Leibniz' Weg ins perspektivische Universum: Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung 9783787313426, 9783787329274, 3787313427

Leibniz' frühe Schriften sind bisher kaum systematisch erschlossen worden. Weil sich jedoch gerade in ihnen eine ep

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Leibniz' Weg ins perspektivische Universum: Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung
 9783787313426, 9783787329274, 3787313427

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PARAD E I G MATA .17

PARADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fun­ dierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, daß sich aus der strengen, geschichtsbewußten Anknüpfung an die philosophi­ sche Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis ge­ winnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hin­ sicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen T he­ matiken zu erproben oder neu zu begründen.

Hubertus Busche, Jahrgang

1 958, ist Privatdozent an der Universität

Bonn. Neben dem T hemenfeld Vorstellung, Fiktion, Perspektive (Aristoteles, Vaihinger, Leibniz) sucht er für das Verstehen philoso·· phischer Klassiker eine problemgeschichtliche Methode fruchtbar zu machen, die an den Texten aufzeigt, wie sich eine komplexe Ant­ wort auf epochentypische Herausforderungen zu einem Denksystem organisiert: So entwickelt der frühe Hege! sein System aus der Idee des geistigen All-Lebens, um dem Sozialatomismus der Neuzeit die freie Verbundenheit des Organischen gegenüberzusetzen (Das Leben der Lebendigen, Bonn

1 987). So entwickelt Leibniz seine Monadenlehre

aus der Idee des individualperspektivisch repräsentierenden Punktes, um die Verstehenshorizonte der traditionellen Geistmetaphysik mit der kausal-mechanischen Naturerklärung zu harmonisieren.

HUBERTUS BUSCHE

Leibniz' Weg ins perspektivische Universum Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1342-6 ISBN eBook: 978-3-7873-2927-4

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1997. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

I N H A LT

VoRBEMERKUNG ................................................................ E INLEITUN G. . ...... 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 • • • • 0 0 0 0 0 0 • • • • • • 0 0 0 0 • • • • • • • • • • 0 0 0 0 • • • • • 0 0 • • • • 0 0 • • 0

XI XIII

ERSTER TEIL Der Weg zum Systemzyklus (1663-1669) I. D I E

LEITENDEN M oTIVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1. Das ursprüngliche Interesse : Förderung der öffentlichen Wohlfahrt

und Harmonisierung des zerspaltenen Reformzeitalters mit Hilfe der mathematischen Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Rationalisierung des Rechtswesens und Organisation der Wissenschaften für die technische Naturbeherrschung (S. 2) -Klärung der Kontroverspunkte und Versöhnung der Kirchen für ein interkonfessionelles Christentum (S. 7) -Harmonisierung der mechanischen Naturerklärung mit der religiösen Weltdeutung (S. 13) 2. Die ursprüngliche Idee : Die Ereignislogik disharmonischer Har-

monte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

Enzyklopädisch-pansophische Theo-Logik als Antwort auf das Zeitalter der Berechnung (S. 16) -Die lingua mathematica der Natur und ihre Begrün­ dung in der Kombinatorik der Trinität (S. 20) Die beste aller möglichen Welten als maximale Harmonie von individueller Gestaltenvielfalt und struktureller Verwandtschaft (S. 26) -

II. D I E WURZELN

U N IVERSUMS ...........

34

1. Eine erste Verbindung von Individualmetaphysik und Universal­ mathematik im Schema der Kombinatorik (1663/1664) . . . . . . . . . . . . . .

34

DES MULTI PERSPEKTIVI SCHEN

a) Individuation als einmalige Konkretion in Form und Materie : No­ minalistische Entitätenreduktion und augustinische Ideenlehre b) Leibniz' glaubwürdige Datierung seiner Hinwendung zu einem atomistischen Mechanizismus auf 1661/1662 . ................... .. c) Die Entdeckung der individualperspektivisch repräsentierenden Monade und ihre Geometrisierung im >Leib-Seele-Pentagon< . . Gesichts-Punkt, Vorstellungshorizont und Intellectus ipse (S. 58) Die Kombinatorik der Vorstellungen in der selbstreflexiven sphaera moralis -

35 51

57

VI

Inhalt

und die bedingte Freiheit des Willens (S. 73) - Deunculeitas: Die selbst­ reflexive Sphäre des Geistes als Ebenbild der Trinität (S. 86) 2. Divinarum ac humanarum rerum notitia: Grundfragen der Zentral­

wissenschaft vom Naturrecht (1 664) .................................... a) Raumverdrängung und Eigentum: Eine feine Analogie zwischen Physik und Jurisprudenz . ............ . .............................. . b) Das problematische Naturrecht der Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . c) Das Argonautenschiff des Leibes und der Kern der Substanz : Entelechie und Auferstehung im Zeitalter der Korpuskularphilosophie ....................................................................

91 95 97

99

Drei Grade von Identität im Fluß des Stoffwechsels (S. 100) -Fons vitae und [los substantiae: Die genetische Präformation des Organismus im lebendigen Punkt (S. 103) -Schlaf als inchoative Wachheit: Die Gradua­ lisierung des Bewußtseins (S. J17) 3. Ars combinatoria: Technik für die Mathematisierung des Wissens (1 666) ........................................................................ 1 20

a) Denken als Rechnen : Das synthetisch-analytische Verfahren als natürliche Technik des Verstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 21 Addition und Subtraktion: Die Grundrechenarten des Denkens und die Alchemie der Sprache (S. 122) -Die Perfektionierung der Kombinations­ technik durch mathematische Rekombination der Elemente (S. 126)

b) Übersichtlichkeit und Entscheidbarkeit: Die öffentliche Bedeut­ samkeit des enzyklopädischen Gedankenalphabets . .............. 1 30 Die Kunst der Abbreviatur und die entwaffnende Klärung der Begriffe (S. 131) -Die Kritik der Lullschen Universal-Kombinatorik und die Regeln eines arithmetisch formalisierten Begriffskalküls (S. 135)

c) Spatium corporale und spatium entitativum : Universal-Kombi­ natorik als schöpferische Wiederholung des Schöpfungsraumes 1 47 Die Wissenschaft von der göttlichen Zahl und ihrer figürlich dargestellten Ordnung (S. 151) -Das Alphabet der Atome und die Komplikation ihrer Figuren: Zur Vermessung des physischen Raumes (S. 160) -Zur Vermessung des intelligiblen Raumes durch die Prädikamente der Uni­ versal-Kombinatorik (S. 167) 4. Habitus : Bildungsstufen von Individuum und Staat (1 667).......... 1 68

a) Die umgewöhnbaren Gewohnheiten des Körpers und des Geistes . . ..................................................................... 1 73 Prägung, Didaktik, Institution: Stufen der Charakterbildung (S. 176)­ Geschichte, Beobachtung, Wissenschaft: Stufen des Wissens und Ele­ mente der Enzyklopädie (S. 180)

b) Elemente der reinen Rechtswissenschaft ........................... 1 85

VII

Inhalt

Aufbau und Methode der Jurisprudenz (So186) -Die Prinzipien des rei­ nen Rechts und die Vernunft der Staatsgründung (So190) -Naturrecht und nomothetische Ähnlichkeit: Die zwei Augen des Richters bei zwei­ felhaften Rechtsfällen (So199)

c) Die drei Stufen der kosmischen Naturrechtsordnung 00000 000000 202 0

Strenges Recht: Die Sphäre des Notwendigen in Krieg und Frieden (S. 204) - Billigkeit: Die Sphäre ausgleichender Verhältnismäßigkeit (So 208) -Pietät: Die vermittelnde Sphäre universaler Gerechtigkeit (So210)

Ill. ATOME, G EISTER UND D I E P RINZIPIEN DES P ERSPEKTIVI SCHEN

U NIVERSUMS (r668/r669)oooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooo 218

1. Das Systemprogramm zur komplementären Einheit von Naturfor-

schung und Theologie 00000000000000000000000000000000000000000000000000000 220 a) Eine rettende Planke im atheistischen Schiffbruch : Leibniz' ge­ schichtliches Selbstverständnis als Reformator philosophiae und Defensor fidei oooooooooooooooo 00o 0oooo 0o 0oo 00ooo 0000000000000000000 220 Die scholastische Finsternis, die große Reformation und die wahre Ver­ söhnung des Altehrwürdigen mit der Korpuskularphilosophie (So 221) ­ Entgötterte Natur: Das Interesse an der aristotelischen Physik (So224)

b) Die Autonomie der mechanischen Naturerklärung und die begründungslogische Notwendigkeit metaphysischer Postulate 000 231 Die Qualitäten der Körper selbst und die multiperspektivische Variation ihrer Erscheinungen: Mechanizismus und perspektivischer Realismus (So 231) -Die Unerklärbarkeit von Individualität und Bewegung durch den kausalen Determinationsprozeß: Das Prinzip des zureichenden Grundes (So239) -Fehlgeschlagene Versuche, alle Attribute der Materie auf geometrisch-phoronomische zu reduzieren (So243) -Die Unerklär­ barkeit der Kohäsion im atomistischen Konzept der Materie (So 245) 20 Erhabene Geister im Uhrwerk der Welt: Leibniz' Phase einer hyper-

mechanistischen Naturentseelung 0000000000000000000000 0000000000000000 248 0

a) Eine kurzlebige These von der Empfindungslosigkeit der Tiere 249 Organische Uhrwerke mit Spiegelreflektoren: Im Bannkreis der carte­ sianischen Tiermaschinen (So249) - Die Austreibung des Animismus aus der Wissenschaft (So251) - Die Trägheit der mens momentanea und die Spontaneität unseres Geistes (So253)

b) Raum, Materie, Bewegung, Geist : Die letzten innerweltlichen Entitäten ooooooo 0ooooooooooooooooo 000000o 0000000000000000000000 00000000 260 0 0

VIII

Inhalt

Die substantielle Realität des Weltraums (S. 263) -Extension und Anti­ typie: Die prima constitutiva der Materie (S. 264) -Die Erklärbarkeit aller Veränderungsarten aus Korpuskularbewegungen und die Gefahr des materialistischen Reduktionismus (S. 266) - Der Geist als einziger Ursprung von Bewegung (S. 269) 3. Substanz als Selbstentfaltungseinheit der Individualidee : Leibniz'

Grundlegung seines Zentralbegriffs ..................................... 270 a) Die mechanistische Revision der aristotelischen Physik . . . . . . . . . . 270 Die substantielle Form des Körpers als komplexe Integralfigur (S. 272) Forma educitur e potentia materiae: Die Entstehung von Realfiguren aus Bewegungsgrenzen in der trägen Masse (S. 276)

b) Die substantielle Form des Geistes als Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Substanz als dynamische Einheit von Spontaneität und Materie (S. 284)Die substantielle Vereinigung von Körper und Geist im Kontext der creatio continua (S. 289)

c) Die eine absolute Kreativität in den vielen substantiellen Ideen ihrer Kreaturen ......................................................... 293 ZWEITER TE I L D e r Systemzyklus von 1 669-1 672 I. Vo M

S C H EMA ZUM INDIVID UELLEN G EIST DER H AR­ E LEMENTE DES NATURRECHTS . . ................................ 297

ABSTRAKTEN

MONIE :

1 . Die unübersteigbare Selbstliebe : Ethische Motivation im Zeitalter

technischer Naturbeherrschung . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . .. . .. 299 .

2. Naturrechts-Ethik als Wissenschaft von harmonischen Propor-

tionen ........................................................................ 307 a) Die ermittelnde Logik von Schädigungsverboten und Hilfsgeboten (justitia particularis) . . . . . . . . . . . .................................... 31 0 Die abstraktive Gewinnung von Proportionen für das Gerechte und Billige (S. 310) - Der kombinatorische Versuch zur Eingrenzung strenger Rechte (S. 322) - Die Kasuistik der Seenot und das Notrecht des Gewissens (S. 326) -Tragisches Abwägen im Konflikt zwischen Billigkeitskriterien und Pietätsgefühlen (S. 335) -Das Problem der staatlichen Erzwing­ barkeit von Billigkeitspflichten (S. 342) - Das Widerstandsrecht in der Spannung zwischen irdischem Staat und Reich Gottes (S. 349)

b) Die vermittelnde Logik der Liebe (justitia universalis) . . . . . . . . . . . 355 Die Aufhebung der Selbst- und Nächstenliebe i n die kosmopolitische Pietät der Gottesliebe (S. 357) - Die Unzulänglichkeit aller positiven Defi-

IX

Inhalt

nitionen des Gerechten (S. 369) -Die Fähigkeit, Glück im Glück anderer zu finden: Selbstvervollkommnung durch Liebe (S. 376) -Die deontische Logik liebender Rücksichtnahme (S. 386) - Sinn und Grenzen der Wis­ senschaft vom Gerechten (S. 392)

II. H ARM ONISCHE A LLKONSPIRATI ON : K o s M o Lo G I E , P H o Ro N O M I E UND P N E UMATO L O G I E........ .... .. ..... ... .. .. ... ........ ....... ..... .... 404 1 . Das kosmische Fluidum und die unendlich verschachtelten Welten 406

a) Das selbstregulative System des zirkulierenden Äthers . . . . . . . . . . . 408 Die Interpretationsbedürftigkeit der sinnlichen Wahrnehmung durch ra­ tionale Vor-Urteile (S. 408) -Die Erklärung der Kohäsion aus den Rin­ nenbewegungen des Äthers (S. 413) -Die Integration der Partikelme­ chanik in die teleologische Systemmechanik (S. 417) -Der universale Kreislauf des spiritus mundi (S. 423) -Schwere und Elastizität als regu­ lierende Systemeigenschaften des universalen Gleichgewichts (S. 429) Der Naturzustand abstrakter Privatbewegungen und die bürgerliche Verfassung des konkreten Systems (S. 440) -Die Sakralisierung des Welt­ mechanismus (S. 446)

b) Welten in Welten ins Unendliche fort ? Zwischen Infinitismus der Materie und Atomismus der geistigen Punkte .................... 449 .

2. Die mikrokosmischen Lichtsphären im Äther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4SS

a) Die ätherische Quintessenz als erstes Medium der Bewegung und als Vehikel der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4S7 b) Der Ort der Eiementa de mente im Systemzyklus und ihre Aufgabe für Religion und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 c) Die wechselseitige Repräsentation von Innenwelt und Außenwelt . . . ... .. . . . .. . .. .. .... .. . 476 . .

