlichen, handelt es sich bei der Unterrichtsplanung einer Gegenwartsdramenreihe um eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Weiter oben wurde die These aufgestellt, dass Lehrer mit Unsicherheit an den Gegenstand Gegenwartsliteratur herantreten, weil sie der Gegenwart im Allgemeinen nur unter gewissen Vorbehalten entgegentreten können. Im schulischen Alltag ist die Beschäftigung mit einer Gegenwart, die sich nicht eindeutig bestimmen und deuten lässt, besonders schwierig, da der Lernalltag größtenteils von sogenannten ›No-information-questions‹ geprägt ist. Damit sind solche Fragen gemeint, deren Antwort dem Lehrer bereits bekannt ist. Gerade bei historischen Lerngegenständen und einer gründlichen Unterrichtsvorbereitung trifft das auf einen Großteil der Fragen im Unterrichtsgespräch zu. Das Gegenteil wäre eine Frage-Antwort-Situation, die tatsächlich ihrer linguistischen Aufgabe nachkommt: nämlich Informationen zu erfragen. Diese ›information-seeking-questions‹ eignen sich für die Erkundung von unbekanntem Terrain, also für solche Themenbereiche wie die Gegen92

Vgl. Clemens Kammler: »Das kommt nach Frisch und Dürrenmatt: Ergebnisse einer Befragung von Theaterintendanten zum Thema Gegenwartsdrama und Schule«, in: Der Deutschunterricht 53 (2001), H. 2, S. 84-88.

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ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE wart. Mit der Befürchtung, ihr Wissensmonopol und damit ihre übergeordnete Stellung zu verlieren, verkennen viele Lehrer den herausfordernden Charakter der oben aufgestellten Rechnung mit dem Gegenwartsdrama. Zu einem erfüllenden Literaturunterricht kann diese Rechnung mit vielen Unbekannten nur für jene Lehrer werden, deren Unterrichtsatmosphäre entscheidend von einer Enttabuisierung des Fehlers geprägt ist. Die gegenwärtige Gesellschaft, deren wissenschaftliche Erfassung mit Schlagworten wie Pluralisierung und Wertewandel operiert, ist kein einheitliches Konstrukt. Die Zersplitterung in unzählige Milieus macht umfassende Aussagen über die Gesellschaft an sich nahezu unmöglich. Wer heutzutage als Lehrer noch meint, er könne und müsse alles wissen, ist nicht mehr zeitgemäß. Wer glaubt, es sei ein persönliches Versagen, eine Schülerfrage nicht beantworten zu können, der wird sich auch in Zukunft an den literarischen Kanon und an didaktisch aufbereitete Unterrichtsmaterialien klammern. Dem Lernfortschritt seiner Schüler wäre das allerdings ebenso wenig dienlich wie seiner eigenen Entwicklung.

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4. W endepunkt e in Theater und Theat erforschung Die Titel der Gegenwartsliteratur, die bei den von Kammler befragten Bielefelder Lehrern am besten abschneiden, sind prosaische Texte, die ausnahmslos Geschichten erzählen, die weit in der Vergangenheit spielen. Erzähltechnisch bedienen sich Schlink, Süskind und Schneider mit dem klassischen Erzählen zudem einer Form, die ebenfalls weit in der Vergangenheit ihre erstmalige Blütezeit erlebt hat und erst in den letzten Jahren eine deutlich erkennbare Wiederkehr erleben durfte.1 Die bei Lehrern beliebtesten Texte entfernen sich demnach sowohl auf der Inhaltsebene als auch hinsichtlich ihrer Form weit von der Gegenwart. Diese zeitliche Distanz bringt in didaktischer Hinsicht einen wesentlichen Vorteil mit sich, den Karl-Heinz Fingerhut herausgestellt hat: »Historisierung von Problemen bedeutet Befreiung von der drängenden Frage nach der Aktualität. Sie muß nicht verdrängt werden, aber die massierte Wahl dieses Typs von Lektüre mit ›keinem Ort‹ legt die kritischhistorisierende Methode für den Unterricht nahe. Man kann sich trefflich über die Verhältnisse erheben, die nicht mehr die unsrigen sind.«2

Wie Fingerhut hier richtig hervorhebt, sträuben sich Probleme aus der Vergangenheit in weitaus geringerem Maße gegen eine Thematisierung im Unterricht als gegenwärtige Fragestellungen. In der Beschäftigung mit ›unseren Verhältnissen‹ besteht jedoch die deutlich größere Herausforderung für den Deutschunterricht. Lassen sich aktuelle Probleme auf der Bühne und im Deutschunterricht verhandeln, ist das Ergebnis für die tatsächliche Lebenswirklichkeit der Schüler höchst relevant. Schülerwirklichkeit und Deutschunterricht ließen sich so auf einen gemeinsamen Nenner bringen. 1

Vgl. Nikolaus Förster: Die Wiederkehr des Erzählens. Deutschsprachige Prosa der 80er und 90er Jahre, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999.

2

H. Müller-Michaels: Sichtung und Kommentierung der Ergebnisse der Umfrage zur Lektüre von Ganzschriften, S. 57.

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ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Ganz grundlegend lässt sich herausstellen, dass sich keine andere literarische Gattung so gut dafür eignet, sich dieser speziellen Herausforderung der Gegenwart zu stellen, wie das Drama. Denn das Drama ist notwendigerweise in Relation zur Gegenwart zu verhandeln, wie Gabriele Werner festgestellt hat: »Theaterkunst ist immer aktuell; sie kann sich nur als Gegenwartskunst ereignen«.3 Werners Auffassung entspricht auch maßgeblich der Sichtweise der Autoren, deren Theatertexte im Analyseteil untersucht werden. John von Düffel hat beispielsweise eben darauf hingewiesen, dass das Theater immer von der Gegenwart geprägt sei.4 Dies gilt insbesondere für das Theater der Gegenwart, das im Gegensatz zu vorangegangenen Theaterströmungen auf zeitliche Verfremdungen (Episches Theater) oder überzeitliche Konzeptionen (Absurdes Theater) verzichtet und stattdessen dazu neigt, Stoffe und Themen unmittelbar aus der Gegenwart zu beziehen. Bei John von Düffel, um beim genannten Beispiel zu bleiben, finden sich spezifische Ereignisse, Charakteristika und Entwicklungen der neunziger Jahre (Rechtsradikal motivierte Gewalt gegen Ausländer in »Oi« und »Solingen« [beide 1995], der Tod Heiner Müllers in »Missing Müller« [1997] oder der Konflikt zu der Elterngeneration der 68er in »Born in the RAF« und »Rinderwahnsinn« [1999]) direkt in das dramatische Werk transformiert. Nach diesem Verständnis wäre das Drama stets in Relation zur gegenwärtigen politischen, kulturellen und sozialen Wirklichkeit zu verstehen und somit eben nicht mehr absolut, wie Peter Szondi in seiner »Theorie des modernen Dramas« behauptet. Diese Bewegung von einem absoluten zu einem relationalen Drama lässt sich anhand einer historischen Betrachtung der Entwicklung des Theaters seit dem Aufkommen des Films zurückverfolgen. Dieser Zeitpunkt ist einerseits für die eingenommene intermediale Perspektive von äußerst hohem Stellenwert, andererseits setzt nach Peter Szondi zu dieser Zeit auch die Krise des Dramas ein, die als ein erster relevanter Wendepunkt in Theater und Theaterforschung im Nachfolgenden skizziert werden soll. Die hier analysierten Theaterentwicklungen teilen mit den unter dem postdramatischen Paradigma zusammengefassten Theatertexten der Postmoderne, also hauptsächlich der späten siebziger und der achtziger Jahre, die Gemeinsamkeit, dass sie sich in Opposition zu den audiovisuel3

Gabriele Werner: »Wie gefährlich ist das Theater?«, in: Philologus (1991), H. 6, S. 258-264, hier S. 258.

4

Vgl. Nils Tabert: »Gespräch mit John von Düffel«, in: Ders. (Hg.), Playspotting 2. Neue deutsche Stücke, Reinbek: Rowohlt 2002, S. 249-264, hier S. 260f.

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4.1 KRISE DES DRAMAS (SZONDI) len Konkurrenzmedien Film und Fernsehen zu behaupten haben, wie eine Darstellung der für das Postdrama einschlägigen Arbeiten von Gerda Poschmann und Hans-Thies Lehmann zeigen wird. Einen dritten Wendepunkt hat Franziska Schößler in der Monographie »Augen-Blicke« beschrieben, die einerseits an Untersuchungen zum postdramatischen Theater anschließt, andererseits aber unter dem Label ›Soziale Geschichten‹ auch eine Entwicklung mit einschließt, die sich entschieden vom Postdrama absetzt. Dieser historische Exkurs erweist sich insofern als konstruktiv, als dass sich anhand der anscheinend verschiedenen dominanten Theaterformen des vergangenen Jahrhunderts der Einfluss des Konkurrenzmediums Film ablesen lässt, was durch die folgenden Ausführungen zur Intermedialität entsprechend berücksichtigt werden soll.

4.1 Krise des Dramas (Szondi) Wenn die historischen Voraussetzungen für das Theater der neunziger Jahre aus einer intermedialen Perspektive betrachtet werden, liegt es nahe an der Krise des Dramas anzusetzen, die Peter Szondi in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in seiner »Theorie des modernen Dramas (1880-1950)« untersucht hat. Zwar scheinen die Entwicklungen, welche Szondi in den Blick nimmt, weit entfernt vom Drama der 1990er; der zeitliche Abstand eines Jahrhunderts so groß, dass wesentliche Zusammenhänge beinahe unkenntlich werden. Doch setzt Szondis Studie nicht zufällig in den 1880er Jahren ein, die immerhin eine ganze Reihe technischer Errungenschaften hervorgebracht haben, die letzten Endes zur Einführung des Films und damit zu einer erzwungenen Wende auf dem Theater geführt haben.5 Szondi stimmt mit den oben aufgeführten Stimmen zum Theatergeschehen insofern überein, dass auch er das Drama bereits primär setzt und damit dem Drama eine Autonomie zuschreibt, die es

5

Vgl. hierzu das Kapitel zur Technikgeschichte von Margit Dorn in Werner Faulstichs Einführungsband: Margit Dorn: »Film«, in: Werner Faulstich (Hg.), Grundwissen Medien, 4. Auflage, München: Fink 2000, S. 201-220; sowie: Klaus Kreimeier: »Mediengeschichte des Films«, in: Helmut Schanze (Hg.), Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart: Kröner 2001, S. 425-454. Zu der technischen Entwicklung, die in der ersten öffentlichen Filmvorführung am 28. Dezember 1895 ihren Höhepunkt findet, vgl. ebenfalls: Rudolf Schnell: »Medienästhetik«, in: Helmut Schanze (Hg.), Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart: Kröner 2001, S. 72-95, hier S. 80ff.

65

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE aus allen Kontexten loslöst: Das Drama kenne »nichts außer sich selbst.«6 Somit steht das Drama nicht mehr in einem Repräsentationsverhältnis zur Wirklichkeit: »Es ist nicht die (sekundäre) Darstellung von etwas (Primärem),« wie Szondi extra betont, »sondern stellt sich selber dar, ist es selbst.«7 Da es selbst primär ist, dominiert in seiner Zeitkonzeption auch ausschließlich die Zeit auf der Bühne, in der Erzählzeit und erzählte Zeit kongruent sind: Die Zeit des Dramas »ist je die Gegenwart.«8 Die Konzentration auf Gegenwärtiges lässt eine Funktion des Theaters brach liegen, die seit seiner Entwicklung vom religiösen Ritus an untrennbar mit dem Drama verbunden gewesen ist und seinen Stellenwert für das kulturelle Gedächtnis ausmacht: die Weitergabe von Wissen, an der das Theater als Ort des Ritus im Sinne einer »Überlieferungs- und Vergegenwärtigungsform des kulturellen Sinnes« teilhat.9 Wenn Szondis Dramenverständnis mitunter als präskriptiver Versuch der Normierung aufgefasst und kritisiert worden ist,10 so liegt das daran, dass Szondi eine um die Jahrhundertwende etablierte Vorstellung von Drama, die sich mit den normativen Vorstellungen eines Gustav Freytag deckt, als Schablone an moderne Theaterphänomene legt. Szondi möchte seine Untersuchung zwar deskriptiv verstanden wissen, sorgt jedoch mit seiner Beschreibungsweise, die sämtliche Untersuchungsgegenstände an normativen Vorstellungen misst, selbst für Irritationen.11 Unter dieses zur Beschreibung herangezogene Dramenverständnis fallen also weder offene Formen des Dramas wie z.B. die griechische Tragödie oder Historienstücke, noch lassen sich die Szondi zeitlich nachfolgenden

6

Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), Frankfurt/Main:

7

Ebd., S. 16.

8

Vgl. ebd., S. 17.

9

Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische

10

Vgl. G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 21.

11

In seinem »Statt eines Schlusswortes« überschriebenen Resümee bezieht

Suhrkamp 1963, S. 15.

Identität in frühen Hochkulturen, 4. Auflage, Beck: München 2002, S. 21.

Szondi hierzu deutlich Stellung, indem er die eigene Studie als deskriptive Untersuchung charakterisiert: »Vorzuschreiben, was modernes Drama zu sein hat, steht seiner Theorie ohnehin nicht zu. Fällig ist bloß die Einsicht in das Geschaffene, der Versuch seiner theoretischen Formulierung.« [P. Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 162.] Als Beispiele für das Geschaffene, das es zu untersuchen gilt, wählt Szondi die Werke Ibsens, Tschechows, Strindbergs, Maeterlincks und Hauptmanns.

66

4.1 KRISE DES DRAMAS (SZONDI) Formen des Theaters darunter verstehen,12 da das Drama nach Szondi »das Zitat sowenig wie die Variation«13 kenne, womit zwei wesentliche Muster postmoderner Textproduktion ausgeschlossen werden. Mit dem Festhalten an der Vorstellung eines absoluten Dramas hat Szondi ein Theater vor Augen, das den eigenen Medienstatus vergessen lassen soll, wenn es den Zuschauern nicht als Dargestelltes im Sinne des brechtschen Zeigens, sondern als autonomes Kunstwerk mit Anspruch auf Wahrhaftigkeit begegnen soll. Die Krise, in die ein solches Theater seit der Jahrhundertwende geraten musste, lässt sich mit dem zeitlichen Abstand eines weiteren Jahrhunderts und unter Berücksichtigung der in dieser Zeit mit neuen Medien und deren Auswirkungen gemachten Erfahrungen leicht erklären. Für technische Erneuerungen im Allgemeinen gilt nach Neil Postman: »Technology always has unforeseen consequences, and it is not always clear, at the beginning, who will or what will win, and who or what will lose.«14 Wenn auch nicht voraussehbar ist, welche Gewinner und welche Verlierer das Aufkommen einer neuen Technologie mit sich bringen wird, so ist doch zumindest gewiss, dass es zu starken Veränderungen für bis dato etablierte Technologien kommen wird. So beendete beispielsweise die Fotografie jene Strömungen in der Malerei, die auf eine realistische Nachahmung der Wirklichkeit abzielten. Hinweise auf den Zusammenhang zwischen Fotografie und Abstraktionstendenzen in der Malerei, die in Impressionismus, Expressionismus und Surrealismus offen zutage treten, finden sich sowohl bei Hans-Thies Lehmann15 als auch bei Gerda Poschmann,16 was die Bedeutung dieses mediengeschichtlichen Exkurses für das so genannte Postdrama nachdrücklich veranschaulicht. Denn eines verdeutlicht der Seitenblick auf die Geschichte der Malerei: Wenn ein neues Medium aufkommt, werden die bisherigen Medien selbstreflexiv und stellen die Frage nach den eigenen Schwächen und Stärken. Vor diesem Hintergrund gewinnt insbesondere der Film an

12

Vgl. ebd., S. 13.

13

Ebd., S. 17.

14

Neil Postman: Informing Ourselves to Death. Speech in front of the German Informatics Society, Stuttgart. 11.10.1990, http://world.std.com/~jimf/in forming.html vom 15.03.2009.

15

Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Ein Essay, Frankfurt/Main:

16

G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 24.

Verlag der Autoren 2001, S. 82.

67

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Relevanz für die Entwicklung des Theaters,17 wie Poschmann u.a. betont hat: »Gerade angesichts der Konkurrenz, die dem dramatischen Theater als audiovisueller Darstellung von Fiktion in Form des ebenfalls szenisch repräsentierenden und fiktionalen Medium des Films erwächst, erscheint gerade die Parallele zur Malerei interessant, deren Abstraktionstendenzen auch als Resultat ihrer Befreiung von der Abbildungsfunktion durch die Verbreitung der Photographie zu verstehen sind.«18

In Anbetracht der signifikanten Konkurrenz zwischen den Medien Theater und Film, auf die hier aufmerksam gemacht wird, kann der Beginn einer solchen Phase der Selbstreflexion für das Theater in der Folge der ersten Filmvorführung angenommen werden.19 Ganz plötzlich steht das Theater in direkter Konkurrenz zu einer neuen Darstellungsform, die seine »bis dato ureigenste Domäne«,20 die Lehmann in der »bewegte[n] Abbildung handelnder Menschen«21 ausmacht, dank eines technischen Vorsprungs entgegen aller Rettungsversuche des Theaters usurpieren konnte. An genau diesem Moment setzt – aus heutiger Warte deutlich erkennbar – der mediengeschichtliche Einschnitt ein, den Szondi als »Krise des Dramas« bezeichnet. Beim Versuch, sich durch Besinnung auf die eigenen Stärken in der Konkurrenzsituation zu behaupten, tritt das Drama in die erwähnte Phase der Selbstreflexion ein. Was Szondi in seiner »Theorie des modernen Dramas« als jeweils verschiedene Lösungsversuche beschreibt, sind jeweils unterschiedliche Strategien des alten Mediums Theater, die darauf abzielen, den eigenen Fortbestand in Ko-Existenz zum neuen Medium Film zu gewährleisten. Aufgrund der technischen Überlegenheit des Films konnte es kaum Zweifel daran geben, dass das Drama in seiner traditionellen Form nicht würde fortbestehen können. In dieser Situation befand 17

Für Lehmann sind Film und Fotografie im Verbund dafür verantwortlich, dass dem Theater seine eigene Spezifik hat bewusst werden können. Vgl. H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 160.

18

G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 24.

19

Die erste öffentliche Vorführung der Gebrüder Lumiere am 28.12.1895 in Paris gilt heute als Geburtsdatum des Films. Vgl. Meilensteine der Filmgeschichte, http://www.kunstwissen.de/fach/f-kuns/film/01.htm vom 15.03. 2009; vgl. ebenfalls: M. Dorn: Film, S. 204. Vgl. ebenfalls: R. Schnell: Medienästhetik, S. 80ff.

20

H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 81.

21

Ebd.

68

4.1 KRISE DES DRAMAS (SZONDI) sich das Theater unter Zugzwang; es musste sich transformieren, um zu überleben. So zielen auch die Lösungsversuche, auf die Szondi exemplarisch eingeht, darauf ab, neue Formen des Theaters zu erschließen. Anhand von Thornton Wilder und Arthur Miller zeigt Szondi auf, wie der ursprünglich romanhafte Aspekt der Zeit für das Theater aufbereitet wird. In »Our Town« (1938) etabliert Wilder die Figur des stage managers, die analog zum prosaischen Erzähler allwissend über der Handlung steht und Zeitsprünge ermöglicht. In Arthur Millers »Death of a Salesman« (1949) wird mit den erinnerten Szenen eine Erzählform des eigentlichen Konkurrenten, des Films, adaptiert: die Flashback-Technik. Auch durch die vor dem Haus angelegte Bühne von Willy Lomans innerer Imagination erfährt das Drama eine Episierung. Diese Erzähldimension gleicht den epischen Neuerungen des modernen Romans, der seine Figuren psychologisiert und auf Erzählformen wie den inneren Monolog zurückgreift. Am allerdeutlichsten wird der Rettungsversuch in Form einer Episierung dramatischer Dichtung freilich in Brechts epischem Theater umgesetzt. Betrachtet man alle von Szondi aufgeführten Lösungsversuche, ist Bertolt Brecht wohl auch derjenige, der am meisten Einfluss sowohl auf nachfolgende Dramatikergenerationen als auch auf die Theorie des Dramas ausgeübt hat. Deshalb soll im Folgenden ausgeführt werden, inwieweit sich das epische Theater nach Szondi von einer normativen Dramenpoetik abhebt. Brechts hauptsächliches Anliegen ist die Aufhebung der Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum, denn nur so erhofft er sich eine Aktivierung der Zuschauer und eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Für Brecht ist Theater daher niemals absolut, wie es Szondi für das konventionelle Drama festhält, sondern stets in Relation zur sozialen und politischen Wirklichkeit zu sehen. Damit die Zuschauer ihre Energie nicht im Theater lassen, besteht das oberste Gebot für episch konzipiertes Theater darin, eine Affektreinigung im kathartischen Sinne zu vermeiden. Zu diesem Zweck formuliert Brecht die berühmten Akzentverschiebungen von der dramatischen zur epischen Form des Theaters, die innerhalb eines Mitteilungsvorgangs »das gefühlsmäßig Suggestive«22 durch das »rein rationell Überredende«23 ersetzen sollen. Damit der Zuschauer der Suggestion eines dramatischen Theaters entzogen wird, muss er in eine Distanz zum Bühnengeschehen versetzt werden, was mittels einer größtmöglichen Verfremdung erreicht werden soll. Die hierzu 22

B. Brecht: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1957, S. 19.

23

Ebd.

69

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE eingesetzten Verfremdungseffekte zielen u.a. darauf ab, deutlich zu machen, dass die Person auf der Bühne ein Schauspieler ist, der etwas darstellt. Der Zeigende soll gezeigt werden,24 was die Zerstörung einer nach Szondis Dramenverständnis unantastbaren Einheit impliziert. Während Szondi betont, dass »[d]ie Relation Schauspieler – Rolle […] keineswegs sichtbar sein« [darf], fordert Brecht gerade das Heraustreten der Schauspieler aus der Rolle. »Schauspieler und Dramengestalt«25 dürfen sich für Brecht nicht wie von Szondi beschrieben, »zum dramatischen Menschen vereinen.«26 Für die Germanistik als Textwissenschaft ist es wichtig, dass viele der von Brecht geforderten und eingesetzten Verfremdungsverfahren sich gar nicht im Text selbst finden lassen. Beim Ausderrolletreten verfremden die Schauspieler durch ungewöhnliche Sprechweisen, durch Bewegungen etc. Das Instrument der Verfremdung ist damit nicht der Text, sondern die Inszenierungspraxis. Andere Verfremdungen manifestieren sich hingegen direkt im Text, wenn beispielsweise die Schauspieler die Zuschauer direkt ansprechen. Brecht will auf diese Weise überwinden, was Szondi für selbstverständlich hält: »Das Verhältnis Zuschauer-Drama kennt nur vollkommene Trennung und vollkommene Identität, nicht aber Eindringen des Zuschauers ins Drama oder Angesprochenwerden des Zuschauers durch das Drama.«27

Wie zügig und wie konsequent Brechts Ideen rezipiert worden sind, lässt sich mit Leichtigkeit an diesem Punkt festmachen. Bald schon sollte es für das Drama durchaus normal gewesen sein, dass die Grenze zwischen Bühnengeschehen und Theatron aufgehoben wird. Es entwickelte sich ein regelrechtes Spiel um dieses Verhältnis. 1969 reichte es bereits nicht mehr, das Publikum anzusprechen, um einen entsprechenden Effekt zu erzielen. In Richard Schechners Theaterperformance »Dionysius in 69«, die größtenteils auf »Die Bakchen« des Euripides zurückgeht, wurden die Zuschauer z.B. da-

24

Vgl. hierzu: Bertolt Brecht: »Die Straßenszene. Grundmodell einer Szene des epischen Theaters«, in: Ders.: Schriften zum Theater. Über eine nichtaristotelische Dramatik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1957, S. 90-105.

25

P. Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 16.

26

Ebd.

27

Ebd.

70

4.2 THEATER IN DER POSTMODERNE (POSCHMANN/LEHMANN) zu aufgefordert, mit den Schauspielern in körperlichen Kontakt zu treten und Liebkosungen auszutauschen.28 Diese exemplarisch ausgewählten Merkmale des epischen Theaters sollen an dieser Stelle genügen. Im späteren Verlauf der Arbeit wird im Zusammenhang mit Lars von Triers Film »Dogville« (siehe Kapitel 6.1) nochmals im Detail auf Brechts Theaterkonzeption eingegangen. Die Veränderungen im Verhältnis Schauspieler und Rolle sowie Drama und Zuschauer sind hier jedoch bemerkenswert, da sie den Weg vorzeichnen, den das Drama nach der von Szondi beschriebenen Krise gegangen ist. Die Zielrichtung dieses Weges ist das Postdrama, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.

4.2 Theat er in der Po st mo derne (Poschmann/Lehmann) Zwischen Szondis »Theorie des modernen Dramas« und Hans-Thies Lehmanns »Postdramatisches Theater« liegen annähernd vierzig Jahre; zwischen den Gegenständen ihrer Untersuchungen teilweise doppelt so viele. Szondi untersucht das Drama im Untersuchungszeitraum von 1880-1950, Lehmann widmet sich Theatertexten aus den siebziger, achtziger und neunziger Jahren. Angesichts der unterschiedlichen Ausgangsposition überrascht es außerordentlich, dass beide Untersuchungen zum Teil identische Befunde hervorbringen. Auch bei den von Lehmann beschriebenen Entwicklungen wird mitunter von einer Krise des dramatischen Textes gesprochen.29 Einen starken Anschluss an Szondi stellt hierbei auch Lehmanns Unterteilung der Theatergeschichte in drei Phasen dar.30 Ebenso wie Peter Szondi trennt Lehmann die griechische Tragödie der Antike von dem ab, was nach seinem Verständnis als Drama zu bezeichnen ist. Bei Szondi ist das entscheidende Kriterium, dass das Drama absolut und damit primär zu sein habe. Da die griechische Tragödie den Mythos verhandelt, stellt sie eine sekundäre Darstellung von etwas Ursprünglichem dar. »Die athenischen Zuschauer kannten den Mythos,« so merkt Szondi bezüglich des sophokleischen »König Ödipus« an, »er musste ihnen nicht vorgeführt wer-

28

Vgl. hierzu: Richard Schechner: »Dionysus in 69«, in: Educational Theatre Journal 22 (1970), H. 4, S. 432-436.

29

Vgl. M. Bönninghausen: Intermediale Kompetenz, S. 65.

30

Auf diese Phasen (Prädrama, Drama, Postdrama) wird weiter unten ausführlich eingegangen.

71

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE den.«31 In dieser Hinsicht hat das Publikum einen Wissensvorsprung gegenüber den Figuren auf der Bühne; es kennt den Mythos bereits. Und da die antike Tragödie eben durch derartige Bezüge zur Mythologie auf die Außenwelt verweist, verliert sie ihren Absolutheitsanspruch. Das ist der Grund, weshalb sowohl Szondi als auch Lehmann die antike Tragödie nicht dem Drama zurechnen. Lehmann führt speziell für diese erste Form der Bühnendichtung den Begriff ›Prädrama‹ ein, wie Achim Geisenhanslüke in seinen Anmerkungen zum zeitgenössischen Theater betont: »Lehmann zufolge nennt das prädramatische Theater das antike Schauspiel in seiner Auseinandersetzung mit dem Mythos, das postdramatische Theater dagegen eine neue Diskursform, die die Grenzen von Theater, Tanz und Performance aufhebt.«32

Während das Prädrama aufgrund seiner Verbindung zum Mythos keinen Anspruch auf Absolutheit erheben kann, verspielt das Postdrama diesen Anspruch durch ein postmodernes Spiel mit Zeichen und Bedeutungen, das auf eine Enthierarchisierung der Theatermittel hinausläuft.33 Vor allem der Verzicht auf eine Handlung hebt das Postdrama vom Bereich des Dramas ab. Zwischen Prä- und Postdrama liegen bei Lehmann solche Dramen, die den Kriterien Absolutheit und Geschlossenheit auf ganzer Linie gerecht werden. Der Anschaulichkeit halber ordnet Lehmann seinen Theaterkategorien an einer Stelle beispielhaft verschiedene Theaterformen zu: »Antike Tragödie, Racines Dramen und Robert Wilsons visuelle Dramaturgie sind Formen des Theaters. Man kann aber sagen, daß die erstere, legt man das neuzeitliche Verständnis von Drama zugrunde, »prädramatisch« ist, Racines Stücke fraglos dramatisches Theater sind und Wilsons »operas« postdramatisch heißen müssen.«34

31

P. Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 23.

32

Achim Geisenhanslüke: »Körper-Familie-Gewalt. Bemerkungen zum zeitgenössischen Theater am Beispiel von Dea Loher und Marius von Mayenburg«, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. Zeitgenössisches Theater und Unterricht (2001), H. 3, S. 394-405, hier S. 396.

33

Vgl. hierzu: H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 146. Wie eine solche Enthierarchisierung aussehen kann und welcher Stellenwert dann den vom Signifikantendienst befreiten Elementen Zeit, Raum und Körper zukommt, wird in Kapitel 6.2.2 am Beispiel von »Kill Bill« veranschaulicht.

34

Ebd., S. 49.

72

4.2 THEATER IN DER POSTMODERNE (POSCHMANN/LEHMANN) In Robert Wilsons visueller Dramaturgie, die an dieser Stelle als Beispiel für postdramatisches Theater angeführt wird, lässt sich beobachten, wie das Theater zu den eigenen Wurzeln zurückkehrt, denn hier wird die dramatische Handlung »durch Zeremonie [ersetzt], mit der die dramatisch-kultische Handlung in ihren Anfängen einst untrennbar verschwistert war.«35 Für dieses zeremonielle Theater stellt der Text nur noch ein Element unter vielen dar, vor allem ist er nicht mehr dominant. Die Emanzipation des Theaters vom Text, die postdramatisches Theater kennzeichnet, fokussiert den Inszenierungsaspekt von Theatertexten, der seit Brecht bereits verstärkt in den Vordergrund rückt. So hat einerseits Brecht selbst der Aufführung in seinen Schriften zum Theater viel Aufmerksamkeit gewidmet. Andererseits zeigt die Brechtrezeption, dass eine isolierte Betrachtung der Theatertexte nicht ausreichend ist, da sich die »eigentliche Überzeugungskraft seiner Stücke […] [nicht] von der Bildersprache seiner eigenen Inszenierungen […] trennen«36 lässt, wenn man dem Brechtbewunderer Peter Brook Glauben schenkt. Aufgrund der beobachtbaren Abwertung des Textes im postdramatischen Theater zugunsten von aufführungsspezifischen Komponenten bescheinigt Gerda Poschmann dem Theater eine Tendenz zur »Entliterarisierung«.37 Dies äußert sich ihr zufolge darin, dass aktuelles Theater nicht nur unabhängig von Handlung, sondern auch von Texten sei. Ihren Untersuchungsgegenstand nennt sie aber dennoch »Der nicht mehr dramatische Theatertext«.38 Problematisch wird Poschmanns Verständnis des nicht mehr dramatischen Theatertextes, da das Theater dieser Gestalt von einer traditionellen dramatischen Form abgegrenzt wird, die »nur in den wenigsten Fällen wirklich problemlos«39 verwendet wird, wie Poschmann selbst eingesteht. Zumeist werde die traditionelle dramatische Form »umfunktioniert oder von innen heraus dekonstruiert«,40 was genau genommen wiederum dem postdramatischen Theater gleichen würde. Verfolgt man diesen Einwand, ergibt sich ein wesentlicher Kritikpunkt: wenn selbst die dramatische Form als scheinbarer Gegenpart zum nicht mehr dramatischen Theatertext auf eine selbstreflexive Bewusstmachung seiner eigenen Unangemessenheit 35

Ebd., S. 115f.

36

Peter Brook: Der leere Raum, 8. Auflage, Berlin: Alexander Verlag 2004, S. 62.

37

G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 21.

38

So der Titel ihrer Untersuchung.

39

G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 56.

40

Ebd.

73

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE und auf eine Dekonstruktion von Theaterkonvention hin angelegt ist und damit postdramatische Züge trägt, wäre das Kriterium ›Postdrama‹ nicht länger in der Lage, zwischen verschiedenen Theatertexten zu unterscheiden, sondern würde zwangsläufig ein Merkmal von Theatralität schlechthin darstellen. Wenn eigentlich alles Theater der Gegenwart postdramatisch wäre, müsste die Unterscheidung ›dramatisch‹ – ›nicht mehr dramatisch‹ jede Trennschärfe einbüßen. Unter Berücksichtigung intermedialer Aspekte bei der Abgrenzung einer traditionellen dramatischen Form wird zudem deutlich, dass Poschmanns Aussage nur eine bedingte Aussagekraft zukommt. Eine Erweiterung des Untersuchungsfokus über die Grenzen des Theaters hinaus kann nämlich ohne Schwierigkeiten verdeutlichen, dass es durchaus auch heutzutage noch zu einer unproblematischen Nutzung der dramatischen Form kommt; wenn auch nicht im Theater, sondern in seinem Konkurrenzmedium Film. In Hollywood weiß man einen klaren dramatischen Aufbau, wie von Gustav Freytag beschrieben, noch zu würdigen. Zudem dominiert im Film zumeist die geschlossene Form. Im späteren Verlauf soll an diesem Punkt erneut angesetzt werden, wenn es um theatrale Einflüsse auf das Kino geht. Im Kapitel zu Quentin Tarantinos »Kill Bill« beispielsweise stellt die dramatische Form einen wichtigen Bezugspunkt dar, da für Tarantinos Werk insgesamt die Konkurrenz zu anderen Medien mit Repräsentationsanspruch von Bedeutung ist. Dies verrät bereits Aufbau seines Erstlings »Reservoir Dogs« (USA 1992, R: Quentin Tarantino), da das, »was sich in der Lagerhalle abspielt, einem fürs Theater geschriebenen Dreiakter vergleichbar«41 ist. Jenseits möglicher Einwände aus der Warte einer intermedialen Theaterforschung stellen die relevanten Studien zum postdramatischen Theater einen signifikanten Fortschritt für die Literaturwissenschaft dar, ermöglichen sie doch die wissenschaftliche Erfassung theatraler Entwicklungen, die zuvor zwar existent, aufgrund mangelnder Klassifikationen und Terminologie jedoch kaum erfassbar gewesen sind. Im Anschluss an Lehmann und Poschmann lassen sich einige markante Merkmale des Postdramatischen festhalten: Während das Drama »unter der Vorherrschaft des Textes«42 steht, löst sich postdramatisches Theater vom Text und erschließt einen neuen Raum zwischen Tanz, Performance und Ausdruck im 41

Robert Fischer/Peter Körte/Georg Seeßlen: Quentin Tarantino, Berlin: Bertz

42

H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 21.

+ Fischer 2004, S. 88.

74

4.2 THEATER IN DER POSTMODERNE (POSCHMANN/LEHMANN) herkömmlichen Schauspiel. Demzufolge kann gesagt werden, dass Theatralität gerade aus der plurimedialen Beschaffenheit des Mediums gewonnen wird, die das Theater von jeher kennzeichnet. Dieses Abhängigkeitsverhältnis hebt Lehmann besonders hervor: »Insofern heißt postdramatisches Theater erneut und erst recht nicht: ein Theater, das beziehungslos »jenseits« des Dramas steht. Es kann vielmehr begriffen werden als Entfaltung und Blüte eines Potentials des Zerfalls, der Demontage und Dekonstruktion im Drama selbst.«43

Die traditionelle dramatische Form, die sich nach Poschmann wie oben erwähnt auf dem Theater nicht mehr finden lässt, verortet Lehmann auf der Empfängerseite der theatralischen Kommunikation. Einzig über den Zuschauerraum, so Lehmann, dringe das Dramatische noch in das Postdrama ein: »›Nach‹ dem Drama heißt, daß es als – wie immer geschwächte, abgewirtschaftete – Struktur des »normalen« Theaters fortlebt: als Erwartung großer Teile seines Publikums, als Grundlage vieler seiner Darstellungsweisen, als quasi automatisch funktionierende Norm seiner Drama-turgie.«44

Die Erwartung des Publikums an Theater zu stören, mit ihr zu spielen, sie durch Enttäuschung offen zu legen – dies alles gehört zu den Aufgaben des Postdramatischen Theaters. Von daher ist das Postdrama, wenn es sich auch entschieden als post-brechtsches Theater versteht,45 ein Theater der Grenzüberschreitung, das in einem stetigen Spiel um Erwartungsaufbau und -enttäuschung mit seinem Publikum verbunden ist, wodurch es zur Herbeiführung einer brechtschen Aktivierung des Theatrons kommt, wenn auch in transformierter Form. Die Distanzierung vom epischen Theater speist sich aus Lehmanns Einschätzung, dass Brechts Erneuerungen vor dem Hintergrund neuerer Entwicklungen der Dramentheorie eben »nicht mehr einseitig als revolutionärer Gegenentwurf zum Überkommenen verstanden werden«46 könnten, wie der von Brecht gewählte Untertitel seiner Schriften zum Theater (»Über eine nichtaristotelische Dramatik«) nahe legt. Da Brechts Theater ebenso wie vorangegangene normative Poetiken bis hin zu Aristoteles an der Fabel als Seele des Theaters festhält, sei das epische Theater entge-

43

Ebd., S. 68.

44

Ebd., S. 30.

45

Vgl. ebd., S. 48.

46

Ebd.

75

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE gen seinem Selbstverständnis »eine Erneuerung und Vollendung der klassischen Dramaturgie«.47 Von einer tatsächlichen Überwindung aristotelischer Grundmuster könne hingegen erst beim postdramatischen Theater die Rede sein, da erst hier die gattungsspezifische Konzentration auf Handlung/Fabel/Mythos überwunden werde. Indem im postdramatischen Theater »Theatermittel jenseits der Sprache in Gleichberechtigung mit dem Text stehen und systematisch auch ohne ihn denkbar werden«,48 wird erst der wirkliche Bruch in der Theatergeschichte herbeigeführt: erst das Postdrama sagt sich von der »Präsentation eines fiktiven und fingierten Text-Kosmos als Dominante«49 los. Dass sich hinter dieser kräftigen These auch die Absicht verbirgt, das Postdramatische zum paradigmatischen Wendepunkt zu erheben und somit die eigene Forschungsarbeit bestmöglich zu platzieren, muss nicht extra betont werden. Aus der bislang verfolgten historischen Perspektive auf dramatische Entwicklungen seit der Erfindung des Films lassen sich die Erneuerungen im postdramatischen Theater als logische Konsequenzen wahrnehmen. Im Zuge der Selbstreflexion, zu der das Theater durch die Konkurrenz des Films angeregt worden ist, sind ehemals unhinterfragte Ziele wie die Schaffung einer Illusion auf der Bühne problematisch geworden. Wie schon das epische Theater wendet sich auch das Postdrama vom herkömmlichen Illusionstheater ab und setzt stattdessen auf »die Realität des Theaters«50 und hierbei insbesondere auf die »des Akteurs, [dessen] Körper [und] Ausstrahlung […] anstelle der illusionierten Sache in den Vordergrund [treten]. Illusion soll zerbrochen, Theater als Theater kenntlich werden.«F51F So kommt es zu einer Akzentverschiebung, die den »Körper selbst und den Vorgang seiner Betrachtung zum theaterästhetischen Objekt«52 macht. Was für den Körper der Schauspieler gilt, trifft ebenso auf alle anderen Theatermittel zu. Körper, Stimme, Sprache, Raum, Zeit – sie alle »verweiger[n] den Signifikantendienst.«53 In diesem Zuge wird das Interesse vom Repräsentierten auf die nunmehr uneindeutig gewordenen Signifikanten und »auf die kognitiven Mechanismen, die im Betrachter wirken, wenn er versucht, die Signifikanten zu Zei47

Ebd.

48

Ebd., S. 89.

49

Ebd.

50

Ebd., S. 186.

51

Ebd.

52

Ebd., S. 366.

53

Ebd., S. 163.

76

4.2 THEATER IN DER POSTMODERNE (POSCHMANN/LEHMANN) chen zu ergänzen«54 gelenkt. Die Stimme wirkt als Klang, der Körper in seiner Bewegung, Zeit und Raum dadurch, dass sie durch verfremdete Verfahren überhaupt erst als solche wahrgenommen werden müssen. Somit ließe sich »ihr Sosein, ihr Betrachtetwerden, der Schock der Begegnung mit ihrer Physis selbst ist, wenn man das noch so nennen will, [als] ihr ›Sinn‹«55 ausmachen. Die Zeichen fungieren quasi auto-deiktisch, ihre Funktion als Zeigende und Bezeichnende selbst wird zum Thema.56 Wichtig ist bei dieser umfassenden Enthierarchisierung, »dass die einzelnen Zeichenebenen nicht mehr im Hinblick auf eine eindeutige Lesbarkeit hin synthetisiert werden,«57 Signifikat und Signifikant also nicht mehr klar zugeordnet werden können, »sondern in ihrer Überlagerung polyvalente Assoziationen hervorrufen, die sich einer kohärenten Interpretation verweigern«.58 Die einzelnen Theaterzeichen lassen sich demnach kaum mehr als Zeichen verstehen, werden sie doch »in gleicher Weise weitgehend desemantisiert und in ihrer Funktion als Zeichen dekonstruiert«.59 Indem sämtliche Theatermittel diese selbstreferentielle Wende vollziehen, werden die Zuschauer in ihrer Erwartung einer Bedeutungsvermittlung enttäuscht, zugleich jedoch auch zu einem eigenständigen Prozess der Bedeutungskonstitution angeregt. Somit wird eine Aktivierung der Zuschauer provoziert, die durchaus mit den Zielen des epischen Theaters in Einklang zu bringen ist; allerdings mit dem Unterschied, dass die Aktivierung im postdramatischen Theater keine politische ist, die auf gesellschaftliche Ziele angelegt ist, sondern einen ästhetischen Charakter hat. Im postdramatischen Theater führen simultan dargebotene Theaterzeichen, die je-

54

G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 27.

55

Hans-Thies Lehmann: »Die Gegenwart des Theaters«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin: Theater der Zeit 1999, S. 13-26, hier S. 17f.

56 57

Vgl. ebd. Frieder Schülein/Michael Zimmermann: »Spiel- und theaterpädagogische Ansätze«, in: Klaus-Michael Bogdal/Hermann Korte (Hg.), Grundzüge der Literaturdidaktik, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2002, S. 258271, hier S. 266f.

58 59

Ebd. Erika Fischer-Lichte: »Die semiotische Differenz: Körper und Sprache auf dem Theater – Von der Avantgarde zur Postmoderne«, in: Herta Schmid/Jurij Striedter (Hg.), Dramatische und theatralische Kommunikation. Beiträge zur Geschichte und Theorie des Dramas und Theaters im 20. Jahrhundert, Tübingen: Narr 1992, S. 123-140, hier S. 136.

77

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE des für sich schon nicht mehr zu einer Vermittlung von Sinn beitragen, zu einer Bewusstmachung der eigenen Wahrnehmungs- und Kognitionsschritte. Die Zuschauer führen ›Blickregie‹, sie sehen sich einer »›Gleichgültigkeit‹ sämtlicher Eindrücke«60 gegenüber und müssen daher permanent aus einer Vielzahl wahrnehmbarer Reize auswählen. Diese Situation bezeichnet Lehmann als einen systematischen Double-Bind, bei dem man »zugleich auf das konkrete Einzelne aufmerken und das Ganze wahrnehmen«61 soll. Letzten Endes konstruieren die Zuschauer auf diese Art ihre eigene Vorstellung. Als Resultat wird dem Einzelnen so das Ausschnitthafte der eigenen Wahrnehmung vor Augen, Ohren und (manchmal auch) Nase geführt, so dass das Publikum am Ende ebenso ratlos dasteht wie die Zuschauer des epischen Theaters. Was für das Drama als Absolutes gilt, nämlich dass es ein Ende haben muss, das »für das Ende schlechthin einstehen kann und nicht weiter fragen läßt«,62 lässt sich nicht mehr auf die Zuschauer im epischen und postdramatischen Theater übertragen. Zwar gibt es heutzutage den klassischen Vorhang nur noch höchst selten, dennoch bleiben für gewöhnlich alle Fragen offen, wenn das Geschehen auf der Bühne ein Ende findet. In Analogie zu Bertolt Brechts tabellarischer Übersicht der Neuerungen im epischen Theater lassen sich auch die wesentlichen Merkmale des postdramatischen Theaters in Abgrenzung von der traditionell dramatischen Form erfassen (siehe Tabelle 1). Ein tieferer Einblick in die einzelnen Merkmale wird in den Kapiteln 6.2.2 und 8. geliefert, die sich mit postdramatischen Anleihen in Quentin Tarantinos Film »Kill Bill« und mit den innovativen Theaterreaktionen auf die Konkurrenz durch den Film beschäftigen. Dramatische Form des Theaters Handlung

Postdramatische Form des Theaters Abkehr von klassischer Handlung (mythos)

darstellend Illusion (Bretter, die die Welt bedeuten) Produkt, Werk Dramatische Repräsentation

selbstreflexiv Theater kenntlich als Theater Prozess Präsens/Präsenz, Eigentlichkeit

60

F. Schößler: Augen-Blicke, S. 16.

61

H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 150.

62

P. Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 72f.

78

4.2 THEATER IN DER POSTMODERNE (POSCHMANN/LEHMANN) Dialog

Monolog, Polylogue, Vielstimmigkeit, Chor

Texte für die Bühne

Wechselseitige Störung von Text und Inszenierung

Mimesis Logos

Performanz Enthierarchisierte Theatermittel: Körper, Stimme, Raum, Zeit Sinnlichkeit Zuschauer werden aktiv, konstruieren ihre eigene Vorstellung, sind Mit-Akteure, führen ›Blickregie‹, erlangen durch die Simultaneität der Theaterzeichen ein Bewusstsein über die Grenzen der eigenen Wahrnehmung

Sinn Zuschauer konsumiert das Präsentierte auf der dramatischen »Fiktionsbühne«

Tabelle 1: Neuerungen im postdramatischen Theater In Anbetracht dieser Eigenschaften kann es kaum verwundern, dass diese Form des Theaters ohne Text, ohne Handlung und ohne Figuren, die »häufig im Grenzbereich zwischen Theater und bildender Kunst experimentiert«,63 mit einem elitären Kunst- und Kulturverständnis einhergeht. Texte wie Heiner Müllers »Bildbeschreibung« sind in Prosa verfasste Theatertexte weisen keine Figuren und auch keine direkte Rede auf.64 Was gerade diesen Text von der dramatischen Form des Theaters absetzt, ist die groß angelegte Offenheit des Textes. In einer Fußnote am Ende des Texts unternimmt der Autor selbst den Versuch, eine Leseanweisung für das aus nur einem Satz bestehende Stück zu liefern: »Bildbeschreibung kann als eine Übermalung der ALKESTIS gelesen werden, die das No-Spiel KUMASAKA, den 11. Gesang der ODYSSEE, Hitchcocks VÖGEL und Shakespeares STURM zitiert. Der Text beschreibt eine Landschaft jenseits des

63

G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 21.

64

Vor allem wegen solcher Texte wie »Bildbeschreibung« führt Lehmann den Dramatiker Heiner Müller in der Liste jener deutschsprachigen Autoren, »deren Werk mindestens teilweise dem postdramatischen Paradigma verwandt sind«. Die berühmtesten Vertreter des postdramatischen Theaters nähern sich dem Theater allerdings eher von Seiten der Musik oder des Tanzes. Hier sind Robert Wilson, Jan Fabre, Peter Brook oder auch Pina Bausch die berühmtesten Beispiele. Vgl. H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 24f.

79

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Todes. Die Handlung ist beliebig, da die Folgen Vergangenheit sind, Explosion einer Erinnerung in einer abgestorbenen dramatischen Struktur.«65

Der wesentliche Unterschied zu solchen Stücken, die noch dem Modell des dramatischen Theaters zuzurechnen sind, aber dennoch einzelne Techniken des Postdramas einsetzen, liegt in der Beliebigkeit der Handlung. »Postdrama« kann also verstanden werden als ein Theater, das die für das Drama verpflichtende Kategorie der Handlung vollständig überwunden hat. Dies kommt dem Tod der dramatischen Struktur gleich, den Müller als Formprinzip anführt. Während es für Szondi ein gegebenes Faktum war, dass das Drama »das Zitat sowenig wie die Variation«66 kenne, setzt Müller ganz bewusst auf Zitate und gibt sogar die dazugehörigen Quellen an. So lässt sich festhalten, dass Heiner Müller als postmoderner Dramatiker den Rahmen eines geschlossenen Dramas durch Verweise auf andere Texte sprengt,67 was wiederum nur von einem Publikum erkannt und gewürdigt werden kann, dass die eingewobenen Zitatstrukturen (sofern die Inszenierung sie nicht ebenso wie der Text offen legt) erkennt. Derart hohe Anforderungen lassen sich freilich nur von einem überdurchschnittlich gebildeten Publikum erfüllen; die Kulturschaffenden und -interessierten bilden im postdramatischen Theater daher einen äußerst elitären Zirkel,68 was u.a. dazu führt, dass sich dieses intertextuelle Theater »jeglicher Einschaltquotenmentaltität«69 verweigert, die sich in einer »Verflachung des Sehens«70 und einem »Zustand verallgemeinerter Wahrnehmungsidiotie inmitten einer high tech Welt [sic]«71 äußert.

65

Heiner Müller: »Bildbeschreibung«, in: Ders.: Shakespeare Factory I. Berlin: Rotbuch 1985, S. 14.

66

P. Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 16f.

67

In »Germania Tod in Berlin« tritt beispielsweise mit dem alten Hilse eine Figur auf, die Gerhart Hauptmanns Stück »Die Weber« entnommen ist. Daneben steht mit der »roten Rosa« eine Person aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit, nämlich Rosa von Luxemburg. Vgl. hierzu Hans Mayer: Die unerwünschte Literatur. Deutsche Schriftsteller und Bücher 1968-1985, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 249.

68

In diesem Zusammenhang liest sich das Namedropping bedeutender Vertreter des postdramatischen Theaters, das sich bei Lehmann über mehr als eine Seite erstreckt, als eine Aufzählung möglicher Zugänge in diesen Zirkel. Vgl. H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 24f.

69

C. Kammler: Zeitgenössisches Theater und Unterricht, S. 382.

70

H.-T. Lehmann: Die Gegenwart des Theaters, S. 19.

71

Ebd.

80

4.2 THEATER IN DER POSTMODERNE (POSCHMANN/LEHMANN) Eine Aufzählung der für Theater- und Literaturwissenschaft im deutschsprachigen Raum gleichermaßen bedeutenden Vertreter des Postdramatischen fällt auch dem elitären Rezipientenkreis entsprechend übersichtlich aus: »Heiner Müller, Rainald Goetz, die Wiener Schule, Bazon Brock, Peter Handke, Elfriede Jelinek…«72 Der elitäre Charakter des Postdramas gewinnt mitunter extreme Züge, wenn das gemeinsame Theatererlebnis als konstitutives Merkmal einer Gruppenidentität gemacht werden soll. Selbstverständlich lebt ein Theaterabend im Vergleich zum Kinobesuch von seiner Einmaligkeit,73 was das Theater in Opposition zu den technisch reproduzierbaren Kunstformen auszeichnet, die Walter Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz reflektiert hat. Der Feststellung, dass Aura auf das Theater abonniert sei,74 ist zunächst einmal nur wenig zu entgegnen. Wenn aber die Akzentverschiebung von dramatischer Repräsentation zu Präsenz zu einer Verabsolutierung des Auratischen führt, scheint der objektive Blick der Theater- und Literaturwissenschaften akut in Gefahr zu sein. Peter Brooks Rede von einem ›heiligen Theater‹ etwa,75 weist zwar enorme Theaterkenntnisse und Praxiserfahrung nach, gewinnt jedoch einen esotherischmystifizierenden Charakter, wenn zeitgenössisches Theater mit Tanz und Musik »in gewissen Derwisch-Orden«76 verglichen und als eine durch Selbsterforschung gewonnene »Möglichkeit der Erlösung«77 angesehen wird.78 Auch die Arbeiten von Erika Fischer-Lichte, die den legitimen Hinweis auf den Performanz-Charakter theatraler Kommunikation erbringen, der das Theater von den übrigen zeitgenössischen Formen medialer Kommunikation abhebt, sind zumindest teilweise in diesem Licht zu sehen. Die Rede von einer »Magie leiblicher Gegenwart«79 markiert zwar den genuin eigenen Vorzug des Theater im Vergleich zu Film und Fernsehen, wirkt in dieser eigentümlichen Diktion jedoch wie ein weiterer Versuch, den eigenen Untersuchungsgegenstand quasi als Liebesobjekt zu erhöhen und damit auch den Stellenwert seiner Liebhaber zu steigern.

72

H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 25.

73

Vgl. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse, 9. Auflage,

74

H.-T. Lehmann: Die Gegenwart des Theaters, S. 21.

75

Vgl. P. Brook: Der leere Raum, S. 53-83.

76

Ebd., S. 76.

77

Ebd.

78

So äußert sich Brooks über die Theaterarbeit Jerzy Grotowskis. Vgl. ebd.

79

Vgl. E. Fischer-Lichte: Von der Magie leiblicher Gegenwart, S. 155-166.

München: Fink 1997, S. 65.

81

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Vor dem didaktischen Hintergrund des Lernziels ›Medienkompetenz‹ erfährt das postdramatische Theater eine weniger transzendentale (geschweige denn heilige) Wertschätzung: durch die Fähigkeit, »die Wahrnehmungsgewohnheiten der Zuschauer zu durchbrechen und auch zu verändern«80 eignet sich das Postdrama in hervorragendem Maße dazu, den Deutschunterricht zu dem Ort der Wahrnehmungsschulung zu machen, der er für die Vermittlung des Lernziels Medienkompetenz sein sollte. Selbstverständlich reichen Studien zu einem elitären Theater wie dem Postdrama nicht aus, um das Theater seit 1989 zu erfassen, als hilfreich erweisen sich diese Grundlagenarbeiten jedoch ohne Zweifel. Dem stark eingeschränkten reinen Bereich des postdramatischen Theaters steht nämlich ein umfassender Einfluss des Postdramatischen auf das Theater im Allgemeinen gegenüber: »Beispielsweise Fragmentierung der Narration, Stil-Heterogenität, hypernaturalistische, groteske und neoexpressionistische Elemente, die fürs postdramatische Theater typisch sind, findet man auch in Aufführungen, die trotzdem dem Modell des dramatischen Theaters zugehören.«81

Spezifische Techniken des postdramatischen Theaters sind also auch in den Stücken und Aufführungen heute vielfach inszenierter Dramatiker wie Dea Loher, Werner Schwab und Marius von Mayenburg gebräuchlich, die selbst nicht zum Postdrama gezählt werden.82 Demzufolge verlieren viele zeitgenössische Werke ihren Absolutheitsanspruch und können nicht als problemlose Nutzungen der dramatischen Form gelten. Postdramatisches Theater sind sie aber auch nicht, vielmehr lassen sich die meisten heutigen Bühnenerfolge unter dem Begriff ›Neuer Realismus‹ fassen, der im Folgenden im Zusammenhang mit Franziska Schößlers Studie zum Theater der neunziger Jahre erläutert werden soll.

80

Patrick Primavesi: »Der Rest ist Theater. Robert Wilsons HAMLET A MONOLOGUE«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin: Theater der Zeit 1999, S. 101-109, hier S. 101.

81

H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 26.

82

Dies sind die drei meistgenannten Autoren in einer Umfrage von Clemens Kammler unter den Intendanten deutscher Schauspielhäuser, die darauf abzielt jene deutschsprachigen Autoren und Autorinnen herauszuheben, die am besten für den Deutschunterricht geeignet sind. Vgl. C. Kammler: Das kommt nach Frisch und Dürrenmatt, S. 85.

82

4.3 SOZIALE GESCHICHTEN (SCHÖSSLER)

4.3 Soziale Geschichten (Schößler) Wie immer, wenn es um die wissenschaftliche Erfassung gegenwärtig ablaufender Prozesse geht, hinkt auch die Forschung zum Gegenwartsdrama den Entwicklungen um etwa ein Jahrzehnt hinterher. So erklärt es sich auch, dass theater- und literaturwissenschaftliche Publikationen zum postdramatischen Theater das Forschungsfeld in den neunziger Jahren dominieren, während seine ohnehin geringe Bühnenrelevanz stetig abnimmt bzw. ein zentraler Autor wie Heiner Müller überhaupt nicht mehr für (oder gegen) das Theater schreibt.83 Eine Erweiterung des Blicks, die auch Theaterstücke erfasst, die weit davon entfernt sind, postdramatisch zu sein, ist einer Untersuchung von Franziska Schößler zu »Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre«84 zu verdanken, die im Jahr 2004 unter dem Titel »Augen-Blicke« erschienen ist. Dank der thematischen Einteilung, die anstelle von formalen Aspekten auf Inhaltliches abhebt, in Erinnerung, Mythos und einen Bereich, der ›Soziale Geschichten‹ überschrieben ist, werden hier neben den renommierten Vertretern des postdramatischen Theaters zahlreiche Nachwuchsdramatiker behandelt, deren Verbleib in der Riege der bedeutenden Theaterschaffenden alles andere als gesichert ist. Neben Heiner Müller, der in der genuin auf die neunziger Jahre bezogenen Studie zu Recht ausgespart wird, nehmen die übrigen maßgeblichen Vertreter des postdramatischen Theaters Jelinek, Handke und Goetz ebenfalls eine beachtenswerte Position ein: zu Stücken von Jelinek und Handke finden sich Analysen unter dem Beobachtungsschwerpunkt ›Erinnerung‹,85 und Peter Handke steht gemeinsam mit Botho Strauß für ein Anknüpfen an mythologische Muster.86 Im dritten Themenbereich finden sich schließlich Texte von Autoren, die im Zuge einer postdramatischen Paradigmenbildung bestenfalls als triviale Ausnahmen gelten könnten, deren Vorkommen dem Einfluss der Unterhaltungsindustrie geschuldet ist, da sie ganz entschieden auf »Handlung« als Fundament des Theaters setzen. In diesen Stücken gibt es Figuren, denen etwas geschieht, und diese 83

Der letzte Theatertext Müllers (»Prometheus in der Bildbeschreibung«) ist 1990 veröffentlicht worden. In den fünf folgenden Jahren bis zu seinem Tod hat Müller dann vornehmlich inszeniert.

84

So lautet der Untertitel der Studie. Vgl. F. Schößler: Augen-Blicke.

85

Hier werden auch drei Stücke von Marlene Streeruwitz untersucht.

86

Komplettiert durch Unterkapitel zu Patrick Roth und Albert Ostermaier.

83

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Geschehnisse entspannen sich gemäß der dramatischen Tradition in Rede und Gegenrede. Insofern stellen die unter dem Titel »Soziale Geschichten« zusammengefassten Theatertexte, die als Ausläufer einer seit Anfang der achtziger Jahre beobachtbaren Erstarkung des Textes gesehen werden können,87 einen Gegenpol zum Postdrama dar. Für die ›sozialen Geschichten‹ gilt, was sich auch für das Postdrama feststellen lässt: das deutschsprachige Theater der achtziger und neunziger Jahre lässt sich kaum mehr isoliert von Entwicklungen in anderen Nationalliteraturen betrachten. Interessanterweise sind die ›sozialen Geschichten‹ stark von der britischen Theaterlandschaft beeinflusst, und dort besonders vom Royal Court Theatre, das auch im Mittelpunkt postdramatischer Entwicklungen in den neunziger Jahren steht, wurde doch hier Sarah Kanes Erstlingsstück »Blasted« (dt.: »Zerbombt«) uraufgeführt. Kanes postdramatisches »Theater der Stimmen«88 ist nur ein Beleg für die herausragende Stellung des Royal Court für das europäische Gegenwartsdrama.89 Der Erfolg von Kanes Nachfolgern als Nachwuchsdramatiker am Royal Court wie z.B. Mark Ravenhill wäre ein zweiter. Unter dem Einfluss dieser jüngsten britischen Dramatikergeneration – un87

Poschmann verweist in diesem Kontext auf die Arbeiten von Borchmeyer, Schoell und Thomsen. Vgl. Dieter Borchmeyer: »Theater (und Literatur)«, in: Ders. (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen, Frankfurt/Main: Athenäum 1987, S. 370-381; Konrad Schoell (Hg.): Literatur und Theater im gegenwärtigen Frankreich: Oppositionen und Konvergenz, Tübingen: Francke 1991; Christian W. Thomsen (Hg.): Studien zur Ästhetik des Gegenwartstheaters, Heidelberg: Winter 1985; G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 37.

88

So lautet eine Zuschreibung Lehmanns, der sich über Kanes letztes Stück »4.48 Psychose« wie folgt äußert: »Theater ist hier nicht Theater von Protagonisten, sondern ein Theater der Stimmen: Halbdialoge, prosalyrische Passagen, Monologe, quasi-wissenschaftliche Reden aus dem Bereich der Psychiatrie, förmlich als Gedichte geschriebene Stellen und, an zwei Stellen, reine Zahlenfolgen – Sprache als mathematische Sprache und also eigentlich nur Symbolschrift, nicht Stimme – zeigen an, dass hier die Suche nach einer möglichen Sprache an die Grenze von Sprache, Sinn und Darstellung geführt hat.« Hans-Thies Lehmann: »Just a word on a page and there is the drama: Anmerkungen zum Text im postdramatischen Theater«, in: Heinz Ludwig Arnold/Christian Dawidowski (Hg.): Theater fürs 21. Jahrhundert, München: Edition text + kritik 2004, S. 26-33, hier S. 28.

89

In Kapitel 7.2 wird dieser Einfluss wird am Beispiel der Kooperation zwischen dem Royal Court und der Baracke des Deutschen Theaters in Berlin nachgezeichnet.

84

4.3 SOZIALE GESCHICHTEN (SCHÖSSLER) ter Hervorhebung der gewalttätigen Handlungen und der Schockwirkungen der Stücke wird auch von In-Yer-Face Theatre90 gesprochen – sind die ›sozialen Geschichten‹ zu sehen, deren »Stücke-Dramaturgie […] sich (wieder?) auf ›Handlung‹ besinnt.«91 Nun ist der Begriff ›Soziale Geschichten‹ zugegebener Maßen ein Behelfsterminus, der zwar eine inhaltliche Richtung vorgibt, jedoch keine wirkliche Trennschärfe hat (lassen sich Geschichten ohne soziale Implikationen denken?) und die ebenfalls wichtige formale Seite des Gegenwartsdramas außer Acht lässt. Aus diesem Grund soll folgend die Bezeichnung »Neuer Realismus« verwendet werden. Die Forderung nach einem neuen Realismus im Gegenwartsdrama geht auf einen Artikel in der Berliner TAZ zurück. Gemeinsam mit anderen Verantwortlichen der Berliner Schaubühne92 kennzeichnet Thomas Ostermeier in jenem Artikel die Schwächen der aktuellen Theaterwelt und stellt Forderungen auf, um diesen Schwächen entsprechend begegnen zu können. Als explizite Aufgabe sehen die Berliner Schaubühnenleiter das Hinzugewinnen neuer Publikumsschichten an. Zudem müsse sich das Theater gerade in Zeiten geringer Zuschauerzahlen seinem Konkurrenten, dem Kino, stellen. Es sei an der Zeit, so wird geurteilt, das zeitgenössische Theater »individuell-existenziellen und gesellschaftlich-sozialen Konflikten der Menschen dieser Welt«93 gegenüber zu öffnen. Die Form, die dies erreiche, sei der Realismus. Die Forderung nach Realismus auf dem Theater entspricht einer Abkehr vom Postdrama und einer Hinwendung zu einem Theater der Handlung. Es handelt sich also um eine Form der Re-Dramatisierung. Zu den Vorzügen des Realismus heißt es dort wörtlich: »Der Realismus [...] erzählt Geschichten, das heißt, eine Handlung hat eine Folge, eine Konsequenz. Das ist die Unerbittlichkeit des Lebens, und wenn diese Unerbittlichkeit auf die Bühne kommt, entsteht Drama.«94

90

Vgl. hierzu: Aleks Sierz: In-Yer-Face Theatre. British Drama Today, London:

91

Gabriele Brandstetter: »Geschichte(n) Erzählen im Performance/Theater der

Faber and Faber 2000; Sowie: www.inyerface-theatre.com. neunziger Jahre«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.): Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin: Theater der Zeit 1999, S. 27-42, hier S. 29. 92

Der Beitrag wurde von der kompletten künstlerischen Leitung der Berliner Schaubühne verfasst. Vgl.: Thomas Ostermeier/Sasha Waltz/Jens Hillje/ Jochen Sandig: »Wir müssen von vorn anfangen«, in: TAZ vom 20.01.2000.

93

Ebd.

94

Ebd.

85

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Die Forderung nach Realismus steht demnach in einer klaren Verbindung zur Handlung, die hier ebenfalls gefordert wird. In dem Artikel legen die »Neuen Realisten« um Ostermeier zudem ihre Motivation und die daran gekoppelten Ziele der Berliner Schaubühne offen: »Das alles dient dem Ziel, neben dem interessierten traditionellen Publikum der Schaubühne neue Zuschauer zu gewinnen, die längst nicht mehr aus bildungsbürgerlichem Interesse ins Theater gehen, sondern sich intuitiv für gut erzählte Geschichten entscheiden, also meistens für das Kino. Dieses Publikum für das befremdliche Erlebnis eines Theaterabends zu begeistern und an ein Theater als sozialen Ort zu binden, muss das Ideal eines zeitgenössischen Theaters sein. Und wenn sich die verschiedenen Gruppen des Publikums, alt und neu, mischen und es miteinander in einem Zuschauerraum aushalten, um sich unbekannte Stücke anzuschauen, das wäre nicht nur für Berlin eine kleine Revolution.«95

Ostermeier und seine Kollegen haben eine ganz bestimmte Gruppe im Auge, wenn von neuen Zuschauern mit einem Vorliebe für gut erzählte Geschichten die Rede ist. Das Werben dieser Menschen für die Geschichten auf dem Theater lässt das Theater potenziell zu einem Ort der Begegnung werden. Dass dieses neue Publikum in den Kinos abzuholen sei, unterstreicht einerseits die hohe Ähnlichkeit zwischen Stücken des »Neuen Realismus« und dem Medium Film und andererseits die Konkurrenzsituation, deren Einfluss auf beide Medien deutlich ablesbar ist. So besteht eine Wechselwirkung zwischen Theater und Film: Es gibt von Filmen inspirierte Stücke96 sowie Theaterstücke, die (zum Teil sehr weit) nach ihrer Zeit in den Kinos als Adaptionen auf die Bühne kamen.97 Zudem ist das realistische Theater in vielen Techniken an die Sprache des Films angelehnt. Daher weist Hans-Thies Lehmann zu Recht darauf hin, dass im Drama der neunziger Jahre die Szenen auf dem Theater in vielen Fällen auch als Sequenzen bezeichnet werden können:

95

Ebd.

96

Z.B. John von Düffels: »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« (siehe Kapitel 7.1) oder David Gieselmanns »Herr Kolpert«, das an den Hitchcock-Klassiker »The Rope« angelehnt ist (siehe Kapitel 7.2).

97

Das Schauspielhaus Bochum gab in der Spielzeit 2002/2003 das Stück »Harold und Maude« nach Colin Higgins Romanerfolg. Allerdings orientierte sich die Inszenierung sehr stark an der Verfilmung des Romanstoffs aus dem Jahre 1971. Siehe hierzu ebenfalls Kapitel 7.

86

4.3 SOZIALE GESCHICHTEN (SCHÖSSLER) »Von Sequenzen kann man sprechen, denn dieses Theater erkundet die Beziehungen zwischen Theater und Film. Filmdialoge werden, leicht modifiziert, ins Theater eingebracht, das Prinzip des Schnitts radikalisiert.«98

Neben formalen und inhaltlichen Verweisen auf den Film finden sich im »Neuen Realismus« auch vermehrt Verweise auf andere ›gut erzählte Geschichten‹; ganz gleich welches Medium diese Geschichten erzählt. Das theoretische Feld, auf dem ein solches Spiel der Verweise durch ein Medium hindurch und über Mediengrenzen hinweg gedeihen kann, soll im folgenden Kapitel ausführlich betrachtet werden. Ziel dabei ist es, die außerordentlich hohe Relevanz der postmodernen Prinzipien der Intertextualität und Intermedialität speziell für das Theater der neunziger Jahre vor Augen zu führen, um so zu einer Legitimation dieser beiden Theoriekonzepte als Ordnungskriterien für das Gegenwartsdrama beizutragen.

98

H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 206.

87

5. Theat er und Kino: Intertext ualit ät und Int ermedialität als Ordnungskrit erien Das Phänomen Intertextualität ist seit Julia Kristevas erstmaliger Nennung des Begriffs bereits ausführlich bearbeitet worden.1 Im Folgenden soll ein geschichtlicher Exkurs die wesentlichen Entwicklungsstationen der Intertextualität nachzeichnen, da sie für den Forschungsstand der Intermedialität eine tragende Rolle spielen. Dies macht die Relevanz für die Analyse einzelner Theaterstücke und Filme aus, denn: Für das Drama der neunziger Jahre erweist sich ein ausschließlich intertextuell konzipiertes methodisches Analysevorgehen als unzureichend. Da das Drama ebenso wie Prosa und Lyrik einer programmatischen Einbeziehung dezidiert differenter Medien folgt, können Theatertexte aus dieser Dekade ohne Rückgriff auf Intermedialitätskonzepte auch nur unzureichend analysiert werden. »Die Einbeziehung aller existierender Medien ist gefragt«2 – diese formelhafte Forderung von Thomas Kling gilt notwendigerweise gleichermaßen für die Produktion und Rezeption literarischer Texte der neunziger Jahre.

1

Die Zahl dieser Studien ist außergewöhnlich hoch. Bereits Ende der achtziger Jahre kann dieser Forschungsbereich als erarbeitet gelten, auch wenn dies keineswegs impliziert, dass es zum Thema Intertextualität einen allgemeingültigen Konsens gebe. Vgl. u.a. als wertvolle Beiträge dieser Prägung: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer 1985; Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993; Jörg Helbig: Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität, Heidelberg: Winter 1996; Renate Lachmann (Hg.), Dialogizität, München: Fink 1982; Heinrich F. Plett: Intertextuality, Berlin, New York: de Gruyter 1991.

2

Thomas Kling: Sprachinstallation 2, aus: Ders.: Itinerar, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 15.

89

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE

5.1 Intertextualität als Grundlage der Intermedialität Entgegen verschiedener Widrigkeiten3 hat sich die Intertextualität als theoretisches Konzept und methodisches Vorgehen in den Literaturwissenschaften seit den achtziger Jahren zunehmend etablieren können. Dass unter den störenden Faktoren maßgeblich terminologische Unklarheiten rangieren, die bis zum heutigen Tage nicht vollkommen beseitigt werden konnten, führt eines der Kernprobleme von Wissenschaftsmoden vor Augen. Einerseits hat die zeitweilige Stellung der Intertextualität als favorisiertes Theoriemodell zu einer Vielzahl intertextueller Studien und theoretischer Auseinandersetzungen mit intertextuellen Phänomenen geführt;4 andererseits sieht man heutzutage bestätigt, dass Begriffe (insbesondere wissenschaftliche Termini) nicht notwendigerweise an Präzision gewinnen, wenn sie in aller Munde geführt werden. Zumeist ist wie auch im Fall der Intertextualität das Gegenteil der Fall – ein Umstand, dem im Folgenden Rechnung getragen werden soll, wenn es um einen Überblick über unterschiedliche Definitionsversuche und die Probleme geht, die bei einer terminologischen Abgrenzung des Begriffs auftreten können. In den universitären Literaturwissenschaften ist der Begriff Intertextualität zwar längst etabliert, doch handelt es sich zumeist um eine eher unreflektierte Verwendung, spätestens dann, wenn mit dem Intertextualitätsbegriff der Eindruck definitorischer Präzision erweckt werden soll. Dies wird mit den folgenden Ausführungen zu zeigen sein. Im Gegensatz zur Omnipräsenz von Intertextualität in der Universitätslandschaft haftet dem Ansatz in der Didaktik des Deutschunterrichts noch immer das Vorurteil der praxisfernen oder gar -feindlichen Theorie an, die banale Sachverhalte unnötig verkompliziert. Die zahlreichen Möglichkeiten für einen fruchtbaren Rückgriff werden häufig verkannt, denn leider sind die Hemmnisse bei der Umsetzung intertextueller Unterrichtsmodel-

3

Von Beginn an hat sich die Intertextualität beispielsweise kritischen Stimmen gegenüber gesehen, die in dem neuen Konzept nur eine Variation herkömmlicher Quellen- und Einflussforschung sehen wollten.

4

Wie umfangreich bearbeitet dieser Forschungsbereich tatsächlich ist, veranschaulicht Udo Hebels Bibliographie. Sie belegt das außerordentlich hohe Vorkommen intertextueller Forschungsarbeiten in den achtziger Jahren. Vgl. Udo Hebel: Intertextuality, allusion, and quotation. An international bibliography of critical studies, New York [u.a.]: Greenwood Press 1989.

90

5.1 INTERTEXTUALITÄT ALS GRUNDLAGE DER INTERMEDIALITÄT le in den Schulen zahlreich und höchst heteronom.5 Inhaltlich stellen Unterrichtskonzepte zur Intertextualität die Lehrer vor eine wesentliche Schwierigkeit, die bei der schulischen Bearbeitung von Theorie allgemein auftritt. Dieses Grundproblem lässt sich mit Jonathan Culler auf ganz essentielle Eigenschaften von Theorie zurückführen. In der Einleitung zu seiner kurzen Einführung in die Literaturtheorie schreibt Culler: »Der Haupteffekt der Theorie liegt darin, dass sie den so genannten ›gesunden Menschenverstand‹ in Frage stellt: also vermeintlich vernünftige Ansichten über Dinge wie Bedeutung, Schrift, Literatur oder Erfahrung.«6 Steht Theorie in Opposition zum gesunden Menschenverstand, so verwundert es nicht sonderlich, dass unter Lehrenden und Lernenden gehäuft eine skeptische Haltung der Theorie gegenüber eingenommen wird. Clemens Kammler, der mit »Neue Literaturtheorien und Unterrichtspraxis« einen der wenigen Harmonisierungsversuche von poststrukturalistischer Theorie und Deutschunterricht unternommen hat,7 berücksichtigt in seiner Bestandsaufnahme sogar noch weitere Personengruppen: »Nicht nur Studierende, sondern auch die Mehrheit der Unterrichtenden und sogar viele Deutschdidaktiker und –didaktikerinnen dürften [die] ›Praxistauglichkeit‹ [der poststrukturalistischen Ansätze] eher in Zweifel ziehen.«8 Wenn sich selbst Unterrichtende und Fachdidaktiker mit poststrukturalistischer Theorie und ihrer Umsetzung im Unterricht schwer tun, sind Vorbehalte seitens der Schülerschaft leicht zu verstehen. Schließlich stellen verschiedene Vorstellungen, die Culler auf den gesunden Menschenverstand 5

Dass es dennoch zum Einzug intertextueller Unterrichtsreihen vornehmlich in den Lehrplänen und Richtlinien für die Oberstufe gekommen ist, soll an dieser Stelle mit dem Verweis auf die Richtlinien für das Fach Deutsch veranschaulicht werden. Dort sind nämlich für die Jahrgangsstufe 11/II thematisch verwandte Gegenstände vorgesehen (Wissenschaftlerdramen von Brecht bis Harald Müller) und für die Stufe 12/II mythische Muster in Prosa verschiedener Epochen, womit eine Reflexion über die Originalität von Sprache sowie über Intertextualität angestrebt wird. Vgl. Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Deutsch. Herausgegeben vom Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen. Ritterbach: Frechen 1999 (=Schriftenreihe Schule in NRW 4701).