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Der indivisible Punkt des Geistes und seine unendlich kleinen conatus (S. 476) -Die äußere Repräsentation innerlicher Regungen in der exten­ sio (S. 484)- Die zweckmäßige Repräsentation der äußeren Vielheit in der mentalen Einheit (S. 487) -Der Parallelismus intensiver und exten­ siver Größen beim Konflikt der Liebestendenzen (S. 496)

DRITTER TEIL Ausblick in eine sprechende und verklärte Welt (1 686-1 71 6) I.

DIE

PERSPEKTIVI SCHE

TAN EITÄT U N D NISMUS

VERM ITTLUN G

L EIBLI CHKEIT

VO N >FENSTERLO SER
>Auch heute noch liegt der größte Teil der Leibniz-Handschrif­ ten nahezu unerforscht in seinem Nachlaß in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hanno­ ver« (7). Für die zahlreichen Informationen über die Erschließung des Nachlasses und den Stand der Leibniz-Edition sei verwiesen auf die Leibniz-Bibliographie, 573-586. 2

Müller: Gottfried Wilhelm Leibniz, 2.

XIV

Einleit un g

Leibniz ungelöst istnoch so er­ staunlich unbekannten jungen Leibniz«8 zeigt am deutlichsten j ene gedank­ lichen Motive, deren Untrennbarkeit Leibniz immer wieder betont hat.9 Das gilt sowohl für die Schritte zum Systemzyklus (erster Teil) als auch für dieses Protosystem selbst (zweiter Teil). Im praktischen Teil enthält das Protosystem eine architektonisch strenge Naturrechts-Ethik, mit deren Schlußteil Leibniz zum Begründer der deomischen Logik wurde. Das drei­ stufige Konzept dieser Vernunftethik, die das Verhältnis von Recht und Moral neu bestimmt, zeigt ein Differenzierungsniveau, das Leibniz künftig einen größeren Platz in der Geschichte des Naturrechts einräumen dürfte, auch wenn sein Ansatz als unzulänglich erscheinen mag. Der theoretische Teil des Protosystems offenbart eine Kosmologie und Geistlehre, deren Be­ deutung für die >Monadenlehre< bislang unbekannt blieb. Die >> Hypothesis physica nova« von 1 671 erweist sich als die Matrix der späteren >>nouvelle Hypothese« zur Metaphysik, d. h. der >>Hypothese de !'Harmonie ou de la concomitance« . 1 0 Was Kant bei seiner geringen Kenntnis von Leibniz nicht wissen konnte, wird ebenfalls erst von der intensiven Beschäftigung mit dem Frühwerk verständlich : daß nämlich die Leibnizsche Metaphysik weitgehend hypothetischen Charakter hat und keine dogmatischen An­ sprüche auf eine Erkenntnis aus reiner Vernunft oder rein aus Begriffen er­ hebt. Leibniz beginnt gerade mit einer Austreibung aller >>reliquiae meta­ physicarum notionum« aus der Naturwissenschaft, bevor er schließlich die Notwendigkeit und Möglichkeit sieht, den metaphysischen Begriff der Substanz innerhalb der Natur zu rehabilitieren, ohne daß hierdurch die Autonomie des kausal-mechanischen Erklärens beeinträchtigt wird. Daß der frühe wie der späte Leibniz sein System der Substanzen >>etwas mehr als eine Hypothese« nennt, gründet allein auf der Überzeugung von ihrer hohen Integrations- und Problemlösungskraft unter gegebenen prak­ tischen Interessen (s. u. 4 1 7-4 1 9). 8 Moll: Der junge Leibniz, I 22. 9 »Mea principia talia sunt, ut vix a se invicem divelli possint. Qui unum bene novit, omnia novit.« (An des Bosses, 7. November 1710, GP II 412) 1 0 Erläuterungen zum Systeme nouveau, 1696, GP IV 500; 494.

XVI

Einleitung

Die vorliegende Rekonstruktion der Leibnizschen Frühphilosophie er­ folgt weitgehend textimmanent. Sie weist j edoch auf geistige Anreger dort hin, wo sich Parallelen klar belegen lassen. Überhaupt erfolgt sie nicht um der historischen Gelehrsamkeit willen. Vielmehr erscheint Leibniz' Denkweg unter einem systematischen Aspekt (A) und einem kulturge­ schichtlichen Aspekt (B) exemplarisch bedeutsam für die gegenwärtige Phi­ losophie. (A) Der systematische Leitgedanke ist die Perspektivität des Bewußtseins und wird durch die zwei Extreme in Leibniz' Idee der harmonia universalis oder varietas identitate compensata selbst vorgegeben. Die individuelle Per­ spektivität des Wahrnehmens und Vorstellens gehört zum Varietätsprinzip, während das mathematisch gesetzmäßige Universum das Identitätsprinzip einbringt. Nun hat Leibniz behauptet, daß sein System selbst unterschied­ lichste Perspektiven der Philosophiegeschichte >>comme dans un centre de perspective>wichtigsten Leibniz-Perspekti­ ven« der Forschung seit 1 900 in einer >>geisteswissenschaftliche(n) Photo­ grammetrie« aufeinander zu proj izieren, um so ein >>vielseitigeres Bild der wahren Leibnizschen Gestalt [ . . ] zu gewinnen« . Den ersten, >>nächstlie­ gende(n) « Schritt, nämlich ein >>Studium der Leibnizschen Briefe und Schriften selbst«, verschob Mahnke auf einen zweiten Teil. Dieser erschien nicht, weil damals eine >>vollständige, chronologisch geordnete Ausgabe« der Frühschriften fehlte . 1 2 Seitdem die Frühschriften im Rahmen der Aka­ demie-Ausgabe vorliegen, zeigt sich aber, daß Leibniz' >>objektiver Perspek­ tivismus«, den Mahnke >>an die Stelle des subj ektiven Relativismus« treten sah13, bereits ein herrschender Grundgedanke der Frühschriften selbst ist. .

1 1 Die wichtigste Stelle sei hier auf deutsch wiedergegeben : »Die Betrachtung dieses Systems läßt auch sichtbar werden, daß man, wenn man in den Grund der Dinge eindringt, mehr Vernunft in den meisten Philosophenschulen entdeckt, als man glaubt. Die geringe substantielle Realität der sinnlichen Dinge bei den Skeptikern; die Reduktion aller Dinge auf Harmonien oder Zahlen, Idee n und Perzeptionen bei den Pythagoreern und Platonikern; das Eine, das zugleich das All ist, bei Parmenides und Plotin, fern von jeden Spinozismus; die mit der Selbsttätigkeit der anderen Wesen vereinbare Allverbindung der Stoiker; der Vitalismus der Kabbalisten und Her­ metiker, die überall Empfindung annehmen; die Formen und Entelechien des Aristoteles und der Scholastiker; und schließlich die mechanische Erklärung aller besonderen Phänomene ge­ mäß Demokrit und den Neueren usw. - sie alle finden sich wieder vereinigt wie in einem per­ spektivischen Zentrum, von dem aus der Gegenstand (der von einem anderen S ta ndpunkt aus verschwommen wirkt) die Regelmäßigkeit und Stimmigkeit seiner Teile erkennen läßt. Am mei­ sten ist man durch einen sektiererischen Geist fehlgegangen, indem man sich durch die Ableh­ nung der anderen borniert hat.« (Eclaircissement zum Systeme nouveau, GP IV 523 f.) 12 Mahnke : Leibnizens Synthese von Universalmathematik und Individualmetaphysik, 3 2 1 -323. 1 3 Ebd. 3 1 7.

Einleitung

XVII

Weil eine Perspektive j edoch eo ipso subj ektiv ist, scheint es angemessener, von einem >Perspektivismus< auf der Grundlage eines empirischen Realis­ mus zu sprechen. Leibniz' Lieblingsbeispiel der multiperspektivischen Va­ riation eines Stadtpanoramas aus dem >> Gesichts-PunktApparat>point de vue« der Monade die Metapher15, sondern die Stadt, die jeder aus seinem visuellen Grenzpunkt heraus wahrnimmt und beur­ teilt. Wie die Untersuchung zeigt, ist diese Stadt in Leibniz' präsentischer Eschatologie die Chiffre für das himmlische Jerusalem, das an allen irdi­ schen Stätten inchoativ gegenwärtig ist. Während das individualperspekti­ visch repräsentierte, ad majorem Dei gloriam multiplizierte Universum eine Welt in der Monade ist, sucht Leibniz' mathematisch-naturwissen­ schaftlicher Forschergeist umgekehrt nach einer kosmologischen Hypo­ these, um zugleich die Monade in der Welt denken zu können. Eine umfas­ sende Interpretation der Frühschriften ist nichts anderes als Leibniz' Weg in dieses multiperspektivische Universum, das die Individualität der Erlebnis­ welt mit der obj ektiven Realität der Ereigniswelt verbindet. Im Gedanken der wohlbegründeten Phänomene sucht Leibniz das durch die cartesiani­ sche Außenweltskepsis zugespitzte aristotelische anima est quodammodo omnia gleichsam mit j enem motr-es est quodammodo omnia zu harmonisie­ ren, das den Überzeugungshintergrund aller Naturwissenschaften bildet. Die Grenzen dieses sublimen Vermittlungsversuches abzustecken, scheint im gegenwärtigen Spannungsfeld zwischen strengen Varianten des Perspek­ tivismus und Interpretationismus einerseits und den vielen Gesichtern des Realismus andererseits nicht ohne Aktualität zu sein. (B) Leibniz erschließt das Universum leibgebundener Perspektiven aus einem umfassen d en Interesse heraus, das ihn als großes Kind seiner Zeit er­

weist. Mit Hilfe der mathematischen Rationalität soll das Herrschaftswis­ sen der neuzeitlichen Naturforschung gesteigert, aber auch eine argumenta1 4 >>Et comme une me me ville regardee de differens cö tes paroist toute autre et est comme multipliee perspectivement, il arrive de me me, que par Ia multitude infinie des substances sim­ ples, il y a comme autant de differens univers, qui ne sont pourtant que !es perspectives d'un seul selon !es differens points de veue de chaque Monade. « (Monadologie 57, GP VI 6 1 6) 1 5 Leibniz lokalisiert den »Gesichts-Punkt« in einer nicht exakt beschreibbaren Weise im Kopf und spricht von der leiblichen »masse organisee, dans laquelle est le point de veue de l'ame« (Systeme nouveau, GP IV 484). »Chaque ame est un miroir vivant representant l'univers suivant son point de veue et sur tout par rapport a son corps« (Extrait du Dictionnaire de M. Bayle article Rorarius, GP IV 532).

XVIII

Einleitung

tive Klärung der Kontroverspunkte für ein interkonfessionelles Christen­ tum ermöglicht werden. Seine Hauptlebensaufgabe aber sieht Leibniz darin, die Vereinbarkeit der mechanischen Naturerklärung mit der Freiheit des Willens, der Auferstehung und überhaupt den christlichen Glaubensge­ heimnissen zu erweisen. Daß diese Harmonie durch eine Vergöttlichung der Mathemati k und eine Verwissenschaftlichung des öffentlichen Lebens hergestellt wird, macht die einseitige Größe dieses maßgeblichen Grün­ dervaters unseres Zeitalters der Berechnung aus. Die Darlegung seines enzyklopädischen Vermittlungsversuches läuft auf einen summarischen Querschnitt durch den Wissenschaftskosmos des 1 7. Jahrhunderts hinaus. Theologie, Physik, Medizin, kombinatorische Logik, Naturrecht und Kos­ mologie organisieren sich zu einer integrationsfähigen, freilich im einzelnen nicht mehr einnehmbaren Perspektive, die in unserer durch ihre eigene Dif­ ferenzierungsdynamik auseinanderbrechenden Wissenschaftskultur eben­ falls gegenwartsbedeutsam erscheint. Die scheinbar völlige Wandlung, die der spätere Leibniz vollzieht, wäre nur unzulänglich beschrieben als eine Art Bekehrung von einem Hyperme­ chanizismus zu einer Art Animismus der Analogie. Denn die Möglichkeit für diese Wandlung, die in ihm schließlich die Vermittlung dreier systemati­ scher Großperspektiven erlaubt, liegt schon in seinem Frühwerk beschlos­ sen, das eine unwahrscheinliche Einheit von Mystik und Mechanizismus do­ kumentiert. Die Frühschriften kreisen von Anfang an um das Mysterium des inkarnierten Geistes. Leibniz deutet ihn als unsterblichen beseelten Punkt, der einer ätherisch-spirituellen Quintessenz, dem lichthaften » Kern der Sub­ stanz« inmitten des groben Leibes, >>eingepflanzt« ist. In diesem lebendigen, rein intelligiblen Punkt, der kein Obj ekt empirischer Beobachtung werden kann, scheint bereits dem frühesten Leibniz die vollkommene, widerspruchs­ lose Versöhnbarkeit von traditioneller Geistmetaphysik und neuzeitlichem Weltmechanismus auf. Denn das äußere Verhalten eines physischen Punktes unterliegt den Gesetzen der Mechanik; die seelische Spontaneität seines ma­ thematischen Zentrums dagegen ist nicht von außen determiniert. Was der späte Leibniz >>Monade « nennt, konzipiert der frühe systematisch im selbst­ reflexiven Punkt des Geistes. Obwohl der junge Leibniz mit seiner Ätherhy­ pothese alle Körper von einem flüssigen Spiritus durchdringen läßt, leugnet er etwa seit 1 668, daß dessen substantieller Kern bei Tieren beseelt ist. Leib­ niz' anthropomorphismuskritische Verbannung immaterieller Wesenheiten läßt ihm alle Natur zu einem seelenlosen Uhrwerk verstummen, das nur von erhabenen Vernunftwesen kontrolliert wird. Der späte Leibniz hingegen wird die große Analogie des Lebendigen gerade mit Hilfe der >Kerngedan­ ken< seiner Frühphilosophie rehabilitieren können. Denn in seiner vorder-

Einleitung

XIX

gründig physikalischen Hypothese vom allesdurchdringenden Äther, der als Lichtmaterie durch die gröberen Stoffe der Erde zirkuliert und die Phäno­ mene der Gravitation und Elastizität hervorruft, verbirgt sich ohnehin schon die religiöse Vision von einer kosmischen Eucharistie, nach welcher der Äther der in allen Körpern gegenwärtige Spiritus Domini ist, über den Gott seiner ganzen Schöpfung die Gnade seines Wirkens mitteilt. Der späte Leibniz ändert an dieser frühen Einheit von physikalischer Hypothese und metaphysischer Schau nur die Grenzen zwischen Totem und Lebendigem. Indem er allen Tieren und sogar Pflanzen in unendlicher Gradualität ein ener­ getisches Zentrum zuschreibt, weitet er bloß das Mysterium des beseelten Lichtpunktes auf die ganze Natur aus. Sie gewinnt ihre verlorene Tiefendi­ mension zurück und wird zu einem gleichsam sprachlichen Repräsentations­ geschehen zwischen intelligiblen Zentren, die sich in bewegenden Kräften ar­ tikulieren. Daß Leibniz diese »metaphysischen Punkte«, die er >>Monaden« oder >>ursprüngliche Kräfte« nennt, als expressive Lichtsphären auffaßt, daß somit seine esoterische Philosophie eine Metaphysik des unsichtbaren, nur in seinen körperlichen Phänomenen sich darstellenden Lichtes ist, blieb bisher unbekannt. Unerkannt blieb auch, daß seinem Theologumenon vom Durchdrungenwerden des Reichs der Macht durch das Reich der Weisheit die physikalische Hypothese zugrunde liegt, nach welcher der mundus intel­ ligibilis beseelter Ätherpunkte überall durch den mundus sensibilis der irdi­ schen Materie hindurchströmt. Indem die vorliegende Studie diese systema­ tische Entsprechung von Monadologie und Kosmologie aufzeigt, gibt sie eine abstrakte, vorläufige Antwort auf die Frage, weshalb der späte Leibniz von den sich äußernden Punkten des intelligiblen Lichtes (Monaden) sagen kann, daß sie materiell sind und leiden können, gleichwohl aber unteilbar und >>ohne Fenster«, d. h. ohne gegenseitige Beeinflußbarkeit sind. Auch wird das alte Rätsel neu aufgerollt, inwiefern nach Leibniz die zusammenge­ setzten Phänomene aus den Monaden >>resultieren«, ohne daß sie sich aus Monaden zusammensetzen. Leibniz erblickt in seiner Verklärung des dunklen Weltmechanismus durch die Fließdynamik des intelligiblen Lichtes eine >>Realpoesie« im Zeit­ alter der Berechnung, die mit dem zeitgenössischen Stand der Wissenschaft >>sich reimende Hypothesen« gibt. Die Integralperspektive, zu der er seine frühe Hypothese von der zirkulierenden Lichtmaterie des Äthers schließ­ lich abrundet, ist aber insofern >>etwas mehr als eine Hypothese«, als sie die kausal-mechanische Erklärungsperspektive der >nature morte< einerseits und die solipsistische Immanenzperspektive der weltlosen Subj ektivität an­ dererseits durch eine religiös finale Deutungsperspektive vervollständigt. In diesem umfassenden Standpunkt, der die scheinbar tote Mechanik aller

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Bewegungsabläufe als sinnhafte Ausdrucksphänomene intelligibler Zentren zu verstehen vermag, bleiben die anderen zwei Großperspektiven als kom­ plementäre, notwendige Aspekte aufgehoben. Diese sind nur in ihrer Ver­ absolutierung unzureichend, weil sie sich als isolierte weder mit dem individuellen Ausdruckscharakter allen Geschehens noch mit der bewußt­ seinstranszendenten Realität vermitteln können. (C) Über den systematischen und kulturhistorischen Leitgedanken hin­ aus erfüllt die problemgeschichtliche Darstellung der Leibnizschen Frühphi­ losophie ein erhebliches Desiderat der Forschung. Um 1 8 85 hatten einige entwicklungsgeschichtliche Dissertationen versucht, anband der wenigen damals publizierten Quellen die Entstehung der Monadenlehre vorwiegend aus naturphilosophischen Gedanken zu erklären. Ihre Autoren, die wesent­ lich Beeinflussungsforschung trieben, ahnten in Leibniz' früher Idee vom mikrokosmischen »Kern der Substanz« bereits den Keim der Monadenkon­ zeption. 1 6 Als Willy Kabitz 1 909 seine bahnbrechende Arbeit über >>Die Philosophie des jungen Leibniz« veröffentlichte 1 7, hatte er diese Vorarbei­ ten kaum im Blick. Sein Interesse ging vielmehr dahin, die reduktionisti­ schen Deutungen zu korrigieren, mit denen um 1 900 die Leibniz-Renais­ sance begonnen hatte. Gegenüber Russell, der Leibniz' ganze Philosophie nur als eine Art Konklusion aus fünf logischen >>principal premisses>unmöglich>aus rein logischen Prämissen die Mo­ nadenlehre abzuleitenwelche den Denkmotiven, den Problemen und ihrer Lösung>nach allen Richtungen sorgfältig nachspÜrt>wie ungewöhnlich früh>schon in einer ganzen Reihe von Grundgedanken die Welt- und Lebens­ anschauung fest ausgeprägt hatHilfsmittel zur Orien­ tierung und zur Entscheidung von mancherlei Fragen, z. B. der chronolo­ gischen Folge Gedächtnistäuschungempfindliche Forschungslücke« zu schließen, die Philologie auf ein neues Niveau gehoben und auch ältere Arbeiten sorg-

von Logik und Metaphysik »bei Leibniz nicht durchführbar ist« ( 1 29), hat er doch das Herz dieser spekulativen Theo-Logik wieder in fünf isolierte Bereiche auseinandergerissen: 1. »Me­ taphysik, Mathematik und Logik«, 2 . »Naturphilosophie«, 3 . » Geistesphilosophie«, 4. »Prakti­ sche Philosophie« und zu guter Letzt auch noch 5 . >>Theologie«, weil sich nicht »bezweifeln« lasse, »daß wie logische so auch theologische Probleme das Interesse des frühen Leibniz [ . . . ] auf sich gelenkt haben« (1 1 0). Wer die Gebiete so aufspaltet, kann leicht zu der krassen Fehlein­ schätzung gelangen, daß Leibniz in seiner Naturphilosophie »stark zwischen den mannigfalti­ gen Standpunkten> hypothese de l'ether et de l'elasticite univer­ selle« bis ans Lebensende festhielt (II 62). Auch stellte er diese Hypothese sehr differenziert dar (II 1 07- 1 35), obgleich er ihre Bedeutsamkeit für die Monadenlehre leugnete. 3 0 Jagodinsky: Filosofija Lejbnica. Process obrazovanija sistemy. Pervyj period 1659-1672, Kazan 1 9 1 4 (Für eine Übersetzung dieses 432 Seiten starken Werkes aus dem Russischen danke ich Herrn cand. phil. Viktor Friesen, Bonn, sehr). 3 1 Hunfeld: Leibniz en zijn Monadenleer, Nij mwegen, Utrecht 1 94 1 . 3 2 Wiedeburg: Der junge Leibniz. Das Reich und Europa. I. Teil: Mainz, Wiesbaden 1 962. 33 Mol l : Der junge Leibniz I: Die wissenschaftstheoretische Problemstellung seines ersten Systementwurfs. Der Anschluß an Erhard Weigels Scientia Generalis, Stuttgart-Bad Cannstatt 1 978; I!: Der Übergang vom Atomismus zu einem mechanistischen Aristotelismus. Der revi­ dierte Anschluß an Pierre Gassendi, ebd. 1 982. Der dritte Band dagegen, der soeben unter dem Titel Der junge Leibniz III: Eine Wissenschaft für ein aufgeklärtes Europa: Der Weltme­

chanismus dynamischer Monadenpunkte als Gegenentwurf zu den Lehren von Descartes und

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fältig gesichtet.34 Inhaltlich scheint sein Ansatz jedoch aus zwei Hauptgrün­ den wenig aufschlußreich. Erstens schreibt Moll gerade über den Denker, der in seiner kaum überschätzbaren Frühreife das beste Beispiel für seine These von der »Unbeeinflußbarkeit« der Monade durch ihre Außenwelt darstellt, in noch stärkerem Maße als Kabitz eine Beeinflussungsgeschichte statt einer Problemgeschichte. Moll hat sich das Ziel gesetzt, aus >>Über elf­ hundert Schriften anderer Verfasser von der frühen Antike« bis zu Leibniz' >> Gegenwart«35 diej enigen Autoren herauszuheben, die den größten >>Ein­ fluß« auf den frühen Leibniz ausgeübt haben. Entsprechend gliedern sich seine beiden Bände in Belege für Leibnizens »Schülerschaft gegenüber Er­ hard Weigel«, ja seine >>Abhängigkeit« von dessen Wissenschaftskonzep­ tion36, und in die Suche nach den >>Spuren« für Leibniz' >>eminente Beein­ flussung« durch Pierre GassendiY Zweitens stellt Moll den >> Gegenstand der Untersuchung« ganz auf die schmale Textbasis der zwei Briefe an Tho­ masius von 1 668/1 669 ab, die er für Leibniz' >>ersten Systementwurf« hält, während die vorliegende Untersuchung sie als Leibniz' erstes >>Systempro­ gramm« abhandelt (s. u. 220-296). Infolge dieser doppelten Blickverengung präsentiert Band I vorwiegend Prolegomena zu einer künftigen Weigel­ Forschung und kreist nur zehn Seiten um die Problematik der beiden Briefe.38 Band II ergänzt diese influxologische Forschung39, nennt nun als Inhalt der zwei Briefe >>die Bewältigung substanztheoretischer Aporien«, wertet die Texte unklar als Dokumente einer >>>Wiederentdeckung< des ari­ stotelischen Formbegriffs « in einem durch >>eklektische Unstimmigkeiten« geprägten >>Übergangsstadium«, um am Ende den >>unübersichtlichen Be­ fund« in seiner Bedeutung dem Band III anheimzustellen.40 Weil die Leib­ nizschen Texte vor 1 668 mit ihren theologischen und naturrechtliehen Mo­ tiven ausgeblendet bleiben41 , wird nicht erkennbar, weshalb sich Leibniz Hobbes, ebd. 1 996 erschienen ist, dringt tiefer in Leibniz' spekulative Konzeption ein. Er konnte für die vorliegende Untersuchung nicht mehr einbezogen werden. 34 Der junge Leibniz, I 1 7 f., 1 1 . 35 Ebd., I 22. Moll meint die 1 1 46 Autoren, die i m Schriftenverzeichnis zu den ersten beiden Bänden von Reihe VI der Akademie-Ausgabe oft noch mit mehreren Werken aufgelistet sind, aus denen Leibniz bis 1 672 (wenn auch häufiger indirekt) zitiert (A VI 2, 659-7 1 3 ) . 3 6 Ebd., I 1 3 , 22. 3 7 Ebd., II 22. 3s Ebd., I 9 1 -96, 1 07- 1 09. 39 Treffend nennt Moll sein Hauptthema: »Dieser Band enthält nun erstmals eine monogra­ phische Erörterung des Einflusses von Pierre Gassendi auf Leibniz« ( ebd., II 23 ). 4 0 Ebd., II 13, 20, 22, 1 97. 4 1 Moll schwankt in der Bewertung dieser Texte. Einerseits sieht er sich genötigt, auf die Confessio naturae zurückzugreifen (I 2 1 , II 1 2 1 f.), und räumt ein: »Ich bin mir dabei völlig des­ sen bewußt, daß die vorausgehende Dissertatio de arte combinatoria von 1 666 für die Konstitu­ tion des Leibnizschen Systems ebenfalls von größter Wichtigkeit ist« (I 2 1 ). Andererseits kann

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soviel Mühe ausgerechnet mit >substanztheoretischen Aporien< gemacht hat42, in welche Richtung sein >Übergang< verlaufen ist und worauf seine Konzeption der Substanz überhaupt eine Antwort geben wollte. Die folgende Rekonstruktion will die wenig erhellende Personalisierung dessen, was für Leibniz Sachprobleme sind, ganz vermeiden und den gei­ stesgeschichtlichen Hintergrund nur in Stichworten und Fußnoten einbrin­ gen. Ihre problemgeschichtliche Methode sucht die Leibnizsche Denkbewe­ gung nicht als ein Produkt von Beeinflussungen zu erklären, sondern als ein Kunstwerk kreativer Problemlösungen zu verstehen, das sich leicht von au­ ßen ablehnen, aber nur schwer von innen kritisieren läßt. Um eine Hori­ zontverengung zu vermeiden, beginnt der erste Teil mit einem ganzheit­ lichen Überblick über die >>leitenden Motive>bereits eine in gewissem Sinne systematische Darstellung vorliegtHistorische Wörterbuch der Philosophie« verwiesen. Leibniz' wortschatzreiches und in virtuosen Span­ nungsbögen geschriebenes Latein, das bei den Privatnotizen noch dazu oft elliptisch ist, dürfte eines der größten Hindernisse für die Erschließung des Frühwerkes gewesen sein. Um die logische Deutlichkeit der Argumenta­ tion und die Flüssigkeit der Lektüre zu erhöhen, wurde daher bis auf helle, kaum deutungsbedürftige Passagen alles ins Deutsche übersetzt. Damit sich das unvermeidbare traduttore, traditore wissenschaftlich prüfen läßt, wurde das lateinische Original überall ergänzt, wo es nicht gerade um rein histo­ rische Ausführungen geht. Die Zweisprachigkeit verringert die Lesezeit, hat aber die Seitenzahl erheblich vermehrt. Um den Umfang vertretbar zu halten, wurden kurze Originalzitate in den Haupttext aufgenommen, längere dagegen in die An merkungen verbannt. Im einzelnen wurden fol­ gende Prinzipien zugrunde gelegt: 1 .Alles, was im Haupttext ohne Nennung anderer Autoren in doppelten Anführungszeichen steht, sind entweder Originalzitate von Leibniz oder meine Übersetzungen von ihnen, die weitgehend mit den wenigen vorhandenen Übersetzungen verglichen wurden. 2. Soweit die Texte dort schon erschienen sind, wird nach der Akademie­ Ausgabe (A) in deren neuesten Auflagen zitiert, sonst nach der Gerhardt­ schen (GP). Die Siglen der einzelnen Bände sind ebenso im Literaturver­ zeichnis aufgeschlüsselt wie die konventionellen Siglen der übrigen Lite­ ratur. Auch wo die Typographie von A unstimmig scheint (besonders bei Leibniz' wenigen deutschsprachigen Texten, z. B. beim Schwanken zwi­ schen kleinen und großen Buchstaben oder zwischen u und v), wurde sie exakt übernommen. Weil der Textumfang einer Seite in A sehr groß ist, wird außer Reihe, Band und Seite auch die Zeile angegeben. Soweit Leibniz' Schriften sukzessiv durchinterpretiert werden, fallen Sigle, Reihe und Band nach der zweiten Nennung weg. Wenn sich die runden Klam­ mern mit dem Stellennachweis nur auf den letzten Satz beziehen, wurde der Punkt hinter die Klammer gesetzt, z. B.: >> . . . « (A VI 1 , 1 23, 4). Wenn sie längere Passagen nachweisen, steht der Punkt vor der Klammer, z. B . : '' · . . « . (A VI 1 , 567, 8)