6

Jonathan Culler: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung, Stuttgart: Reclam

7

Neben Kammler siehe auch: Diskussion Deutsch (1990), H. 116, Der

2002, S. 13. Deutschunterricht (1993), H. 4, Der Deutschunterricht (1995), H. 6. 8

Clemens Kammler: Neue Literaturtheorien und Unterrichtspraxis. Positionen und Modelle, Hohengehren: Schneider 2000, S. VII.

91

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE zurück führt, im Denken von Heranwachsenden feste Orientierungspunkte dar. Zu diesen ›vernünftigen‹ Auffassungen gehören beispielsweise die Intentionalität literarischer Texte, also die »Vorstellung, dass die Bedeutung einer Äußerung bzw. eines Texts dem entspricht, was sich der Autor ›dabei gedacht hat‹«, der Gedanke »dass die Schrift nur der Ausdruck von etwas ist, dessen Wahrheit anderswo zu suchen ist, nämlich in einer von ihr lediglich wiedergegebenen Erfahrung oder einem Sachverhalt« ebenso wie »die Idee, dass Wirklichkeit das ist, was zu einem gegebenen Zeitpunkt vorhanden, also ›präsent‹ ist.«9 Das Konfliktpotential in der Begegnung von Theorie und Literaturunterricht geht auf die Tatsache zurück, dass Theorie die genannten Vorstellungen des ›gesunden Menschenverstands‹ rigoros hinterfragt. Es besteht also eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen, die Schüler dem ›gesunden Menschenverstand‹ folgend – also unreflektiert und rein intuitiv – an Literatur stellen, und den Grundprämissen theoretischen Denkens. Um die Praxistauglichkeit anspruchsvoller Themen wie der poststrukturalistischen Theorie zu steigern, sollte der Unterricht auf eine Bewusstmachung dieser Diskrepanz hinarbeiten. Erst wenn den Lernenden die Diskrepanz zwischen ihrer lebensweltlichen Erwartung und dem Unterrichtsgegenstand explizit vor Augen geführt wird, kann eine Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Fremden angenommen werden. Eine Beschäftigung mit Intermedialität kann Schüler an wesentliche Merkmale des Poststrukturalismus heranführen und damit entscheidend zu einer solchen Bewusstmachung beitragen. Ob die heutige Schülerschaft angesichts einer derartigen Heranführung Irritation verspürt oder ob ein Heranwachsen im Pluralismus des Medienzeitalters bereits den Boden für poststrukturalistische Grundideen bereitet, lässt sich nur schwer ermessen. Poststrukturalismus steht »als Sammelbegriff für eine breite Spanne theoretischer Diskurse, deren Gemeinsamkeit in der Kritik der Vorstellung vom objektiven Wissen und eines sich selbst gewissen Subjekts zu sehen ist«,10 und verkörpert somit jene Seite der Theoriemedaille, von der sich Schüler eventuell abschrecken lassen. Wie auch immer Intermedialität definiert wird, entscheidend für den Einsatz in der Schule wäre der Umstand, dass die Bedeutung des einzelnen Zeichens – sei es textueller, fílmischer oder musikalischer Natur – niemals als objektives Wissen im Zeichen selbst zu suchen ist, sondern sich erst in einem Zwischenspiel mit anderen Medien konstruiert. Die Verbindung von Intermedialität und Poststruktura9

Alle Zitate: J. Culler: Literaturtheorie, S. 14.

10

Ebd., S. 182.

92

5.1 INTERTEXTUALITÄT ALS GRUNDLAGE DER INTERMEDIALITÄT lismus wird im Folgenden erläutert, wenn im Anschluss an eine historische Darstellung verschiedener Intertextualitätsdefinitionen der Stellenwert dieser Modelle für die Intermedialitätsforschung veranschaulicht wird.

5.1.1 INTERTEXTUALITÄTEN: DEFINITIONSVERSUCHE Der Text als Kunstwerk kann nicht interpretiert werden, rief T.S. Eliot 1919 in seinem Essay »Hamlet« aus.11 Was man lediglich mit Texten anfangen könne, sei, sie zu kritisieren und sie in Relation zu anderen Texten zu betrachten. In diesem Essay wendet sich Eliot zudem gegen einen geschlossenen Textbegriff, indem er die Bedeutung eines Künstlers an der Relation des Künstlers zu seinen Vorgängern bemisst. Im Originalwortlaut hört sich Eliots These wie folgt an: »No poet, no artist of any art, has his complete meaning alone. His significance, his appreciation is the appreciation of his relation to the dead poets and artists.«12 Hier wird die zeitliche Vorläuferfunktion der Literatur deutlich, die häufig dafür sorgt, dass sich etablierte Forschungsparadigmen bereits Jahre zuvor unverbindlich formuliert in literarischen Aufzeichnungen finden lassen. Statt des Dichters und seines Werks stellt Eliot die Beziehung von Dichter und Werk zu anderen Dichtern und Werken in den Vordergrund. Damit berührt er den Grundgedanken der Intertextualität, die sich ebenfalls nicht auf Einzeltexte, sondern auf Text-Text-Bezüge konzentriert. Berufen sich konventionelle Einzeltextanalysen implizit auf die Behauptung, dass ein Text als Zeichen die Bedeutung bereits in sich trage, so wird stillschweigend über die Funktion des Signifikanten hinweggesehen, die seit der poststrukturalistischen Wende in den Mittelpunkt semiotischer Überlegungen steht. Der Signifikant erfüllt im Zeichenspiel eine bedeutende Aufgabe: Er verweist stets auf eine abwesende Bedeutung, er trägt diese Bedeutung aber nicht in sich. »Das Spiel der Differenzen setzt in der Tat Synthesen und Verweise voraus, die es verbieten, daß zu irgendeinem Zeitpunkt, in irgendeinem Sinn, ein einfaches Element als solches präsent wäre und nur auf sich selbst verwiese. Kein Element kann je die Funktion eines Zeichens haben, ohne auf ein anderes Ele-

11

Vgl. T. S. Eliot: »Hamlet«, in: Ders.: Selected Essays, London: Faber and Fa-

12

T.S. Eliot: »Tradition and the Individual Talent«, in: Ders.: Selected Essays,

ber 1966, S. 141-146, hier S. 142. London: Faber and Faber 1966, S. 13-22, hier S. 15.

93

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE ment, das selbst nicht einfach präsent ist, zu verweisen, sei es auf dem Gebiet der gesprochenen oder auf dem der geschriebenen Sprache.«13

Mit dieser Überlegung stellt die Dekonstruktion der Intertextualität eine gedankliche Basis zu Verfügung, die verschiedenartig ausgebaut worden ist. Eine Erkenntnis, die Eliots These indirekt entnommen werden kann, ist jene, dass es in der Literatur grundsätzlich um Prinzipien geht, die denen anderer Künste stark verwandt sind. Was Eliot für den Dichter sagt, hat ebenso Gültigkeit für Künstler aller anderen Ausdrucksformen. Der heutige Stellenwert der Intertextualität basiert nicht zuletzt darauf, dass Eliots Einschätzung sich erfolgreich gegen jedwede Zweifel behaupten konnte. Die Gleichsetzung von Dichter und Künstler weist zudem bereits auf die Verwandtschaft von Texten und anderen Medien hin, deren Relevanz an späterer Stelle überprüft wird (siehe Kapitel 5.2). Als das »mit Abstand erfolgreichste Konzept der poststrukturalen Literaturtheorie«14 weist Intertextualität all jene Merkmale auf,15 die Theorie nach der poststrukturalistischen Wende per se auszeichnen: • Intertextualität ist interdisziplinär, sofern der Textbegriff sich niemals strikt auf Elemente einer Fachwissenschaft begrenzen •





lässt; Intertextualität ist analytisch und spekulativ, da das Inbeziehungsetzen zweier Texte bereits zu Anfang in der Textauswahl einen subjektiven Arbeitsschritt voraussetzt, in der Folge dann aber den Text in seine einzelnen Elemente zerlegt; Intertextualität stellt im Optimalfall eine Kritik an Konzepten dar, die für ›natürlich‹ gehalten werden und über Jahrhunderte die Konstitutionsprozesse von Bedeutung bestimmt haben. Hierzu ist es freilich nötig, dass intertextuelle Analysen nicht hinter konventionelle Muster der Hermeneutik zurückfallen (siehe Kapitel 5.1.1); Intertextualität ist reflexiv, indem sie konventionelle Deutungspraktiken hinterfragt und um weitere Interpretationskategorien ergänzt.

13

Jacques Derrida: Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva,

14

Johanna Bossinade: Poststrukturalistische Literaturtheorie, Stuttgart, Wei-

Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetti, Graz, Wien: Böhlau 1986, S. 66f. mar: Metzler 2000, S. 94. 15

Vgl. J. Culler: Literaturtheorie, S. 28.

94

5.1 INTERTEXTUALITÄT ALS GRUNDLAGE DER INTERMEDIALITÄT Wie Jonathan Culler festgestellt hat, wirken die oben genannten Merkmale von Theorie zunächst »furchteinflößend«,16 da sie das entmutigendste Merkmal überdeutlich vor Augen führen: nämlich, »dass sie nie aufhört.«17 Die Unendlichkeit theoretischer Reflexion wirkt in alle Versuche hinein, den Begriff Intertextualität zu definieren. Hier hat die Grenzenlosigkeit dazu geführt, dass Intertextualität nach heutigem Stand als »ein undisziplinierbarer Begriff«18 angesehen werden muss. Dass der Begriff »vorerst nicht disziplinierbar, seine Polyvalenz irreduzibel«19 erscheint, kann auf seine interdisziplinäre Relevanz zurückgeführt werden, die Intertextualität zu einem »Grenzphänomen par excellence«20 aufsteigen lassen hat. Die Heterogenität in der Begriffsfindung geht teilweise so weit, dass Lexika ob des »mitunter karnevalesken Zustandes intertextueller Theoriebildungen«21 zum Teil dazu übergehen, anstelle einer klaren Definition Verweise auf verschiedene Theoriekonzepte anzuführen. Dass diese begriffliche Vielfalt kaum mehr als ein Spiegel unterschiedlicher und sich teilweise widersprechender Konzeptionen von Intertextualität ist, geht allein schon aus dem Umstand hervor, dass es sich bei den differenten Begriffsangeboten terminologisch teilweise um konkurrierende Bezeichnungen und teilweise um Heteronyme handelt. Insbesondere anhand der heteronymen Termini offenbart sich, dass für die unterschiedlichen Definitionen von Intertextualität das jeweils zugrunde liegende Textverständnis entscheidend ist. Dass »[d]ie Eingrenzungen und Definitionen von Intertextualität […] beinahe ebenso zahlreich wie diejenigen des Textbegriffes selbst«22 sind, erscheint daher fast banal. Wer klären möchte, was inter, also zwischen Texten passiert, muss zunächst

16

Ebd.

17

Ebd.

18

Angelika Buß: Intertextualität als Herausforderung für den Literaturunterricht. Am Beispiel von Patrick Süskinds »Das Parfum«, Frankfurt/Main: Peter Lang 2006, S. 17.

19

Renate Lachmann: »Ebenen des Intertextualitätsbegriffs«, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.), Das Gespräch, München: Fink 1984, S. 133138, hier S. 134.

20

S. Schahadat: Intertextualität, S. 366.

21

Jürgen E. Müller: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunika-

22

J. Müller: Intermedialität, S. 93. Vgl. dazu ebenfalls: Charles Grivel: »Serien

tion, Münster: Nodus 1996, S. 21. textueller Perzeption«, in: Wolf Schmid/Wolf-Dieter Stempel (Hg.), Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität, Wien: Gesellschaft zur Förderung Slawistischer Studien 1983, S. 53-84.

95

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE definieren, durch welche Merkmale Texte gekennzeichnet sind. Für die Forschung hat sich eben die Beantwortung dieser Frage nach dem Textverständnis als bedeutsam für die Klassifikation von Intertextualitätstheorien erwiesen. Als Konsens hat sich eine grundsätzliche Einteilung in zwei Gruppen herauskristallisiert.23 Unter Berücksichtigung der Chronologie der essentiellen Veröffentlichungen lässt sich eine ›anfängliche‹ Intertextualität von einer ›eingeschränkten‹ Intertextualität unterscheiden, wobei erstere mit der Vorstellung von einem universalen Intertext direkt an die Dekonstruktion anknüpft und letztere diese poststrukturalistischen Implikationen zugunsten einer erhöhten Anwendbarkeit ausklammert. Anfänge der Intertextualität und der universale Intertext Auf der Basis von Derridas revolutionärer Zeichenauffassung entwickelte die bulgarische Literaturtheoretikerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva das Konzept der Intertextualität,24 das beachtliche Auswirkungen auf spätere literaturtheoretische Entwicklungen gehabt hat.25 Ebenso wie der Signifikant Derrida gemäß niemals ein Signifikat bezeichnet, sondern jeweils nur auf andere Signifikanten verweisen kann, verweist auch jeder Text laut Kristeva unvermeidlicherweise auf andere Texte. Die Bedeutung eines Textes lässt sich 23

So wird etwa von zwei Lagern der Intertextualität gesprochen, womit die rivalisierende Beziehung zwischen den Vertretern beider Auffassungen konnotativ erfasst wird, oder neutraler formuliert von progressiver und traditioneller Forschung. Vgl. etwa: A. Buß: Intertextualität als Herausforderung für den Literaturunterricht, S. 18; J. Müller: Intermedialität, S. 93f. Ulrich Broich und Manfred Pfister sprechen vom globalen Modell des Poststrukturalismus und prägnanteren strukturalistischen oder hermeneutischen Modellen. Vgl. U. Broich/M. Pfister (Hg.), Intertextualität, S. 25.

24

In ihrem Aufsatz »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman« führt Kristeva den Begriff Intertextualität als solchen ein. Vgl. Julia Kristeva: »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, in: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Band I-II. Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaften, Frankfurt/Main: Athenäum 1972, S. 345-375, hier S. 348.

25

Kristevas unmittelbare Auswirkungen lassen sich beispielsweise am Werk Harold Blooms ablesen, dessen Überlegungen zur Einflussangst (»The Anxiety of Influence«, 1975) ohne Kristevas Vorarbeiten zur Intertextualität nicht möglich gewesen wären. Auch weitere Mitglieder der ›Yale School of Criticism‹ wie Paul de Man stehen in der Tradition der Intertextualität. Vgl. Hierzu Achim Geisenhanslüke: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zur Medienwissenschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, S. 91.

96

5.1 INTERTEXTUALITÄT ALS GRUNDLAGE DER INTERMEDIALITÄT demnach analog zur unendlichen Supplementierungskette einzelner Signifikanten als Differenz seines Verhältnisses zu einer Unmenge anderer Texte erahnen, in der Terminologie der Dekonstruktion quasi als ›Spur‹ einer ursprünglich präsenten Bedeutung. Dies wird deutlich, sobald man die generelle Offenheit berücksichtigt, welche die Dekonstruktion dem Text zuspricht: »Jeder Text ist auf einen anderen Text hin offen, jede Schrift bezieht sich auf eine andere Schrift.«26 Indem jeder Text in Beziehung zu anderen Texten steht, ist er gleichzeitig die Transformation eines nicht-präsenten Textes; der literaturwissenschaftliche Fokus verschiebt sich demzufolge von einem streng werkimmanenten Formalismus hin zu einem Differenzdenken derridascher Ausprägung, das zwischen die Texte schaut, also intertextuell operiert.27 Mit diesem variierten Zeichen- und Textbegriff hat Kristeva in dem Aufsatz »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman« aus dem Jahr 196728 die Ausführungen des damals bereits beinahe vergessenen russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin aufgegriffen.29 Für Bachtin ist Literatur prinzipiell dialogisch, da ihre kleinsten Elemente, die einzelnen Wörter, bereits dialogisch beschaffen sind. Das im literarischen Text verwendete Zeichen bündelt kontext- und lesergebundene Konnotationen in sich, die es in einen Dialog mit der Außenwelt versetzen: Der Gegenstand, den das Zeichen bezeichnet, ist daher »umgeben und durchdrungen von allgemeinen Gedanken, Standpunkten, fremden Wertungen und Akzenten.«30 Indem das bachtinsche Dialogprinzip die Verbindung einzelner Zeichen zu übergeordneten außertextuellen Konstrukten wie »einem spezifischen historischen Kontext«31 oder »einer bestimmten

26

Sarah Kofman: Derrida lesen, 2. durchgesehene Auflage, Wien: Passagen-

27

Vgl. hierzu A. Geisenhanslüke: Einführung in die Literaturtheorie, S. 103.

28

Die Übersetzung ins Deutsche erfolgte 1972. Vgl. J. Kristeva: Bachtin, das

29

Dass Bachtins Arbeiten nicht schon früher beachtet worden sind und in den

Verlag 2000, S. 17

Wort, der Dialog und der Roman, S. 345-375. sechziger Jahren noch einen geringen Stellenwert hatten, liegt vordergründig an Übersetzungs- und Editionsschwierigkeiten. Vgl. dazu: Iris Heilmann: Günter Grass und John Irving. Eine transatlantische Intertextualitätsstudie, Frankfurt/Main: Peter Lang 1998, S. 21; Sowie: Rainer Georg Grübel: »Michail M. Bachtin. Biographische Skizze«, in: Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 7-20, hier S. 13. 30

M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 169.

31

J. Müller: Intermedialität, S. 95.

97

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE sozialen Wirklichkeit«32 berücksichtigt, leistet es entschieden mehr als gewöhnliche intratextuelle Verknüpfungen. Als solche kann Dialogizität zuweilen leicht verstanden werden, wenn aus Bachtins Schriften das Phänomen der Zwei- oder Mehrstimmigkeit der modernen Romane, denen sich Bachtin gewidmet hat, als einzige dialogische Ausformung begriffen wird.33 Eine solche Fehldeutung übersieht die dialogische Beschaffenheit von Literatur auf der Wortebene, die keine autonome Bedeutungskonstitution mehr zulässt: »Der Entwurf eines Gegenstandes geschieht in einem äußerst komplexen Akt, in welchem das Wort, das sich auf ihn bezieht, von der (in der Rede differenzierten) Meinung und von fremden Wörtern zugleich erhellt und verdunkelt werden. In diesem Prozeß gewinnt das Wort seine eigenen semantischen und stilistischen Konturen.«34

Wenn das Zeichen seine Bedeutung erst in dialogischen Wechselbeziehungen entfalten kann, erstreckt sich der Prozess der Bedeutungskonstitution über die Werkgrenzen hinaus. Dementsprechend ist Textinterpretation im Sinne Bachtins auch kein werkimmanenter Vorgang. Es lässt sich sogar das Gegenteil festhalten, nämlich dass Interpretation für Bachtin ein dynamischer Prozess der Umdeutung und daher stark kontextgebunden ist; sein diesbezügliches Credo lautet: »Jedes Verstehen ist das In-Beziehung-Setzen des jeweiligen Textes mit anderen Texten und die Umdeutung im neuen Kontext«.35 Es ist wohl dieses Hinwenden zu einem offenen Textbegriff, das Kristevas Interesse an Bachtin begründet, da es die Abkehr von der Vorstellung des literarischen Texts als einer autonomen und abgeschlossenen Sinneinheit impliziert. Für Kristeva baut sich jeder Text »als Mosaik von Zitaten auf«36, womit er zwangsläufig zu einer »Absorption und Transformation eines anderen Textes«37 wird. Die Offenheit des Zeichensystems führt zu einer »Verunendlichung der 32

Ebd.

33

Angelika Buß behauptet beispielsweise unter Berufung auf Heinrich Plett: »Es handelt sich dabei eher um intratextuelle denn intertextuelle Vorgänge.« Vgl. A. Buß: Intertextualität als Herausforderung für den Literaturunterricht, S. 20; Vgl. ebenfalls: Heinrich F. Plett: »Sprachliche Konstituenten einer intertextuellen Poetik«, in: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer 1985, S. 78-98.

34

J. Müller: Intermedialität, S. 95.

35

M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 352.

36

J. Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 348.

37

Ebd.

98

5.1 INTERTEXTUALITÄT ALS GRUNDLAGE DER INTERMEDIALITÄT Zeichenstruktur«,38 die als Veranschaulichung maßgeblicher Überzeugungen der Dekonstruktion gelten kann. Die Bedeutung eines Textes wird als Differenz zwischen dem Text und einem anderen Text greifbar und ist zugleich das Ergebnis der Differenz zwischen dem Text und unendlich vielen anderen Texten. Die Planstelle des Signifikats wird von einer schier unendlichen Verweisstruktur eingenommen, die sich aus Signifikanten zusammensetzt, die immer wieder auf andere Signifikanten verweisen. Die Bedeutung des Signifikanten wird durch weitere Signifikanten supplementiert, die wiederum auf etwas Abwesendes referieren. »›Aus dieser Reihe von Supplementen‹, schreibt Derrida, »erwächst ein Gesetz: das Gesetz einer endlos miteinander verbundenen Serie, in der sich die Supplemente, die jeweils eine Ahnung von dem vermitteln, was sie eigentlich aufschieben, nämlich den Eindruck von der Sache selbst, von einer unmittelbaren Präsenz bzw. einer originären Wahrnehmung, immer weiter vervielfältigen.«39

Der Umstand, dass die Bedeutung eines Textes niemals benannt, sondern immer nur supplementiert werden kann, hat schwerwiegende Auswirkungen auf das Verständnis von Literatur. Wenn weder Wort noch Text als geschlossene Zeichenelemente durchgehen können, kann der literarische Diskurs auch nicht als kommunikativer Akt zwischen Autor und Leser gelten. Die fundamentale Mehrstimmigkeit des einzelnen Wortes, die ein poststrukturalistisches Gedankenkonstrukt ist, bedingt, dass im Roman nicht nur die einzelnen Figuren zu Wort kommen. In einer Neubewertung des Verhältnisses von Autor und Text gelangt Kristeva zu der bekannten Schlussfolgerung, in welcher der Begriff Intertextualität erstmalig verwendet wird: »An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache läßt sich zumindest als eine doppelte lesen.«40 Dadurch, dass der literarische Text zugleich die Interpretation anderer Texte ist, gewinnt er eine weitere Interpretationsdimension. Zugleich erweitert sich der Aufgabenbereich der Autoren. In aus-

38

Oliver Jahraus: »Zeichen-Verschiebungen: vom Brief zum Urteil, von Georg zum Freund. Kafkas Das Urteil aus poststrukturalistischer/dekonstruktivistischer Sicht«, in: Oliver Jahraus/Stefan Neuhaus (Hg.): Kafkas »Urteil« und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen, Stuttgart: Reclam 2002, S. 241262, hier S. 247.

39

J. Culler: Literaturtheorie, S. 24. Culler zitiert selbst ohne Angabe der Quel-

40

J. Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 348.

le.

99

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE führlicher Ausformung findet sich dieser Gedanke ebenfalls bei Kristeva: »Derjenige, der schreibt, ist auch derjenige, der liest. Da sein Mitsprecher ein Text ist, ist er selbst nur ein Text, der sich aufs neue liest, indem er sich wieder schreibt. Die dialogische Struktur tritt somit allein im Lichte eines sich in Bezug auf einen anderen Text als Ambivalenz aufbauenden Textes auf.«41

Der Autor glänzt durch seine Nicht-Präsenz; er verschwindet zugunsten des Textes und der Struktur, die den Text in Bezug zu anderen Texten erfasst: »Der Autor [...] wird zur Anonymität, zur Abwesenheit, zur Lücke, damit er es der Struktur ermöglicht als solche zu existieren.«42 Die Relationen zwischen Texten rücken bei Kristeva tatsächlich dermaßen stark ins Zentrum der Beobachtung, dass die Texte an sich sogar zu einer Nebensache degenerieren.43 Da der Autor tot ist, schreiben sich die Texte selbst. Sie haben an einer umfassenden Dynamik teil und sind nicht mehr als autonome Einzelelemente denkbar. »Kristeva bevorzugt also Dynamik und Beziehungshaftigkeit als primäre Eigenschaften von Texten und verneint in ihrem Textmodell damit die Vorstellung vom Text als statischer Struktur.«44 In der Entstehungsgeschichte von Texten spielt das genial-schöpferische Autorsubjekt demzufolge auch keine Rolle mehr, wie Achim Geisenhanslüke festgehalten hat: »Am Ursprung der Texte steht kein schaffender Autor, sondern ein unendlicher Fluss von Texten, die sich immer neu kombinieren lassen.«45 Der unendliche Fluss von Texten, der an die Stelle der Autorinstanz tritt, wird in der Forschung auch als universaler Intertext bezeichnet.46 Dass die meisten Kritiker Kristevas an der Existenz eines solchen Textflusses ansetzen, ist kaum verwunderlich, da die Basis der Intertextualität – ebenso wie die von Kristevas gedanklichen Vorgängern Freud, Heidegger und Derrida – von einer kritischen

41 Ebd., S. 372. 42

Ebd., S. 358.

43

A. Geisenhanslüke: Einführung in die Literaturtheorie, S. 104.

44

Susanne Schedel: »Literatur ist Zitat – ›Korrespondenzverhältnisse‹ in Kafkas Das Urteil«, in: Oliver Jahraus/Stefan Neuhaus (Hg.): Kafkas »Urteil« und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen, Stuttgart: Reclam 2002, S. 220-240, hier S. 223f.

45

A. Geisenhanslüke: Einführung in die Literaturtheorie, S. 104.

46

Vgl. exemplarisch: S. Schedel: Literatur ist Zitat.

100

5.1 INTERTEXTUALITÄT ALS GRUNDLAGE DER INTERMEDIALITÄT Warte aus durchaus hinterfragbar ist.47 In Kristevas Denken findet sich eine absolute Dominanz des universalen Intertexts über konkrete Texte, die zumindest von solchen Vertretern abgelehnt werden muss, die an einem autonomen Autorsubjekt festhalten; denn: »Für Kristeva absorbiert, transformiert, reproduziert sich der entworfene universale Intertext selbst, und zwar subjektlos.«48 Neu ist bei Kristeva allerdings nicht nur die Existenz eines autorlosen universalen Intertexts, sondern auch die Art, wie das allgemeine Textverständnis beschaffen ist. So beschränkt Kristeva den Textbegriff »keineswegs auf literarische Texte als sprachliche Zeichensysteme«,49 sondern bezieht auch »sämtliche Sinnsysteme und kulturelle Codes (z.B. Filme, Mode)«50 mit ein. »Als ›Texte‹ einer so verstandenen Kultursemiotik erweisen sich nunmehr alle kulturellen Formationen, die in interaktiven Prozessen stehen:«51 Hieraus allein wird erkenntlich, dass Intertextualität nach Kristeva nicht als Instrumentarium einer Textinterpretationsmethode angelegt ist. Vielmehr ermöglicht es der weitgefasste Textbegriff, mittels einer »Deutung gesellschaftlicher Phänomene als Text nach einem kritischen Korrektiv für Bestehendes sowohl in Literatur als auch in Gesellschaft«52 zu suchen, das politische Veränderungen anvisiert. Dialogizität erscheint auf dieser Ebene als subversives Mittel gegen das politisch Monologische (autoritäres Festhalten an fixierten Werten 47

Derrida hat seine abstrakte Ursprungsinstanz vornehmlich aus zwei historischen Vorlagen abgeleitet: aus Freuds Konzeption des psychischen Apparats und aus Heideggers ›Sein des Seienden‹. Derridas Interesse an diesen beiden philosophischen Konstrukten speist sich aus dem Umstand, dass sie den Dingen jeweils eine abwesende, niemals konkret werdende Instanz überordnen. Allen dreien – Freud, Heidegger und Derrida – ist denn auch gemeinsam, dass ihre Überzeugungen auf einem hypothetischen Fundament aufgebaut sind. Da sich das Unbewusste niemals konkret äußert (in Momenten seiner Präsenz – im Traum, in Fehlleistungen etc. – wird das Unbewusste ja bewusst und löscht sich gerade dadurch selbst aus), gibt es keinen Beleg für seine Existenz. Mit der unbelegten Grundannahme eines Unbewussten der menschlichen Seele lässt sich nach empirischen Maßstäben demnach die gesamt freudsche Lehre verwerfen. Ähnlich verhält es sich im Fall von Heideggers dem Sein vorgelagerter Instanz des ›Seins des Seienden‹ und auch mit Derridas unendlicher Signifikantenkette, die sich zu einem Gewebe erstreckt, das niemals bezeichnet werden kann.

48

S. Schedel: Literatur ist Zitat, S. 224.

49

Ebd.

50

Ebd.

51

J. Müller: Intermedialität, S. 97.

52

S. Schedel: Literatur ist Zitat, S. 224.

101

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE und an einer vermeintlichen Wahrheit), was allerdings ebenfalls im Wesentlichen bereits bei Bachtin angelegt ist: »Bachtin hält Monologizität und Dialogizität/Redevielfalt nicht nur für Grundprinzipien literarischer Gattungen, sondern auch für Grundprinzipien gesellschaftlicher Strukturen, Dialogizität und Gegenrede sind imstande, autoritäre, ›monologische‹ Gesellschaften zu unterwandern.«53

Darin, dass Bachtin sein Denken gegen statische Fixierungen richtet, sieht Kristeva die Vorzüge, welche sie für ihre eigene Theorie fruchtbar machen möchte. So trifft sie z.B. folgende Aussage über den russischen Formalisten: »Bachtin gehört zu den ersten, die die statische Zerlegung der Texte durch ein Modell ersetzen, in dem die literarische Struktur nicht ist, sondern sich erst aus der Beziehung zu einer anderen Struktur herstellt.«54

Als überzeugte Kommunistin und Mitglied der revolutionären Gruppe TelQuel war Julia Kristeva freilich besonders offen für die subversiv-politischen Implikationen des Dialogizitätsprinzips. Wenden sich spätere Theorien von Kristevas ursprünglichem Intertextualitätskonzept ab, ist nicht selten der politische Rahmen der TelQuelGruppe und der 68er-Bewegung dafür verantwortlich. In seinen Grundprinzipien allerdings – dem offenen Textbegriff nebst Absage an ein Autorsubjekt und der Vorstellung vom Text als Zitatmosaik, welche die Verbindungen zwischen Texten höher schätzt als die Texte selbst – ist Julia Kristevas Werk stetig verifiziert und fortgeführt worden und daher nicht aus der Intertextualitätsforschung wegzudenken. Der große Einfluss Kristevas geht auch auf die enorme Relevanz von Dekonstruktion bzw. Intertextualität für nachfolgende Theorien zurück. Wichtig für den aktuellen Stellenwert von Kristevas Intertextualitätskonzept ist seine Wegbereiterfunktion für spätere Denker. Neben sozialwissenschaftlichen Themen wie der feministischen Theorie oder den Queer Studies hat Kristevas Intertextualitätsentwurf auch den Weg für die Cultural Studies geebnet55 und somit bereits auf die kulturwissenschaftliche Öffnung der Geisteswissenschaften abgezielt, die zu den größten Herausforderungen der Germanistik um den Jahrtausendwechsel gehört.

53

Ebd., S. 222.

54

J. Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 346.

55

Vgl. J. Culler: Literaturtheorie, S. 70.

102

5.1 INTERTEXTUALITÄT ALS GRUNDLAGE DER INTERMEDIALITÄT Gegen den zuhauf erhobenen Vorwurf, Intertextualität beschäftige sich ausschließlich mit poststrukturalistischer Theoriebildung und lasse daher die Anwendbarkeit dieser Theorien außer Acht, also die Interpretationen literarischer Texte, kann sich Intertextualität behaupten, wenn der unendlich offene Textbegriff Kristevas auf eine konkretere Vorstellung vom literarischen Text eingeengt wird. Ein Theoretiker, der sich um eine derartige Einschränkung der Textgrenzen verdient gemacht hat, ist der US-Amerikaner Harold Bloom. Blooms Konzept ist zwar gewiss weit entfernt von einem geschlossenen Textverständnis, das einem Gedicht ein bestimmtes Thema zuspricht und es als autonomes Konstrukt analysierbar macht, doch geht es in seinen Grundprämissen von konkreten Texten aus. Gedichte »handeln notwendig von anderen Gedichten; ein Gedicht ist eine Antwort auf ein Gedicht,«56 formuliert Bloom seinen Grundgedanken, ebenso »wie ein Dichter die Antwort auf einen Dichter ist oder ein Mensch die Antwort auf die, von denen er abstammt.«57 Der Verweis auf genealogische Zusammenhänge weist auf die Nähe zum Werk Freuds hin, das Bloom benutzt, um »eine der mutigsten und eigenwilligsten Literaturtheorien«58 der siebziger Jahre zu lancieren, so Terry Eagleton, der zudem die gesamte Wirkkraft von Blooms Schriften aus dieser Dekade pointiert zusammenfasst, wenn er schreibt: »Was Bloom in Wirklichkeit tut, ist, die Literaturgeschichte unter dem Aspekt des Ödipuskomplexes neu zu schreiben.«59 Bloom knüpft also wie vor ihm bereits Derrida und Kristeva an Freuds Lehre von der menschlichen Psyche an und bedient sich somit einer ausgesprochen offenen Konzeption, die jedem Dichter eine komplexbeladene Beziehung zu seinen Vorgängern unterstellt, samt der für den Ödipuskomplex relevanten Phasen des Nacheiferns und der Kastration des Vorgängers.60 Dies stellt Bloom in gewisser Weise

56

H. Bloom: Eine Topographie des Fehllesens, S. 28.

57

Ebd.

58

Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, 4. erweiterte und aktua-

59

Ebd.

60

Terry Eagleton paraphrasiert dieses Problem eines jeden Dichters wie folgt:

lisierte Auflage, Stuttgart, Weimar: Metzler 1997, S. 174.

»Jeder Dichter kommt ›zu spät‹, als letzter in einer Tradition; derjenige ist ein großer Dichter, der den Mut hat, dieses Zuspätkommen anzuerkennen und sich an die Untergrabung der Macht des Vorgängers zu machen.« T. Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, S. 174.

103

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE – zumindest in seinen frühen Arbeiten zur Einflussangst61 – in die poststrukturalistische Tradition Kristevas.62 Zudem findet sich bei Harold Bloom ein weiteres wesentliches Merkmal poststrukturalistischer Literaturtheorie so deutlich ausgeprägt wie an kaum einer anderen Stelle. Blooms Sicht auf Literatur unterscheidet nicht länger zwischen Produktion und Rezeption, zwischen künstlerischem Ausdruck und interpretierender Betrachtung, zwischen Kreation und Kritik. Da jedes Gedicht nach Bloom »seinen Ausgang in einer Begegnung zwischen Gedichten«63 nimmt, ist auch die Deutung eines Gedichts »notwendig immer eine Interpretation der Interpretation anderer Gedichte durch dieses Gedicht.«64 Das Gedicht kommt also selbst der interpretierenden Aufgabe von Literaturkritik und -wissenschaft nach, während die vermeintlich neutrale literaturwissenschaftliche Interpretation auf der anderen Seite auch nicht an ihrem Wahrheitswert, »sondern [an] der rhetorischen Kraft des Kritikers selbst«65 gemessen wird. Hierin kommt Bloom der eingangs zitierten Auffassung T.S. Eliots sehr nahe, nach der ein Gedicht niemals unabhängig von anderen Gedichten gedeutet werden könne. »Wer ein Gedicht interpretiert,« so Bloom, »interpretiert notwendig seine Differenz zu anderen Gedichten.«66 Daher wird intertextuelle Interpretation bei Bloom zu einer stark subjektiven Leseraktivität, die sich vor allem dadurch als poststrukturalistisch zu erkennen gibt, dass sie die Vorstellung von einer gültigen Wahrheit definitiv verabschiedet. Was Blooms ›Einflussangst‹ mit Vorzeigemodellen des Poststrukturalismus wie Kristevas Intertextualität oder Derridas Dekonstruktion teilt, ist das gedankliche Paradoxon, nach welcher die Relation über die Gegenstände selbst gesetzt wird. Deswegen führt Bloom den Begriff des Fehllesens ein (›misreading‹), der verdeutlicht, dass jede Lektüre nur ein Sinnangebot unter einer Viel-

61

Vgl. Harold Bloom: The anxiety of influence. A theory of poetry, London [u.a.]: Oxford University Press 1975; Ders.: Eine Topographie des Fehllesens.

62

Zur problematischen Stellung Blooms in der Literaturtheorie siehe beispielsweise: A. Buß: Intertextualität als Herausforderung für den Literaturunterricht, S. 31; Susanne Holthuis: Intertextualität: Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Tübingen: Stauffenburg-Verlag 1993, S. 19; S. Schahadat: Intertextualität, S. 372; Peter Stocker: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien, Paderborn: Schöningh 1998, S. 100.

63

H. Bloom: Eine Topographie des Fehllesens, S. 94.

64

Ebd., S. 100.

65

T. Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, S. 176.

66

H. Bloom: Eine Topographie des Fehllesens, S. 100.

104

5.1 INTERTEXTUALITÄT ALS GRUNDLAGE DER INTERMEDIALITÄT zahl darstellt und somit immer schon überholt erscheint. Von der Lektüre behauptet Bloom folgerichtig: »eine Fälschung ist sie dennoch zwangsläufig, da jede starke Lektüre hartnäckig behauptet, der Sinn, den sie entdeckt, sei der einzig mögliche und einzig richtige.«67 In dieser Hinsicht steht Harold Bloom in der Tradition Bachtins, dessen Auffassungen vom dialogischen Wort sich dadurch auszeichnen, »daß sie eine Dynamisierung der Sprach- und Literaturbetrachtung zur Folge haben, die sich gegen die Fixierung der einen Wahrheit, des einen Sinns im hermetisch geschlossenen Text wendet«.68 Die Entwicklung von Eliot zu Bloom entspricht primär einer Auflösung fixierter Textgrenzen. Die Beziehungen, die zwischen Texten bestehen, sind in Blooms agonalem Modell von einer Rivalität um den größtmöglichen Ruhm geprägt. Texte kommen nicht umher, sich mit ihren Vorgängertexten zu messen. In diesem Punkt erweist sich Bloom ebenso wie in der Relation zu T.S. Eliots Essay als Nachzügler, der Theoretiker scheint nur verifizieren und allgemeingültig formulieren zu können, was ein Dichter bereits geäußert hat. In einem Brief an William Faulkner rät der amerikanische Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway seinem Schriftstellerkollegen, dass jener nicht mit seinen Zeitgenossen wetteifern solle.69 Vielmehr solle er sich an den Toten messen, wenn er die eigene Stärke herausfinden wolle. Was Hemingway für die Relation von Autoren zueinander formuliert, gilt ebenso für die Beziehungen zwischen Texten, da »jeder literarische Text von Rang Bloom zufolge letztlich aus dem uneingestandenen Versuch resultiere, seinen Vorgängertext zu übertreffen, umzuschreiben und letztlich ungeschehen zu machen.«70 Bloom ist der Auffassung, dass dichterische Stärke »nur aus einem schwer errungenen Triumph über die Größten unter den

67

Ebd., S. 93.

68

I. Heilmann: Günter Grass und John Irving, S. 28.

69

»Why do you want to fight Dostoevsky in your first fight?« fragt Hemingway in besagtem Brief vom 23. Juli 1947. Zunächst solle er Turgenieff und DeMaupassant besiegen, danach könne er es mit Stendhal aufnehmen. Zum Abschluss dieses literarischen Gladiatorenspiels erinnert Hemingway seinen Kollegen Faulkner ausdrücklich an die eigene Stärke: »You and I can both beat Flaubert who is our most respected, honored master.« Vgl. Ernest Hemingway: Selected letters: 1917-1961, hrsg. von Carlos Baker, London [u.a.]: Granada 1981, S. 624.

70

A. Geisenhanslüke: Einführung in die Literaturtheorie, S. 105.

105

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Toten«71 erwachsen könne. So gesehen ist jeder literarische Text nichts weiter als die Trope eines vorangegangenen Textes. Wie sich an dieser Stelle für die vorliegende Argumentation festhalten lässt, geht die Einengung des Textbegriffs bei Bloom nicht – wie man meinen könnte – mit einem Zuwachs an Deutungssicherheit bzw. mit einer erhöhten Anwendbarkeit einher. Um diese Ziele haben sich andere Theoretiker bemüht. Eingeschränkte Intertextualität und das Ziel der Anwendbarkeit Was in der Folge Kristevas beobachtet werden kann, ist eine stetige Einengung des Textbegriffs und damit einhergehend auch eine Limitierung des Verständnisses von Intertextualität. Überlegungen zum universalen Intertext zufolge sind Texte nicht eindeutig bestimmte Zeichen, deren Bedeutung sich erst in Differenz zu anderen Texten erahnen lässt. Während für poststrukturalistische Intertextualisten hieraus die Möglichkeit entspringt, selbst Abstrakta wie ›Gesellschaft‹ oder ›Geschichte‹ als Texte zu begreifen und somit politische Chancen zu schaffen, sehen eher konservative Wissenschaftler in der vagen Definitionslage den Ursprung allen terminologischen Übels. So kommt es, dass Intertextualität in ihrer heutigen Ausprägung kaum mehr von Julia Kristevas Ursprungsgedanken in sich trägt als die bloße Namensgebung. Dafür, dass Intertextualität von ihrem poststrukturalistischen Ursprung aus eine Entwicklung genommen hat, die sich zunehmend von der Polyvalenz des kristevaschen Modells abgewendet und auf ein anwendungsorientiertes Theorieangebot hinbewegt hat, zeichnen vornehmlich deutsche Anglisten und Slawisten verantwortlich. So schreiben Ulrich Broich und Manfred Pfister in ihrem Sammelband »Intertextualität: Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien« den Vorarbeiten der französischen und amerikanischen Poststrukturalisten zur Intertextualität das Verdienst zu, sich um eine »theoretische Grundlegung des neugewonnenen Begriffs und um dessen Anwendung in erster Linie auf die hochintertextuelle Literatur des 20. Jahrhunderts«72 bemüht zu haben, um das eigene Anliegen im Anschluss an vorausgegangene Sammelbände wie die von Renate Lachmann73 oder Wolf

71

H. Bloom: Eine Topographie des Fehllesens, S. 17.

72

U. Broich/M. Pfister (Hg.), Intertextualität, S. IX.

73

Vgl. R. Lachmann (Hg.), Dialogizität.

106

5.1 INTERTEXTUALITÄT ALS GRUNDLAGE DER INTERMEDIALITÄT Schmid und Wolf-Dieter Stempel74 wie folgt in Worte zu fassen: Ihre Herausgeberschrift verstehe sich nicht »als ›abschließend‹ im Sinn einer Stillegung der Diskussion und einer endgültigen Fixierung des Begriffs [der Intertextualität]. Dieser sollte auch nicht ›diszipliniert‹, wohl aber in der Spannweite seiner ›Polyvalenz‹ auf seinen Erkenntniswert befragt und in seinem Kernbereich stärker für die praktische Textanalyse operationalisiert werden.«75

Dass mit dem Ziel der Anwendbarkeit auch eine Verengung des Textbegriffs einher geht, versteht sich beinahe von selbst. Eine Theorie, die sich problemlos auf literarische Texte applizieren und in die Praxis umsetzen lassen soll, kann nicht umhin, inhärente Widersprüche zu beseitigen. Freilich geht mit dieser Beseitigung von Widersprüchen der Intertextualitätsforschung aber auch die dekonstruktiv-poststrukturalistische Grundausrichtung ab, dank welcher sich die Theorie zu Beginn einer Interpretationspraxis widmen konnte, die den poststrukturalistischen Paradigmenwechsel ernsthaft berücksichtigt hat. Vor diesem Hintergrund ist es fraglich, inwieweit das Ziel einer analysepraktischen Operationalisierung poststrukturalistischer Ansätze tatsächlich durch Reduktion von Ambivalenzen erreicht werden kann. Nichtsdestotrotz sind die Kritikpunkte an Kristevas Intertextualitätsbegriff berechtigt. Angebrachte Kritik setzt u.a. auf der terminologischen Ebene an. So fasst Manfred Pfister beispielsweise einen Grundzug der poststrukturalistischen Intertextualitätsauffassung zusammen, um eine logisch berechtigte Hinterfragung der Kategorien anzuschließen. »In jeden Text schreiben sich die Spuren – und seien sie auch noch so undeutlich und verwischt – des ganzen Universums der Texte ein, des ›texte générale‹«,76 so Pfister zur dekonstruktiven Anlage der Intertextualität, woraus er zu Recht schlussfolgert: »Prätext jedes einzelnen Textes ist damit nicht nur das Gesamt aller Texte (im weitesten Sinn), sondern darüber hinaus das Gesamt aller diesen Texten zugrunde liegender Codes und Sinnsysteme.«77 In der Tat

74

Vgl. Wolf Schmid/Wolf-Dieter Stempel (Hg.), Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität, Wien: Gesellschaft zur Förderung der slawistischen Studien 1983.

75

U. Broich/M. Pfister (Hg.), Intertextualität, S. IXf.

76

Manfred Pfister: »Konzepte der Intertextualität«, in: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer 1985, S. 1-30, hier S. 13.

77

M. Pfister: Konzepte der Intertextualität, S. 13.

107

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE lässt sich die Relation zwischen Text und Prätext poststrukturalistisch auf die einfache Formel herunterbrechen, die Vincent B. Leitch in seiner Einführung in die Dekonstruktion angibt: »Every text is an intertext«,78 heißt es dort. Zum einen verneint dieses Verständnis von Text und Intertext jegliche Möglichkeit literarischer Originalität – alles ist schon einmal da gewesen ist, jeder Text ist nur eine Transformation eines vorausgegangenen –, zum anderen führt es zu einer terminologischen Redundanz, die im Gegensatz zum erstgenannten Punkt tatsächlich einen vermeintlichen Schwachpunkt darstellt. Wenn wirklich jeder Text ein Intertext und sämtliche Literatur somit per se intertextuell ist,79 dann besitzt die Unterscheidung in Text und Intertext keine Aussagekraft. Daher weisen traditionell operierende Intertextualisten Kristevas Ideen mit dem Hinweis zurück, dass ihr Verständnis von Intertextualität eines sei, das ganz allgemein bereits mit jeder Form von Textualität gegeben und damit redundant sei.80 Weitaus überraschender als die terminologischen Einwände sind die Schlussfolgerungen, welche Traditionalisten wie Manfred Pfister aus vermeintlich aufgedeckten Schwachstellen des poststrukturalistischen Intertextualitätsmodells ziehen. So stellt Pfister zunächst die Auswirkungen des paradigmatischen Todes des Autors und der Öffnung des Textbegriffs recht treffend dar, wobei er äußerst drastische Formulierungen verwendet: »Fragen nach dem Wissen und den Intentionen des Autors, nach der Textintentionalität und nach den Informationsvorgaben beim Rezipienten und der Rezeptionssteuerung durch den Text selbst, wie sie konkreten Aktualisierungen des intertextuellen Beziehungspotentials zugrunde liegen, bleiben angesichts der Dezentrierung der Subjekte und der Entgrenzung der Texte belanglos, ja stellen einen Rückfall in bürgerlich-humanistische Mythen dar.«81

Die deutliche Wortwahl des ›Rückfalls in bürgerlich-humanistische Mythen‹ scheint nahe zu legen, dass Pfister selbst die angeführten Analysepraktiken – das Forschen nach einer Autorintention etc. –

78

Vincent B. Leitch: Deconstructive Criticism. An advanced introduction, New

79

Vgl. T. Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, S. 122f.

York: Columbia University Press 1983, S. 59. 80

Vgl. hierzu auch: A. Buß: Intertextualität als Herausforderung für den Literaturunterricht, S. 22. M. Pfister: Konzepte der Intertextualität, S. 8.

81

Ebd., S. 22.

108

5.1 INTERTEXTUALITÄT ALS GRUNDLAGE DER INTERMEDIALITÄT als überholt ansieht.82 Dieser Eindruck mag jedoch täuschen, da Pfister andererseits den Tod des Autors und die Abkehr von Textintentionalitäten geradezu beklagt, wenn er moniert, dass dem literarischen Werk im poststrukturalistischen Modell Qualitäten wie Individualität und Originalität nicht länger zugesprochen werden: »Mit dem individuellen Subjekt des Autors verschwindet aber auch die Individualität des Werkes selbst, das zum bloßen Abschnitt in einem universalen, kollektiven Text entgrenzt wird.«83 Wird nun zusätzlich berücksichtigt, welche eigene Antwort auf das Dilemma um poststrukturalistische Theoriebildung und analysepraktische Operationalisierung Pfister und Broich in ihrem Sammelband geben, verschwinden letzte Zweifel an der Position ihres Intertextualitätsmodells. Intertextualität nach Pfister und Broich, vielerorts auch als moderates Lager der Intertextualität bezeichnet,84 vermittelt nicht – wie teilweise angenommen wird – zwischen poststrukturalistischen und anwendungsorientierten Intertextualitätskonzepten, sondern stellt eine absolute Verkörperung des letztgenannten dar. Kompromisse finden sich bei Pfister/Broich lediglich in Bezug auf mögliche Erweiterungen des Textbegriffs um Anleihen aus Film, Musik und bildender Kunst.85 Was jedoch die elementare Frage nach Autorintention und Textrezeption betrifft, erweist sich das aus der Anglistik stammende Modell von Pfister/Broich als höchst konservativ, was bereits aus der Intertextualitätsvorstellung hervorgeht, die dem Konzept zugrunde liegt: »Nach diesem Konzept liegt Intertextualität dann vor, wenn ein Autor bei der Abfassung seines Textes sich nicht nur der Verwendung anderer Texte bewußt ist, sondern auch vom Rezipienten erwartet, daß er diese Beziehung zwischen

82

Da zudem im direkten Anschluss an die zitierte Textpassage unterstrichen wird, dass strukturalistisch und hermeneutisch orientierte Ansätze auf eben diese Fragen zurück lenken, wird an dieser Stelle das Selbstverständnis Pfisters deutlich, der seinen Beitrag anscheinend nicht als strukturalistisch-hermeneutisch versteht. Diesbezüglich wird im weiteren Argumentationsverlauf auf diverse Widersprüche hinzuweisen sein.

83

Ebd., S. 9.

84

Vgl. z.B. A. Buß: Intertextualität als Herausforderung für den Literaturunterricht, S. 26.

85

Vgl. Christine Hummel: Intertextualität im Werk Heinrich Bölls, Trier: WVT 2002, S. 2.

109

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE seinem Text und anderen Texten als vom Autor intendiert und als wichtig für das Verständnis seines Textes erkennt.«86

Um Intertextualität konstatieren zu können, muss die Literaturwissenschaft also das Bewusstsein des Autors zum einen und das der impliziten und konkreten Leser zum anderen ergründen. Ein solches Verständnis von Intertextualität teilt gewiss nur noch wenige Eigenschaften mit Kristevas ursprünglicher Konzeption; die Limitierung möglicher Interpretationsansätze, die durch eine vergleichende Parallellektüre verschiedener Texte gewonnen werden, ist derart frappierend, dass Intertextualität streng genommen ein absolutes Randphänomen darstellen müsste. So heißt es logischerweise auch in der Folge: »Intertextualität in diesem engeren Sinne setzt also das Gelingen eines ganz bestimmten Kommunikationsprozesses voraus, bei dem nicht nur Autor und Leser sich der Intertextualität eines Textes bewusst sind, sondern bei dem jeder der beiden Partner des Kommunikationsvorgangs darüber hinaus auch das Intertextualitätsbewußtsein seines Partners miteinkalkuliert.«87

Die hier aufgeworfenen Fragen nach dem Bewusstsein von Autor und Leser literarischer Texte stellen für die Literaturwissenschaft in der Tat einen ›Rückfall in bürgerlich-humanistische Mythen‹ dar, wie es Pfister selbst ausdrückt, da sich der Fokus in traditionell hermeneutischer Weise auf eine Reproduktion des Produktionsprozesses richtet. Diese Verlagerung des Erkenntnisinteresse erweckt neben der Intention des Autors weitere tot geglaubte Größen zu neuem Leben, und zwar vornehmlich die stoische Konzentration auf überholte Vorstellungen wie der, dass literarische Texte einen festgesetzten Sinn haben, dass sie eine tiefere Wahrheit ausdrücken und dass diese Wahrheit der Intention des Autors entspricht. Pointiert formuliert: Broich und Pfisters »enger gefasster Begriff, der es ermöglicht, Intertextualität von Nicht-Intertextualität zu unterscheiden,«88 hat mit Kristevas Ausgangsmodell nicht nur wenig gemein, sondern widerspricht ihm ganz essentiell, da eine von Kristevas basalen Überzeugungen jene ist, dass »[e]in logisches System, das auf der Basis 0/1 arbeitet (falsch/wahr, Nichts/Notation), […] untaug-

86

Ulrich Broich: »Formen der Markierung von Intertextualität«, in: Ders./Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer 1985, S. 31-47, hier S. 31.

87

U. Broich: Formen der Markierung von Intertextualität, S. 31.

88

U. Broich/M. Pfister (Hg.), Intertextualität, S. X.

110

5.1 INTERTEXTUALITÄT ALS GRUNDLAGE DER INTERMEDIALITÄT lich [sei], um das Funktionieren der poetischen Sprache zu erklären.«89 Vor literarischen Texten des karnevalesken Diskurses, welcher für Kristevas Semiotik die rühmliche Ausnahme darstellt, da er »eine Logik des Traums annimmt«,90 muss eine intertextuelle Analyse á la Broich/Pfister wohl oder übel kapitulieren, da sie den dynamischen Charakter literarischer Beziehungen ausblendet, der nur selten zu eindeutigen Verweiszusammenhängen führt. Wenn der Textbegriff also eingeengt und zugunsten einer differenzierten Terminologie ›anwendungszahm‹ gemacht wird, läuft Intertextualität Gefahr, auf eine ihrer Grundstufen, nämlich auf Formen der traditionellen Quellen- und Einflussforschung zurückzufallen. Andererseits liegen die Schwächen der kristevaschen Logik, nach welcher jede Form definitorischer Arbeit verboten und höchstens im poetischen Diskurs realisierbar sei,91 ohne Zweifel auf der Hand, so dass es gerade die Abkehr von Kristeva ist, der die Intertextualitätsforschung viele terminologische Fortschritte zu verdanken hat. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Bereich die Unterscheidung in Einzeltext- und Systemreferenz, die Broich und Pfister eingeführt haben. So trennen sie einen Kernbereich der Intertextualität, den Bereich der Einzeltextreferenz, der bewusst intendierte und markierte Text-Text-Bezüge untersucht, von dem Randzonenphänomen der Systemreferenz, in welchem Intertextualität auch dann gegeben ist, wenn sich ein Text auf textübergreifende Systeme bezieht wie beispielsweise die spezifischen Muster und Codes, die Texten zugrunde liegen (z.B. Gattungskonventionen).92 Obgleich beide Bereiche nur schwer unterscheidbar sind, was die Autoren selbst auch zugestehen,93 ist die Unterscheidung sehr sinnvoll, was im späteren Verlauf vor allem durch Verfeinerungen der Kategorien zu zeigen sein wird, für welche die Intermedialitätsforschung verantwortlich zeichnet.

89

J. Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 352f.

90

Ebd., S. 354.

91

Vgl. ebd., S. 353.

92

Hiervon abweichend gibt es auch Vorschläge, streng zwischen Intertextualität und Systemreferenz zu differenzieren, wobei Intertextualität ausschließlich als Sammelbegriff für Bezüge zwischen konkreten Einzeltexten angesehen wird. Vgl. u.a. Klaus W. Hempfer: Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis, München: Fink 1976; Rolf Klöpfer: »Grundlagen des ›dialogischen Prinzips‹ in der Literatur«, in: Renate Lachmann (Hg.), Dialogizität, München: Fink 1982, S. 85-106.

93

Vgl. U. Broich/M. Pfister (Hg.), Intertextualität, S. 51.

111

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Mit der Unterscheidung in Einzeltext- und Systemreferenz liefert Broich und Pfisters Auseinandersetzung mit Intertextualität einen essentiellen, taxonomischen Beitrag für eine produktive Operationalisierung theoretischer Grundgedanken. Dass eine solche Differenzierung intertextueller Phänomene für den Praxisgebrauch unabdingbar ist, zeigt der Raum, den Gérard Genette der Unterscheidung in seinem Buch »Palimpseste« einräumt.94 Genette hat nämlich bereits vor Broich und Pfister auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass die Bezüge zwischen Texten eine andere intertextuelle Qualität als Bezüge zwischen Texten und Textsystemen haben. Dieser Erkenntnis trägt Genette insofern Rechnung, dass er in seiner Terminologie von vorangegangenen Taxonomien abweicht. Zunächst hat er auf den Terminus ›Paratextualität‹ zurückgegriffen,95 den er in »Palimpseste« jedoch durch den Begriff ›Transtextualität‹ ersetzt hat.96 In diesem letzten, am stärksten ausdifferenzierten Begriffssystem führt Genette ›Intertextualität‹ als eine von mehreren Ausprägungen von Transtextualität, und zwar als jene Ausformung, die anhand konventioneller Markierungen – wie dem markierten Zitat (d.h. »unter Anführungszeichen, mit oder ohne genaue Quellenangabe«97) dem Plagiat und der Anspielung – konkrete Einzeltextreferenzen beleuchtet. Einen zweiten Typus transtextueller Beziehungen, der sich mit Einzeltextreferenzen beschäftigt, nennt Genette Hypertextualität, worunter er »jede Beziehung zwischen einem Text B […] und einem Text A […]«98 versteht. Konstitutiv für diese Form der Transtextualität ist zudem, dass »Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist.«99 Für kommentierende Textbeziehungen stellt Genette den Begriff ›Metatextualität‹ bereit. Diesen drei Transtextualitätstypen – ›Intertextualität‹, ›Hypertextualität‹ und ›Metatextualität‹ – stellt Genette einen Typus gegenüber, der solche Beziehungen zwischen Texten und Textgruppen zusammenfasst, die Broich und Pfister als ›Systemreferenzen‹ bezeichnen. In Genettes Kategoriensystem, das dem Sammelband von Broich und Pfister vorausgegangen ist, wird Systemreferenz unter dem Label ›Architextualität‹ geführt.

94

Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/

95

Vgl. Gérard Genette: Introduction à l'architexte, Paris: Seuil 1979, S. 87.

96

Vgl. G. Genette: Palimpseste, S. 9.

97

Ebd., S. 10.

98

Ebd., S. 14.

99

Ebd., S. 15.

Main: Suhrkamp 1993.

112

5.1 INTERTEXTUALITÄT ALS GRUNDLAGE DER INTERMEDIALITÄT Wie dieser Exkurs zu den historischen Entwicklungsstufen verschiedener Intertextualitätsvorstellungen verdeutlicht hat, determinieren die distinguierenden Fragen nach dem Textbegriff und nach der Bedeutung von Autor und Intentionalität die jeweiligen Konzepte im Detail. Was in der poststrukturalistischen Kindheitsphase der Theorie unter dem Etikett ›Intertextualität‹ geführt worden ist, muss nur bedingt mit späteren anwendungsorientierten Konzepten übereinstimmen. Dennoch ist es unabdingbar das Phänomen Intertextualität von seinen poststrukturalistischen Wurzeln aus zu begreifen, wenn seine Relevanz für die Etablierung der Intermedialitätsforschung deutlich werden soll.

5.1.2 DER WERT DER INTERTEXTUALITÄT FÜR DAS PHÄNOMEN INTERMEDIALITÄT Die enge Verwandtschaft von Intertextualität und Intermedialität zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass sich beide Forschungszweige denselben Schwierigkeiten gegenüber sehen. Wie die Intertextualität anfänglich unter dem Verdacht stand, mittels einer Umbenennung der Basistaxonomien lediglich auf althergebrachte Phänomene vorrangig aus der Quellen- und Einflussforschung zurückzugreifen, so sieht sich auch die Intermedialität vielerorts dem Vorwurf ausgesetzt, alten Wein in neuen Schläuchen zu servieren. In der Komparatistik wird beispielsweise, nicht zu Unrecht, angeführt, dass die Untersuchung der Beziehungen zwischen Literatur, Malerei und Musik unter dem Label ›interart studies‹ seit jeher zu den Aufgaben der Disziplin gehöre und daher kein Novum darstelle.100 Ebenso zentral sind Einflussbeziehungen zwischen den verschiedenen Künsten in der Stoff- oder Motivgeschichte, wie Broich und Pfister in ihrem Intertextualitätssammelband hervorheben. Der ›Arbeit am Mythos‹ zufolge, welche beständig von den Künsten geleistet wird, komme es ständig zu Reproduktionen, Aktualisierungen und Variationen des ursprünglichen Mythos, welche gemeinsam mit dem Prätext eine Einheit bilden, die Broich und Pfister als ›intertextuelle Serie‹ be-

100

Vgl. z.B. Ulrich Weisstein (Hg.), Literatur und bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebiets, Berlin: Schmidt 1993; oder: Werner Wolf: »Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft? Plädoyer für eine literaturzentrierte Erforschung von Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von Virginia Woolfs The String Quartet«, in: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 21 (1996), S. 85-116, hier S. 89.

113

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE zeichnen.101 Als Beispiel für eine intertextuelle Serie wird der Salome-Mythos in seinen verschiedenen Bearbeitungen in Literatur, bildender Kunst und Oper angeführt, was den plurimedialen Charakter dieses Phänomens verdeutlicht, das Broich und Pfister in Ausklammerung der nicht-literarischen Bearbeitungen ›intertextuell‹ nennen. An dieser Stelle wird ein wesentlicher Interessenkonflikt ersichtlich, der das Verhältnis von Intertextualität und Intermedialität in seiner gesamten Entwicklung begleitet. Indem musikalische und malerische Kunstwerke sowie Bearbeitungen aus den bildenden Künsten unter dem Sammelbegriff ›intertextuelle Serie‹ subsumiert werden, formuliert die daher nur bedingt trennscharfe broich-pfistersche Terminologie einen Herrschaftsanspruch der Textwissenschaften. Häufig findet sich bei frühen Intertextualisten (auch und vornehmlich unter den poststrukturalistischen Vertretern) eine derartige Aufwertung und Bedeutungserweiterung des Textbegriffs. Dies liegt teilweise in dem Umstand begründet, dass die für die Untersuchungsgegenstände involvierten Wissenschaften, die Musik-, Kunst- und Literaturwissenschaften (zum Teil noch heute), nur unzureichend vernetzt sind und es erst Anfang der neunziger Jahre zu der Herausbildung einer eigenständigen Medienwissenschaft gekommen ist. Somit stellt eine Ausweitung des Textbegriffs so wie die durch Broich und Pfister auch einen institutionellen Angriff auf die Monopolstellung der interart studies dar.102 Von daher verwundert es kaum, dass die Intermedialitätsforschung, die den Fokus vom Textauf den Medienbegriff verlagert, den ungenauen broich-pfisterschen Terminus durch einen anderen Begriff ersetzt. Bei »medienunspezifische[n] ›Wanderphänomene[n]‹«103 wie dem »Auftreten desselben Stoffes oder [der] Umsetzung einer bestimmten Ästhetik bzw. eines bestimmten Diskurstyps in verschiedenen Medien«104 wird hier von ›Transmedialität‹ gesprochen, womit der plurimediale Charakter der Erscheinung berücksichtigt wird. Dass es sich beim Transmedialen um denselben Bereich wie im Fall der intertextuelle Serie handelt,

101 102

Vgl. U. Broich/M. Pfister (Hg.), Intertextualität, S. 57f. Schließlich steigert jene Fachdisziplin, welche die Verantwortung für medienübergreifende Phänomene wie ›intertextuelle Serien‹ inne hat, auch in stärkerem Maße als die Nachbardisziplinen ihre Aussichten auf intermediale Projekte und damit auf eine ausgesprochene Vormachtstellung. Dass damit neben dem wissenschaftlichen Renommee der eigenen Disziplin auch ganz konkret Projekt- und Stellenmittel zu erschließen bzw. zu verteidigen sind, steht außer Frage.

103

Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen, Basel: Francke 2002, S. 12.

104

Ebd., S. 12f.

114

5.1 INTERTEXTUALITÄT ALS GRUNDLAGE DER INTERMEDIALITÄT geht aus der expliziten Bezugnahme auf den Mythos hervor. Im Gegensatz zur intertextuellen Serie wird bei der Transmedialität besonders hervorgehoben, dass es in diesem Bereich medienunspezifische Phänomene in verschiedenen Medien in Erscheinung treten, »ohne dass hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungmediums wichtig oder möglich ist oder für die Bedeutungskonstitution des jeweiligen Medienprodukts relevant würde.«105 Der Ursprung eines Mythos ist nur spekulativ rekonstruierbar; das liegt in der Natur der Sache, findet aber in der broich-pfisterschen Vorstellung einer intertextuellen Serie, die schon in der Taxonomie den Textbegriff privilegiert, keine Berücksichtigung. Es ist zudem zu erwarten, dass sich zum Bestand jener Elemente, die sich nicht eindeutig einem Medium zuordnen lassen, in absehbarer Zukunft auch eine Reihe Phänomene gesellen werden, die in mehr als einem Medium verwendet werden. So ist die »Einführung eines voice-over-Erzählers im Film beispielsweise […] heute nur noch in spezifisch gestalteten Ausnahmefällen als Rekurs auf das literarische Medium zu betrachten«,106 da sie bereits zu einer typisch filmischen Konvention geworden ist. Als Resultat ähnlicher Prozesse werden heute auch plurimediale Phänomene wie z.B. das Theater als Einzelmedien angesehen, obwohl »deren als distinktiv wahrgenommene Spezifik sich historisch betrachtet durch Einbeziehung anderer medialer Ausdrucksformen konstituiert hat und immer wieder neu konstituiert.«107 Neben den genannten Schwächen haben die Überlegungen zu intertextuellen Serien auch ein nicht unbedeutendes Verdienst vorzuweisen. In intertextuellen Serien werden nach Broich und Pfister Einzelreferenzen in einer übergreifenden Systemreferenz gebündelt. Abgesehen von der fälschlichen Konzentration auf ausschließlich inhaltliche Aspekte, die Formales beinahe vollständig ausblendet,108

105

Ebd., S. 13.

106

Ebd., S. 35.

107

Ebd., S. 176.

108

Hieran lässt sich ein Manko der broich-pfisterschen Terminologie ausmachen, da die Dichotomie von Intertextualität und Systemreferenz eine künstliche Trennung herbeiführt. So wird der stoffliche Bezug einer Heimkehrerzählung zur Odyssee als Intertextualität geführt, während eine formale Adaption beispielsweise eine Anrufung der Musen oder eine Gliederung der Erzählung in zwölf Teile als Systemreferenz geführt wird. Die Gefahr, dass auseinandergerissen wird, »was von der Intuition her zusammengehört«, ist den Autoren durchaus bewusst; sie weisen sogar gesondert darauf hin. Vgl. U. Broich/M. Pfister (Hg.), Intertextualität, S. 18.

115

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE stellt die Trennung in Einzeltext- und Systemreferenz ein nützliches Instrumentarium dar, welches auch noch in späteren Intertextualitätsmodellen sowie in der Intermedialitätsforschung von Bedeutung ist. Anders als Broich und Pfister geht Heinrich F. Plett in seinen Überlegungen zur Intertextualität auf den Sonderfall intermedialer Bezugnahmen ein, ohne fremdmediale Bezüge als Untergattungen eines übergeordneten Textbegriffs zu verstehen. Die Analyse medialer Substitutionen, von denen Plett in diesem Zusammenhang spricht, weist den Weg in Richtung eines architextuell geprägten Intermedialitätsbegriffs, da sie bereits systemreferentielle Komponenten wie »Themen«, »Szenen« etc. mit einschließen.109 Der gemeinsame Rückgriff auf die kategoriale Unterscheidung zwischen Einzel(text)referenz und Systemreferenz ist nicht die einzige Verbindung zwischen Intertextualität und Intermedialität. Irina Rajewsky hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass sich audiovisuelle Medien allen Differenzen zum Trotz ebenso wie literarische Texte als kommunikative Systeme auffassen lassen, die ob ihrer plurimedialen Grundausrichtung lediglich auf mehr Zeichensysteme zurückgreifen.110 Dieses Verständnis entspricht der Vorstellung von Film als einem mehrfach-kodierten Text, nach welcher in den Richtlinien und Lehrplänen für den gymnasialen Oberstufenunterricht vom »literarische[n] oder filmische[n] Text«111 die Rede ist. Da unterschiedliche Medien auf verschiedene Zeichensysteme zurückgreifen, wie im genannten Fall auf Schrift sowie auf Bild und Ton, dürfen durchaus Zweifel geäußert werden, inwiefern es sinnvoll sei, sich ihnen mit ein und derselben Methode anzunähern. Obwohl es sich vielerorts eingebürgert hat, – analog zur Ausweitung des Textbegriffs in den Kulturwissenschaften112 – auch nicht-literarischen Medienprodukten mit literaturwissenschaftlichen Analyseverfahren zu begegnen, muss die Frage erlaubt sein, ob etwa dem Film nicht gerade durch eine Verbreitung literaturwissenschaftlicher Interpretationspraktiken das genuin Filmische genommen wird. Als Problem erweist sich vor dem Hintergrund solcher Fragen die institutionelle Konkurrenzsituation von Intertextualität und Intermedialität, versuchen doch beide Theorien zur Aufwertung des eigenen Modells, die jeweils anderen Kategorien als Bestandteile des eigenen Systems 109

J. Müller: Intermedialität, S. 102.

110

I. Rajewsky: Intermedialität, S. 65.

111

Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Deutsch, S. 21.

112

J. Culler: Literaturtheorie, S. 70.

116

5.1 INTERTEXTUALITÄT ALS GRUNDLAGE DER INTERMEDIALITÄT auszuweisen und somit selbst Überbegriffe für die andere Theorie zu entwickeln. Neutral lässt sich festhalten: »›Intermedialität‹ ist in den 90er Jahren als ein solcher termine ombrello, oder besser noch ombrellone, in die wissenschaftliche und öffentliche Debatte eingegangen, wird er doch zumeist in Anlehnung an das Konzept der Intertextualität verstanden, die ihrerseits bereits als termine ombrello zu bezeichnen ist.«113

Welcher Schirmbegriff sich in diesem Wettstreit als der größere erweist und den anderen überdacht, ist eine der unlösbaren Fragen, welche den Interessenskonflikt zwischen den Text- und Medienwissenschaften begleiten. Lässt man diese nicht ohne Weiteres lösbaren Grabenkämpfe außer Acht, denen es primär um eine Etablierung des Text- oder Medienbegriffs zur Stärkung der eigenen Disziplin geht, stellt sich anhand zahlreicher Gemeinsamkeiten sogar die Frage, inwieweit sich Intertextualität und Intermedialität überhaupt voneinander unterscheiden. Folgend soll der Versuch unternommen werden, den Konflikt mit Hilfe einer Aussparung der dazugehörigen Terminologie auszublenden. Fassen wir ›Text‹ ein wenig abstrahierend als ein ›semiotisches System‹ auf, ließe sich die nachstehende Definition ableiten: Intertextualität ist eine wissenschaftliche Analysepraxis, welche die Bezüge eines semiotischen Systems zu einem und/oder mehreren anderen semiotischen Systemen untersucht. Worauf an dieser Stelle das Augenmerk gelenkt werden soll, ist ein Umstand, der aufschlussreiche Rückschlüsse ermöglicht. In der obigen Definition lässt sich der Begriff ›Intertextualität‹ in ›Intermedialität‹ ändern, ohne dass es dabei zu einer Geltungsminderung käme. Für eine vollauf zufrieden stellende Definition braucht es aus Sicht der Intermedialitätsforschung nur den Zusatz, dass bei intermedialen Bezügen im Gegensatz zu intertextuellen Bezugnahmen »aber per definitionem Mediengrenzen überschritten werden.«114 Ist das Verhältnis von Intertextualität und Intermedialität durch diese Abstraktion auf den größten gemeinsamen Nenner gebracht, so lassen sich für den Verlauf der vorliegenden Argumentation zwei wesentliche Erkenntnisse festhalten. Zum einen lässt sich in Anlehnung an Harold Blooms Aussage, dass kein Gedicht in völliger Isolation von anderen Gedichten exis113

I. Rajewsky: Intermedialität, S. 6.

114

Ebd., S. 72.

117

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE tiert,115 für Medien im Allgemeinen festhalten, dass kein Medienprodukt seine Bedeutung vollkommen unabhängig von den Produkten anderer Medien entfalten kann; vielmehr gilt grundsätzlich: »Jedes Medium kann auf andere Medien Bezug nehmen. Entscheidend ist dabei stets […], daß mit den Mitteln des eigenen Mediums eine Illusion, ein ›Als ob‹ des Fremdmedialen hergestellt wird, die den Zuschauer, den Betrachter, den Hörer dazu veranlaßt, im eigentlich Filmischen, Theatralen, Malerischen, Musikalischen usf. ein anderes Medium wahrzunehmen.«116

Stellen in dieser Feststellung von Irina Rajewsky die Leser (bzw. Zuschauer, Betrachter, Hörer etc.) die bedeutungsdeterminierende Instanz dar, ist bereits in der drohenden Willkür des Interpretationsakts eine Nähe zu Blooms leserzentriertem Modell gegeben.117 Zugegebenermaßen spricht Rajewsky den Medien lediglich die Möglichkeit zu, sich auf Fremdmedien zu beziehen. Von einer unvermeidbaren Notwendigkeit, wie sie Bloom beinahe als universelles Naturgesetz mit unhinterfragbarer Gültigkeit formuliert, ist bei Rajewsky hinsichtlich der Bezüge zwischen einzelnen Medienprodukten keine Rede; das allgemeine Einräumen einer solchen Möglichkeit zielt jedoch in dieselbe Richtung und müsste meines Erachtens nach durchaus auf diese Weise weitergedacht werden. Die entscheidende Frage würde hierbei lauten, ob es einem Medium überhaupt möglich ist, sich aus der Relation zu anderen Medien zu lösen. Oder anders formuliert: Wenn man nicht nicht-kommunizieren kann, wie die psychologischen Studien von Paul Watzlawick herausgestellt haben,118 kann es dann eine Vermittlungsform ohne Bezug zur Vermittlung im Allgemeinen geben? Sollte ein Medium, beispielsweise ein Schreibwerkzeug wie ein SMS-fähiges Mobiltelefon, vor dem Hintergrund der medialen Entwicklungen bewertet werden, die ihm vorausgegangen sind? Welche Auswirkungen hat die mediale Form auf den Inhalt, z.B. Keilschrift, Text auf Pergament oder SMS auf das Geschriebene? Welche Bedeutung kommt anderen synchronen

115

Vgl. H. Bloom: Eine Topographie des Fehllesens, S. 28.