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3. Kursiv gesetzte Zitate ohne Anführungszeichen sind Leibniz' eigene Worte, j edoch in abweichender grammatischer Flexion. Allgemeine Stich­ worte oder termini technici, die sich nicht ausdrücklich in den behandel­ ten frühen Texten finden, stehen in einfachen Anführungszeichen. Alle in A gesperrt gedruckten Wendungen sind kursiviert worden. Das hat zwar den Nachteil, daß die seltenen Worte, die in A gesperrt und zugleich kur­ siv stehen, nicht in dieser Doppelbetonung wiedergegeben werden kön­ nen; es vermeidet aber den größeren Nachteil eines unruhigen Schriftbil­ des. 4. Originalbelege innerhalb meiner Übersetzung stehen in eckigen Klam­ mern ( [ . . ] ), sofern es sich nicht um einzelne Worte handelt. In spitzen Klammern ( >nuzen zu schaffen« und >>dem publico« zu >>dienen« (A II 1, 83, 33; 1 59, 22), erst nach und nach in einzelwissenschaftlichen Schriften verfolgt und kommentiert hat. Was indes von Anfang an alle Disziplinen übergreift, ist formal das Bemühen um eine beweisfähige Methode der Wis­ senschaft, die den euklidischen mos geometricus zum Vorbild nimmt. Es ist verblüffend, daß schon der siebzehnj ährige Leibniz zu den wenigen gehört, die um 1 663 in Deutschland >>more Mathematico« philosophieren (A VI 1 , 53, 2 1 ). Sein frühes Ringen um gerade jene Perfektionierung und Auswei­ tung der mathematischen Rationalität, deren Folgen im 20. Jahrhundert oft beklemmend anmuten, richtet sich inhaltlich auf drei Anwendungsbe­ reiche. Die mathematische Rationalisierung soll 1 . mehr Übersichtlichkeit in die Gesetzestexte und mehr Rechtssicherheit in die juristische Praxis bringen, aber auch die Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit der Natur steigern; um unfrommen Streitereien eines extremen Konfessionalismus den Nährboden zu entziehen, soll sie 2. den status controversiae zwischen den Glaubensparteien logisch klären und zugleich die gemeinsame Wahr­ heit der christlichen Religion demonstrieren; 3 . schließlich soll sie sogar unterschiedliche Aspekte von Vernunft, nämlich pietas und scientia, als harmonisierbar erweisen.

1 Vgl. hierzu den Bericht der Herausgeber des philosophischen und des allgemeinen politi­ schen und historischen Briefwechsels, A II 1 , XIX f. u. A I 1 , XXXVIII.

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Erster Teil · Der Weg zum Systemzyklus ( 1 663 - 1 669)

Rationalisierung des Rechtswesens und Organisation der Wissenschaften für die technische Naturbeherrschung - Das erste Arbeitsfeld, auf dem Leibniz eine methodische Beseitigung von Mängeln anstrebt, ist für den gelernten Juristen die Rechtswissenschaft. Seine »Nova methodus discendae docen­ daeque jurisprudentiae«, mit der er sich 1 667 für die Rechtsreform am Hof des Mainzer Kurfürsten empfiehlt, enthält Pläne zur Ausbildung eines jurisconsultus perfectissimus und zur Systematisierung des Rechtsstoffes und der Rechtsgebiete (s. u. 1 72). Das römische Recht »mit seiner im 1 7. Jahr­ hundert oft beklagten Weitläufigkeit und Unklarheit«2 soll durch eine um­ fassende jurisprudentia rationalis neu dargestellt werden, um seine tiefere in­ nere Systematizität deutlicher hervortreten zu lassen. Die »superfluitas« und »obscuritas« bestimmter Vorschriften, ja selbst der >>defectus Juris Romani « scheinen letztlich gefördert worden zu sein durch die unheilvolle >>confu­ sio«, die >>bislang am meisten vorherrscht und alles verwirrt« .3 Leibniz schließt die umfangreichen lateinischen Arbeiten, die zwischen 1 669 und 1 67 1 zur Neuordnung des Rechts entstehen, durch einen deutschsprachigen Bericht ab, in dem er keinem Geringeren als dem Kaiser selbst Rechenschaft über die Motive seines Reformwillens ablegt. Das »Bedenken, Welchergestalt den Mängeln des Justizwesens in theoria abzuhelfen«\ beschränkt sich auf die zwei Hauptmängel der Gesetze, ihre Dunkelheit und Weitläufigkeit, die allein im Privatrecht >>ein deckmantel vieler Ungerechtigkeiten worden>zwo Haupt-Tugenden aller GesezeClarheit und Kürze Confusio autem sola adhuc maxime regnat, et omnia turbat. Ea enim et sustentat superfluitatem, et defectum et obscuritatem« (§ 23). A VI 2, 94, 14 f.; 95, 21 f. 4 So lautet der Titel des Berichtes an den Kaiser (A I 1, 57-62) in der gekürzten Fassung bei Guhrauer, I 256-263. 5 Leibniz sucht »mittel«, um folgende Mißbräuche zu verhindern : »daß kein Theil den sta­ tum controversiae verwirren, [ . . . ] seine eigne praesidia vergeßen; den andern mit allerhand vor­ theilen hintergehen, auff das was ihn am meisten drucket nicht antworten, sondern es fein saü­ herlieh übergehen, benebeln, oder kaum obenhin berühren, hingegen das seinige, ob es schohn offt abgelehnet, mit Verschweigung der antwort repetiren, eine sach hundertmahl vorbringen, und dadurch die acta unendtlich, die sach dunckel, den Richter müde machen, und viel ander Künste, so geübte Advocaten wohl wißen, sich gebrauchen könne : wie dann auch anstalt zu ma­ chen, daß nicht einmahl in eines Unterrichters oder falscher Zeügen macht sey, das factum oder jus zu verdrehen, dem kläger die erlangung des seinigen zu hemmen, dem beclagten oder inqvi­ siten seine Unschuld zu verdunckeln, und ihren geiz oder haß, oder andere Passionen auszu­ üben>mangeln« . >>Dunckel« sind die Gesetze, weil mit ihrer bunt­ scheckigen Kompilationsgeschichte die unterschiedlichsten >>principia und status reipublicae et jurium mutatorum durch einander gemenget« wurden, weil sie oft aus ihrem rechtslogischen Argumentationskontext isoliert wur­ den, wodurch sich >>unzehliche verstümpelungen, verdrehungen, und un­ rechte applicationen>das Gesez da, deßen enderung dort>der Text hier, die erclärung dort, der grund in den lezten, die conseqvenzen und applicationes aber in den ersten Büchern> Weitläufftig>obscurität>vermehret, und gleichsam unüberwindtlich gemacht wirddecidirter particular fälle>de nomine et formula>offt clare natürliche Sachen>terminis und formulis>circumstan­ tien>stecke etwas wichtiges und schwehres darunter, da doch offt, wenn mans mit mühe aus einander gelesen es sich selbst verstehet, und ein verständiger bauer, wenn mans ihm auff guth teutsch vorgeleget hätte, nicht anders gesprochen haben würde>gründtlich abzuhelf­ fen>eine iede Iex, proposition, decision, oder conseqvenz unter ihren Grund und ration, daraus sie fließet, gebracht>Elementa>combina­ tion>lustification>Et habemus incredibilem massam egregio­ rum experimentorum, sed rudern et indigestam, et usu nisi pene fortuito carentem.theoria cum praxi< ist »die dritte art Gottes Ehre zu suchen, deren nehmlich so ihm dienen als Moralistae, als Politici, als Reeta­ res Rerum publicarum, die vollkommenste>außer der Einen Inkarna­ tion keine göttlichen Wunder geschehen«, sondern ihr Anschein dem ge­ wöhnlichen >> Lauf der Natur entspringt« .22 Entsprechend sucht Leibniz das Übernatürliche in den biblischen Wunderberichten physisch zu erklä­ ren, ohne am Sinn der Erzählungen zu rühren. So deutet er etwa nach dem Vorbild von Robert Fludd und Thomas White den verbotenen Apfel im Paradies als ein Gift, das die Erbsünde herbeigeführt habe. Die Speisung der Fünftausend erklärt er unter Berufung auf ein Experiment Boyles >>aus der Natur der Belebung und des Wachstums« .23 Dieser Naturalisierung der Wunder entspricht eine Tendenz zur Minimalisierung heilsnotwendiger Glaubensbedingungen. Weil Leibniz als Autodidakt und Frühwaise nicht in den >>Vorurteilen« einer engen Konfession erzogen wurde, sondern >>fast noch als Kind« die väterliche Bibliothek durchzulesen anfing, wurde er früh von der Unionstheologie eines Calixt angesprochen und entwickelte bald eine weitherzige Skepsis gegenüber der vermeintlichen Sicherheit und Wichtigkeit bestimmter Kontroversartikel, die heftig umkämpft wurden.24 22 » Qvod praeter unam incarnationem prohabile sit miracula divina [ . . . ] fieri nulla, sed ap­ parentiam eorum ab ordinario naturae fortasse cursu dudum ad hoc destinato oriridas Wesentliche des wahren Glaubens prak­ tisch« und schlägt sich >>im Willen>daß Amor Dei super omnia, und die wahre Contritio, an der der Seeligkeit versicherung hanget, nichts anders sey als amare bonum publicum, et harmoniam universalemsola caritate< zu (s. u. 398).28 Entsprechend sieht Leibniz in vielen Kontroversen um die Inhalte eines theoretischen Fürwahrhaltens nur den Kampf um einen Fetisch, den man verficht, >>als wenn der menschliche wahlstand daran hingealle Sünden wie Unreinheiten« sind, >>verdienen die Menschen die bessermachende Strafe des Reinigungsfeuers « . Gott straft dabei >>nicht im eigentlichen Sinneschenkt uns einen anderen Geist>das Glück vorenthält>bricht die Grausamkeit einer ewigen Strafe zusammen> U niversalharmonie>drei oder vier Stellen« in seinem Sinne auslegen dürfe und ihm hier keine Häresie bescheinigt würde (A II 1, 488, 1 - 1 4) . 3 0 Stammler: Leibniz, 1 34, verkennt völlig die leitenden »Beweggründeharmoni­ stische >unifikatorische Ideeschon in seiner Leipziger Studienzeit besessen>mit Bemerkungen versehenutilissimum ac profundissimum axioma« der >>Patres ac Scholastici« ( 1 56, 6-8). Leibniz stimmt dieser klassischen Appropriation zu, indem er die Teilhabe der Kreaturen an den göttlichen Attributen auf die Trinität bezieht. In der potentia partizipiert das Geschöpf an der All­ macht des >>Pater«, in der sapientia an der Allwissenheit des »Filius « und im amor an der Allgüte des vom Vater und Sohn ausgehauchten >>Sp.( iritus) S.(anctus) « ( 1 56, Anm. 22-24). Bisterfeld stützt seine Deutung des Verhält­ nisses zwischen den Notionen der göttlichen processio ad intra und den ge­ schöpflichen Vollkommenheiten der processio ad extra auf das Pauluswort : >>Ex ipso, per ipsum et in ipsum sunt omnia« (Röm. 1 1 , 36). Auch hier zeigt Leibniz sein Einverständnis, indem er an der Paulinischen Formel, die stets eines seiner Lieblingszitate bleiben wird, die Präposition >>ex« auf >>Pater principium«, >>per« auf >>Filius medium« und >>in« auf >>Sp. S. Finis« bezieht ( 1 58, 6 u. Anm. 33-35).63 Entscheidend für seinen Theo-Logizismus ist nun, daß Bisterfeld im Ka­ pitel VIII De Ordine die Trinität als Schlüssel für die mathematische Struk­ tur des Kosmos versteht. In jeder Ordnung sind mindestens drei Eck­ begriffe vorauszusetzen. >>In omni ordine saltem sunt tres termini.64 Hic terminorum ternarius est plane JlUO"tll PtffiÖrl'; summique per universam en­ cyclopaediam momenti « . Im heiligen Ternar findet Bisterfeld die ipsa totius naturae, spiritualis et corporeae, clavis, deren >>veritas, necessitas et utilitas « sich auf speziellen Anwendungsgebieten zeige ( 1 57 f.). Leibniz' Zustim­ mungssatz, >>unde patet Ternarius in Trinitate« ( 1 57, Anm. 30), ist gleichsam die Keimzelle seiner Theo-Logik. Er bildet den historischen Übergang von der theologischen Orthodoxie zum rationalen Konstruktivismus der Auf­ klärungstheologie. Zwar beansprucht Leibniz nicht, das bloß auf Schrift­ offenbarung beruhende und der natürlichen Vernunft unzugängliche Glau­ bensgeheimnis der Trinität in seinem Wesen zu durchdringen. Wohl aber versucht er mit der Bisterfeldsehen Pansophie, die Dreiheit der Personen 6 3 Allerdings hatte er Vorbehalte gegenüber Bisterfelds Versuch, die trinitarischen Relatio­ nen mit der aristotelischen Trichotomie der Ursachen zu parallelisieren. Er strich B isterfelds These, >>qu6d in omni effectu necessari6 occurrat triplex causa, nempe efficiens, exemplaris et finalis« ( 1 58, 2 f.), im Handexemplar durch. 64 Leibniz erläutert, es müsse einen terminus »primum(,) medium et ultimum« geben: der erste ist »superius dato« , d. h. der höchste Gattungsbegriff zu j edem gegebenen Mittelbegriff; der letzte dagegen ist »inferius« als j eder gegebene, d. h. der Schlußbegriff ( 1 5 7, Anm. 3 1 ).

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über alle Schrift- und Traditionsbeweise hinweg aus der logischen Notwen­ digkeit abzuleiten, daß j ede Ordnung drei Grenzbegriffe haben muß, weil sie sich nicht mit einem >>progressus in infinitum« verträgt und es sonst keine terminorum congruentia gibt. Deshalb unterstreicht er Bisterfelds Satz : >>Jede Vielheit kann und muß zurückgeführt werden auf die Einheit. Dazu ist es nötig, daß derj enige Terminus, der der erste der universalen Ordnung ist, zugleich auch der mittlere und letzte ist, und umgekehrt.>daß die Panharmonie aller Dinge in der hochheiligen Dreieinigkeit gründetQuell>Richtschnur« und zum >>Ziel>die ganze Natur und Schrift ein lauteres LichtFinsternis und schreckliches Chaos >Omnis multitudo et potest et debet revocari ad unitatemuna eademque res seu entitas« (deren Namen >>DEUS« Leibniz eigens anzumerken für nö­ tig hält) die >>radix« sowohl aller >>convenientia« als auch aller >>differentia« zwischen den Geschöpfen ist. Denn die wirkliche >>rerum differentia« sei ein >>Sprößling der Einheit [unitatis proles] «, nämlich die >>repetita unitas« in Gottes schöpferischer Zählung. Leibniz, der mit >>N(ota) B(ene) >re­ rum creatioerzählt>quasi per subductionemCum enim omnis creatura sit Dei vel imago, vel vestigium, vel umbra, Deus creando se magis minusve communicavit>hervorragende>was für un­ seren Geist das Zählen ist, bedeutet für den ersten Geist das Erschaf­ fenSchlüssel>DEus [ . . . ) est harmonia universalis>innige>daß wir in der Liebe GOTT nach­ folgen, durch Liebe uns mit GOTT vereinigen und durch Liebe beglückt werden« (473, 1 1 f.).92 Die Menschen sind damit als notwendiges Medium in die Äußerungen der trinitarischen Harmonie eingebettet, um in ihrer gei­ stigen Harmonie den Endzweck der Schöpfung zu erfüllen. Gott hat >>zu keinem andern End die Vernünfftigen Creaturen geschaffen, als daß sie zu einem Spiegel dieneten, darinn seine unendtliche Harmoni auff unendt­ liche weise in etwas vervielfältiget würde« (A IV 1 , 532, 1 8-20). Ohne die 9 0 Das ••unum in multisWenn GOTT keine vernünftigen Geschöpfe in der Welt hätte, so besäße er dieselbe Harmonie, allerdings ohne Widerhall; er besäße dieselbe Schönheit, allerdings ohne Reflexion und Refraktion, d. h. ohne eine Ver­ vielfältigung. Deshalb verlangte die Weisheit GOTTES vernünftige Ge­ schöpfe, in denen sich die Dinge vervielfältigten sollten. « (A VI 1, 438, 5-8)93 Die Multiplikation der Herrlichkeit, die Leibniz in akustischer und optischer Metaphorik beschreibt, geschieht nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis tätiger Liebe. Der >>Amor Dei super omnia«, der im >>amare bonum publicum, et harmoniam universalem« besteht, läuft darauf hinaus, die gloria Dei >>sowohl einzusehen als auch soviel wie mög­ lich zu vergrößern [et intelligere, et qvantum in se est facere majorem] «, so >>daß man die Schöhnheit Gottes, und universalHarmoni, ieder nach seines verstandes fähigkeit faße, und wiederumb auff andere rejlectire« (A IV 1 , 532, 1 2-27). Die praktische Reflexion folgt der ästhetisch-logischen, weil die Erfahrung der Schönheit zugleich Kräfte freisetzt, die Schönheit zu be­ wahren und zu fördern.94 In der Endlichkeit der Liebe entdeckt Leibniz jedoch den Ursprung von Dissonanzen, die mehr oder weniger zu einer harmonia distorta führen (A VI 1 , 444, 33). Am fiktiven Maßstab einer absoluten Situationsgerechtigkeit scheint ein >>agere injuste, id est dysarmonice« (ebd. 437, 29) sogar prinzi­ piell unvermeidbar. Von den moralischen oder nur pragmatischen >Verfeh­ lungen< aus wird Leibniz dann prinzipiell sensibel für die Notwendigkeit disharmonischer Momente innerhalb des organischen Entwicklungsgesche­ hens überhaupt. Da jedes Lebewesen ein >>Harmonicum«, d. h. »auf ein­ förmige Weise verschiedengestaltig« ist, gehört ein rhythmischer Wechsel zwischen den Extremen der Einheit und Verschiedenheit auch zur Organi­ sation des Erlebens. >>Vielfalt« gefällt, aber nur so lange, wie sie >>auf eine Einheit zurückgeführt, kunstvoll zusammenstimmend oder vereinigt« ist. Umgekehrt gefällt auch >>Gleichförmigkeit«, aber nur so lange, wie sie >>neu, erstaunlich oder unerwartet und ebenso entweder bedeutsam oder kunstvoll« ist; >>Über einen langgestreckten Zeitraum ist sie höchst willkom-

93 »Si DEUS non haberet in mundo Creaturas rationales, haberet eandem harmoniam, sed so­ lum demta Echo, eandem pulchritudinem, soltim demta reflexione et refractione seu multipli­ catura (korrigiert nach A VI 2, 527). Unde DEI sapientia exigebat Creaturas rationales, in qvibus se res multiplicarent.« 94 »Amoris autem principium pulcritudo, ex qva tandem voluptas animi.« (A VI 1, 498, 1 0) >>Hinwiederumb wird Glaube, Hofnung, und Liebe durch die Erkantnüß und Gewisheit der Allmacht und Allwißenheit Gottes wunderbarlieh befestiget.« (A IV 1, 53 1 , 21 f.)

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men, wo niemand eine Verbindung vermutet hätte« . ( 484 f.)95 Die Maßgeb­ lichkeit des Zeitfaktors für das ständig sich verschiebende Gleichgewicht von Vielfalt und Gleichförmigkeit liegt in der transitorischen Natur der Be­ dürfnisbefriedigung, die nach j eder Erfüllung zu einem neuen Ziel tendiert. Wie Hobbes definiert Leibniz das » Glück« oder den >>Bestzustand einer Person« durch das >>ungehinderte Fortschreiten zu immer neuen Gütern. Der Stillstand des Begehrens, d. h. ein Zustand, in dem man nichts mehr wünschte, wäre nicht Glück, sondern Erschlaffung« . Daher weicht die Ten­ denz, den Augenblick der Erfüllung >>fortzusetzenAbwechslungvon großer Bedeutung, denn aus ihm ergibt sich das geregelte Verhältnis j eder Lust und j edes Schmerzes sowie schließlich aller Affekte [omnis voluptatis dolorisqve, omnium deniqve affectuum ratio] Daß Ge­ mälde durch Schattierungen, Gesänge durch Dissonanzen verschönert wer95 » Harmonicum est uniformiter difforme. Varietas delectat sed in unitatem reducta, con­ cinna, conciliata. Conformitas delectat, sed nova, mira, inexpectata, ac proinde aut ominosa, aut artificiosa; in Ionge dissitis maxime grata, ubi connexionem nemo suspicaretur. « 96 »Felicitas est status personae optimus. (Cum autem detur bonorum progressus in infini­ tum conseqvens est statum optimum consistere in non impedito ad ulteriora semper bona pro­ gressu. Qvies in appetendo, seu status in qvo nihil optes, non felicitas est, sed torpor. Ne sentit qvidem bonum suum qvi non optat continuationem, sed nec delectatio est sine harmonia, nec harmonia sine varietate.)« Vgl. Hobbes : De homine, XI 15 (OLM l i 1 03) und Leviathan XI (OLM III 77). 9 7 Auch Kabitz : Philosophie des jungen Leibniz, 94, hat bemerkt, daß Leibniz »mit dem Grundbegriffe der Harmonie und der Tendenz eine ganz neue Auffassung des Seelenlebens« ge­ wonnen hat. 9 8 Schneiders : Harmonia universalis, 30, spricht insofern treffend von einem »beinahe schon artistisch konzipierten Harmoniebegriff« .

Die leitenden Motive

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den, sofern sie zuletzt auf die Harmonie zurückgeführt sind, ist gewiß« ( 485, 4 f.).99 Selbst Gottes unterschiedliche Verteilung der Fähigkeiten auf die Menschen ist ein Mittel für die >>natur, umb die weit bund zu schattiren« (A IV 1, 532, 29 f.). Von dieser bereichernden Kraft der Variation her legt Leibniz schließlich den ganzen status systematicus der kosmischen Bewe­ gung gleichsam als die Kunst der göttlichen Fuge aus, in welcher >>alles durch gewisse Perioden hindurch verläuft« (A VI 2, 3 1 5, 1 2 - 1 5). Die Ereignislogik der disharmonisch bereicherten Harmonie bedeutet j edoch keine leichtfertige Ästhetisierung der Sozialsphäre. Leibniz recht­ fertigt zum einen nur Momente von Dissonanz überhaupt, nicht aber be­ stimmte Sünden gegen den Geist der Harmonie. Zum anderen ist es ein Po­ stulat der Universalharmonie selbst, daß alle >>unrichtige« >>Verstimmung in einem andern Leben durch gehörige Gegengriffe der Straffe und Belohnung gleichsam nach Musicalischen Regeln in eine weit vollkommenere Har­ mony ersezet werde« (A VI 1 , 537, 1 4 - 1 7) . 1 00 Die >beste aller möglichen Welten< hat also nichts mit einem ruchlosen ethischen Optimismus zu tun, sondern meint - von physikalischen Extremalprinzipien abgesehen lediglich die größtmögliche individuelle Gestalten- und Handlungsvielfalt, die ohne Gefahr für die Einheit bei strukturell verwandten Wesen stattha­ ben kann. Weil die konkrete Darstellung der »Harmonia maxima rerum« (A IV 1, 532, 1 1 ) immer wieder neu geleistet werden muß und gerade von Differenzen und Spannungen lebt, erweist sich schon beim frühen Leibniz das Optimum als weit entfernt von der sehrnerzfreiesten aller mög­ lichen Welten, die man sich nicht erst seit Voltaires Candide wünscht.101

9 9 »Picturas umbris, cantus dissonantiis a d extremum a d harmoniam reductis distingvi con­ stat.« 1 00 » Peccata bona sunt, id est harmonica, sumta cum poena aut expiatione.« (A II 1, 1 1 8, 6 f.) Selbst die Wirrnis von sechstausend Jahren, die nicht einer eigenen Harmonie entbehrte, ver­ halte sich im Vergleich zur Ewigkeit wie ein einziger mißtönender Takt (A VI 1 , 485, 1 0- 1 3). 101 Zur Mißverstehensgeschichte von Leibniz' Formel der » besten aller möglichen Welten« vgl. Hübener: Sinn und Grenzen des Leibnizischen Optimismus.

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Erster Teil · Der Weg zum Systemzyklus ( 1 663-1 669)

I I . D I E WU R Z E L N

D E S M U LT I P E RS P E KT I V I S C H E N U N I V E R S U M S

1. Eine erste Verbindung von Individualmetaphysik und Universal­ mathematik im Schema der Kombinatorik ( 1 663/1 664) Zur Universalharmonie gehört, daß die äußere Welt multiplikativ gespie­ gelt, d. h. in der Wahrnehmung und Vorstellung j edes Individuums variiert wird. Die Entdeckung dieser Multiperspektivität fällt schon in die Leipziger und Jenaer Studienzeit, deren erste Hälfte ( 1 66 1 bis 1 663) für uns allerdings in Dunkel gehüllt bleibt. Autobiographische Bemerkungen des späten Leib­ niz 1 nennen zwar unterschiedliche Bildungsmächte und Lehrer, formulieren aber keine deutlichen Stand- und Wendepunkte. Die ersten aussagekräftigen · Dokumente stammen aus dem anregenden Jahr 1 663 , in dem Leibniz die propädeutischen Kurse an der Philosophischen Fakultät von Leipzig been­ dete, zum Sommersemester an die Universität Jena wechselte und im Herbst für das juristische Fachstudium in seine Heimatstadt zurückkehrte.2 Es handelt sich um zwei Texte, in denen sich das Janusgesicht Leibnizens, aber auch der unterschiedliche Lokalgeist von Leipzig und Jena zeigt. Beide Texte betrachten das Individuum, aber unter verschiedenen Aspekten. Die Erstlingsschrift »De principio individuiLeib-Seele-Pentagon< spiegelt sich der naturwissenschaftlich aufklärende Geist der Jenaer Universität. In den zwei komplementären Aspekten bezüglich des Individuums liegen die ersten Wurzeln des multiperspektivischen Universums. Sie zeigen die 1 Die weit verstreuten Selbstzeugnisse greifen teilweise bis in die frühe Kindheit zurück. Be­ sonders aufschlußreich ist die schon erwähnte Vita Leibnitii a se ipso breviter delineata (Klopp I 1 , XXXII-XL = Pertz I 4, 1 65- 1 7 1 ; deutsche Übersetzung in von Engelhardt, 397-407). Sie be­ trifft die Erziehung, den Zugang zur väterlichen Bibliothek, die klassische Schullektüre sowie das frühe, eigenständige Studium der Logik, der antiken und scholastischen Philosophie und der Kontroverstheologie. 2 Biographische Informationen zu Leibniz' Kindheit und Studienzeit finden sich in Leibniz­ Chronik, 3 - 1 3; Kabitz: Bildungsgeschichte des jungen Leibniz, 1 64 - 1 84; Aiton: Leibniz. Eine Biographie, 25-43 . Von den älteren Biographien, die oft ungenau und für unsere Maßstäbe weit­ schweifig sind, ist am informativsten Guhrauer: G. W. Freiherr von Leibnitz. Eine Biographie. Ältere Forschungen zu Einzelheiten des Leibnizschen Universitätsstudiums sind genannt in A VI 2, 54 1 , Anm. 1 .