116

I. Rajewsky: Intermedialität, S. 162.

117

Blooms Überlegungen zur Einfluß-Angst und zum misreading sind ja bekanntlich gerade aufgrund der absoluten Privilegierung der Beziehungen zwischen Texten, welche ein individueller Leser (in der Regel Harold Bloom selbst) zu erkennen meint, in die Kritik geraten.

118

Vgl. Paul Watzlawick/Janet Beavin: Menschliche Kommunikation, Bern, Stuttgart: Huber 1969; Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden. Störungen und Klärungen, Bd. 1, Reinbek: Rowohlt 1981.

118

5.1 INTERTEXTUALITÄT ALS GRUNDLAGE DER INTERMEDIALITÄT Medien bei der Bewertung eines Einzelmedienprodukts zu, z.B. der SMS im Vergleich zu einem handgeschriebenen Text oder einer Videobotschaft? All diese Fragen sind unbeantwortet, teilweise ungestellt. Sie verdeutlichen aber, dass die Hinwendung einzelner Teildisziplinen wie der Film-, Musik-, Theater-, Kunst- oder Literaturwissenschaft zu Modellen der Intermedialität zwangsläufig mit dem Wandel von einer hermeneutisch-motivierten Rekonstruktion von Aussageabsichten zu einem dynamischen Interpretationsspiel einher geht, das nicht auf letztbegründete Wahrheiten, sondern auf eine Ausleuchtung möglicher, häufig auch nebeneinander bestehender Sinn- und Bedeutungszuschreibungen hinausläuft. Daraus lässt sich die zweite Erkenntnis ableiten, die für spätere Rückgriffe auf das Verhältnis von Intermedialität und Intertextualität bedeutsam ist. Für die Intertextualität nach poststrukturalistischem Verständnis ist es unabdingbar, sich von der konventionellen Einfluss- und Quellenforschung abzusetzen. Ein früher Vorwurf seitens der traditionalistischen Literaturwissenschaft lautete, dass unter dem neuartigen Etikett der Intertextualität Überzeugungen und Arbeitstechniken eingeführt würden, die als Quellenforschung schon immer ein fester Bestandteil der Philologien gewesen sei. Seither ist es ein ernsthaftes Anliegen intertextueller Analysepraxis, den Mehrwert der Intertextualität sichtbar zu machen. Die Intermedialität steht heute vor demselben Legitimationsproblem. Eine Medienanalyse gleich welcher Art darf sich nicht darauf beschränken, nachzuzeichnen, auf welche Quellen sich Zitate, Anspielungen und Adaptionen zurückgehen, denn das hieße, hinter die traditionelle Quellen- und Einflussforschung zurückzufallen. Für Intertextualität und Intermedialität darf die übergeordnete Frage gleichermaßen nicht ›woher?‹ lauten. Konkrete Medienanalysen müssen zwar ebenso wie die Quellenforschung Bezugnahmen erkennen und ihre Herkunft ermitteln. Darüber hinaus müssen sie »die Funktion dieser Elemente im neuen Kontext [und] deren Veränderung«119 untersuchen »oder gar die Frage, was es bedeutet, daß ein Text sich in Relation zu einem anderen konstituiert« in den Blick nehmen. Da diese Interessen den Rahmen gewöhnlicher Quellenforschung überschreiten, kann man »genau hier […] die Lücke für einen Intertextualitätsbegriff [sehen], der sich nicht auf Umbenennung von Bekanntem beschränkt«,120 wie es Klaus W. Hempfner getan hat. 119 120

I. Rajewsky: Intermedialität, S. 61. Klaus W. Hempfner: »Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel. Die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der italienischen und fran-

119

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Vor diesem theoretischen Hintergrund richtet sich die vorliegende Arbeit mit ihrer grundlegend didaktischen Konzeption neben den theaterinteressierten Lesern vorrangig an Deutschlehrer. Für den schulischen Literaturunterricht empfehlen sich die anwendungsorientierten Modelle und Konzepte gewiss stärker als die Wurzeln, aus denen sie sich nähren. Eine elementare Herausforderung bei dem Versuch Theorie als Unterrichtsgegenstand einzusetzen (insbesondere in poststrukturalistischer Ausprägung) besteht in den eingangs aufgeführten Erwartungen an Literatur, die Schüler aus dem ›gesunden Menschenverstand‹ ableiten zu können glauben: also in erster Linie die Vorstellung einer bedeutungskonstituierenden Autorintention und die feste Überzeugung, dass es eine geschlossene Welt mit unantastbaren Wahrheiten geben müsse. Daher sollten sich Intertextualitätskonzepte wie das von Manfred Pfister und Ulrich Broich, die z.B. über Formen der Markierung explizit auf das Bewusstsein des Autors abzielen, unschwer mit dem Sinn- und Bedeutungshunger von Schülern verbinden lassen. Geht der Literaturunterricht allerdings diesen Weg des offenkundig geringeren Widerstands, setzt er sich einer anderen Gefahr aus, auf die an dieser Stelle unbedingt hingewiesen werden muss. Der Literaturunterricht ist (nicht nur auf der Sekundarstufe II) nämlich auch verpflichtet, die Schüler auf ein späteres Hochschulstudium vorzubereiten. Wird nun zugunsten einer stärkeren Eindeutigkeit auf eine offene Auslegung des Intertextualitätskonzepts nach Kristeva oder Bloom verzichtet, prägt das ein falsches Bild von Theorie.121 Theorie, so lernen die meisten erst als Studierende, ist eben nicht eindeutig und wissenschaftlich einwandfrei nachweisbar. Im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Experiment, das in hundert Versuchen Wasser erhitzt und hundert mal einen Übergang vom flüssigen in den gasförmigen Aggregatszustand beobachten kann, werden zwei intertextuelle Analysen desselben Textes ebenso wenig kongruente Ergebnisse liefern wie zwei psychoanalytische Interpretationen ein und desselben Films. Im Gegensatz zu seiner gewohnten Rolle des

zösischen Renaissance-Lyrik (Ariost, Bembo, Du Bellay, Ronsard)«, in: Michael Titzmann (Hg.), Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen: Niemeyer 1991, S. 7-43, hier S. 19. 121

Zugegebenermaßen steigert ein solcher Verzicht auf ›sperrige‹ Theoriemodelle die Aussicht auf einen reibungslosen Unterricht und wird daher auch zu Recht in didaktischen Studien propagiert, die greifbare Unterrichtskonzepte für Intertextualität am konkreten Text liefern. Vgl. beispielsweise: A. Buß: Intertextualität als Herausforderung für den Literaturunterricht.

120

5.2 STAND DER INTERMEDIALITÄTSFORSCHUNG Wissensvermittlers ist der Lehrer im theoriefokussierten Literaturunterricht genau wie die Schüler nur ein Spekulant. Ein Literaturunterricht, der dies außer Acht lässt und Intertextualität ausschließlich nach Maßstäben des sogenannten moderaten Lagers vorstellt (oder gar traditionelle Quellen- und Einflussforschung für Intertextualität ausgibt), geht zweifellos das Wagnis ein, die Studierfähigkeit seiner Schüler zu unterminieren. Damit der schulische Schwerpunkt im Folgenden nicht aus dem Blick gerät, erfolgt eine Schwerpunktsetzung auf operationalisierbare Formen der Intermedialität in der Tradition des moderaten Intertextualitätslagers, welches für den Literaturunterricht von größerer Relevanz sein dürfte. Diese Aussparung wird allerdings bewusst vollzogen und, obwohl sie ein Manko darstellt, zum jetzigen Zeitpunkt als unumgänglich angesehen, da sie zudem die wichtige Aufgabe erfüllt, die Terminologie der Intermedialitätsforschung vom heutigen Stand darzustellen.

5.2 St and der Int ermedialit ät sforschung Wie die Intertextualität, deren Theoriebildung für die Intermedialitätsforschung ob zahlreicher Analogien und gemeinsamer Schwierigkeiten als Vorbild gelten kann, basiert auch die Intermedialität auf einer äußerst unklaren Definitionslage. Die Fragen, welche die Theorien zur Intertextualität in verschiedene Lager trennt, dominieren auch die Theoriedebatte einer Analyse des ›Dazwischen‹ verschiedener Medien; ebenso wenig, wie sich eine allgemein akzeptierte Definition von ›Text‹ als gemeinsamer Ausgangspunkt verschiedener Intertextualitätskonzepte hat finden lassen, lässt sich der Begriff des ›Mediums‹ auf eine Art definieren, der alle Positionen in dieser Theoriedebatte beipflichten würden. Die Bandbreite reicht hier von der konkreten Objektbezeichnung (Tontafel, Buch, Film) bis zu abstrakten Größen, so dass analog zum Textbegriff Kristevas, der Abstrakta wie ›Gesellschaft‹ oder ›Geschichte‹ umfasst, auch ein weit gefasstes Medienverständnis vertreten wird. Exemplarisch sei hier auf Talcott Parsons' Studien zu den ›Medien‹ Sprache und Geld verwiesen.122 Als Ergebnis steht »eine verwirrende Vielfalt heterogener Ansätze, die die Debatte um ›Intermedialität‹ seit dem Aufkommen dieses Begriffs wie ein Markenzeichen durchziehen und kaum 122

Vgl. Talcott Parsons: »Soziale Strukturen und die symbolischen Austauschmedien«, in: Peter Michael Blau (Hg.), Theorien sozialer Strukturen. Ansätze und Probleme, Opladen: Westdeutscher Verlag 1978, S. 93-115.

121

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE zu seiner Klärung beigetragen haben.«123 Zahlreiche Ansätze gehen mit ebenso vielen Taxonomien einher, die teils kongruent, teils aber auch widersprüchlich gestaltet sind.124 Aufgrund der zentralen Stellung der Intermedialität für den vorliegenden Ordnungsversuch soll nun zunächst ein Abriss der historischen Genese des Medienbegriffs erfolgen, bevor mit Irina O. Rajewskys Einführungsband zum Thema eine Einzelpublikation als Orientierungspunkt zum aktuellen Forschungsstand vorgestellt wird.

5.2.1 ABGRENZUNG DES MEDIENBEGRIFFS Der aus dem Lateinischen stammende Begriff ›Medium‹, der sich wiederum aus dem griechischen ›mèson‹ ableitet,125 weist eine lange Begriffsgeschichte mit verschiedenen Bedeutungsveränderungen auf. Diese lassen sich zwar historisch nachzeichnen, zu einer scharfen Abgrenzung des Begriffs führt das jedoch nicht. Ganz gegenteilig ist festzustellen, dass die akademische Beschäftigung mit Medien sich nur umso weiter von einer klaren Definition von Medium/Medien entfernt, umso ernsthafter sie sich um wissenschaftliche Objektivität bemüht. So kommt es, dass Einführungen in die Medienwissenschaft und Medienpädagogik häufig ohne eine genaue Bestimmung des Untersuchungsgegenstands auskommen.126 Klare Be123

I. Rajewsky: Intermedialität – eine Begriffsbestimmung, S. 8.

124

Hinzuweisen ist exemplarisch auf »eine Reihe weiterer Begriffe […] die z. T. als Sub-Kategorien der Intermedialität, z. T. aber auch als gleichwer- tige Kategorien betrachtet werden: *›Multimedialität‹, *›Poly‹- oder *›Plurimedialität‹, *›Transmedialität‹, *›Medienwechsel‹, *›Medientransfer‹, *›mediale Transformatinonen‹ sind Termini, die im Rahmen dieser Debatte zum Tragen kommen, jedoch immer wieder anders definiert und verwendet werden.« I. Rajewsky: Intermedialität, S. 6. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und Eloquenz werden hier einige hilfreiche Beiträge auf dem Weg zu einer ausdifferenzierten Terminologie ausgeblendet. Vgl. etwa: J. Helbig: Intertextualität und Markierung; Ders. (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin: Schmidt 1998; Hermann Herlinghaus: Intermedialität als Erzählerfahrung. Isabel Allende, José Donoso und Antonio Skármeta im Dialog mit Film, Fernsehen, Theater, Frankfurt/Main [u.a.]: Lang 1994.

125

Vgl. Georg Christoph Tholen: »Medium/Medien«, in: Alexander Roesler/ Bernd Stiegler (Hg.), Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn: Fink 2005, S. 150-173, hier S. 150.

126

Vgl. Dieter Spanhel: Handbuch Medienpädagogik. Bd. 3, Medienerziehung. Erziehungs- und Bildungsaufgaben in der Mediengesellschaft, Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 69.

122

5.2 STAND DER INTERMEDIALITÄTSFORSCHUNG griffsbestimmungen lassen sich in diesem Zusammenhang entweder als didaktisch erforderliche Reduktion von komplexen Zusammenhängen oder als akademische Augenwischerei deuten. Denn eine Tatsache lässt sich nicht von der Hand weisen: »Die Frage: ›Was ist ein Medium‹ wird nachdrücklich gestellt. Ergebnis der Mediendiskurse jedoch ist: Eine einheitliche Antwort ist nicht zu erwarten.«127 Über alle Zweifel erhaben ist zunächst der etymologische Ursprung: »Das Wort ›Medium‹ ist ein substantiviertes Neutrum des lateinischen Adjektivs ›medius‹«,128 das im 17. Jahrhundert aus dem Lateinischen in die naturwissenschaftliche und grammatische Fachsprache übernommen wurde,129 und bedeutet zunächst ›in der Mitte befindlich‹, ›mittlere, mittlerer, mittleres‹. Darüber hinaus kommen ›Medium‹ noch weitere, abstrakte Bedeutungen zu: so bezeichnet es nicht nur die Mitte, sondern auch den »Ort, wo jemand öffentlich auftritt; die Öffentlichkeit, die Welt, das Leben«,130 womit eine gesellschaftlich-politische Dimension erschlossen wird.131 Die heute gängige Verwendung des Wortes ›Medium‹ »im Sinne von ›Mittleres‹ oder ›Vermittelndes‹«132 im allgemeinen Sprachgebrauch reicht bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurück,133 wo der Begriff insbesondere in der Philosophie der Aufklärung und in der Romantik u.a. bei Herder, Hegel, Novalis und Schleiermacher zentral geworden ist.134 Mit der Erkenntnis, dass die Sprache als Vermittelndes zwischen Subjekt und Außenwelt tritt, die ein Bewusstsein von der eigenen medialen Funktion und damit eine bis dato unbekannte Selbstreferentialität hervorbringt, beginnt zugleich der Medienbegriff, sich »nicht als passives Werkzeug oder Instrument sondern als konstitutive Aktivität eines ›Dazwischen‹ zu konturieren«.135 Von einer wirklichen Annäherung an das heutige Alltagsverständnis lässt sich aber erst seit den 1970er Jahren sprechen, wie

127

Helmut Schanze: Einleitung, in: Ders. (Hg.), Handbuch der Medienge-

128

Vgl. B. Hoffmann: Medienpädagogik.

129

Vgl. Jochen Schulte-Sasse: »Medien/medial«, in: Karlheinz Barck [u.a.]

schichte, Stuttgart: Kröner 2001, S. 1-12, hier S. 1.

(Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 1-37, hier S. 1. 130

Ebd.

131

Vgl. hierzu auch: Georg Christoph Tholen: Medium/Medien, S. 150.

132

J. Schulte-Sasse: Medien/medial, S. 1.

133

Vgl. ebd.

134

Vgl. G. C. Tholen: Medium/Medien, S. 151.

135

Ebd.

123

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE eine umfassende Wörterbuchrecherche von Bernward Hoffmann belegt.136 Was sich im romantischen Medienverständnis jedoch abzeichnet, ist die Trennung in ein instrumentelles und ein konstitutives Verständnis, die grundlegend zum heute vorherrschenden Begriffspluralismus beigetragen hat, der keine einheitliche Definition von Medium aufbieten kann. Dabei lässt sich unter Berücksichtigung des Wortursprungs eine klare Ausgangssituation ausmachen, die Achim Barsch wie folgt skizziert: »Abstrakt betrachtet bildet ein Medium eine mindestens dreistellige Konstellation, bei der zwischen zwei Entitäten eine Relation hergestellt wird.«137 Wenn nun danach gefragt wird, was für Entitäten gemeint sind und welcher Art die hergestellte Relation ist, variieren die Antworten je nach wissenschaftlicher Disziplin. Werner Faulstich weist darauf hin, dass Medium in der Informationstheorie und Kybernetik beispielsweise so viel wie ›Zeichenvorrat‹ bedeute, während Kommunikationssoziologie und Massenkommunikationsforschung im Medium einen ›technischen Kanal‹, Einzelmedientheorie und Medienwissenschaft wiederum ein ›ästhetisches Kommunikationsmittel‹ sähen und die Systemtheorie schließlich Medium als ›gesellschaftliche Interaktion‹ definiere.138 Dementsprechend lässt sich auch Medienanalyse »nicht a priori eindeutig festlegen und eingrenzen«,139 da sie »aus der Sicht der Semiotik, Kommunikations- und Publizistikwissenschaft, Kunstwissenschaft und Ästhetik, Musikwissenschaft, Soziologie und Psychologie, Jurisprudenz, Theologie etc. [jeweils unterschiedlich] betrieben« 140 werde. Bestrebungen angesichts dieser Ausdifferenzierung des Medienbegriffs nach fachlicher Ausrichtung wesentliche Gemeinsamkeiten herauszufiltern führen zu einer Unterscheidung in zwei Lager, die analog zu den Debatten um Intertextualitäts- und Intermedialitätskonzepte zwischen praxisnaher Anwendungsorientierung und post-

136

Vgl. B. Hoffmann: Medienpädagogik, S. 14.

137

A. Barsch: Mediendidaktik Deutsch, S. 12.

138

Vgl. Werner Faulstich: »Medium«, in: Ders. (Hg.), Grundwissen Medien, 5., vollständig überarbeitete und erheblich erweiterte Auflage, Paderborn: Fink 2004, S. 13-102, hier S. 13. Bernward Hoffmann nimmt eine alternative Unterscheidung des Medienbegriffs in eine kulturphänomenologische, eine publizistisch/kommunikationswissenschaftliche und eine pädagogische/didaktische Dimension vor. B. Hoffmann: Medienpädagogik, S. 14ff.

139

Hans-Dieter Kübler: »Medienanalyse«, in: H. Schanze (Hg.), Handbuch der

140

Ebd.

Mediengeschichte, S. 41-71, hier S. 41.

124

5.2 STAND DER INTERMEDIALITÄTSFORSCHUNG strukturalistischer Theorie angesiedelt sind.141 Relevant ist hierbei in erster Linie die Frage, »ob Medien die Weltaneignung und ihre Bedeutungssysteme […] erzeugen oder gar stiften«.142 Anhand dieser Frage lassen sich eine ›schwache‹ und eine ›starke‹ Bedeutungsvariante von Medium unterscheiden, wie Jochen Schulte-Sasses wertende Bilanz diesbezüglich lautet.143 In diesem Kontext wird auch von einem ›engen‹ und einem ›weiten‹ Verständnis gesprochen, was jedoch nicht minder problematisch ist, wie zu zeigen sein wird. Nach Schulte-Sasse sieht die schwache Bedeutungsvariante »das Medium als einen Informations- oder Kommunikationsträger, der auf das Übertragene nicht zwangsläufig einwirkt.«144 Nach diesem Verständnis bleibt das Medium also ein Instrument, weshalb auch von einer ›engen‹ Definition die Rede ist. Die ›weite‹ bzw. ›starke‹ Bedeutungsvariante sieht das Medium hingegen »als einen Träger von Informationen, der diese nicht mehr oder weniger neutral vermittelt«.145 Der Unterschied ist also, dass das Medium nach diesem starken Verständnis, die vermittelten Information »grundsätzlich prägt, sich ihnen medienspezifisch einschreibt und dadurch dem menschlichen Zugriff auf Wirklichkeit Form verleiht.«146 Der Unterschied zwischen ›starker‹ und ›schwacher‹ Bedeutungsvariante – dies lässt sich an dieser Stelle festhalten – entspricht den im Kontext der Darstellung des Unterrichtsziels Medienkompetenz vorgestellten divergierenden Perspektiven von Mediendidaktik und Medienerziehung.147 Da ein mediendidaktischer Umgang mit Medien auf eine Erprobung aktiver Anwendung und Nutzung von Medien abzielt, wird das zugrunde liegende Medienverständnis ›eng‹ bzw. wertend ›schwach‹ genannt. Während die Abwertung angesichts der fehlenden eigenständigen Reflektion von Medien angemessen erscheint, ist die Klassifikation ›eng‹ zumindest teilweise mit einer kritischen Anmerkung zu versehen. Zunächst erscheint die Feststellung, dass das in der Mediendidaktik vorherrschende Medienverständnis eng gefasst ist, vollauf zutreffend zu sein, da es ob seiner technischen Ausrichtung konkret und daher scheinbar eindeutig gestaltet ist. Ein derart konkret greifbarer Medienbegriff lässt sich beispielsweise historisch aus ein141

Siehe hierzu die Kapitel 5.1.1 und 5.2.

142

G. C. Tholen: Medium/Medien, S. 152.

143

Vgl. J. Schulte-Sasse: Medien/medial, S. 1.

144

Ebd.

145

Ebd.

146

Ebd.

147

Siehe Kapitel 2.2.

125

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE er Mediengeschichte als Technikgeschichte herleiten. So schlägt Hans-Dieter Kübler in dem von Helmut Schanze herausgegebenen »Handbuch der Mediengeschichte« folgende Definition vor: »Medien werden als technische, professionelle und organisatorische Kommunikationsmittel für öffentliche und gesellschaftliche Kommunikation verstanden, wie sie sich insbesondere seit der Erfindung des Drucks durch Johannes Gutenberg zum Ende des 15. Jahrhunderts allmählich entwickelten.«148

Auf den hier hervorgehobenen technischen Aspekt zielen eigentlich alle ›engen‹ Konzeptionen des Medienbegriffs ab;149 hinzu kommt noch der Umstand, dass Medien nach diesen Vorstellungen stets konkret sind, was mediendidaktischen Modellen besonders nahe kommt, wie eine repräsentative Mediendefinition von Irmhild Wragge-Lange zeigt. Für Wragge-Lange gelten »alle symbolischen und/ oder ikonisch gefassten Repräsentationen von Sinn, die in einer technischen Fixierung veröffentlicht und damit diskutierbar sind«150 als Medien. Gelten Medien allgemein als technische Hilfsmittel bzw. Instrumente, scheint der konkrete Charakter kaum Verwunderlich. Allerdings ist an dieser Stelle Vorsicht geboten, was unter anderem in einem Zusammenhang mit der problematischen Bezeichnung des Medienbegriffs als ›enges‹ Verständnis steht. Werner Faulstich hat mit Vehemenz darauf hingewiesen, dass es sich bei der Umschreibung von Medien als Instrumenten oft um einen metaphorischen Sprachgebrauch handelt, der nicht mit dem konkreten Objektstatus eines Instruments gleichzusetzen sei.151 Vielmehr könne in dieser Form »schlechthin alles ein Medium sein.«152 Medien im technischen Sinn eines Instrument sind also nicht wirklich ›eng gefasst‹ und nur auf konkrete Informationsträger zu beziehen (Buch, CD-Rom, Plakat etc.), sondern gegenteilig weit konzipiert, da nach Faulstich

148

H.-D. Kübler: Medienanalyse, S. 41.

149

Zum Beispiel bei: Winfried Schulz: »Kommunikationsprozeß. Medium (Massenmedium)«, in: Elisabeth Noelle-Neumann (Hg.), Das Fischer-Lexikon Publizistik, Frankfurt/Main: Fischer 1971; Heinz H. Hiebel/Heinz Hiebler/Karl Kogler/Herwig Walitsch: Die Medien. Logik – Leistung – Geschichte, München: Fink 1998, S. 12.

150

Irmhild Wragge-Lange: Kritische Medienerziehung als Teilaspekt der Schulpädagogik. Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg 1996, S. 7f. Zitiert nach: D. Spanhel: Handbuch Medienpädagogik, S. 69.

151

Vgl. W. Faulstich: Medium, S. 13.

152

Ebd.

126

5.2 STAND DER INTERMEDIALITÄTSFORSCHUNG auch »vom Licht oder vom Rad, von der Uhr oder der Schreibmaschine usf. als ›Medien‹«153 gesprochen werden kann, wobei die Auflistung unendlich fortgesetzt werden könnte. Während Medien nach dem eingeschränkten, technischen Verständnis ein Objektstatus zugesprochen wird, betont der erweiterte Medienbegriff, den Faulstich wertend als den ›starken‹ bezeichnet, den Prozesscharakter von Medien, da sie nicht bloß als Mittel sondern als Vermittlung verstanden werden. Demzufolge sind Medien im »menschlichen Miteinander [nicht nur] Instrumente«,154 sondern auch »Räume sozialer Kommunikation«,155 da sie als materielle Zeichenträger neben einem materialen auch einen symbolischen Aspekt haben, wie Bernward Hoffmann betont: »Auch Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs übermitteln Botschaften; sie sind Medien des Alltags, Symbole ihrer Besitzer.«156 Wenn Medien wirklich Botschaften übermitteln, wie hier wie an zahlreichen anderen Stellen postuliert wird, stellt sich zunächst die Frage, weshalb es in der Medienwissenschaft noch zu keiner fruchtbaren Symbiose aus Medien- und Kommunikationswissenschaft gekommen ist. In der Medienpädagogik und –didaktik läge es nahe, im Zuge einer Abgrenzung des Medienbegriffs auch mit dem Kommunikationsbegriff zu operieren. Immerhin wird durch die Öffnung des Medienbegriffs durch Hervorhebung seiner Kommunikationsfunktion die Nähe zu dem vermeintlich ›engen‹ Medienbegriff deutlich: Der symbolische Aspekt eines jeden Mediums bedingt, dass die Übermittlung von Botschaften nicht nur konkret, sondern auch abstrakt vonstatten geht. Als Überbringer von Botschaften, also als Mittel der Darstellung und Verbreitung von Informationen, sind »Texte, Bilder, aber auch Luft, Licht, Leitungen usw. Medien; letztlich ist alles ein Medium, was Kommunikationsinhalte präsentiert, fixiert, vermittelt.«157 In diese Richtung geht auch eine Definition von Wragge-Lange, der zufolge unter Medien »alle Repräsentation von Sinn, die zur Erzeugung, Interpretation und Tradierung von Alltagswissen eingesetzt werden«158

153

Ebd.

154

B. Hoffmann: Medienpädagogik, S. 16.

155

Ebd.

156

Ebd.

157

Ebd.

158

I. Wragge-Lange: Kritische Medienerziehung als Teilaspekt der Schulpädagogik, S. 7.

127

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE verstanden wird. Somit stellt Sprache ebenso ein Medium dar wie eine konkrete Fotografie oder ein bestimmter Film.159 Für Faulstich hängt auch der ›starke‹ Medienbegriff allerdings noch wesentlich vom technischen Medienverständnis ab. In der von ihm vorgeschlagenen systematischen Definition von Medium ist die technologische Organisiertheit von Medien immer noch zentral: »Ein Medium ist ein institutionalisiertes System um einen organisierten Kommunikationskanal von spezifischem Leistungsvermögen mit gesellschaftlicher Dominanz.«160

Zur Organisationsform merkt Faulstich an, dass sie auch »kultisch oder rhetorisch«161 angelegt sein könne, wodurch der rein technologische Rahmen erweitert wird. So wäre das Theater definitiv auch ein Medium, gleichberechtigt neben technologischen Massenmedien wie dem Radio oder dem Fernsehen, ein T-Shirt mit Aufdruck allerdings nicht. Daher lässt sich für Faulstichs Medienbegriff festhalten, dass er zwar gemäß Marshall McLuhans Prämisse, dass das Medium selbst die Botschaft sei,162 das Augenmerk auf Form und Ausprägung und nicht auf Inhalt des Mediums richtet, in seiner scheinbaren Offenheit jedoch gemäßigter ausfällt als andere Medientheorien, die seit Mitte der achtziger Jahre auf eine Reflektion der eigenen metaphysischen Tradition und somit auf einen weiten Medienbegriff abgezielt haben.163 Faulstich geht sogar so weit, dass er jene Modelle, die im Anschluss an McLuhan auf einen weiter gefassten Medienbegriff zurückgreifen, als »Pseudo-Medientheorien«164 bezeichnet. Hierunter fasst Faulstich die Arbeiten von durchaus bedeutenden Theoretikern wie Paul Virilio, Friedrich A. Kittler, Neil Postman, Norbert Bolz, Florian Rötzer, Vilém Flusser oder Manfred Faßler.165

159

Vgl. ebd.

160

W. Faulstich: Medium, S. 18.

161

Ebd.

162

Vgl. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düs-

163

Tholen verweist in diesem Zusammenhang auf Schanze und Dotzler. H.

seldorf [u.a.]: ECON-Verlag 1992, S. 17. Schanze (Hg.), Handbuch der Mediengeschichte; Bernhard Dotzler: »Die Schaltbarkeit der Welt. Herman Hollerieth und die Archäologie der der Medien«, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 288-315; Vgl. G. C. Tholen: Medium/Medien, S. 152. 164

W. Faulstich: Medium, S. 15.

165

Vgl. W. Faulstich: Medium, S. 14.

128

5.2 STAND DER INTERMEDIALITÄTSFORSCHUNG »So unterschiedlich oder wahlverwandt nun die neueren Ansätze einer generellen Medientheorie […] sein mögen,«166 eines lässt sich angesichts dieses Bedeutungspluralismus dennoch bilanzierend festhalten: ausgehend von dem etymologischen Ursprung des Wortes kann die Stellung in einem wie auch immer gearteten ›Dazwischen‹ als »die grundlegendste Definition des Mediums«167 gelten. Aus der eingenommenen didaktischen Perspektive kann dieser Grundkonsens als ein weiterer Beleg für die besondere Eignung von Medien im Allgemeinen und einer medial beeinflussten Dramatik im Speziellen angesehen werden. Da jede Form von Wahrnehmung einen Prozess einer sinnlichen Vermittlung darstellt, ist sie stets auch medial geprägt. Medialität und Ästhetik stehen in einem unauflösbaren Verhältnis zu einander, weshalb eine allgemeine Schulung der Wahrnehmung immer auch eine Reflektion von Medialität beinhaltet.168 Diese Zusammengehörigkeit kann zweifelsohne nur gebührend berücksichtigt werden, wenn ein entsprechend weiter Medienbegriff zugrunde gelegt wird. Dass sich eine Erweiterung des Medienbegriffs zugunsten derartiger Reflektionen zu Ästhetik und Medialität äußerst produktiv auswirken kann, können im Folgenden die Ausführungen zum Forschungsstand der Intermedialität bezeugen, die sich vornehmlich auf den Einführungsband von Irina Rajewsky beziehen, die in Anschluss an Werner Wolf mit einem weiten Medienbegriff operiert.

5.2.2 FORSCHUNGSSTAND NACH RAJEWSKY Vor dem Hintergrund der uneindeutigen, teilweise widersprüchlichen Begriffsverwendung von ›Medium‹/›Medien‹ ist der Wert von Irina O. Rajewskys Einführungsband zum Thema zu beurteilen, stellt er doch ein differenziertes Begriffssystem zu Verfügung, dessen Vorteile in seiner Operationalisierbarkeit liegen, auch wenn der Band selbst keine akribische Definitionsarbeit leistet169 (vgl. 181). Rajewsky selbst skizziert ihr Projekt als »Anfang und als Versuch,

166

G. C. Tholen: Medium/Medien, S. 153.

167

Alexander Roesler: Medienphilosophie und Zeichentheorie, in: Stefan Münker, Alexander Roesler, Mike Sandbothe (Hg.), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs. Frankfurt a.M.: Fischer 2003, S. 3452, hier S. 39.

168

Vgl. Kapitel 2.

169

Im Folgenden werden alle Angaben zu Zitaten und inhaltlichen Übernahmen aus Rajewskys Einführugnsband in Klammern gesetzt. Die zugrunde liegende Ausgabe ist nach wie vor: I. Rajewsky: Intermedialität.

129

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE einen offenen Dialog der Sichtweisen und Ansätze zu initiieren, der sich nicht auf einzelne Phänomenbereiche des Intermedialen beschränkt« (ebd.) Es wäre daher unangebracht, den Forschungsbeitrag an Maßstäben zu messen, die unerfüllbar sind. Die vorgeschlagene Struktur und Terminologie dürfen nicht als »(ab-)geschlossene oder endgültige« (ebd.) Abgrenzungsleistungen angesehen, sondern müssen als vorläufige Übereinkünfte bewertet werden. Ein höherer Grad an Eindeutigkeit ist meines Erachtens nach in Bezug auf ein so junges und noch in stetigem Wandel begriffenes Phänomen wie der Intermedialität nicht zu erreichen. Deshalb sollte hinsichtlich der folgenden Ausführungen auch die Zielsetzung von Rajewskys Intermedialitätsband in das Bewusstsein gerückt werden: »Dann aber wäre das Ziel dieses Bandes bereits erreicht, geht es ihm doch vor allem darum, der weit verbreiteten und häufig vagen Rede vom Intermedialen, vom ›Filmischen‹, ›Musikalischen‹ oder ›Malerischen‹ in der Literatur und anderen Medien eine theoretische und systematische Grundlage zu verschaffen, die als Ausgangspunkt genutzt werden kann, die Erforschung intermedialer Konfigurationen voranzutreiben – sei es auf dieser Basis, sei es in Abgrenzung zu ihr.« (Ebd.)

Es ist die erwähnte theoretische und systematische Grundlagenfunktion, die für den vorliegenden Klassifizierungsversuchs des Dramas seit 1989 relevant ist. Eine Hinterfragung der rajewskyschen Kategorien soll zwar nicht generell ausbleiben, gehört aber nicht zu den primären Zielsetzungen der Ausführungen, welche die hohe Anwendbarkeit von Rajewskys Übersicht in den Vordergrund stellen. Denn nur unter Rückgriff auf eine (mehr oder minder) geschlossene und explizit ausgewiesene Terminologie ist es möglich, die eigene Rede ›vom Intermedialen, vom ›Filmischen‹, ›Musikalischen‹ oder ›Malerischen‹ in der Literatur‹ in den Analysekapiteln 6. bis 9. eben nicht ›vage‹, sondern konkret und vermittelbar zu gestalten. Vor das eigene Begriffssystem stellt Irina Rajewsky einen kurzen historischen Abriss der Entwicklung der Intermedialität, deren Anfänge wie bereits erwähnt in den komparatistischen interart studies gesehen werden können. Auf dem Weg der Intermedialität »zu einem modischen Terminus, der zwar in aller Munde, kaum aber klar definiert ist und [der] noch keiner eigenständigen Theoriebildung zugeführt wurde« (3), lassen sich wenigstens drei wesentliche Entwicklungsstufen kennzeichnen (40ff.). Neben den interart studies haben sich die aus der Traditionslinie ›Film und Literatur‹ entwickelten Medienwissenschaften bereits früh um eine Schärfung der Termino130

5.2 STAND DER INTERMEDIALITÄTSFORSCHUNG logie bemüht. »In beiden Forschungslinien war bereits in den achtziger Jahren vereinzelt zumeist am Rande von ›intermedialen Relationen‹ bzw. ›intermedialer Forschung‹ die Rede« (8), wie Rajewsky betont. Zu dieser Zeit war in der Fachdebatte neben dem Sammelbegriff ›Film und Literatur‹ noch das Schlagwort der ›filmischen Schreibweise‹ dominant; ab dem Jahr 1990 setze dann die Etablierung des Terminus ›Intermedialität‹ ein, die schon im Jahr 1992 als abgeschlossen gelten könne. Auf denselben Zeitraum, nämlich die Jahre 1990 bis 1994 taxiert Rajewsky die explizite theoretische Anbindung der Intermedialität an vorangegangen Intertextualitätskonzepte (45), worauf später im Detail zurückzukommen sein wird. Für die Zeit ab 1995 lässt sich »eine umfassendere Öffnung der philologischen bzw. literaturwissenschaftlichen Disziplinen in Hinblick auf die ›anderen Medien‹ und auf die Forschungsperspektive der ›Intermedialität‹«(2) konstatieren. Somit gilt für den Film, dies sei nebenbei erwähnt, dass es vom Moment der technischen Erfindung bis zum Einzug in den universitären Arbeitsalltag 100 Jahre Transferzeit benötigt hat.170 Die Verbreitung des Begriffs als modisches Schlagwort und der Aufstieg der ›Intermedialität‹ zu einem ausgesprochenen Wissenschaftstrend ging in der Folge so rasch vor sich, dass Forschungsarbeiten zum Bereich, die den Terminus Intermedialität gänzlich aussparen, wie etwa Christian von Tschilschkes Arbeit zum Roman und Film, mittlerweile seltene Ausnahmen darstellen.171 So berechtigt Vorbehalte vor Wissenschaftsmoden im Allgemeinen und vor dem Intermedialitätsbegriff im Speziellen auch sein mögen, so sind die Vorteile der Intermedialität nicht von der Hand zu weisen, ermöglicht er doch den Geisteswissenschaften auf einen Sammelbegriff zurückzugreifen, der zum einen interdisziplinäre Verwendung findet und es zum anderen versteht, eine Vielzahl bis dato isoliert untersuchter Phänomene zu subsumieren, wie etwa ›Ekphrasis‹, ›Film und Literatur‹, ›filmische Schreibweise‹, ›Literatur

170

Vgl. Jochen Mecke, Volker Roloff: Intermedialität in Kino und Literatur der Romania, in: dies. (Hg.), Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur. Tübingen: Stauffenburg-Verlag 1999, S. 7.

171

Von Tschilschkes bewusster Verzicht auf die Begrifflichkeit dürfte, zumindest partiell, aus derselben Motivation hervorgehen wie Rajewskys Einführungsband: nämlich angesichts der ›häufig vagen Rede‹ über das Intermediale, Filmische, Malerische etc. in der Literatur wieder auf terminologische und

systematische Klarheit

zuzusteuern. Vgl. Christian von

Tschilschke: Roman und Film. Filmisches Schreiben im Roman der französischen Postavantgarde. Tübingen: Narr 2000.

131

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE und Neue Medien‹, ›Veroperung der Literatur‹, ›transposition d’art‹, ›Musikalisierung der Literatur‹, usf. (26). Wie wichtig die Etablierung eines solchen Sammelbegriffs ist, lässt sich daran erkennen, dass die Aufzählung relevanter Subkategorien ohne Weiteres fortgeführt werden könnte. Dass in dieser hohen Allgemeingültigkeit auch die beanstandete terminologische Unklarheit begründet liegt, weist auf den dialektischen Charakter der Sache hin. Als Sammelbegriff für diese Vielzahl möglicher Untersuchungsschwerpunkte lässt sich Intermedialität als methodologisches Instrumentarium nicht nur bei der Analyse eines Großteils der künstlerisch-kulturellen Bemühungen um den Jahrtausendwechsel heranziehen, sie wird vielmehr zu einer Notwendigkeit, wie Rajewsky zur Rechtfertigung des eigenen Vorgehens anmerkt: »Die Beschäftigung mit dem Bereich ›Literatur und andere Medien‹ erweist sich für eine zeitgemäße Literaturwissenschaft folglich nicht nur als legitim, sondern als notwendig, will sie sich mit literarischen Erscheinungsformen (nicht nur) der Gegenwart auseinandersetzen und diese im Kontext kultureller und geistiger Phänomene der Zeit begreifen.« (2)172

Was an dieser Stelle als Verpflichtung der Literaturwissenschaft unterstrichen wird, lässt sich auch auf die Literaturdidaktik übertragen: ein Literaturunterricht, der Intermedialität ausspart, wird keine produktive Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Literatur erreichen können. Aus diesem Grund soll nun eine systematische Darstellung der intermedialen Taxonomie nach Rajewsky erfolgen. Die theoretische und systematische Anbindung der Intermedialitätsforschung an Intertextualitätskonzepte in den frühen neunziger Jahren hat eine Neugewichtung des Verhältnisses der beiden Theorieangebote zur Folge gehabt. So wird erst mit Rajewskys Studie deutlich, dass die Übertragung von Erkenntnissen der Intertextualität auf die Intermedialität, die aufgrund der engen Verwandtschaft der beiden Ansätze zunächst völlig plausibel erscheinen mag (und daher in Kapitel 5.1.2. zu der definitorischen Auffassung von Text und Medium als semiotische Systeme benutzt wurde), »auf einer schiefen Ebene angesiedelt ist« (14). Angesichts der eingangs postulierten Gleichheit von Text- und Medienrelationen als verschiedener semiotischer Systeme stellt Jürgen E. Müller zu Recht die Frage, »weshalb sich zum gross word ›Intertextualität‹ noch das gross word

172

Vgl. hierzu auch: Alfred Weber: Film und Literatur in Amerika. Eine Einführung, in: Bettina Friedl, Alfred Weber (Hg.), Film und Literatur in Amerika. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, S. 1-20, hier S. 1.

132

5.2 STAND DER INTERMEDIALITÄTSFORSCHUNG ›Intermedialität‹ gesellen sollte, wenn doch Intertextualität bereits die Transformation zwischen unterschiedlichen Zeichensystemen beinhaltet.«173 Müllers Anmerkung erweckt den Anschein, dass es sich bei der Intertextualität um das differenziertere und daher übergeordnete Theoriemodell handelt. Anders wird die Relation der beiden konkurrierenden Modelle bei Rajewsky bewertet. Rajewsky nimmt eine grobe Trennung aller möglichen Beziehungen zwischen Medien in drei Unterarten vor; sie spricht von Trans-, Intra- und Intermedialität, wobei der letztgenannte Bereich den Schwerpunkt bildet und der Studie ihren Titel verleiht. Unter dem Label ›Transmedialität‹ versteht man, wie bereits in den Ausführungen zur ›intertextuellen Serie‹ nach Broich und Pfister angedeutet wurde, »Phänomene, die in verschiedenen Medien mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden« (206), wobei es irrelevant ist, welchem Ursprungsmedium das Phänomen zugeordnet wird.174 Als ›Intramedialität‹ werden Bezugssysteme verstanden, die lediglich ein Medium involvieren und daher keine Mediengrenzen überschreiten. Hierunter fällt auch der konventionell als Intertextualität begriffene Bereich, nur dass Text-Text-Bezüge hierbei nur eine Variante von vielen darstellt (z.B. Bild-Bild-Bezüge, Film-Film-Bezüge etc.). Im gedanklichen Anschluss an moderate Intertextualitätskonzepte lassen sich intramediale Bezüge in Einzelreferenzen und Systemreferenzen unterteilen, die im Wortlaut der griffigen Definitionen auf »Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt« (157) bzw. »auf ein oder mehrere Subsystem(e) des gleichen Mediums bzw. auf das eigene Medium qua System« (ebd.) beschrieben werden. Nach diesem Verständnis stellen also das jüngere Theoriemodell und das jüngere Medium einen Hoheitsanspruch über ihre medialen Vorläufer, da ›Intertextualität‹ als eine spezifische Ausprägung intramedialer Bezugnahmen angesehen wird und somit eine Subkategorie des Intramedialen darstellt (14). Dass intramediale Systemreferenzen wiederum in Systemerwähnungen und Systemaktualisierungen unterschieden werden können, belegt die Trennschärfe der Terminologie, die mit den Zielen Klarheit und Operationalisierbarkeit in der Tradition einer broich-pfisterschen Intertextualität steht. Auch wenn es 173

J. Müller: Intermedialität, S. 103.

174

Gerade im Fall des Mythos ist eine derartige Zuordnung ja schier unmöglich. Weitere divergierende Verwendungen des Begriffs ›Transmedialität‹, auf die Rajewsky eingeht, werden hier im Übrigen bewusst ausgeblendet, um die bestehende terminologische Unklarheit nicht fortzuführen.

133

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE höchst wahrscheinlich so ist, dass der Beschaffenheit neuer Medien tatsächlich nur polyvalente Termini beikommen können, wie Jochen Mecke und Volker Roloff behaupten,175 so erweist sich das Rajewsky-Konzept gerade durch die Reduktion theoretischer Implikationen als besonders geeignet für die konkrete Analyse von literarischen Texten. Schließlich eignen sich Begriffe, die »metaphorisch, schillernd, gleitend sind, d.h. sich in einem schwer faßbaren und definierbaren Zwischenbereich bewegen, gewissermaßen ihre eigene Auflösbarkeit, ihre Dekonstruierbarkeit mitbedenken wollen«176 nur begrenzt für die Schaffung einer konkreten Diskussionsgrundlage, als welche Rajewskys Beitrag verstanden werden muss.177 Im Rahmen des anwendungsorientierten Konzepts verdient das Zusammenspiel von Einzel- und Systemreferenz besondere Beachtung; das Verhältnis zwischen den genannten Referenzen wird derart beschrieben, dass der konkrete Medium-Medium-Bezug Systemreferenzen »indiziert«.178 In der Regel haben Einzelreferenzen also die Funktion einer Markierung, sie sind als Anzeichen für eine Systemreferenz aufzufassen. Durch diesen Zusatz setzt sich die Intramedialität entschieden von der konventionellen Quellenforschung ab, schließt sie doch ein bloßes Aufdecken von Zitaten und Anspielungen nebst zugehöriger Quellen ohne eine Hinterfragung der jeweiligen Funktion der Bezüge aus. Eine derartige Absicherung ist insbesondere wichtig, um Entwicklungen vorzubeugen, die in der Intertextualitätsforschung für eine Verengung der theoretisch gegebenen Möglichkeiten gesorgt haben. Dort nämlich haben strukturalistischhermeneutisch motivierte Textinterpretationen, »in denen der Begriff 175

Vgl. J. Mecke, V. Roloff: Intermedialität in Kino und Literatur der Romania,

176

Ebd.

177

Den Vorschlägen von Mecke und Roloff zu folgen, wäre zwar durchaus

S. 8.

empfehlenswert, doch stellte es zum Zeitpunkt der Erscheinung von Rajewskys ›Intermedialität‹ den zweiten Schritt noch vor dem ersten dar. Daher bedeutet die Konzentration auf Rajewskys eher geschlossenes Intermedialitätskonzept an dieser Stelle nicht, dass eine Hinwendung zu einem weitgefassten Intermedialitätsbegriff in der Tradition Bachtins und Kristevas, wie er Roloff und Mecke vorschwebt, abzulehnen wäre. Allein das Ziel einer klaren Klassifikation des deutschsprachigen Gegenwartsdramas, die quasi Ordnung im Chaos schaffen soll, legt ein Privilegierung Rajewskys nahe. 178

Diese eventuell etwas missverständliche Formulierung weist auf eine Zusammengehörigkeit hin und ist nicht im cineastischen Sinn von ›etwas auf den Index jugendgefährdender Medien zu setzen, also: verbieten‹ zu verstehen. Vgl. I. Rajewsky: Intermedialität, S. 157.

134

5.2 STAND DER INTERMEDIALITÄTSFORSCHUNG der Intertextualität auf bewusste, intendierte und markierte Bezüge zwischen einem Text und vorliegenden Texten oder Textgruppen eingeengt wird«,179 häufig die Fehleinschätzung provoziert, es gehe dem Ansatz bloß um eine möglichst vollständige Offenlegung und Verortung intertextueller Bezüge und somit quasi um ein philologisches Memoryspiel, bei dem literarische Textpassagen so lange umgedreht werden, bis ein passendes Pendant gefunden ist. Werden systemreferentielle Aspekte auf diese Weise ausgespart, kann es höchstens zu einer Konservierung literaturhistorischer Formen und Inhalte kommen, genuin progressive Momente bleiben der Analyse verschlossen. Der hier drohende konservative Stillstand ist insbesondere bedeutend für die Entwicklung des Dramas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, da dieses »tödliche Theater«180 – wie Peter Brooks es nennt – einen dazugehörigen »tödlichen Zuschauer« hervorgebracht, »der die Routineaufführungen eines Klassikers mit einem Lächeln verläßt, weil ihn nichts im Wiederkäuen und Bekräftigen seiner Lieblingstheorien gestört hat, wenn er seine Lieblingszitate leise mitsprach.«181 Will man die Tötung des Theaters durch diesen gelehrten Zuschauertypus verhindern, ist die systematische Kopplung von Einzel- und Systemreferenz für eine fortschrittliche Literaturwissenschaft also zwingend notwendig, da sie neben dem oberflächlichen Erkennen eines Bezugs mit einer systemreferentiellen Kontextualisierung immer auch eine eigenständige Transferleistung der Interpreten einfordert. Neben Transmedialität und Intramedialität steht schließlich der Hauptgegenstand der Untersuchung: die Intermedialität. Nachdem unter Intramedialität sämtliche Bezugsformen gefasst werden, »die dem Präfix entsprechend, innerhalb eines Mediums bestehen« (12), so ist Intermedialität entsprechend als »Hyperonym für die Gesamtheit aller Mediengrenzen überschreitenden Phänomene« (ebd.) zu verstehen. Das distinguierende Merkmal dieser Unterscheidung, die mediale Grenzüberschreitung, muss zunächst in Frage gestellt werden, sollen die einzelnen Unterkategorien des Intermedialen als hilfreiche Errungenschaften angeführt werden. Hinsichtlich des inflationären Gebrauchs des Terminus ›Medium‹, der je nach theoretischer Perspektive unterschiedlich bestimmt und verwendet wird, besteht ein ausgesprochen hoher Definitionsbedarf, schließlich sinken und fallen alle weiteren zentralen Begriffe der intermedialen Ta179

U. Broich, M. Pfister (Hg.), Intertextualität, S. 25.

180

Vgl. Peter Brook: Der leere Raum, 8. Auflage. Berlin: Alexander Verlag

181

P. Brook: Der leere Raum, S. 11.

2004.

135

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE xonomie gemeinsam mit dem zugrundeliegenden Medienbegriff. Problematisch ist, dass sich Rajewsky einem relativ offenen Medienverständnis anschließt, wie es Werner Wolf vertritt: »I here propose to use a broad concept of medium: not in the restricted sense of a technical or institutional channel of communication but as a conventionally distinct means of communication or expression characterized not only by the use of one or more semiotic systems.«182

Durch ihre offene Konzeption bringt Wolfs Definition den Vorteil mit sich, dass sie leichter mit eventuellen medienspezifischen Veränderungen in Einklang zu bringen ist.183 Diesbezüglich hat ein solcher dynamischer Medienbegriff dem in vielen Publikationen vorherrschenden technischen Verständnis, welches in Medien lediglich Speicherträger und Verbreitungsmittel sieht,184 einiges voraus. Allgemein lässt sich an dieser Stelle anmerken, dass wohl noch viel Zeit vergehen wird, bis die Fülle der Erscheinungen, die unter dem Oberbegriff ›Medien‹ geführt werden, ausreichend systematisiert und klassifiziert sein wird (sofern dies überhaupt möglich ist), und dass bis zur Fertigstellung eines solchen Klassifikationssystems wahrscheinlich bereits einige dieser medialen Erscheinungen dem technischen Fortschritt zum Opfer gefallen sein werden. Schließlich liegt die Ursache für die ungenaue Begriffsverwendung nicht etwa in »der undifferenzierten Haltung der Benutzer, sondern in der Komplexität von Medien«185 selbst. Kritisch muss zu Rajewskys Definition von ›Medium‹ gesagt werden, dass mit ihr als Grundlage auch alle auf den Medienbegriff zurückgreifenden Begriffe an Eindeutigkeit verlieren. Fragwürdig ist vor allem die Bestimmung ›konventionell als distinkt angesehenes Kommunikationsmittel‹, da Konventionalität immer unter einer übergeordneten Definitionsinstanz steht. Wer bestimmt Konventionalität? Von welcher Gruppe von Menschen wird diese Konvention getroffen? Welche zeitlichen Grenzen bringt die flexible Anbindung an Konventionalität mit sich? So lauten diesbezüglich zwingende Fragen. Weitere Fragen werden im späteren Verlauf (speziell in den einzelnen Analysekapiteln) folgen, wenn es z.B. darum geht, anhand konkreter Beispiele zu entscheiden, ob eine Überschreitung von Me-

182

Werner Wolf: The musicalization of fiction. A study in the theory and history of intermediality, Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1999, S. 40.

183

Vgl. P. M. Meyer: Intermedialität des Theaters, S. 15.

184

Vgl. ebd., S. 84.

185

Ebd., S. 92.

136

5.2 STAND DER INTERMEDIALITÄTSFORSCHUNG diengrenzen vorliegt oder nicht. Ähnlich vage verbleibt auch der Verweis auf ›semiotische Systeme‹, der nicht näher spezifiziert wird. Der Hinweis, dass Literatur als ein Einzelmedium angesehen werden muss, das nur ein semiotisches System verwendet, während der Film, der mehrere semiotische Systeme einbindet, ebenfalls als Einzelmedium zu betrachten ist, verliert angesichts des Umstands, dass das Drama als literarische Gattung in seiner mitgedachten Performanz, der Inszenierung, ja ebenso audio-visuell strukturiert ist wie der Film, seinen Nutzen. Auf diesem Umstand wird später genauer zurückzukommen sein. Letztendlich muss aber angesichts der Schwierigkeiten bei der Begriffsbestimmung eingeräumt werden, dass es dank des Rückbezugs auf Wolfs Medienbegriff möglich ist, eine äußerst kontrovers diskutierte Frage (zumindest vorübergehend) adäquat zu beantworten.186 Bei der Abgrenzung des Begriffs handelt sich um eine Aufgabe der Intermedialitätsforschung, der ein Einführungsband nicht nachkommen kann. Sieht man über diese grundlegenden Einwände gegen die definitorische Arbeit hinweg, lässt sich der Zuständigkeitsbereich der Intermedialität mit Rajewsky auf »Mediengrenzen überschreitende Phänomene [festlegen], die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren« (157). Darunter fallen drei verschiedenen Ausprägungen: Medienwechsel, Medienkombination und ein Bereich, der ›intermediale Bezüge‹ betitelt ist.187 186

Vgl. zur Ausführlichkeit und Widersprüchlichkeit der Medienbegriffsdebatte: W. Wolf: Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft?, S. 86f; Ders.: »›The musicalization of fiction‹. Versuche intermedialer Grenzüberschreitung zwischen Musik und Literatur im englischen Erzählen des 19. und 20. Jahrhunderts«, in: J. Helbig (Hg.), Intermedialität, S. 133-164, hier S. 133; Werner Faulstich: Kritische Stichwörter zur Medienwissenschaft, München: Fink 1979; Ders. (Hg.), Grundwissen Medien, München: Fink 1998; J. Müller: Intermedialität.; Ernest W. B. Hess-Lüttich: »Code-Wechsel und Code-Wandel«, in: ders. (Hg.), Code-Wechsel. Texte im Medienvergleich, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 9-23; Wilhelm Füger: »Wo beginnt Intermedialität? Latente Prämissen und Dimensionen eines klärungsbedürftigen Konzepts«, in: J. Helbig (Hg.), Intermedialität, S. 41-57; Joachim Paech: »Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen«, in: J. Helbig (Hg.), Intermedialität, S. 14-30; Christa Karpenstein-Eßbach: »Medien als Gegenstand für die Literaturwissenschaft. Affären jenseits des Schönen«, in: Julika Griem (Hg.), Bildschirmfiktionen: Interferenzen zwischen Literatur und neuen Medien. Tübingen: Narr 1998, S. 13-32. Vgl. I. Rajewsky: Intermedialität, S. 7.

187

Das letztgenannte Phänomen macht den Hauptteil der Ausführungen aus, was größtenteils daran liegt, dass hier neuartige Verfahren vorgestellt

137

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Die Kategorie ›Medienwechsel‹ dient als Sammelbegriff für verschiedene Phänomene, die auch unter den Bezeichnungen ›Medientransfer‹ oder ›mediale Transformation‹ geführt werden. In dieser intermedialen Erscheinungsform wird der Prozess »der Transformation eines medienspezifisch fixierten Prä›textes‹ bzw. ›Text‹substrats in ein anderes Medium, d.h. aus einem semiotischen System in ein anderes« (16) untersucht. Bedeutend ist zudem, dass nur das Zielmedium materiell präsent ist, dass Phänomen insgesamt also monomedialen Charakter hat. Wenn beispielsweise ein Roman verfilmt wird, vollführt die Verfilmung den Transferprozess mit den Mitteln des Films und kann genuin literarische Mittel nur illusionistisch nachbilden (z.B. durch eine Erzählerstimme aus dem Off, die filmische Abbildung eines Buches, das aufgeschlagen wird usw.) (56f.). Neben der Literaturverfilmung, die ja schon seit langem durch die Etablierung der Adaptionsforschung als eigener Teildisziplin einen gewissen Stellenwert inne hat, lassen sich Hörspielfassungen von Filmen, Dramen oder Prosawerken, sogenannte ›Veroperungen‹ bzw. Musicalfassungen fremdmedialer Produkte u. Ä. als Beispiele dieser Intermedialitätsform aufführen. Darüber hinaus bietet der Medienwechsel auch Aufschluss über das zugrunde liegende Medienverständnis. So wird die Inszenierung eines dramatischen Textes beispielsweise auch als ein Medienwechsel definiert, wodurch eine Trennung zwischen Text und Inszenierung herbeigeführt wird, die zwar dem institutionellen Verständnis entspricht, das zwischen Text- und Theaterwissenschaften trennt, hier aber nicht unhinterfragt übernommen werden soll. Aus diesem Grund wird in den einzelnen Analysekapiteln verschiedentlich auf diesen Punkt zurückzukommen sein. Ebenso wie der Medienwechsel stellt die Medienkombination einen Bereich dar, in welchem zwar interessante Medienphänomene angesiedelt sind, dessen theoretische Aufarbeitung verglichen mit dem Bereich ›intermedialer Bezüge‹ jedoch marginal ist. So spielen einzelne Formen der Medienkombination, unter den Schlagworten ›Hybridmedien‹, ›intermedia‹ oder ›plurimediale Medien‹, partiell eine wichtige Rolle im Forschungsbetrieb (man denke beispielsweise an Studien zu Dada oder Ekphrasis), für die Ausdifferenzierung eines taxonomischen Apparats jedoch sind sie eher irrelevant, schließlich machen die als Beispiele zu nennenden Formen des Photoromans und der Klangkunst auch nicht den Kernbereich intermedialer Analysen aus. Mit einem Blick auf die genaue Definition der Medienwerden, während die anderen beiden Kategorien, Medienwechsel und Medienkombination, vorwiegend auf Altbekanntes rückverweisen.

138

5.2 STAND DER INTERMEDIALITÄTSFORSCHUNG kombination wird aber deutlich, weshalb eine intermediale Theorie ohne diesen Bereich nicht denkbar wäre. Das Phänomen wird beschrieben als »[p]unktuelle oder durchgehende Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien, die sämtlich im entstehenden Produkt materiell präsent sind« (157), wodurch zugleich sämtliche mediale Erscheinungsformen eingeschlossen werden, die sich verschiedener semiotischer Systeme bedienen. »›Intermedialität‹ stellt sich hier demnach als ein kommunikativ-semiotischer Begriff dar, der […] auf der Addition mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener medialer Systeme beruht« (15). Der Film, so ließe sich an dieser Stelle die Kritik an dem offenen Medienverständnis von Wolf aufgreifen, wäre als audiovisuelles Medium also streng genommen ebenso eine Medienkombination wie auch die Oper oder eine Drameninszenierung, da Ton und Bild als distinkt wahrgenommene Medien anzusehen sind. In ihrer Kombination auf Kinoleinwand und Fernsehbildschirm jedoch, und hier wird die Schwäche der zugrunde liegende Mediendefinition deutlich, werden Bild und Ton als ein zusammengehöriges Ganzes wahrgenommen. Ein Stummfilm muss heutzutage ebenso Irritation im Publikum auslösen wie ein ohne Bildmaterial im Kino dargebotenes Hörspiel. Das Bewusstsein, dass es sich um eine Medienkombination handelt, schwindet mit dem Aufschwung des Mediums. Die Konventionalität, die nach Wolf darüber entscheiden soll, ob zwei Medien als distinkt wahrgenommen werden, also die konkrete Frage, wo das eine Medium aufhört und wo das nächste beginnt, ist – wie an dieser Stelle ersichtlich wird – nicht nur zeitlich in einem Wandel begriffen, sondern zudem kontextgebunden. Die Subkategorie des Intermedialen, der das größte Interesse zukommt, ist die Kategorie ›Intermediale Bezüge‹. Generell lässt sich sagen, dass das Erkenntnisinteresse in dieser Form von Intermedialität »auf die Untersuchung von Formen und Funktionen […] der Bezugnahme eines bestimmten medialen Produkts auf ein anderes mediales System bzw. auf ein diesem fremdmedialen System zugehöriges Produkt« (25) gerichtet ist. Es handelt sich also um eine Untersuchung all jener Bezüge zwischen zwei distinkt als verschieden wahrgenommenen Medien, die nicht im Sinne eines Medienwechsels als Adaptionen angesehen werden können. So gesehen ist Intermedialität in dieser Subkategorie als »kommunikativ-semiotischer Begriff zu definieren, mit dessen Hilfe sich Rekursverfahren erfassen lassen, die für die Bedeutungskonstitution« (ebd.) und somit zugleich »für die konkrete Analyse von Texten, Filmen, Theaterstücken usw. besonders relevant sind.« (ebd.) Dass die hierunter fallenden

139

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Phänomene weitaus komplexer sind als Medienwechsel und Medienkombinationen, liegt ebenso auf der Hand wie die hohe Anwendbarkeit solcher Rekursverfahren. In der Folge soll daher die Terminologie dieser Subkategorie so knapp wie möglich, allerdings auch so ausführlich wie nötig vorgestellt werden. Nach dem Vorbild der anwendungsorientierten Intertextualität lassen sich intermediale Bezüge zunächst in intermediale Einzelund Systemreferenzen unterscheiden, wobei unter dem Ersten »Bezugnahme[n] eines medialen Produkts auf ein einzelnes mediales Produkt« (195f.) und unter dem Letztgenannten eine »Bezugnahme […] eines medialen Produkts […] auf ein semiotisches System« (205) verstanden wird. Behandelt werden also Bezüge zwischen Texten und Filmen, Dramen und Gemälden, Kompositionen und Computerspielen etc. sowie solche zwischen einem Text und dem System Film, einer Theaterinszenierung und dem System Musical usf. Wie auch bei der intramedialen Einzel- und Systemreferenz ist die Relation bei intermedialen Bezügen so organisiert, dass die Einzel- die Systemreferenz indiziert. Dient die Einzelreferenz zunächst als rein oberflächliches Merkmal so wie Zitate, Anspielungen und Plagiate im Rahmen der Quellenforschung, kann der Systemreferenz hingegen ein komplexes Wirken bescheinigt werden, das zu einer Bedeutungskonstitution in den Tiefenstrukturen des Medienprodukts beiträgt. Hierbei sind zwei wesentliche Wirkungsformen zu trennen: die Systemerwähnung und die Systemkontamination. Bei der Systemerwähnung »wird ein konventionell als distinkt wahrgenommenes mediales System punktuell und vor dem Hintergrund des zur Texterzeugung verwendeten Systems erwähnt« (205); Figuren in einem Roman können z.B. einen Abend vor dem Fernseher verbringen.188 Die Form des Rekurses wäre in diesem Fall eine schlichte Nennung des Fremdmediums, was den simpelsten Typus darstellt und als ›explizite Systemerwähnung‹ bezeichnet wird. Da diese Form der Systemerwähnung immer ausdrücklich ist, wird sie »dem Problem der Identifizier- und Nachweisbarbeit intermedialer Bezüge gerecht« (78). Die Unterscheidung in explizite und implizite Rekurse auf fremdmediale Systeme liefert ein Kriterium, das es ermöglicht, »Vertextungsverfahren, die nachweislich etwa auf die audiovisuellen Medien rekurrieren, von solchen zu unterscheiden, denen lediglich aufgrund mehr oder

188

Vgl. zu diesem Beispiel: I. Rajewsky: Intermedialität, S. 80.

140

5.2 STAND DER INTERMEDIALITÄTSFORSCHUNG minder vager Assoziationen eine Analogie zu Film und Fernsehen zuzusprechen ist.« (78)

Die freilich gegebene Gefahr einer nicht nur freien, sondern gar willkürlichen Analogiebildung bei der Identifizierung des zweiten Typus wird durch das Zusammenspiel mit expliziten Systemerwähnungen geschmälert. In der Analysepraxis fungiert nämlich die explizite Systemerwähnung häufig als Markierung weiterer, lediglich impliziter Systemreferenzen, die nur aufgrund der Markierung als Referenzen in Erscheinung treten und nachweisbar werden. Daher wird in diesem Funktionszusammenhang auch von ›Intermedialitätssignalen‹ oder ›markern‹ gesprochen. Das Prosabeispiel eines Abends vor dem Fernseher führt einen Fall vor Augen, bei dem die Systemerwähnung Bestandteil der ›histoire‹ der Erzählung ist. Nun ist es aber auch denkbar, dass die Systemerwähnung darüber hinaus auch auf die Ebene des ›discours‹ Auswirkungen hat. Durch ein Kommentieren der ›histoire‹ durch den Erzähler kann »die mediale, ästhetische und funktionale Qualität des Systems ›Fernsehen‹ […] reflektiert und problematisiert werden« (81). Auf diese Weise würde die Differenz zwischen dem verwendeten literarischen und dem aufgerufenen fremdmedialen System sichtbar gemacht und es käme zu »einer Metaisierung des narrativen Diskurses« (ebd.).189 Abseits dieser histoire- bzw. discours-spezifischen Systemerwähnungen ist es genauso gut vorstellbar, dass ein Ich-Erzähler eingesetzt wird, dessen Wahrnehmung der Welt außergewöhnlich stark durch ein bestimmtes Medium geprägt ist, der »etwa in filmischen Bildern denkt, medial verankerte Vergleiche zieht oder eine andere Form medialen Bewusstseinsprägung aufweist« (89). Da es aber selbst einem Cineasten als prosaischem Erzähler unmöglich ist, Literatur und Film verschmelzen zu lassen – also aus literarischem Text filmische Bilder, aus bedrucktem Papier Zelluloid zu machen – kann nur über die Reproduktion bestimmter filmischer Elemente oder Strukturen mit den Mitteln der Literatur der Eindruck des Filmischen hervorgerufen werden. Ein Rückgriff auf Techniken des Films lässt sich nur mithilfe einer Illusion realisie-

189

Zu Metaisierungen dieser Art kann es generell extradiegetisch durch einen Erzähler oder intradiegetisch durch eine oder mehrere Figuren kommen.

141

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE ren, die Heller mit der formelhaften Bezeichnung einer »scheinhaften Form des ›Als ob‹«190 versehen und wie folgt beschrieben hat: »Der literarische Autor schreibt so, als ob er über die ›Instrumente des Films‹ verfügen würde, es realiter jedoch nicht tut. Filmisches Schreiben im literarischen Medium ist also nicht imprägniert zu sehen von technischen Qualitäten des Films ›an sich‹, sondern von subjektiven Kinowahrnehmungen des schreibenden Subjekts.«191

Diese Illusionsbildung in der uneigentlichen Form des ›Als ob‹ ist das Erkennungsmerkmal des zweiten Grundtypus intermedialer Systemerwähnungen schlechthin, auch wenn sich je nach der Art und Weise, wie die Illusionsbildung erzielt wird, noch verschiedene Subtypen differenzieren lassen.192 Alle Formen dieser Systemerwähnung bauen gleichsam auf »eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen bestimmten Elementen und/oder Strukturen des Textes einerseits und des filmischen Systems andererseits« (115) auf, wodurch sie »ihre altermedial bezogen illusionsbildende Qualität« (117) erlangen. Durch die Illusionsbildung wird zudem der Eindruck hervorgerufen, dass »eine Qualität des Fremdmedialen in den literarischen Text ›hinübergetragen‹ werde; daher wird dieser zweite Typus der Systemerwähnung in Anlehnung an den ›transposition d’art‹-Begriff als ›Systemerwähnung qua Transposition‹ bezeichnet. Da es im Gegensatz zu intramedialen Bezügen bei Verweisstrukturen, in deren Rahmen Mediengrenzen überschritten werden, nicht zu einer Systemaktualisierung kommen kann, greift die Intermedialitätsforschung hier auf einen anderen Terminus zurück: im Fall einer intermedialen Systemreferenz, bei der es zu einer wie auch immer gearteten Veränderung des Bezugssystems kommt, ist von einer ›Systemkontamination‹ die Rede. Um einen solchen Fall zu verdeutlichen, sei auf einen literarischen Text verwiesen, der eine Alltagshandlung im Stile eines Kommentators bei einer Sportdirektübertragung schildert.193 Der Text würde hier zwar das Fernsehen

190

Heinz-B. Heller: Historizität als Problem der Analyse intermedialer Be-

191

Ebd.

ziehungen. S. 279. 192

Die Unterschiede zwischen ›evozierender‹, ›simulierender‹ und ›(teil)reproduzierender‹ Systemerwähnung sind nicht so bedeutend, als dass sie an dieser Stelle gesonderte Aufmerksamkeit verdienten. Im Analyseteil soll jedoch im Bedarfsfall auf diesen Aspekt zurückgekommen werden.

193

Vgl. ausführlich zu einem ähnlichen Beispiel: I. Rajewsky: Intermedialität, S. 110 und S. 118.

142

5.2 STAND DER INTERMEDIALITÄTSFORSCHUNG als System aufrufen, es jedoch »nicht als solches zur Erzeugung des Textes« (118) heranziehen. Da Letzteres aufgrund medialer Differenzen unmöglich ist, Text also nicht in filmischen Bildern erzählen kann, kann der literarische Text nur die sprachlichen Bestandteile des fremdmedialen Bezugssystem nachbilden. Er ist nämlich durchaus »in der Lage, bestimmte Prinzipien, die einem ›Erzählen‹ in Bildern unterliegen, zu Bedingungen seines Erzählens zu machen« (125). Die Beschreibung einer Fahrt mit dem Einkaufswagen durch einen Supermarkt würde also, sofern sie im Stil einer Sportkommentation geschildert wird, das fremdmediale System »in seinen literarisch reproduzierbaren Bestandteilen kontinuierlich zur Texterzeugung« (118) verwenden. Wenn derartige Teilreproduktionen bestimmter Mikroformen des Televisuellen mit entsprechenden Intermedialitätssignalen (Markierungen oder markern) versehen werden, kann davon ausgegangen werden, dass der Leser den Bezug wahrnimmt und fehlende Elemente der televisuellen Makroform hinzudenkt. Hierauf weist Rajewsky auch hin, indem sie betont, dass der Leser »also beständig die visuelle und somit medienspezifische Komponente des aufgerufenen Systems, die vom Text nur evoziert wird, mit den reproduzierten und verbalsprachlichen Bestandteilen verknüpfen« (119) müsse, um die ›histoire‹ des Textes vollständig nachvollziehen zu können. Was durch die Einhaltung der fremdmedialen Regeln und Konventionen (hier die Übernahme des sprachlichen Stils) erzeugt wird, ist eine fremd- bzw. altermedial bezogene Illusionsbildung, welche den notwendigen ›Als ob‹-Charakter des Fremdmedialen erzeugt. Diese scheinbare Verschmelzung zweier als distinkt wahrgenommener medialer Systeme motiviert die Bezeichnung ›Systemkontamination‹, obwohl es ja de facto nicht zu einer Kontamination zweier Systeme, sondern nur zu einer Modifikation eines Systems kommt. Auch auf diese Form eines Medium-MediumBezugs und auf seine verschiedenen Erscheinungsformen194 wird im Analyseteil zurückzukommen sein.

194

Es lassen sich hier die Systemkontamination qua Translation und die teilaktualisierende Systemkontamination unterscheiden. Vgl. I. Rajewsky: Intermedialität, S. 157.

143

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE

5.3 Ko nkurrenzsit uat io n mimet ischer Künst e: Theater und Film Wird Bühnenkunst vor dem Hintergrund des konkurrierenden Films beleuchtet, muss zunächst auf eine beachtliche Gemeinsamkeit beider Kunst- und Unterhaltungsformen hingewiesen werden: der mimetische Anspruch sowohl des Theaters als auch des Films bedingt, dass beide Formen streng genommen bereits intermedial konzipiert sind. Es handelt sich um Kombinationen auditiver und visueller Elemente, also um multi- oder polymediale Erscheinungen, deren Status zwischen Medienkombination und autonomen Medium nicht klar zu fassen ist. Dass vielerorts über den Hybridcharakter von Film und Theater hinweggesehen wird, mag an puristischen Bestrebungen liegen, diese Phänomene als Einzelmedien zu etablieren, die schon bei der Einführung des Tonfilms zu Entrüstung geführt haben. Wenn am Tonfilm beispielsweise kritisiert wurde, dass er kaum mehr als »schlecht konserviertes Theater bei erhöhten Preisen«195 sei, spricht daraus eine generelle Skepsis gegenüber dem neu etablierten Medium und ein »Wunsch nach medialer und gattungsspezifischer Reinheit«,196 den Jürgen Müller als eine Konstante der Mediengeschichte ausmacht. Diese Reduktionen eines multimedialen Phänomens auf eine mediale Ein-Dimensionalität stellt ein Hemmnis der Intermedialitätsforschung dar, das an dieser Stelle jedoch kaum behoben werden kann. Wichtig ist, dass es nicht um Film einerseits und Theater andererseits gehen soll, sondern dass sich die folgenden Textanalysen ganz bewusst auf den Raum zwischen beiden Medien konzentrieren. Hierbei sei vorausgehend angemerkt, dass alle Überlegungen in der Folge mit einer wesentlichen Schwierigkeit umzugehen haben: die Theateranalysen richten sich jeweils auf Theatertexte und nicht auf Inszenierungen, während sich die Filmanalysen in Kapitel 6. konkreten Filmen und nicht etwa Drehbüchern widmen. Die Gründe liegen auf der Hand. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ist dem Text zum einen noch immer eine gewisse Vorrangstellung einzuräumen und zudem 195

Jürgen Müller weist in diesem Zusammenhang auf den Abdruck des vielzitierten Pamphlets gegen den Tonfilm hin. Vgl. Mauricio Kagel: »›Szenario‹. Musik zu Un chien anda-lou«, in: Ursula Link-Heer, Volker Roloff (Hg.), Luis Bunuel. Film – Literatur – Intermedialität. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), S. 62-65, hier S. 62. Der Hinweis findet sich bei: J. Müller: Intermedialität, S. 16.