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frühe Verflechtung von Theologie, Mathematik und Physik, derzufolge die unüberschaubare Mannigfaltigkeit der Einzeldinge letztlich, also im gött­ lichen Begriff, eine komplexe Variation einfacher Strukturgesetze darstellt. Von der Schrift über das Individuationsprinzip aus (Kap. a) wird sich die Triftigkeit von Jacobis und Schellings Behauptung erweisen, daß Leibniz' » ganzes System vom Begriff der Individualität ausgeht und darauf zurück­ kehrt«.3 Die Erläuterung des >Leib-Seele-Pentagons< (Kap. c) zeigt dann, wie früh Leibniz die scholastischen Vorstellungen der substantia prima und des animal rationale nach euklidischer Axiomatik ins mechanistische Schema übersetzt. Eine fragwürdige geometrische Lokalisierung des visuellen und mentalen Zentrums in einem Punkt des Leibes erlaubt ihm dabei einen ersten, abstrakten Ansatz zu j ener historischen Vermittlung, die man treffend als »Synthese« von »Individualmetaphysik« und »Universalmathematik«, von Renaissance und Barock4 bezeichnet hat. Wenn der seelische Mittel-Punkt in eine darstellbare Relation zu den Sinnesorganen gebracht werden kann, dann lassen sich durch naturwissenschaftliche Forschungen äußere Bedin­ gungen für die individuierende Perspektive ermitteln. Das »Weltbild« (s. o. XXVII, das Motto-Gedicht) eines Individuums läßt sich dann von der sukzes­ siven Aneignung außenweltbedingter Wahrnehmungen her verstehen, die mehr oder weniger frei vom Verstand nach Zwecken beurteilt und in einer see­ lischen ars combinatoria zu abstrakten Vorstellungen überformt werden. Die Kapitel 2 bis 4 zeigen dann, wie Leibniz das universalmathematische Extrem juriszentrisch weiterbestimmt als respublica universalis.

a) Individuation als einmalige Konkretion in Form und Materie: Nominalistische Entitätenreduktion und augustinische Ideenlehre Die »Disputatio metaphysica de principio individuiBeweisdokumentenominalism< can be un­ derstood in terms of the position maintained by Leibniz in his baccalaureate essay« (267). 1 2 Kabitz: Philosophie des jungen Leibniz, 5, hat Recht, daß mit diesem >>Rätselwort« noch » nichts erklärt wird « . Es wird j edoch erhellt durch den ganzen Text, auf den Kabitz nicht ein­ gegangen ist. Eine erste Gesamtdeutung gab Guhrauer: Leibnitz 's Dissertation De principio individui, 7-60, der die lange vergessene Schrift 1 83 7 mit einer Einleitung herausgab. Eine Textauslegung mit zuverlässigen Sachklärungen, aber oft vordergründiger >Kritik< bietet Kirchmann : Erläuterungen, 9-50. Eine vorsichtige Interpretation der Hauptargumente im Textvergleich mit älteren Autoren gibt McCullough : The Early Philosophy of Leibniz on Indi­ viduation, 26-266.

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Beim Hinweis auf die unterschiedlichen Wortverwendungsweisen von »principium« und >>individuum« schickt Leibniz voraus, daß seine Frage­ stellung nicht die logische Seite >>in ordine ad praedicationem«, sondern die metaphysische >>in ordine ad rem« betrifft. Sie zielt auf das principium reale >>insbesondere bei den erschaffenen selbständigen Einzeldingen«, wel­ ches macht, daß selbst eineiige Zwillinge von sich aus gegeneinander unter­ schieden sind. Scholastisch formuliert geht es also um das Prinzip, das die >> Grundlage für den Formalbegriff des Individuums oder der Vereinzelung« und damit für seine >>numerische Verschiedenheit im Verstand « ist. 1 3 (ebd. 1 1 , 7- 1 6, § 2) Der Standpunkt im Universalienstreit, den Leibniz hier be­ zieht, ist der Nominalismus. Daß er diesen sieben Jahre später als die >>tief­ sinnigstereformierten Methode des Philosophierens angemessenste>daß alles außer den einzelnen Substanzen bloße Namen sind>Realität des Abstrakten und Allgemeinen>Seiendes nicht ohne Not zu vervielfachen>einfa­ chere>bessere>alles in der Na­ tur>Formalitäten>erklären>die göttliche Reichhaltigkeit>eher freigebig als sparsam>an der Vielfalt und Fülle der Dinge freutunschick­ lichen Überflüssigkeit>wah­ rer>einem Philosophen unserer Zeit würdiger>hypotheses«, die ausnahmslos für alle Einzeldinge gültig sind, wie die von Duns Scotus, und spezielle, die für die materielle Substanz einen anderen Unterscheidungsgrund ansetzen als für die immaterielle, wie die von Thomas von Aquin, der bei den Körpern die gestaltete Materie (materia signata), bei den Engeln dagegen ihre Seiend­ heit (entitas) als Individuationsprinzip geltend macht. Indem Leibniz sich auf die universellen Prinzipien beschränkt, seine Musterung der speziellen aber für eine >>andere Zeit« in Aussicht stellt1 6, behält er nur vier Positionen übrig. >>Entweder wird nämlich als Vereinzelungsprinzip die entitas tota ( 1 ) gesetzt oder nicht; nicht die ganze heißt aber entweder eine negatio (2) oder aliqvid positivum. Das Positive ist entweder eine pars physica, die die essentia be­ grenzt: die existentia (3), oder eine pars metaphysica, die die species ein­ grenzt : die haecceitas (4) . « ( 1 1 , 1 7-25, § 3) Statt die thomistische Engellehre einfach auszuklammern, weicht Leibniz mit dieser kunstvollen Einteilung dem ganzen problematischen Verhältnis zwischen Form und Materie aus. Seine Verheißung einer späteren Abhand­ lung ist ein Indiz dafür, daß er mehr als nur darstellungsökonomische Gründe für die Ausklammerung hatte. Wie nämlich aus einer Bemerkung gegen Ramoneda hervorgeht, besagt die gängige Formel der >>ganzen Seiendheit [tota entitas] « 1 7, die Leibniz zur Kennzeichnung des von ihm vertretenen Individuationsprinzips ( 1 ) verwendet, nichts anderes als die Einheit des aus Materie und Form zusammengesetzten Einzeldings. 1 8 Die 1 5 Zu Leibnizens Umgang mit den Zitaten der Autoritäten bemerkt Hochstetter: Leibniz­ lnterpretation, 1 82 f., treffend : »Wer evangelische philosophische Dissertationen aus der 1 . Hälfte des 1 7. Jahrhunderts kennt, weiß, daß [ . . . ] diese Arbeiten oft geradezu aus einer Kette von Ci taten mittelalterlicher Autoritäten, gleichviel welcher Zeit und welcher Herkunft, ob ap­ probiert oder indiciert, geformt sind, in Vergleich zu denen Leibniz' eigene Disputatio metaphy­ sica de principio individui als eine eigenständige, vergleichsweise nur dünn >kolorierte< Arbeit erscheinen muß.« Daß die Zitatkenntnis dabei eher »auf sekundäre Quellen als auf die Original­ texte« zurückzuführen ist, »auch wenn die Belegstellen nach den Originalen angegeben sind«, gilt allerdings teilweise auch für Leibniz. 1 6 Vgl. auch Thomasius' Bemerkung in seiner Vorrede (5, 15 f. und Anm. a). 1 7 Zu ihren Vertretern aus unterschiedlichsten Traditionen s. u. 50, Anm. 56. 1 8 »Auf üble Weise aber stellt Ramoneda diejenigen, die behaupten, daß das Individuum sich selbst vereinzele, denj enigen gegenüber, die behaupten, daß Materie und Form dies leisteten -

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terminologische Entdifferenzierung legt also nahe, daß schon dem Sech­ zehnj ährigen die Form als ein Individuationsprinzip vor Augen schwebt, dessen Verhältnis zur thomistischen materia signata neu zu überdenken ist. Diese Vorprägung seiner Individualmetaphysik ist im folgenden zu zei­ gen, ohne allen feinverzweigten argumenta pro et contra nachzugehen. Um Leibniz' früheste Position zwischen den unübersichtlichen Frontverläu­ fen1 9 hervortreten zu lassen, sind seine aufschlußreichen Einwände gegen die Positionen (2), (3) und (4) vorwegzunehmen. Mit dem 2. Individuationsprinzip, der Negation, weiß Leibniz inhaltlich nichts anzufangen. Auch nennt er keinen Vertreter.20 Allerdings sucht er dem bei Bassolius (s. u. 42, Anm. 26) referierten Gedanken der negatio du­ plex einen Sinn abzuringen.21 Gegen eine Negation im Individuum selbst, die unabhängig von j eder Setzung durch den Verstand (extra intellectum) vorliegen soll, erhebt Leibniz drei Einwände, die weniger Widerlegungen als Absurditätsverdächtigungen vom nominalistischen Standpunkt aus sind. »Wie kann ein positives Seiendes durch etwas Negatives konstituiert werden ? Ferner kann eine Verneinung keine individuellen Akzidentien her­ vorbringen. Und schließlich gilt j ede Verneinung einem positiven Etwas, sonst ist sie bloß eine Verneinung dem Wortlaut nach. « All das liefe auf den Widersinn hinaus, daß das Prinzip des Sokrates die Verneinung Platons und umgekehrt wäre, ohne daß auf irgendeiner Seite etwas Positives wäre, auf dem das Individuelle fußen könnte. Die Negation kann nicht einsichtig machen, was Leibniz selbst für gewiß hält, nämlich daß eine spezielle »Naals ob sich beide widersprechen würden; sind doch die letzten den erstgenannten eher unterge­ ordnet wie spezielle Ansichten den allgemeinen. Denn was ist die Materie vereint mit der Form anderes als die ganze Seiendheit des Zusammengesetzten ? Ich füge hinzu, daß ich hier von der Unterscheidung zwischen Körpern und Engeln absehe und deshalb ( ! ) besser den Begriff >ganze Seiendheit< verwende als >Materie< und >Form>essentia et existentia non possunt separariidem a parte reiEntfernen< wird wie ein Wirken auf dasj enige be­ stimmt, von dem etwas entfernt wird. Folglich existiert die Wesenheit auch nach ihrer Abtrennung von der Existenz weiter, was logische Verwir­ rung stiftet. >Eine Wesenheit, die von der Existenz ent­ fernt worden ist, ist entweder ein real Seiendes oder nichts. Wenn sie nichts ist, so war sie entweder nicht unter den erschaffenen Dingen, was unge­ reimt istoder sie war nicht von der Existenz ver­ schieden, was ich ja behaupte. Ist die Wesenheit aber ein reales Seiendes, so ist sie entweder ein bloß mögliches oder ein wirkliches Seiendes . >denn es kann nicht wirklich sein außer durch seine Existenz, von der wir doch vorausgesetzt haben, 22 • Ümne qvod aufertur existit, praeciso eo a qvo aufertur, ablatio enim tanqvam actio ad id a qvo aufertur terminatur. E.(rgo) Essentia existit praecisa existentia, qvod implicat«. Wie schwierig Leibniz' Argumentation oft ist, zeigt sich bei Kirchmann, 9. Er übersetzt das impli­ care bedeutungswidrig, wonach die Essenz die Existenz •einschliesst«, und vergißt die Nega­ tion im anschließenden Satz.

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daß s i e entfernt worden sei « . Wer aber d i e Wesenheit als e i n bloß mögliches Seiendes versteht, macht dadurch nach Leibniz >>alle Wesenheiten« zur >>er­ sten Materie«, d. h. im Sinne des aristotelischen Grenzbegriffs zu einem gänzlich formlosen Stoff, der reine Möglichkeit ohne Wirklichkeit ist. Denn >>zwei bloß mögliche Dinge« könnten sich j edenfalls >>nicht in Bezie­ hung auf ihr Wirklichsein« unterscheiden, solange ihre Beziehung bloß >>das Seiende der Möglichkeit nach« betrifft. Das Monstrum einer irgendwie fak­ tischen Möglichkeit, das ein solcher Schlaf der Vernunft nach Leibniz pro­ duziert, könnte allenfalls die Erstmaterie sein, sonst wäre die Beziehung zwischen möglichen Dingen eben >>keine reale«. ( 1 5, 1 6-2 1 , § 1 5).23 Posi­ tion (3) liefe also darauf hinaus, daß die Wesenheiten letztlich >>nicht von der Materie verschieden« wären, ja daß >>allein die Materie den wesent­ lichen Teil der Dinge« ausmachte. Weil die amorphe hyle j edoch keine wirkliche >>Form« einschlösse, die Form aber >>das Prinzip der spezifischen Unterschiedenheit« ist, so folgte daraus, daß die Dinge >>nicht der Art nach verschieden wären, wie z. B. die Wesenheit der Tiere von der des Men­ schen« . Wollte man dieser Katastrophe mit dem Argument ausweichen, daß die bloß möglichen Dinge immerhin durch ihre unterschiedlichen We­ senheiten im göttlichen Intellekt, d. h. >>durch ihre Beziehungen zu den Ideen« spezifiziert seien, so fehlte erneut die >>reale Beziehung«, die für das Individuationsprinzip erforderlich ist. Denn die Relation zwischen ver­ schiedenen Wesenheiten, sofern diese nur in Gott gedacht werden, ohne durch Schöpfung in die Existenz getreten zu sein, ist nur >>ein Akzidens in GOTT«. ( 1 5, 22-26, § 1 5)24 Mit dieser Widerlegung läßt Leibniz seine frühen ontologischen Vorent­ scheidungen erkennen. Eine Realdistinktion zwischen Essenz und Existenz weiß er nicht anders zu verstehen als nach Art einer physischen Abtren­ nung, die Realität einer Wesenheit nicht anders als nach Art der materiellen Existenz in Raum und Zeit. Ein mittlerer Status der Essentien zwischen ih­ rer ewigen Möglichkeit in der göttlichen Idee und ihrer zeitlich wandelba-