196

Ebd.

144

5.3 KONKURRENZSITUATION MIMETISCHER KÜNSTE: THEATER UND FILM stellt die Analyse konkreter Inszenierungen einen organisatorischen Aufwand dar, der für Deutschlehrer, die hier stets im Auge zu behalten sind, schier unzumutbar ist. Zudem ragen infolge dieser Voraussetzungen im intermedialen Vergleich medienspezifische Eigenheiten hervor, die ansonsten leicht übersehen werden können.197 Die parallel geschaltete Betrachtung von Theatertexten und Filmen nimmt darüber hinaus das wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis ernst, das Hans-Thies Lehmann dem Theater und Film des späten 20. Jahrhundert konstatiert hat: »Unter dem Eindruck neuer Medien werden die älteren selbstreflexiv. (So geschah es mit der Malerei beim Aufkommen der Photographie, mit dem Theater beim Aufkommen des Films, mit diesem beim Aufkommen der Fernseh- und Videotechnik.)«198

So betrachtet scheint jede Analyse von Film und Theater der Gegenwart notwendigerweise intermediale Überlegungen anstellen zu müssen, will sie ihrem Gegenstand gerecht werden. Mit dem taxonomischen Apparat der Intermedialitätsforschung steht den folgenden Textanalysen hierzu ein geeignetes Instrumentarium zu Verfügung. Der Blick auf medienspezifische Elemente und Strukturen, die einen fremdmedialen Einfluss markieren können, lässt eine verallgemeinernde Kategorisierung zu, die das Feld Gegenwartsdrama alternativ zu bereits angestellten Ordnungsversuchen zu gliedern versucht. Statt thematischer Unterteilungen199 bietet sich eine formale Unterscheidung an, die Entwicklungen im Drama des ausgehenden Jahrtausends als Reaktionen auf den Siegeszug des Films und die damit verbundene prekäre Lage der Theaterhäuser versteht, die angesichts eines vehementen Zuschauerschwunds in Zugzwang geraten sind. Damit ähnelt die Konzeption dem Ordnungsversuch durch Gerda Poschmann, die das zeitgenössische Theater ebenfalls mittels eines wesentlichen Kriteriums in zwei Gruppierungen unterscheidet. Als Ordnungskriterium zieht Poschmann die Art und Weise heran, wie Texte sich zur dramatischen Form verhalten:

197

Inwieweit sich Literatur durch einen gewissen Grad an Unbestimmtheit von audiovisuellen Medien abhebt und welche Vorteile intermediale Bezugnahmen in dieser Hinsicht eröffnen, wird bei der Analyse von Tim Staffels »Werther in New York« verdeutlicht (siehe Kapitel 8.2).

198

H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 82.

199

Wie beispielsweise Mythos, Erinnerung und soziale Geschichten bei Franziska Schößler. Vgl. F. Schößler: Augen-Blicke.

145

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE »Dieses zugegeben grobe Raster, das lediglich der Orientierung dient, trennt nämlich im wesentlichen in zwei große Gruppen: Es gibt Texte, welche die dramatische Form nutzen – diese Gruppe ist hier nochmals differenziert in problemlose und kritische Nutzung der dramatischen Form –, und solche, die sich von ihr gelöst haben.«200

Die Akzentverschiebung hin zu der Frage, wie sich Theater aus der Konkurrenzsituation zum Film zu lösen versucht, kann freilich ebenso wenig wie Poschmanns Untersuchung zu einer »umfassenden, zeitlos gültigen Typologie verschiedener Theatertexte«201 führen. In Anbetracht der schlechten Stellung des Gegenwartsdramas im Deutschunterricht202 ist der Versuch einer Ordnung jedoch sehr wünschenswert, auch wenn dies unweigerlich zu Reduktionen und Verallgemeinerungen führt. Schließlich macht Franziska Schößlers Studie zum Drama der neunziger Jahre deutlich, dass Klassifizierungen und Etikettierungen nicht zwingend den Blick auf den Gegenstand behindern müssen, wie Poschmann meint;203 in vielen Fällen ermöglichen derartige Ordnungsschritte einen solchen Blick überhaupt erst, indem sie mit einer spezifischen Fokussierung die notwendige Kontextualisierung und Orientierung liefern. Daher soll in der Folge in einem ersten Unterschritt der Einfluss des Theaters auf das Kino untersucht werden, bevor theatrale Entwicklungen in zwei fundamentale Richtungen zur Darstellung gelangen: Zunächst werden Stücke untersucht, an denen eine Anpassung an filmische Konventionen im Theater der neunziger Jahre erkennbar ist, bevor in einem zweiten Schritt Theaterstücke in den Fokus rücken, die auf die Konkurrenz zum Film mit Innovationen antworten, die gerade die Theatralität des Dramas als Vorzug betonen. Zeichnet sich die erste Gruppe durch einen starken Bezug zur Lebenswirklichkeit der Schüler aus, die extremer als jemals zuvor eine medial geprägte Wirklichkeit ist, so besteht bei den innovativen Stücken die besondere didaktische Eignung darin, dass sie mit der bewussten Absetzung von filmischen Konventionen an die »plurale Medienkompetenz des Theaterzuschauers«204 appellieren.

200

G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 55.

201

Ebd.

202

Siehe Kapitel 3.1.3.

203

Vgl. G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 55.

204

Christopher B. Balme: Robert Lepage und die Zukunft des Theaters im Medienzeitalter. In: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre. Berlin: Theater der Zeit 1999 (=Recherchen 2), S. 133-146, hier S. 136.

146

6. Theat er im Kino Im Zuge der Öffnung der Literaturwissenschaften für kultur- und mediengeschichtliche Fragestellungen kommt der Literaturtheorie ein anderer Stellenwert zu. Wenn man nämlich wie Jonathan Culler davon ausgeht, dass der Gegenstand des Bereichs ›Theorie‹ eine Bandbreite verschiedener ›Bedeutungspraktiken‹ ist, die für die »Herstellung und Darstellung von Erfahrung«1 ebenso verantwortlich sind wie für die »Produktion menschlicher Subjektivität«,2 dann scheint eine Beschränkung der Untersuchungsgegenstände auf literarische Texte von vorneherein unsinnig. Genau genommen gerät eine ausschließlich auf literarische Texte fixierte Literaturwissenschaft in Anbetracht der kulturwissenschaftlichen Wende sogar unter einen enormen Legitimationsdruck. Gemäß der cullerschen Prämisse, dass »›Theorie‹ […] die Theorie und Kulturwissenschaft die Praxis«3 ist, kann sich eine zeitgemäße Literaturwissenschaft nichtliterarischen Gegenständen wie Film, Fernsehen oder Mode gar nicht entziehen, wenn sie die Augen nicht vor der Wirklichkeit verschließen will. Dies belegen die in der vorliegenden Studie zur Analyse herangezogenen Texte und Filme, indem sie die starke Konstruiertheit von Mediengrenzen aufzeigen. Die Vorstellung von einem reinen Theater ist ebenso illusionär wie die eines reinen Films. Als plurimediale Erscheinungen mit Repräsentationsanspruch ergänzen sich beide Medienformen wechselseitig, wie zunächst anhand von theatralischen Einflüssen auf das Kino zu zeigen sein wird, bevor die unterschiedlichen Auswirkungen des Films auf das Theater getrennt thematisiert werden. Vor dem Hintergrund des postdramatischen Paradigmas werden zwei Filme auf intermediale Implikationen untersucht: »Dogville« (DK, SE, GB, FR, D, NL 2003, R: Lars von Trier) wird als Beispiel für eine Brecht verpflichtete Privilegierung der Fabel herangezogen, das sowohl formale als auch inhaltliche Parallelen zum epischen Theater aufweist; »Kill Bill« (USA 2003 1

J. Culler: Literaturtheorie, S. 64.

2

Ebd.

3

Ebd., S. 64f.

147

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE und 2004, R: Quentin Tarantino) steht hingegen für einen Überwindung jener Theaternormen ein, die von Brecht bis hin zu Aristoteles zurückverfolgt werden können, was mithilfe einer Markierung der dramatischen und postdramatischen Elemente in den zwei Teilen des Films veranschaulicht werden soll.

6.1 Lars von Trier: »Dogville« Im Gegensatz zu »Kill Bill« stellt »Dogville« einen Untersuchungsgegenstand dar, dessen theatrale Implikationen offensichtlich sind und daher auch seit den ersten Reaktionen auf den ersten Teil der sogenannten USA-Trilogie im Vordergrund stehen. So wurde »Dogville« beispielsweise als »einzigartige Vermählung von Film und Bühne«4 bezeichnet, deren theatraler Bezugspunkt eindeutig markiert ist: Durch das Aufgreifen des Seeräuber-Jenny-Songs, den die Polly in Brechts »Dreigroschenoper« anlässlich ihrer Hochzeit zum Besten gibt, wird eine Beziehung zu Brecht konstruiert, die den ganzen Film als »brechtianisches Spiel mit dem Kino als Reich der Zeichen«5 erscheinen lässt. Der Film geht also auf eine grundlegende intermediale Bezugnahme zurück und kann folglich als eine variierte Fortschreibung des Hypertextes gelten. Am Anfang des Filmprojekts stand für von Trier nach eigener Aussage nämlich eine persönliche Erfahrung mit eben jenem Lied, das von den Rachegelüsten Jennys erzählt: »Eines Tages hörte ich beim Autofahren mit dem Schauspieler Jens Albinus die dänische Version der Seeräuber-Jenny aus der ›Dreigroschenoper‹ und war begeistert. Dann hat mir Albinus später beim Angeln viel über Brecht erzählt. Der rachelustige Refrain ging mir nicht aus dem Kopf, und so wollte ich einen Film über die Rache machen.«6

Mit Rekurs auf von Triers Aussage lässt sich an dieser Stelle mit vorausschauendem Blick festhalten, dass »Dogville« und »Kill Bill« dasselbe Sujet bearbeiten, steht doch jeweils die Rache einer Frauenfigur im Zentrum. Da »Kill Bill« ausschließlich auf den Rachefeldzug angelegt ist, während in von Triers Film die meiste Zeit über das der Rache vorangehende Leiden gezeigt wird, das zu alledem

4

Katja Nicodemus: »Das Leben, ein Brettspiel«, in: Die Zeit vom 23.10.2003.

5

Ebd.

6

Im Interview: »Lars von Trier. ›Ich bekomme eigentlich nie einen Fisch an die Angel‹«, in: Süddeutsche Zeitung vom 22.10.2003.

148

6.1 LARS VON TRIER: »DOGVILLE« auch nur wenig Anzeichen eines wirklichen Wunsches nach Rache der duldsamen und barmherzigen Grace Margaret Mulligan offenbart, unterscheiden sich beide Filme dann aber doch grundlegend. In der Folge geht es darum, Markierungen intermedialer Bezugnahmen in »Dogville« nachzuzeichnen und die inhaltliche Schnittmenge zwischen Hypo- und Hypertext zu umreißen. Danach werden die formalen Mittel analysiert, die in »Dogville« zur Anwendung kommen, und in ihrem Bezug zu Brechts epischem Theater erläutert.

6.1.1 INTERMEDIALE BEZUGNAHMEN IN »DOGVILLE« Obgleich von Triers Gestaltung der Grace – wie eigentlich die Konzeption aller Protagonistinnen bei ihm (sei es Bess in »Breaking the Waves«, Karen in »Idioten« oder Selma in »Dancer in the Dark«7) – stark auf eine Märtyrerinnenrolle zugeschnitten ist, orientiert sich der Handlungsverlauf an der brechtschen Jenny, deren Rache ebenfalls als Antwort auf eine Reihung unzähliger Demütigungen zu sehen ist, die ihr Alltag als Mädchen für alles in einem heruntergekommenen Hotel mit sich bringt. Es sind ebenfalls die allgemeinen Verhältnisse, welche Grace zu dem Schluss bringen, dass die Welt ohne Dogville besser dran wäre. Dass die Reihung der erlittenen Verletzungen mit Vergewaltigung und Verrat auf einen ähnlich drastischen Höhepunkt hinausläuft wie in »Kill Bill« ist der Dramaturgie des Films geschuldet, in der großes Leid zu noch größerer Barmherzigkeit führt. Zwar erscheint das Leid der Jenny8 im Vergleich zu Graces Leidenszeit in Dogville kaum erwähnenswert. Die angekündigte Vergeltung im Lied der Seeräuber-Jenny ist dem gewaltvollen Ende von »Dogville« jedoch durchaus ebenbürtig. Bei Brecht wird die Rache wie folgt beschrieben:

7

Vgl. »Breaking the Waves« (DK, SE, F, NL, NO, IS 1996, R: Lars von Trier), »Idioten« (DK, SE, F, NL, I 1998, R: Lars von Trier) und »Dancer in the Dark« (DK, D, NL, I, USA, UK, F, SE, FI, IS, NO 2000, R: Lars von Trier). Eine prototypische Bearbeitung dieses Themenkomplexes findet sich in von Triers erstem Kurzfilm »Der Orchideengarten« aus dem Jahr 1977, der bereits »suggeriert, daß die Frau, in Jesu Nachfolge, das Leid der Welt trägt«, wie Marion Müller festgehalten hat. Vgl. Marion Müller: Vexierbilder. Die Filmwelten des Lars von Trier, St. Augustin: Gardez! Verlag 2000, S. 34.

8

Das Lied berichtet von Dienstleistungen wie Gläserabwaschen und Bettenmachen, für die Jenny von den Gästen nur Geringschätzung erfährt. Vgl. Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper. Der Erstdruck 1928. Mit einem Kommentar von Joachim Lucchesi, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 30.

149

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE »Aber eines Abends wird ein Getös’ sein am Hafen Und man fragt: Was ist das für ein Getös’? Und man wird mich stehen sehen hinterm Fenster Und man sagt: Was lächelt die so bös’? Und das Schiff mit acht Segeln Und mit fünfzig Kanonen Wird beschießen die Stadt. Und es werden kommen hundert gen Mittag an Land Und werden in den Schatten treten Und fangen einen jeglichen aus jeglicher Tür Und legen ihn in Ketten und bringen vor mir, Und fragen, welchen sollen wir töten? Und an diesem Mittag wird es still sein am Hafen, Wenn man fragt: Wer wohl sterben muß. Und dann werden Sie mich sagen hören: Alle! Und wenn dann der Kopf fällt, sag’ ich: Hoppla! Und das Schiff mit acht Segeln Und mit fünfzig Kanonen Wird entschwinden mit mir…«9

Als unterstes Glied in der Gruppenhierarchie kann Jenny selbst keine Veränderung der Verhältnisse herbeiführen und ist stattdessen auf Hilfe von außen angewiesen. In ihrer Rachevision vollzieht sich diese Veränderung mit der Ankunft des Piratenschiffes, das eine alternative Ordnung repräsentiert, nach welcher Jenny nicht mehr Befehlsempfängerin, sondern plötzlich Kommandantin ist. In der ausgemalten Piratenwelt verfügt sie über die göttliche Entscheidungsgewalt über Leben und Tod. Der Eindruck des Göttlichen speist sich darüber hinaus aus der absoluten Übermacht, die die Piraten durch Feuerstärke und Mannschaft verkörpern, wodurch der Vergeltungsschlag den apokalyptischen Glanz einer göttlichen Strafe sündhafter Bigotterie verliehen bekommt. Es ist genau dieser Effekt, den auch »Dogville« erzielt, indem Graces Rettung aus der Unterdrückung in und durch Dogville durch die Gangsterbande ihres Vaters herbeigeführt wird, die den Dorfbewohnern klar überlegen ist.10

9

Ebd., S. 31f.

10

Hinzu treten zahlreiche Aspekte, die analog zu der messianischen Anlage der Protagonistin nahe legen, dass es sich bei dem Vater um einen mächtigen Vater im theologischen Sinn handelt. So stellt Grace im Gespräch her-

150

6.1 LARS VON TRIER: »DOGVILLE« Über das Lied der Seeräuber-Jenny hinaus, das mit Rache und Vergeltung jenes biblische Thema verhandelt, das auch in »Kill Bill« im Mittelpunkt steht, lassen sich noch weitere inhaltliche Parallelen zu Brechts »Dreigroschenoper« aufdecken, die ebenso der Affinität zu biblischen Motiven geschuldet sind, die von Trier mit Brecht teilt. In von Triers Biographie ist religiöse Spiritualität nämlich von immenser Bedeutung: seine Konversion zum Katholizismus kann als Ausdruck einer Sehnsucht nach Regeln und Vorgaben gesehen werden, die sich auch in von Triers filmischem Œuvre widerspiegelt. Daher lassen sich im filmischen Werk von Triers ebenso wie in den Schriften Brechts zahlreiche Spuren intensiver Bibelexegese und religiöser Weltbetrachtung finden. Im Fall von »Dogville« und der »Dreigroschenoper« wären dies die Martyrien, welche Jenny und Grace (bereits der Name deutet auf den Bibelkomplex um Vergeltung oder Vergebung und Barmherzigkeit hin) durchleiden, sowie der angesprochene apokalyptischen Vergeltungsschlag einer göttlich anmutenden Übermacht, der den ungerechten Besuchern der Spelunke bei Brecht lediglich angekündigt wird, die Bewohner Dogvilles jedoch tatsächlich trifft, wenn die Bande von Graces Vater den Ort dem Erdboden gleichmacht. Zu dem Martyrium gehört auch der Verrat: So wie Mackie Messer nach biblischer Vorlage von Bettlerkönig Peachum angezeigt, von den Huren für ein Kopfgeld verraten und von seinem Freund Tiger Brown im Stich gelassen wird, so laden auch sämtliche Bewohner Dogvilles Grace gegenüber Schuld auf sich: Grace wird wirtschaftlich ausgebeutet, von Chuck vergewaltigt und in der Folge genötigt, von Chucks Ehefrau für die mutmaßliche Verführung ihres unschuldigen Gatten bestraft, indem ihre Porzellanfigurensammlung zerstört wird, und dann beim Fluchtversuch auch noch von dem zurückgebliebenen Truckfahrer Ben betrogen und vergewaltigt. Der mutmaßliche Geliebte Tom bezichtigt sie in ungerechtfertigter Weise des Diebstahls, daraufhin wird sie in Ketten gelegt und als Sexsklavin des Dorfes gehalten. Höhepunkt dieser Leidenskette ist der Verrat, den Tom begeht, indem er den Gangsterboss anruft, dessen Visitenkarte er eben nicht verbrannt hat, wie er Grace gegenüber zuvor behauptet.11 aus, dass der Vater für gewöhnlich tötet, ohne sich rechtfertigen zu müssen, und quasi unfehlbar sei. Vgl. Dogville: 02:27:13: GRACE »Musst du erst deine Handlungen rechtfertigen, bevor du uns erschießt? Das ist neu. (Pause) Das könnte man dir leicht als Schwäche auslegen, Daddy.« 11

Wegen der stark ausgeprägten Märtyrerzüge sind von Triers weibliche Hauptfiguren auch in die Nachfolge des melvilleschen »Billy Budd« gestellt

151

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Als guter Mensch entschuldigt Grace die Übeltaten der Einwohner Dogvilles zunächst konsequent. Ihrem Vater gegenüber führt sie die »sehr, sehr harten Bedingungen«12 an, unter denen die Leute in Dogville versuchten, ihr Bestes zu tun. Wie sehr die junge Frau, die immerhin ein Opfer des Dorfes geworden ist, die Täter noch verteidigt, geht aus ihren Gedanken während eines kurzen Spaziergangs hervor, die im Anschluss an das Gespräch mit ihrem Vater von der Erzählerstimme aus dem Off geschildert werden: »Wie konnte sie sie jemals hassen für etwas, das im Grund lediglich Schwäche war. Sie selbst hätte wahrscheinlich Dinge getan wie die, die ihr zugefügt worden waren, hätte sie in einem dieser Häuser gelebt, wenn sie ihren eigenen Maßstab bei ihnen anlegte, wie ihr Vater das ausdrückte. Hätte sie nicht, wenn sie ganz ehrlich war, das gleiche getan wie Chuck? Und Vera und Ben? Und Mrs. Henson? Und Tom? Und all diese Leute in ihren Häusern.«13

Im Kontext der religiösen Opferbereitschaft können Graces Gedanken als Reflexionen über christliche Gebote gelesen werden. Graces Einfühlung ist ein Zeugnis ihrer Nächstenliebe und bewahrt sie davor, über ihre Mitmenschen zu richten. Zugleich wird damit eine jener Akzentverschiebungen vollzogen, die das epische Theater von der dramatischen Form des Theaters entrücken. Indem sich Grace in die Dorfbewohner hineinversetzt, geht sie zugleich zu sich selbst auf Distanz. Dadurch, dass die Gedanken nicht primär dargestellt, sondern durch den Erzähler vermittelt werden, wird die Distanz zu den Zuschauern noch weiter vergrößert. Dass die Hineinversetzung in die soziale Situation der anderen (›hätte sie in einem dieser Häuser gelebt‹) Grace zu der Schlussfolgerung führt, dass sie selbst ebenso gehandelt hätte wie die Bewohner Dogvilles, bestätigt die worden, der wiederum als intertextueller Hypotext für Quentin Tarantinos »Kill Bill« ausgemacht werden kann. Vgl. zur ›Seelenverwandtschaft‹ zwischen der Bess aus »Breaking the Waves« und »Billy Budd«: M. Müller: Vexierbilder, S. 206. Sowie zur Relation von »Billy Budd« und »Kill Bill«: Christian Steltz: »Wer mit wem abrechnet. Intertextualität in Quentin Tarantinos Kill Bill«, in: Achim Geisenhanslüke/Christian Steltz (Hg.), Unfinished Business. Quentin Tarantinos »Kill Bill« und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2006, S. 53-78. Insbesondere S. 6974. Bess ist eine Seelenverwandte der Melvilleschen Figur Billy Budd, der eine Personifizierung des Guten und Naiven ist; er will nur Gutes tun, gerät aber unversehens in die Position eines Schuldigen und wird bestraft, weil die Interessen des Staates wichtiger sind. 12

Dogville: 02:32:32.

13

Dogville: 02:34:10.

152

6.1 LARS VON TRIER: »DOGVILLE« brechtsche Formel, dass das gesellschaftliche Sein das Denken bestimmt und nicht anders herum, wie das dramatische Theater glauben machen wolle.14 Hierin ist ein weiterer Anknüpfungspunkt an die »Dreigroschenoper« gegeben, die diese Maxime im ersten Dreigroschen-Finale durch Peachum und seine Frau besingt: »Ein guter Mensch sein? Ja, wer wär’s nicht gern? Doch leider sind auf diesem Sterne eben Die Mittel kärglich und die Menschen roh. Wer möchte nicht in Fried’ und Eintracht leben? Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!«15

Es scheint fast so, als sei auch Grace zu der trüben Erkenntnis gelangt, dass Menschen sich nur gemäß den gesellschaftlichen Verhältnissen entwickeln können, wenn sie nach kurzem Innehalten die Verteidigung des schlechten Verhaltens der Bewohner Dogvilles aufgibt: GRACE

Wenn es eine Stadt gibt, ohne die die Welt besser dran wäre,

VATER

Ja. Erschießt sie und brennt die Stadt nieder. Was ist? Sonst

GRACE

Hier gibt es eine Familie mit Kindern. Zuerst sind die Kinder

dann diese hier. noch was, Liebes? dran und zwingt die Mutter zuzugucken. Sagt ihr, dass ihr aufhört, wenn sie ihre Tränen zurückhalten kann. Das schulde ich ihr.16

Aus der beobachtenden Distanz sieht Grace, dass die Dorfgemeinschaft strukturell bereits keine Hoffnung auf Besserung zulässt. Es könnten wieder Fremde zu der Gruppe stoßen, denen es dann so wie ihr ergehen würde. Die Auslöschung des Orts ist daher aus der rationellen Perspektive des epischen Theaters eine ebenso logische Schlussfolgerung wie nach der biblischen Racheformel ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹, die stets am Beginn von Rachezügen steht und die – wie »Kill Bill« vor Augen führt – niemals den vollkommenen Ausgleich erlittener Verletzungen erzielen kann, den sie anvisiert. Neben der paratextuell in Interviews markierten Bezugnahme durch die Anspielung auf das Seeräuber-Jenny-Lied stellt der männliche Protagonist Thomas Edison Jr. eine Verbindung zu 14

Vgl. B. Brecht: Schriften zum Theater, S. 20.

15

B. Brecht: Die Dreigroschenoper, S. 45.

16

Dogville: 02:36:10ff.

153

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Brechts epischem Theater dar. Als Möchtegernschriftsteller17 sieht er sich selbst als moralische und philosophische Instanz Dogvilles, das in Ermangelung institutionalisierter Ordnungseinrichtungen (es gibt weder eine Polizeistation,18 noch ein Rathaus in Dogville und das Missionshaus betreut seit geraumer Zeit kein religiöser Vertreter mehr) seiner Meinung einer gewissen Führung bedarf. Die Ziele von Toms »Versammlungen zur moralischen Aufrüstung […], denen er sich zum Wohle der Stadt verpflichtet fühlte«,19 weisen ihn als den Vertreter der Aufklärung aus, der er seinem Namen gemäß auch sein sollte: wie der amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison, zu dessen bedeutendsten Hervorbringungen gewiss die Glühbirne zählt,20 ist Tom darauf aus, Licht in das Dunkel zu bringen. Er studiert die Seelen seiner Mitmenschen, wobei ihm eine geradezu dramatische hamartía anzulasten ist, da er meint, in diesen Studien bereits zu endgültigen Ergebnissen gekommen zu sein. Ansonsten verkörpert Tom – als Künstler freilich auch ein Widerpart des Regisseurs – einen Menschen des wissenschaftlichen Zeitalters, für das Brecht die passende theatrale Form gefunden zu haben glaubte. Gemeinsam ist Tom Edisons Versammlungen und Brechts Theater die Anbindung an wissenschaftliche Entwicklungen,21 die sich in einer Argument und Experiment verpflichteten, ra17

Vgl. hierzu den Kommentar der Erzählstimme aus dem Off: »Tom war Schriftsteller. Jedenfalls seiner eigenen Einschätzung nach. Tja, was er zu Papier gebracht hatte, beschränkte sich bislang auf die Worte groß und klein, gefolgt von einem Fragezeichen.« Dogville 00:01:58.

18

Als im Verlauf des Films ein Polizeiauto nach Dogville kommt, weiß der Erzähler gar zu berichten: »Zum ersten Mal soweit man zurückdenken konnte, waren Gesetzeshüter nach Dogville gekommen.« Dogville: 00:59:01.

19

So der Erzähler. Vgl. Dogville: 00:02:31.

20

Dank weiterer Erfindungen wie dem Kleinbildfilm (35mm, 1889) und dem Kinetoskop (1891) stellt die Namensgebung auch eine intramediale Systemreferenz dar. Für politische Deutungen des Films, die insbesondere angesichts des zweiten Films der USA-Trilogie »Manderlay« (DK, SE, NL, F, D, UK 2005, R: Lars von Trier) und der militärischen Intervention im Irak nahe liegen, verdichtet sich in dem Namen Edison die gesamte Dialektik der Aufklärung, hat doch der Erfinder der Glühbirne auch den elektrischen Stuhl erfunden, der für die barbarische Schattenseite der glänzenden amerikanischen Demokratie einsteht.

21

Vgl. hierzu Brechts Bekenntnis in seinem Text »Theater und Wissenschaft«, mit dem er sich in Relation zu den Größen der Weimarer Klassik setzt: »Ich will [Goethe und Schiller] nicht ohne weiteres beschuldigen, sie hätten diese Wissenschaften für ihre dichterische Tätigkeit benötigt, ich will mich nicht mit ihnen entschuldigen, aber ich muß sagen, ich benötige die Wis-

154

6.1 LARS VON TRIER: »DOGVILLE« tionalen Haltung zeigt. Beide wollen erzählerisch wirken, und nicht handelnd darstellen, wobei Tom eine eindeutige Botschaft verbreiten möchte, was sein künstlerisches Konzept hinter Brechts Modell des epischen Theaters zurückfallen lässt. Toms Ideale liegen in der Vergangenheit. Der Film spielt im Jahr 1933, in der für die Vereinigten Staaten so lehrreichen Zeit der großen Depression. Ihm geht es darum, »dass Gedächtnis der Leute mit Veranschaulichungen aufzufrischen.«22 Zwar sollen diese ›Veranschaulichungen‹ einer wie auch immer gearteten Besserung der Menschen dienen, über allem steht für Tom jedoch eine althergebrachte Vorstellung von literarischem Ruhm, wie die Schilderung seiner Gedanken in einem ruhigen Moment verrät: »Und es dauerte nicht lange und seine Gedanken wendeten sich wieder seinem Lieblingsthema zu. Und inmitten des Sturms verwandelten sie sich in Artikel und Romane und große Menschenansammlungen, die Tom schweigend lauschten nach der Veröffentlichung eines weiteren Buches, das die menschliche Seele geißelte und läuterte. Und er sah Menschen und unter ihnen sogar andere Schriftsteller, die sich in die Arme fielen, als hätte sich ihnen durch seine Worte das Leben neu erschlossen. Einfach war es nicht gewesen, doch durch seine Sorgfalt und seine Hingabe an Erzählung und dramatische Dichtung war seine Botschaft durchgedrungen. Und fragte man ihn nach seiner Technik, müsste er nur ein Wort nennen: Veranschaulichung.«23

Die Veranschaulichung, die Dogville bietet, steht in der amerikanischen Tradition einer dokumentarischen Enthüllungsliteratur, wie sie der investigative Journalismus der sogenannten Muckraking-Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründet hat.24 Die Muckraker galten insofern als Nestbeschmutzer, als sie Missstände dokumentierten, die allgemein lieber ignoriert worden wären, insbesondere die Schattenseiten der kapitalistischen Industrialisierung. Dies ist auch die Versuchsanordnung der Veranschaulichung, die Tom initiiert. »Da niemand eingestehen mag, dass es ein Problem gibt,«25 wendet sich Tom auf der Versammlung an seine Mitmenschen, senschaften.« Bertolt Brecht: »Theater und Wissenschaft«, in: Ders.: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1957, S. 66-70, hier S. 67. 22

Dogville: 00:07:14.

23

Dogville: 00:10:23.

24

Vgl. hierzu: Klaus Walter Vowe: Gesellschaftliche Funktionen fiktiver und faktographischer Prosa. Roman und Reportage im amerikanischen Muckraking Movement, Frankfurt/Main: Peter Lang 1978.

25

Dogville: 00:19:42.

155

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE »lasst es mich veranschaulichen. Also, ich werde kein Beispiel aus der Vergangenheit anführen, ich führe etwas an, dass gerade im Begriff ist, sich zu ereignen.«26 Was sich fortan ereignet, ist eine Lehrstunde zu Fragen der Gruppendynamik, wie sie mit Norbert Elias' Modell der Etablierten-Außenseiter-Figuration beschrieben werden könnten,27 sowie zur Kompatibilität christlicher Werte und kapitalistischer Gesellschaftsform. Aufgrund dieser didaktischen Konzeption ist »Dogville« auch ein Stück »Kino als hundsgemeine Versuchsanordnung«28 genannt worden, was dem Selbstverständnis des epischen Theaters als Theaterform eines wissenschaftlichen Zeitalters entspricht.29 Im Folgenden soll nun untersucht werden, wie von Triers künstlerische Auseinandersetzung mit Brecht, in formaler Hinsicht eingeordnet werden kann. Eine derartige Bilanz ließe sich im Deutschunterricht produktiv umsetzen, da neben der Sprache des Films auch wesentliche Merkmale des epischen Theaters vermittelt und vertieft werden können.

6.1.2 MITTEL DES EPISCHEN THEATERS IN »DOGVILLE« In Hinblick auf von Triers Gesamtwerk verwundert die explizite Bezugnahme auf Brechts »Dreigroschenoper« nicht sonderlich, lassen sich doch bereits im Frühwerk, in besonderer Ausprägung seit dem Dogma 95-Manifest brechtsche Wirkungsabsichten feststellen. Auf ähnliche Weise, wie sich Bertolt Brecht gegen das aristotelische Theater gewendet hat, ist auch von Trier bemüht sich vom konventionellen Kino abzusetzen, das mit dem Drama im althergebrachten Sinn den Anspruch auf eine mimetische Illusionsbildung teilt. Ob dies daran liegt, dass er das Kino hasst, wie Katja Nicodemus mutmaßt,30 sei dahingestellt. Mit der Einschätzung, dass von Trier das Kino gerne an eben jener Stelle zersäge, »wo es sich am sichers-

26

Ebd.

27

Vgl. Norbert Elias: Etablierte und Außenseiter, Frankfurt/Main: Suhrkamp

28

K. Nicodemus: Das Leben, ein Brettspiel.

29

Freilich kann die Nähe zu Brecht dem filmischen Schaffen von Triers in sei-

1990.

ner Gesamtheit attestiert werden. So behandelt z.B. Thomas Kuchenbuchs Einführung in die Filmanalyse von Trier ausschließlich im Zusammenhang mit Brecht (wobei er auf »Breaking the Waves« eingeht. Vgl. Thomas Kuchenbuch: Filmanalyse. Theorien. Methoden. Kritik, 2. Auflage, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2005, S. 269. 30

Vgl. K. Nicodemus: Das Leben, ein Brettspiel.

156

6.1 LARS VON TRIER: »DOGVILLE« ten glaubt: an den Grundfesten der Illusion«,31 liegt sie jedoch vollkommen richtig. Mit der Verlagerung des Geschehens von Außendrehorten bzw. Studiokulissen auf eine schwarze Bühne, auf der weiße Kreidestriche die Wände von Wohnhäusern ersetzen und auch andere Kulissenelemente wie Straßen oder Stachelbeersträucher durch Aufschriften und ikonographische Zeichen repräsentiert werden, wird der Raum im Film abstrahiert. Der Film bezieht sich auf diese Weise auf das Theater qua System, womit er sich zugleich von den eigenen medialen Konventionen absetzt. Dogville »lets the pictures profess an anti-filmic language which displays its construction on both the narrative and visual level«,32 bilanziert demgemäß Lisbeth Overgaard Nielsen in ihrer Dissertation zu von Triers filmsprachlichem Stil. Dass die Theatralisierung des Raums mitunter als eine »Reduktion auf das Unzweideutige«33 bewertet worden ist, verdeutlicht die Dominanz von Sprache, wird doch das unbestimmte, seinem Wesen nach stets abstrakte Wort als eindeutig wahrgenommen, während das bestimmte, konkrete Bild für mehrdeutig gehalten wird. Am Beispiel von Ma Gingers Stachelbeersträuchern, die als kreisförmige Umrisse mit weißer Kreide auf die Bühne gezeichnet sind und von einer kleinen Einzäunung in Form echter Ketten geschützt werden, lässt sich die Wirkungsweise der intermedialen Bezugnahme auf das System Theater veranschaulichen. Unter dem Eindruck der zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts aufgekommenen neuen Medien, insbesondere angesichts der Entwicklung des Films, hat Bertolt Brecht das kaum anzuzweifelnde Fazit gezogen, dass die Technifizierung der literarischen Produktion nicht mehr rückgängig zu machen sei: »Die Verwendung von Instrumenten bringt auch den Romanschreiber, der sie selbst nicht verwendet, dazu, das, was die Instrumente können, ebenfalls können zu wollen, [...] seiner eigenen Haltung beim Schreiben den Charakter des Instrumentebenützens zu verleihen.«34

31

Ebd.

32

Lisbeth Overgaard Nielsen: Lars von Triers Film. Filmsproglig stil, virkningsstrategi og betydningsdannelse, Dissertation an der Universität Aarhus 2007, S. 287, http://ncom.nordicom.gu.se/ncom/fbspretrieve/16624/LisbethOvergaardNielsenPhd.pdf vom 15.03.2009.

33

Tobias Kniebe: »Die mit dem Hund tanzt«, in: Süddeutsche Zeitung vom

34

Bertolt Brecht: Dreigroschenbuch. Texte, Materialien, Dokumente, Frank-

22.10.2003. furt/Main: Suhrkamp 1960, S. 91.

157

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Diese Tendenz lässt sich deutlich am Roman der Moderne ablesen: an der Montagetechnik, am Bewusstseinsstrom, an der sogenannten filmischen Schreibweise usw. Beim Versuch, die Instrumente des Mediums Film mit den Mitteln der Literatur nachzuahmen, liegt eine ›Systemerwähnung qua Transposition‹. Diesen Begriff führt Rajewsky für intermediale Systemerwähnungen ein, bei denen es zu einer fremd- bzw. altermedial bezogenen Illusionsbildung kommt.35 Im Fall von Ma Gingers Stachelbeersträuchern in »Dogville« liegt der ungekehrte Fall vor. Indem das filmische Medium ein Element des Literarischen nachahmt (die abstrakte Benennung von Requisite) wird ihm das literarische Privileg der Unbestimmtheit zuteil. So besehen lässt sich für von Triers minimale Szenerie, die durch die Verwendung von Bühne und weiteren Theatermitteln erreicht wird, insgesamt festhalten, dass sie durch ihre Unbestimmtheit mit Konventionen des Kinos bricht. Hierbei wäre mit dem Anspruch auf Illusion eben jenes Merkmal mimetischer Kunst zu nennen, das »ein Hauptmerkmal des gewöhnlichen Theaters«36 darstellt, im epischen Theater jedoch unbedingt seine Geltung verlieren müsse, wie Brecht am Beispiel der Straßenszene verdeutlicht. Von Triers Film setzt sich vom gewöhnlichen Kino ab, indem er seinen Anspruch auf Illusion aufgibt, und folgt darin vollauf den Prinzipien des epischen Theaters. Ein Blick auf die einzelnen Mittel, die zu der Abkehr von Illusion eingesetzt werden, unterstreicht – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – den gedanklichen Anschluss an Brecht. Eine Bezugnahme zu Brecht ist im Grunde genommen ein Verweis auf das Theater als System, ist sein Stellenwert für das Theater doch unangefochten hoch. »Niemand, der sich ernsthaft mit dem Theater beschäftigt, kann an Brecht vorbei«, ordnet z.B. Peter Brook die Bedeutung Brechts ein. »[D]ie gesamte Theaterarbeit unserer Zeit fängt irgendwo mit Brechts Theorien und Leistungen an und kehrt zu ihnen zurück«,37 weshalb Brecht »die Schlüsselfigur unserer Zeit«38 sei, und die von ihm geprägte Technik der Verfremdung »die rein theatralische Methode des dialektischen Austausches.«39 Um die Illusion auf dem Theater zu zerschlagen, befand Brecht, dass das epische Theater Stoffe und Vorgänge auf der Bühne einem Entfremdungsprozess aussetzen müsse. Auf diese Weise ließe sich 35

Vgl. hierzu: I. Rajewsky: Intermedialität, S. 83-117, S. 198, S. 205.

36

B. Brecht: Die Straßenszene, S. 92.

37

P. Brook: Der leere Raum, S. 93.

38

Ebd.

39

Ebd., S. 95.

158

6.1 LARS VON TRIER: »DOGVILLE« verhindern, dass die Zuschauer sich mit den Figuren identifizieren und dass durch das Mitleiden mit den Figuren eine Affektreinigung im kathartischen Sinne herbeigeführt wird. Nur so – und das ist für Brecht entscheidend – ließe sich die Energie des Publikums auf eine Veränderung angeprangerter gesellschaftlicher Missstände lenken. Mittel dieses Entfremdungsprozesses ist der V-Effekt, der durch Brecht zu Berühmtheit gelangt ist. In »Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst« geht Brecht auf die Funktion des VEffekts im epischen Theater ein: »Der V-Effekt wurde im deutschen epischen Theater nicht nur durch den Schauspieler, sondern auch durch die Musik (Chöre, Songs) und die Dekoration (Zeigetafeln, Film usw.) erzeugt. Er bezweckte hauptsächlich die Historisierung der darzustellenden Vorgänge.«40

Die als Hauptzweck ausgegebene Historisierung kann als eines der prägnantesten Merkmale des epischen Theaters angesehen werden. Über eine zeitliche Distanzierung, die nicht selten mit einer verstärkten, räumlichen Entfernung einher geht, wird den Zuschauern zunächst die Annahme nahe gelegt, es handele sich bei dem Bühnengeschehen um Zeugnisse aus einer anderen Wirklichkeit, die mit ihren eigenen sozialen Verhältnissen zunächst einmal nichts zu tun haben. Erst wenn das Verfremdete rückübersetzt wird, werden die Implikationen für die Situation der Zuschauer offenbar. Das Publikum wohnt als Beobachter dem Widerruf des Galilei bei, muss aber zugleich sowohl Wertungen und Entscheidungen treffen und erkennen, dass sich die Ereignisse auf der Bühne nicht um das Spätmittelalter oder die Opposition von ptolemäischem und kopernikanischem Weltbild drehen. Auf die gleiche Weise ist das zwingende Thema der »Courage« nicht der dreißigjährige Krieg, der »Arturo Ui« kein amerikanisches Gangsterstück und »Der gute Mensch von Sezuan« nicht spezifisch chinesisch. Als eine derartige Historisierung von Problemen ist auch »Dogville« zu sehen, wird man dem Film doch kaum gerecht, wenn man ihn lediglich als eine filmische Narration über die wirtschaftliche Lage der USA in den 1930er Jahren auffasst. Auf einer übergeordneten Ebene lässt sich die Abstraktion, die anhand von Kulisse und Requisite ein- und vorgeführt wird, auf der Interpretationsebene weiterführen. So haben viele Rezipienten in »Dogville« eine Kritik an

40

Bertolt Brecht: »Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst«, in: Ders.: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1957, S. 74-89, hier S. 85.

159

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE den USA gesehen, was die mit David Bowies »Young Americans« unterlegten Fotos im Abspann auch nahe legen, ohne sich jedoch ins Bewusstsein zu rufen, dass die angeprangerten sozialen Ungerechtigkeiten auch in jedem anderen kapitalistischen Land denkbar wären, in dem die Gemeinschaft dem Individuum den Arbeitstakt per Glockenschlag vorgibt. Auch auf der Mikroebene schließt von Trier auf vielfältige Art an Brecht an, indem einzelne V-Effekte des epischen Theaters in das Medium Film transponiert werden. Zu Beginn der intermedialen Übernahmen steht eine deutliche Markierung des Vorgehens: »Der Film ›Dogville‹ erzählt in neun Kapiteln und einem Prolog« heißt es in einer Einblendung zu Beginn.41 Darin, dass der Film nicht darstellt oder handelt, sondern erzählt, findet sich die Anknüpfung an die epischen Züge des brechtschen Theaters, das Brecht nach einer späten Revision als ›dialektisches Theater‹ bezeichnet hat. Episch sind auch die Einblendungen, mittels derer »Dogville« in neun Kapitel unterteilt wird. Sie nehmen jeweils die folgende Handlung vorweg, wodurch es zu einer jener »Gewichtsverschiebungen vom dramatischen zum epischen Theater«42 kommt, die Brechts Schriften zum Theater inhaltlich bestimmen. Indem der Ausgang der Geschehnisse durch die Vorwegnahmen verraten wird, verlagert sich die Spannung für die Zuschauer auf den Gang der Handlung. Wird für das erste Kapitel beispielsweise das Treffen zwischen Tom und Grace angekündigt (»ERSTES Kapitel / In welchem Tom Schüsse hört und Grace kennenlernt«43 lautet der Text der Einblendung), so ist die Frage nach dem ›Was‹ der Handlung geklärt und wird durch die Frage nach dem ›Wie‹ ersetzt, worauf Brecht mit der Verwendung dieser Technik (u.a. in »Leben des Galilei«, »Mutter Courage und ihre Kinder« und »Herr Puntila und sein Knecht Matti«) ja

41

Dass dieser Text über ein großes, graues »U« gelegt ist, lässt sich aus dem Werkkontext erklären, da »Dogville« auf diese Weise als erster Teil der USA-Trilogie ausgewiesen wird. Entsprechend beginnt »Manderlay« mit der Einblendung »Der Film ›Manderlay‹ erzählt in acht Kapiteln«, die dieses Mal als schwarzes Schrift auf weißem Untergrund über einem großen, grauen »S« positioniert ist.

42

Bertolt Brecht: »Das moderne Theater ist das epische Theater. Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«, in: Ders.: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1957, S. 13-28, hier S. 19.

43

Dogville: 00:08:32.

160

6.1 LARS VON TRIER: »DOGVILLE« ebenfalls abzielt.44 Daher sind die Projektionen, wie Brecht besonders hervorhebt, »keineswegs einfache mechanische Hilfsmittel im Sinne von Ergänzungen, keine Eselsbrücken«45, wie man im ersten Moment meinen könnte. »[S]ie nehmen keine Hilfsstellung für den Zuschauer ein, sondern Gegenstellung«46 und machen auf die »Wirkung mittelbar«, indem sie die »totale Einfühlung«47 des Zuschauers vereiteln. Eine weitere Episierung des dramatischen Theaters ist die Einführung eines Erzählers, der das Geschehen vorstellt, erläutert oder abschließend kommentiert. Diese Funktion erfüllt in »Dogville« die von John Hurt gesprochene Erzählerstimme, die den Zuschauer aus einer quasi auktorialen Perspektive an das Örtchen Dogville heranführt. Ob man diese Stimme nun mit Georg Lukacs als ›Subjekt der epischen Form‹ bezeichnet oder im Anschluss an Robert Petsch vom ›epischen Ich‹ spricht, ist unerheblich, da es sich in jedem Fall um jenes Phänomen handelt, das Peter Szondi als episierenden Lösungsversuch aus der Krise des Dramas beschrieben hat.48 Ob diese Stimme als intermediale Bezugnahme auf das literarische Medium zu werten ist, das traditionell die Form des epischen Erzählens darstellt, lässt sich nicht ohne Weiteres sagen. Wie Rajewsky richtigerweise angemerkt hat, ist die Einführung eines solchen voice-overErzählers »mit dem Hollywood-Kino zu einer filmischen Konvention, d.h. zu einem Sub-Code des filmischen Systems geworden«.49 Als Mittel der Verfremdung sollen Historisierung, Vorwegnahme der Handlung durch Einblendungen und der scheinbar allwissende Erzähler den Zuschauer auf Distanz zum Bühnengeschehen halten. Insofern erfüllt der V-Effekt den übergeordneten Zweck, »dem Zuschauer eine fruchtbare Kritik vom gesellschaftlichen Standpunkt

44

Vgl. Bertolt Brecht: »Leben des Galilei«, in: Ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, 3. Bd., Stücke 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 7-109. Ders.: »Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg«, in: Ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, 3. Bd., Stücke 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 111-190. Ders.: »Herr Puntila und sein Knecht Matti«, in: Ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. 3. Bd., Stücke 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 297-388.

45

Bertolt Brecht: »Mittelbare Wirkung des epischen Theaters«, in: Ders.: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1957, S. 37-59, hier S. 38.

46

Ebd.

47

Ebd.

48

Vgl. P. Szondi: Theorie des modernen Dramas.

49

I. Rajewsky: Intermedialität, S. 35.

161

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE zu ermöglichen«,50 was ihm im dramatischen Theater verwehrt bleibt. Dort wird er nach Brecht nämlich zu einer Reaktion gezwungen, die sich wie folgt skizzieren lässt: »Der Zuschauer des dramatischen Theaters sagt: Ja, das habe ich auch schon gefühlt. – So bin ich. – Das ist nur natürlich. Das wird immer so sein. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es keinen Ausweg für ihn gibt. – Das ist große Kunst: da ist alles selbstverständlich. – Ich weine mit den Weinenden, ich lache mit den Lachenden.«51

Um den Zuschauern einen Weg aus der Ausweglosigkeit zu weisen, die im dramatischen Theater vermittelt wird, sollen sie einem Bühnengeschehen gegenübergesetzt werden, das eben nicht beansprucht, selbstverständlich oder natürlich zu sein, und das daher auch nicht zum Mitfühlen, sondern zu Beobachtung und kritischer Hinterfragung anregt. Am Ende stehen im Idealfall die Erkenntnis, dass die Welt veränderbar ist, und entsprechende Aktivitäten zur Veränderung der verhandelten sozialen Missstände. Die aus diesem Grund angestrebte Haltung des Publikums umschreibt Brecht folgender Maßen: »Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. – So darf man es nicht machen. – Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. – Das muß aufhören. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe. Das ist die große Kunst: da ist nichts selbstverständlich. – Ich lache über den Weinenden, ich weine über den Lachenden.«52

Aus der Distanz gewinnt der Zuschauer nach diesem Verständnis ein Bild von dem Dargestellten, das ihm für gewöhnlich verstellt ist, da der Blick im Alltag zu nah an den Dingen haftet. Erst die mittels Verfremdung gewonnene Entfernung ermöglicht den Blick auf Konfliktsituationen und das Entdecken möglicher Lösungswege. Insofern lässt sich Verfremdung als »Bitte an den Zuschauer [auffassen], sich selbst zu bemühen und auf diese Weise in eigener Verantwortung das, was er sieht, nur dann zu akzeptieren, wenn es ihn als Erwachsenen überzeugt.«53 Das epische Theater richtet sich an mündige Zuschauer, die auf ihrem Weg zu einem eigenständigen 50 51

B. Brecht: Die Straßenszene, S. 99. Bertolt Brecht: »Vergnügungstheater oder Lehrtheater?«, in: Ders.: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1957, S. 60-73, hier S. 63f.

52

Ebd., S. 64.

53

P. Brook: Der leere Raum, S. 94.

162

6.1 LARS VON TRIER: »DOGVILLE« Urteil und entsprechenden Konsequenzen im Handeln unterstützt werden sollen. Hierzu passt gewiss auch der offene Schluss, der für das dialektische Theater Brechts charakteristisch ist, wie sich eindrucksvoll am Beispiel von »Der gute Mensch von Sezuan« veranschaulichen lässt. Am Ende der göttlichen Suche nach zumindest einem guten Menschen tritt ein Spieler vor den Vorhang und »wendet sich entschuldigend an das Publikum mit einem Epilog«:54 »Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruß: Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluß. Vorschwebte uns: die goldene Legende. Unter der Hand nahm sie ein bitteres Ende. Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen Den Vorhang zu und alle Fragen offen.«55

Aus der Ratlosigkeit gegenüber einem solchen offenen Schlusse kann das Publikum sich nur selbst den Weg weisen; Autor, Regisseur und Schauspieler sind in diesem Fall kaum schlauer als die Beobachter im Zuschauerraum. Da der Epilogsprecher dies zumindest behauptet, wendet sich das Stück mit einem konkreten Appell an das Publikum. Wörtlich heißt es dort: »Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach: Sie selber dächten auf der Stelle nach Auf welche Weis dem guten Menschen man Zu einem guten Ende helfen kann. Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß! Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!«56

Der Verzicht auf eine Auflösung des Konfliktes am Ende des Stücks, die als Merkmal für eine tektonische Bauform auch für das aristotelische Drama konstitutiv ist, bewirkt, dass die Welt nicht länger als festgefügt und unveränderbar gesehen wird. Stattdessen wird das Publikum hier direkt adressiert und bekommt – und dies macht den Unterschied zu direkten Ansprachen im dramatischen Theater aus,

54

Bertolt Brecht: »Der gute Mensch von Sezuan«, in: Ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, 3. Bd., Stücke 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 191-295, hier S. 294.

55

Ebd.

56

Ebd., S. 294f.

163

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE etwa bei Shakespeare – die Verantwortung für den Ausgang zugesprochen: jeder Einzelne ist aufgefordert, aktiv zu werden. Vor diesem Hintergrund kann »Dogville« ein vollauf brechtianischer Schluss bescheinigt werden, endet der Film doch ebenfalls mit unbeantworteten Fragen, wie der Frage nach der Täterschaft, mit dem der Erzähler das Geschehen abschließend kommentiert: »Ob Grace nun Dogville verließ oder ob im Gegenteil Dogville sie verlassen hatte und die Welt im Allgemeinen, ist eine Frage raffinierterer Natur, die zu stellen nur zum Nutzen weniger Menschen wäre und von deren Beantwortung sogar noch weniger profitieren würden. Und so soll sie hier auch in der Tat nicht beantwortet werden.«57

Es ist wohl eher zweifelhaft, ob den Zuschauer im Moment dieses Ausspruchs ausgerechnet diese Frage gedanklich beschäftigt. Dass der Film eine Vielzahl an Fragen aufwirft, deren Antworten er schuldig bleibt, steht hingegen fraglos fest. Dem theoretischen Fundament der Intermedialität gemäß soll an dieser Stelle mit der Frage nach dem brechtschen Erbe lediglich eine dieser Fragestellungen herausgegriffen werden. Bislang wurde bloß auf intermediale Bezüge hingewiesen, deren Ursprung es zunächst zu markieren und deren Funktionsweisen es zu beschreiben galt. Worin Sinn und Zweck der Bezugnahmen liegen, soll im Folgenden geklärt werden, wenn es um eine Deutung der intermedialen Beziehungskonstellationen geht.

6.1.3 FILMISCHE AKTUALISIERUNG DES EPISCHEN THEATERS Wie aufgezeigt worden ist, besteht ein enger Zusammenhang zwischen »Dogville« und Bertolt Brechts »Dreigroschenoper« bzw. den formalen Techniken, die das epische Theater auszeichnen. Im Anschluss an die Kinolaufzeit von »Dogville« lieferte diese analoge Konzeption den Aufhänger für die mediale Rezeption des Films. »Dogville« war anscheinend so bedrohlich anders, dass es einer Schublade bedurfte, um den Film einzuordnen. Daher wurde schnell die einfache Formel ›Brecht + Kino = Dogville‹ bemüht, womit man meinte, dem Phänomen gerecht werden zu können. Als dann zwei Jahre nach dem Kinostart von »Dogville« Lars von Triers »Manderlay«, der zweite Teil der USA-Trilogie, in die Kinos kam, deutete sich bezüglich der postulierten Nachfolge Brechts vielerorts ein Umden-

57

Dogville: 02:44:54.

164

6.1 LARS VON TRIER: »DOGVILLE« ken an, etwa in der folgenden relativierenden Aussage von Gertrud Koch: »Als mit ›Dogville‹ eine weitere Erzählvariante des Films auf den Plan trat, wurde dies oft mit Brechts Theaterästhetik und dessen Lehrstücken in Beziehung gebracht. Es sieht aber so aus, als habe sich Lars von Trier keineswegs allein am theatralen Modell orientiert, sondern dieses bereits kinematografisch umgeschrieben.«58

Die hier angedeutete ›kinematografische Umschrift‹ lässt sich mit den Worten der Intermedialitätsforschung exakter als Systemerwähnung qua Transposition beschreiben,59 da spezifische Elemente und Strukturen des epischen Theaters, also eines distinkt als verschieden wahrgenommenen Mediums, unter Einhaltung der Regeln des anzitierten Mediums reproduziert werden. Wenn der Untersuchungsschwerpunkt unter diesen Prämissen auf die Frage gelenkt wird, »how it is possible to make a film work, which takes place on a black theatre stage using white chalk markings as stage effects«,60 dann steht dies immer noch im Einklang mit der eingangs angeführten simplen Rechnung, die in »Dogville« lediglich eine Umsetzung brechtscher Theatervorstellungen im Kino ausmacht. Was allerdings nicht übersehen werden darf, ist die Medialität des Films, die unter den scheinbar eindeutig theatralen Anleihen zu verschwinden droht. Der medialen Differenz zwischen Drama und Film zufolge ist es »Dogville« nämlich nur möglich sich »in der scheinhaften Form des ›Als ob‹«61 als Theater auszugeben, während eine »genuine Reproduktion der betreffenden Komponenten«62 de facto nicht in die Tat umgesetzt werden kann. »Die Komponenten können lediglich evoziert oder imitiert bzw. simuliert werden«,63 wie Rajewsky zum Grundtypus der Systemerwähnung qua Transposition anmerkt. Der Modus des ›Als ob‹, der eine fremd- bzw. altermedial bezogene Illusionsbildung voraussetzt, kann unschwer am Beispiel von

58

Gertrud Koch: »Auf dem Spielfeld der glücklichen Sklaven«, in: Die Zeit

59

Vgl. I. Rajewsky: Intermedialität, S. 83-117.

vom 10.11.2005. 60

Hierauf zielt die Dissertation von Lisbeth Overgaard Nielsen ab, die sich u.a. auch mit »Dogville« auseinandersetzt. Vgl. L. Overgaard Nielsen: Lars von Triers Film, S. 290.

61

I. Rajewsky: Intermedialität, S. 84.

62

Ebd.

63

Ebd.

165

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE »Dogville« nachgezeichnet werden. Zwar setzt der Film mit der minimalistischen Bühne, die an die Stelle eines filmischen Settings gesetzt wird, dem weitgehenden Verzicht auf Requisiten und den übrigen in Kapitel 6.1.1 analysierten Mitteln des epischen Theater Elemente des Referenzmediums ein, verzichtet dabei jedoch nicht auf Elemente und Strukturen des eigenen Mediums. So wäre beispielsweise bereits der Anfang des Films nicht mit rein theatralischen Mitteln umsetzbar. Nach den zwei Einblendungen, welche die Filmstruktur und die Handlung des Prologs ankündigen, wird die Bühne vorgestellt, die mit den auf schwarzen Bühnenboden mit weißen Kreidestrichen eingezeichneten Gebäudeumrissen und den in dicken Lettern geschriebenen Straßennamen und Gebäudebezeichnungen stark befremdlich wirken muss. Dieses Anfangsbild mag theatralisch anmuten, ist jedoch genuin filmisch, da es aus der Vogelperspektive aufgenommen ist. Anschließend fährt die Kamera langsam auf Thomas Edisons Haus zu, wodurch auch die einsetzende Erzählerstimme aus dem Off, die wie bereits erwähnt auch eine Systemreferenz auf das literarische Medium sein könnte, ebenfalls filmisch motiviert zu sein scheint. Im Unterschied zu der auffälligen Theatralisierung des Raums durch den Einsatz der Bühne werden die filmischen Elemente und Strukturen weniger bewusst wahrgenommen, da sie der gewöhnlichen Erwartung an einen Film entsprechen. Während die Theatermittel bewusst ausgestellt und in ihrer abstrahierenden Qualität hervorgehoben werden, kommen Kameraperspektive und -bewegung sowie Schnitttechnik u.ä. vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zu. Daran kann auch der verfremdend wirkende Einsatz von Handkameras oder die Nachvertonung von intradiegetisch vorgestellten Elementen (das Geräusch von Wind in nicht-existenten Bäumen oder Klopf- und Knarrgeräusche von nicht-existenten Türen) nur wenig ändern. Einzig die kraftvollen Bilder von Graces Fluchtversuch und der Vergewaltigung auf Bens Truckladefläche, leben vom Einsatz genuin filmischer Mittel (der Kamerablick durch die transparent werdende Ladeplane). Kurzum: auch wenn »Dogville« wie episches Theater erscheinen mag, verbleibt es doch innerhalb der Grenzen des eigenen Mediums. Die Szenerie, die sich das Publikum als Theaterbühne vorstellen soll, wird von Autos befahren und trägt deutliche Zeichen der Jahreszeiten (dichter Nebel im Herbst, Schnee im Winter), die keine problemlose Umsetzung im Medium des Theaters zulassen würden. Auch wenn »Dogville« den Zuschauern weiß machen möchte, dass sie im Theater seien, bleibt die Kontrolle doch bei den filmischen In-

166

6.1 LARS VON TRIER: »DOGVILLE« stanzen, die stellvertretend für den Zuschauer die Blickregie übernehmen, seine Wahrnehmung lenken und ihn mit der Illusion des Altermedialen abspeisen, während das Werk selbst eben das bleibt, was es vergessen machen möchte: nämlich Film. Zu derartigen intermedialen Konstellationen heißt es bei Rajewsky: »Zum Tragen kommt eine unüberbrückbare mediale Differenz – ein intermedial gap – zwischen kontaktnehmendem und kontaktgebendem System, die im Zuge etwaiger Rekursverfahren bewusst ausgespielt oder auch ›kaschiert‹ werden kann, in jedem Fall aber sowohl die besondere Komplexität als auch den besonderen Reiz der intermedialen Bezugnahme ausmacht.«64

Zu einem bewussten Ausspielen der ›intermedial gap‹ kommt es insofern, als dass bei von Trier »die herkömmliche Unterscheidung zwischen Film und Metafilm aufgehoben wird und verschmolzen wird.«65 Jeder seiner Filme kommentiert die eigene Medialität und – wie im Fall von »Dogville« – die anderer Medien, wodurch eine gezielte »Manipulation und Desorientierung des Rezipienten«66 herbeigeführt wird. In »Dogville« wird die Desorientierung erst mit dem Schluss aufgehoben, da der Abspann einen Transfer des Gesehenens auf die aktuelle Situation in den USA suggeriert. Das Verfremdete, das infolge der zeitlichen Distanz zu den Jahren der Großen Depression in den Vereinigten Staaten zunächst harmlos wirken mag, erweist sich als scheinbarer Blindgänger, der seine gesamte Sprengkraft just in dem Moment entlädt, in dem die Zuschauer Entspannung und Auflösung erwarten. Indem im Abspann diese wohl größte Krise im amerikanischen Bewusstsein durch Fotomaterial dokumentiert wird, das mit Fotos aus den sechziger und folgenden Jahren kombiniert wird, welche die Schattenseiten des amerikanischen Traums in Form von Rassismus und Obdachlosigkeit belegen, weist der Film den Mythos Amerikas als Trugbild aus. Im Grunde genommen, so lässt sich der Zusammenhang zwischen Filmhandlung und Abspann herstellen, dauert das von James Agee in »Let us now praise famous men«67 geschilderte und von dem Fotografen Walker Evans

64

Ebd., S. 27.

65

M. Müller: Vexierbilder, S. 21.

66

Ebd., S. 16.

67

Vgl. James Agee: Let us now praise famous men, a death in the family & shorter fiction, New York: Library of America 2005. Zu diesem künstlerischen Projekt im Rahmen von Franklin D. Roosevelts New Deal-Politik siehe

167

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE ins Bild gefasste Trauma Amerikas aus den 1930er Jahren noch immer an. Verstärkt wird die amerikakritische Haltung von Triers freilich durch die thematische Ausweitung auf die Sklaverei, welche im zweiten Teil der USA-Trilogie vorgenommen wird. »Manderlay« folgt denselben ästhetischen Prinzipien wie »Dogville« und weist auf einen allgemein für von Trier gültigen Umstand hin: So wie die Sklaven in »Manderlay« existenzialistisch auf spezifische Regeln angewiesen sind, die in schriftlicher Form als ›Mams Gesetz‹ festgehalten sind und sich gegen Ende des Films als selbstauferlegte Grenzziehungen erweisen, ist auch das filmische Schaffen des Regisseurs von Trier insgesamt kaum ohne Berücksichtigung seiner Reglementierungen zu erfassen. Schon im Dogma 95-Manifest, mit dem von Trier als Regisseur erstmals europaweit auf sich aufmerksam gemacht hat (entgegen der inhaltlichen Abkehr von üblichen Autorkonzepten), lässt sich der Versuch erkennen, »sich in einer Welt ohne Regeln ein paar Richtlinien als Anker zu schaffen, um nicht in der Beliebigkeit zu versinken.«68 Marion Müller spricht in ihrer Studie zu Lars von Trier in diesem Zusammenhang von einer »Befreiung von der Freiheit«69, die aus der Langeweile hinausführe, welche zwangsläufig aus der Beliebigkeit einer unbegrenzten Freiheit resultieren müsse.70 Hierin stimmt sie mit Lisbeth Overgaard Nielsen überein, die in ihrer Dissertation ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die Selbsteinschränkung durch eigene Grenzziehungen nicht negativ zu sehen sei, sondern als »something which initiates creativity and creates new points of views«,71 was bei von Trier immer mit einer »general perspective on film as a media and in relations to what the film media is, and what it is capable of«72 verbunden sei. Daher bestätigt Nielsens Studie die obige Einschätzung, dass es bei von Trier zu einer Verschmelzung von Film und Metafilm komme.73 Beide Forscherinnen argumentieren ähnlich wie von Trier selbst, der auf die Frage, weshalb er sich so für Vorgaben und Gesetze interessiere, explizit auf seine Kindheit in »einer Familie kom-

ebenfalls: Astrid Böger: Documenting lives. James Agee's and Walker Evans's Let us now praise famous men, Frankfurt/Main: Lang 1994. 68

M. Müller: Vexierbilder, S. 17.

69

Ebd., S. 255.

70

Vgl. ebd.

71

L. Overgaard Nielsen: Lars von Triers Film, S. 288.

72

Ebd.

73

Vgl. M. Müller: Vexierbilder, S. 21.

168

6.1 LARS VON TRIER: »DOGVILLE« munistischer Nudisten«74 verwiesen hat, die von einem vollkommenen Fehlen jedweder Grenzen geprägt gewesen sei. Obwohl »Dogville« auf der inhaltlichen Ebene auch als Lehrstunde für die Regeln von Gruppenbildungs- und Ausschlussprozessen in kapitalistischen Gesellschaften gelten darf,75 sind für eine abschließende Betrachtung des Films hier eher ästhetische Aspekte von Bedeutung, da von Trier selbst den Film als Grenzüberschreitung im Sinne einer negativen Poetik beschreibt, wenn er offensichtlich nicht ohne Genugtuung eingesteht: »This film is everything that I was told in film school not to do.«76 Mit dem Regelbruch, der »Dogville« programmatisch bestimmt, setzt sich von Trier also bewusst von den Konventionen des Kinos ab, welche die Normen und Vorgaben an Filmhochschulen weltweit bestimmen und die letzten Endes von der Filmindustrie geprägt worden sind. Indem von Trier diese Normen in ihr Gegenteil verkehrt, verwehrt er sich einem Filmverständnis, das auf Verwertung abzielt und dem einzelnen Filmschaffenden im Endeffekt nur einen Lieferantenstatus in einem System zuspricht, in dessen Machtzentrum das amerikanische Hollywood-Kino steht. Dass eine solche Abkehr von Hollywood viel Ähnlichkeit mit den anfänglichen Motivationen hinter dem epischen Theater aufweist, ist kein Zufall, zielte Brecht mit seinen Neuerungen doch vordergründig auf eine Zer74

»›Ich bin eine amerikanische Frau‹. Der dänische Filmemacher Lars von Trier im Gespräch über sexuelle Fantasien, den Papst, die Sklaverei in den USA und seinen neuen Film ›Manderlay‹«, in: Die Zeit vom 10.11.2005.

75

So erweist sich im dargestellten Eingliederungsprozess der zugereisten Grace insbesondere der amerikanische Nationalfeiertag als Höhepunkt. Wenn hier für einen Moment in einer Liebesbeziehung zwischen Tom und Grace die Möglichkeit einer vollständigen Integration aufscheint, dann doch nur um ihr notwendiges Scheitern umso stärker zum Ausdruck zu bringen. So gelingt es der stark ruckelnden Handkamera während des Gesprächs zwischen Grace und Tom auf der Bank nicht, beide Gesichter in ein gemeinsames Bild zu bringen, was auf die folgenden expliziten Ablehnungen vorausdeutet: Ma Gingers Ermahnung an Grace, nicht die Abkürzung zwischen Stachelbeersträuchern zu nehmen, die mit dem Kommentar »Ich dachte, du wärest gerne bei uns« versehen wird, ist hierbei nur eine von zahlreichen Maßnahmen, die wie bereits angedeutet eine Veranschaulichung von Norbert Elias soziologischen Befunden zu gesellschaftlichen Diskriminierungen von Minderheiten wirken. Vgl. hierzu: N. Elias: Etablierte und Außenseiter.

76

So äußert sich Lars von Trier in einem ARTE-Interview, http://www.arte.tv/ de/film/dancer-in-the-dark/Videos-und-Interviews/1008954.html vom 15. 03.2009.

169

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE schlagung des Primats des Theaters über die dramatische Literatur ab, das er – politisch motiviert – als ein »Primat der Produktionsmittel«77 angeprangert hat. Zudem setzt der Film Hans-Thies Lehmanns These, dass Entwicklungen auf dem Theater heutzutage, wie jene, die er als postdramatisches Theater beschreibt, zwingend postbrechtsches Theater sein müssten, in ein anderes Licht: Brechts Konzept hat nichts an seiner Aktualität eingebüßt und stellt im veränderten medialen Rahmen des Films durchaus noch ein adäquates Mittel dar. Unter Berücksichtigung seiner selbstreflexiven und metatextuellen Konzeption stellt »Dogville« eine thematische Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten dar, die sich formal mit den Mitteln des europäischen Autorenkinos vom amerikanischen Hollywoodkino abgrenzt. Daher funktioniert »Dogville« grundlegend anders als beispielsweise Quentin Tarantinos Rachefilm »Kill Bill«, der auf umgekehrte Weise als Auseinandersetzung mit dem europäischen Autorenkino gelten kann, die mit den Mitteln Hollywoods und Hong Kongs herbeigeführt wird. Gemeinsam ist beiden jedoch die postmoderne Grundhaltung, die das eigene Kunstverständnis weit über Medienund Genregrenzen hinausreichen lässt, indem sie das eigene Werk mittels Zitat und Variation in mehrere Richtungen zugleich öffnet. Daher könnte folgende Aussage über die Vorzüge von Medienkombinationen, die der dänische Filmemacher in einem Interview mit der »Süddeutschen Zeitung« getroffen hat, durchaus auch von dem amerikanischen Kult-Regisseur stammen: SZ: Sie schwärmen von einer Mischung aus Film, Theater, Literatur und Musik – einer Art wagnerianischem Gesamtkunstwerk? von Trier: Ja, ich bin mir sicher, dass Wagner Kino gemacht hätte.78

77

B. Brecht: Literarisierung des Theaters, S. 29.

78

Im Interview: »Lars von Trier. ›Ich bekomme eigentlich nie einen Fisch an die Angel.‹«, in: Süddeutsche Zeitung vom 22.10.2003.

170

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL«

6.2 Quent in Tarant ino : »Kill Bill« Während die Auswirkungen filmischer Konventionen auf die Theaterlandschaft um den Jahrtausendwechsel ein breit angelegtes Phänomen darstellen, das durch zahlreiche Beispiele veranschaulicht werden könnte, gibt sich der Film scheinbar autark. Filme wie »Dogville«, der sich wie dargestellt explizit mit dem brechtschen Theater auseinandersetzt, sind eher die Ausnahme; Regisseure wie Lars von Trier ästhetisch versierte Einzelgänger. Ähnlich herausragend ist die Rolle, die Quentin Tarantino als Regisseur in der Glamourwelt Hollywoods einnimmt. Vor allem dank des Sensationserfolgs von »Pulp Fiction«, doch auch aufgrund der darauf folgenden Filme »Jackie Brown« und »Kill Bill« ist Tarantino das, was allgemein hin als Kassenmagnet bezeichnet wird. Zahlreiche Auszeichnungen79 dienen als Belege für seinen hohen Status in der Traumfabrik. Doch auch bezüglich der künstlerischen Qualität und der hier zur Debatte stehenden ästhetischen Nähe zum Theater ist Tarantinos Werk von Beginn an einmalig. Bereits sein Debütfilm hat sich als äußerst interessant für die literatur- und theaterwissenschaftliche Forschung erwiesen; aufgrund der genuin dramatischen Einhaltung der Einheiten des Ortes, der Handlung und der Zeit sowie der damit zusammenhängenden dialoggesteuerten Handlungsentwicklung ist »Reservoir Dogs« (USA 1992, R: Quentin Tarantino) wiederholt in die Nähe des klassischen Kammerspiels gestellt worden.80 Wenn Tarantino selbst anstatt des Theaters einen asiatischen Actionfilm als Inspirationsquelle für seinen Erstlingsfilm angibt,81 so ist ein für Tarantinos Schaf-

79

Über zahllosen Auszeichnungen – Prix Tournage 1992 für »Reservoir Dogs«, Golden Slate 2000 für das Drehbuch von »Jackie Brown«, American Choreography Award 2004 für »Kill Bill«, Austin Film Critics Award 2006 für »Sin City« u.v.m – thronen die Goldene Palme und der Oscar für das beste Drehbuch 1995. Zu den Auszeichnungen vgl. http://www.imdb.com/name/nm0000233/awards vom 15.03.2009.

80

Vgl.: R. Fischer/P. Körte/G. Seeßlen: Quentin Tarantino, S. 88: »Für sich betrachtet ist das, was sich in der Lagerhalle abspielt, einem fürs Theater geschriebenen Dreiakter vergleichbar: Von drei kurzen ›Exkursionen‹ abgesehen […] ist die klassische Einheit von Ort, Zeit und Handlung gegeben, das Geschehen läuft in Echtzeit vor unseren Augen ab.«

81

Tarantino hat immer schon selbst auf die inhaltliche wie visuelle Nähe von »Reservoir Dogs« zu Ringo Lams Lung Fu Fong Wan [engl. Titel: City on Fire, HK 1987, R: Ringo Lam] hingewiesen. Vgl. Gereon Blaseio/Claudia Liebrand: »›Revenge is a dish best served cold.‹ ›World Cinema‹ und Quentin

171

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE fen im Allgemeinen charakteristischer Tatbestand gegeben. Bei Tarantinos Filmen ist es so, dass der Kommunikationsprozess zwischen Regisseur und Zuschauer, zwischen Künstler und Betrachter, Produzent und Rezipient nicht auf ein eindeutiges Verstehen ausgerichtet ist. Häufig lässt der Film eine Vielzahl an Deutungen zu, die sich deutlich von der vermeintlich intendierten Montage diverser B-Movies entfernen. Nicht selten erweisen sich Tarantinos Filme bei näherer Betrachtung sogar als literarisch, und das obwohl sie nach eigener Aussage als intramediale Hommagen konzipiert sind, die sich ausschließlich auf andere Filme beziehen. Seinem Ruf als hyperaktiver Schulabbrecher mit Aufmerksamkeitsdefizit zufolge gilt Tarantino als jemand, der zwar tausende von Filmen gesehen hat, aber nicht weiß, was mit einem Buch anzufangen sei.82 Wenn sein Werk dennoch von filmfremden Disziplinen mit literarischen Diskursen in Verbindung gebracht wird, lässt sich formelhaft ableiten: Wo ein Regisseur derartig komplex mit Verweis- und Assoziationsstrukturen arbeitet wie Tarantino, dort ist eine Horizontverschmelzung im hermeneutischen Sinn pure Illusion. Aufgrund der Vielzahl der Verweise, Anspielungen und Zitate sowie der vielgestaltigen kulturellen und sozialen Implikationen dieser Verweisstrukturen müssen Tarantinos Produktionen zurecht als »intertextuelle Archive, demjenigen Videogeschäft ähnlich, in dem er seine ›Ausbildung‹ zum Filmemacher erhalten hat«83 betrachtet werden. Entscheidend ist hierbei, dass »[d]ie Fülle an Zitaten und Verweisen, die Tarantinos Kill Bill«, in: Achim Geisenhanslüke/Christian Steltz (Hg.), Quentin Tarantinos »Kill Bill« und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2006, S. 13-34, hier S. 16. 82

So schätzt sich Tarantino beispielsweise selbst ein, indem er sich als »the dumb kid who couldn't keep up with the class« bezeichnet. Paul A. Woods: King of Pulp. The Wild World of Quentin Tarantino, London: Plexus 1998, S. 13. Außerdem ist bekannt, dass Tarantino als Schüler seitens der Schuloffiziellen für hyperaktiv gehalten wurde und medikamentös behandelt werden sollte, was seine Mutter schließlich verhindert hat. Vgl. ebd. Der Einschätzung, dass Tarantino kaum lesen könne (siehe beispielsweise die Aussagen seines Lektors Craig Hamann, vgl. ebd., S. 87), stehen Tarantinos schon früh in Schultests belegte hohe Intelligenz sowie prägnante Aussagen seines Biografen Paul A. Woods gegenüber, der den jungen Quentin einen »voracious reader« nennt. Vgl. ebd., S. 14.

83

Martin Przybilski/Franziska Schößler: »Bell und Bill, Buck und Fuck: Gespaltene Geschlechter und flottierende Signifikanten in Tarantinos Kill Bill«, in: Achim Geisenhanslüke/Christian Steltz (Hg.), Unfinished Business. Quentin Tarantinos »Kill Bill« und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2006, S. 35-52, hier S. 35.

172

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL« der Film aufweist, […] sicherlich ebenso wenig Garant von Qualität wie die Anzahl intertextueller Verweise in literarischen Texten«84 ist. Dies reiht Tarantinos Werke Achim Geisenhanslüke zufolge »in die ironische Geschichte der Postmoderne«85 ein, die besagt, dass der einzelne Text nicht mehr erzählen kann, ohne dabei unwillkürlich auf Außertextliches zu verweisen, sei es der unendliche Korpus an literarischen Vorgängertexten oder die ebenso unüberschaubare Masse an vorangegangenen Filmen. Die außertextuellen Referenzpunkte, welche die Perspektive der folgenden zwei Unterkapitel bestimmen, sind tief in der Gattungspoetik des Theaters verwurzelt. In einem ersten Schritt werden Regelmäßigkeiten, Konventionen und Stationen der Gattungsgeschichte eines dramatischen Theaters aufgeführt, die ihre Spuren in »Kill Bill« hinterlassen haben; dies ermöglicht einen zweiten Schritt, in dem Merkmale des postdramatischen Theaters, wie es von HansThies Lehmann beschrieben worden ist,86 im Film kenntlich gemacht werden. Für die brechtsche Poetik, die bei der Analyse von »Dogville« als dominantes Beobachtungskriterium herangezogen worden ist, wird besonders der zweite dieser beiden Untersuchungsschritte von theatralischen Auswirkungen auf den Film nützliche Ergebnisse liefern. Wie Hans-Thies Lehmann überzeugend dargestellt hat, handelt es sich beim epischen Theater nicht um eine nicht-aristotelische Theaterpoetik, wie Bertolt Brecht selbst im Untertitel seiner Schriften zum Theater behauptet.87 Allerdings lässt sich die Überwindung der aristotelischen Dramatik nicht vereinfachend mit dem Aufkommen postdramatischer Theaterformen gleichsetzen. Brechts episches Theater ist vielmehr auf der Schwelle zwischen dramatischem und postdramatischem Theater zu lokalisieren, gibt es doch ebenso wie andere Theaterformen, welche aus der in Peter Szondis Dissertation beschriebenen ›Krise des Dramas‹88 hervorgegangen sind, die Blickrichtung auf ein Theater jenseits des Dramas vor.89 Diese beiden paradigmenbildenden Grundannahmen

84

Achim Geisenhanslüke: »›Silly Caucasian girl likes to play with samurai swords‹ Zur Affektpolitik in Quentin Tarantinos Kill Bill«, in: Ders./Christian Steltz (Hg.), Unfinished Business. Quentin Tarantinos »Kill Bill« und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2006, S. 111-132, hier S. 128.

85

Ebd.

86

Vgl. hierzu die Darstellung dieser Theaterform in Kapitel 4.2.

87

Vgl. B. Brecht: Schriften zum Theater.

88

Vgl. P. Szondi: Theorie des modernen Dramas.

89

Vgl. hierzu: H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 43f.

173

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE sollen im Folgenden in Hinblick auf Dramatisches und Postdramatisches in »Kill Bill« veranschaulicht werden.

6.2.1 DRAMATISCHES IN »KILL BILL« Einen Hollywood-Film heranzuziehen, um gattungsgeschichtliche Charakteristika des Dramas zu illustrieren, ist ein zugegebenermaßen heikles Unterfangen. Im Fall von »Kill Bill«, der zahlreiche Bezüge zu Drama und Film aufweist,90 liegt ein derartiges Vorgehen jedoch nahe. Als postmodernes Pop-Produkt lässt sich Tarantinos Film mit seinen unzähligen Zitaten, Verweisen und Analogien zu Titeln des sogenannten World Cinemas91 als ein Mix begreifen; Tarantino lässt in seinem Racheepos einzelne Regisseure und Schauspielerinnen, mitunter gar ganze Genres hochleben und abtreten zugleich. Dank seiner eigenen Machart, die der Montage und dem Zitat verpflichtet ist, lässt sich für »Kill Bill« das auf den Kultfilm Casablanca gemünzte Gütezeichen bemühen, nach dem der Film nicht bloß »just one film« sondern »many films, an anthology«92 sei; der Film lässt sich also nicht nur als konkretes Zeichen des Kinos, sondern auch als abstraktes Zeichen für das Kino schlechthin verstehen. Vor dem Hintergrund der starken Fokussierung auf B-Movies – hauptsächlich des Samurai-Films und des Spaghetti-Westerns – überrascht zunächst, was unter Berücksichtigung des Facettenreichtums, dem sich Tarantino mit den »Kill Bill«-Filmen verschrieben hat, vollkommen normal erscheint: »Kill Bill« ist eine Reflexion auf das Kino ebenso wie auf das Theater. Dies lässt sich u.a. daran ablesen, dass sich »Kill Bill« ebenso wie Tarantinos Erstling »Reservoir Dogs« an Konventionen des Dramas orientiert, wenn auch auf ausgeschriebene Filmsequenzen begrenzt, wie Claudia Liebrand und Gereon Blaseio in Bezug auf das Schlusskapitel ›Face to Face‹ herausgestellt haben: »Tarantino inszeniert hier ungewohnt zurückhaltend, setzt das Gespräch als Kammerspiel in Szene; nach vermeintlich ›objektiven‹ ›establishing shots‹ folgt

90

Vgl. hierzu: C. Steltz: Wer mit wem abrechnet, hier insbesondere S. 66f.

91

Zu diesem Begriff, der in erster Linie nicht US-amerikanische Filmproduktionen beschreibt, vgl: G. Blaseio, C. Liebrand: »Revenge is a dish best served cold.«

92

Umberto Eco: »Casablanca, or the Clichés Are having a Ball«, in: Marshall Blonsky (Hg.), On Signs, Baltimore: John Hopkins University Press 1985, S. 35-39, hier S. 38.

174

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL« die Handkamera als unsichtbarer Beobachter mit kaum merklichen Bewegungen den Gesichtern der jeweils Sprechenden.«93

Der hier erkennbare dramatische Charakter wirkt sich auf der Makroebene auf den Aufbau des Films aus, womit eine weitere Parallele zu »Reservoir Dogs« gekennzeichnet wäre.94 Wie Achim Geisenhanslüke in seinem Essay »›Silly Caucasian girl likes to play with samurai swords.‹ Zur Affektpolitik in Quentin Tarantinos Kill Bill« darstellt,95 folgt »Kill Bill« der von Aristoteles für das Drama bezeichneten Maxime, die den Mythos – also das, was neumodisch als plot oder Handlungszusammenhang beschrieben werden könnte96 – in das Zentrum des Dramas stellt. Die Verstöße gegen eine lineare Erzählform, die sich aus der nicht-chronologischen Schilderung des Rachefeldzugs ergeben, dienen nur der stärkeren Motivierung des Handlungszusammenhangs,97 da die Zuschauer die einzelnen Handlungssegmente erkennen und eigenständig in den Gesamtverlauf einordnen müssen. Es lässt sich also eine fundamentale Orientierung am klassischen Dramenschema erkennen, und das obwohl das in »Kill Bill« angewandte Prinzip, in Volume 1 eine Reihe von Antworten auf Fragen zu liefern, die sich erst beim Betrachten von »Kill Bill: Volume 2« stellen, einem dramatischen Spannungsaufbau zunächst ebenso entgegen zu laufen scheint. Für gewöhnlich gilt für die »Anordnung der Ereignisse im Sujet des populären Films [, dass sie] prinzipiell ihrer kausalchronologischen Aufeinanderfolge in der Fabula«98 entspricht. Die Variation im Handlungsverlauf, welche das zu rächende Unrecht und somit die Motivation aller Handlungen 93

G. Blaseio, C. Liebrand: »Revenge is a dish best served cold.«, S. 31.

94

Die Frage jedoch, inwieweit hier ein für Tarantinos Gesamtwerk eigenes Charakteristikum vorliegt, ist meines Erachtens bislang unbearbeitet geblieben.

95

Vgl. A. Geisenhanslüke: »Silly Caucasian girl likes to play with samurai

96

In der Poetik des Aristoteles heißt es hierzu: »Die Nachahmung von Hand-

swords«. lung ist der Mythos. Ich verstehe hier unter Mythos die Zusammensetzung der Geschehnisse, unter Charakteren das, im Hinblick worauf wir den Handelnden eine bestimmte Beschaffenheit zuschreiben, unter Erkenntnisfähigkeit das, womit sie in ihren Reden etwas darlegen oder auch ein Urteil abgeben.« Aristoteles: Poetik. Übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1994, S. 19ff. 97

Vgl. A. Geisenhanslüke: »Silly Caucasian girl likes to play with samurai

98

Jens Eder: Dramaturgie des populären Films – Drehbuchpraxis und Filmthe-

swords«, S. 118f. orie, Hamburg: Lit 2000, S. 73.

175

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE nur fragmentiert an den Beginn stellt und bedeutungsgenerierende Momente in der zeitlichen Abfolge hinauszögert, ist u.a. dafür verantwortlich, dass sich die Darstellung erst gegen Ende von »Kill Bill« wieder dem konventionellen Dramenmuster annähert. So lässt sich ein Wiederaufgreifen und Variieren aristotelischer Kategorien erst im Schlusskapitel ›Face to Face‹ erkennen: »In KILL BILL scheinen Wiedererkennung und Peripetie zwar zusammen zu fallen. Die Konfrontation mit der eigenen Tochter, die Bill sorgfältig inszeniert, bewirkt jedoch keinen Umschlag des Ziels, das erreicht werden soll: Der Braut geht es weiterhin darum, Bill zu töten, und dieses Ziel verwirklicht sie in relativ kurzer Zeit. Insofern verschiebt der Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis, der die Wiedererkennung ausmacht, nur das Ziel der Braut nach der Befriedigung der Rache, nach der sie strebt.«99

Da die Handlung ein einschneidendes Wiedererkennen – eine Erkenntnis also, jenen Moment der Handlung, der bei Aristoteles Anagnorisis genannt wird100 – integriert, greift sie das aristotelische Muster auf und müsste demgemäß einen Glückswechsel, eine Peripetie, folgen lassen. Die Verweigerung des Glückswechsels, einer Wende im Handlungsverlauf, gleicht strukturell einer Absage an den klassischen Dramenaufbau. Wenn es eine Wendung im Schluss von »Kill Bill« gibt, dann sei sie in der Verschiebung zu suchen, mittels derer Tarantino die unbesiegbare Heldin, die der Film selbst zum Mythos macht, aus der Dimension des Mythologischen zurück in die Sphäre des Menschlichen überführt: »Was sich in den aus Schmerz und Freude gemischten Tränen der Braut, die zum Schluss des Films nun wirklich zur Mutter geworden ist, zeigt, ist der kathartische Anfall, den Aristoles auf den Zuschauer verschoben hatte: die Lösung aus der Erstarrung, die der Wunsch nach Rache bedeutete. Die tragische ›katharsis‹ als Waffe gegen die Waffengewalt der wutentbrannten Braut aufzu-

99

A. Geisenhanslüke: »Silly Caucasian girl likes to play with samurai swords«, S. 117.

100

Nach Aristoteles ergreift die Tragödie den Zuschauer vorrangig durch zwei Mittel: durch das Wiedererkennen und durch die Peripetien, die Glückswechsel. Zum Wiedererkennen heißt es: »Die Wiedererkennung ist, wie schon die Bezeichnung andeutet, ein Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis, mit der Folge, daß Freundschaft oder Feindschaft eintritt, je nachdem ob die Beteiligten zu Glück oder Unglück bestimmt sind. Am besten ist die Wiedererkennung, wenn sie zugleich mit der Peripetie eintritt, wie es bei der im ›Ödipus‹ der Fall ist.« Aristoteles: Poetik, S. 35.

176

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL« bieten, gibt dem Film eine verstörende Wendung, indem sie die vom Weinen ins Lachen kippende Braut in eine ganz normale Hysterikerin verwandelt.«101

Als ganz normale Hysterikerin trägt Beatrix Kiddo noch immer Spuren des Mythos der Braut. Die mythologische Filmebene ist in »Kill Bill« eng mit den normalisierenden Elementen verbunden;102 beide lassen sich nicht getrennt denken, ebenso wie das postdramatische Theater als »Entfaltung und Blüte eines Potentials des Zerfalls, der Demontage und Dekonstruktion im Drama selbst«103 enthalten ist. Die Katharsis, jene Ur-Wirkung der dramatischen Konzeption, kann in einem Film, der keinerlei Identifikationspotenzial mehr birgt, nur innerhalb der Fiktion und ihrer Figuren wirken. Als weiteres Objekt einer Verschiebung lebt das klassische Dramenverständnis im Kriterium der Spannung fort. Auf diese grundlegende Gemeinsamkeit hat Hans-Thies Lehmann hingewiesen: »Exposition, Steigerung, Peripetie, Katastrophe: so altbacken sich das anhört, es wird von der unterhaltsamen Story in Film und Theater erwartet.«104 Die das Drama konstituierende Spannung zwischen polaren Kräften entspannt sich im Film zwischen den Erwartungen der Zuschauer und der Filmhandlung. So viel sei zu den gattungsbestimmenden Spuren des Dramas ausgeführt. Wird der Blick verengt und das Augenmerk von der Makro- auf die Mikroebene verlagert, zeichnen sich wiederum zahlreiche Verweise auf die dramatische Tradition ab, denen es nachzugehen gilt. Von Beginn an steht »Kill Bill« im Zeichen des Theaters. Noch bevor das erste Bild zu sehen ist, wird der Film in verschiedene Kontexte gesetzt. Nach zwei Einblendungen in weißer Schrift auf schwarzem Untergrund – dem Zitat »Revenge is a dish best served cold« und der mutmaßlichen Quellenangabe »Old Klingon Proverb«105 – startet die eigentliche Filmhandlung ohne Bild: bei schwarzem Bildschirm sind schwere Atemgeräusche und Fußschritte zu hören.

101

A. Geisenhanslüke: »Silly Caucasian girl likes to play with samurai swords«, S. 118.

102

Vgl. hierzu: Rolf Parr: »Is everything alright in the jungle at last? Irritationen im Dreieck von Genrekonventionen, erwarteten Szenarien von DeNormalisierung und unerwarteten Normalisierungen in Kill Bill«, in: Achim Geisenhanslüke/Christian Steltz (Hg.), Unfinished Business. Quentin Tarantinos »Kill Bill« und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2006, S. 95-110.

103

H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 68.

104

Ebd., S. 50.

105

Kill Bill: Volume 1, 00:00:45.

177

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Diese Schritte stammen von Cowboystiefeln, die über einen Holzboden schreiten, wie Großaufnahmen der Schuhe verraten, die im Cross-Cut-Verfahren gegen das blutige Gesicht der Braut geschnitten sind. Diese Anfangsbilder lassen sich durchaus als Vorausdeutungen des späteren Western-Kontexts zu lesen, in den die El PasoKulisse von »Kill Bill: Volume 2« führt. Unter filmästhetischen Gesichtspunkten erweist sich die Einführung in eine Szenerie, die zunächst allein akustisch vernehmbar ist und dann mittels einer Einblendung der Geräuschquelle komplettiert wird, jedoch als Selbstzitat Tarantinos. Auf diese Weise beginnt »Reservoir Dogs«, und so funktionieren auch verschiedene Stellen in »Jackie Brown« und »Pulp Fiction«. Für die vorliegende Frage nach dem dramatischen Wesen von Tarantinos Film lassen sich die gekonnt inszenierten Schritte über die Holzbretter als programmatische Ansage dessen deuten, was im Folgenden (mitunter auch) verhandelt werden soll: die Bretter, die die Welt bedeuten; die Welt des Theaters. Hierfür spricht auch der erst zu Beginn von »Kill Bill: Volume 1« entdeckte Umstand, dass das Massaker von Two Pines, der Anfangspunkt der in »Kill Bill« geschilderten Spirale aus Gewalt und Gegengewalt, nicht wie im ersten Teil des Films angenommen während einer Hochzeit, sondern während eines Wedding Rehearsals stattgefunden hat, also während der Probe zu einer Hochzeit. Abstrahierend lässt sich hier festhalten, dass der Film, der als mimetische Repräsentation von Handlungen in der Tradition der antiken Tragödie steht, zu seinem eigenen Ursprung im religiösen Ritus zurückkehrt. Dass es an dieser Stelle um eine Hybridisierung von Genres und eine Dekonstruktion der Gattungen Tragödie und Western geht, wird durch einen hohen Grad an »Reflexivität, die das Geschehen wiederholt als Schauspiel, als theatralischen Akt erscheinen lässt,«106 verdeutlicht. So spielt David Carradine, der Bill spielt, in dieser Szene den Vater von Uma Thurman, welche die Braut verkörpert, die hier als Arlene Machiavelli auftritt. Über ein derartiges Spiel im Spiel führt »Kill Bill« wiederholt den eigenen Realitätsanspruch auf den Prüfstand und die dramatische Grundkonstellation hinüber in den Bereich des Postdramatischen.

106

M. Przybilski/F. Schößler: Bell und Bill, Buck und Fuck, S. 51.

178

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL«

6.2.2 POSTDRAMATISCHES IN »KILL BILL« Postdramatisches Theater, so lässt sich von der Bezeichnung ableiten, ist ein Theater nach dem Drama, eine Form der szenischen Darstellung jenseits der mimetischen Repräsentation von Handlung. Die gattungsgenerierende Bewegung des Postdramatischen ist also eine Entfernung vom mimetischen Illusionstheater, das auf klaren Bedeutungszuschreibungen fußt. Postdramatisches Theater stellt nicht mehr dar, es ist. Im postdramatischen Bühnenzeitalter tragen die Theaterzeichen keine monosemantischen Zuschreibungen mehr; sie verweigern den Signifikantendienst.107 Dieses Phänomen ist von Lehmann als eine »Enthierarchisierung der Theatermittel«108 bezeichnet worden. Die zentralen Zeichen des Theaters – Körper und Stimme der Schauspieler, Bühnenraum und Aufführungszeit – stehen nicht mehr unter der Diktatur des Logos. Anstatt wie zuvor jahrhundertelang zwangsläufig als Träger von Bedeutungen aufzutreten – der Schauspieler als Figur, der Raum als Handlungsort und die Zeit im Drama als Kongruenz von erzählter Zeit und Erzählzeit –, haben sich die Signifikanten verselbstständigt und somit eine Neugewichtung der wesentlichen Einheiten des Theaters eingeleitet. Programmatisch lässt sich festhalten, dass die Kategorie des Sinns im postdramatischen Theater als dominanter theatraler Bestandteil abgelöst wird; an die Stelle von Sinn tritt Sinnlichkeit.109 Der Enthierarchisierung der Theatermittel zufolge finden auf dem Theater einige Gewichtsverschiebungen statt, die der Maxime Sinnlichkeit statt Sinn folgend anstelle des Werks als fertigem Produkt den Prozesscharakter des Theaters in den Vordergrund stellen. Wie im epischen Theater wird auch im Postdrama Theater als Verbum gedacht. Herausgestellt wird die wirkende Kraft der Präsenz auf der Bühne,110 wohingegen die traditionelle Vorstellung des Dra-

107

Vgl. H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 133. An anderer Stelle führt Lehmann diesen Aspekt am Beispiel des Körpers des Schauspielers aus. Ebd., S. 163: »Nicht als Träger von Sinn, sondern in seiner Physis und Gestikulation wird der Körper zum Zentrum. Das zentrale Theaterzeichen, der Körper des Schauspielers, verweigert den Signifikantendienst.«

108

Als Musterbeispiel eines derart angelegten Postdramas nennt Lehmann

109

Vgl. ebd., S. 365.

110

Erika Fischer-Lichte spricht in diesem Zusammenhang von der »Magie

Robert Wilson. Vgl. ebd., S. 133.

leiblicher Gegenwart«. Vgl. Erika Fischer-Lichte: »Von der Magie leiblicher Gegenwart«, in: Lothar Schöne (Hg.), Mephisto ist müde. Welche Zukunft

179

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE mas als mimetischer Repräsentation von Wirklichkeit in Vergessenheit gerät. Während Dramen als Texte für die Bühne konzipiert sind, zielen postdramatische Theatertexte auf eine wechselseitige Störung von Bühne und Text ab, indem die dialogische Form des Dramas in Rede und Gegenrede durch chorische Vielstimmigkeit, Polyloge und monologische Strukturen ersetzt wird. Im Extremfall kann all das bedeuten: keine Handlung, keine Figuren und (in der radikalsten Ausgestaltung) kein Text.111 Welche Konsequenzen der postdramatische Paradigmenwechsel112 für die einzelnen theatralen Kategorien mit sich bringt, soll im Folgenden am Beispiel von »Kill Bill« veranschaulicht werden. An dieser Stelle ist eine grundlegende Frage durchaus erlaubt, wenn nicht geradezu erwünscht. Weshalb sollte der Versuch unternommen werden, Merkmale des postdramatischen Theaters an einem Film zu veranschaulichen? Noch dazu anhand eines Films, der mit einer linear abgearbeiteten (wenn auch nicht linear erzählten) Rachegeschichte eine deutlich erkennbare Handlung aufweist? Dem ist zu erwidern: Zweifelsohne ist »Kill Bill« ein Film. »Kill Bill« ist ebenso unstrittig ein Rachefilm, ein Schwertkampf- und Kung-FuFilm. Der Film hat also eine Handlung, die verschiedene Genreanforderungen erfüllt. »Kill Bill« ist weder episches noch postdramatisches Theater; er ist gar kein Theater. Dennoch trägt Tarantinos zweigeteiltes Racheepos Merkmale sowohl des epischen als auch des postdramatischen Theaters, die es für eine Veranschaulichung eben dieser theatralischen Formen geradezu prädestinieren.113 Folhat das Theater?, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 155-166. 111

Der hier skizzierte Extremfall verdeutlicht, weshalb sich Studien zum postdramatischen Theater unweigerlich immer auf der Schwelle zwischen Germanistik und Theaterwissenschaft bewegen.

112

Im Zusammenhang mit dem postdramatischen Theater von einem Paradigmenwechsel zu sprechen scheint durchaus legitim, da die theoretische Erfassung des Postdramatischen nicht nur für die dem nicht mehr dramatischen Theater zuzuordnenden Theaterautorinnen und –autoren relevant ist, sondern den Theaterbetrieb auch darüber hinaus umfassend beeinflusst hat.

113

Als Beispiel für erhellende intermediale Studien, die den Raum zwischen Theater und Kino ausleuchten, sei an dieser Stelle auf Norbert Otto Ekes Studie zu Peter Greenaway verwiesen, die Formen der De-Dramatisierung des Gegenwartsdramas mit einer Ent-Dramatisierung des Films in Zusammenhang bringen. Vgl. Norbert Otto Eke: »Theatralisierung und Differenzerfahrung. Peter Greenaways Film-Theater«, in: Ders.: Wort/Spiele. Drama – Film – Literatur, Berlin: Erich Schmidt 2007, S. 169-190.

180

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL« gende Merkmale, die Lehmann zeitgenössischen Theaterinszenierungen zuordnet, treffen z.B. auch auf »Kill Bill« zu: »Beispielsweise Fragmentierung der Narration, Stil-Heterogenität, hypernaturalistische, groteske und neoexpressionistische Elemente, die fürs postdramatische Theater typisch sind, findet man auch in Aufführungen, die trotzdem dem Modell des dramatischen Theaters zugehören.«114

Da mit Fragmentierung der Narration und Stil-Heterogenität zwei für Tarantinos popkulturelles Zitatkino charakteristische Merkmale aufgeführt werden, ließe sich Lehmanns Aussage über den Rahmen der Bühnenkunst hinweg erweitern. Hieraus ließe sich einerseits positiv dem Postdramatischen ein weitreichender Einfluss konstatieren, der die Rede von einem postdramatischen Paradigmenwechsel zu legitimieren schiene. Andererseits könnte das Vorkommen postdramatischer Elemente in Film und dramatischem Theater auch Skepsis wach rufen. Ob hypernaturalistische, groteske und neoexpressionistische Elemente zwangsläufig postdramatisch sein müssen, müsste beispielsweise gefragt werden. Lassen sich Fragmentierung der Narration und Stilheterogenität nicht als durch und durch traditionelle Verfahren enttarnen? Dies soll als Randbemerkung auf den streckenweise usurpierenden Charakter von Lehmanns Studie hinweisen. Wie alle Überlegungen, die sich erstmals mit ausgewiesenen Problembereichen beschäftigen, ist auch »Postdramatisches Theater« als vorläufiges Instrumentarium zu betrachten, dessen Mängel es in Zukunft aufzudecken und möglichst auszumerzen gilt. Die Brücke von Hans-Thies Lehmann zu Quentin Tarantinos »Kill Bill« lässt sich über einen Rückgriff auf den von Lehmann betonten Aspekt der Nachträglichkeit des Postdramatischen schlagen. In Lehmanns Ausführungen heißt es: »›Nach‹ dem Drama heißt, daß es als – wie immer geschwächte, abgewirtschaftete – Struktur des ›normalen‹ Theaters fortlebt: als Erwartung großer Teile seines Publikums, als Grundlage vieler seiner Darstellungsweisen, als quasi automatisch funktionierende Norm seiner Drama-turgie.«115

Über Reaktionen im Publikum lässt sich kaum Verlässliches erheben. Vor allem pauschale Äußerungen wie die obige müssen bloße Mutmaßungen bleiben und als solche rezipiert werden. Demgemäß

114

H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 26.

115

Ebd., S. 30.

181

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE steht eine Übertragung der lehmannschen Aussage auf den Bereich des Films unter dem Vorbehalt, nicht empirisch belegt werden zu können. Die Erwartung des Theaterpublikums geht auf gattungsspezifische Muster zurück. Das Publikum knüpft an einen sich zuspitzenden Konflikt zu Beginn des Handlungsverlaufs die Erwartung eines tragischen Endes. Umgekehrt lassen komische Stoffe im der Komödie eigenen niederen Stil einen vermeintlich guten Ausgang erwarten, im Idealfall mit Hochzeit oder gar Doppelhochzeit. Im Kino werden derartige Erwartungshaltungen durch Genremerkmale gelenkt. Und hier findet sich eine fundamentale Parallele zum Postdrama. So wie sich das Theater eines Robert Wilson oder späten Heiner Müller durch eine wechselseitige Störung von Text und Bühne sowie von Bühne und Theatron auszeichnet, so spielt auch »Kill Bill« mit den Erwartungen der Zuschauer, wie Rolf Parr festgehalten hat: »Insofern Genres immer auch Verträge auf die Erwartungen und Seherfahrungen der Zuschauer hin sind, werden diese in beiden Teilen von KILL BILL beständig geschlossen, wieder aufgekündigt, gebrochen oder relativiert, erneut abgeschlossen usw.«116

Das Spannungsverhältnis zwischen Publikumserwartung und Filmhandlung, das Rolf Parr als »Irritationen im Dreieck von Genrekonventionen, erwarteten Szenarien von De-Normalisierung und unerwarteten Normalisierungen« beschreibt,117 erinnert in »Kill Bill« zudem stark an die wechselseitige Störung von Theatertext und Bühne, welche im postdramatischen Theater angestrebt wird. Dass dieses Moment durchaus charakteristisch für Tarantinos Gesamtwerk ist, lässt sich aus Uwe Nagels Dissertation »Der rote Faden aus Blut. Erzählstrukturen bei Quentin Tarantino« erschließen. Dort heißt es: »Die Veränderungen in der Zeit sind es, die bei Tarantino die auffälligsten Besonderheiten der Narration darstellen. Bei seinen Filmen gibt es kein behagliches Zurücklehnen für den Zuschauer; das Spiel mit den Erwartungen, die Mixtur von Genrekino und intellektueller Bearbeitung, das konsequente Weiterdenken von altbekannten Erzählmustern produzieren eine besondere Spannung.«118

116

R. Parr: Is everything alright in the jungle at last?, S.101.

117

So der Untertitel von Rolf Parrs Aufsatz zu »Kill Bill«. Vgl. R. Parr: Is every-

118

Uwe Nagel: Der rote Faden aus Blut. Erzählstrukturen bei Quentin Taran-

thing alright in the jungle at last? tino, Marburg: Schüren 1997, S. 29.

182

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL« Diese Aussage gilt für Tarantinos Kino im Allgemeinen ebenso wie für seinen vierten Film im Speziellen. Was »Kill Bill« aber von den Vorgängerfilmen abhebt, ist die ästhetische Konsequenz, welche die programmatische Ersetzung von Sinnstrukturen durch Sinnlichkeit im Postdrama verfolgt. Der Film lässt sich aus dieser Perspektive also nicht als ein Gegenstand der Hermeneutik begreifen; das ihm entsprechende Verfahren richtet sich nach der Ästhetik. Franziska Schößler und Martin Przybilski gehen beispielsweise in diese Richtung, wenn sie in »Kill Bill« »eine Schule der Wahrnehmung«119 sehen, die den Betrachter »in ein Kabinett von Phantasmagorien, von Bildern, Zitaten und Täuschungen führt«,120 um den illusionistischen Scheincharakter zu reflektieren. Für Georg Mein zeichnet sich der Film ebenfalls durch eine Dekonstruktion von konventionellen Deutungsmustern aus; dass die Herstellung von Sinn »auch das möglicherweise überraschende Ergebnis von Kombinatorik und Assoziation sein«121 könne, werde durch »Kill Bill« hervorragend vor Augen geführt. Die dekonstruktive Beschaffenheit einer ästhetischen Meta-Ebene ist hierbei mehr als deutlich: »Das lustvolle Arrangement von Filmzitaten lädt zwar explizit zur Deutung ein, doch der Film spielt nur mit den Zeichen und unterläuft so jeden Versuch, Bedeutung festzuschreiben.«122

Eingangs wurde eine theoretische Prämisse formuliert: Ebenso wenig wie Brechts episches Theater einen Bruch mit der aristotelischen Poetik darstelle, könne das postdramatische Theater als klarer Bruch mit diesen beiden Formen angesehen werden. In beiden Fällen wurde vorgeschlagen das jeweilige Kontinuum des Übergangs als Schwelle (und nicht als Bruch) zu bezeichnen. Inwieweit episches Theater bereits den Blick auf ein Theater ohne Drama lenkt, wie es in Hans-Thies Lehmanns Vorstellung vom Postdramatischen vorliegt, lässt sich im Folgenden veranschaulichen, wenn Figuren, Handlung und zunächst Selbstreflexivität in »Kill Bill« auf postdramatische Anleihen untersucht werden.

119

M. Przybilski/F. Schößler: Bell und Bill, Buck und Fuck, S. 42.

120

Ebd.

121

Georg Mein: »Kill Bill, Kleist und Kant oder: ›You didn't think it was going to be that easy, did you?‹«, in: Achim Geisenhanslüke/Christian Steltz (Hg.), Unfinished Business. Quentin Tarantinos »Kill Bill« und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2006, S. 7994, hier S. 81.

122

G. Mein: Kill Bill, Kleist und Kant, S. 87.

183

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE

Selbstreflexivität Postdramatisches Theater zeichnet sich dadurch aus, dass es keinen konventionellen mimetischen Repräsentationsanspruch stellt, sondern stattdessen ganz im Zeichen der Performanz steht. Der Illustration tritt somit die pure Aktion entgegen, das Theater gibt sich entschieden als Theater zu erkennen und ist daher hochgradig selbstreflexiv. Auf diese Weise wendet eine traditionell darstellende Kunstform den Blick auf sich selbst; eine Entwicklung, die Lehmann zufolge einer Regelmäßigkeit folgt, der auch andere Kunstformen gehorchen: »Unter dem Eindruck neuer Medien werden die älteren selbstreflexiv. (So geschah es mit der Malerei beim Aufkommen der Photographie, mit dem Theater beim Aufkommen des Films, mit diesem beim Aufkommen der Fernseh- und Videotechnik.)«123

Die selbstreflexive Wende des Films beim Aufkommen der Fernsehund Videotechnik, die Lehmann hier konstatiert, hat handfeste Spuren in »Kill Bill« hinterlassen. Als gängige Form der Autoreferenz fungieren hierbei Zitate und Genrekonventionen,124 die den Film vornehmlich prägen. Allerdings ist die Zahl der Zitate im Film Legion, die der Arbeiten beispielsweise zu Intertextualität, Intermedialität und Relation zu anderen Regisseuren vergleichbar hoch, so dass dieser Bereich hier nicht behandelt werden kann; dagegen stellt die Besetzung der einzelnen Rollen ein Phänomen dar, das eine kurze Ausführung verdient. Rollen so zu besetzen, dass durch das Image der Schauspieler eine besondere Form dramatischer Ironie gegeben ist, gehört zu Tarantinos persönlicher Handschrift. So wird Nice Guy Eddy, der sich in der Eingangsszene von »Reservoir Dogs« an einer Diskussion um Madonnas »Like a Virgin« beteiligt, die die Sängerin in ein ungünsti-

123

H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 82.

124

Die Reflexion des eigenen Mediums ist ein traditionelles Kunstmerkmal, das es erlaubt, »Kill Bill« in die literarische Tradition einzureihen, wie es z.B. Claudia Liebrand und Gereon Blaseio in Hinblick auf »Gefährliche Liebschaften «tun: »In so unterschiedlichen kulturellen Räumen Laclos' am Vorabend der Französischen Revolution geschriebener Ancien-RégimeRoman und Tarantinos postmodernes Film-Vexierspiel auch angesiedelt sind, beiden kulturellen Objektivationen ist gemein, dass das Medium (der Brief in einem, der Film im anderen Fall) sich in ihnen selbst reflektiert, mithin sichtbar wird.« G. Blaseio, C. Liebrand: »Revenge is a dish best served cold.«, S. 21.

184

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL« ges Licht stellt, von Chris Penn gespielt, dessen Bruder Sean von August 1985 bis Januar 1989 mit der Popsängerin verheiratet war. In »Pulp Fiction« findet sich diese dramatische Ironie u.a. in dem Tanzwettbewerb, der dem Vincent Vega verkörpernden John Travolta Möglichkeit zu einer Selbstparodie gibt, indem er auf frühere Filmerfolge zurückverweist (»Grease«, »Saturday Night Fever«).125 In »Kill Bill« ist es die Besetzung der Titelfigur mit dem in die Jahre gekommenen David Carradine.126 Da Bill in »Kill Bill: Volume 1« nicht einmal im Bild ist (abgesehen von seiner Hand), erscheint die Figur von Anfang an nebulös. In »Kill Bill: Volume 2«, wo Bill endlich ins Bild gerückt wird, erfahren die Zuschauer dennoch so wenig über die Vergangenheit des Oberhaupts der Tödlichen Vipern, das sich außerfilmische Assoziationen anbieten die entstandenen Leerstellen aufzufüllen. Hier tritt Carradine vornehmlich als Hauptdarsteller der TV-Serie »Kung Fu« auf, die – wie auch »Kill Bill« – eine Hybridisierung von asiatischen Martial-Arts und amerikanischer WildWest-Mythologie darstellt, wodurch Mutmaßungen um die Vergangenheit der Figur Bill zusätzlich genährt werden.127 Obgleich die Zuschauer Bill kein einziges Mal im Stil der asiatischen Kampfsportart kämpfen sehen, bestehen kaum Zweifel an seinem meisterlichen Können in dieser Disziplin. Das inszenatorische Spiel um derartige außerfilmische Referenzpunkte findet in Bills Flötenspiel vor dem legendären Massacre of Two Pines seinen cineastischen Ausdruck; es könnte sich durchaus um eben jene Flöte handeln, die Carradine als Kwai Chang Caine in »Kung-Fu« gespielt hat, wie vermutet worden ist.128 Die Besetzung der einzelnen Rollen fügt sich in »Kill Bill« in ein Gesamtbild ein, das jede einzelne filmische Entscheidung als Knotenpunkt in einem eng geflochtenen intertextuellen Netzwerk

125

Ähnliches findet sich überall in Tarantinos Filmen; als letztes Beispiel sei die Besetzung der Jackie Brown im gleichnamigen Film mit Pam Grier genannt, die als Blaxploitation-Star sogar ein gesamtes Genre verkörpert. Zu der Besetzung bei Tarantino und ihrer dramatischen Ironie vgl.: R. Fischer/P. Körte/G. Seeßlen: Quentin Tarantino.

126

In Carradines Filmographie sucht man vor Kill Bill vergeblich nach erfolgreichen Kinoproduktionen. Neben zahlreichen TV-Produktionen war Carradine auf der Leinwand ausnahmslos in unbedeutenden Filmen zu sehen, wie z.B. »American Reel« (2003), »Wheatfield with Crows« (2002), »Queen of Swords« (2001), »G.O.D.« (2001) oder »Dangerous Curves« (2000).

127

Zu Carradines Biografie und seiner Verbindung zu asiatischer Philosophie und Tarantino vgl. D. K. Holm: Kill Bill. An Unofficial Casebook, London: Glitterbooks 2004, S. 93.

128

Vgl. ebd.

185

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE ausmalt. Eine intertextuelle Konzeption, in der Zeichen auf Außertextliches verweisen und daher nicht mehr primär als Träger eindeutig zugeschriebener Denotationen fungieren, deckt sich mit den Vorstellungen einer postdramatischen Enthierarchisierung der Theaterzeichen. Ein weiteres Moment der Selbstreflexivität ist das seit Brecht bedeutende Spiel im Spiel. Die Schauspieler verfolgen im epischen Theater durch gezieltes Ausderrollefallen sowie andere Verfremdungseffekte eine brechtsche Maxime, die Jan Knopf in Bezug auf die Dreigroschenoper wie folgt in Worte gefasst hat: »Alles ist inszeniert; es wird gezeigt, dass gezeigt wird.«129 In der Dreigroschenoper erscheint die Umakzentuierung, die Brecht hinsichtlich der aristotelischen Poetik vornimmt, in Reinform. Wie in »Kill Bill« kommt es auch in diesem Drama zu einer Hochzeit, die wie eine Probe anmutet.130 Ein Pferdestall wird kurzerhand vor den Augen des Publikums mittels zusammengeklaubter Möbel etc. in eine Lokalität für eine Hochzeitsgesellschaft verwandelt. Polly Peachum, die Braut, sorgt darauf für Unterhaltung, indem sie ankündigt, eine selbst erlebte Situation nachspielen zu wollen. Die anwesenden Herren übernehmen in diesem Spiel im Spiel den Part der Gäste einer Hafenkneipe, während Polly selbst in die Rolle der Seeräuber-Jenny schlüpft. Begleitet von weiteren Verfremdungen (Licht, Spruchtafeln) singt die Schauspielerin als Polly als Jenny ihr Lied; die Formel des NichtWirklichen potenziert sich zu einem Spiel im Spiel im Spiel:131 »Die Szene und ihre Verwandlungen führen musterhaft vor, wie (episches) Theater zu machen ist. Da wird keine – wie immer geartete – Wirklichkeit nachgeahmt, da wird nicht suggeriert, dass die Zuschauer an einem als ›real‹ imaginierten Geschehen teilnähmen, da wird vielmehr die ganze Kunst und Künstlichkeit der Bühnenveranstaltung gezeigt.«132

Die Ausstellung der eigenen Künstlichkeit schafft im epischen Theater die stete Überzeugung, dass all jenes, was auf der Bühne ge-

129

Jan Knopf: Bertolt Brecht, Stuttgart: Reclam 2000, S. 119.

130

Im 2. Bild des ersten Aktes der Dreigroschenoper wird vor den Augen des Publikums ein leerer Pferdestall in ein feines Lokal verwandelt, indem laut Regieanweisung ein Dutzend Individuen herein tritt und Teppiche, Möbel, Geschirr usw. auf die Bühne bringt, so dass der Gauner Macheath und seine Braut Polly Peachum ihre Hochzeit feiern können. Vgl. B. Brecht: Die Dreigroschenoper.

131

Vgl. hierzu: J. Knopf: Bertolt Brecht, S. 118f.

132

Ebd., S. 119.

186

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL« schieht, nicht wirklich ist. Zu Tarantinos Frühwerk liegt genau hierin ein bedeutender Unterschied,133 bezogen auf »Kill Bill« jedoch unterstreicht Tarantinos Selbsteinschätzung, dass alles »vollkommen eindeutig ein nur ein Film«134 sei, die bewusste Künstlichkeit des Dargebotenen. Von daher überrascht es kaum, wenn sich jenseits des dominanten Films im Film, also jenseits der durch Zitieren und Montage geprägten Machart, auch zahlreiche explizite Formen des Spiels im Spiel finden lassen, von denen drei exemplarisch herausgegriffen werden sollen. In ›Chapter Four: The Man From Okinawa‹ betritt die Braut als Touristin Hattori Hanzos Sushi-Laden. Es entspannt sich ein Dialog, den Achim Geisenhanslüke als »Travestie kultureller Muster Japans und Amerikas«135 beschrieben hat: »In einem gekonnten Spiel von Täuschung und Verstellung begegnen sich die amerikanische Touristin und der mediokre Sushi-Koch, der noch unerkannte Meister der Schmiedekunst und die verkleidete Meisterin des Schwertkampfs, um sich nach einem vorsichtigen gegenseitigen Abtasten auf das gemeinsame Ziel – eben: Kill Bill – zu einigen.«136

Als Beleg dafür, dass »Kill Bill« an dieser Stelle bewusst die eigene Künstlichkeit ausstellt, lässt sich das Eröffnungsbild anführen, welches statt einer Tür einen Vorhang zeigt, den die Braut vor ihrem Auftritt als amerikanische Touristin selbst aufzieht. Diese Szene weicht insofern von der Mehrheit der relevanten Selbstreflexivitätsmomente ab, als dass sich das Spiel hier um Konventionen dreht.137 133

Bei »Reservoir Dogs« verhält es sich so, dass Rollentausch inmitten des Handlungsgeschehens nicht zu einer Trennung von der dargestellten Wirklichkeit führt. So bedingt es die Tätigkeit als Undercover-Cop, dass der als Mr. Orange agierende Freddy (gespielt von Tim Roth) sich einem Schauspieler gleich auf seine Rolle als Kleinkrimineller vorbereitet, wobei ihm mit Holdaway sogar noch ein Schauspiellehrer an die Seite gestellt wird (was in einer Rückblende erzählt wird). Vgl. hierzu: R. Fischer/P. Körte/G. Seeßlen: Quentin Tarantino, S. 92ff.

134

So äußert sich Quentin Tarantino in der »Sight & Sound«-Ausgabe von Oktober 2003. Zitiert nach: R. Fischer/P. Körte/G. Seeßlen: Quentin Tarantino, S. 218.

135

A. Geisenhanslüke: »Silly Caucasian girl likes to play with samurai

136

Ebd., S. 111f.

swords«, S. 120. 137

Eine weitere Abweichung stellt das ›Massacre of Two Pines‹ dar, das als Probe für eine Hochzeit pure Zeremonie und somit wirkliches Theater ist.

187

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Was den Film hingegen insgesamt auszeichnet, ist die zitat- und montagehafte Anverwandlung verschiedener Vorgängerfilme. So sind beispielsweise die Rollen, welche Beatrix Kiddo und O-Ren Ishii in der Schlussszene von »Kill Bill: Volume 1« einnehmen, über anzitierte Filme vorherbestimmt. Bereits die Szenerie in ›Chapter Five: Showdown at the House of Blue Leaves‹ ist ein Zitat. Der Ort der Handlung lässt sich auch als Bezeichnung der Handlung selbst dekodieren; was gezeigt wird, ist in der Tat ›ein trauriger Abschied‹. Durch derartige Polyvalenzen, die Sprengung konventioneller Bedeutungszuschreibungen, gewinnt »Kill Bill« streckenweise den Charakter des Postdramatischen. Nach der von Lehmann beschriebenen Enthierarchisierung der Theatermittel bezeichnet der Raum nicht länger bloß eine Örtlichkeit, sondern steigt aufgrund der Polysemie, der Vieldeutigkeit, seines Nichtmehrgreifbarseins, zu einem Mitspieler auf. Wenn die Braut nach dem Kampf gegen Johnny Mo und die Crazy 88 die Tür zum Garten aufreißt, erstreckt sich der Raum weit über die Grenzen der Wirklichkeit wiedergebenden Signifikanz, weshalb wiederum der Vergleich zum Theater nahe liegt, obwohl die Szene als Zitat des Samurai-Films »Lady Snowblood« angelegt ist, wie Schößler und Przybilski anführen: »Der Schluss des bekannten Films aus den siebziger Jahren, der […] mit den symbolträchtigen Farben rot und weiß arbeitet und im Schnee als Symbol der kathartischen Rache spielt, wird recht genau nachgestellt; selbst die Titelmusik ist übernommen. Doch diese Szene gleicht in »KILL BILL« einer Theateraufführung (der Film ist Theater ist Film): Hinter einem Vorhang erscheint wie auf einer Bühne eine tief verschneite japanische Gartenlandschaft.«138

Der unerklärliche Wetterwechsel sorgt dafür, dass der räumliche Wechsel aus dem Innern des Restaurants in die Außenanlage nicht als Wiedergabe eines realen Raums verstanden werden kann. Als theatral Inszeniertes liefert der Raum den Kontext, in dem Figuren und Handlung des folgenden Spiels im Spiel zu deuten sind. Uma Thurman, die Beatrix Kiddo spielt, und Lucy Liu in der Rolle der ORen Ishii spielen die Schauspielerinnen, die sich in der Geschichte der Rächerin Yuki gegenüberstehen.139

138

M. Przybilski/F. Schößler: Bell und Bill, Buck und Fuck, S. 48.

139

Die starken formalen Entlehnungen aus »Lady Snowblood«, wie beispielsweise Kapiteleinteilung, Großaufnahme von den Augen der Rächerin, die gegen die in der Vergangenheit erlittene Gewalttat geschnitten sind, quasi telepathische Kommunikation zwischen Täterin und Opfer über größere Distanz u.v.m., sind bislang noch nicht einzeln analysiert worden. Auf die

188

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL« Darüber hinaus kommt diesem Endkampf unter dem gewählten Blickwinkel eine besondere Bedeutung zu, findet sich hier doch eine Ersetzung der dramatischen Handlung durch Zeremonie, jenes für das Postdramatische so wesentliche Merkmal, auf das an gegebener Stelle zurückgekommen werden soll. Hochgradig selbstreflexiv ist der Schluss von »Kill Bill« gestaltet. Unter dem Titel ›Last Chapter: Face to Face‹ holt die Narration das zu Beginn von »Kill Bill: Volume 2« geschilderte Geschehen ein. Am Anfang gibt die Auto fahrende Braut vor, gerade auf dem Weg zu Bill zu sein. Was sich dann in Bills Hazienda abspielt, ist also nicht mehr nachträglich erzählt, sondern ereignet sich auf der Gegenwartsebene der Narration. An dieser Stelle soll diese Schlussszene als letztes Beispiel für ein Spiel im Spiel herangezogen werden. Zu ihrer eigenen Überraschung trifft Beatrix Kiddo am Ende ihres Rachefeldzugs statt auf ihren Peiniger Bill auf ihre tot geglaubte Tochter. Im Kinderspiel erschießt das Kind die Mutter mit einer Spielzeugpistole. Nach den Regeln des Spiels müsste die Mutter nun sterben, wie B.B. betont: »Du bist tot, Mammi«, doch gleich darauf folgt: »Das war nur ein Spiel«.140 Wie Schößler und Przybilski festgestellt haben, stellt diese Aussage den gesamten Film und seine Realitätseffekte in Frage.141 Die Tochter, für deren Tod Beatrix Kiddo Vergeltung fordert, lebt. Von dem einen auf den anderen Moment wird Kiddo, die sich seit dem Erwachen aus dem Koma absolut als Rächerin versteht, die eigene Daseinsberechtigung entzogen. Die lineare Logik der Rache, nach welcher ein Vergehen notwendigerweise ein Gegenvergehen nach sich zieht, wird tiefgreifend gestört. Kiddo nimmt stattdessen die Regeln des vorgeschlagenen Spiels an und gibt die tödlich Verwundete. So besehen erhält die Erzählpassage eine doppelte Fiktionsrahmung, es entsteht ein weiteres Spiel im Spiel. Geradezu theatral ist das Spiel in diesem Fall, da es mit einem Souffleuseneinsatz angereichert wird: die Braut kann ihre Tochter nicht beim Namen nennen, weshalb Bill ihr den Text (den

Notwendigkeit einer vergleichenden Analyse sei unter Berücksichtigung des letzten Kapiteltitels ›Blutrotes Haus, letzte Vergeltung‹ hingewiesen, der nicht zufällig an ›Showdown at the House of Blue Leaves‹ erinnert. Auch bei Lady Snowblood findet der letzte große Kampf während einer Tanzveranstaltung statt; genauer während eines Maskenballs, was die Cato-Masken der Crazy 88 erklären könnte. 140

Kill Bill: Volume 2, 01:29:52.

141

Vgl. M. Przybilski/F. Schößler: Bell und Bill, Buck und Fuck, S. 51.

189

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Namen der Tochter B.B.) vorsagen muss, damit das Spiel weiter gehen kann.142 Der soufflierte Text, der verändernd auf den weiteren Handlungsverlauf einwirkt, ist ebenfalls ein Mittel aus Brechts epischem Theater. Einerseits weist das Zuflüstern von Textpassagen das Bühnengeschehen als Nachgestelltes, als etwas Imaginiertes, aus und ist somit ein Bestandteil des epischen Ausderrollefallens; andererseits offenbart ein von außen an die Figur herangetragener Text die Zwänge, in denen sich die Figur befindet.143 Neben den nachgezeichneten Formen eines Spiels im Spiel wird in »Kill Bill« vermehrt auf ein weiteres Mittel gesetzt, durch das ein erhöhter Grad an Selbstreflexivität erreicht wird. Der unerwarteten Begegnung mit der tot geglaubten Tochter folgt in »Kill Bill« zunächst ein Dialog zwischen Bill und Kiddo und dann der Showdown auf der Terrasse. In diesem letzten Treffen von Angesicht zu Angesicht lassen scheinbar unprofessionell gestaltete Elemente wie eine Garten-Panoramawand als Hintergrund oder ein auf dem Boden ausgelegter Plastikrasen die Kulisse als solche erkennbar werden. Zudem stört der für einen Perfektionisten wie Tarantino überraschende Umstand, dass Blutspuren an Bills Kinn von einem Schnitt zum nächsten verschwunden sind, die Realitätseffekte des Films. Da die Zuschauer außerdem im Verlauf des Films mit der Zusatzinformation ausgestattet worden sind, dass der Getroffene nach der ›Five-Point-Palm-Exploding-Heart-Technique‹ noch ganz genau fünf Schritte gehen kann, liegen gar die Regieanweisungen für diese theatralische Schlussszene vor. Die filmische Illusion wird durch die selbstreflexive Gestaltung der Kulisse nachhaltig zerstört; die Fiktion eindeutig als solche gekennzeichnet. Nur so lässt sich übrigens der plötzliche Schneefall während des Showdowns im House of Blue

142

Zuvor gibt Bill bereits konkrete Regieanweisungen für das spontane Spiel:

143

Ein herausragendes Beispiel für diese spezielle Verfremdung im Theater

»You are dead, Mommy. So die.« Kill Bill: Volume 2, 01:25:52. Brechts findet sich in dem Stück »Der gute Mensch von Sezuan«. Nachdem sich die Hauptfigur Shen Te als zu gutmütig erwiesen hat, hört sie auf das Anraten ihrer Mitmenschen, die ihr anraten, einen Vetter zu erfinden, der als mutmaßlicher Ladeninhaber einen Vorwand für abgelehnte Bitten liefern soll. Shen Te spricht den ihr soufflierten Satz »Ich habe einen Vetter«, womit sich die Handlung um die Doppelfigur Shen Te/Shui Ta erst entwickeln kann. Vgl. Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1964, S. 25.

190

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL« Leaves144 in »Kill Bill: Volume 1« erklären. Eben hierin weist »Kill Bill« ein postdramatisches Moment auf, wie es sich in der Zielsetzung des postdramatischen Paradigmas nach Lehmann finden lässt: »Illusion soll zerbrochen, Theater als Theater kenntlich werden.«145 Diese postdramatisch anmutende Selbstreflexivität gewinnt durch die Rahmung von »Kill Bill: Volume 2« an Tiefe. Die in schwarz-weiß gehaltene Fahrt der Braut zu Bill verheimlicht nicht, dass sie im Studio gedreht wurde, und weist somit über die Werkgrenzen hinaus, wie Uwe Lindemann und Michaela Schmidt festgehalten haben: »Dadurch, dass der zweite Teil des Abspanns zudem in einer Form präsentiert wird, die an die Ästhetik der Gangster-Filme der 1940er Jahre angelehnt ist […], wird ihm zusätzlich eine filmhistorische Pointe verliehen.«146 Wie mit einem Seitenblick auf die Seeräuber-Jenny-Szene aus Brechts »Dreigroschenoper« gezeigt werden konnte, handelt es sich bei dem in »Kill Bill« praktizierten Spiel im Spiel um ein theatrales Mittel, welches keineswegs einen Bruch zum epischen Theater bedeutet. Da zugleich nachgezeichnet werden konnte, dass die im Spiel im Spiel manifestierte Polysemie – die zugleich auf die Einheit der Figuren vorausdeutet – alle wesentlichen Kriterien des Postdramatischen erfüllt, verfestigen sich die Zweifel an einem klaren Bruch zwischen epischem und postdramatischem Theater. Folgend soll dieselbe Schwellenlage, das Changieren zwischen epischen und postdramatischen Darstellungsformen, an den Figuren in »Kill Bill« veranschaulicht werden.

Figuren Seit Aristoteles' Poetik lautet eine der gattungskonstituierenden Fragen an das Drama, was seinen Mittelpunkt ausmache: die Figuren oder die Handlung. Nach Aristoteles betont die Komödie eher

144

Die Eindeutigkeit der Ortsbezeichnung und somit der Illusionsanspruch des Films werden hier durch die sprachliche Ambivalenz der Bezeichnung zusätzlich gestört. Neben der konventionellen Bezeichnung des Orts nach einem Naturphänomen (das ›Haus der blauen Blätter‹) eröffnet die Bezeichnung verschiedene Interpretationsansätze, indem sie sich auch als ›Haus der traurigen Abschiede‹ übertragen lässt.

145

H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 186.

146

Uwe Lindemann/Michaela Schmidt: »Die Liste der Braut. Einige Bemerkungen zur Filmästhetik von Quentin Tarantinos Kill Bill«, in: Achim Geisenhanslüke/Christian Steltz (Hg.), Unfinished Business. Quentin Tarantinos »Kill Bill« und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2006, S. 133-158, hier S. 150.

191

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE die Charaktere, während die Tragödie ihr Wesen aus der Begebenheit gewinnt, also aus der Handlung. Trotz einiger Umdeutungsversuche im 18. Jahrhundert, für die in erster Linie der seiner Zeit enteilte Jakob Michael Reinhold Lenz verantwortlich gezeichnet hat, lässt sich diese Gewichtung bis zu Bertolt Brecht verfolgen. In Brechts epischem Theater bewegen sich beide Kategorien, die der Handlung und die der Figuren, auf das Postdramatische zu, das Hans-Thies Lehmann unter die Maxime der Illusionszerstörung und des eindeutigen Erscheinens des Theaters als Theater gestellt hat. Mittels der Verfremdung soll im epischen Theater Identifikation verhindert werden; die Katharsis als traditionelles Ziel der Identifikation mit tragischen Heldenfiguren wird als Feindbild gemieden. Wo die Katharsis wirkt, wo eine Affektreinigung vorgenommen wird, so Brecht, fehle dem Volk die Kraft Unrecht zu erkennen und Veränderungen hervorzurufen. Wie Brechts Theaterkonzeption zielt auch »Kill Bill« nicht auf eine Katharsis im Sinne einer Affektreinigung ab. Die grundlegende Voraussetzung für eine kathartische Wirkung wird von Tarantinos Film konsequent nicht erfüllt, wie Peter Körte betont hat: »Wo auf diese spezifische Weise erzählt wird, wo die Figuren sich als wandelnde Zitate bewegen, da entfällt allerdings, was Hollywood sucht: Identifikation.«147 Im Gegensatz zum amerikanischen MainstreamKino bietet »Kill Bill« dem Zuschauer kaum die Möglichkeit, sich in die Figuren hinein zu versetzen. Dies ist eine der Besonderheiten, welche Lindemann und Schmidt dem Film zugeschrieben haben, und deren vollständige Aufzählung wie folgt lautet: »Authentizität, Originalität, die Möglichkeit zur Einfühlung und Identifikation sowie eine finale Lösung von Konflikten, die dem positiv oder negativ gewendeten Prinzip einer ›poetical justice‹ gehorchen.«148 Genau betrachtet, erweist sich der Mangel an Authentizität und Originalität in »Kill Bill« als Teil einer unkonventionellen Figurenkonzeption, die im vorliegenden Zusammenhang als Vorzeichen des Postdramatischen gelesen werden kann. Nach Schößler und Przybilski weist die Figurenkonzeption bei Tarantino auf einen interessanten Umstand hin: »Das subtile Spiel mit Repräsentationen affiziert auch die Geschlechterimagines in Tarantinos Filmen, die grundsätzlich im Zeichen der Heterogenität, der Hy-

147

Peter Körte: »Geheimnisse des Tarantinoversums. Manie, Manierismus und das Quäntchen Quentin – Wege vom Videoladen zum Weltruhm«, in: R. Fischer/P. Körte/G. Seeßlen: Quentin Tarantino, S. 11-64, hier S. 30.

148

U. Lindemann/M. Schmidt: Die Liste der Braut, S. 136.

192

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL« bridität und Nicht-Identität stehen, also als Performanzen, als reflexive Rollenspiele, erscheinen.«149

Wenn die Geschlechterimagines als reflexive Rollenspiele im Zeichen der Hybridität und Nicht-Identität wahrgenommen werden, weisen sie sich als postdramatisch aus. Sie erscheinen nicht als fixierte Produkte, sondern als Prozessausschnitte. Die Geschlechterrollen erscheinen wie die Figuren im Allgemeinen als Performanzen; sie changieren zwischen festen semantischen Zuschreibungen und sind daher nicht konkret zu begreifen. Welche Auswirkungen dieses subtile Spiel der Zeichen auf die cineastische Figurenkonzeption hat, wurde in der Dissertation von Lutz Nitsche angedeutet. Dort heißt es: »Zitathafte Kostümierungen, Tarnnamen oder Maskierungen deuten in den verschiedenen Filmen Tarantinos den Artefakt-Charakter der Identität an.«150 Diese verschiedene Mittel der Identitätsverschleierung finden auch in »Kill Bill« reichlich Anwendung. In erster Linie ist die außergewöhnliche Namengebung hervorzuheben, die für eine Verschleppung eindeutig zugeordneter Benennungsformen sorgt. Bezüglich der weiblichen Hauptfigur von »Kill Bill« gilt grundsätzlich: »Der Name transportiert die Geschichte/die Identität einer Person – die Protagonistin in KILL BILL erscheint hingegen zunächst als reine Präsenz ohne Ursprung und Vergangenheit.«151

Ursprung und Vergangenheit der Braut werden im Film lediglich an einer Stelle angedeutet. Bezeichnenderweise steht diese Stelle in engem Zusammenhang mit dem Phänomen der Namengebung. Als Bill von Elle Driver telefonisch über den Tod der von Uma Thurman gespielten Rächerin informiert,152 entführt ein harter Schnitt das Filmgeschehen in ein Klassenzimmer, in dem eine Lehrerin die Namen ihrer Schüler aufruft. Nach dem Aufrufen melden sich die Kinder brav. Als die Lehrerin den Namen Beatrix Kiddo ruft, sehen wir die erwachsene Braut inmitten der Kinder. Auch wenn im Zusammenhang mit der erstmaligen Nennung des Namens der Braut Vergangenheit angedeutet wird, erweist sich die konventionelle Vorstellung einer mit dem Namen aufgerufenen Identität samt dazugehöriger

149

M. Przybilski/F. Schößler: Bell und Bill, Buck und Fuck, S. 36.

150

Lutz Nitsche: Hitchcock – Greenaway – Tarantino. Paratextuelle Attraktio-

151

M. Przybilski/F. Schößler: Bell und Bill, Buck und Fuck, S. 39.

152

Vgl. Kill Bill: Volume 2, 01:11:14ff.

nen des Autorenkinos, Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 107f.

193

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Biografie als Illusion. Beatrix Kiddo wird nicht als Schulmädchen vorgeführt, sondern erscheint selbst an den Wurzeln ihres Lebens als die aus der Filmhandlung bekannte Killerin. Ähnlich nebulös gestaltet sich auch die Namengebung der anderen Hauptfiguren: Bill ist ebenso wenig mit einem Nachnamen ausgestattet wie sein Bruder Budd, wodurch beide von Anfang an bedingt anonym bleiben.153 Die zweite Blondine in Bills Killerkommando hört auf den Namen Elle Driver. Ihr Name lässt sich ebenso wie jener der Braut auf einen einzelnen Buchstaben reduzieren, wie es im Duell der beiden Kontrahentinnen auch vorgeführt wird, als sie sich gegenseitig mit den Chiffren »L« und »B« adressieren.154 Elles Name entzieht sich auch der Bezugnahme auf eine konkrete Person, beachtet man den abstrakten Charakter der Lautfolge als feminines Personalpronomen im Französischen. Vor einer daher angebrachten Gender-Schablone ordnet sich der Familienname Driver im Sinne des freudschen Triebkonzepts ebenfalls in ein abstrahiertes Deutungsschema ein, das nicht mehr Individuelles sondern allgemein Menschliches avoziert. Ein weiteres Indiz dafür, dass sich die Figuren in »Kill Bill« in den Domänen des Abstrakten bewegen, im Bereich der Nicht-Identität, ist das auffallend hohe Vorkommen von Doppelungen und Parallelen in der Figurenkonzeption. Erstere lassen sich beispielsweise an den diversen als Minimalpaar angelegten Namen ablesen (Bill/ Bell, Budd/Buck etc.),155 und letztere finden vornehmlich in den Gewaltzyklen ihren Ausdruck, welche die als Analepse dargestellte Biographie O-Ren Ishiis beispielsweise als Vorwegnahme der zukünftigen Entwicklung Nikita Greens oder auch Vernita Greens Schwangerschaft und Ausstieg aus dem Killerkommando als geglückte Fortschreibung des Ausstiegsversuchs der Braut inszenieren. Als Endergebnis der filmischen Bemühungen um eine nicht-eindeutige Benennung der handelnden Figuren steht im Fall der Protagonistin eine formelhafte Gleichung: »Beatrix Kiddo aka The Bride aka Black Mamba aka Mommy.«156 Diese Kette aus Codenamen und Pseudonymen rekontextualisiert die gesamte Filmhandlung; hierbei handelt es sich um ein Phänomen, das Lindemann und Schmidt umschrieben haben: 153

Zu den intertextuellen Bezügen, die sich aus der assoziativen Nähe zu Herman Melvilles Roman »Billy Budd« ergeben, siehe: C. Steltz: Wer mit wem abrechnet.

154

Kill Bill: Volume 2, 01:14:32.

155

Vgl. hierzu: M. Przybilski/F. Schößler: Bell und Bill, Buck und Fuck.

156

Kill Bill: Volume 2, 02:01:39.

194

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL« »Hier ereignet sich ein Fiktionsbruch, der eine andere Reichweite besitzt als jene in früheren Szenen des Films. Im Abspann ereignet sich eine doppelte Bewegung: Einerseits werden die Darsteller selbst in die Fiktion hineingenommen und damit Teil der Filmnarration. Zum anderen werden die Figuren des Films zugleich aus der Fiktion hinausbefördert, indem sie zu Pseudonymen der Schauspieler erklärt werden. Würde man den Fiktionsbruch des Abspanns konsequent zu Ende denken, wäre die außerfilmische Realität ebenso fiktional, wie der Film real wäre. Man würde in ein donquichoteskes Universum eintreten.«157

Das donquichoteske Universum, das an dieser Stelle ausgemacht wird, setzt mit der Aufhebung der Trennung zwischen außerfilmischer Realität und fiktiver Filmwirklichkeit ein typisches Merkmal brechtscher Dramatik fort. In jedem Moment soll dem Publikum bewusst sein, so Brecht in seinen Schriften zum Theater, dass sich hinter der dramatischen Figur ein Schauspieler befindet.158 Für Brecht gilt es, das Herausbilden einer dramatischen Illusion zu verhindern, die den realen Menschen hinter der Bühnenfiktion vergessen lässt. Die poetologische Schwelle vom epischen Theater zum Postdramatischen besteht in einer weiteren Drehung derselben Schraube, die letztendlich zu einer Auflösung der Figureneinheit führt. So radikal zeigt sich Tarantinos Rachefilm an keiner Stelle. Eine deutliche postdramatische Ausrichtung lässt sich nicht an den Figuren, sondern an der Handlung des Films ausmachen.

Handlung Wenn Hans-Thies Lehmann in seiner Studie zum postdramatischen Theater das epische Theater in die Tradition der aristotelischen Dramatik stellt, so wird dies hauptsächlich durch die auch bei Brecht noch aufrechterhaltene Konzentration auf die Fabel als Hauptbestandteil des Dramas begründet.159 Selbstverständlich steht Lehmanns Einschätzung Brechts eigenem Selbstbild entgegen, das im epischen Theater entschieden eine »nicht-aristotelische Dramatik«160 erkennen will. Trotz aller Verfremdung macht die Fabel, also die Handlung, bei Brecht das Herzstück des Dramas aus. Auch »Kill Bill« ist zweifellos ein Film mit einer Handlung. Er gehört eher zum

157

U. Lindemann/M. Schmidt: Die Liste der Braut, S. 150f.

158

Besonders deutlich wird dieser Aspekt in der ›Straßenszene‹ geschildert. Vgl. B. Brecht: Die Straßenszene.

159

Vgl. H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 48, S. 114.

160

Siehe den Untertitel der Schriften zum Theater. Vgl. Bertolt Brecht: Schriften zum Theater: Über eine nicht-aristotelische Dramatik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1957.

195

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE amerikanischen Mainstream-Kino denn zur experimentellen Videokunst.161 So betrachtet ließe der Film sich dem epischen Pol zuordnen, wären nicht auch entschieden postdramatisch konzipierte Merkmale erkennbar. Da sich das Postdramatische in »Kill Bill« jedoch als Fortführung brechtscher Momente erweist, muss im Folgenden als Ausgangspunkt skizziert werden, auf welche Art und Weise »Kill Bill« Elemente des epischen Theaters aufnimmt. Das zentrale Instrument brechtschen Theaters ist die Verfremdung, auf welche auch die Gewichtsverschiebung von einer handelnden zu einer erzählenden Darstellungsform abzielt. In »Kill Bill« verfolgen zugleich mehrere filmische Mittel das Ziel, das Dargestellte in verfremdeter Form wiederzugeben. Eines dieser filmischen Mittel ist die Musik, »die in KILL BILL die Handlung immer wieder daran hindert, einfach mit einer einmal gewonnenen Geschwindigkeit geradeaus weiterzugehen.«162 Neben der Musik besteht in dem Phänomen der Entzeitlichung eine weitere Verfremdung, die sowohl in »Kill Bill« als auch bei Brecht eingesetzt wird. So wie in Brechts Dramen zeitlich entfernte Epochen als Zeit der Handlung gewählt werden,163 um das Publikum über notwendige Transferleistungen zu aktivieren, so wird auch in »Kill Bill« direkte Gegenwart gemieden. Zwar spielt die Filmhandlung in modernen westlichen und asiatischen Gesellschaften,164 doch setzt die gezielt über Prolepsen und Analepsen vorangetriebene Narration gewöhnliche Zeitvorstellungen außer Kraft. Dies führt nach Lindemann und Schmidt zu einem Kreislauf: »Wenn man überhaupt von einem dominanten Zeitmodell in KILL BILL sprechen möchte, dann müsste man auf eine zyklische Zeitvorstellung zurückgreifen, in der die einzelnen narrativen Segmente in einer Art Wiederkehr des Gleichen permanent aktualisiert werden können.«165 161

Als Beleg dafür, dass diese beiden Ausrichtungen sich nicht gegenseitig ausschließen müssen, sei an dieser Stelle auf das filmische Schaffen des englischen Regisseurs Mike Figgis verwiesen, das mit dem Oscar gekürten »Leaving Las Vegas« oder der US-Serie »The Sopranos« und dem Experimentalfilm »Timecode« (2000) beide Bereiche umfasst.

162

Georg Seeßlen: »Zärtliche Zerstörungen. Anmerkungen zur Musik in Tarantinos Filmen«, in: R. Fischer/P. Körte/G. Seeßlen: Quentin Tarantino, S. 65-86, hier S. 67.

163

Wie beispielsweise das Spätmittelalter in »Leben des Galilei« oder der

164

Dafür steht u.a. das Vorkommen von Mobiltelefonen, Flugzeugen und

dreißigjährige Krieg in »Mutter Courage und ihre Kinder«. dem Internet. 165

U. Lindemann/M. Schmidt: Die Liste der Braut, S. 141.

196

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL« Die totale Verfremdung wird durch eine vollständige Verabschiedung von konventionellen Zeitvorstellungen erzielt. Der Teufelskreislauf aus Gewalt und Gegengewalt, in den die Protagonistinnen verstrickt sind, lässt sich auf den Lehrmeister Pai Mei zurückführen. Er ist der älteste Krieger im Film und steht als Lehrer von Bill, Beatrix und Elle seinen Nachfolgern Modell. Unter Berücksichtigung seines irrealistisch hohen Alters lässt sich der Gewaltkreislauf, für den er einsteht, als eine universelle Wahrheit begreifen: »Denn als Bill in einer bezeichnenderweise weder zeitlich noch räumlich fixierten Szene von Pai Mei erzählt […] datiert er die Episode aus dem Leben des Kung-Fu-Meisters auf das Jahr 1003! Pai Mei wäre im Film also etwa eintausend Jahre alt. Auch inhaltlich wird, diesmal von der Story ausgehend, die Zeitdimension des Films aufgehoben.«166

Was an dieser Stelle für die Zeit in »Kill Bill« festgehalten wurde, gilt in gleichem Maße für die Raumkonzeption: beide verdeutlichen, dass sie nur filmische Realität sind. Über zahlreiche Ortswechsel, den selbstreflexiven Scherz des an den Flugzeugsitz gelehnten Samuraischwerts sowie über die ästhetischen Überformung des Raums (z.B. das unerklärliche Schneeszenario im Garten des House of Blue Leaves) bringt der Film sein eigenes autonomes Verständnis von Zeit und Raum als filmische Mittel zum Ausdruck. Hierin unterscheidet sich »Kill Bill« übrigens auch von früheren Tarantino-Filmen wie dem Erstling »Reservoir Dogs«: »Was dort auf wenige überschaubare Orte beschränkt war, […] ist [in »Kill Bill«] anders akzentuiert.«167 Eine in einem durchgängigen Tempo gehaltene lineare Schilderung des Handlungsverlaufs wird außerdem durch die narrative Rahmung der Handlung verhindert. Für diese Sprengung einer linearen Handlung gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Peter Körte nennt gleich zwei: »Noch in KILL BILL wirkt es wie ein kleines Selbstzitat, wenn das erste Kapitel, in dem die Braut ihre Ex-Kollegin Vernita Green (Vivica A. Fox) in den Suburbs von Pasadena aufsucht und ihre Rache vollstreckt, sich als das chronologisch zweite erweist. Aber auch hier gibt es eine plausible Erklärung für den Sprung auf der Zeitachse. Hätte Tarantino den zweiten Mord nicht vor dem ersten gezeigt, wäre der große Showdown zwischen O-Ren Ishii (Lucy Liu) und der Braut (Uma Thurman) nicht die Klimax und das Finale gewesen, als die sie fun-

166

Ebd.

167

Ebd., S. 142.

197

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE gieren, sondern nur eine zwar spektakuläre, dramaturgisch jedoch völlig fehlplatzierte Szene.«168

Während die Bewertung der achronologischen Erzählform als Selbstzitat, also wiederum als selbstreflexives Moment, durchaus einen Sinn ergibt,169 ist Körtes ›plausible Erklärung für den Sprung auf der Zeitachse‹ fragwürdig. Bei dieser Erklärung scheint der Umstand in Vergessenheit zu geraten, dass die Death List Five, die der Rachehandlung die einzelnen Stationen vorgibt, als dramaturgische Richtschnur nicht unhinterfragbar ist. Der große Showdown könnte auch ohne Abrücken von einer linearen Narration am Filmende stattfinden. Hierzu hätte nur die Reihenfolge der Namen auf der Todesliste geändert werden müssen. Die nicht-lineare Ausrichtung des Films ist daher wohl eher nicht ein Übel, das zum Wohl der Dramaturgie in Kauf genommen werden muss, sondern eine vollkommen beabsichtigte Besonderheit in der Filmkonzeption. Angesichts der vielgestaltigen dramatischen Spuren in »Kill Bill« böte es sich an, das Abweichen der filmischen Konzeption von der Chronologie der Handlung als brechtsche Verfremdung zu lesen. Eine Fragmentierung der Fabel, wie sie Brecht in vielen seiner Theatertexte einsetzt, wird im Film durch die Kapiteleinteilung und das Einblenden der Überschriften erreicht. Allerdings überwindet der Film zugleich den brechtschen Rahmen der Fabel durch eben diese Einblendungen. Die von Körte herausgegriffene Sprengung einer linearen Handlung gestaltet sich konkret so, dass beispielsweise das erste Kapitel den Titel »2« trägt. So wird im direkten Anschluss an die Intro-Sequenz verdeutlicht, dass »Kill Bill« die Grenzen einer linearen Erzählweise überschreitet. Die in Großaufnahme abgebildete ›Death List Five‹ der Braut, welche nach dem Kampf mit Jeannie Bell aka Vernita Green aka Copperhead gezeigt wird, weist den Namen O-Ren Ishii bereits durchgestrichen auf. Der Endkampf hat demgemäß schon stattgefunden, O-Ren Ishii ist bereits tot und Vernita Green dem Kapiteltitel »2« entsprechend die zweite Tote auf Kiddos Liste.170 Auf ähnliche Art wird der Tradition einer linearen Erzählung zu Beginn von »Kill Bill: Volume 2« eine Absage erteilt. Die Braut wird in einem Sportwagen von vorne gezeigt. Während dieser Fahrt berichtet sie, die Aufgaben 1 bis 4 ihrer persönlichen 168 169

P. Körte: Geheimnisse des Tarantinoversums, S. 25. Tarantinos frühere Filme »Reservoir Dogs«, »Pulp Fiction« und »Jackie Brown« leben alle von einer fragmentierten und der chronologischen Zeitfolge entrückten Narration.