2 3 » Essentia ablatii existentia aut est ens reale aut nihil. Si nihil, aut non fuit in creaturis, qvod absurd um; aut non distincta ab existentia fuit, qvod intendo. Sin Ens reale, fuit aut pure poten­ tiale, aut Ens actu. Sine dubio illud, nam non potest esse actu nisi per existentiam, qvam tarnen separatam esse praesupposuimus. Si igitur essentia est pure potentialis, omnes essentiae sunt ma­ teria prima. Nam duo pure potentialia non differunt, ne relatione ad actum quidem, qvia haec Relatio euro sit ad Ens in potentia, non est realis. >der Form nach vom Verstand gebildet wird. Um sich jedoch nicht der Ansicht zu nä­ hern, die Aristoteles Platon zuschrieb, hat er zur Vorbeugung des Irrtums die Formaldistinktion eingeführt. Diese bestehe zwar vor der Tätigkeit des Verstandes, aber doch bezogen auf ihn. Er glaubte, daß durch sie die Gattung von der ( spezifischen) Differenz unterschieden ist und infolgedes­ sen auch die numerische Differenz von der Art. Sofern er nämlich voraus­ setzte (sei es aus Widerspruchseifer oder deshalb, weil er die Ansicht des Thomas für unerklärlich, die der Nominalisten aber für unglaublich hielt), daß das Allgemeine real ist, hielt er es für zwingend, daß das Einzelne aus dem Allgemeinen und einem gewissen Zusatz entstehen muß und daß zwischen Gattung und Art dasselbe Verhältnis bestehen muß wie zwischen Art und Individuum, so daß es in gleicher Weise, wie es dort einen spezifi­ zierenden Unterschied gibt, hier einen individuierenden geben muß« ( 1 6, 1 - 1 0, § 1 7).30 2 5 Hierzu paßt das IV. der Korollarien, mit denen Leibniz De principio individui beschließt. »Essentiae rerum non sunt aeternae nisi ut sunt in DEO.« ( 1 9, 5) 26 Leibniz bezieht sich auf J . de B assolis: In quattuor sententiarum libros, hg. v. Fr. Reynault u . J . Frellon, Paris 1 5 1 6- 1 7. Denn B assolius sei unter Scotus' Schülern »der mit Abstand älte­ ste«, weshalb man seine Ansicht »getrost durchforschen« könne. »Er hat Scotus noch selbst ge­ hört, ist j edoch vielleicht noch früher als Ockham anzusetzen, weil er dessen grundsätzliche Einwände gegen Scotus an keiner Stelle zurückweist« ( 1 5, 32-35, § 1 6). 2 7 B . Pererio: De communibus omnium rerum naturalium principiis et affectionibus, Rom 1 562. 28 P. de Fonseca: Commentaria in libros metaphysicorum Aristotelis, Rom 1 5 77. 2 9 Eine Korrektur des einseitigen Bildes begann 1 908 mit Minges : Der angebliche exzessive

Realismus des Duns Scotus. 3 0 »Notum autem est Scotum fuisse Realium extremum, qvia universalia veram extra mentem realitatem habere statuit, cum Thomas formale eorum proficisei ab intellectu vellet. Ne tarnen in

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In der Hypostasierung des Individualunterschiedes zu einem positiven superadditum steckt nach Leibniz das ganze proton pseudos überflüssiger wie ungereimter Entitäten, die er mit dem >Schermesser Ockhams und der Nominalisten>Scoti fundamenta« auseinander3\ die sich freilich öfter als Argumente von Scotisten denn von Scotus selbst erweisen34, und nennt bloß zu jeder These den Einwand, den er wahrscheinlich in der mündlichen Disputation näher ausgeführt hat. Erst dann erfolgt die Begründung seiner Kritikpunkte durch vier Gegenbeweise, welche die haecceitas mit dem >>geballtem Ge­ schütz« hypothetischer Schlüsse abwehren sollen ( 1 6, 28 f., § 1 9). Um zu sehen, wie Leibniz' nominalistische Entitätenreduktion im Dienste augusti­ nischer Ideenmetaphysik steht, reicht die Betrachtung der vier Beweise aus, ohne daß die Triftigkeit der Kritik am historischen Scotus beurteilt werden muß. I. >>Si genus et differentia taoturn ratione distinguuntur, non datur diffe­ rentia individualis.« Es gibt dann zwar dasj enige Reale, worin sich zwei Insententiam vergeret, tributam ab Aristotele Platoni, distinctionem formalem commentus est palliando errori, qvae esset qvidem ante operationem intellectus, diceret tarnen respectum ad eum. Hac credidit genus distingui a differentia, et conseqventer differentiam numericam a spe­ cie: qvoniam enim universalia realia esse praesupposuerat, vel contradicendi studio, vel qvod Thomae sententiam inexplicabilem putaret, Nominalium incredibilem, necesse fuit singularia ex universali et aliqvo superaddito oriri ; ut autem est proportio inter genus et speciem, ita inter speciem et individuum; qvare uti illic differentia specifica est, ita hic individuificam esse conclu­ debat. « 3 1 Hübener: Leibniz ' gebrochenes Verhältnis zur Erkenntnismetaphysik der Scholastik, 70, führt die Formel • novacula Occami et Nominalium>daß das Allge­ meine außerhalb der Einzeldinge und ähnlich die Gattung außerhalb der Art ist [ut universalia sint extra singularia, et similiter genus extra speciem] «, scheint ungereimt, da isolierte Gattungen nicht adäquat spezifiziert wären. Vielmehr würden Gespenster eingeräumt wie ein Lebewesen, das weder vernünftig noch unvernünftig ist, oder eine Bewegung, die weder geradlinig noch kurvenförmig ist - fast wie j enes Hegeische Obst, das weder Kirsche noch Birne noch Traube usw. sein soll.36 2. Daß genus und differentia spe­ cifica nicht abgetrennt werden können, zeigt auch die Tatsache, daß die hö­ heren Unterschiede von den niedrigeren ausgesagt werden. So wird z. B. im Urteil >> Haec rationalitas est rationalitas« der bestimmten Vernünftigkeit des Sokrates die Vernünftigkeit überhaupt prädiziert. Der Artbegriff schließt also die Merkmale seines Gattungsbegriffs ein. »Differentia speci­ fica includit in se differentiam generis. E.(rgo) a genere non differt« . Folg­ lich sind auch species und haecceitas nicht abtrennbar. ( 1 7, 1 5-27, § 22) Die Kritik zeigt, daß Leibniz sich nicht etwa gegen die in der haecceitas gedachte durchgängige logische Bestimmtheit des Individuums durch die göttliche Idee wendet. Vielmehr dürfte er die große Aufwertung des Indi­ viduellen durch Scotus anerkennen, der das Individuum nicht als das ln­ kommensurable des Begriffs, nicht als eine bloß zufällig abweichende Ma­ terialisierung derselben Natur versteht, sondern von seiner ursprünglich exklusiven Bestimmtheit her denkt. Was Leibniz lediglich beanstandet, ist die ontologische Konfusion, die darin liegt, nicht bloß dem konkreten Ein­ zelding, sondern auch dem begrifflich Allgemeinen, das ihm korrespon­ diert, eine bewußtseinstranszendente Realität im Bereich der geschaffenen 35 Die Metakritik von Kirchmann: Erläuterungen, 44, daß sehr wohl »in einem Einzeldinge eine Kraft bestehen>Si non sunt universalia ante mentis operationem, non datur compositio ante mentis operationem ex universali et individuante. Non est enim realis compositio, cujus non omnia membra sunt realia. realitatesentitates< und >formalitates< bzw. >rationes formalesreal< verschieden. Der Ver­ stand erkennt sie als in der Sache selbst nicht formal identisch. Doch sind sie nicht real trennbar, gerade das besagt >unitive Kontinenz« ( 1 35). Zur distinctio formalis vgl. auch Honnefelder: Der

Begriff des Seienden als solchen als Gegenstand der Metaphysik nach der Lehre des johannes Duns Scotus, 376-382.

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Erster Teil · Der Weg zum Systemzyklus ( 1 66 3 - 1 669)

Dinge mehr übrigbleiben, sobald in einem Gedankenexperiment j eder end­ liche Verstand aufgehoben würde. 3. Wenn die intelligible Beziehung eine reale sein soll, so wäre sie ferner auch eine singuläre, so daß sie ihrerseits individuiert wäre und dazu erneut einer eigenen Diesheit bedürfte, was in infinitum ginge. 4. Wenn die intelligible Beziehung den bloß möglichen subj ektiven Begriff betreffen, zugleich aber auch formaliter von ihm ver­ schieden sein soll, so läßt sich wiederum ins Unendliche fort nach der Be­ zogenheit dieser Beziehung fragen, weil jede wiederum eine Beziehung auf den Verstand verlangt. ( 1 8, 1 5-26, § 25) IV. Damit hat sich das Individuationsprinzip der Diesheit als ungereimt erwiesen, selbst wenn sie bloß >formal< von der Art verschieden sein soll. Der abschließende Einwand zielt dagegen auf eine Erklärungsschwäche der haecceitas und leitet so zu Leibniz' eigener Position über. >>Inexplicabile est qvomodo accidentia individualia ab Haecceitate oriantur, ex nostra enim sententia facile explicari potest, qvia dantur dispositiones materiae ad formam, nullae vero speciei ad Haecceitatem.>erklären>Anlagen der Materie zur Form>de origine formarum« von dem inzwischen ausgereiften Standpunkt lösen will : »patet omnem dispositionem ad formam esse motum>Folgesätze« handelt, in neuem Licht : Die Materie habe >>von sich aus eine zur Seiendheit gehörige Wirklichkeit«52, und es sei >>ganz und gar nicht unwahrscheinlich, daß Materie und Quanti­ tät der Sache nach dasselbe sind « . s 3 Leibniz begründet seine eigene Ansicht, also das 1 . Individuationsprinzip der >>ganzen Seiendheit«, durch fünf übliche Argumente, drei Punkte be­ treffend : I. die transzendentale Einheit des Seins- und Einheitsgrundes54, II. die reale Einheit des Allgemeinen und Einzelnen, wonach >>die allgemei­ nen Prinzipien sich vom Einzelnen durch nichts anderes unterscheiden, als daß sie von vielen ähnlichen Einzeldingen abstrahiert werden«55, und 111. 5 1 An Thomasius, 20./30. April 1 669, A li 1 , 1 7, 1 3 f.; auch A VI 2, 436, 7 f. 5 2 »Materia habet de se actum Entitativum.« ( 1 9, 2) Die bloße Formel ist nicht neu; vgl. Sua­ rez : Disputatio metaphysica XIII, V 1 0. Kirchmann : Erläuterungen, 49, identifiziert diesen actus mit der dispositio materiae ad formam. Dem hat sich Quillet: Disputation metaphysique sur le principe d'individuation, 1 04 Anm. 79, angeschlossen: »car il n'y a entre Ia matiere et Ia forme qu' une distinction de raison « . In dem von Leibniz durchstudierten und in De principio indivi­ dui mehrfach zitierten Metaphysikkompendium Stahls (vgl. 1 2 , 1 0; 1 3 , 5 f.; 1 8, 2 f.) heißt es über den actus entitativus: »nihil est aliud, quam id, quod vulgo vocatur existentia, per quod nimirum res est extra nihil, vel extra suas causas« (unvollständig in A VI 1, 25, 3 f.) . 53 »Non omnino improbabile est materiam et qvantitatem esse realiter idem . « ( 1 9, 3 ) Das entspricht Descartes : Principia philosophiae li 8 (AT VIII 44 f.), worauf Kirchmann : Erläute­ rungen, 49, hinweist. 54 » 1 . Per qvod qvid est, per id unum numero est. Sed res qvaelibet per suam Entitatem est. E(rgo). Major probatur, qvia unum supra Ens nihil addit reale. Usi sunt hoc argumento omnes hujus sententiae defensores. « ( 1 2 , 1 1 - 1 3 , § 5) Die Spuren dieser Verteidiger verfolgt McCul­ lough: The Early Philosophy of Leibniz on Individuation, 200-2 1 7. 55 »2. Qvae sunt principia Entis in universali universalia, ea sunt ejus principia in singulari singularia. Sed tota Entitas est principium Entis universale in universali. E(rgo). Major probatur probabiliter ab analogia(,) 2. qvia principia universalia nullo alio differunt a singulari, nisi qvod a multis singularibus similibus abstrahuntur. Est hoc argurnenturn Stahlii. 3. Durandus: univer­ sale et singulare non differunt realiter. E. habent eadem principia. E. Entitas tota, qvae est prin­ cipium universalitatis, erit singularitatis.« ( 1 3 , 2-8, § 7)

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die innere Bestimmtheit der individuellen Natur. Die Argumente I und II sind wenig erhellend für die ohnehin unspezifische These >>omne indivi­ duum sua tota entitate individuatur«, die ja keine exklusive >>opinio [. . . ] Terministamm seu Nominalium« ist, sondern >>a gravissimis viris> Gedächtnistäuschung« beruhen müsse. >>Verlegen wir daher j enen Spazier­ gang im Rosental [ . . . ] etwa ins Jahr 1 665 [ . . . ], so sind alle Schwierigkeiten beseitigt«.62 Die vorangehende Interpretation von »De principio individui« ermöglicht eine gerrauere Prüfung der Kabitzschen Argumente und zwingt zu dem Ergebnis, daß dessen Schwierigkeiten mit der Leibnizschen Ent­ wicklungschronologie gegenstandslos sind. Leibnizens Gedächtnis darf als zuverlässig gelten. Kabitz hat seine berühmte These von Leibniz' >> Gedächtnistäuschung« damit begründet, daß die Datierung der mechanistischen Phase auf 1 66 1 / 6 2 aus zwei Gründen »unvereinbar mit den Quellen« sei. Erstens nämlich könne man die Disputationsschrift nicht als bloßes >>akademisches Prunk­ stück« einstufen, das Leibniz gleichsam für andere geschrieben habe, >>ohne mit seiner eigenen Überzeugung dahinter zu stehen« P Vermutlich ist Kabitz mit seinem sonst sicheren Urteil hier fehlgeleitet worden, weil er eine gründliche Auslegung der Disputationsschrift unterlassen und den neuen Wein in ihren alten Schläuchen nicht bemerkt hat.64 Wenn Leibniz 59 Guhrauer: Leibnitz, I 28 f. 60 Zeller: Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz, 8 1 . 6 1 Kabitz: Philosophie des jungen Leibniz, 50. 62 Ebd., 49-5 1 . Auch später, Bildungsgeschichte des jungen Leibniz, 1 80 f., hat Kabitz die These von Leibniz' »Gedächtnistäuschung« beibehalten. 6 3 Philosophie des jungen Leibniz, 49; Bildungsgeschichte des jungen Leibniz, 1 80. 64 Bei seiner Abqualifizierung, die Disputationsschrift sei »schülerhaft unselbständig [ . . . ] in dem Begriffsapparat und der Methode« ( Bildungsgeschichte des jungen Leibniz, 1 78), scheint er vergessen zu haben, daß der Leibnizschen Disputation, wie j eder anderen damals, ein methodi­ scher und weitgehend auch terminologischer Rahmen vorgegeben war. Etwas trotzig wirkt da­ her sein Zusatzargument: »Die Prinzipien und die Methode der ·Disputatio de principio indi­ vidui< [ . . . ] sind, was wohl niemand bestreiten wird, aristotelisch-scholastischen Ursprungs«