170

Kill Bill: Volume 1, 00:15:05.

198

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL« Liste erledigt zu haben und auf dem Weg zu Bill zu sein. Die Kämpfe mit Budd Sidewinder und Elle Driver haben zu diesem Zeitpunkt folglich schon stattgefunden. An dem Überleben der Braut zu späteren Momenten cineastischer Spannung kann de facto kein Zweifel mehr bestehen. Indem die einzelnen Ereignisse des Handlungsverlaufs in der Versprachlichung und Verbildlichung umstrukturiert werden, rückt die cineastische Narration vom Konzept einer linearen Erzählweise ab. Zugleich verschiebt sich das Hauptinteresse vom ›Was‹ der Geschichte zum ›Wie‹. O-Rens Tod steht in Chapter 1 bereits fest; die näheren Details zu ihrem Ableben jedoch nicht. In dieser Konstellation werden Spuren des brechtschen Theaters deutlich, in dem Jan Knopf dieselbe charakteristische Bewegung manifestiert sieht: »So wurde durch den Szenen vorangestellte Titel, Projektionen oder Prologe der Inhalt vorweggenommen und dadurch die Spannung der Zuschauer von der dramatischen Spannung (Was-Spannung) weg und zur Beobachtung der Handlung (Wie-Spannung) hin gelenkt.«171

Hier zeigt sich, dass der Tarantino-Streifen und das epische Theater nicht nur die Interessenverlagerung vom ›Was‹ zum ›Wie‹ gemein haben, sondern dass diese Verlagerung auch mit identischen Hilfsmitteln erreicht wird. Auch der erzielte Effekt ist vergleichbar: Durch die Verfremdung werden eventuelle Identifikationsprozesse gestört, der Zuschauer bleibt auf Distanz zu dem Dargestellten und ist dieser Akzentverschiebung zufolge in der Lage, das Geschehen auf der Bühne/Leinwand distanziert zu bewerten. Im Fall von »Kill Bill« eröffnet die Abwendung von Mimesis und Katharsis interessante poetologische Schlussfolgerungen: »Diese Umstellung in der Chronologie der Story in der Filmnarration führt […] zu einer Spannungsminimierung für den Zuschauer. So verschiebt sich auch hier der Akzent von der inhaltlichen auf die erzählerische und ästhetische Ebene der Darstellung der Kampfszene.«172

Wie Lindemann und Schmidt hier hervorheben, spielt die inhaltliche Ebene beim Schluss von »Kill Bill: Volume 1« keine Rolle. Seit der ersten Einblendung der Death List Five zu Beginn des Films steht fest, welche der beiden Frauen aus dem Marathonkampf als Siegerin hervorgehen wird. Das Augenmerk wird somit allein auf

171

J. Knopf: Bertolt Brecht, S. 79.

172

U. Lindemann/M. Schmidt: Die Liste der Braut, S. 137.

199

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE das Ästhetische verlagert. Die an Brutalität kaum zu überbietende Kampfsequenz lässt sich deshalb »in relativer Unabhängigkeit vom Gesamtfilm selektiv-ästhetisch wahrnehmen.«173 Derart isoliert betrachtet lässt sich die Sequenz auf zwei Arten lesen: Einerseits »zitiert die finale Kampfsequenz des Shaw-Brothers-Films MA YONG ZHEN [engl. Titel: The Boxer from Shantung, HK 1972, R.: Chang Cheh, Li Pao Hsueh]«,174 andererseits besteht in der strengen Inszenierung der musikuntermalten Kampf-Choreographie ein Verweis auf einen speziellen Bereich der darstellenden Kunst, wie in der Rezeption des Films mehrfach betont worden ist: »Es ist eine Opernkulisse, die Tarantino für den letzten Akt von VOL. 1 findet, und sie bildet den perfekten Hintergrund für den Tod der bösen, mächtigen ORen Ishii, die eben auch, traumatisiert durch den Mord an ihren Eltern, eine tragische Figur ist.«175

An dieser Stelle löst der Film spätestens das Versprechen ein, das einige Kritiker in dem kommentierenden Musikeinsatz während der Intro-Sequenz sehen,176 nämlich dass der Film von Anfang an unter dem Stern des Opernhaften stehe und dass seine Handlung und Figuren tragisch seien. Die Nähe zu Oper und Tragödie lässt sich auch Peter Körtes Beschreibung der Schlussszene von »Kill Bill: Volume 1« entnehmen: »Mitten im Raum liegt eine Bühne mit einer transparenten Tanzfläche, auf der Dinge geschehen, von denen das moderne Tanztheater eine Menge lernen könnte, weil hier eine Choreografie mit Blut, Schwert, Handkantenschlägen und Kampfsporttechniken inszeniert wird, deren Strenge an ein klassisches Ballett erinnert. Es ist der Kino-Ort für einen Showdown, der seine eigene Farbenlehre hat. Die schwarzen Anzüge der 88 Crazy Yakuza, nur komplett mit weißen Hemden und schmalen schwarzen Krawatten, haben sich von den Braun- und Grautönen des Fußbodens ab, und aus der Dunkelheit leuchtet das Bananengelb von Uma Thurmans Kampfanzug, der natürlich auch ein Zitat ist. Bruce

173

R. Parr: Is everything alright in the jungle at last?, S. 105.

174

G. Blaseio, C. Liebrand: »Revenge is a dish best served cold.«, S. 23.

175

R. Fischer/P. Körte/G. Seeßlen: Quentin Tarantino, S. 232.

176

Bei Robert Fischer heißt es hierzu: »Auf der Tonspur singt Nancy Sinatra, wie in Fortführung des soeben Gesehenen oder eine mögliche Antwort darauf, Bang Bang (My Baby Shot Me Down), und die Verwendung des melancholisch-tragischen Songs an dieser Stelle ist bereits ein Vorgeschmack auf das Opernhafte, das viele der nachfolgenden Szenen und Sequenzen prägen wird.« R. Fischer/P. Körte/G. Seeßlen: Quentin Tarantino, S. 220.

200

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL« Lee trug einen solchen Anzug in seinem letzten Film GAME OF DEATH (1978; R: Robert Clouse).«177

Körtes Vergleich der Kung-Fu-Choreografie mit klassischem Ballett steht repräsentativ für zahlreiche Rezensenten, Kritiker und Filmwissenschaftler, welche dasselbe Phänomen benannt haben.178 Es lässt sich also zunächst festhalten, dass der für den Kung-Fu-Film genretypische Endkampf in »Kill Bill« allem Anschein nach über die Grenzen des Genres hinausreicht, was sich ästhetisch begründen lässt. Dass es dieser Filmszene nicht bloß um das Zitieren einer Shaw-Brothers-Kampfszene gelegen ist, verdeutlicht nämlich die ›eigene Farbenlehre‹, welche Körte dem Showdown beimisst. Die ästhetische Gestaltung des Raums richtet sich nach der postdramatischen Formel, nach der Sinn von Sinnlichkeit unterwandert wird. In dem gleichen Maße, in dem die dargestellten Kampfakte überzogen, unrealistisch und unglaubwürdig werden, emanzipieren sich die Signifikanten. Das Blut ist augenscheinlich kein echtes Blut, die abgetrennten Gliedmaßen ausgewiesener Maßen Filmutensilien und die Kampfsprünge der Braut offensichtlich keine natürlichen Bewegungen. Die Zeichen bezeichnen nicht mehr etwas anderes Abwesendes, sondern stehen für sich selbst ein. Diese neue Rollenverteilung im semiotischen Zeichenmodell ereignet sich parallel zu der von Lehmann beschriebenen »Enthierarchisierung der Theatermittel«,179 die der Theaterwissenschaftler in ihrer reinsten Form bei Robert Wilson ausmacht und die eine der Grundlagen für den Siegeszug der sinnlichen Wahrnehmung über dekodierbare Sinnstrukturen im postdramatischen Theater ausmacht. Über den Doppelcharakter der Zeichen heißt es bei Lehmann: »Alle Theaterzeichen sind zugleich physisch-reale Dinge: ein Baum ein Pappmodell, manchmal auch ein wirklicher Baum auf der Bühne, ein Stuhl in Ibsens Haus Alving ein wirklicher Stuhl auf der Bühne, den der Zuschauer nicht nur im fiktiven Kosmos des Dramas, sondern in seiner realen raumzeitlichen Situation (›da vorn auf der Bühne‹) verortet.«180

177

P. Körte: Geheimnisse des Tarantinoversums, S. 23.

178

Georg Mein spricht z.B. von einem »ballettgleichen Kampf« (G. Mein: Kill Bill, Kleist und Kant, S. 86) und benennt damit, was Robert Fischer als »reines Ballett, pures Musical« bezeichnet (R. Fischer/P. Körte/G. Seeßlen: Quentin Tarantino, S. 230.)

179

H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 133.

180

Ebd., S. 174f.

201

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Verfolgt man die Verlagerung auf die Ebene des Physisch-Realen der Signifikaten am Beispiel »Kill Bill«, wird deutlich, woraus sich der selbstreferentielle Charakter des Films speist. An die Stelle der Tötungsakte im House of Blue Leaves tritt auf diese Art und Weise ein Ballett mit Samurai-Schwertern, das entschieden ästhetisches Spektakel sein möchte. In der Kampf-Choreografie bündeln sich postdramatische Anleihen. Diesbezüglich haben Przybilski und Schößler den selbstreferentiellen Charakter der Darbietung herausgestrichen: »Der Kampf ist Spiel, ist Theater, das Spiel Kampf; entsprechend tragen die Untergebenen von O-Ren Ishii, die mit schwarzen Yakuza-Anzügen bekleidet sind, Masken aus dem Nô-Theater. […] [D]er Film weist sich selbstreferentiell als Inszenierung aus, was auch den Geschlechter- und Nationaldiskurs affiziert.«181

Spielerisch, so ließe sich dieses Zitat paraphrasieren, macht der Film deutlich, dass er eine Inszenierung ist, eben Film. In der Theaterwelt ist die Gattung mit dem am stärksten ausgebildeten Bewusstsein von der eigenen Künstlichkeit die Oper, wo tragische Konflikte eben nicht nachgestellt, also gespielt und gezeigt, sondern herausgesungen werden. Wenn in der Sekundärliteratur stets das opernhafte Wesen des Showdowns mit ›der eigenen Farbenlehre‹ betont wird, liegt das am Doppelcharakter der Zeichen. Da in der ästhetisch überformten Inszenierung des Showdowns die Signifikannten von ihren Signifikaten losgelöst werden, muss auch die Diskussion über den Film eine Auseinandersetzung mit den Zeichen selbst und nicht mit ihren Bedeutungsübertragungen sein. Von daher überrascht es kaum, dass sich Quentin Tarantino in einem Interview auf den Vorwurf der Gewaltverherrlichung wie folgt äußert: »Nobody is getting killed, this isn't real blood and if you don't like it you mustn't like the colour red because you know it's not real.«182 Es mag zunächst überraschen, wenn der Showdown in »Kill Bill: Volume 1« vielerorts mit der Oper und dem Ballett in Verbindung gebracht wird. Zuvor konnte allerdings gezeigt werden, dass das Bewusstsein der eigenen Künstlichkeit des Films als Film und die daraus resultierenden selbstreflexiven Darstellungsformen sowie die Tendenzen zur Auflösung der Figureneinheit zwischen den Formen des epischen und des postdramatischen Theaters changieren. Die verschiedenen postdramatischen Anleihen auf der Handlungsebene (Entzeitlichung, Enträumlichung, Sprengung einer linearen Narra181

M. Przybilski/F. Schößler: Bell und Bill, Buck und Fuck, S. 47f.

182

Mark Olsen: »Turning on a dime«, in: Sight & Sound (Okt. 2003), S. 15.

202

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL« tion, Enthierarchisierung der Darstellungsmittel bzw. Emanzipation der Signifikanten) gleichen dem insofern, dass sie ebenfalls als Fortführungen und Weiterentwicklungen epischer Theatermittel gesehen werden können. Vor diesem Hintergrund ist auch die Nähe von »Kill Bill« (insbesondere des Schlusskapitels von Volume 1) zur Oper nicht verblüffend. Das Opernhafte, welches Lehmann in seiner modernen Form von Wilsons operas als Paradebeispiel für das Postdramatische sieht, entspringt den Theatererneuerungen Bertolt Brechts. Gemeinsam mit seinem musikalischen Sozius Kurt Weill hat Brecht die Oper mit »Mahagonny« und der »Dreigroschenoper« revolutioniert. Genaueres zu dieser Erneuerung findet sich bei Jan Knopf: »Tatsache ist jedoch, dass Brecht und Weill eine neue Form der ›Oper‹ entwickelt haben, zu der weder dieser Name noch Musical oder Operette passen: eine Anti-Oper besonderer Art, die gegen die ›hohe Kunst‹ eingesetzt ist und die Mittel des Trivialen hemmungslos nutzt.«183

Unter Rückbesinnung auf Traditionelles ist Brecht also die Schöpfung einer neuen Form gelungen. Wenn Brechts Opernverständnis gegen die ›hohe Kunst‹ Verwendung findet, richtet es sich gegen die eigenen Wurzeln. Hierbei bewegt sich das neu geschaffene Werk in dem Spannungsfeld zwischen Imitation, Parodie und Neuschöpfung. Das ›happy ending‹ der »Dreigroschenoper« ist zum Beispiel in keiner Weise aus der Handlung begründet, stattdessen »markiert der in jeder Hinsicht aufgesetzte Schluss das ganze Geschehen als Kunstprodukt.«184 Der überraschende Ausgang eint die brechtsche Oper mit dem opernhaften Schwertkampf aus »Kill Bill«. Zwar ist ORen Ishiis Tod ebenso gewiss wie die Umsetzung des Titels am Ende von »Kill Bill: Volume 2«, nämlich die Realisierung des Imperativs »Kill Bill«, doch lassen die idyllischen, wenn auch vieldeutigen Schlussbilder von Mutter und Tochter in einem Motel die nötige Plausibilität vermissen. Eine zweite Gemeinsamkeit ist darin gegeben, dass Brechts Ziel der Erneuerung der Oper, wie Knopf betont, mit den Mitteln des Trivialen erreicht wird, denn hierin folgt Tarantino dem Theatermacher konsequent, fügt er doch seiner Oper »Spaghetti-Western […], einen billigen italienischen Thriller, Pop-Samurai-Filme, hier noch einen Monsterfilm, dort noch einen Rache-

183

J. Knopf: Bertolt Brecht, S. 113.

184

Ebd., S. 114.

203

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE film«185 hinzu; Tarantinos Mittel sind an Trivialität kaum zu überbieten. In Anbetracht der handwerklichen Erneuerungen, die Tarantinos Kung-Fu-Oper durch die Mittel des Films erfährt, erweist sich sein Vorgehen zudem als Brecht verpflichtet, da auch Brechts Theaterrevolutionen keine bestehenden Traditionen wie die etwa die aristotelische Form verwerfen konnte, sondern jene »vielmehr um wesentliche Techniken erweitert« und »in ihre ›Elemente‹ getrennt«186 hat. Die Ausgangssituation der vorliegenden Untersuchung des Films »Kill Bill« auf dramatische sowie postdramatische Spuren war jene, dass der Film zum Anlass genommen werden sollte, zwei zentrale Thesen des Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann zu überprüfen. Zum einen hat Lehmann darauf hingewiesen, dass Brechts episches Theater entgegen der Einschätzung seines Verfassers nicht anti-aristotelisch ist, da Brechts Konzentration auf die Fabel der aristotelischen Einschätzung entspricht, dass der Mythos die Seele des Dramas sei.187 Nach Lehmann gibt es bis zum Aufkommen des Postdramas überhaupt keine anti-aristotelische Ausprägung des Theaters: »Stellen wir zusammenfassend fest: das Theater des Absurden gehört wie das Brechts zur dramatischen Theatertradition. Einige Texte sprengen den Rahmen dramatischer und narrativer Logik. Aber erst wenn die Theatermittel jenseits der Sprache in Gleichberechtigung mit dem Text stehen und systematisch auch ohne ihn denkbar werden, ist der Schritt zum postdramatischen Theater getan. Daher wäre nicht von einer ›Fortführung‹ des absurden und epischen Theaters im neuen Theater zu sprechen, sondern der Bruch zu bezeichnen, daß sowohl das epische als auch das absurde Theater mit unterschiedlichen Mitteln an der Präsentation eines fiktiven und fingierten Text-Kosmos als Dominante festhalten, das postdramatische Theater nicht mehr.«188

Lehmanns Schlussfolgerung, dass ein klarer Bruch mit dem aristotelischen Drama erst im Postdrama erkennbar wird, beruft sich darauf, dass frühere Theaterformen noch ›der Präsentation eines fiktiven und fingierten Text-Kosmos als Dominante‹ verpflichtet seien. Damit erhebt Lehmann ein einzelnes Merkmal zu einem absoluten

185

»Quentin Tarantino über digitale Bilder, Entenpressen, Blutbäder und Kill Bill«, in: R. Fischer/P. Körte/G. Seeßlen: Quentin Tarantino, S. 7-10, hier S. 8.

186

J. Knopf: Bertolt Brecht, S. 78.

187

Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 19ff.

188

H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 89.

204

6.2 QUENTIN TARANTINO: »KILL BILL« und gattungsdeterminierenden Kriterium, worin zwingend der Versuch erkannt werden muss, die eigene Arbeit geradezu paradigmenbildend aufzuwerten. Lehmanns Klassifikation wurde zu Beginn dieses Kapitels entgegen gehalten, dass Brechts episches Theater prägnant auf postdramatische Theaterformen hindeute und daher auf der Schwelle zwischen dramatischem und postdramatischem Theater stehe. Die in diesem Kapitel vorgenommene Untersuchung dreier postdramatischer Wesensmerkmale (Selbstreflexivität, Auflösung der Figureneinheit, Abkehr von Handlung) anhand von Quentin Tarantinos »Kill Bill« hat handfeste Verankerungen im epischen Theater sichtbar gemacht. Demzufolge lassen sich die einzelnen Phänomene nicht eindeutig dem einen oder anderen Typus zuordnen. Von einem klaren Bruch zu sprechen scheint daher unangebracht.

205

7. Anpassung an film ische Konvent ionen im Theat er der neunz iger Jahre Im Wettstreit um die Gunst des Publikums, den die deutschsprachige Bühnenkunst spätestens mit Thomas Ostermeiers Erklärung im Tagesanzeiger aufgenommen hat,1 lassen sich seit diesem Zeitpunkt verschiedene Strategien unterscheiden, mittels derer sich Autoren, Regisseure und Intendanten gleichermaßen zu behaupten versuchen. Eine dieser Strategien lässt sich in der Tendenz erkennen, filmische Inhalte von der Leinwand auf die Bühne zu transferieren. Als besonders bühnengeeignet haben sich in diesem Kontext vornehmlich Kinofilme erwiesen, die ihrerseits wiederum auf Literaturvorlagen zurück gehen. Eine derartige Doppelung von Medienwechseln stellt beispielsweise die in Bochum inszenierte Dramenversion von Hal Ashbys 1971 entstandenem Film »Harold und Maude« dar, dem der australische Drehbuchautor Colin Higgins zugleich eine Romanfassung zur Seite gestellt hat. Dass der damalige Bochumer Intendant Matthias Hartmann mit der Entscheidung, in der Spielzeit 2001/02 eine Dramenfassung dieses Kultfilms von Gil Mehmert für das Schauspielhaus inszenieren zu lassen, nicht nur sein Programm eingeleitet hat, mit dem er sich von seinen Vorgängern abheben und eine Wende in der Geschichte des Hauses auslösen konnte, sondern geradezu stellvertretend für einen Wandel der gesamten deutschen Bühnenlandschaft in der Folge einsteht, lässt sich unter anderem an der Vielzahl der Nachahmer erkennen. Zwei Jahre nach der Bochumer Inszenierung fand sich »Harold und Maude« auf den Spielplänen fünf weiterer Theater,2 in der Spielzeit 2005/06 folgte eine Inszenierung an der Badischen Landesbühne Bruchsal und ein Jahr später kam noch eine Inszenierung des Staatstheaters Darmstadt hinzu. Ein weiteres Beispiel für die publi-

1

Siehe Kapitel 4.3.

2

In der Spielzeit 2003/2004 waren es Das Theater an der Effingerstraße in Bern, das E.T.A. Hoffmann Theater Bamberg, die Landesbühne Hannover sowie die Inszenierung am Jungen Theater Bonn und am Jungen Theater in Göttingen, die ebenfalls mit Bühnenversionen des Films aufwarteten.

207

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE kumswirksame Inszenierung eines Kinoerfolgs ist unter der Perspektive auf theatrale Filme bereits analysiert worden. Lars von Triers »Dogville« ist von Christian Lollike dramatisiert und im Jahr 2004 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin uraufgeführt worden. Dem Berliner Beispiel folgten in den Jahren darauf Inszenierungen an den Staatstheatern Stuttgart und Braunschweig sowie am Stadttheater Fürth und in der Spielzeit 2007/08 dann noch eine Inszenierung am Stadttheater Bremerhaven. Ein weiteres Beispiel für den Neuanfang des Theaters im Zeichen eines Neuen Realismus, wie ihn Thomas Ostermeier und seine Kollegen gefordert haben, ist der Erfolg der Bühnenadaptionen des norwegischen Films »Elling«, der die Konkurrenzsituation zwischen Theater und Kino bezeugt. Mit mittlerweile annähernd vierzig deutschsprachigen Inszenierungen verdeutlicht der Erfolg von »Elling« die Strategie deutscher Theaterhäuser um den Jahrtausendwechsel, die von der künstlerischen Leitung der Berliner Schaubühne proklamiert worden ist, nämlich neue Zuschauerschichten zu gewinnen, »die längst nicht mehr aus bildungsbürgerlichem Interesse ins Theater gehen, sondern sich intuitiv für gut erzählte Geschichten entscheiden, also meistens für das Kino.«3 Mit seiner außergewöhnlichen Entstehungsgeschichte, die von wechselseitigen Medienrelationen geprägt ist, stellt »Elling« ein Medienprodukt dar, das quasi aus dem Dazwischen verschiedener medialer Systeme entstanden ist. Am Anfang steht der Roman »Blutsbrüder« von Ingvar Ambjørnsen, der von Axel Hellstenius in das Theaterstück »Elling« umgeschrieben worden ist, das 1999 in Oslo Premiere hatte. Der Regisseur Petter Næss sorgte dann für die Transformation des Stoffes in den Film gleichen Titels, der 2001 in die Kinos kam. Durch diese Medienwechsel ähnelt »Elling« dem Stück »Herr Kolpert« von David Gieselmann, das im zweiten Unterkapitel der folgenden filmischen Theaterstücke analysiert wird (siehe Kapitel 7.2). Dem geht eine Analyse von John von Düffels Theatertext »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« voraus, der als intermedialer Mix das shakespearische Historiendrama »König Richard III.« und Quentin Tarantinos Film »Pulp Fiction« verbindet. Da die konkrete Analyse von Theatertexten, die wie »Herr Kolpert« und »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« genuin filmische Inhalte und Techniken in sich aufnehmen, eine Reflexion auf Medienwechsel beinhaltet, muss an dieser Stelle zunächst an eine bereits angesprochene Schwierigkeit dieses Phänomens innerhalb der Intermedialitätstheo3

Thomas Ostermeier [u.a.]: »Wir müssen von vorn anfangen«, in: TAZ vom 20.01.2000. Vgl. hierzu auch: Kapitel 4.3.

208

7. ANPASSUNG AN FILMISCHE KONVENTIONEN IM THEATER DER NEUNZIGER JAHRE rie angeknüpft werden. In der Kategorie ›Medienwechsel‹ finden sich bei Rajewsky so verschiedene literarische Phänomene wie Literaturverfilmungen und Drameninszenierungen. Während die Überführung eines literarischen Inhalts in filmische Form zweifelsohne die Kriterien dieser Kategorie erfüllt, was durch Erkenntnisse aus der Adaptionsforschung bekräftigt wird, vertritt die vorliegende Argumentation in Bezug auf Inszenierungen eines Dramas eine andere Position. Auch wenn es wie beispielsweise im postdramatischen Theater zu einem regelrechten Gegeneinander von Text und Inszenierung kommen kann, ist die Aufführung doch ein Bestandteil, der bei jedem Theatertext notwendigerweise mitgedacht werden muss, da Drama ja gerade als jene Gattung des poetischen Textes begriffen wird, die speziell auf eine Inszenierung auf dem Theater abzielt. Daher gilt die mittlerweile verbreitete Auffassung, dass »das Drama als ›szenisch realisierter Text‹ sich erst in der plurimedialen Aufführung vollendet«4 als unumstritten. Erst durch die Umsetzung der Textvorlage auf der Bühne entsteht Drama, »[d]enn auch ›Drama‹, von dem griechischen – genauer gesagt, dorischen – Verb ›dran‹ (tun, handeln) abgeleitet, bedeutet Handlung.«5 So gesehen würde es dem Untersuchungsgegenstand nur bedingt gerecht, die Inszenierung analog zu der akademischen Trennung in Literatur- und Theaterwissenschaft als Medienwechsel zu bezeichnen. Selbst bei innovativen Theaterformen wie dem Postdrama (siehe u.a. Kapitel 8), die mit einer Enthierarchisierung der Theatermittel auf eine Privilegierung der Inszenierungspraxis zusteuern, lassen sich Text und Inszenierung nicht vollkommen voneinander trennen. So kommt es, dass in den folgenden Analysen von Theaterstücken Aspekte der Inszenierung mitbedacht werden, ohne dass konkrete Inszenierungen in Form von Videoaufzeichnungen oder Ähnlichem als Untersuchungsgegenstand hinzugezogen werden. Aufgrund des mimetischen Anspruchs, der die Schnittmenge zwischen Theater und Film ausmacht, kommt der mitgedachten Inszenierung eine Sonderrolle zu, da sie zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen des ›Als ob‹-Charakters der intermedialen Bezugnahme führt: auf der Bühne kann ein nicht unbedeutender Teil des filmischen Zeichenrepertoires realiter umgesetzt werden. Hält Rajewsky generell fest, »daß ein literarischer Text das filmische System nicht realisieren, sondern immer nur ›thematisieren‹, ›imitieren‹ oder ›evozieren‹ kann,«6 so gilt dies 4

G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 5.

5

Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse, 6. aktualisierte Aufla-

6

I. Rajewsky: Intermedialität, S. 57.

ge, Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, S. 5.

209

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE also nur bedingt für Theatertexte. Der mitgedachte theatrale Bestandteil der Inszenierung, bei dem der Einsatz filmischer Mittel seit den neunziger Jahren ein nicht unwesentliches Merkmal darstellt, ermöglicht fremdmediale Bezugnahmen (z.B. in den Regieanweisungen), die im Moment der Inszenierung ihren Illusionscharakter verlieren und de facto Formen des fremdmedialen Systems annehmen. Bei all dem ist zu beachten, dass sich einige der charakteristischen Merkmale des innovativen Theaters der neunziger Jahre (welches in Kapitel 8 exemplarisch beschrieben wird) auch in Inszenierungspraxis und Textfassung verschiedener Theatertexte finden, welche im Folgenden als Adaptionen cineastischer Vorgehensweisen betrachtet werden. Solche Überschneidungen sind angesichts der Formenvielfalt des Gegenwartsdramas, »der gerecht zu werden sicher nicht einfach ist«,7 unvermeidbar.8 Bei einem Wesensmerkmal des ›neuen‹ Theaters liegt diese Überschneidung auf der Hand, stellt doch gerade die Einbeziehung filmischer Techniken (Digitalkameras, Leinwände, Videoprojektionen etc.) sowohl eine Erweiterung der konventionellen Theatermittel als auch einen Rekurs auf das filmische Medium dar. Deswegen ist bei Theatertexten, die verstärkt auf den Einsatz filmischer Mittel setzen, stets abzuwägen, welche Funktionen die Filmsequenzen, Projektionen etc. in Inszenierung und Text jeweils erfüllen. Für die in der Folge als Beispiele für ein am Kino orientiertes Theater herangezogenen Theatertexte gilt dieses Problem allerdings nur bedingt. Letztendlich bieten sich »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« von John von Düffel und David Gieselmanns »Herr Kolpert« 7

G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 56.

8

Daher weist Poschmanns Studie beispielsweise nicht mehr dramatische Texte aus, ohne jedoch auch eine fundierte Illustration des dramatischen Textes zu liefern. So wie sich das Paradigma des nicht mehr dramatischen oder postdramatischen Theatertext auf die Gesamtheit der Theatertexte auswirkt, so lassen sich theatrale Elemente auch in cineastischen Stücken finden und umgekehrt. Bei Poschmann finden sich diesbezüglich widersprüchliche Aussagen. Zum einen wendet sie ein, dass »sich die Nutzung der traditionellen dramatischen Form heute nur in den wenigsten Fällen wirklich problemlos [vollziehe], zumeist wird sie umfunktioniert oder von innen heraus dekonstruiert (etwa durch selbstbezügliches Spiel mit der dramatischen Form, Irreführung der Rezipienten oder Verlagerung des Interesses auf die poetische Funktion der Sprache)«. G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 56. An anderer Stelle heißt es hingegen: »Die meisten der fürs Theater geschriebenen Texte weisen auch heute noch die strukturellen Merkmale des Dramas auf und nutzen damit die dramatische Form.« Ebd., S. 65.

210

7.1 JOHN VON DÜFFEL: »SHAKESPEARE, MÖRDER, PULP & FIKTION« sogar genau deshalb als Beispiele an, da ihre Bezugnahmen auf filmische Vorbilder ausschließlich inhaltlicher Natur sind.

7.1 John von Düffel: »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« Die erste Analyse im Bereich der filmischen Theaterstücke widmet sich mit John von Düffels »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« einem Text, an dem sich einige zentrale Punkte zum Spannungsfeld zwischen Kino und Theater ausführen lassen, die bereits genannt worden sind. Wurde im Vorangegangenen beispielsweise auf das Abhängigkeitsverhältnis von Text und Inszenierung hingewiesen, welches dafür verantwortlich ist, dass man bei Drameninszenierungen nicht ohne Weiteres von Medienwechseln sprechen kann, auch wenn Rajewsky dies vorschlägt, so spiegelt sich diese starke Zusammengehörigkeit in dem Umstand, dass es mittlerweile mehrere Inszenierungen von »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« gegeben hat,9 obwohl der Text selbst unveröffentlicht ist.10 Hier kommen zum einen die prekäre wirtschaftliche Situation der Verlage, die eine Publikation von Gegenwartsdramen nur selten ermöglicht, und zum anderen die Dominanz der Inszenierung zusammen, nach der die Bühnenrelevanz eines Theatertextes entscheidender ist als die Form seiner schriftlichen Fixierung. Jenseits der ungewöhnlichen Editionslage bietet das Stück jedoch zunächst Konventionelles. Zwei Mörder erhalten von einem Intriganten den Auftrag, einen politischen Gegner aus dem Weg zu räumen. In der Folge lebt das traditionell auf Rede und Gegenrede beruhende Stück von der Frage, ob und – wenn ja – wie die beiden den Auftrag ausführen. Von dem paradigmatischen Hintergrund des postdramatischen Theaters, der die Theaterlandschaft um den Jahrtausendwechsel prägt, hebt sich dieses Stück daher prägnant ab. Es gibt Figuren und es gibt eine Handlung, die darüber hinaus auch noch ohne einen Einsatz neuerer Theatermittel verfolgt wird. 9

Der Uraufführung am Theater Basel unter der Regie von Oliver Held aus dem Jahr 1997 folgten eine Hand voll weiterer Inszenierungen an kleineren Theatern.

10

Für die Textfassung danke ich dem Merlin Verlag, der die Aufführungsrechte an dem Stück besitzt. Die Quellenangaben, die in Klammern gesetzt werden, richten sich im Folgenden nach der Seiteneinrichtung dieses Manuskripts: John von Düffel: Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion. Unveröffentlichtes Manuskript, Vastorf: Merlin Verlag 1997.

211

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Überhaupt fällt der geringe Nebentextanteil auf: Abgesehen von Pausen gibt es nur acht Regieanweisungen, wodurch der Theatertext zwar optisch an ein Drehbuch erinnert, sich de facto aber unter Vernachlässigung der von Aristoteles beschriebenen opsis (Schau, Szenerie) und melopoiía (Gesang, Musik) auf die traditionellen Theaterelemente mythos und lexis, Handlung und Figurenrede, konzentriert und damit äußerst dramatisch konzipiert ist.11 Der formalen Traditionstreue steht auf inhaltlicher und stilistischer Ebene ein komplexes Netz aus intermedialen Bezügen gegenüber, deren Eckpunkte bereits im Titel benannt werden. Während ›Shakespeare‹ im Stücktitel metonymisch für das dramatische Werk des englischen Dichters steht, also in der intermedialen Taxonomie eine intermediale Systemreferenz darstellt, liefert die Anspielung auf Quentin Tarantinos »Pulp Fiction« als explizite Einzelreferenz den zweiten Bezugspunkt. Das im Stücktitel zwischen ›Shakespeare‹ und ›Pulp‹ bzw. ›Fiktion‹ angeordnete Element ›Mörder‹ benennt die Analogie, die einen Vergleich der beiden zunächst scheinbar unvergleichbaren Medienprodukte legitimiert: in Shakespeares Drama treten ebenso wie in Tarantinos Film zwei Mörder auf, die davon leben, dass sie auf Bestellung töten. Unter zusätzlicher Berücksichtigung des Untertitels wird deutlich, dass der Verweis auf Shakespeare nicht nur allgemein auf das Werk hindeutet, sondern totum pro parte als Markierung des Bezugs auf das Historiendrama »König Richard III.« im Speziellen fungiert. Im Untertitel wird der Text nämlich wie folgt beschrieben: »Shakespeares Mörderszene aus RICHARD III weitergesponnen im Licht von Quentin Tarantinos PULP FICTION von John von Düffel«. Dass die intermedialen Bezugspunkte im Paratext explizit genannt werden, hat zur Folge, dass sich das Stück für eine intermediale Analyse anbietet, die als angewandtes methodisches Vorgehen in der Tradition einer Intertextualität broich-pfisterscher Prägung steht. Bei diesem eng gefassten Konzept ist Intertextualität an das Bewusstsein des Autors gekoppelt. Anspielungen, Zitate und Analogien müssen be-

11

An dieser Stelle ist anzumerken, dass einige Argumente gegen die Verwendung der Bezeichnungen ›Haupttext‹ und ›Nebentext‹ sprechen. Zum einen wird eine Hierarchie im Stellenwert impliziert, zum anderen wird der Umstand ausgeblendet, dass die Art und Weise, wie etwas gesagt wird, mitunter bedeutender sein kann als der Inhalt der Nachricht. Dies zeigt sich in kommunikationspsychologischer Perspektive, wenn eine Nachricht auf der Mitteilungsebene in Widerspruch zur Meta-Ebene steht und es zu so genannten ›inkongruenten Nachrichten‹ kommt. Vgl. hierzu: F. Schulz von Thun: Miteinander reden, S. 35ff.

212

7.1 JOHN VON DÜFFEL: »SHAKESPEARE, MÖRDER, PULP & FIKTION« wusst vom Autor eingesetzt werden; mehr noch, der Autor soll auch vom Leser erwarten, dass die in den Text eingearbeiteten Bezüge auf andere Texte als solche erkannt werden.12 Da im vorliegenden Fall der Untertitel die Autorintention offenbart, womit zugleich alle Zweifel an der Beabsichtigung der Bezugnahmen ausgeräumt werden, eignet sich das Stück für eine solche eingeschränkte intermediale Analyse in besonderem Maße. Allerdings muss die Analyse unter Beachtung allgemeiner Schwächen dieser methodischen Vorgehensweise besonderes Augenmerk darauf richten, dass einzelne Bezüge nicht bloß beschrieben und zugeordnet, sondern bezüglich ihrer Funktionsweisen und Auswirkungen im Wechselspiel zwischen Shakespeare und Tarantino hinterfragt werden. In Quentin Tarantino fungiert ein Filmregisseur als Zitatgeber, der seinerseits gerade das Zitieren, Mischen, Montieren und Re-Arrangieren von Prätexten zum ästhetischen Prinzip erhoben hat. Seine Filme führen den »Zuschauer in ein Kabinett von Phantasmagorien, von Bildern, Zitaten und Täuschungen«13 und gelten daher wie »Pulp Fiction« als »Prototyp[en] des postmodernen Films«.14 Aufgrund seiner häufig trivialen Quellen – es handelt sich zumeist um Schundliteratur (›Pulp Fiction‹) oder sogenannte B-Movies – ist dem Filmemacher u.a. auch der Beiname »King of Pulp«15 verliehen worden. In der Tat, Tarantino greift auf alles zurück, was ihm unter die Augen kommt, wobei der ästhetische Wert der Quelle eine untergeordnete Rolle spielt, wie er auf die Frage nach dem Hommagecharakter seiner Filme in einem Interview betont hat: »I steal from everything. Great artists steal, they don’t do homages.«16 Das Eingeständnis, ein Dieb zu sein, macht diese Replik zu einer zentralen Aussage über Tarantinos Arbeitsweise, die sich unterschiedlich verstehen lässt. So entkräftet Tarantino einerseits Plagiatsvorwürfe, indem er offen zugibt, sich bei anderen bedient zu ha-

12

Vgl. auch: U. Broich: Formen der Markierung von Intertextualität, S. 31.

13

Diese Aussage ist zwar auf »Kill Bill« gemünzt, gilt aber gleichermaßen für »Pulp Fiction«. Vgl. M. Przybilski, F. Schößler: Bell und Bill, Buck und Fuck, S. 42.

14

Knut Hickethier: »Filmanalyse: Pulp Fiction«, in: Jürgen Felix (Hg.), Moderne

15

So lautet der Titel der Werkübersicht von Paul A. Woods. Vgl. Paul A.

Film Theorie, Mainz: Bender 2002, S. 97-103, hier S. 97. Woods: King of Pulp. The Wild World of Quentin Tarantino, London: Plexus 1998. 16

Ebd., S. 44.

213

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE ben,17 und führt andererseits Tendenzen in der akademischen Beschäftigung mit Tarantinos Werk ad absurdum, die intermediale Bezüge in seinen Filmen als Hommage im Sinne einer Einreihung in die Filmhistorie beschreiben, was letzten Endes auf eine Veränderung in der Bewertung des Œuvres hinausläuft. Mit der Bewegung weg vom Genrekino hin zum etablierteren Autorenkino wird eine künstlerische Aufwertung angestrebt, die Tarantinos Aussage, dass große Künstler immer stehlen, konsequent dekonstruiert. Vor allem wird durch das Diebstahlgeständnis hervorgehoben, wie Tarantino selbst seine Arbeitsweise sieht, was an dieser Stelle gleichsam auf John von Düffels Theaterstück hindeutet. Indem von Düffel sein Stück mit shakespearischen und tarantinoesken Anleihen versieht, richtet er seine Arbeit also wesentlich nach Tarantinos Grundprinzipien des filmischen Schaffens aus. Das Tarantino-Prinzip basiert auf der Vorstellung von Kunst »als reinem Zitat«,18 der zufolge jeder seiner Filme »eine Textur aus lauter verborgenen Links, aus vernetzten Bildern«19 hervorbringt. Mit John von Düffels stilistischer Orientierung an »Pulp Fiction« schließt sich ein Kreis, der zwischen den Polen Film und Literatur verläuft, hat doch Quentin Tarantino die Machart von »Pulp Fiction« seinerseits nach literarischen Vorbildern gestaltet. Konkret hätte J.D. Salingers »Glass Family« als strukturelle Vorlage für ein Verfahren gedient, dass der Regisseur wie folgt beschreibt: »Romanautoren können das tun, weil ihnen ihre Figuren gehören, sie können einen Roman schreiben und eine Hauptfigur aus einer anderen Geschichte wieder auftauchen lassen.«20 Eben 17

Vorwürfe dieser Art haben beispielsweise auf die stark ausgeprägten Parallelen von »Reservoir Dogs« und dem Hong-Kong-Film »City on Fire« aus dem Jahr 1989 von Ringo Lam hingewiesen. Tarantinos offene Antwort auf diese Vorwürfe (»It's a great movie. I steal from every single movie ever made.« Vgl. ebd.) erinnert an extreme Intertextualitätskonzeptionen wie die von Harold Bloom, nach der Gedichte immer Antworten auf vorangegangene Gedichte sind und nicht isoliert betrachtet werden können. Vgl. H. Bloom: Eine Topographie des Fehllesens, S. 28.

18

Die schon von Walter Benjamin vertreten wurde, wie Peter Körte angemerkt hat. Vgl. P. Körte: Geheimnisse des Tarantinoversums, S. 27.

19

Ebd., S. 18.

20

Ebd., S. 21. Dass dieses Verfahren neben Romanautoren auch Regisseuren offen steht, belegen zahlreiche Adaptionen filmischer Figuren. So agiert Vincent Vega in »Pulp Fiction« nicht nur als einzige Figur in allen drei Handlungssträngen (The Bonnie Situation, Vincent Vega und Marcellus Wallace's Wife, The Gold Watch) innerhalb des Films, sondern verweist zudem auf die Figur Vic Vega aus »Reservoir Dogs«, mit der er gewiss aber nicht identisch ist. Der von Harvey Keitel gespielte Mr. Wolf geht auf eine gleich-

214

7.1 JOHN VON DÜFFEL: »SHAKESPEARE, MÖRDER, PULP & FIKTION« dies ist das primäre Verfahren des Dramatikers von Düffel, das es ihm ermöglicht, den bösen Herzog von Gloster aus Shakespeares »König Richard III.« in seinem Stück auftreten zu lassen. Die dramatis personae werden durch zwei Meuchelmörder komplettiert, gegen Ende des Stücks stellt ein Bündel auf der Bühne Richards schlafenden Bruder George dar, den Herzog von Clarence. Die zwei Mörder, die als intertextuelle Verweise auf »Richard III.« intramediale Bezüge darstellen, tragen im Personenverzeichnis die zusätzlichen Bezeichnungen »Pulp« und »Fiktion«, die kaum als echte Namen gelten können, sondern zunächst einmal auf die Auftragskiller Jules Winnfield und Vincent Vega aus »Pulp Fiction« anspielen. Damit erfüllen diese Bezeichnungen in erster Linie die Funktion, den Text in seiner Gesamtheit in eine assoziative Nähe zu Tarantinos Kultfilm zu rücken. Auf diese Weise ergibt sich eine doppelte Lesart, die für einen nicht geringen Teil der Theatertexte und Regiekonzepte aus jüngerer Zeit charakteristisch ist. Diese Polyvalenz öffnet das junge Theater »allzu leicht dem Klamauk«,21 wie Christian Dawidowski hinsichtlich möglicher Gefahren dieser Entwicklung angemerkt hat, während »ihre Nähe zu den Medien Film und Fernsehen […] ein Übriges zur weiteren Popularisierung von Stoffen und Vermittlungsformen [leistet]«.22 Der Stoff, welcher in »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« popularisiert wird, ist die letzte Phase der ›Rosenkriege‹ um die englische Thronfolge, welche im vierten Teil von Shakespeares sogenannter York-Tetralogie verhandelt wird.23 Von Düffels Mörder erhalten zu Beginn des Stücks von Richard denselben Auftrag wie in »König Richard III.«: sie sollen den Herzog von Clarence eliminieren. Der namige Figur aus Luc Bessons Film »Nikita« zurück, die in John Badhams Remake »Codename: Nina« bereits von Keitel verkörpert wird. Weitere Figuren weisen ähnliche filmgeschichtliche Lebensläufe auf. Zur Ausgestaltung der drei verschiedenen Geschichten auf der discours-Ebene vgl. Robert Fischer: »Pulp Fiction«, in: R. Fischer/P. Körte/G. Seeßlen: Quentin Tarantino, Berlin: Bertz + Fischer 2004, S. 127-144. 21

Theater fürs 21. Jahrhundert, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Christian Dawidowski, München: Edition text + kritik 2004, S. 7.

22

Ebd.

23

Hier wird die Gefahr deutlich, die eine Intermedialitätsforschung mit sich bringt, die sich auf das Erkennen und Erläutern von Einzelreferenzen beschränkt, Zitate und Anspielungen also kontextualisiert, ohne dabei systemreferentielle Aspekte zu berücksichtigen. In einem solchen Fall könnte ein Stück wie »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« nur der Konservierung von »König Richard III.« dienen (siehe Kapitel 5.2). Deswegen ist für eine produktive Literaturwissenschaft die systematische Kopplung von Einzelund Systemreferenz zwingend notwendig.

215

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Ausgangspunkt entspricht also der dritten Szene des dritten Akts des »Richard«.24 Neben der inhaltlichen Positionierung in einem intramedialen Spannungsfeld (da auf Text-Text-Bezügen beruhend) fungieren intermediale Bezugnahmen als Ergänzungen zu den konventionellen Ausdrucksmitteln des Theaters. So befinden sich die Mörder laut Regieanweisung »im Gespräch mit Richard, einer diabolischen Darth-Vader-Stimme« (1), wodurch auf die Star Wars-Saga von George Lucas verwiesen wird. Wer angesichts der Tatsache, dass Richard bloß als körperlose Stimme auftritt eine Anleihe bei postdramatischen Theaterformen vermutet,25 sieht sich getäuscht. Die Körperlosigkeit Richards kommt vor dem filmischen Hintergrund der Bezugsquelle eine andere Bedeutung zu, wie die folgenden Ausführungen aufzeigen sollen. Insgesamt hat Richards Stimme am Text mit drei Repliken Anteil, die alle zu Beginn des Stücks stehen und stilistische Variationen der Vorlage darstellen. ›Weitergesponnen im Licht von Tarantinos PULP FICTION‹ – wie es im Untertitel bei von Düffel heißt – wird aus der schlegel-tieckschen Anrede des Richard an die Mörder »Nun, meine wackern, tüchtigen Gesellen, / Geht Ihr anjetzt, den Handel abzutun?«26 eine Replik, die von der coolness des Tons her dem Genre des Gangsterfilms entspricht: »Nun, meine lieben Henkersknechte / Bringt ihr das Ding über die Bühne jetzt?« (1) Es folgt eine ganze Reihe von Variationen und Umformungen im intermedialen Wechselspiel, die die im Untertitel angekündigte Stoßrichtung verfolgt: die Mörderszene im Stile von »Pulp Fiction« wiederzuerschaffen.

24

An derselben Stelle setzt Stefan Puchers Inszenierung am Schauspielhaus Zürich ein, die nicht nur die Mörder an Richards Seite stellt, sondern das gesamte Ensemble, das – eine Kreis- und Klammerstruktur herbeiführend – zu Beginn vom Publikum mit einem Applaus bedacht wird und von einem Mädchen Blumen überreicht bekommt, wodurch alle dramatis personae als Figuren in einem Spiel böser Männer charakterisiert werden.

25

Zur Stimme im postdramatischen Theater vgl. Hans-Thies Lehmann: »Just a word on a page and there is the drama: Anmerkungen zum Text im postdramatischen Theater«, in: Theater fürs 21. Jahrhundert, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Christian Dawidowski, München: Edition text + kritik 2004, S. 26-33.

26

William Shakespeare: »König Richard III«, in: Ders.: Werke. Englisch und Deutsch. In zwölf Bänden, hrsg. von Levin Ludwig Schücking, Bd. 3, Berlin: Tempel-Verlag 1970, S. 25.

216

7.1 JOHN VON DÜFFEL: »SHAKESPEARE, MÖRDER, PULP & FIKTION« Damit bietet das Stück Anlass zu verschiedenen intertextuellen Überlegungen, die sich in Anschluss an Genettes Transtextualtität folgendermaßen skizzieren lassen. In Bezug auf Shakespeare stellt das Stück eine Travestie dar: es transformiert den Ausgangstext, den Genette Hypotext nennt, bei einem gleich bleibenden Thema auf stilistischer Ebene. Nimmt man hingegen »Pulp Fiction« als gedanklichen Ausgangspunkt, so läge ein ›Pastiche‹ vor, das nach Genette darauf abzielt, einen Hypertext ganz im Stile eines Hypotextes zu schaffen, der dann durchaus auch dem Autor des Hypotextes zugeschrieben werden könnte.27 In Analogie zu den Nachdichtungen anlässlich des literarhistorischen Phänomens, das als Werther-Fieber bekannt ist, ließe sich »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« daher auch als ›Pulp Fictioniade‹ bezeichnen, würde dabei nicht ein wesentlicher Gesichtspunkt außer Acht gelassen. Neben der stilistischen Veränderung, die in erster Linie die Ausdrucksweise der Figuren betrifft, wird der Ursprungstext auch inhaltlich variiert. Zeigen sich die Mörder bei Shakespeare angesichts der Warnung Richards vor dem rhetorischen Talent seines Bruders noch äußerst wortkarg, ändert sich dies bei von Düffel entscheidend. Der Warnung (»Zugleich verhärtet euch, hört ihn nicht an; / Denn Clarence ist beredt und kann vielleicht / das Herz euch rühren, wenn ihr auf ihn achtet.«28) entgegnet der erste Mörder als Wortführer in der Übersetzung von Schlegel und Tieck: »Pah, gnäd’ger Herr! Wir schwatzen nicht erst lang; / Wer Worte macht, tut wenig: seid versichert. / Die Hände brauchen wir, und nicht die Zungen.«29 Bei von Düffel benötigt der erste Mörder für dieselbe Aussage weitaus mehr als jene drei Verse im Original, was nun vollständig zitiert sei, um die Diskrepanz zu veranschaulichen: »Palaver, Sir, ist unsere Sache nicht. Wer Reden schwingt, versäumt zu handeln. Wer sich mit Worten aufhält, schwänzt die Tat. Ein Mann der Tat verabscheut viele Worte. Und wer nicht handelt, redet meist zu viel. So ist ein Redner oft ein schlechter Händler. Oder ein guter Redner handelt schlecht. Und wer als Schlächter handelt, hält den Mund. Denn nur ein stummer Schlächter ist ein guter Schlächter, ja, besser wär’s, er redet nichts

27

Was in diesem Fall freilich höchst abwegig wäre.

28

W. Shakespeare: König Richard III, S. 26.

29

Ebd.

217

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Weil Worte schaden nur der guten Tat. Auch wenn’s ein Mord ist, gute Täter braucht’s Diskret, verschwiegen, schweigsam wie ein Grab. Da kann man lange suchen heutzutage Denn anstatt Taten tut man Worte sehen Wo man auch hinschauen tät’, tut keiner was. Ja, guter Mord ist teuer, gerade heuer Das ist’s so ziemlich, was ich sagen wollt. Auch wenn’s nicht gut gesagt, laßt mich nur machen.« (2)

Berücksichtigt man daneben noch den Umstand, dass der Sprecher dieser Worte, der im Personenverzeichnis als ›Pulp‹ geführt wird, im Text aber gemäß der Vorlage als ›Erster Mörder‹ erscheint, der schlauere und wortgewandtere der beiden Kriminellen ist, was bereits der ersten Äußerung des zweiten Mörders zu entnehmen ist, mit welcher er die Rede seines Kollegen kommentiert (»Der Meinung, mein ich, bin ich auch, Mylord.« [2]), lässt sich die Hauptveränderung im düffelschen Text erkennen. Zwar sind die Mörder im »Richard« bereits Randfiguren, in deren Innenleben über den Dialog um Skrupel vor dem Erstechen eines Schlafenden (zumal für das elisabethanische Zeitalter) eine ungewohnte Einsicht gestattet wird. Doch bringt von Düffels Bearbeitung des Stoffes gerade solche Merkmale mit sich, mittels derer sich die Postmoderne, für die »Pulp Fiction« prototypisch einsteht,30 von vorangegangenen Strömungen und Epochen abgrenzt. Die intermediale Bezugnahme durch die Beinamen ›Pulp‹ und ›Fiktion‹ veranlasst die Leser/Zuschauer Text bzw. Inszenierung jeweils um jene Elemente zu ergänzen, die mit dem anzitierten Film assoziiert werden. Im Fall von »Pulp Fiction« wäre dies – das macht die Analogschaltung beider Texte durch von Düffel deutlich – in erster Linie genau der an der Mörderszene in »König Richard III.« beobachtbare Perspektivenwechsel, der anstelle der tragödienfähigen edlen Charaktere das plumpe Seelenleben von Diebesgesindel in den Mittelpunkt rückt. So wird vor dem Hintergrund des Gangsterbilds aus »Pulp Fiction« die Dummheit der Mörder überdeutlich, verstricken sie sich doch ebenso wie Jules und Vincent in Diskussionen, die an die »aberwitzige[n] Dialoge über Hamburger, Fußmassagen und Bäuche«31 erinnern, welche die Gewaltszenen bei Tarantino begleiten und konterkarieren. Wie die oben zitierte Ausführung des ersten Mörders über die eigenen Qualitäten zeigt, geht die Bezugnahme auf

30

Siehe oben. Vgl. K. Hickethier: Filmanalyse: Pulp Fiction, S. 97.

31

Ebd., S. 99f.

218

7.1 JOHN VON DÜFFEL: »SHAKESPEARE, MÖRDER, PULP & FIKTION« Shakespeare mit einem ironischen Bruch einher. Derjenige, der das Handeln über das Reden stellt, tut dies in einer rhetorisch ausgeschmückten Rede, obwohl er von Berufs wegen jene Schweigsamkeit haben sollte, die er mit zahlreichen Worten lobpreist. Infolge des intermedialen Verweises auf »Pulp Fiction« aktualisieren die Leser nun die Textpassagen, indem sie während der dem Lesevorgang inhärenten inneren Inszenierung die Repliken als Aussagen im Stile der Killer des Marcellus Wallace aus dem Tarantinoversum verstehen. So betrachtet haben die Leser einen weiteren Informationsvorsprung, der den ironischen Grundton über die Grenzen einer gewöhnlichen dramatischen Ironie hinausreichen lässt. Somit geht der postmoderne Geist, der in Tarantinos Film vorherrscht, auf von Düffels Stück über, das gleichermaßen an dem richtungweisenden ›Anything goes‹ partizipiert, welches die Grundlage für die erzählund filmtechnischen Neuerungen bei Tarantino bildet, die Robert Fischer in seiner Analyse des Films auf die passende Formel bringt: »Nichts scheint unmöglich, alles gestattet.«32 Des Weiteren bedingt die postmoderne Konzeption der Figuren, die »sich als wandelnde Zitate bewegen«,33 den Verlust von Identifikationsmöglichkeiten, der für das konventionelle Hollywood-Kino ebenso bedeutsam ist wie für die klassische Tragödie.34 Neben dem Wissensvorsprung und dem ironischen Bruch, der aus der ungleichen Informationsvergabe resultiert, aktualisiert und ergänzt die Orientierung am postmodernen Film klassische Dramenvorstellungen noch auf eine andere Weise. Dies lässt sich veranschaulichen, wenn die zuvor aufgeschobene Frage nach Richards Körperlosigkeit bei von Düffel erneut aufgenommen wird, bei der die intermediale Bezugnahme auf die »Star Wars«-Trilogie35 eine ähnliche Funktion erfüllt wie die Verweise mittels der Beinamen der Mörder Pulp und Fiktion. Shakespeares Richard, bei von Düffel als Darth Vader-Stimme präsent, zeichnet sich im Vergleich zu anderen Dramenfiguren insbesondere dadurch aus, dass seine niedrigen Beweggründe von Anfang an offen zutage treten. Das Stück beginnt mit einem Monolog Richards, der das Publikum mit Informationen ausstattet, die den 32

R. Fischer: Pulp Fiction, S. 132.

33

P. Körte: Geheimnisse des Tarantinoversums, S. 30.

34

Vgl. ebd.

35

Zur Zeit der Entstehung von »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« im Jahr 1997 war die Trilogie um Anakin Skywalkers Jugend und Adoleszenz in den Episoden 1 bis 3 zwar angekündigt, jedoch noch nicht abgedreht (in die Kinos kam »Star Wars: Episode I – Die dunkle Bedrohung« dann 1999).

219

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE übrigen Figuren verborgen bleiben, womit ein Wissensvorsprung geschaffen wird, der die Grundvoraussetzung für ein Wirken der sogenannten dramatischen Ironie darstellt. Gleich zu Beginn (I, 1) erfährt der Zuschauer von Richard das Folgende: »Ich nun, in dieser schlaffen Friedenszeit, Weiß keine Lust, die Zeit mir zu vertreiben, Als meinen Schatten in der Sonne späh’n Und meine eigne Missgestalt erörtern; Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter Kann kürzen diese fein beredten Tage, Bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden Und feind den eitlen Freuden dieser Tage.«36

Der Zuschauer weiß also um Richards Bösartigkeit und wird »damit wider Willen zu einer Art Komplizenschaft gezwungen.«37 Diese Form der Verbrüderung von Figur und Publikum ist ein genuin theatrales Mittel, das nicht selten mit einem weiteren konventionellen Theatermittel, dem Beiseitesprechen, kombiniert wird.38 Auch dem Tötungsauftrag, mit dem der von düffelsche Theatertext einsetzt, gehen im Prätext unmittelbar ein Monolog und eine Beiseite-Replik voraus. Im Gespräch mit Königin Elisabeth und Lord Rivers gibt sich Richard christlich, indem er Rivers’ Aussage, dass es tugendhaft von Richard sei, für jene zu beten, die ihm Böses wollten, erwidert: »Das tu’ ich immer, weislich so belehrt«.39 Daraufhin beschränkt sich die Kommunikation auf Richard und das Publikum, wenn er im Beiseite hinzufügt: »Denn flucht’ ich jetzt, hätt’ ich mich selbst verflucht.«40 Im Anschluss treten die übrigen ab, und Richard offenbart seine üblen Absichten im Monolog: »Ich tu’ das Bös’ und schreie selbst zuerst. Das Unheil, das ich heimlich angestiftet, Leg’ ich den andern dann zur schweren Last. Clarence, den ich in Finsternis gelegt,

36 37

W. Shakespeare: König Richard III, S. 6. Gisela Hesse: »King Richard III«, in: Kindlers Neues Literatur Lexikon, hrsg. von Walter Jens, Bd. 15, München: Kindler 1988, S. 281-283, hier S. 282.

38

Als genuin theatrale Mittel lassen sich Monolog und Beiseite bis auf Kleinformen wie das Kasperletheater zurückverfolgen, in denen die Funktionsweise überdeutlich zu erkennen ist. Vgl. zu diesem Phänomen bsp.: B. Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse, S. 59f.

39

W. Shakespeare: König Richard III, S. 25.

40

Ebd.

220

7.1 JOHN VON DÜFFEL: »SHAKESPEARE, MÖRDER, PULP & FIKTION« Bewein’ ich gegen manchen blöden Tropf: Ich meine Stanley, Hastings, Buckingham, Und sage, daß die Kön’gin und ihr Anhang Den König wider meinen Bruder reizen. Nun glauben sie’s und stacheln mich zugleich Zur Rache gegen Rivers, Vaughan, Grey; Dann seufz’ ich, und nach einem Spruch der Bibel Sag’ ich, Gott heiße Gutes tun für Böses; Und so bekleid’ ich meine nackte Bosheit Mit alten Fetzen, aus der Schrift gestohlen, Und schein’ ein Heil’ger, wo ich Teufel bin.«41

Das zweifellos bösartige Wesen von Shakespeares Herzog von Gloster, seine Machtgier und sein Herrschaftswillen haben sich in mehr als vier Jahrhunderten zu einem prototypischen Bild des skrupellosen Intriganten verfestigt. Von daher ist kaum anzunehmen, dass der Herzog von Gloster in von Düffels Stück einer subtilen psychologischen Ausarbeitung bedarf. In den neunziger Jahren ist sich das Publikum bewusst, dass Richard ein Bösewicht ist, was der Folgetext zudem mit anderen Mitteln als Monolog und Beiseite unterstreicht. Kommuniziert bei Shakespeare die Figur noch direkt mit dem Publikum, wenn sie ihr wahres Wesen offenbart, verlagert sich die Kommunikation im postmodernen Theatertext auf eine andere Ebene. Der Rekurs auf Darth Vader stellt eine produktive Integration der Mittel des jüngeren Mediums im Rahmen des älteren dar, der sich zwingend einstellt, sobald neue mediale Formen die Stelle von althergebrachten einnehmen, wie Bertolt Brecht schon in seinen Überlegungen zum Einfluss des Films auf literarische Verfahren festgehalten hat.42 Da die blecherne Maschinenstimme Darth Vaders (zumindest für die zwischen 1970 und 1990 Aufgewachsenen) eine ziemlich deutliche Markierung darstellt, greifen Leser und Zuschauer bei der Wahrnehmung des von düffelschen Richard gleichermaßen auf das Medienerlebnis »Star Wars« zurück, in dem Darth Vader als Bösewicht agiert. Benötigt Shakespeare noch einige längere Textpassagen, um dem Publikum den niederen Charakter der Figur zu offenbaren, so gelingt von Düffel mit Hilfe der intermedialen Bezugnahme eben dasselbe in stark verknappter Form. Die

41

Ebd.

42

Vgl. Bertolt Brecht: »Der Dreigroschenoperprozeß. Ein soziologisches Experiment«, in: Dieter Prokop (Hg.), Materialien zur Theorie des Films. Ästhetik, Soziologie, Politik, München: Hanser 1971, S. 123-145. Vgl. hierzu auch: I. Rajewsky: Intermedialität, S. 33.

221

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Kommunikation findet dabei nicht mehr zwischen Figur und Publikum statt, sondern verlagert sich auf den Autor von Düffel, der mit dem Publikum in Kommunikation tritt, indem er auf gemeinsame Medienerfahrungen anspielt. Die Ironie der Szene hebt sich insofern vom gängigen Muster der dramatischen Ironie ab, als dass sie quasi auf einer Metaebene zwischen Autor und Publikum entsteht. Hierbei macht das Drama seine Vorteile gegenüber den anderen literarischen Gattungen geltend, da es das filmische Element, die Maschinenstimme des dunklen Jedi-Ritters, nicht illusionistisch vermittelt, wie es in lyrischen und prosaischen Texten der Fall wäre, sondern tatsächlich auf der Bühne einsetzt.43 Ein derartiges Kalkulieren auf Effekte der dramatischen Ironie streift den Bereich des postdramatischen Theaters, für das die Verlagerung der Kommunikation auf eine Meta-Ebene charakteristisch ist: »Natürlich galt schon immer die Dualität des Theaters, dass eine Geste auf der Bühne sich zugleich ans Publikum wendet. Nun aber tritt die zweite Richtung so sehr hervor, daß sie das Interesse an der fiktiven Eigenwelt der Bühne überlagern kann.«44

Was in »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« im Anschluss an die Erteilung des Mordauftrags geschieht, ist ebenso wie die Funktionsweise der Darth Vader-Stimme auf einer Meta-Ebene angesiedelt. Die Worte Richards aus dem originalen Geschichtsdrama erscheinen leicht verfremdet, wenn es bei der Verabschiedung der beiden Handlanger heißt: »Versaut’s nicht, Jungs. Jetzt frisch ans Werk! / Weint Mühlsteine, wo Narren Tränen / Um Bruder Clarence in den Tod zu ziehen.«(2) Durch die Umwandlung eines Aussagesatzes in den Imperativ wird die Replik aus dem Kontext gerissen, wodurch sie an Aussagekraft verliert. Bei Shakespeare versichert der wortkarge erste Mörder seinem Herrn, dass er und sein Begleiter die Hände und nicht die Zungen benutzen werden und die Sorge vor Clarence’ Beredsamkeit daher vollauf unbegründet sei. Im Gegen-

43

Insofern begründen sich Zweifel am Umgang mit dem Drama, der in Rajewskys Intermedialitätsband gepflegt wird, nach dem das Drama weitgehend gleichwertig mit der Lyrik und der Prosa abgehandelt wird. Vgl. zu diesem Aspekt: I. Rajewsky: Intermedialität, S. 70; Heinz-B. Heller: »Historizität als Problem der Analyse intermedialer Beziehungen. Die ›Technifizierung der literarischen Produktion‹ und ›filmische‹ Literatur«, in: Akten des VII. Internationalen Germanistenkongresses Göttingen 1985, Bd. X, hrsg. von A. Schön, S. 277-285, hier S. 279.

44

H.-T. Lehmann: Die Gegenwart des Theaters, S. 17.

222

7.1 JOHN VON DÜFFEL: »SHAKESPEARE, MÖRDER, PULP & FIKTION« zug lobt Richard die Kaltherzigkeit seiner Schergen: »Ihr weint Mühlsteine, wie die Narren Tränen; / Ich hab’ Euch gerne, Burschen: frisch ans Werk!«45 Durch die Dekontextualisierung kommt es nach Richards Abgang bei von Düffel unter den Mördern zu der zwangsläufigen Frage, wie Richards Anweisung zu verstehen sei. Entlang dieser Frage entspannt sich ein Gespräch, das den Vergleich mit Fußmassagenund »Like a Virgin«-Dialogen aus dem Tarantinoversum nicht zu scheuen braucht. Von Düffels Mörder kommentieren die MühlsteinReplik, wägen eventuelle akustische Täuschungen ab und erweisen sich somit in dieser Textpassage als Shakespeare-Interpreten, was der insgesamt ein Sechstel des Textumfangs umfassenden Passage einen metatextuellen Charakter im Sinne Genettes verleiht.46 Da die Metaisierung intradiegetisch angelegt ist,47 die Figuren sich aber nicht bewusst sind, dass sie gerade Shakespeare-Verse reflektieren, wird das Publikum wiederum mit einem Wissensvorsprung ausgestattet, der allerdings nicht eindeutig verortet werden kann, da er zwischen dramatischer Ironie und postmoderner Metaisierung angesiedelt ist. Eindeutig postmoderne Momente weist »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« allerdings an verschiedenen Stellen auf, an denen die Figuren sich ihrer eigenen Fiktivität bewusst werden. Als sie Clarence im Verließ schlafend vorfinden, überkommen die Mörder wie auch im Prätext Skrupel vor der Tat. Anders als der shakespearische Clarence wacht das Opfer bei von Düffel nicht auf und versucht dementsprechend auch nicht, die Mörder umzustimmen. Stattdessen schweifen die Mörder ab und rekurrieren auf ihren Status als Figuren in einem Drama, was gleichermaßen zur Unterhaltung wie zur Distanzierung der Zuschauer beiträgt: ZWEITER MÖRDER

Mensch, so’n Schlaf umbringen, das ist ne schlimme Sache. Macbeth killte den Schlaf und konnte schlafen nimmermehr.

45

W. Shakespeare: König Richard III, S. 26.

46

Metatextualität macht für Genette eine Ausprägung von Transtextualität aus, wie Genette das allgemein als Intertextualität bezeichnete Phänomen betitelt. Metatextualität liegt dann vor, wenn ein Text A sich kommentierend mit einem Text B auseinandersetzt, ohne diesen unbedingt zu zitieren. Vgl. diesem Typus von Text-Text-Bezügen: G. Genette: Palimpseste, S. 13.

47

Zu den verschiedenen Typen von Metaisierungen vgl. I. Rajewsky: Intermedialität, S. 82.

223

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE ERSTER MÖRDER

Macbeth?

ZWEITER MÖRDER

N Kollege.

ERSTER MÖRDER

Kenn ich nich.

ZWEITER MÖRDER

Anderes Stück. Tragischer Ausgang. Litt ewig an Schlaf-

ERSTER MÖRDER

Schrecklich.

ZWEITER MÖRDER

Auch von Shakespeare. (7)

losigkeit.

Stärker als bei dieser Erwähnung Macbeths und der Tatsache, dass er ›auch von Shakespeare‹ ist, tritt der autoreflexive Charakter, der durchaus eines der Hauptmerkmale postmoderner Literatur darstellt, an einer späteren Textstelle zutage. Als der zweite Mörder vor der Tat zurückschreckt, thematisiert er im typischen Gangsterjargon à la »Pulp Fiction« die aktuelle theatrale Aufführungssituation: »Auch wenn wir nich erwischt wern, laß nur mal so’n Typ wie Shakespeare komm, der sich uns ausdenkt, und dann stehn wir da, vor aller Welt, mit unser Albernheit und ungekämmt, im Rampenlicht, Spot an, das ist blamabel, Mann, so ham wir uns im Leben nicht blamiert. Die Nachwelt lacht sich scheckig.« (9)

Wenn die Figuren auf der Bühne an dieser Stelle ihre eigene Situation thematisieren, nämlich als Figuren eines Theatertextes einem Publikum vorgeführt zu werden, verschiebt sich die Tätigkeit der Schauspieler von der Repräsentation eines Teils der Wirklichkeit »in Richtung auf eine Auto-Deixis«,48 ihre »Anwesenheit als Zeigender selbst [wird somit] das Thema.«49 Damit erweist sich der »Hang der modernen und postmodernen Kunst zur Selbstthematisierung […] auch für das neue Theater als einer der Schlüssel zu seinem Maschinenraum.«50 Die analysierten metatextuellen51 Einschübe, die den Status der Figuren als fiktive Geschöpfe in einem fiktionalen Theatertext zum Thema haben, finden eine interessante Entsprechung in Tarantinos Film, was die Funktionsweisen der intermedialen Bezugnahmen abrundet. In »Pulp Fiction« kommt eine Angewohnheit Tarantinos zum Tragen, die als seine ganz persönliche Handschrift bezeichnet wer48

H.-T. Lehmann: Die Gegenwart des Theaters, S. 17.

49

Ebd.

50

Ebd.

51

Die Verwendung der genetteschen Terminologie begründet sich an dieser Stelle dadurch, dass ein Textbeispiel vorliegt, das die Vorzüge der Bezeichnung veranschaulicht. Mit der Unterkategorie ›Metatextualität‹ lässt sich das Verhältnis zwischen Hypo- und Hypertext genauer beschreiben als mit dem Dachbegriff ›Intertextualität‹.

224

7.1 JOHN VON DÜFFEL: »SHAKESPEARE, MÖRDER, PULP & FIKTION« den darf. Indem die Figuren in der Diegese auf die Biographie der Darsteller anspielen, kommt es zu einem Fiktionsbruch, da die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit überschritten wird. Dieses Besetzungsprinzip hat Tarantino bereits in »Reservoir Dogs« angewendet, indem er beispielsweise Nice Guy Eddie Cabot, den Sohn des Auftraggebers für den Banküberfall, mit Chris Penn besetzt hat. Dadurch wird das Gespräch über verschiedene Interpretationen des Madonna-Songs »Like a Virgin«, in dem das lyrische Ich mit der Sängerin gleichgesetzt und der Song als Metapher für große Penisse angesehen wird, eine zusätzliche Bedeutungsdimension, da mit Eddie alias Chris Penn zugleich der Bruder von Madonnas ExMann Sean Penn mit am Tisch sitzt. Während solche selbstironischen Phänomene aus der Warte der Postmoderne lediglich der Unterhaltung dienen, zielt die häufigste Form der Verschränkung von Wirklichkeit und Erzählwelt – die Anspielung auf die Filmographie von Schauspielern – auf etwas anderes ab. Diese Form lässt sich ebenfalls bereits in »Reservoir Dogs« beobachten, wo die Besetzung des Gangsterbosses Joe Cabot mit Lawrence Tierney über dessen Filmographie, die ihn mit über 50 B-Movie-Filmrollen52 seit dem zweiten Weltkrieg als »[l]egendary Hollywood ›tough guy‹«53 ausweist, zugleich einen Rekurs auf das Genre des Gangsterfilms an sich, im speziellen des heist movie, darstellt. Der Rekurs auf ein Genre ist auf das Medium Film als System gerichtet, somit gewinnt die Relation zwischen Hypo- und Hypertext architextuellen Charakter. Dieselbe architextuelle Zugkraft kann der Besetzung der Jackie Brown mit der Blaxploitation-Ikone Pam Grier oder der Entscheidung, David Carradine die Rolle des Bill in »Kill Bill« spielen zu lassen, bescheinigt werden. Die »Starpersona David Carradines steht […] für die interkulturellen Negotiationen und Hybridisierungen«,54 die »Kill Bill: Volume 1« in die Tradition des Easterners und »Kill Bill: Volume 2« in die des Westerns stellen, da Carradines Leinwandimage insbesondere durch die siebziger Jahre-Fernsehserie »Kung Fu« geprägt ist, in der er die Rolle des durch den amerikanischen Westen ziehenden Shaolin-Mönchs Kwai Chang Caine gespielt hat. Dank dieses Fiktionsbruchs reflektiert der Film »nicht allein bestimmte filmische ›basic narratives‹ einschließlich ihrer filmästhetischen und 52

Vgl. hierzu: Robert Fischer: »Reservoir Dogs«, in: R. Fischer/P. Körte/G. Seeßlen: Quentin Tarantino, Berlin: Bertz + Fischer 2004, S. 87-100, hier S. 99f.

53

So wird er in der IMDB (Internet Movie Database) geführt.

54

G. Blaseio/C. Liebrand: »Revenge is a dish best served cold.«, S. 27.

Vgl. http://www.imdb.com/name/nm0862937/bio vom 15.03.2009.

225

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE filmhistorischen Dimensionen«,55 wie Uwe Lindemann und Michaela Schmidt betont haben, »sondern ebenfalls die Ikonizität der vermeintlich nicht-fiktionalen Star-Images.«56 Der berühmteste Fall einer solchen Besetzungspraxis ist wohl die Wiederentdeckung John Travoltas in dem Gangsterfilm »Pulp Fiction«, der mit der Tanzwettbewerbsszene im ›Jack Rabbit’s Slim‹ auf das Genre des Tanzfilms anspielt, mit dessen Aufkommen in den siebziger Jahren John Travoltas Karriere eng verknüpft ist, was Knut Hickethier wie folgt gedeutet hat: »Der gealterte Held Vincent spielt die Jugendrolle noch einmal, die seinen Darsteller berühmt gemacht hat. Daraus ergibt sich eine über den Genrebezug selbst hinaus gehende Kommentierung dieser Medienwelt.«57

›Genrebezug‹ und ›Kommentierung der Medienwelt‹, so lassen sich Metatextualität und Architextualität konkret begreifen. Dass beide Text-Text-Bezugsformen bei Tarantino mitunter zu Fiktionsbrüchen führen, wie einleitend angemerkt wurde, hat Robert Fischer im gleichen Zusammenhang beschrieben: »Da sitzt eine authentische Pop-Ikone der 70er Jahre unter lauter falschen PopIkonen der 50er Jahre, und wenn der im Vergleich zu seinem SATURDAY NIGHT FEVER-Zeiten (1977, R: John Badham) reichlich aufgeschwemmte Travolta dann noch am Ende der Sequenz mit Uma Thurman auf der Tanzfläche zu Chuck Berrys You Never Can Tell einen Twist improvisiert, verschwimmen vollends die Grenzen zwischen Schauspieler und Figur, Inszenierung und echter Situation bei den Dreharbeiten.«58

Diese Auflösungserscheinungen zwischen Fiktion und Realität positionieren Tarantino, der in seinem Werk mit der erkennbaren Absicht »daraus doch wieder etwas Neues und Persönliches zu schaffen«59 mit »Versatzstücken der Filmgeschichte, der Popkultur und 55 56

U. Lindemann/M. Schmidt: Die Liste der Braut, S. 152. Ebd. Hinzu kommt bei Tarantino ein ungewöhnlich sensibler Umgang mit Requisiten, der sich z.B. daran zeigt, dass David Carradine in »Kill Bill« angeblich die Originalflöte aus »Kung Fu« spielt. Vgl. ebd. und D.K. Holm: Kill Bill, S. 93.

57

K. Hickethier: Filmanalyse: Pulp Fiction, S. 101. Ein weiterer Fall für die intramediale Bezugnahmen durch die Besetzung ist das Mitwirken von Bruce Willis, was die mit ›The Gold Watch‹ überschriebene Handlung um den Boxer Butch Coolidge in das Licht der »Stirb langsam«-Filme stellt.

58

R. Fischer: Pulp Fiction, S. 136.

59

R. Fischer: Reservoir Dogs, S. 97.

226

7.1 JOHN VON DÜFFEL: »SHAKESPEARE, MÖRDER, PULP & FIKTION« der Unterhaltungsindustrie jongliert«,60 Fischer zufolge gemeinsam mit Künstlern wie Jim Jarmusch oder David Lynch in die Riege der bedeutenden Filmregisseure der Postmoderne. Ihre Perspektive habe »immer etwas Ironisierendes, die coolness der Figuren immer etwas Selbstironisches.«61 Der ironische Ton in dem typisch postmodernen »Pulp Fiction«, der architextuellen und metatextuellen Bezugssystemen geschuldet ist, geht aus einem Ungleichgewicht in der Informationsvergabe hervor, was durchaus einen Anknüpfungspunkt der Postmoderne an traditionelle Formen der dramatischen Ironie darstellt. Indem »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« sich auf beide Systeme bezieht – auf den postmodernen Film ebenso wie auf das elisabethanische Drama –, erweist sich John von Düffel auf der Makroebene ebenso als Shakespeare-Interpret wie die Mörder Pulp und Fiktion auf der Mikroebene, wenn sie darüber nachdenken, wie man Mühlsteine weinen kann. Der intermediale Mix ist das Resultat eines intertextuellen Vergleichs, der es sich zur Aufgabe macht, Gemeinsamkeiten zwischen den scheinbar sehr unterschiedlichen Texten hervorzuheben. Im kreativen Prozess wird die inhaltliche und stilistische Verwandtschaft der beiden ungleichen Vergleichsgegenstände herausgearbeitet, was Rückschlüsse auf weitere Gemeinsamkeiten nach sich zieht. So zeigt von Düffels Stück auf, dass in beiden Fällen aus der Sicht vermeintlich kleiner Leute eine Ordnung abgebildet wird, die zwar auf Ungerechtigkeit und Tyrannei beruht,62 in Anbetracht der Tatsache, dass auch die Opfer der Tyrannei bei Shakespeare wie bei Tarantino »ihr gerüttelt Maß an Schuld auf dem Gewissen haben«,63 durchaus ihre Legitimation hat. Unter Berücksichtigung der stark ausgeprägten Parallelen, die in »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« offenbart werden, ließe sich also folgern: die Revolutionierung des Genres Gangsterfilm, die mit dem heist movie »Reservoir Dogs« eingeleitet und mit »Pulp Fiction« vollauf vollzogen wurde, färbt in John von Düffels Theaterstück auf ein früheres mediales Produkt ab, das als elisabethanisches Historiendrama zwar einer anderen Gattung angehört, jedoch grundsätzlich

60

Ebd.

61

Ebd.

62

Vgl. die vermeintliche Bibelpassage, die Jules Winnfield seinen Opfern rezi-

63

G. Hesse: King Richard III, S. 282.

tiert und so deutet, dass er selbst »die Tyrannei böser Männer« sei.

227

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE durchaus zum selben Genre gezählt werden darf.64 »König Richard III.« würde mit von Düffel demnach dem Gangstergenre angehören, die Handlung von »Pulp Fiction« hingegen wäre durchaus tragödienfähig zu nennen.65 Mit dieser Deutung stimmt von Düffel mit verschiedenen Forschungsarbeiten überein,66 die sich im Zuge einer Öffnung der Geisteswissenschaften um einen erweiterten Textbegriff bemühen und dabei die Ansicht Gérard Genettes teilen, dass die Beschäftigung mit Literatur ohne die Berücksichtigung der »fortwährenden Zirkulation der Texte […] nicht eine Stunde der Mühe wert wäre.«67

7.2 David Gieselmann: »Herr Ko lpert « Steht »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« im Vorangegangenen für einen Mix von Film und Theater, der sich um eine Aktualisierung des Theaterprätextes unter den Bedingungen des postmodernen Films bemüht, so handelt es sich bei David Gieselmanns Stück »Herr Kolpert« um einen Text, der sich in der Sprache des Films als Remake bezeichnen ließe. Allerdings ist diese intertextuelle Beziehung nicht im Sinne einer künstlerischen Traditionsbildung als ›Hommage‹ aufzufassen, sondern als eine Neubearbeitung eines Stoffes aus wirtschaftlichem Interesse.68 Allein in der Entstehungs64

Zur Differenzierung zwischen ›Gattung‹ und ›Genre‹ vgl. K. Hickethier: Filmanalyse: Pulp Fiction. Sowie: Rick Altman: Film/Genre, London: British Film Institute 1999.

65

Über Genreerwartungen, die ihrerseits den dramatischen Gattungskonventionen gleichen (Tod der Protagonisten in der Tragödie, Hochzeit als Lösung aller Konflikte in der Komödie) vgl. T. Kuchenbuch: Filmanalyse, S. 112.

66

Zum dramatischen Aufbau von »Reservoir Dogs«, das im »Lexikon der internationalen Films« als »stellenweise furios inszeniertes, glänzend gespieltes pessimistisches Drama um Vertrauen und Verrat« geführt wird (Lexikon des internationalen Films. Hrsg. vom Katholischen Institut für Medieninformation (KIM) und der Katholischen Filmkommission für Deutschland. Völlig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. Das komplette Angebot in Kino, Fernsehen und auf Video, Reinbek: Rowohlt 1995, S. 4600. Hervorhebung CS) vgl.: R. Fischer: Reservoir Dogs, S. 88ff. Zur intertextuellen Relation von »Kill Bill« und »Titus Andronicus« vgl.: C. Steltz: Wer mit wem abrechnet.

67 68

G. Genette: Palimpseste, S. 535. Für diese beiden differenten Ausprägungen des Remakes lassen sich für ersteren Fall Werner Herzogs »Nosferatu – Phantom der Nacht« (1979) und

228

7.2 DAVID GIESELMANN: »HERR KOLPERT« geschichte weist das Stück deutliche Parallelen zu dem eingangs angeführten Theatererfolg von »Elling« auf;69 auch hier zeichnet sich die Werkgenese durch eine Serie von Medienwechseln aus. »Herr Kolpert« geht auf den frühen Hitchcock-Film »Rope« (1948) zurück, mit deutschem Titel »Cocktail für eine Leiche«, der seinerseits wiederum eine Literaturverfilmung von Patrick Hamiltons gleichnamigem Theaterstück aus dem Jahr 1929 ist.70 »Herr Kolpert« stellt daher einen doppelten Medienwechsel dar, der Hitchcocks Filmstoff in seine ursprüngliche mediale Form zurückführt. Da die Uraufführung von »Herr Kolpert« am 10.5.2000 unter der Regie von Richard Wilson am Londoner Royal Court Theatre stattfand, lässt sich ein für das Drama der neunziger Jahre charakteristischer Umstand veranschaulichen. Zunächst zeigen die unterschiedlichen Reaktionen auf das Stück in England und später dann in Deutschland in signifikanter Weise auf, welchen Anteil das Publikum an der Deutung eines Stücks, ebenso an dessen Erfolg oder Nichterfolg, inne hat. So wurde der Bezug zu Hamiltons Stück in allen englischen Kritiken erwähnt, während für Gieselmann selbst der Film relevanter gewesen ist, der in London zwar weniger bekannt ist als das Stück, den Gieselmann aber in einem Interview mit Nils Tabert als bewusstes Zitat bezeichnet.71 Über länderspezifische Differenzen in der Rezeption hinaus ist es durchaus kein Zufall, dass »Herr Kolpert« gerade am Royal Court Theatre uraufgeführt wurde, das in den frühen neunziger Jahren das Zentrum der sogenannten ›New Brutalists‹ um britische Dramatikerinnen und Dramatiker wie Sarah Kane, Mark Ravenhill und Anthony Neilson gewesen ist.72 Die Theaterstrukturen, die am Brad Silberlings »City of Angels – Stadt der Engel« (1998) anführen, die einerseits eine Wertschätzung von »Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens« (1922) von F.W. Murnau und andererseits eine gewinnbringenden Neubearbeitung eines europäischen Autorenfilms (Wim Wenders: »Der Himmel über Berlin« [1987]) für das globale Hollywoodpublikum darstellen. Vgl. Peter Beicken: Wie interpretiert man einen Film?, Stuttgart: Reclam 2004, S. 195. 69 70

Siehe Kapitel 7. Vgl. Patrick Hamilton: Rope. A play, London [u.a.]: Samuel French 2003. Uraufführung: Strand Theatre London am 3.3.1929.

71

Vgl. Nils Tabert: »Gespräch mit David Gieselmann«, in: Ders. (Hg.), Playspotting 2. Neue deutsche Stücke, Reinbek: Rowohlt 2002, S. 155-168, hier S. 162. In diesem Interview finden sich auch interessante Ausführungen zu den wiederum andersgearteten Reaktionen auf Inszenierungen in Griechenland, Australien und anderen Ländern.

72

Eine weitere Bezeichnung für diese junge Dramenbewegung in Großbritannien lautet »In-Yer-Face-Theatre«, was ebenfalls auf die starke Wirkung auf

229

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Royal Court begründet worden sind, stellten zu Anfang der neunziger Jahre eine große Möglichkeit für eine neuartige Dramatik dar, die im Verlauf dieses Jahrzehnts auch von deutschsprachigen Autoren genutzt worden ist. Neben David Gieselmann waren auch die wohl bekanntesten Vertreter der jungen deutschen Dramatikergeneration zuerst in Großbritannien erfolgreich, bevor ihre Stücke in Deutschland inszeniert worden sind. Dea Loher beispielsweise wurde zuerst in England wahrgenommen, wo sie 1992 mit dem Royal Court Theatre Playwrights Award ausgezeichnet wurde, bevor in ihrem Heimatland ein positives Echo auf ihre Arbeiten in Form zahlreicher Auszeichnungen folgte.73 Auch Marius von Mayenburgs Erfolgsstück »Feuergesicht«, das ihm 1997 den Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker eingebracht hat und ein Jahr später an den Münchener Kammerspielen uraufgeführt wurde (10.10.1998, Regie: Jan Bosse), verdankt seine enorme Verbreitung – mit Übersetzungen in mehr als 30 Sprachen und Inszenierungen weltweit – nicht zuletzt der Inszenierung durch Dominic Cooke am Royal Court Theatre im Jahr 2000. Überhaupt lässt sich an der Person Mayenburgs die Wechselwirkung zwischen britischer und deutscher Dramatik festmachen, der zufolge europäisches Gegenwartsdrama – gleich welcher Nationalliteratur – generell eher als Bestandteil eines internaden Zuschauer abhebt. Zu dieser Bewegung zählen laut eigener Aussage eine Vielzahl junger Dramatiker wie Simon Block, Jez Butterworth, David Eldridge, Nick Grosso, Tracy Letts, Martin McDonagh, Patrick Marber, Phyllis Nagy, Joe Penhall, Rebecca Prichard, Philip Ridley, Judy Upton, Naomi Wallace und Richard Zajdlic. Vgl.:

http://www.inyerface-theatre.com

vom

15.03.2009. Siehe außerdem: Andreas Gründel: Autorentheater und Dramatikerschmiede. Das Royal Court Theatre und sein Einfluss auf Neue Britische Dramatik, unveröffentlichte Magisterarbeit am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin 2006; Michael Raab: Erfahrungsräume. Das englische Drama der neunziger Jahre, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 1999; Aleks Sierz: In-Yer-Face Theatre. British Drama Today, London: Faber and Faber 2001. 73

1993 bekam sie den ›Stücke‹-Förderpreis des Goethe-Instituts für »Tätowierung« und den Preis der Frankfurter Autorenstiftung, zudem wurde sie 1993 und 1994 in »Theater heute« zur Nachwuchsdramatikerin des Jahres gewählt, es folgten 1995 die Fördergabe des Schiller-Gedächtnispreises von Baden-Württemberg, der Jakob Michael Reinhold Lenz-Preis der Stadt Jena 1997 und der Gerrit Engelke-Preis der Stadt Hannover 1997, der Mülheimer Dramatikerpreis 1998 sowie der Else Lasker-Schüler-Dramatikerpreis 2005 des Pfalztheaters Kaiserslautern für ihr Gesamtwerk und der Bertolt Brecht Preis 2006.

230

7.2 DAVID GIESELMANN: »HERR KOLPERT« tionalen Kunstnetzwerkes verstanden werden sollte denn als autonomer Teilbereich. Als Marius von Mayenburg 1997 den Kleist-Preis erhielt, arbeitete er als Dramaturg an der ›Baracke‹ des deutschen Theaters in Berlin. Bei seinem Wechsel an die Schaubühne am Lehniner Platz 1999 nahm der scheidende Intendant Thomas Ostermeier seinen Dramaturgen von Mayenburg mit und machte ihn zum Hausautor.74 Ostermeiers und von Mayenburgs Kontakten zum Royal Court Theatre, das mit Elyse Dodgson eine effektive Mitarbeiterin für internationale Beziehungen hatte, ist der intensive Austausch zwischen dem Royal Court und der ›Baracke‹ bzw. der Berliner Schaubühne geschuldet, der zu zahlreichen deutschsprachigen Erstaufführungen junger britischer Autoren sowie zu englischen Inszenierungen deutscher Texte geführt hat. Ein solches Resultat dieser länderübergreifenden Kooperation, das zudem vor Augen führt, wie stark sich das Theater in den späten neunziger Jahren von den vorangegangenen Jahren abhebt, denen weitest gehend eine Parallelexistenz von Theaterpraxis und Autoren bescheinigt werden kann,75 ist auch »Herr Kolpert«.76 In diesem internationalen Kontext muss auch die deutschsprachige Erstaufführung von Gieselmanns Bühnenadaption des Hitchcock-Films gesehen werden,77 die am 13.12.2000 an der Schaubühne am Lehniner Platz stattfand. Die Regie übernahmen Marius von Mayenburg und Wulf Twiehaus in einer Gemeinschaftsarbeit, deren Ergebnis eine beachtliche Anzahl Nachahmer fand,78 wenn man bedenkt, dass es für einen unbekannten Nachwuchsautor bereits ein Erfolg ist, dass sein Stück überhaupt gespielt wird. Dass »Herr Kol74

Ergebnis dieser Tätigkeit sind die an der Schaubühne uraufgeführten Stücke: »Das kalte Kind« (2002), »Eldorado« (2004), »Augenlicht« (2006) und »Der Häßliche« (2007) sowie »Parasiten« (2000) und »Turista« (2005), für die die Schaubühne als Koproduzentin verantwortlich zeichnet.

75

Vgl. G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 61.

76

Eine genaue Untersuchung dieser Kooperation findet sich in Andreas Gründels Studie zur Geschichte des Royal Court Theatre. Vgl. A. Gründel: Autorentheater und Dramatikerschmiede, S. 28-38.

77

Insbesondere da Gieselmann 1999, also noch vor der Premiere von »Herr Kolpert«, auf Einladung des Royal Court Theatre an der »International Residency of Playwrights« und später an der »Week of New German Playwrights« teilgenommen hat.

78

In der Spielzeit 2003/2004 inszenierte Roger Vontobel das Stück am Thalia Theater in Hamburg, in der folgenden Spielzeit stand es am Theater Erlangen (Regie: Inga Helfrich) und beim Schauspiel Frankfurt auf dem Spielplan (Regie: Jan Neumann). Diesen Inszenierungen ging jedoch noch eine Inszenierung in Gieselmanns Heimatstadt Darmstadt voraus.

231

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE pert« so erfolgreich sein konnte, ist daher zum Teil wenigstens Thomas Ostermeier zu verdanken, dessen Wirken am Deutschen Theater zudem einen erheblichen Einfluss auf Gieselmanns Arbeit darstellt, wie der Dramatiker selbst hervorgehoben hat: »Wichtig für Herr Kolpert waren aber genauso die neuen britischen Stücke, die zu der Zeit an der Baracke vom Deutschen Theater herauskamen. Die waren so eine Art Aha-Erlebnis, bei dem ich sah: Es geht ja doch, man kann eine Geschichte erzählen, sie bis an ihre Grenzen treiben, sich der Mittel des Theaters bedienen, unironisch und trotzdem lustig sein.«79

Diesem ›Aha-Erlebnis‹ folgend stellt Gieselmann in seiner Arbeit das Anliegen ins Zentrum, auf dem Theater ›eine Geschichte zu erzählen‹. Damit kann er als repräsentativ für den von den Schaubühnenleitern geforderten ›Neuen Realismus‹ angesehen werden, dessen Selbstverständnis an dieser Stelle wiederholt werden soll: »Der Realismus [...] erzählt Geschichten, das heißt, eine Handlung hat eine Folge, eine Konsequenz. Das ist die Unerbittlichkeit des Lebens, und wenn diese Unerbittlichkeit auf die Bühne kommt, entsteht Drama.«80

Die Fokussierung der Handlung lässt den Neuen Realismus in Opposition zu etablierten Theaterströmungen treten, die wie beispielsweise das Postdrama aus dem Geist einer intellektuellen Abkehr von der Idee des Theaters als einer der Mimesis verpflichteten Abbildungsinstitution auch grundlegende Kategorien des Dramas wie Handlung und Figuren abgelehnt haben. Gieselmann, dem die Gegenwartsstücke während seines Studiums des Szenischen Schreibens an der Hochschule der Künste in Berlin »oft sehr ›verkopft‹«81 vorkamen, ist sich infolge der Orientierung am britischen Gegenwartsdrama nicht zu schade, ein Ziel des Theaters zunächst in der Unterhaltung des Publikums zu sehen. Ralf Drohts Aussage zu Beginn von »Herr Kolpert«, dass er und seine Frau ihre Gäste zum Abendessen, »ja auch nicht aus Höflichkeit, sondern zur Unterhaltung«82 eingeladen hätten, hat dementsprechend auch auf einer Me-

79

N. Tabert: Gespräch mit David Gieselmann, S. 162.

80

Vgl. Thomas Ostermeier [u.a.]: Wir müssen von vorn anfangen.

81

N. Tabert: Gespräch mit David Gieselmann, S. 167.

82

David Gieselmann: »Herr Kolpert«, in: Nils Tabert (Hg.), Playspotting 2. Neue deutsche Stücke, Reinbek: Rowohlt 2002, S. 169-244, hier S. 172. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Text im Fließtext in Klammern angeführt.

232

7.2 DAVID GIESELMANN: »HERR KOLPERT« ta-Ebene volle Gültigkeit. Von John von Düffels »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« unterscheidet sich »Herr Kolpert« dabei insofern, dass es dem Stück mit dem Geschichtenerzählen so ernst ist und dadurch, dass der im Stück angeschlagene Ton »unironisch, ein bisschen realistischer und nicht ganz so intellektuell«83 ist wie in der Theaterpraxis vieler Häuser, die sich dem postdramatischen Paradigma verschrieben haben. Die von Hitchcock übernommene Handlung des Stücks ist schnell referiert: anstelle der zwei Studenten bei Hitchcock empfangen der Chaosforscher Ralf Droht und seine Partnerin Sarah Dreher Besuch zum Abendessen, nachdem sie vorher anscheinend einen Menschen getötet haben. Der Mord, den Hitchcock noch konkret ins Bild setzt, wird bei Gieselmann ausgespart, so dass sich die Leser/Zuschauer über Anspielungen ein eigenes Urteil über das Vorangegangene machen müssen. Das Vexierspiel um Ernst oder Ironie beginnt bereits, als Ralf Droht die Gäste mit dem Satz »Hereinspaziert. Hier ist Platz. Hier ist sonst nur noch eine Leiche.« (175) begrüßt. Als Gastgeber verletzen Ralf und Sarah ihre wesentliche Pflichten, sie haben gar kein Essen im Haus und in der Folge verläuft der Abend in der Wohnung des Chaosforschers wirklich chaotisch. Eine Bestellung bei einem Pizza-Taxi-Service bringt nicht das gewünschte Resultat, die makabere Behauptung der Gastgeber, dass sie zuvor den Arbeitskollegen Kolpert getötet hätten, um die sich die Konversation zwischen Spaß und Ernst dreht, reizt die Gäste wiederholt, besonders wenn Bastian diesen ›running gag‹ auf die Spitze treibt, indem er Edith beim ›Wer bin ich?-Ratespiel‹ einen Zettel mit dem Namen Herr Kolpert auf die Stirn klebt. Letztendlich eskaliert die Situation vollkommen: Die Leiche von Herrn Kolpert fällt aus dem Wandschrank, Sarahs Arbeitskollegin Edith ersticht den Pizzamann und Ralf und Sarah töten Bastian, der die Polizei alarmieren wollte. Die verschiedenen Medienwechsel in der Entstehungsgeschichte des Stücks stellen allerdings nicht das einzige bemerkenswerte intermediale Phänomen dar. So fängt das Stück bereits mit einer expliziten intermedialen Einzelreferenz an: vor Ankunft der Gäste unterhalten sich die gastgebenden Ralf und Sarah über einen Film, den sie gesehen haben:84 83

N. Tabert: Gespräch mit David Gieselmann, S. 167.

84

Dieser Anfang ist dem Stück erst spät im Entstehungsprozess hinzugefügt worden, wie paratextuelle Hinweise verraten. In einer ersten Fassung empfing das Paar seine Gäste gleich zu Beginn und der Haupttext setzte mit

233

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE SARAH

Das einzig Unlogische an dem Film ist nicht etwa, dass er auf einmal mit dem Gewehr in der Gegend rumballert, sondern dass er es dabei hat.

RALF

Das ist nirgendwo erklärt?

SARAH

Nein… Was denkst du?

RALF

Worüber?

SARAH

Das Kleid.

RALF

Ja, schön.

SARAH

Soll ich…

RALF

Ich meine, es ist nur ein Abendessen.

SARAH

Ich dachte, zu dem besonderen Anlass…

RALF

Wie du meinst. … Das ist schwach, ich meine, du hast auch nicht immer ein Gewehr dabei, wenn du morgens zur Arbeit fährst.

SARAH

Bitte?

RALF

… der Film. (171)

An dieser Stelle beziehen sich die Figuren nicht auf Hitchcocks »Rope«, sondern augenscheinlich auf einen Film über einen Amoklauf, hinter dem Joel Schuhmachers »Falling Down« (1993) vermutet werden könnte, in dem Michael Douglas einen Mann spielt, der zu Beginn des Films im Berufsverkehrsstau seinen Wagen verlässt und später dann wie in der obigen Replik beschrieben zu einem bewaffneten Amokläufer wird.85 Anders als in der Analyse von »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion«, in der zur Beschreibung der Beziehungen zwischen zwei medialen Produkten noch die Termini Hyperund Hypotext bzw. Prä- und Posttext verwendet wurden,86 soll im Folgenden die von Rajewsky vorgeschlagene Terminologie zur Beschreibung intermedialer Bezugsformen verwendet und auf ihre Anwendbarkeit hin überprüft werden. Im vorherigen Kapitel wurde Shakespeares »König Richard III.« als ›Prätext‹ bezeichnet, auf den ein späterer Text (in diesem Fall der Theatertext von John von Düf-

Ralfs Replik »Hereinspaziert. Hier ist Platz. Hier ist sonst nur noch eine Leiche.« (175) Vgl. ebd., S. 162. 85

Da im Stück weitere Aussagen über den Amokfilm getroffen werden, die vom Muster in »Falling down« abweichen, soll es im Folgenden nicht um eine klare Identifikation des Bezugs gehen. Vielmehr wird die Analogie zwischen »Falling down« und dem im Stück erwähnten Film später zum Anlass genommen, die Bedeutung der in dem Theaterstück von Patrick Hamilton und dem Film von Alfred Hitchcock vordergründigen Stoffe und Motive in den neunziger Jahren zu eruieren.

86

Was sich mit der besonderen Eignung von Genettes Kategorie der Metatextualität begründen ließ. Siehe S. 212ff.

234

7.2 DAVID GIESELMANN: »HERR KOLPERT« fel) Bezug nimmt. Dieser bezugnehmende Text wurde ›Posttext‹ genannt. Gemäß einer Verschiebung zum Palimpseste-Modell von Gérard Genette, das mit ›Metatextualität‹ eine erträgliche Kategorie für die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Shakespeare und von Düffel bereitstellt, wurde der Prätext ›Hypotext‹ und der Posttext ›Hypertext‹ genannt. Wird nun in einem theoretischen Modell der Versuch unternommen, Text nur als eine mediale Form unter vielen anzusehen und Intertextualität in diesem Zuge als Subkategorie von Intermedialität zu etablieren, kann eine Verwendung der Termini ›Prätext/Posttext‹ und ›Hypotext/Hypertext‹ nur als Inkonsequenz gedeutet werden. Daher finden sich in Rajewskys Glossar zwei Begriffspaare, die für die Bezeichnung von intermedialen Bezügen auf der Mikro- und der Makroebene vorgesehen sind. Bei Einzelreferenzen ist dem gemäß von ›Objekt-‹ und ›Referenzmedium‹ zu sprechen, bei Systemreferenzen wird von einem ›kontaktnehmenden‹ und einem ›kontaktgebenden System‹ gesprochen.87 Das Gespräch über den Amokfilm, das von seiner kommentierenden Anlage her dem Gespräch über das Weinen von Mühlsteinen in »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« gleicht und aus der Perspektive der genetteschen Intertextualität daher ebenfalls metatextuell heißen müsste, ließe sich derart beschreiben, dass – da sich mit »Herr Kolpert« ein literarischer Text auf einen einzelnen Film bezieht – das Theaterstück das ›Objektmedium‹ und der Film ›Referenzmedium‹ darstellt. Da das Referenzmedium jedoch nicht eindeutig identifizierbar ist, ließe sich nach spezifischen Genrecharakteristika fragen, die über die Bezugnahme verhandelt werden. Die Frage, welche Art der Systemreferenz durch den Verweis auf einen filmischen Amoklauf indiziert wird, lässt sich nicht so einfach klären wie im Fall von »Rope«, der in technischer Hinsicht eine Sonderstellung in der Filmgeschichte einnimmt, was nicht allein daran liegt, dass es Hitchcocks erster Farbfilm ist. Eine höhere Signifikanz kommt der Art und Weise zu, in welcher der britische Regisseur auf das System des Referenzmediums – Patrick Hamiltons Theaterstück – eingeht, also auf das Theater als ›kontaktgebendes System‹.88 Indem der Film die fälschlicherweise auf Aristoteles zurückgeführten Einheiten von Ort und Zeit wahrt, erweckt er den Eindruck, dass

87

I. Rajewsky: Intermedialität, S. 200.

88

So lautet Rajewskys Bezeichnung für das mediale System, auf das sich ein als distinkt verschiedenes mediales System bezieht. Das bezugnehmende System wird dementsprechend ›kontaktnehmendes System‹ genannt. Vgl. ebd.

235

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE »er […] in einer einzigen Einstellung gedreht«89 wäre. Dieser Eindruck geht aus einer Abkehr von filmischen Standardmitteln hervor, die sich beispielsweise in einem Verzicht auf gezielte Schnitte ausdrückt: die Hälfte der gerade mal acht Schnitte des Films werden vollständig unkenntlich gemacht, indem der Anfang der Folgesequenz an derselben Stelle gesetzt wird wie das Ende der vorangegangenen (z.B. auf der Großansicht eines Rückens, auf einem Möbelstück etc.), wodurch der Eindruck eines ungebrochenen Voranschreitens der Szene hervorgerufen wird. Bei der Frage nach dem systemreferentiellen Gehalt der intermedialen Bezugnahme zu »Falling down« rücken inhaltliche Gemeinsamkeiten mit dem ebenfalls zitierten »Rope« eher als technische Feinheiten in den Vordergrund. Beide Filme setzen sich mit Gewalt als einem Phänomen auseinander, das in Opposition zur etablierten gesellschaftlichen Ordnung steht (moralisch wie juristisch). In der Art und Weise, wie Gieselmann den unmotivierten Mord aus »Rope« aufnimmt, tritt die spezifische Charakteristik des jeweiligen Mediums offen zutage. Wirkt das Erdrosseln David Kentleys noch sehr realistisch, so werden in Gieselmanns Stück die Mittel des Theaters offenbart: Der Mord an der Titelfigur Herr Kolpert wird zwar ausgespart, das Töten des Pizzalieferanten und des Cholerikers Bastian Mole wird jedoch gemäß der Überzeugung des Autors, dass Gewalt auf der Bühne absurderweise »unerträglicher wird, wenn das Theater seine Mittel zur Schau stellt«90 und dass demzufolge »eine realistische Gewaltdarstellung […] im Kino, aber nicht auf der Bühne«91 funktioniere, überspitzt dargestellt.92 Der Rückfall in Muster archaischer Gewalt fungiert innerhalb der Bühnenfiktion als De-Normalisierung des Alltags in der Erlebnisgesellschaft, der seinen Teilnehmern kaum Auswege aus dem sich stetig steigernden Wettlauf um erlebnisintensive Freizeit- und Lebensprojekte bietet. Vom Standort der Normalismusforschung aus betrachtet, lässt sich »Herr Kolpert« im Spannungsfeld von De- und Re-Normalisierung verorten, womit eine entscheidende Gemeinsamkeit zum Amoklauf genannt wäre, der zunächst einmal ebenfalls einen

89

Lexikon des internationalen Films, S. 882.

90

N. Tabert: Gespräch mit David Gieselmann, S. 164.

91

Ebd.

92

In den entsprechenden Regieanweisungen heißt es: »Der Pizzamann rüttelt an der Tür. Edith packt ihn und schlägt ihn zusammen. Schließlich metzelt sie ihn mit einem Messer ab. Sie ist nun über und über mit Blut bespritzt.« (239) und: »Sarah öffnet die Truhe, Ralf sticht Bastian ab, Sarah sticht auch noch ein paar Mal zu. Ralf holt das Messer.« (242)

236

7.2 DAVID GIESELMANN: »HERR KOLPERT« Angriff auf die Normalität darstellt.93 Im Fall von »Falling down« brächte ein vergleichender Blick die Erkenntnis, dass es dieselben Pole sind, zwischen denen sich die Geschichten um den Ordnungsfanatiker ›D-Fens‹ und das Drama um den Chaosforscher Bastian Mole entspinnen, nämlich: Ordnung und Chaos. »Falling down« und »Herr Kolpert« können im Anschluss an die Arbeiten von Jürgen Link und nachfolgenden Normalismusforschern94 gleichermaßen als ›(nicht) normale Fahrten‹ gelten. Der Bezug zu »Falling down« wird mittels verschiedener Anspielungen in einem Gespräch hergestellt, das Sarah und Ralf vor der Ankunft ihrer Gäste explizit über eine Filmhandlung führen, die der des Schuhmacher-Films auffallend ähnelt: SARAH

[…] Er steigt ganz ruhig aus und geht an den Kofferraum, nimmt das Gewehr und geht in ein Café hinein. Alles total ruhig und als wäre es das Normalste der Welt. Und da das der Anfang von dem Film ist und er das ganz normal macht, denkt man, aha, dieser Mensch hat eben ein Gewehr im Kofferraum, und jetzt nimmt er es mit und geht damit in ein Café, die werden uns schon früh genug darüber aufklären, was das mit ihm auf sich hat, dann vergisst man die Frage, vielleicht ist er Polizist, aber gerade ist mir das wieder eingefallen: Warum hat er ein Gewehr bei sich?

RALF

Ich weiß es natürlich nicht.

SARAH

Natürlich, Schatz, aber der Punkt ist doch: Die in Hollywood, wissen die das?

RALF

Da rufen wir die doch mal an und fragen. Mein Eindruck ist der, dass die dort wohl nichts dem Zufall überlassen. (174f.)

93

Vgl. Christoph Beyer: Der Erfurter Amoklauf in der Presse. Unerklärlichkeit und die Macht der Erklärung: Eine Diskursanalyse anhand zweier ausgewählter Beispiele, Hamburg: Verlag Dr. Kovac 2004; Sowie: Ders.: »›Auffällig unauffällig‹. Der Diskurs über den Erfurter Amoklauf als (Re)Definition des Normalen«, in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie, Nr. 49 (2005), S. 57-61.

94

Vgl. u.a.: Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997; Ute Gerhard/Jürgen Link/Ernst Schulte-Holtey (Hg.), Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politisch-sozialer Landschaften, Heidelberg: Synchron 2001; Jürgen Link/Thomas Loer/Hartmut Neuendorff (Hg.), ›Normalität‹ im Diskursnetz soziologischer Begriffe, Heidelberg: Synchron 2003; Ute Gerhard/ Walter Grünzweig/Jürgen Link/Rolf Parr (Hg.), (Nicht) normale Fahrten. Faszination eines modernen Narrationstyps, Heidelberg: Synchron 2003.

237

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE In dem Film, über den sich Ralf und Sarah unterhalten, wird ebenso wie in dem Theatertext ein Einbrechen archaischer Gewalt in den normalisierten Zivilisationsalltag umgesetzt. Als Bestandteil des Gewaltdiskurses, der in Zusammenhang mit Medien immer schon mit der kontrovers diskutierten Frage verbunden ist, ob die medial vermittelten Gewalttaten verherrlichend oder gar zu eigenen Gewalttaten anregend oder im Gegenteil triebsublimierend und somit im Sinne eines zivilisatorischen Fortschritts positiv wirken (so war es bereits beim Buch und beim Theater, so ist es beim Film und bei Computerspielen), schafft »Herr Kolpert« eine Neu-Kontextualisierung des Prätextes – sei dies nun Patrick Hamiltons Theaterstück oder Alfred Hitchcocks Film – im medialen Koordinatensystem des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Stehen bei Hamilton und Hitchcock gemäß der historischen Vorlage des sogenannten Leopold und Loeb-Falls noch Nietzsches philosophische Überlegungen zum Übermenschen und der Missbrauch dieses Konzepts durch die Nazis Modell,95 so ist »Herr Kolpert« als Dokument einer Wohlstandsgesellschaft zu sehen, deren Normalität durch Überfluss und die grundlegende Gemütslage dekadenter Tristesse geprägt ist. Während »Rope« sich also »als Warnung vor nazistischer Herren-Ideologie verstehen«96 lässt, werden in Gieselmanns Drama die Missstände einer auf Erlebnisgewinn und Selbstinszenierung ausgerichteten Gesellschaft vorgeführt. Daher überrascht es freilich nicht im Geringsten, dass sich Sarah zu den Motiven für den Mord an Herrn Kolpert in einer in ihrer Oberflächlichkeit für die neunziger Jahre repräsentativen Art und Weise äußert. Sie positioniert die eigene Aussage in einem diskursiven Feld, das von der Debatte um den Wertewandel, von emotionaler Verwahrlosung und der Frage nach den Auswirkungen des eigenen Handelns in einer vom Alltag dominierten Welt bestimmt wird, wenn sie den eigenen Antrieb gegenüber Bastian folgendermaßen schildert: »Der Alltag wuchs uns über den Kopf. Unter der Woche kommt man zu nichts anderem als Sparpreisclubmitgliederbeiträgen, zerpixelten Mona Lisas und Wulstblasen in Kaffeetassen, und am Wochenende geht man aus und schaut sich die Menschen an, wie die auch am Wochenende ausgehen. Ich und Ralf,

95

Zu diesem realen Mordfall, der der literarischen und filmischen Bearbeitung voraus geht, vgl.: Hal Higdon: Leopold and Loeb. The Crime of the

Century,

Illinois:

University

of

Illinois

Press

1999.

Sowie:

http://www.law.umkc.edu/faculty/projects/FTrials/leoploeb/leopold.htm vom 15.03.2009. 96

Lexikon des internationalen Films, S. 882.

238

7.2 DAVID GIESELMANN: »HERR KOLPERT« wir haben immer am Wochenende in den Discotheken die Leute tanzen sehen, mit denen wir Abitur gemacht haben, und wie die sich Mühe gaben, vorzutäuschen, sie hätten erst vor einigen Wochen die Schule verlassen, und sie machen sich über Gefühle und all das lustig. In Wahrheit aber stecken überall Menschen dahinter. Wir beiden, Ralf und ich, haben auch keine Gefühle mehr bemerkt. Wir wollten unbedingt etwas spüren. Dass wir Menschen sind. Da kam uns die Idee eines Mordes. Wir haben auch von vornherein geplant, den entsprechenden Körper zu foltern und auseinander zu nehmen. Herr Kolpert schien uns geeignet, weil der so nutzlos erscheint, dass er ohnehin nie wieder etwas spüren wird. Ich habe Herrn Kolpert heute hier in unsre Wohnung gelockt. Ralf sei im Urlaub. Ob er nicht neben Frau Mole im Aufzug auch mal mit mir im Bett schlafen wolle.« (205f.)

Dass das Opfer speziell ausgewählt wurde, da es ›so nutzlos‹ erschien, ist einer von mehreren Anknüpfungspunkten an die Nietzsche-Rezeption des Hitchcock-Films. In überspitzter Weise greift der vorsätzliche Plan, einen Menschen zu foltern und in seine Einzelteile zu zerlegen, aber auch auf die im Gewaltdiskurs wiederholt als Motivation angeführte Langeweile zurück, mit der (oftmals jugendliche) Täter ihre Verbrechen begründen. Hieran wird deutlich, dass die durch Gewalt herbeigeführte De-Normalisierung in erster Linie gegen die Gleichartigkeit und Wiederholbarkeit des Alltagslebens gerichtet ist. Im Töten eines Mitmenschen einen Ausweg aus dem Alltagstrott zu suchen, erweist sich allerdings als Irrweg, wie das Pärchen gegen Ende des Stücks rückblickend einsehen muss: SARAH

Ja sicher, aber wir haben uns mehr erhofft.

RALF

Wie?

SARAH

Davon, jemanden zu töten – aber es ist total normal.

RALF

Vielleicht ist das das Einzige, das man erreichen kann.

SARAH

Was?

RALF

Dass zwar alles normal erscheint, man aber weiß, dass da auch das Anormale drin ist – in dem Normalen. Wie in der Kaffeetasse. (240f.)

Als Problem kristallisiert sich die Wandelbarkeit des Normalitätsbegriffs. Da jede Abkehr von einer wie auch immer gearteten Normalität selbst wiederum normalisierenden Kräften unterlegen ist, verliert die Dichotomie ›normal‹ – ›anomal‹ zwar ihre Trennschärfe, für ein Denken in soziologischen Begriffen wird sie dennoch oder gerade deshalb unabdingbar. Dies zeigt sich im Stück u.a. auch darin, dass die von Ralf und Sarah eingenommene Position jenseits der moralischen Norm, das unmotivierte Morden aus purer Neugier, in dem Moment, in dem sich Edith Mole dem Verbrecherpärchen an239

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE schließt, selbst zur Norm wird. Edith tötet zuerst den Pizzalieferanten und hilft ihren Gastgebern danach, ihren Ehemann Bastian in der Truhe einzusperren, da er sich den Werten der Gruppe nicht anschließen will. Während Edith sich vom Blut des Pizzafahrers reinigt, erstechen Ralf und Sarah Bastian. An Ediths Reaktion auf diese Tat lässt sich der umgreifende Charakter von Normalisierungsdynamiken erkennen: EDITH

Was ist mit Bastian?

RALF

Wir haben ihn gerade erstochen.

EDITH

Schon?

SARAH

Das war doch in Ordnung?

EDITH

Ordnung? Notwendig.

SARAH

Ja – wie fühlst du dich?

EDITH

Normal. Merkwürdigerweise absolut normal.

RALF

Wir fühlen uns auch normal. (242f.)

Edith billigt nicht nur die Ermordung ihres Gatten; indem sie der Situation den Status der Normalität zuspricht, wird sie selbst Teil der Ordnung, die sich auf dem blutigen Opfer gründet. In diesem Kontext lässt sich »Herr Kolpert« ebenso wie der antifaschistische Film »Rope« politisch auffassen. Im Vergleich der Rezeption ist es auffällig, dass insbesondere das britische Publikum dazu tendiert hat, das Stück politisch zu lesen. Dies ist zumindest das Fazit des Autors Gieselmann. In einem Interview heißt es diesbezüglich: »In London war der Umstand, dass sich Leute langweilen und aus dieser Langeweile heraus jemanden umbringen, nicht einfach nur ein makabrer Jux, sondern auch eine Aussage über Gesellschaft.«97 In Deutschland ist die politische Dimension zumeist weniger als der ›makabre Jux‹ beachtet worden, der dem Stück den Boulevardcharakter verleiht, der eventuell für den Erfolg beim Publikum verantwortlich ist. Im globalen Kontext98 hingegen wurde »Herr Kolpert« »ohnehin eher als englisches Stück angesehen«,99 was nicht zuletzt an der technischen Machart des Stücks liegt. Formal verkörpert »Herr Kolpert« die Vorstellung des sogenannten ›well made plays‹ aus der britischen Theatertradition, die auch in den neunziger Jahren in der britischen Theaterlandschaft dominant ist. In Deutschland werden Stücke hingegen kritisiert, wenn sie zu thea-

97

N. Tabert: Gespräch mit David Gieselmann, S. 161.

98

Das Stück hat unterschiedliche Inszenierungen und Deutungen in verschiedenen Ländern erfahren, u.a. in Griechenland und Australien.

99

Ebd., S. 166.

240

7.2 DAVID GIESELMANN: »HERR KOLPERT« tereffektiv verfasst sind. Denn nur ein Text, der sich den konventionellen Theatermitteln in den Weg stellt, bietet die nötige Inszenierungsfreiheit, um die Regisseure herauszufordern.100 »Herr Kolpert« aber bleibt den theatralischen Basismitteln treu, was zugleich bedeutet, dass das Stück die filmische Vorlage »Rope« in einer intermedialen Re-Transformation in die ursprüngliche mediale Form zurückführt. Die gezielte Informationsvergabe, die auf dem Theater entweder Spannung oder Komik auslöst, wenn das Publikum mehr weiß als die handelnden Figuren, findet im filmischen Kontext im Prinzip des ›Suspense‹ Verwendung, das Alfred Hitchcock wie kaum ein zweiter beherrscht. Gieselmann kommentiert die Adaption dieses Prinzips anhand einer Passage im Stück, in der die Figuren ›Wer bin ich?‹ spielen, ein Ratespiel, bei dem die Mitspieler ihren Namen für alle anderen sichtbar auf einem Zettel auf der Stirn kleben haben, selbst aber nicht wissen, wer sie sind, und dies durch gezielte Entscheidungsfragen herausfinden müssen: »Die Szene basiert auf ganz simple Art und Weise auf dem Prinzip des ›Suspense‹, wie Hitchcock es beschreibt: Wenn der Zuschauer eine Information mehr hat als die Figur – die berühmte Bombe im Bus zum Beispiel, von der das Publikum weiß, aber nicht die Person, die sie in ihrem Koffer trägt.«101

Da die intermediale Bezugnahme in diesem Fall auf systemspezifische Kriterien angelegt ist, die selbst nicht filmischen, sondern theatralischen Ursprungs sind, dient sie nicht der Systemaktualisierung. Daher lässt sich unter dem Strich für »Herr Kolpert« dasselbe festhalten wie für John von Düffels »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion«: die Orientierung am Konkurrenzmedium Film bietet publikumsfreundliches Drama und stellt somit eine ökonomisch wichtige Reaktion auf die Zuschauerkrise der Theater in den neunziger Jahren dar. Zu grundlegenden Veränderungen im medialen System ›Drama‹ führen sie jedoch nicht.

100

Derartige Kritik hat David Gieselmann bereits für sein Abschlussstück an

101

Ebd., S. 164.

der Hochschule der Künste Berlin ernten müssen. Vgl. ebd., S. 158.

241

8. Innovat ion als Reakt ion auf die Konkurrenz situat ion Anders als Theaterinszenierungen, die sich den Sehgewohnheiten des Publikums anpassen, indem sie verstärkt an filmische Konventionen anknüpfen, lässt ein zweite Gruppe von Theatertexten eine Tendenz erkennen, die angesichts der Konkurrenz durch den Film auf einen Medieneinsatz setzen, der in einem selbstreflexiven Verfahren bewusst die eigene Medialität ausstellt. Diese Theatertexte veranschaulichen in nicht seltenen Fällen, »dass Wahrnehmung und Erkenntnis nicht abbildende, sondern konstruierende Tätigkeiten sind.«1 Wenn auf diese Weise »die vermeintliche Objektivität des medialen Bildes«2 als Trugschluss entlarvt wird, findet eine Verhandlung des Einflusses »der Medien- und Technologieentwicklung auf Wahrnehmungskonventionen«3 statt, die im Kontext des Lehr/Lernziels Medienkompetenz im Deutschunterricht von besonderer Bedeutung ist (vgl. Kapitel 2). Daher ist bereits zu verzeichnen, dass »vielfältige Strömungen des modernen professionellen Theaters [im Deutschunterricht] aufgegriffen werden«,4 die ein weit reichendes Methodeninstrumentarium eröffnen, das über die Grenzen der konventionellen Analyse des Theatertexts hinausreicht. Frieder Schülein und Michael Zimmermann verweisen in diesem Zusammenhang auf Formen des Improvisations- wie des Boal-Theaters, vom Theater der Unterdrückten über den Regenbogen der Wünsche bis zum Legislativen Theater sowie auf das postdramatische Theater mit seiner Hervorhebung des Körperlichen und des Medialen.5 Eine Öffnung des Deutschunterrichts gegenüber Formen des postdramatischen Theaters kann darüber hinaus elementare Aufschlüsse nicht nur über das Theater, sondern über Medialität schlechthin ermöglichen. Da die Medialität eines Mediums unbeobachtbar ist, wie Norbert 1

M. Bönninghausen: Inszenierung und Authentizität, S. 103.

2

Ebd.

3

J. Wermke: Literatur- und Medienunterricht, S. 101.

4

F. Schülein/M. Zimmermann: Spiel- und theaterpädagogische Ansätze, S. 270.

5

Vgl. ebd.

243

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Bolz festgehalten hat, lässt sich seine Funktionsweise nur indirekt über eine Beschreibung der Form und eine Analyse seiner einzelnen Elemente fassen.6 Da sich für die Literatur um den Jahrtausendwechsel zudem feststellen lässt, dass sie selbst ein »Beobachtungsmedium medialer Konkurrenz«7 darstellt, ist in der Analyse eines medial konzipierten Theaterstücks stets auch eine Analyse jener medialen Formen inbegriffen, die in das plurimediale Gemisch des Theaters mit einfließen. Unter besonderer Beobachtung stehen im Kontext der Konkurrenz zwischen Bühne und Leinwand hierbei Film und Fernsehen. Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Analysen von Theatertexten zu betrachten, die wesentliche Merkmale des postdramatischen Theaters aufweisen, wie es von Hans-Thies Lehmann beschrieben worden ist, und die zudem mit Gerda Poschmann auch als ›nicht mehr dramatische Theatertexte‹ aufgefasst werden können, da sie – wenn auch keine Überwindung – so doch eine Unterwanderung der dramatischen Form darstellen. Im Vordergrund steht die grundlegend intermediale Konzeption, welche »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« von René Pollesch und Tim Staffels »Werther in New York« von einer konventionellen Dramenfolie abheben.

8.1 René Po llesch: »Heidi Ho h arbeitet hier nicht mehr« »Die Scheiße ist GLEICHZEITIG ZUHAUSE, FABRIK UND BORDELL«8 ruft die Schauspielerin Inga Busch in René Polleschs »Sex« aus, wodurch eine paradoxe Simultaneität verschiedener Standorte und Lebensbereiche heraufbeschworen wird, die für die Arbeiten von Pollesch insgesamt charakteristisch erscheint. Das gilt zum einen inhaltlich, wenn die Auflösung der Trennung von Privatleben (Zuhause) und Erwerbsleben (Fabrik) in den Zeiten der Globalisierung zum Thema gemacht wird, zum anderen aber auch formal, da sich das, was Pollesch künstlerisch bewirkt, zwischen popkulturel6

Vgl. Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München: Fink 1993, S. 45.

7

Natalie Binczek/Nicolas Pethes: »Mediengeschichte der Literatur«, in: Helmut Schanze (Hg.): Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart: Kröner 2001, S. 248-315, hier S. 308.

8

René Pollesch: »SEX«, in: Bettina Masuch (Hg.): WOHNFRONT 2001-2002. Volksbühne im Prater. Dokumentation der Spielzeit 2001-2002, Berlin: Alexander Verlag 2002, S. 131-160, hier S. 141.

244

8.1 RENÉ POLLESCH: »HEIDI HOH ARBEITET HIER NICHT MEHR« len TV-Formaten wie Soap Opera, Reality Show oder B-Movie und den durchaus hochkulturellen Rahmenbedingungen der Theaterwelt erstreckt. Das Bordell schließlich, das die Trias des Gleichzeitiggegebenen komplettiert, lässt nach der Bedeutung von Liebe in einer nach Marktgesetzen funktionierenden Gesellschaft fragen. Hinter dem ›cool fun‹ – so bezeichnet Hans-Thies Lehmann das Theater von René Pollesch9 – lassen sich also durchaus ernsthafte Fragen erkennen; so auch im Fall von »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr«, dem zweiten Teil der Heidi Hoh-Trilogie,10 der im Folgenden exemplarisch herausgegriffen werden soll. Ähnlich wie das eingangs zitierte »Sex« erfüllt auch »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« sämtliche Kriterien, die Hans-Thies Lehmann zur Beschreibung dieses unkonventionellen Theaters festgehalten hat. Es präsentiert dem Zuschauer ganze »Parcours aus Allusionen, Zitaten und Gegenzitaten, Insider-Späßen, Kino- und Popmusik-Motiven«,11 die im vorliegenden Fall ein breites Spektrum abdecken, das von Rapper Jan Delay, dessen Song »Eine kleine B-Seite« zitiert wird,12 bis hin zu den literarischen Figuren Bambi und Heidi reicht, die sich auf die Namensgebung auswirken. Insgesamt gilt für den Text durchaus all das, was nach Lehmann einen intertextuellen und intermedialen Mix im Zeichen des ›cool fun‹ auszeichnet: der Text ist ein »Patchwork aus schnellen, oft winzigen Episoden: ironisch distanziert, sarkastisch, ›zynisch‹, illusionslos und ›cool‹ im Ton.«13 Eines der Hauptmerkmale, die ironische Distanz, scheint hierbei in engem Zusammenhang mit der intermedialen Grundkonstellation dieser Theaterform zu stehen. Als besondere Ausformung des post-

9

Vgl. hierzu: H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 212ff.

10

Der erste Teil »Heidi Hoh« wurde im Mai 1999 am Berliner Podewil uraufgeführt und ebenso wie auch »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr«, das ein Jahr später ebenfalls am Podewil uraufgeführt wurde, für Deutschlandradio Berlin als Hörspiel produziert (Ursendungen: 14.2.2000 und 12.2.2001). Der dritte Teil »Heidi Hoh – die Interessen der Firma können nicht die Interessen sein, die Heidi Hoh hat« erlebte seine Uraufführung im Sommer 2001 am Berliner Podewil und wurde ein Jahr später vom NDR als Hörspiel produziert.

11

H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 215.

12

Bei Pollesch heißt es: »Susanne: Vier Milliarden Jahre lang… / Anja: Die ASeite. / Susanne: Und nie tun sie den Scheiß umdrehn«, wobei die letzte Replik ein wörtliches Zitat darstellt. René Pollesch: »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr«, in: Ders.: www-slums, Reinbek: Rowohlt 2003, S. 29-100.

13

H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 215.

245

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE dramatischen Theaters findet das ›cool fun‹-Theater seine »Inspiration häufig in den Mustern der Fernseh- und Filmunterhaltung [und] bezieht sich ohne Ansehen des Niveaus auf Splatter Movies, Harald Schmidt, Werbung, Disco-Musik und klassisches Bildungsgut«.14 Auf diese Weise kommt dem polleschschen Theater die Funktion eines Kontrollmediums zu, das mediale Entwicklungen beobachtet und reflektiert, um sie daraufhin im Rahmen der eigenen medialen Möglichkeiten bewertend zu reproduzieren. Die starke Distanz zum eigenen medialen Produkt sowie zu den ironisch reproduzierten Produkten anderer medialer Systeme lässt sich in diesem Zusammenhang als eine Auswirkung des Aufkommens neuer Medien und Computertechnologien verstehen. Schließlich hat der Mensch, wie Norbert Bolz es in seiner Studie zum Ende der Gutenberg-Galaxis formuliert, unter den Bedingungen eben dieser technischen Errungenschaften »Abschied genommen von einer Welt, die durch Repräsentationen geordnet war, und von einem Denken, das sich selbst als Repräsentation der Außenwelt verstand«.15 Wenn dies tatsächlich der Grund dafür ist, dass die Kunst der Postmoderne zu einer generellen »Privilegierung eines ironischen Umgangs mit Sinn«16 tendiert, wie Jochen Schulte-Sasse nahe legt,17 dann sind die Medien für einen Theatertext wie »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« weit mehr als nur eine Fundgrube für Stoffe und eine Quelle für Zitate und Anspielungen. Sie stehen dann nämlich als Ursachen am Anfang der theatralen Veränderungen. Diese Vermutung wird dadurch gestützt, dass der nach Gerda Poschmann für die nicht mehr dramatischen Theatertexte charakteristische Wirklichkeitsverlust, der sich u.a. »durch Phänomene wie Enträumlichung, Entzeitlichung und zunehmende Ästhetisierung von der Lebenswelt«18 auszeichnet, auf einen grundlegenden »Zweifel an einer objektiven Beschreibbarkeit der Wirklichkeit«19 und eine generelle »Skepsis gegenüber Wahrnehmung und Verstehen«20 zurückgeführt werden kann. Vor dem Hintergrund der in dieser Studie untersuchten Relation zwischen Bühne und Film kommt der beschriebenen ironischen

14

Ebd., S. 214.

15

N. Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis, S. 113.

16

J. Schulte-Sasse: Medien/medial, S. 36.

17

Schulte-Sasse verweist in diesem Zusammenhang auch auf: David Harvey: The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Oxford, Cambridge: Blackwell 1989.

18

G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 25.

19

Ebd., S. 24f.

20

Ebd., S. 25.

246

8.1 RENÉ POLLESCH: »HEIDI HOH ARBEITET HIER NICHT MEHR« Haltung, die ein Theatertext wie »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« einnimmt, eine besondere Signifikanz zu. Zwar liegt in der partiellen Adaption von televisuellen Mustern und Techniken (beispielsweise der Soap Opera oder konkreter B-Movies)21 eine Hinwendung zu der Konkurrenz aus Film und Fernsehen vor, doch lässt sich dieses Aufgreifen fremdmedialer Elemente durchaus als eine Strategie der doppelten Affirmation begreifen, die Achim Geisenhanslüke in Polleschs Theater sieht. Laut Geisenhanslüke resultiert diese doppelte Affirmation aus »einem kritischen Gestus […], der mit dem traditionellen Verständnis des politischen Theaters gebrochen hat,«22 ohne sich dabei »vorbehaltlos der affirmativen Ästhetik der Postmoderne anzugleichen.«23 So betrachtet wäre die Adaption von Fernsehtechniken eine »spielerische […] Entlarvung politischer Ideologien durch Techniken der Parodie und Travestie«,24 deren politische Natur im Verlauf dieses Kapitels zu ergründen sein wird. Konkret lässt sich zunächst festhalten, dass Polleschs Theater den televisuellen und filmischen Elementen genuin Theatralisches gegenübersetzt, indem es den Anspruch auf Repräsentation von Welt aufgibt und die für das Drama eigentlich konstitutive Handlung durch Postdramatisches ersetzt. Im Folgenden soll am Beispiel von »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« nachgezeichnet werden, wie dieser Paradigmenwechsel im Einzelnen vollzogen wird; im Mittelpunkt stehen dabei zunächst die Gestaltung von Zeit, Raum und Körper. Zeit Der wohl auffälligste Unterschied von Polleschs Theater zu gewöhnlichen Drameninszenierungen ist das enorme Tempo, mit dem der Text vorgetragen wird. »Die Schauspieler sprechen den höchst kom-

21

Für »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« lässt sich zum Beispiel der amerikanische Film »Norma Rae« aus dem Jahre 1979 als Vorlage ausmachen. Vgl. Achim Geisenhanslüke: »Schreie und Flüstern. René Pollesch und das politische Theater in der Postmoderne«, in: Ingrid Gilcher-Holtey/ Dorothea Kraus/Franziska Schößler (Hg.), Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation, Frankfurt/Main, New York: Campus 2006, S. 254268, hier S. 258. Vgl. hierzu auch die in Braunschweig uraufgeführte Produktion »DER KANDIDAT (1980). SIE LEBEN!« (2002) oder das darauf folgende Projekt »24 STUNDEN SIND KEIN TAG. ESCAPE FROM NEW YORK«.

22

A. Geisenhanslüke: Schreie und Flüstern, S. 256.

23

Ebd.

24

Ebd., S. 255.

247

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE plizierten Text so schnell wie möglich,«25 sodass mitunter der Eindruck entsteht, dass die häufig geforderten und offen ausgestellten Souffleusen die wichtigsten Akteure des Theaterabends sind. Zudem werden »bestimmte Sätze, die Wut oder Verzweiflung ausdrücken, […] geschrieen (und neuerdings auch mal geflüstert).«26 Pollesch selbst nennt dieses Verfahren der automatisierten Temporede ›Auf-Anschluss-Sprechen‹, was jedoch verhüllt, dass die Repliken nicht nur unmittelbar an vorherige anschließen, sondern auch zeitgleich mit weiteren Aussagen vorgetragen werden. Mit Blick auf andere postdramatische Inszenierungen könnte man bei diesem Verfahren auch von einer »nicht mehr dialogischen Kette von Sprechaktionen«27 reden, um eine Bezeichnung zu verwenden, die Patrick Primavesi auf das chorische Theater Robert Wilsons gemünzt hat. Entscheidend ist bei Polleschs Tempo-Rede, dass eine Vielzahl von Informationen derart schnell dargeboten wird, dass es kaum möglich ist, den semantischen Gehalt als Zuhörer verlustfrei wahrzunehmen. Hierzu trägt selbstredend auch die Simultaneität der Informationsdarbietung bei, die nicht nur als zentrales Merkmal postdramatischer Theaterinszenierungen gelten kann, sondern für das Theater der neunziger Jahre insgesamt charakteristisch ist.28 Durch die besondere Gestaltung der Figurenrede wird die Aufmerksamkeit vom inhaltlichen Gehalt der Repliken auf die Form des Sprechens verlagert. Darüber hinaus wird die Informationsaufnahme dadurch erschwert, dass der Theatertext teilweise in Großbuchstaben gehalten ist; diese Textpassagen werden von den Schauspielern nicht gesprochen, sondern in hoher Lautstärke gebrüllt. Hohes Sprechtempo und Schreien sind Stilmerkmale, die den Arbeiten von René Pollesch allgemein zu konstatieren sind. Da die Texte unauflösbar »an die performative Dimension der Aufführung gebunden«29 sind, verschmelzen bei Pollesch, der seine Texte prinzipiell in äußerst kurzen Zeiträumen intensiver Probenarbeit selbst inszeniert, »Autor und Regisseur zum Textproduzenten.«30 In dieser besonderen Personalunion gelingt es Pollesch durch den Einsatz des ›Auf-Anschluss-Sprechens‹ auf der Mikroebene jenen seriellen Charakter

25

Natalie Bloch: »Popästhetische Verfahren in Theatertexten von René Pollesch und Martin Heckmanns«, in: Der Deutschunterricht 56 (2004), H. 2, S. 57-70, hier S. 61.

26

Ebd.

27

P. Primavesi: Der Rest ist Theater, S. 104.

28

Vgl. F. Schößler: Augen-Blicke, S. 18.

29

N. Bloch: Popästhetische Verfahren in Theatertexten, S. 59.

30

Ebd.

248

8.1 RENÉ POLLESCH: »HEIDI HOH ARBEITET HIER NICHT MEHR« herzustellen, der seine Arbeiten auf der Makroebene insofern auszeichnet, als dass es gehäuft zu Trilogien (wie bei »Heidi Hoh«) und anderen Mehrteilern (siehe »world wide web-slums 1-7«) kommt. Schreien und ›Auf-Anschluss-Sprechen‹ sind insofern postdramatisch zu nennen, als dass sie die Transformation individueller Stimmen zu einem kollektiven Sprechen vorantreiben. Auf diese Weise wird dem dramatischen Wechselspiel von Rede und Gegenrede ein Polylogue, ein vielseitiges Spiel der Stimmen, gegenüber gesetzt, das zu einer Loslösung der »Körper der Schauspieler von ihrer Sprache« beiträgt.31 Neben der hohen Geschwindigkeit der Replikwechsel wird der Text durch eine äußerst stark ausgeprägte Textkohärenz gekennzeichnet. Auch wenn das Verhältnis der einzelnen Aussagen zueinander nicht mehr dialogisch ist, so sind die Repliken als Konsequenz des ›Auf-Anschluss-Sprechens‹, das als ein Verfahren der Doppelung und Wiederholung beschrieben werden kann, jedoch eng miteinander verbunden. Die hohe Kohärenz ist eines von mehreren sprachlichen Merkmalen, die »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« insgesamt auszeichnen. Dies soll mit Blick auf den Anfang des Stücks vor Augen geführt werden: Rolli:

HEIDI HOH ARBEITET HIER NICHT MEHR.

Susanne:

Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr. Sie arbeitet nicht mehr zu

Anja:

DAS ZUHAUSE IST KEIN FREUNDLICHER ORT!

Rolli:

UND DA MACH ICH AUCH NICHTS MEHR!32

Hause.

Anhand dieser ersten drei Repliken des Stücks lässt sich die Funktionsweise eines Großteils des Textes veranschaulichen. Die einzelnen Aussagen sind sehr dicht miteinander verwoben, da die Sätze semantisch sowie grammatisch miteinander verknüpft sind. Es liegt eine maximale Textkohärenz vor: der zweite Satz wiederholt den ersten wortwörtlich (lediglich die Sprechlautstärke wird variiert), das Personalpronomen stellt im dritten Satz eine grammatische Verknüpfung zum zweiten Satz her, während die Wiederholung des Prädikats für eine semantische Verknüpfung sorgt. Der vierte Satz nimmt das im dritten Satz eingeführte ›Zuhause‹ auf, auf das schließlich im fünften Satz mittels Demonstrativpronomen zurückverwiesen wird. Dass der Text in diesem fünften Satz inhaltlich zur Aussage des ersten Satzes zurückkehrt, wird erst deutlich, wenn die 31

F. Schößler: Augen-Blicke, S. 30.

32

R. Pollesch: Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr, S. 33.

249

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Zusatzinformation gegeben wird, dass die mit ›Rolli‹ bezeichnete Sprecherin die Figur ›Heidi Hoh‹ ist.33 Das hohe Sprechtempo geht also mit einer hohen Kohärenz des Textes einher; ›Auf-Anschluss-Sprechen‹ im polleschschen Sinne bedeutet letztendlich auch, dass Gesprochenes tatsächlich an zuvor Gesprochenes anschließt. Für das hierbei bestimmende ästhetische Verfahren, nach welchem zu »Beginn einer neuen Textpassage […] stets auf vorausgehende Thematiken rekurriert«34 wird, sind schnell Vorbilder gefunden. Nathalie Bloch verweist in diesem Zusammenhang auf die DJ-Kultur, die ähnliche Wiederholungsstrukturen in Form des ›Loops‹ einsetzt.35 Zur Überprüfung von Blochs Einschätzung reicht es im Übrigen aus, den eingangs zitierten Anfang des Stücks nur minimal weiter zu verfolgen. Noch auf derselben Textseite wird die eingangs geschriene Formel »DAS ZUHAUSE IST KEIN FREUNDLICHER ORT!« (Satz Nr. 4 des obigen Zitats) von einer anderen Sprecherin in normaler Lautstärke wiederholt. Auf der folgenden Seite wiederholt dann Bambi Sickafosse (Susanne) ihre zwei zu Beginn gesprochenen Sätze »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr. Sie arbeitet nicht mehr zu Hause.«36

33

Wenn an dieser Stelle bezüglich der einzelnen Sprecherinnen des Textes von ›Figuren‹ die Rede ist, muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass diese Bezeichnung äußerst problematisch ist. Zu Beginn des Textes ist zwar etwas abgedruckt, das wie ein Figurenverzeichnis aussieht; die Figuren Heidi Hoh, Gong Scheinpflugova und Bambi Sickafosse werden im Nebentext jedoch durchgängig nach den mitwirkenden Schauspielerinnen Elisabeth Rolli, Anja Schweitzer und Susanne Abelein als ›Rolli‹, ›Anja‹ und ›Susanne‹ aufgeführt. Vgl. ebd., S. 32.

34

N. Bloch: Popästhetische Verfahren in Theatertexten, S. 62.

35

Vgl. ebd. Dass Blochs Terminologie diesbezüglich mit einem literaturwissenschaftlichen Trend einher geht, steht außer Frage. Da die dem DJing zugrunde liegenden Techniken bereits weit vor der Disco-Bewegung der siebziger und der gemeinsam mit Graffiti, Rap und Breakdance etablierten DJBattle-Kultur der achtziger Jahre Bedeutung in verschiedenen Künsten erlangt haben, ließen sich garantiert auch andere sprachliche Bezeichnungen für den Vorgang des wiederholten Rückgriffs auf Versatzstücke finden, der für den DJ-Mix ebenso charakteristisch ist wie für Kurt Schwitters' MerzKunst, Gedichte von Rolf Dieter Brinkmann oder Duschamps ›readymades‹. Vgl. exemplarisch für die Hinwendung zum DJing: Ulf Poschardt: DJ Culture. Discjockeys und Popkultur, Reinbek: Rowohlt 1997; Sowie: Jens Roselt: »Vom Affekt zum Effekt – Schauspielkultur und Popkultur«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin: Theater der Zeit 1999, S. 111-120.

36

R. Pollesch: Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr, S. 34.

250

8.1 RENÉ POLLESCH: »HEIDI HOH ARBEITET HIER NICHT MEHR« Diese Orientierung an Verfahren aus dem Bereich der Popmusik lässt sich mit Rajewskys Intermedialitätsmodell als simulierende Systemerwähnung beschreiben, da der Text eine augenscheinliche Ähnlichkeit zu bestimmten Strukturen eines anderen medialen Systems aufweist. Da diese Bezugnahme jedoch nicht markiert wird, ist es wahrscheinlich, dass die Beschaffenheit des Textes in Analogie zu popästhetischen Mustern dem Großteil der Zuschauer nicht bewusst wird (gleiches gilt sicherlich auch für den Erstleser des Theatertextes). Daher ist die Theatererfahrung, die aus »einer mit den Besuchern geteilten Zeit, in der alle die gleiche Luft atmen«37 besteht, im Fall von »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« ein wechselseitiges Austesten von Grenzen: Während die Schauspielerinnen unter der Last der hohen Sprechgeschwindigkeit mit dem Text und um Atem ringen, werden den Zuschauern die Grenzen der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit bewusst. So kommt es, dass der gemeinsam verbrachte Theaterabend, der in Relation zu durchschnittlichen Aufführungszeiten bei Renè Pollesch vergleichsweise kurz andauert, manchem Zuschauer äußerst lang vorkommen mag. Dabei gilt: Je stärker die Erwartung an ein dramatisches Theater, das die Außenwelt repräsentiert, desto größer der Schock, wenn die Zeit als solche durch die verfremdende Temporede bei Pollesch in das Bewusstsein gerückt wird. Auch in dieser Hinsicht erweist sich der zitierte Beginn des Stücks als richtungweisend: Entschiedener als mit der schreiend vorgebrachten Feststellung, dass die Arbeit eingestellt wird (»HEIDI HOH ARBEITET HIER NICHT MEHR«38), lässt sich die Erwartungshaltung eines dem dramatischen Theater verpflichteten Publikums wohl kaum enttäuschen. Raum Was unter Berücksichtigung des ›Auf-Anschluss-Sprechens‹ für die Zeit in »Heidi Hoh« festgehalten wurde, gilt auch für den Raum als theatrales Ausdrucksmittel. Im direkten Anschluss an die zitierte Eingangspassage spricht Bambi Sickafosse (Susanne) wohl einigen Zuschauern aus der Seele, wenn sie fragt: »Was ist das hier?«39 Heidi Hohs (Rolli) Antwort versteht das Adverb wortwörtlich: Die Antwort von Schreihals Heidi Hoh lautet lapidar: »Schreiwettbewerb.«40 Auf diese Weise gibt die Bühne jeden Anspruch auf mimetische Repräsentation auf. Über die Dauer des gesamten Stücks wird die Frage 37

H.-T. Lehmann: Die Gegenwart des Theaters, S. 13.

38

R. Pollesch: Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr, S. 33.

39

Ebd.

40

Ebd.

251

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE nach dem eigenen Standort wiederholt gestellt, und stets erweist sich Heidi Hohs Antwort als korrekt, verweist sie doch auf den Theaterraum in seiner konkreten Zeichenhaftigkeit. ›Hier‹ bleibt über die gesamte Stückdauer der Aufführungsort, an dem auch im Weiteren kräftig geschrien wird. Andere Antworten, die in der Folge gegeben werden, wie beispielsweise »Toyota-Showroom« und »Auto-Kino«41 ordnen dem Zeichen ›Raum‹ zwar Bedeutungen zu, verlieren infolge des gleichwertigen Nebeneinanders widersprüchlicher Bedeutungen jedoch ihre Glaubwürdigkeit. Im Verlauf des Stücks reichen die Antworten auf die Frage nach dem Aufenthaltsort von › Avis-‹ und ›Toyota-Showroom‹ über ›Amazon-Book-Shop‹ bis hin zu ›Smarthouse‹, wie Natalie Bloch protokolliert.42 Die unterschiedlichen Ortsangaben lassen sich nicht eindeutig interpretieren. Sie können abstrakt als eine Loslösung des Raums von seiner konventionellen Funktion auf dem Theater als Denotat eines fiktiven Raums aufgefasst werden, womit die Raumkonzeption in »Heidi Hoh« durchaus als eine Veranschaulichung des postdramatischen Paradigmenwechsels gelten könnte. Die jeweils auf die Nennung des Ortes beschränkten Repliken können aber auch als intermediale Bezugnahmen gedeutet werden, die auf eine Reproduktion von Strukturen des World Wide Web abzielen. Für Letzteres würde sprechen, dass nach den Regeln des Internets die Nennung des Ortes unmittelbar zu diesem Ort führt, wobei das Eintippen der URL (Uniform Resource Locator) ein Schreibakt ist, der für das Theater in einen Sprechakt umgewandelt wird, um unter den medialen Gegebenheiten zu funktionieren. Eine weitere Analogie wäre hierbei, dass beide Prozesse einer Enträumlichung geschuldet sind: Die Bewegung im Internet vollzieht sich in der Regel bei absolutem physischem Stillstand, ebenso wie die illusionistischen Fahrten auf dem Theater sich für gewöhnlich vor einem Publikum in Stagnation abspielen. Körper »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« bietet sich auch deshalb für eine Veranschaulichung des postdramatischen Paradigmenwechsels an, da die Enthierarchisierung der Theatermittel, die im Vorangegangenen am Beispiel von Zeit und Raum beschrieben worden sind, auf allen Ebenen nachvollzogen werden kann. So kann die Analyse der Schauspielerkörper an die Beobachtungen zur Tempo-Rede anknüpfen, die in der ›nicht mehr dialogischen Kette einzelner Sprech41

Ebd.

42

N. Bloch: Popästhetische Verfahren in Theatertexten, S. 62.

252

8.1 RENÉ POLLESCH: »HEIDI HOH ARBEITET HIER NICHT MEHR« aktionen‹ eine Trennung der Sprache von den Körpern angedeutet haben.43 Verstärkt wird diese Distanz zwischen Körper und Sprache durch den vermehrten Einsatz technischer Hilfsmittel. Insbesondere die 13 Clipsequenzen44 führen den Unterschied zwischen leiblicher Gegenwart der Schauspielerkörper und filmischer Repräsentation deutlich vor Augen. Damit folgt »Heidi Hoh« einem Verfahren, das Marion Bönninghausen als grundlegendes Wesensmerkmal des intermedialen Theaters beschreibt: »Wo Medien oder Film auftauchen, werden sie zum Kontrastmittel, das die physische Präsenz des Spielers noch mehr hervortreten lässt«.45 Mittels audiovisueller Digitaltechnik werden auf diese Weise Körper und technisch reproduzierte Körperbilder gegenübergestellt, die »ihre spezifischen Charakterzüge als präsente, auratische, dreidimensionale Körper verloren«46 haben. Medial gedoppelt verweigern sich die Körper ebenso wie Zeit und Raum eindeutigen Signifikationsprozessen. Verhandelt wird daher der Körper an sich, seine Materialität, seine Grenzen; die Form wird selbst zum Inhalt: der Körper in den Zeiten seiner medialen Reproduzierbarkeit. Und in diesem Spannungsfeld zwischen Körper und Körperbild, zwischen Eigentlichkeit und Abbildung, so sind sich die Experten einig, liegt die Zukunft des Theaters. Ob man dabei von einem »Spiel zwischen Leib und Medien«47 (Hans-Thies Lehmann),

43

Schößler erkennt in der Trennung von Körper und Rede sogar ein Merkmal, welches das Theater der neunziger Jahre über das Postdrama hinaus vielfach prägt. Vgl. F. Schößler: Augen-Blicke, S. 18.

44

An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Relation zwischen Clipsequenz und Bühnengeschehen nicht eindeutig aus der Textfassung hervorgeht, da von den 13 Sequenzen, die jeweils mit der Regieanweisung »Clip« eingeleitet werden, lediglich vier auch die konkrete Anweisung »Clipende« zur Markierung der Cliplänge enthalten. Ob dies daran liegt, dass nur vier Clips tatsächlich den in der Folge abgedruckten Text präsentieren, während die anderen Clips ohne Text auskommen, bleibt nur zu vermuten. Letztendlich zeigt sich hieran die Dominanz der konkreten Aufführung über den Text. Natalie Bloch merkt zu diesem (für Pollesch charakteristischen) Stilmittel des »Clips« Folgendes an: »In der Regel agieren die Figuren hier unvermittelt und mit Musikbeschallung zu einem Thema und häufig werden auch Film- und Videoausschnitte eingespielt.« N. Bloch: Popästhetische Verfahren in Theatertexten, S. 62.

45

M. Bönninghausen: Inszenierung und Authentizität, S. 101.

46

Claudia Wierz: Projizierte Bilder und akustische Technik im Theater der Gegenwart, unveröffentlicht, Bochum. Zitiert nach: M. Bönninghausen: Inszenierung und Authentizität, S. 95-110, hier S. 100.

47

H.-T. Lehmann: Die Gegenwart des Theaters, S. 14f.

253

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE oder von der »Magie leiblicher Gegenwart«48 (Erika Fischer-Lichte) spricht, ist lediglich eine Frage des Tons ohne inhaltliche Relevanz. Entscheidend ist, dass das Theater im Zuge des gesellschaftlichen Wandels, der mit medialen Entwicklungen einher geht, zu einem Ort der Verlangsamung wird, an dem sich Fragen an das »Dazwischen von Mensch und Maschine«49 richten lassen. Marion Bönninghausen ist in diesem Zusammenhang der Hinweis zu verdanken, dass »auch die ästhetische Erfahrung der Schüler«50 in dieser Schnittmenge ansetzt. Ist es zum einen allgemein die Frage nach den Grenzen des eigenen Mediums, die auf dem Theater anhand von Körpern und Körperbildern verhandelt wird, so knüpft das Theater bei René Pollesch mit der Thematisierung des medientechnischen Fortschritts an gesamtgesellschaftliche Themenkomplexe an. Bei Pollesch sind die Medien, die gemäß Marshall McLuhans Metapher von den technischen Medien »als Erweiterung der körperlichen Möglichkeiten des Menschen, [also quasi] als Organ-Ergänzung«51 stets der Steigerung der Erwerbsproduktivität des Individuums dienen, in einer politischen Dimension zu verstehen. Obwohl sie die Zweckmäßigkeit von Erwerbsprozessen generell zugleich hinterfragen, tragen sie »[a]ls Ausweitungen und Amputationen des Menschen«52 zur Entfremdung des Menschen von seinem Körper und zur Schaffung von Cyborgformen bei, die in den Zusammenhang ökonomischer Wandlungsprozesse gestellt werden. Von Heidi Hoh heißt es z.B. gleich zu Beginn, dass sie als Vertreterin der »Telearbeitguerilla«53 überall arbeiten könne. Im Zusammenhang stellt sich diese Informationsvergabe wie folgt dar: Susanne:

Sie kann überall arbeiten. Sie ist von der Telearbeitguerilla.

Anja:

Sie hat dieses notebook und kann sich überall einstecken.

Susanne:

Steck dich überall ein!

Anja:

Dann arbeitet sie überall und ist nirgendwo zu Hause.54

48

Vgl. E. Fischer-Lichte: Von der Magie leiblicher Gegenwart.

49

Marion Bönninghausen/Heidi Rösch: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Intermedialität im Deutschunterricht, Baltmannsweiler: Schneider 2004, S. 1-6, hier S. 2.

50

M. Bönninghausen: Inszenierung und Authentizität. S. 101.

51

B. Hoffmann: Medienpädagogik, S. 18f.

52

G. C. Tholen: Medium/Medien, S. 161.

53

R. Pollesch: Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr, S. 35.

54

Ebd.

254

8.1 RENÉ POLLESCH: »HEIDI HOH ARBEITET HIER NICHT MEHR« Wenn von Heidi Hoh behauptet wird, dass sie ›sich überall einstecken‹ kann, sich selbst also und nicht etwa – wie zu erwarten wäre – ihr Notebook, dann wird die Funktion der Erweiterung des Körpers, die McLuhan den technischen Medien zuschreibt, treffend veranschaulicht. Diese Funktion erfüllt die Produktion »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« auch an weiteren Stellen: Computer werden zu Körperteilen, Technologie wird einverleibt, wobei nie eindeutig fest steht, welchem Bestandteil bei dieser Hybridform der dominante Part zukommt.55 Diese Entscheidung müssen die Zuschauer treffen, wenn sich Heidi Hoh anfangs an der Rampe vor den Zuschauer aufbaut und diesen entgegen schreit: »JA, GUT, DA HABT IHR EUREN VERFICKTEN KÖRPERCOMPUTER!«56 Dass daneben die allmähliche Aufhebung der Grenze zwischen Arbeits- und Privatleben für Heidi Hoh an der oben zitierten Stelle zu einer Heimatlosigkeit führt (›Dann arbeitet sie überall und ist nirgendwo zu Hause‹), aus der ein Entrinnen kaum möglich erscheint, ist für Pollesch ebenso bezeichnend wie die Transformation eines Aussagesatzes (›kann sich überall einstecken‹) in einen Aufforderungssatz (›Steck dich überall ein!‹).57 Nathalie Bloch erkennt hierin eine »Vorgängigkeit des Diskurses vor dem Subjekt«,58 die »verschiedene Formen der Diskurs- und Sprachentleerung betreiben«.59 Vor der einzelnen Äußerung des Subjekts steht dem gemäß ein diskursives Gerüst vorgefertigter Rede, das jede Form des individuellen Ausdrucks im Voraus unmöglich macht. Charakteristisch ist dabei, dass der Text Elemente aus verschiedenen Diskursen frei kombiniert, wodurch die Begrenztheit des Subjekts noch stärker in den 55

Thomas Ernst hat aufgrund der Vermischung von Körperfleisch und Technikkomponenten »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« vor dem Hintergrund von Donna Haraways Cyborg-Manifest als Beispiel dafür gelesen, wie die Körper der Menschen unter den Diskursen der deleuzianischen Kontrollgesellschaft »fragmentarisiert, zugerichtet und ausgebeutet werden.« Thomas Ernst: »›AAAAHHHHH!‹ Von Sprachkörpern, postdramatischem Theater und den Schreiwettbewerben der Restsubjekte in René Polleschs ›Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr‹«, in: Carsten Würmann [u.a.] (Hg.), Welt. Raum. Körper. Transformationen und Entgrenzungen von Körper und Raum, Bielefeld: transcript 2007, S. 237-254, hier S. 250.

56

R. Pollesch: Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr, S. 37.

57

Programmatisch findet sich dieses Verfahren gleich zu Beginn in einer autoreflexiven Wendung: »Anja: Da gibt es einen Schreiwettbewerb, und den schreit sie zusammen. / Rolli: Öffentliche Plätze. / Susanne: Schrei einen Wettbewerb zusammen, Heidi Hoh! / Rolli: AAAAHHHHH!« Ebd., S. 33.

58

N. Bloch: Popästhetische Verfahren in Theatertexten, S. 70.

59

Ebd.

255

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Vordergrund tritt, was am Beispiel der Heimatlosigkeit der Figuren illustriert werden kann. Zu Beginn des Textes findet sich folgender Textteil, der dem bereits beschriebenen ästhetischen Verfahren des ›Auf-Anschluss-Sprechens‹ folgt: Anja:

Dein Zuhause war organisiert wie ein Betrieb.

Rolli:

Und ich dachte immer, ich wohne hier gar nicht, ich campe hier, und jetzt campe ich eben draußen. JETZT CAMPE ICH EBEN DA DRAUSSEN UND NICHT MEHR ZU HAUSE!

Anja:

DIE HÄUSER UND IRGENDWO DA DRAUSSEN IHRE BEWOHNER.

Rolli:

Nein, ich will hier nicht mehr ARBEITEN! Das Zuhause ist kein freundlicher Ort, und da will ich auch nicht mehr arbeiten. Ich mache lieber irgendwo anders was. Das Zuhause IST KEIN FREUNDLICHER ORT. UND DA MACH ICH AUCH NICHTS MEHR!

Anja:

NIEMAND MACHT MEHR WAS ZU HAUSE.

Susanne:

ZUHAUSE IST FRAUENARBEIT.

Anja:

Und die mach ich nicht mehr! DIE MACH ICH NICHT MEHR!

Susanne:

SCHEISS-HAUSARBEIT!

Anja:

SCHEISS-TELEARBEIT!60

Durch den Vergleich in der ersten Replik (›Dein Zuhause war organisiert wie ein Betrieb‹) kommt es zu einer Zusammenführung von Privat- und Erwerbsleben, die durch die ungewöhnliche Wortwahl (›campen‹ statt ›wohnen‹) fortgesetzt und in Form des konstatierten Trennung von Häusern und Bewohnern in der dritten Replik zu einem Klimax geführt wird. Das Zuhause, von jeher ein Ort des Privaten und der Individualität, wird in einen ökonomisch-politischen Diskurs überführt, wodurch sich sein Stellenwert maßgeblich ändert. Die ›Vorgängigkeit des Diskurses‹ zeigt sich an dieser Stelle daran, dass das vermeintliche Einzelschicksal der Heidi Hoh unmittelbar in übergeordnete Diskurse wie den sozio-ökonomischen (›NIEMAND MACHT MEHR WAS ZU HAUSE‹) oder den Gender-Diskurs (›ZUHAUSE IST FRAUENARBEIT‹) überführt wird. So beschreibt der Text eine Abhängigkeit des Individuums von dominanten Diskursen, denen es sich nicht entziehen kann. Dies zeigt sich in »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« darin, dass die Sprecherinnen gemeinsam unter der Last des Textes leiden, der verschiedene Diskurse derart verwoben präsentiert, dass kein Raum mehr für Privatleben und Individualität bleibt. Auch die oben zitierten Körpercomputer, die als Elemente des Körper- und Technikdiskurses eingeführt wurden, finden derartige Übertragungen auf andere Diskursebenen;

60

R. Pollesch: Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr, S. 33.

256

8.1 RENÉ POLLESCH: »HEIDI HOH ARBEITET HIER NICHT MEHR« etwa dann, wenn Susanne im folgenden Verlauf mit der Imperativisierung »Stöpsele dich nicht allzu tief in Verhältnisse ein, die du ablehnst«61 auf Adornos formelhafte Wendung anspielt, dass es kein richtiges im falschen Leben geben könne. Diese politische Aussage wird später auf den Gender-Diskurs übertragen, wenn Heidi den Vorgang des Einstöpselns mit einem Kleidungsstück in Verbindung bringt: »Dieser Bikini ist ein Körpercomputer. Und er ist in Verhältnisse eingestöpselt, die du ablehnst, und da kannst du gar nichts machen.«62 Welche Auswirkungen es auf das Individuum hat, wenn es nonstop und unabänderlich der Herrschaft dominanter Diskurse ausgesetzt ist, lässt sich ebenfalls an einem körperlichen Aspekt ablesen. Und zwar führt die stetige Vermischung verschiedener Diskursebenen in »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« in letzter Konsequenz dazu, dass die Liebe sich nicht länger als Mittel der Selbstverwirklichung anbietet, das eine Aussicht auf privates Glück eröffnen könnte. Stattdessen wird die Liebe durch die Überführung in den ökonomischen Diskurs zu einer Ware, sodass nicht nur Sexualität, sondern Emotionen im Allgemeinen in Tauschprozesse eingebunden werden. Dem Subjekt bleibt daher kein anderer Weg als die Prostitution, denn »[s]chließlich heißt Subjekt sein nichts anderes als in Prozesse des Tauschverkehrs eingebunden zu sein.«63 Die Technisierung des Körpers in Form der immer wieder angesprochenen ›Körpercomputer‹ bedeutet daher zugleich eine Entfernung von den eigenen Gefühlen. Zudem ermöglicht sie dem Text den Rückgriff eine bildliche Sprache, welche die Abhängigkeit des Individuums vom sozialen Netzwerk transportiert. So führt der Text vor Augen, wie die Titelheldin ›Heidi Hoh‹ zu der Einsicht gelangt, »dass sie keinen Standpunkt außerhalb des Systems beanspruchen kann«,64 wie Patrick Primavesi treffend angemerkt hat. »Das Subjekt wird nur als eine Leerstelle markiert, als Störsignal im diffusen Rauschen öffentlicher, durch Medien geformter Rede«65 und kann nicht mehr als »Subjekt einer engagierten Politisierung«66 gelten, wie noch etwa im politischen Theater vorheriger Dekaden. Stattdessen

61

Ebd., S. 35.

62

Ebd., S. 48.

63

A. Geisenhanslüke: Schreie und Flüstern, S. 264.

64

Patrick Primavesi: »Orte und Strategien postdramatischer Theaterformen«, in: Heinz Ludwig Arnold/Christian Dawidowski (Hg.), Theater fürs 21. Jahrhundert, München: Edition text + kritik 2004, S. 8-25, hier S. 19.

65

P. Primavesi: Orte und Strategien postdramatischer Theaterformen, S. 19.

66

A. Geisenhanslüke: Schreie und Flüstern, S. 258.

257

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE ist es als »beherrschtes Subjekt der Globalisierung«67 in derselben Position wie der Zuschauer im Theater, der angesichts des vorgetragenen Diskursmaterials am eigenen Leib erlebt, was es heißt, wenn sich das Postdrama anschickt, »die Grenze zwischen Theater und Wirklichkeit kollabieren zu lassen«.68 Indem dominante Diskurse auf das Theater übertragen und in dessen Möglichkeiten zugespitzt reproduziert werden, werden Schauspieler und Zuschauer gleichermaßen an ihre körperlichen Grenzen geführt: die Schauspieler an jene der Atem- und Sprechkraft, die Zuschauer an jene ihrer Aufnahmefähigkeit. So betrachtet sind die Schreie auf der Bühne, die nach Bloch das Restsubjekt ausweisen und in denen Geisenhanslüke einen »letztlich vergebliche[n] Versuch der medial vermittelten Rückkopplung der Gefühle an das Subjekt«69 sieht, auch Protestschreie des Publikums, das sich der eigenen Unterdrückung noch gar nicht bewusst ist.

8.2 Tim St affel: »Wert her in New York« Das zweite Theaterstück, das an dieser Stelle exemplarisch für innovative Reaktionen des Theaters auf die Konkurrenz des Films analysiert werden soll, weist einige Parallelen zu René Polleschs »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« auf. In intermedialer Perspektive wäre an erster Stelle der inszenatorische Einsatz von Videoclips zu nennen, der Tim Staffels »Werther in New York« ebenso deutlich prägt wie das Stück von Pollesch. Anders als bei Pollesch wirkt das Fremdmedium Film bei Staffel jedoch nicht nur formal, sondern auch auf die Handlung des Stücks ein. Daher lässt sich bei der folgenden Analyse nahezu die vollständige Taxonomie der Intermedialität vorstellen und erläutern. Zunächst einmal bezieht sich das Stück auf andere literarische Texte, so dass das von Rajewsky Intramedialität genannte Phänomen vorliegt, nach dem sich ein mediales Produkt auf ein anderes Produkt des gleichen Mediums bezieht. Die Bezugnahme zu Johann Wolfgang von Goethes »Die Leiden des jungen Werther« wird bereits im Titel des Stücks markiert, während andere Bezugnahmen wie z.B. jene auf Shakespeares »Romeo und Julia« erst im eigentlich Theatertext hergestellt und markiert werden.

67

Ebd.

68

F. Schößler: Augen-Blicke, S. 18.

69

A. Geisenhanslüke: Schreie und Flüstern, S. 267.

258

8.2 TIM STAFFEL: »WERTHER IN NEW YORK« Daneben ist »Werther in New York« in ein enges Netz aus intermedialen Bezugnahmen eingewoben, das durch eine Vielzahl an Bezugnahmen und Verweisen auf konventionell als distinkt wahrgenommene Medien, in erster Linie Film und Fernsehen, hergestellt wird. Bereits ein Blick auf das Personenverzeichnis offenbart die Mittlerstellung zwischen literarischem Intertext und fremdmedialen Bezugspunkten, da neben den Figuren goethischen Ursprungs (neben Werther tauchen im Stück auch Albert und Lotte auf) noch zwei weitere Figuren aufgeführt werden, die einer vorausgegangenen Quelle entstammen. So verweist Picard, der im Stück als Captain angesprochen wird, auf die Star-Trek-Filme und die dazugehörige Fernsehserie »The Next Generation«, während die Frauenfigur Zoe aus dem Hollywoodfilm »Killing Zoe« entlehnt ist, der im Jahr 1994 nach einem Drehbuch und unter der Regie des Tarantino-Intimus Roger Avary entstanden ist. Weitere intermediale Bezüge werden ebenfalls im Paratext markiert. Neben den dramatis personae sind zu Beginn des Textes »Credits« aufgeführt, die zum einen formal dem Film entspringen, zugleich aber auch inhaltlich auf ihn verweisen, da sich in dieser Auflistung neben Musikern und Theaterschaffenden in Baz Luhrmann und David Lynch auch zwei Filmregisseure finden lassen. Durch die Nennung von Luhrmann gewinnen die Bezugnahmen auf »Romeo und Julia« einen anderen Charakter, da er als Regisseur für die Hollywood-Verfilmung der Tragödie mit den Stars Claire Danes und Leonardo DiCaprio verantwortlich zeichnet. Die Dominanz des filmischen über den literarischen Bezug, der durch weitere Anspielungen im Text verstärkt wird,70 weist auf ein Phänomen hin, welches im medialen Theater der neunziger Jahre weit verbreitet ist. Nicht selten führt eine generelle Offenheit der einzelnen Theaterzeichen zu einer verstärkten Hinwendung zum Klamauk,71 die auch den analy-

70

So spricht Werther, als er erstmalig auf Zoe trifft, diese mit dem Namen Claire an, dem keine spezifische Motivation innerhalb der Fiktion zugeschrieben wird. Über die Textgrenzen hinaus könnte das jedoch als ein Verweis auf die Schauspielerin Claire Danes aus »Romeo + Julia« gelesen werden, was jene metatextuelle Wendung beschreiben würde, die der Text auch an verschiedenen anderen Stellen vollzieht. Vgl. Tim Staffel: »Werther in New York«, in: Nils Tabert (Hg.), Playspotting 2. Neue deutsche Stücke, Reinbek: Rowohlt 2002, S. 77-154, hier S. 100. Im Folgenden werden alle Zitate aus dem Primärtext in Klammern mit der Quellenangabe TS angegeben.

71

Vgl. hierzu: H. L. Arnold/C. Dawidowski (Hg.), Theater fürs 21. Jahrhundert, S. 7.

259

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE sierten cineastischen Stücken »Shakespeare, Mörder, Pulp und Fiktion« von John von Düffel und »Herr Kolpert« von David Gieselmann attestiert werden muss. Wo ein Verzicht auf psychologisch ausgestaltete Figuren zum Rückgriff auf Stereotype und Klischees führt, bedeutet eine Popularisierung von altbekannten Stoffen, in diesem Fall Goethes »Werther«, stets eine Banalisierung. Bei Staffel lässt sich die Banalisierung daran erkennen, dass den intramedialen Bezügen zum »Werther« weitere Referenzen zu Liebes- und Künstlerfilmen an die Seite gestellt werden, die dem Stück durch ihre mediale Kürze einen karikierenden Charakter verleihen. So lassen sich Bezugnahmen auf den Film »Der Club der toten Dichter« (USA 1989, R: Peter Weir) 72 als zusätzliche Verweise auf das mit dem »Werther« und »Romeo und Julia« anzitierte Liebesideal verstehen, entspannt sich doch die Handlung des Films um den unkonventionellen Englischlehrer John Keating und seine Zöglinge um dieselben Pole: unerfüllte Liebe und Selbstmord. Ebenso wie der Selbstmord für Romeo und Werther die Idealisierung der eigenen Liebe zu einem Höhepunkt führt, stellt auch der Suizid des Schülers Neil Perry, der sich angesichts der scheinbaren Unmöglichkeit seiner Liebe zum Theater erschießt, einen moralischen Triumph über diesseitige Hindernisse dar. Das eigene Liebesideal wird von einer derartigen Reinheit geprägt, dass eine weltliche Erfüllung von vornherein ausgeschlossen werden muss. Diese Liebenden entsprechen »[i]n der Kompromißlosigkeit ihrer bedingungslosen Treue zum erwählten Partner […] am reinsten der im Mittelalter entwickelten Doktrin der höfischen Liebesreligion«,73 nach welcher dem romantischen Liebesideal ein quasi religiöser Stellenwert zukommt, der sich – zumindest bei Goethe und Shakespeare – auch auf die sprachliche Gestaltung des Textes auswirkt.74 Weitere intermediale Einzelreferenzen tragen dafür Sorge, dass »Werther in New York« sich nicht ausschließlich auf unerfüllte Liebesgeschichten bezieht, sondern via stets per Einzelreferenz indizierter Systemreferenz F

72

So wird Picard beispielsweise des Öfteren mit dem im Film zur Formel gewordenen Whitman-Vers »Captain, mein Captain« adressiert. Vgl. T. Staffel: Werther in New York, S. 84.

73

Ingeborg Boltz: »Romeo and Juliet«, in: Walter Jens (Hg.), Kindlers Neues Li-

74

Dies geschieht vorrangig durch die ›Pilger‹-Metapher, die bei Shakespeare

teraturlexikon, Bd. 15, München: Kindler 1998, S. 333-336, hier S. 335f. während des ersten Aufeinandertreffens der zwei Jugendlichen als beeindruckendes Wortspiel eingeführt wird und im »Werther« eine Bedeutungserweiterung erfährt, da sie im Kontext des sakralen Kunstverständnisses Werthers verwendet wird, dem die Natur als Quelle der Kunst heilig ist.

260

8.2 TIM STAFFEL: »WERTHER IN NEW YORK« noch vor dem Hintergrund anderer Genres zu lesen, die allesamt dem filmischen Medium zuzuordnen sind. So kommt es im Stück zu Aussagen über Oliver Stones Film »Last Year in Vietnam«, die die mediale Machart dieses Films thematisieren und so betrachtet als explizite Systemerwähnungen zu werten sind. Wichtiger als Oliver Stone, auf den an späterer Stelle jedoch noch zurückzukommen sein wird, ist die Art und Weise, wie das Theaterstück durch die Bezugnahme auf den im Zuge der Figuren bereits erwähnten Film »Killing Zoe« Bedeutung konstituiert. Neben der Benennung ist auch die Figurenzeichnung der Zoe dem Bezugsfilm entlehnt. Die Zoe bei Staffel und ihre Vorlage in dem in Paris spielenden Bankraubfilm sind grundlegend identisch, was bereits an analogen Einführungen in die Handlung ersichtlich wird. Wird Zoe im Film als Prostituierte auf das Hotelzimmer des Tresorknackers Zed bestellt, so wird sie auch im Theaterstück in der Horizontalen eingeführt; allerdings ist es Picard, der in der Filmsequenz mit Zoe im Bett liegt. Bei Avary bietet die Prostitution für Zoe die (zugegebenermaßen unkonventionelle) Möglichkeit, ihr Studium zu finanzieren. Diesem Umstand trägt das Stück Rechnung, wenn Zoe auf Lottes Frage, was sie beruflich mache, ob sie etwa studiere, wortkarg antwortet: »Ich ficke sehr gut« (TS, S. 100). Zudem steht sie als sexuell höchst aktive Figur (im Laufe des Stücks ist sie mit Picard im Bett, wird erst von Albert vergewaltigt,75 bevor sie sich ihm später freiwillig anbietet76) dem romantischen Liebesideal Werthers diametral entgegen, was sie nicht zuletzt dazu befähigt, seine Haltung als Pose zu enttarnen. So mischt sie sich beispielsweise an einer Stelle in ein Gespräch zwischen Werther und Lotte ein. Werther offenbart Lotte sein Innenleben und gesteht, dass seine vorstellende Kraft schwach sei und dass alles vor seiner Seele schwimme. Zoes folgender Einwand nimmt eventuell die Gedanken der Zuschauer vorweg, zeichnet er sich doch durch das prototypische Mehrwissen des postmodernen Lesers aus, wenn sie sagt: »Das ist doch ein Zitat, oder? ›Alles schwimmt und schwankt so vor meiner Seele…« (TS, S. 100). Es ist diese Form des Wissensvorsprung der Zuschauer vor den Figuren, die in intermedial gestalteten Stücken als Allgemeinwissen vorausgesetzt und somit quasi als ›vorauslaufende Information‹ einkalkuliert wird,77 die mitunter auch für unter75

Vgl. T. Staffel: Werther in New York, S. 113.

76

Vgl. ebd., S. 143.

77

Vgl. Zur Differenzierung der Informationsvergabe in Film und Drama: T. Kuchenbuch: Filmanalyse, S. 161ff.; B. Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse, S. 114ff.

261

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE haltende Nebeneffekte sorgt, wenn beispielsweise Zoe bei Staffel von den anderen Figuren als Bankraubspezialistin angesehen wird,78 ist sie in »Killing Zoe« doch die einzige der Hauptfiguren, die ihren Lebensunterhalt nicht auf diese Weise verdient. Daher lässt sich feststellen, dass das mediale Subsystem, dem Zoe entspringt, systemreferentiell auf sie rückwirkt. Diese Rückkopplung geht mit zahlreichen systemrefentiellen Bezugnahmen wie dem genrekonstitutiven Uhrenvergleich einher, der wie im Folgenden zitiert zu Beginn des Stücks eingeführt und in der Folge mehrfach wiederholt und variiert wird: WERTHER

Uhrenvergleich?

PICARD

Wen interessiert das?

WERTHER

Werther ist interessiert.

PICARD

Werther?

WERTHER

Werther.

PICARD

Kenn ich nicht.

WERTHER

Zieh schneller. (TS, S. 81)

In dieser ersten Uhrenvergleichsszene gibt sich Werther noch als Unwissender zu erkennen. Das im heist movie mit dem Kommando ›Uhrenvergleich‹ eröffnete Ritual ist ihm fremd. Werther, dies lässt sich unschwer ableiten, hat keine medialen Erfahrungen mit prägnanten Filmen dieses Genres; Filme wie »Du rififi chez les hommes« (F 1955, R: Jules Dassin), »How to Steal a Million« (USA 1966, R: William Wyler) oder »Reservoir Dogs« (USA 1992, R: Quentin Tarantino) wird er nicht gesehen haben. Als Kriterium für den Stellenwert des letztgenannten Films für das Genre des heist movie macht Robert Fischer die Ernsthaftigkeit aus, mit welcher der Film Genrekonventionen begegnet.79 Im Gegensatz zum späteren »Pulp Fiction« nehme »Reservoir Dogs« seine »Geschichte und seine Charakter«80 ernst. In Anbetracht von metatextuellen Fiktionsbrüchen wie Zoes oben angeführter Reaktion auf Werthers gefühlsbetonte Selbsteinschätzung, muss »Werther in New York« jener ›unernste‹ oder besser spielerische Charakter zugesprochen werden, der auch »Pulp Fiction« als postmodernen Film von Tarantinos Erstling abrückt. Dementsprechend ist Werther, der für eine historisch abgeschlossene literarische Untergattung einsteht, den empfindsamen Briefroman, dann doch mit einigen Genres vertraut, die vor dem Hintergrund

78

Vgl. T. Staffel: Werther in New York, S. 119.

79

Vgl. R. Fischer: Pulp Fiction, S. 135.

80

Ebd.

262

8.2 TIM STAFFEL: »WERTHER IN NEW YORK« seines Bewusstseins anachronistisch genannt werden müssen. Konventionen des ältesten Filmgenres, das nebenbei erwähnt auch die stärkste Ausprägung und Verbreitung erfahren hat, sind Werther nämlich bekannt, wie seine abschließende Aufforderung zum Pistolenduell vermuten lässt (›Zieh schneller‹), die für den Western ebenso charakteristisch ist wie der obligatorische Uhrenvergleich für das heist movie. Ein weiterer intermedialer Bezugspunkt wird aus »Killing Zoe« übernommen, der seinerseits Einzelreferenzen zum Vampirfilm-Klassiker »Nosferatu, eine Symphonie des Grauens« (D 1922, R: Friedrich Wilhelm Murnau) nebst anschließenden Systemreferenzen zum Vampirfilm aufweist (wie z.B. die Heroinsucht und HIV-Erkrankung des Drahtziehers Eric, Zed wird von Eric am Hals verletzt etc.). So kommt es, dass Staffels Werther sich nicht nur einen Messerschnitt am Unterarm beibringt, sondern sich sogar sein eigenes Blut aussaugt. Gekoppelt werden die vampirischen Anleihen mit Bildern von geöffneten Körpern und inneren Organen, die formal auf David Lynch verweisen, 81 der auch in den Credits genannt wird, worauf an späterer Stelle zurückzukommen sein wird. Da für Genres im Gegensatz zu Gattungen das Überschreiten von Mediengrenzen per se als konstitutives Merkmal gelten kann,82 verstärken die systemrefentiellen Bezüge auf Liebestragödie, heist movie und Vampirfilm den angesichts der zentralen Bedeutung der literarischen Bezugspunkte »Werther« und »Romeo und Julia« gewonnenen Eindruck, dass sich Staffels Stück in ganz besonderem Maße für eine intermediale Analyse anbietet. Da es keine eindeutige Antwort auf die für eine Intermedialität, die ihre theoretischen Vorzüge vor einer konventionellen Quellenund Einflussforschung behaupten möchte, entscheidende Frage nach dem Zweck und der Wirkung von intermedialen Bezugnahmen gibt, sollen im Folgenden zwei fundamentale Wirkungsweisen intraund intermedialer Bezugnahmen in »Werther in New York« differenziert und veranschaulicht werden. Die erste Einflussbeziehung zwischen Staffels Theaterstück und Goethes Briefroman lässt sich derart beschreiben, dass das Stück den Roman kommentiert und interpretierend aktualisiert, womit eiF

81

Vgl. hierzu: Detlef Kremer: »Deformierte Körper. Gewalt und Groteske bei David Lynch und Francis Bacon«, in: Rolf Grimminger (Hg.), Kunst. Macht. Gewalt, München: Fink 2000, S. 209–229; sowie: Anne Jersley: David Lynch. Mentale Landschaften, Wien: Passagen-Verlag 1996.

82

Vgl. zur Differenzierung zwischen Gattung und Genre: Knut Hickethier: »Genretheorie und Genreanalyse«, in: Jürgen Felix (Hg.), Moderne Film Theorie, Mainz: Bender 2002, S. 62-96, hier S. 63.

263

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE ne Relation gegeben ist, die der genetteschen Metatextualität nahe steht.83 Der Maler Werther ist ebenso wie Shakespeares Romeo, der Rosalinde just in dem Moment vergisst, in welchem er Julia erblickt, eine literarische Figur, die erheblich zu der Herausbildung des Mythos der sogenannten Liebe auf den ersten Blick beigetragen hat. Dem Brief vom 16. Junius lässt sich entnehmen, wie Werther bei Lottes Anblick sämtliches Vorwissen über sie vergisst. Die Information, dass sie schon »an einen sehr braven Mann [vergeben ist], der weggereist ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen«,84 scheint vollkommen ausgeblendet zu sein. Dies zeugt viel stärker von Werthers emotionaler Ergriffenheit als all seine Versuche die Gefühle im Nachhinein den Regeln der Dichtkunst und des Briefwechsels gemäß in Worte zu fassen (»So viel Einfalt bei so viel Verstand, so viel Güte bei so viel Festigkeit, und die Ruhe der Seele bei dem wahren Leben und der Tätigkeit.« HA, S. 19). Interessanterweise werden Werther angesichts der Unmittelbarkeit seiner Gefühle die Grenzen der Sprache vollauf bewusst – so kommentiert er die eigenen Lobpreisungen der Auserwählten als »garstiges Gewäsch, [und] leidige Abstraktionen, die nicht einen Zug ihres Selbst ausdrücken« (HA, S. 19) –, während er die Aufrichtigkeit der Gefühle selbst jedoch nicht ansatzweise in Frage stellt. Einen wesentlichen Beitrag zu dieser unreflektierten Haltung den eigenen Gefühlen gegenüber leisten Werthers Leseerfahrungen. Als naivem Leser scheint Werther gar nicht bewusst zu sein, wie stark seine Vorstellung von Liebe, die für ihn mit einem idyllischen Naturideal einhergeht, durch Kunst vermittelt ist. Anders verhält sich dies bei Staffel. Hier fließen mehr als 200 Jahre Textrezeption in die Konzeption des »Bildermachers« (TS, S. 81) mit ein, was zu einer verknappten Darstellungsweise in Comic-Manier führt, die mitunter Stereotyp an Stereotyp reiht. So wird beispielsweise das erste Treffen der beiden mit einer Regieanwiesung eingeleitet, die gleichermaßen an den kollektiven Bildspeicher des Genres anknüpft und mit den Mitteln des Prätextes (Stichwort: Äußeres für Inneres) auf folgendes Unheil hinweist: »Lotte erscheint auf dem Balkon in Verona. Aufziehendes Gewitter« (TS, S. 86). Das Gespräch, das sich daraufhin entspannt, weist Werthers Verliebtheit weniger als unbedingtes Hereinbrechen einer natürlichen Ge83

Vgl. G. Genette: Palimpseste, S. 13.

84

Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. von Erich Trunz, 7. Auflage, Bd. 6, Romane und Novellen, Hamburg: Wegner 1968, S. 20. Die Quellenangabe erfolgt im Folgenden in Klammern im Fließtext (als HA).

264

8.2 TIM STAFFEL: »WERTHER IN NEW YORK« walt denn als kommunikatives Wechselverhältnis aus. »Ist das ein Lächeln oder ein Grinsen?« (ebd.) fragt Werther und erst nach einer unsicheren Rückmeldung durch Lotte (»Ein Lächeln?«85) nimmt Werther die Haltung des unbedingt Liebenden ein (»Dann bin ich kein Mensch mehr.« [TS, S. 87]), die damit zugleich als Pose entlarvt wird. Werthers Liebesideal wird bei Staffel noch in anderer Hinsicht stereotypisch thematisiert. So greift das Stück einen Umstand auf, auf den insbesondere die psychoanalytische Literaturwissenschaft hinlänglich hingewiesen hat,86 nämlich dass Werther Lotte beim ersten Aufeinandertreffen in der sozialen Rolle einer sorgenden Mutter erblickt, die »ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits« (HA, S. 21) abschneidet. Nach diesem Interpretationsansatz rückt Werthers familiäre Situation in den Vordergrund: das Fehlen einer Vaterinstanz, die Beziehung zur Mutter. Lotte inmitten ihrer jüngeren Geschwister verkörpert dann alle Sehnsüchte Werthers zugleich, ist Geliebte und Mutter in einem. Hierauf nimmt das Stück selbst Bezug, indem Lotte Werthers Herzensleiden – aus medizinischer Perspektive lautet die Diagnose schlicht und einfach: Verrücktheit!87 – psychologisch zu erklären versucht: »Der übergroße Schutz der Mutter verhindert Strategien zur Angstbewältigung, sagt Albert.« (TS, S. 94) Albert ist auf dem Wissensstand der (psychoanalytischen) Wertherrezeption des 20. Jahrhunderts: Er erklärt Werther, dass man sich »in die Projektion dessen [verliebt], was man in der eigenen Persönlichkeit verdrängt hat.« (TS, S. 108) Da hilft es auch kaum, dass Werther Lotte entgegen schreit: »Du bist nicht meine Mutter!« (TS, S. 95) Die Zuschauer dürften längst die Perspektive Alberts eingenommen haben, der ihren Wissensstand teilt und dadurch eine Aktualisierung herbeiführt. Allerdings ist dies nicht die einzige Art und Weise, wie die Realität Einzug in das literarische Geschehen hält, wie an späterer Stelle ebenfalls an der Figur des Albert gezeigt werden soll. Eine aktualisierende Funktion, im Sinne der obigen Schilderung, kann »Werther in New York« durchweg zugeschrieben werden. Anhand des zentralen Briefs vom 16. Juni, der oben bereits zitiert worden ist, lässt sich das gut veranschaulichen. Gegen Ende des 85

T. Staffel: Werther in New York, S. 86.

86

Vgl. beispielsweise: Reinhart Meyer-Kalkus: »Werthers Krankheit zum Tode. Pathologie und Familie in der Empfindsamkeit«, in: Friedrich A. Kittler/Horst Turk (Hg.), Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 76-138.

87

Vgl. T. Staffel: Werther in New York, S. 94.

265

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Briefs offenbart sich in der Schilderung des Ballabends Werthers Kunstverständnis und der Stellenwert von Kunst für seine Weltsicht. Im Brief heißt es: »Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellenbogen gestützt, ihr Blick durchdrang die Gegend; sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: ›Klopstock!‹--Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß. Ich ertrug’s nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen. Und sah nach ihrem Auge wieder--Edler! Hättest du deine Vergötterung in diesem Blicke gesehen, und möcht’ ich nun deinen so oft entweihten Namen nie wieder nennen hören!« (HA, S. 27)

Der Überschuss an Emotionen, der infolge der bloßen Namensnennung des empfindsamen Dichters aus dem jungen Maler ›hervorsprudelt‹, wie der metaphorische Sprachgebrauch hier nahe legt (»versank«, »Strome«, »ausgoß«), weist auf Werthers starke Beeinflussung durch Kunst hin, in diesem Fall Lyrik. Während Goethes Briefroman allgemein und das Gespräch am Fenster speziell längst beinah obligatorisch zum Literaturunterricht auf der gymnasialen Oberstufe gehören und damit ggf. überholt wirken könnten, ist die zugrundeliegende Frage, ob intensive Gefühle zu künstlerischer Verarbeitung führen oder ob emotionale Kunst und deren exzessive Rezeption diese Emotionen überhaupt erst hervorbringen, von ungebrochener Aktualität. Freilich sollte heutzutage davon ausgegangen werden, dass ein durchschnittliches Theaterpublikum um die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Briefromans weiß, da eine »Rezeption von Literatur und damit Wirkungsgeschichte [nicht] ohne Tradition […] denkbar und nicht erforschbar«88 ist. Es dürfte den Zuschauern also bekannt sein, dass der »Werther« selbst »Gegenstand heftiger Angriffe und grenzenloser Bewunderung«89 und für die unmittelbar folgenden Lesergenerationen einen Stellenwert hatte, der heute wohl mit dem Schlagwort ›Kultbuch‹ umschrieben würde. Der Mythos um das sogenannte Werther-Fieber – unabhängig davon, ob diese Mo-

88

Wilfried Barner: »Wirkungsgeschichte und Tradition«, in: Gunther E. Grimm

89

Ingrid Engel: Werther und die Wertheriaden. Ein Beitrag zur Wirkungsge-

(Hg.), Literatur und Leser, Stuttgart: Reclam 1975, S. 85-100, hier S. 100. schichte, St. Ingbert: Röhrig 1986, S. 74.

266

8.2 TIM STAFFEL: »WERTHER IN NEW YORK« debewegung in dieser Form stattgefunden hat und ob es überhaupt zu nachgeahmten Selbstmorden gekommen ist – belegt eindrucksvoll, dass der »Werther« als Erkennungsformel unter Empfindsamen an die Stelle der »Klopstock«-Losung treten konnte. Nur deshalb kann die Variation dieser Textstelle bei Staffel funktionieren; während des kokettierenden Kennenlernens eröffnet Lotte Werther, dass sie verlobt ist, ermutigt ihn aber zur gleichen Zeit, das Hofieren fortzuführen: WERTHER

Es wird gleich regnen.

LOTTE

Hör nicht auf.

WERTHER

Das geht sowieso nicht mehr.

Werther und Picard ziehen ab. LOTTE

Morrison!

WERTHER/PICARD

Morrison.

Sie geben sich Fünf, und es regnet. (TS, S. 88)

In starker Verknappung wird hier eine Analogie konstruiert, die gleich in dreifacher Hinsicht zu einer intermedialen Bedeutungskonstitution führt: der Verweis auf den aufziehenden Regen greift die zentrale Metapher des Hypotexts auf, ahmt also seine Mittel nach und dient damit zugleich als Markierung des Bezugs; Lottes explizite Aufforderung, dass Werther nicht aufhören solle, charakterisiert sie über die Grenzen des Hypotexts hinaus, indem sie Lottes verborgene Lust an Werthers Bewunderung in den Vordergrund rückt; und zu guter Letzt wird in der staffelschen Variation »Klopstock« durch »Morrison« ersetzt, was systemreferentielle Schlussfolgerungen eröffnet. Zum einen wird damit – vorausgesetzt hinter dieser Namensnennung wird Jim Morrison erkannt, der Sänger der Band »The Doors« – auf ein frühzeitig verstorbenes Idol angespielt, dessen Tod eine kultische Bewegung ausgelöst hat, die dem Wertherfieber vergleichbar ist. Zum anderen indiziert die Einzelreferenz auf den Sänger eine Systemreferenz, welche den Hypotext insofern aktualisiert, als dass sie Funktion und Stellenwert der Lyrik im 18. Jahrhundert nun der Popmusik zuschreibt. Der Idealtypus des Dichters ist im späten 20. Jahrhundert der Singer/Songwriter, so ließe sich diese Variation also entschlüsseln. Auf diese Weise überführt Staffel den Hypotext in die Realität der 1990er Jahre, die ungemein stark von Posen und Strategien der Selbstinszenierung in einer auf Erlebnisgewinn ausgerichteten Massengesellschaft geprägt sind. Die Aufgabe, den schwärmerischen Maler Werther mit der Wirklichkeit zu konfrontieren, kommt bei Goethe primär Lottes Verlob267

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE tem Albert zu. Er steht für die Disziplinierung der Leidenschaften ein, die dem heißblütigen Werther misslingt. Dass diese Aufgabe bei Staffel auf mehrere Figuren verteilt wird, zeugt von der coolness, der emotionalen Kälte, die in den neunziger Jahren anscheinend eher die Regel als die Ausnahme darstellt. Neben Albert, bei Staffel passender Weise ein Anästhesist,90 ist es vor allem Picard, der Werther mit der Realität konfrontiert. Als Werther in Illusionen schwelgend beispielsweise aus der schlichten Tatsache, dass Lotte sich nach dem Verabschieden noch einmal nach ihm umdreht, die Schlussfolgerung ziehen möchte, dass Lotte ihn liebe, erwidert Picard schonungslos: »Sie fickt Albert, kapiert? Keine weiteren Interessen.« (TS, S. 112) Dass sich Werther nicht so einfach desillusionieren lässt, verwundert kaum. Schließlich fehlt ihm die Bindung zur Realität ab dem Moment, in dem Lotte ihm ein Lächeln statt eines Grinsen bestätigt, wie seine unmittelbare Reaktion auf Lotte zeigt: PICARD

Was ist los mit dir?

WERTHER

Es regnet.

PICARD

Natürlich regnet es.

WERTHER

Tag oder Nacht?

PICARD

Vergiss es.

WERTHER

Ich hab sie gesehen.

PICARD

Ja. Und?

WERTHER

Sie heißt Lotte. (TS, S. 88)

Werther kann nicht mal mehr unterscheiden, ob es Tag oder Nacht ist, womit er seinen literarischen Wurzeln treu bleibt. In Goethes Text schildert der Protagonist dieselben Auswirkungen im Brief vom 19. Junius: »Da verließ ich sie mit der Bitte, sie selbigen Tags noch sehen zu dürfen; sie gestand mir’s zu, und ich bin gekommen--und seit der Zeit können Sonne, Mond und Sterne geruhig ihre Wirtschaft treiben, ich weiß weder daß Tag noch daß Nacht ist, und die ganze Welt verliert sich um mich her.« (HA, S. 28)

Dass Verliebte mitunter nicht mehr dem Rhythmus von Tag und Nacht unterworfen sind, ist bereits aus dem ja ebenfalls anzitierten »Romeo und Julia« bekannt (ganz gleich ob Drama oder Film, Shakespeare oder Luhrmann). Auch Werther ist ein solcher Zeitloser, der nicht zwischen Lerche und Nachtigall zu unterscheiden weiß. Im intermedialen Bezugsfeld, das in »Werther in New York«

90

T. Staffel: Werther in New York, S. 103.

268

8.2 TIM STAFFEL: »WERTHER IN NEW YORK« entspannt wird, ist dieser Aspekt zudem mit »Killing Zoe« verbunden. Dort befindet sich der Amerikaner Eric zu Beginn in einem Taxi auf dem Weg vom Pariser Flughafen ins Zentrum und bekommt auf seine Frage nach der Uhrzeit vom Taxifahrer die lapidare Antwort »Es ist Tag.«91 Fortan durchzieht die Uhrzeit den Film geradezu leitmotivisch und wird zu einer Metapher der Orientierungslosigkeit in den Zeiten der Globalisierung. So besehen treffen in dem bei Staffel wiederholt vollzogenen Uhrenvergleich, das Genre des heist movies, für das ein solches Ritual genrekonstitutiv ist, und die Illusionierung und Desillusionierung im Selbstbild von Liebenden aufeinander. Hierbei ist das Selbstbild stets bedeutender als objektivrealistische Einschätzungen von außen, was sich in den Metaphern im Brief vom 19. Juni gebündelt findet. »Sonne, Mond und Sterne« sind Werther egal, und »die ganze Welt verliert sich um« ihn herum. Werther steht also im Zentrum, er ist der Fixstern, um den sich die Dinge drehen. Dieses ausgesprochen egozentrische Weltbild wird bei Staffel aufgegriffen: in einem Videoclip erscheint Lotte als Mond (TS, S. 130).92 Wenn im Briefroman die Unmittelbarkeit einer für natürlich erachteten Liebe postuliert wird, hinterfragt das Theaterstück diese Unmittelbarkeit und verhandelt unterschiedliche Formen der Vermittlung, wodurch der Beobachtungsschwerpunkt verstärkt auf intertextuelle Elemente im »Werther« gelegt wird. Durch die zahlreichen intermedialen Bezugnahmen wird die Frage nach der Authentizität der Figuren und ihrer Empfindungen gestellt, die bei Goethe ausgespart bleibt. Insgesamt stellt die Opposition von Sein und Schein, von Wirklichkeit und Theater – jenen »Begrifflichkeiten […] die in unserer Kultur traditionell dichotomisch gesetzt werden«93 – eine Aktualisierung des »Werthers« vor dem Hintergrund der medialen Trennung des Authentischen vom Fake, die im Grunde genommen seit jeher den Illusionscharakter des Theaters geprägt hat, am Ende des 20. Jahrhunderts jedoch aufgrund des hohen Einflusses medialer Praktiken auf die Konstruktion von Wirklichkeit eine erwähnenswerte Blütezeit erlebt. Wie eine Neuperspektivierung des »Werthers« aus der Warte des Authentischen in Staffels Stück konkret vorgenommen wird, kann anhand der Todesdarstellungen in beiden Texten aufgezeigt werden. 91

Killing Zoe, 00:03:30.

92

Die entsprechende Regieanweisung lautet: »Lotte als Mond. Ein Mond, der

93

M. Bönninghausen: Inszenierung und Authentizität, S. 95.

explodiert. Werther schreit.« Vgl. T. Staffel: Werther in New York, S. 130.

269

ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE Dass Werthers Tod nicht allzu authentisch wirkt, ist mit steigender Zahl kritischer Interpretationen, welche die Inszenierungscharakter der Vorgänge herausgestellt haben, deutlich geworden. Werther erschießt sich um Mitternacht, wird erst sechs Stunden später von einem Diener entdeckt, ist aber noch immer lebendig, und das obwohl der Schuss das Gehirn »herausgetrieben« (HA, S. 124) hat. Als man ihm dann zudem »zum Überfluß eine Ader am Arme« (ebd.) lässt, läuft das Blut, und Werther atmet noch. Erst um 12 Uhr mittags stirbt er nach Aussage des unbekannten Herausgebers. Allein eine solche Bilanz der medizinisch feststellbaren Veränderungen der Körperfunktionen sollte verdeutlichen, dass es sich bei diesen zwölf Stunden Sterben weniger um die Dokumentation eines Suizids als um eine grundlegend konzipierte Todesinszenierung handelt, deren Inspirationsquellen literarischer Natur sind. So fungiert der Abschiedsbrief an Lotte als Kommentartext einer Tat, die intertextuell im Kontext des auf Werthers Pult aufgeschlagenen »Emilia Galotti« zu verstehen ist (vgl. ebd.). Werthers Verzweiflungstat erscheint aus dieser Perspektive als eine spezifische Pose des Sturm und Drang, die lediglich die eigene Regelhaftigkeit übersieht und sich daher als naturgegeben missversteht. So fasst zumindest Staffels Stück den »Werther« auf, wenn es den Selbstmord mehrfach ablaufen lässt und dabei Bühnengeschehen und eingespielte Videoclipsequenzen übereinander lagert. Mit diesem Verfahren ist »Werther in New York« durchaus repräsentativ für das Drama der neunziger Jahre, das tendenziell intermedial konzipiert ist. Durch die Hinzunahme fremdmedialer Formen und Elemente, hier die Videoclips, lässt sich ex negativo auch das Theatralische klarer erkennen und bezeichnen, so dass die Montage von Videomaterial in der Tat jene Form der Gegenwart des Theaters herstellt, die Hans-Thies Lehmann zuerst beschrieben hat.94 Die iterative Darbietung des Selbstmords – insgesamt wird Werther in drei Videoclips angeschossen – verläuft so, dass mit jeder Wiederholung mehr Klarheit in das Geschehen gebracht wird. In der ersten Sequenz gipfelt eine akohärente Auflistung in Werthers Tod (»LOTTE WEHRT SICH. LOTTES PISTOLE. EIN SCHUSS. WERTHER STIRBT.« [TS, S. 137]), während der zweite Clip an die intermediale Systemreferenz zum heist movie anknüpft: in zwei übereinander gelagerten Projektionen werden zwei Banküberfälle simultan dargeboten. Die erste zeigt Zoe, Albert, Picard und Lotte in einer Bank, die Situation eskaliert und die vier werden mit Gotcha-Munition erschossen; die zweite Projektion zeigt Werther, dem als Einzeltäter 94

Vgl. H.-T. Lehmann: Die Gegenwart des Theaters.

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8.2 TIM STAFFEL: »WERTHER IN NEW YORK« die Nerven versagen und der auf der Flucht erschossen wird (TS, S. 142f.). Die dritte Videosequenz führt schließlich den literarischen Hypotext und das anzitierte Filmgenre zusammen: es wird wiederum die Filmsequenz von Werthers Flucht gezeigt, während der er vor einer Mauer stehen bleibt, von einem Schuss getroffen wird und zusammenbricht, und zugleich tritt der Schauspieler, der Werther spielt, vor die Projektion und schießt sich mit Alberts Pistole über dem rechten Auge in den Kopf. Durch »den Kontrast des atmenden Körpers mit nur medial vermittelten Bildern«95 wird die Geschlossenheit der Figuren aufgebrochen und als eben nicht-authentisch gebrandmarkt. Verstärkt wird der Eindruck des Nicht-Authentischen zudem durch die intermediale Systemreferenz zum heist movie, da die Konvention des Genres an dieser Stelle impliziert, dass auch Werthers Verhalten nach einem vorgegebenen Muster abläuft. Was im Theater der neunziger Jahre im vorliegenden Fall mittels Intermedialität erreicht wird, ist die Dekonstruktion des prototypischen Sturm und Drang-Helden und seines Strebens nach Originalität. Auf der Mikroebene wird diese dekonstruktive Bewegung anhand einer paradigmatischen Metapher des Hypotextes nachvollzogen. Dass dem Werther das Herz die höchste Instanz ist, lässt sich bereits aus dem Anfang des ersten Briefs herauslesen, im dem bereits die Gefühlswelt als Untersuchungsgegenstand, den es zu ergründen gelte, etabliert wird: »Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu sein!« (HA, S. 7)

Staffels Werther-Variante erhebt den empfindsam-verklärenden Ausruf ›was ist das Herz des Menschen!‹ zur Grundsatzfrage und überführt ihn in den medizinischen Bereich, so dass die durchgängige Verwendung der Herzmetapher dekonstruiert wird. Im Brief vom 1. Juli, der von einem gemeinsamen Besuch Lottes und Werthers beim Pfarrer berichtet, äußert Werther in Anbetracht des eifersüchtigen Herrn Schmidt, der mit der Tochter des Pfarrers liiert ist, einen Wunsch, der vor schlechter Laune schützen soll: »Wenn wir immer ein offenes Herz hätten, das Gute zu genießen, das uns Gott für jeden Tag bereitet,« so stellt Werther seine Auffassung dar, »wir würden alsdann auch Kraft genug haben, das Übel zu tragen, wenn es kommt« (HA, S. 33). Das offene Herz, das Goethes Werther 95

Ebd., S. 20.

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ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE sich und seinen Mitmenschen wünscht, wird in »Werther in New York« wörtlich genommen. So gesteht Werther Lotte schnell, dass »[s]ein Herz […] einen Tumor« (TS, S. 93) habe und er eine »Operation am offenen Herzen« (ebd.) brauche. Wie seine Liebesschwärmerei stößt allerdings auch sein Selbstbild als Kranker auf erhebliche Widerstände, etwa in Person seines Kardiologen, der ihn schlichtweg für verrückt erklärt, wobei alle Register einer medizinischen Normalisierung gezogen werden, wie aus Werthers Schilderung der ärztlichen Reaktion hervorgeht: »Operationsindikation erst ab Stadium III der New York Heart Association. Ich hätte höchstens Stadium I, keine Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit bei gewohnter Belastung.« (TS, S. 94)

Sprachlich elegante Mittel des empfindsamen Briefromans, so ließe sich die Konfrontation der Herzmetapher mit der Herzchirurgie deuten, lassen sich nicht ohne Weiteres in das Gegenwartsdrama der 1990er Jahre überführen. Stattdessen lässt sich mittels einer Erweiterung der Metapher durch die Bezugnahme auf die moderne Medizin eine Deutung der künstlerischen Gattung anstellen, der sie entspringt. Wenn Werther Lotte gegenüber bei Staffel die anstehende Operation beschreibt, so liest sich das als eine Allegorie des emotionalen Offenbarungsvorgangs, der im Briefroman als umfassende und unverfälschte Wiedergabe von Innerlichkeit inszeniert wird (beim »Werther« wird diese scheinbare Authentizität durch den fiktiven Herausgeber verstärkt): »Und dann schneiden sie mich auf. Er schneidet mich auf. Alle können das sehen, du kannst es sehen, mein offenes Herz und all die Schläuche, die mich betäuben sollen und die er rauszieht, sodass ich das sehen kann, mein offenes Herz, in das du greifst, vielleicht.« (TS, S. 132)

Wenn in dieser Vorstellung der Operation Werthers innere Organe für alle sichtbar werden, so wird die Metapher des Herzens konkretisiert. Sie dient nicht mehr als Ausdruck reiner Innerlichkeit und damit der Verabsolutierung der Gefühlswelt, sondern weist auf den faktisch-organischen Gehalt von Innerlichkeit hin. Konsequenterweise wird diese konkrete Bedeutung in Videoclips auch tatsächlich vor Augen geführt. Zwischen Clips, die die Figuren in unterschiedlichen Liebeskonstellationen zeigen, ist ein Clip geschnitten, der lediglich mit »HERZKATHETER / HERZOPERATION« (TS, S. 113) überschrieben ist. Auch bei der Todesankündigung per Filmsequenz werden Bilder eines geöffneten Brustkastens dargeboten, die Wer272

8.2 TIM STAFFEL: »WERTHER IN NEW YORK« ther verharren lassen.96 Derartige Bilder erinnern an die Filme von David Lynch, dessen Name in den Credits zu Beginn als intermedialer Bezug markiert wird. Die Konkretisierung der Herzmetapher weckt ein Bewusstsein für die hohe Unbestimmtheit von Sprache im Allgemeinen und Literatur im Speziellen. Somit reflektiert »Werther in New York« nicht nur die eigene mediale Beschaffenheit, die zwischen Text, Inszenierung und Film angesiedelt ist, sondern aktualisiert den Hypotext »Die Leiden des jungen Werther« über punktuelle Bezugnahmen wie die Ersetzung von Klopstock durch Jim Morrison hinaus, indem es ihn dekonstruiert und ihn im Koordinatensystem der neunziger Jahre re-kontextualisiert.

96

Vgl. T. Staffel: Werther in New York, S. 137.

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9. S chluss Das Gegenwartsdrama stellt um den Jahrtausendwechsel einen höchst heteronomen Bereich der Literatur dar. Der Facettenreichtum der pluralistischen Theaterlandschaft, der den Beobachtern die Unzulänglichkeit des eigenen Blickwinkels vor Augen führt, da doch niemals die Gesamtheit aller Erscheinungen fokussiert werden kann, lässt aus der Distanz einige klare Tendenzen erkennen. Daher wurde mit dem vergleichenden Blick auf Theater und Film eine Perspektive gewählt, die sich dem Drama um das Jahr 2000 mit einem enormen zeitlichen Anlauf von rund einhundert Jahren nähert; dank dieses scheinbaren Rückschrittes konnte eine Einteilung des vielgestaltigen Feldes der Gegenwartsdramatik vorgenommen werden, das infolge der anhaltenden Zuschauerkrise in den neunziger Jahren ein Bereich des stetigen Wandels darstellt. Angesichts dieses Ergebnisses erweisen sich die verschiedenen – mitunter breit angelegten Exkurse – durchaus als gerechtfertigt. Ohne die ausführliche Annäherung an das übergeordnete Lernziel Methodenkompetenz, welche zugleich den Stellenwert des Gegenwartsdramas für die schulische Praxis unterstreicht, wären beispielsweise einige der folgenden Arbeitsschritte nur ansatzweise nachvollziehbar gewesen. Die besondere Eignung des Dramas der Gegenwart als Ort einer ästhetischen Wahrnehmungsschule etwa, die sich aus der intermedialen Konzeption vieler Gegenwartsdramen ergibt, ist in diesem Zusammenhang ebenso wie der motivationsfördernde Bezug zur Lebenswirklichkeit der Schüler zu nennen, den Gegenwartsliteratur im Gegensatz zu Texten des Literaturkanons in den Deutschunterricht einbringen kann. Daher haben beide Exkurse, der zu Medienkompetenz und Deutschunterricht im zweiten sowie der zu Gegenwartsliteratur und Deutschunterricht im dritten Kapitel, einen Anteil daran, dass die Dringlichkeit der aus der Fachdidaktik aufgegriffenen Forderungen ersichtlich werden kann. Da in fachdidaktischen Beiträgen mitunter eine Unsicherheit gegenüber der augenscheinlichen Heterogenität der unter dem Schlagwort Gegenwartsdrama gefassten Texte als Ursache für die generelle Scheu der Lehrer vor dieser Untergattung angenommen wird, sind

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ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE die einzelnen Argumentationsschritte in den beiden Darstellungskapiteln auch in dem vorliegenden Umfang gerechtfertigt. Wenn zunächst Definitionsbemühungen und dabei zwangsläufig auftauchende Schwierigkeiten ins Auge fasst wurden, welche auch die unterschiedlichen Auffassungen des Begriffs Medienkompetenz in Schulpraxis und didaktischer Forschung verständlich machen, so ist dies in der Absicht geschehen, damit ebenso wie mit den Ausführungen zur historischen Entwicklung der Diskussion um den Nutzen von Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht und zur gegenwärtigen Situation in den Schulen zu einem Abbau der Unsicherheit unter Deutschlehrern beitragen zu können. Ähnliche Auswirkungen lässt auch der theoretische Blickwinkel der Untersuchung erhoffen. Unter Rückgriff auf das Konzept der Intermedialität kann einerseits die Gesamtheit der Gegenwartstheatertexte angemessen betrachtet werden. Andererseits ermöglichen Vereinfachung und Ausblendung von Differenzen ein gesteigertes Maß an Klarheit und Übersicht, was auf unsichere Deutschlehrer ebenfalls positiv wirken dürfte. Damit die Vorzüge des vorgeschlagenen Ordnungskriteriums Intermedialität angemessen eingeordnet werden können, sind im vierten Kapitel drei wesentliche Wendepunkte in Theater und Theaterforschung nachgezeichnet worden, die für das Verständnis des Dramas um den Jahrtausendwechsel bedeutend sind. Der Rekurs auf Peter Szondis Dissertation über die Krise des Dramas hat hierbei verdeutlichen können, dass der Beginn theatraler Transformationsprozesse zeitlich mit dem Aufkommen des Films zusammenfällt. Auch die zwei weiteren berücksichtigten Wendepunkte haben sich als Folgen der Konkurrenzsituation von Theater und Film deuten lassen; während die herangezogenen Studien zum Theater in der Postmoderne aufzeigen, wie das Theater in Krisenzeiten seine Theatralität hervorhebt und sich drastisch vom Film absetzt, stellen sich die von Franziska Schößler untersuchten ›sozialen Geschichten‹ als eine Anpassung des Theaters an den Film dar, die letzten Endes auch ökonomisch motiviert gewesen sind. Da sich die ausgewählten Wendepunkte in Theater und Theaterforschung allesamt im Spannungsfeld zwischen Theater und Film verorten lassen, wurde die Grundannahme der vorliegenden Argumentation bestätigt. Wenn Entwicklungen der beiden Medien in einem Wechselverhältnis stehen, dann lassen sie sich auch angemessen aus der Warte jener theoretischen Schule beschreiben, die den Schwerpunkt auf das Zusammenspiel verschiedener Medien legt. Um das Drama um den Jahrtausendwechsel an ausgesuchten Bei-

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9. SCHLUSS spielen als ein Wechselspiel von Theater und Kino erfassen zu können, wurde das Ordnungskriterium Intermedialität im fünften Kapitel umfangreich vorgestellt. Hierbei kamen zunächst die Intertextualität als theoretische Grundlage der Intermedialität, wobei der unterschiedlichen Ausprägung in zwei wesentliche Intertextualitätsschulen ausreichend Raum gewidmet wurde, sowie der aktuelle Stand der Intermedialitätsforschung zur Darstellung. Durch die Ausführlichkeit der Darstellung, die an und für sich ja keine neuen Erkenntnisse bringt, wird die Möglichkeit eröffnet, auch weitere Theatertexte durch intermediale Analysen zu erschließen. Auf diese Weise könnte in Erfahrung gebracht werden, inwiefern die Ergebnisse der Analysekapitel einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit stellen können. Zudem ließe sich in Folgeprojekten auch eine Überprüfung der angewandten Kategorien vornehmen. Im Kapitel zum Theater im Kino wurde Lars von Triers »Dogville« als Beispiel für einen dem Theatermacher Brecht verpflichteten Film herangezogen, an dem sowohl formale als auch inhaltliche Anleihen beim epischen Theater nachgewiesen werden konnten. Letztendlich konnte festgestellt werden, dass Brechts Konzept des epischen Theaters, das auf dem Theater vornehmlich durch die Abkehr von der Fabel im postdramatischen Theater überaltert scheinen könnte, unter den medialen Rahmenbedingungen des Films durchaus noch ein adäquates Mittel darstellt. Der zweite in diesem Kapitel berücksichtigte Film konnte infolge seiner Vielschichtigkeit sowohl als Veranschaulichung für dramatische als auch für postdramatische Elemente herangezogen werden, was den Film insgesamt als besonders theatralisch erscheinen lässt. So wurde an »Kill Bill« der komplexe postdramatische Paradigmenwechsel veranschaulicht. Hierbei wurde anhand der Selbstreflexivität des Werks, der Auflösung der Figureneinheit und der Abkehr von einer linearen Handlung vorgeführt, inwiefern postdramatisches Theater, das Lehmann selbst als post-brechtsches Theater begreift, letzten Endes dann doch auf Merkmale des epischen Theaters zurückgeht. Welche Auswirkungen eine Anpassung an das Konkurrenzmedium Film auf Theatertexte haben kann, hat Kapitel 7 vor Augen geführt. Mit John von Düffels »Shakespeare, Mörder, Pulp & Fiktion« liegt ein Theatertext vor, der explizite Bezugnahmen auf zwei unterschiedliche Medienprodukte aufweist. Hierbei indizieren, wie gezeigt worden ist, konkrete Verweise auf William Shakespeares »König Richard III.« und Quentin Tarantinos »Pulp Fiction« übergeordnete Systemreferenzen, die in diesem Fall zu einer Verquickung von eli-

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ZWISCHEN LEINWAND UND BÜHNE sabethanischem Drama und postmodernem Film führen. Von Düffels Text treibt auf diese Weise eine Gleichschaltung von Hochkultur und Unterhaltung voran, wodurch das genuine Verdienst der intermedialen Kunst vor Augen geführt wird, die nämlich eben nicht bloß als Summe ihrer Einzelteile wahrgenommen werden darf. Daneben konnte am Beispiel von David Gieselmanns »Herr Kolpert« illustriert werden, inwiefern die Forderungen der Berliner Schaubühnenleitung um Thomas Ostermeier nach einem ›Neuen Realismus‹ kurzfristig zu einem erfolgreichen, filmorientierten Drama geführt haben, das allerdings keinerlei Neuerungen für das Theater als System gebracht hat. Eine andere Reaktion auf die filmische Konkurrenz zeigen jene Theatertexte, die in Kapitel 8 analysiert worden sind. Texte wie René Polleschs »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« gehen innovativ mit dem Konkurrenzdruck um, indem sie gezielt auf einen Einsatz theatraler Mittel setzen, der in einem selbstreflexiven Verfahren bewusst die eigene Theatralität ausstellt. Dieses Verfahren, das Hans-Thies Lehmann als Merkmal des postdramatischen Theaters unter dem Schlagwort ›Enthierarchisierung der Theatermittel‹ fasst, konnte auf den Ebenen der Zeit, des Raums und der Figuren nachgezeichnet werden. Abschließend konnte anhand von Tim Staffels »Werther in New York« ein Eindruck davon gewonnen werden, wie es aussieht, wenn ein Theatertext nicht nur die eigene mediale Erscheinungsform reflektiert, sondern über die Bezugnahme auf ein konkretes mediales Produkt, in diesem Fall Goethes ›Werther‹, zu einer Neuinterpretation des Hypotextes und damit zugleich zu einer Aktualisierung des medialen Systems gelangt. Aus den Einzelanalysen lassen sich verschiedene Rückschlüsse ziehen: Zum einen hat sich die Gliederung des unübersichtlichen Feldes des Gegenwartsdramas nach Gesichtspunkten der Intermedialität, die den Bereich in einem Spannungsfeld zwischen Film und Theater wahrnehmen, anhand der ausgewählten Textbeispiele (vorläufig) bewährt. Zum anderen hat die intermediale Herangehensweise die Gewissheit gebracht, dass selbst mit sehr schwierigen Texten, die sich wie »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr« oder »Werther in New York« konventionellen Interpretationsversuchen verschließen, ergebnisorientiert gearbeitet werden kann; und das auch im Deutschunterricht. Im Fall des theatralen Films und des filmischen Theaters ergeben sich im schulischen Kontext sogar äußerst weit reichende didaktische Anschlussmöglichkeiten, die das zeitgenössische Medienprodukt entweder als bloßen Anlass für eine Behand-

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9. SCHLUSS lung der zitierten Inhalte nehmen kann oder aber auch unter Rückgriff auf die theoretischen Grundlagen der Intermedialität auf seine Bezugnahmen und Wirkungsweisen analysieren kann. Was den Abbau von Vorbehalten gegen das Gegenwartsdrama anbelangt, bleibt die Hoffnung mit den vorgelegten Analysen und den zugrundeliegenden Exkursen einige Faktoren in der riskanten Rechnung mit dem Gegenwartsdrama im Deutschunterricht näher bestimmt zu haben.

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10. LITERATURVERZEICHNIS Raab, Michael: Erfahrungsräume. Das englische Drama der neunziger Jahre, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 1999. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen, Basel: Francke 2002. Rajewsky, Irina O.: »Intermedialität – eine Begriffsbestimmung«, in: Marion Bönninghausen/Heidi Rösch (Hg.), Intermedialität im Deutschunterricht, Baltmannsweiler: Schneider 2004, S. 8-30. Roesler, Alexander: »Medienphilosophie und Zeichentheorie«, in: Stefan Münker/Alexander Roesler/Mike Sandbothe (Hg.), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt/Main: Fischer 2003, S. 34-52. Rosebrock, Cornelia: »Zum Verhältnis von Lesesozialisation und Literarischem Lernen«, in: Didaktik Deutsch (1999), H. 6, S. 5768. Roselt, Jens: »Vom Affekt zum Effekt – Schauspielkultur und Popkultur«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin: Theater der Zeit 1999, S. 111-120. Schahadat, Shamma: »Intertextualität: Lektüre – Text – Intertext«, in: Miltos Pechlivanos [u.a.] (Hg.), Einführung in die Literaturwissenschaft, Weimar: Metzler 1995, S. 366-377. Schanze, Helmut (Hg.), Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart: Kröner 2001. Schechner, Richard: »Dionysus in 69«, in: Educational Theatre Journal 22 (1970), H. 4, S. 432-436. Schedel, Susanne: »Literatur ist Zitat – ›Korrespondenzverhältnisse‹ in Kafkas Das Urteil«, in: Oliver Jahraus/Stefan Neuhaus (Hg.), Kafkas »Urteil« und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen, Stuttgart: Reclam 2002, S. 220-240. Schlaffer, Heinz: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München [u.a.]: Hanser 2002. Schmid, Wolf/Stempel, Wolf-Dieter (Hg.), Dialog der Texte, Hamburger Kolloquium zur Intertextualität, Wien: Gesellschaft zur Förderung der slawistischen Studien 1983. Schmidt, Siegfried J.: »Literaturwissenschaft als Medienkulturwissenschaft. Anmerkungen zur Integration von Literatur- und Medienwissenschaft(en)«, in: Bodo Lecke (Hg.), Literatur und Medien in Studium und Deutschunterricht, Frankfurt/Main: Peter Lang 1999, S. 64-83. Schnell; Rudolf: »Medienästhetik«, in: Helmut Schanze (Hg.), Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart: Kröner 2001, S. 72-95.

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10. LITERATURVERZEICHNIS Stocker, Peter: Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien, Paderborn: Schöningh 1998. Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1963. Tabert, Nils: »Gespräch mit David Gieselmann«, in: Ders. (Hg.), Playspotting 2. Neue deutsche Stücke, Reinbek: Rowohlt 2002, S. 155-168. Tabert, Nils: »Gespräch mit John von Düffel«, in: Ders. (Hg.), Playspotting 2. Neue deutsche Stücke, Reinbek: Rowohlt 2002, S. 249-264. Tholen, Georg Christoph: »Medium/Medien«, in: Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hg.), Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn: Fink 2005, S. 150-173. Thomsen, Christian W. (Hg.), Studien zur Ästhetik des Gegenwartstheaters, Heidelberg: Winter 1985. Tschilschke, Christian von: Roman und Film. Filmisches Schreiben im Roman der französischen Postavantgarde, Tübingen: Narr 2000. Ulshöfer, Robert: Methodik des Deutschunterrichts 2. Mittelstufe I, Stuttgart: Klett 1976. Vowe, Klaus Walter: Gesellschaftliche Funktionen fiktiver und faktographischer Prosa. Roman und Reportage im amerikanischen Muckraking Movement, Frankfurt/Main: Peter Lang 1978. Walter, Jens (Hg.), Kindlers Neues Literaturlexikon, München: Kindler 1998. Watzlawick, Paul/Beavin, Janet: Menschliche Kommunikation, Bern, Stuttgart: Huber 1969. Weber, Alfred: »Film und Literatur in Amerika. Eine Einführung«, in: Bettina Friedl/Alfred Weber (Hg.), Film und Literatur in Amerika, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, S. 120. Weiler, Christel: »Am Ende/Geschichte. Anmerkungen zur theatralen Historiographie und zur Zeitlichkeit theaterwissenschaftlicher Arbeit«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin: Theater der Zeit 1999, S. 43-56. Weisstein, Ulrich (Hg.), Literatur und bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebiets, Berlin: Schmidt 1993. Wermke, Jutta: Integrierte Medienerziehung im Fachunterricht: Schwerpunkt Deutsch, München: KoPäd.-Verlag 1997.

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10. LITERATURVERZEICHNIS In-Yer-Face-Theatre, vom 15.03.2009: www.inyerface-theatre.com Meilensteine der Filmgeschichte, vom 15.03.2009: http://www.kunstwissen.de/fach/f-kuns/film/01.htm

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Literalität und Liminalität Christine Bähr, Suse Bauschmid, Thomas Lenz, Oliver Ruf (Hg.) Überfluss und Überschreitung Die kulturelle Praxis des Verausgabens 2009, 246 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-989-3

Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Monströse Ordnungen Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen 2009, 694 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1257-8

Eckart Goebel Jenseits des Unbehagens »Sublimierung« von Goethe bis Lacan 2009, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1197-7

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3) ANZ1266.p 241013226362

Literalität und Liminalität Oliver Kohns, Claudia Liebrand (Hg.) Gattung und Geschichte Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie Juli 2010, ca. 298 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1359-9

Inge Kroppenberg, Martin Löhnig (Hg.) Fragmentierte Familien Brechungen einer sozialen Form in der Moderne August 2010, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1400-8

Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Medien des Wissens Interdisziplinäre Aspekte von Medialität Juli 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-89942-779-0

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Literalität und Liminalität Bernhard J. Dotzler, Henning Schmidgen (Hg.) Parasiten und Sirenen Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion

Nicola Gess, Tina Hartmann, Robert Sollich (Hg.) Barocktheater heute Wiederentdeckungen zwischen Wissenschaft und Bühne

2008, 248 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-870-4

2008, 220 Seiten, kart., inkl. Begleit-DVD, 25,80 €, ISBN 978-3-89942-947-3

Jens Elberfeld, Marcus Otto (Hg.) Das schöne Selbst Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik 2009, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1177-9

Oliver Kohns Die Verrücktheit des Sinns Wahnsinn und Zeichen bei Kant, E.T.A. Hoffmann und Thomas Carlyle 2007, 366 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-738-7

Achim Geisenhanslüke Das Schibboleth der Psychoanalyse Freuds Passagen der Schrift 2008, 158 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-89942-877-3

Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Grenzräume der Schrift 2008, 292 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-777-6

Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Schriftkultur und Schwellenkunde 2008, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-776-9

Achim Geisenhanslüke, Hans Rott (Hg.) Ignoranz Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen 2008, 262 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-778-3

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