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schon bei ihrer Abfassung einen Atomismus vertreten hätte, so wäre die Disputation damit weder als Kabinettstück imponiersüchtiger Gelehrsam­ keit noch als Standpunktheuchelei enttarnt. Die Interpretation zeigte, daß Leibniz in der Schrift selbst sein Interesse an der Verabschiedung von En­ titäten bekundet, die nicht ins Naturverständnis des heraufziehenden Phy­ sikalismus passen, und hierfür die Autoritäten mit Bedacht zitiert. Bei un­ terstelltem Atomismus hätte Leibniz sich keines >sacrificium intellectus< schuldig machen müssen, denn seine ganze metaphysische Position läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß sich individuelle Naturen wie So­ krates durch ihre »tota entitas« schon mit ihrer realen Selbstentfaltung ver­ einzeln, gemäß ihrer Idee in Gott.65 Etwas anders steht es in der Tat mit je­ ner >reservatio mentalis> Gedächtnistäuschung« bei einem Autor - erst recht bei einem frühreifen - nur in interpretatori­ schen Notfällen zu unterstellen.7° Ohne Gründe hat sich mit der Autorität des Kabitzschen Werkes auch seine verschlimmbessernde Erfindung der Gedächtnistäuschung hartnäckig in der Literatur erhalten.71 Jagodinsky scheint der einzige gewesen zu sein, der Kabitz' Umdatierung zurückge­ wiesen hat : »Hinsichtlich des Zeitpunktes, von dem an Leibniz Anhänger des Atomismus wurde«, werde in den Briefen an Remond und Burnett >>nichts gesagt«; genannt werde nur der kritische Zeitpunkt, an dem er eine prinzipielle >>EntscheidungMitte der Sechziger Jahre• verschiebt (II 22), um den >>Rosentalspaziergang• dann wieder auf die Zeit >>um 1 664« festzulegen (li 1 6 1 ; vgl. II 40, Anm. 1 3 ) . 72 Jagodinsky: Filosofija Lejbnica, 4, A n m . 4 (übersetzt aus d e m Russischen).

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Wenn man dagegen Leiboizens Selbstdatierung seiner Hinwendung zum atomistischen Mechanizismus akzeptiert, könnte einiges Licht auf die Frage fallen, was ihn dazu veranlaßt haben mag, nach dem Baccalaureat für das Sommersemester an der Universität Jena zu studieren.73 Zeller hatte hier folgende These aufgestellt. »Die mathematischen Wissenschaften« wurden von Leibniz >>alsbald mit der entschiedensten Neigung ergriffen; um darin weiter zu kommen, als ihm dieß in Leipzig möglich war, gieng er für ein Halbj ahr nach Jena zu Erhard Weigel, einem Gelehrten, der außer den ma­ thematischen Fächern auch die Philosophie und das Naturrecht im Sinne der neueren, antischolastischen Wissenschaft behandelte. « 74 Kabitz hat diese kategorische Behauptung zu Recht als >>bloße Vermutung« in die Schranken gewiesen und klargestellt, daß wir >>nichts Sicheres über den eigentlichen Beweggrund« für den Wechsel nach Jena wissen.75 Dennoch bleibt zu fragen, ob es in Ermangelung weiterer Dokumente eine bessere Hypothese gibt als die Zellersche, daß Leibniz zum Studium der mathema­ tischen Wissenschaften, vielleicht sogar wegen Weigel, nach Jena gegangen ist.76 Von Kuno Fischer bis heute gilt diese Hypothese als wahrscheinlich.77 Wie auch Kabitz bemerkt, stellte sich Weigel >>keineswegs entschieden auf die Seite der mechanischen Hypothese. Er möchte einen Kompromiß zwi­ schen den Hypothesen des Aristoteles, Descartes' und Gassendis herstellen. Die aristotelische Hypothese, aus dem Geiste ihres Urhebers, nicht aus dem der >pontifici< heraus verstanden, gilt ihm, wenn sie auch in Einzelheiten von der Wahrheit öfter abweicht, dennoch in ihren Grundbegriffen von 73 Die Disputation erfolgte am 30. Mai 1 663, die Immatrikulation in Jena am 20. Juni (Leibniz- Chronik, 6 f.) . 74 Zeller: Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz, 69 f . 75 Kabitz : Bildungsgeschichte des jungen Leibniz, 1 78 . 76 Leibniz beklagt schon um 1 678 seine späte Belehrung in d e n scientiae reales. An seinen Studienorten seien die »mathematica« damals leider nicht gepflegt worden: » Hätte ich meine Kindheit (gestrichen: wie Pascal) in Paris verbracht, so hätte ich gerade j ene Wissenschaften vielleicht frühzeitiger bereichert« (De numeris characteristicis ad linguam universalem consti­ tuendam, VE Nr. 1 52, IV 671 , 1 8-2 1 GP VII, 1 86). 77 Fischer: Leibniz, 40: Leibnizens »Bedürfnis nach Mathematik« fand »in Leipzig nur we­ nige Nahrung>die Unterscheidung von Form und Materie, j edoch nicht ohne eine gewisse Modifikation, bei«/8 Er­ hard Weigel, der mit einem Kollegen eine >>Societas Pythagorea« gegründet hatte, war ein origineller Vermittler der enzyklopädisch-pansophischen Tradition.79 Was konnte für Leibniz näherliegen, als ins benachbarte Jena zu gehen, wo ohnehin >>ein etwas modernerer Geist wehte«80 und zudem dieser berühmte Mathematizist versuchte, >>den Aristoteles mit der Philoso­ phie und Physik der neuen Zeit zu versöhnen« .81 Tatsächlich sollte Weigel zum größten Erwecker j enes esprit geometrique werden, der in Leibniz schlummerte.82 Das folgende Kapitel dürfte nicht nur die Zweifel entkräf­ ten, die Kabitz an Leibnizens Datierung seiner atomistischen Anfänge hegte, sondern auch zeigen, wie Leibniz bei seiner frühen mechanistischen Aneignung des Aristoteles durch Weigel inspiriert wurde.

7 8 Kabitz: Philosophie des jungen Leibniz, 50 f., Anm. 5 . 79 Eine treffende Kurzcharakteristik Weigels gibt schon Guhrauer: Leibnitz, I 22 f. : •Origi­ nell war Weigel nicht nur in mancherlei Entwürfen aus der Mechanik und Astronomie, die bis­ weilen in das Bizarre übergingen, sondern namentlich auch in der Anwendung der Zahlenlehre auf die Moral [ . . . ] . Anregend wirkte er gewiß mehrfach auf Leibnitz. Auch er bethätigte eine große Abweichung gegen die auf den Universitäten noch fortwuchernde Scholastik, und neckte ihre Anhänger, indem er, wie Leibnitz noch in einem seiner Briefe (von 1 693) erzählt, sie da­ durch in die Enge trieb, daß er bei Disputationen sie zwang, den Sinn ihrer leeren Terminologie und Bestimmungen in deutscher Sprache wiederzugeben, und sie dadurch leicht lächerlich machte.« - Exemplarisch für die extremen Bewertungsunterschiede, die Weigel im Laufe der Geschichte erfahren hat, ist etwa die zeitgenössische Lobrede vom »Archimedes redidivus die­ ses unseres Seculi«, aber auch das vernichtende Urteil Cantors in seiner »Geschichte der Mathe­ matik«: »Die Schriften von Descartes hat er niemals studiert, er würde sie auch nicht verstanden haben. [ . . . ] Und dieser Mann war Leibnizens Lehrer ? « (Zitiert nach Hestermeyer: Paedagogia

mathematica, 20) 80 Kabitz : Bildungsgeschichte des jungen Leibniz, 1 79. Er vergleicht pointiert den unter­ schiedlichen Lokalgeist beider Universitäten und führt die einzelnen Lehrer mit ihren Vorle­ sungsthemen auf ( 1 74-1 79). 8 1 Fischer: Leibniz, 40. Programmatisch ist schon der Titel von Weigels Hauptwerk Analysis

aristotelica ex Euclide restituta, genuinum sciendi modum et nativam restauratae philosophiae faciem per omnes disciplinas et facultates ichnographice depingens. Opus omnium facultatum cultoribus ad solidam eruditionem summe necessarium, maxime proficuum, Jena 1 65 8 . 82 M o l l : D e rjunge Leibniz I, hat d e n •Einfluß« Weigels auf d e n frühen Leibniz minutiös un­ tersucht. Er gibt einen informativen Überblick über die älrere Leibnizforschung, die Weigels Anregung für Leibniz bemerkt hat, stellt Leibniz' Äußerungen über Weigel zusammen (I 3369) und skizziert Weigels •philosophische Position« (I 71 -89). Eine materialreiche Studie zur • Idee einer universellen Mathematik als Grundlage der Menschenbildung in der Didaktik Er­ hard Weigels« gibt Hestermeyer : Paedagogia mathematica. Eine Bibliographie der Weigelfor­ schung bis 1 969 findet sich bei Schüling: Erhard Weigel (1625-1699), 98- 1 02.

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c) Die Entdeckung der individualperspektivisch repräsentierenden Monade und ihre Geometrisierung im >Leib-Seele-Pentagon< Wahrscheinlich noch im Sommersemester 1 663, als er bei Weigel studierte, zeichnete Leibniz in sein Handexemplar von Thomasius' »Philosophia practica« 83 eine geometrische Figur mit einer umfangreichen Erläuterung ein.84 Sie verrät eine ganz frische Auseinandersetzung mit dem neuen Jenen­ ser Lehrer, dessen Inspiration (zur Erläuterung s. u. 73) er für das Ver­ ständnis seines alten Leipziger Lehrers fruchtbar macht. Die Notiz zeigt, aus welchem Modell heraus Leibniz seine Auffassung vom »kleinen«, einem »Brenn-Spiegel« ähnlichen »Punct unser Seelen« entwickelt hat85, die er acht Jahre später so zusammenfaßt: »Mentem consistere in puncto seu centro, ac proinde esse indivisibilem, incorruptibilem immortalem; gleichwie in Centro alle strahlen concurriren, so lauffen auch in mente alle impressiones sensibilium per nervos zusammen, und also ist mens eine kleine in einem Punct begriffene Welt, so aus denen Ideis, wie centrum ex Angulis bestehet, denn angulus ist pars centri, ob gleich centrum indivi­ sibel, dadurch die ganze natura mentis geometrice ercläret werden kan. «86 Die frühe Aufzeichnung belegt, wie sicher der vielleicht gerade Siebzehn­ j ährige bei aller Beschlagenheit in scholastischer Metaphysik sich mechani­ stisch physiologischer Modelle bedient, um die »natura mentis« in ihrer funktionalen Beziehung zum Körper » geometrice« zu »erclären«. Obwohl das Schema, das Leibniz hier entwirft, in der Forschung unbeachtet blieb87, erweist es sich als eine Art Geheimschlüssel zu seiner späteren Metaphysik. Es bedeutet nichts Geringeres als die Entdeckung der über ihren Leib indi­ vidualperspektivisch weltgebundenen Monade, markiert also den Anfang 83 Jakob Thomasius : Philosophia practica continuis tabellis in usum privatum comprehensa, Leipzig 1 6 6 1 . Leibniz' Exemplar befindet sich in der Niedersächsischen Landesbibliothek, Hannover, unter Leibn. Marg. 32. Leibniz' zahlreiche Anmerkungen (abgedruckt in A VI 1 , 42-67) belegen, daß e r Thomasius' Tabellenwerk über einen längeren Zeitraum gründlich stu­

diert hat. 84 Der lateinische Text der Anmerkung ist zusammen mit der geometrischen Figur abge­ druckt in A VI 1, 53-60, Anm. 55. Nach der handschriftlichen Beurteilung durch die Heraus­ geber der Akademie-Ausgabe gehört diese Anmerkung zu denjenigen, die »im Laufe des Jahres 1 663 in Leipzig und Jena geschrieben« worden sein dürften (A VI 2, 542 f.). Die Datierung auf das Jenaer Sommersemester wird durch ein Zusatzindiz gestützt, das weiter unten in Anm. 1 2 5 genannt ist. 8 5 Grundriß eines Bedenkens von Aufrichtung einer Sozietät, 1 67 1 ( ?), A IV 1, 532, 22 f. 86 An Herzog Johann Friedrich, Oktober ( ?) 1 67 1 , A li 1 , 1 62, 3 5 - 1 63, 5 . 8 7 B e i Moll: D e r junge Leibniz, wird d i e »Privatnotiz « bloß erwähnt u n d als eine »umfang­ reiche Ergänzung zur Tugendlehre« eingestuft, die von Erhard Weigel »offenbar angeregt« wor­ den sei. Auch Moll vermutet, daß Leibniz die Adnote »schon in Jena oder kurz danach« verfaßt hat {I, 65); vgl. Kabitz: Philosophie des jungen Leibniz, 1 1 f. Anm. 2.

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des von Leibniz in die Philosophie eingeführten »Perspektivismus«.88 Schon hier wird das Anschauen und Vorstellen des geistigen Auges als eine Art körperinneres Perspektiv aufgefaßt, in dessen Gesichts-Punkt die Außenwelt standpunktrelativ repräsentiert wird. Wegen seiner Bedeutsam­ keit und Erhellungskraft für die schwierige Leib-Seele-Problematik ist die­ ses Initialschema der Monadologie ausführlicher zu interpretieren.89 Leib­ niz hat es später stets vor Augen behalten90, und auch in der vorliegenden Studie muß es immer wieder zur Verdeutlichung anderer Texte herangezo­ gen werden. Zur Erinnerungshilfe sei es das >Leib-Seele-Pentagon< genannt. Die Exegese des psychosomatischen Modells läßt bereits erkennen, wie Leibniz die cartesischen Evidenzmodi des Konfusen und Distinkten weitge­ hend physiologisch zu >>erclären« sucht, welcher Vorstellung sich die Un­ terscheidung zwischen Perzeption und Apperzeption verdankt, wesP.alb die Kombinatorik bei Leibniz so früh ihren großen Stellenwert erlangt und warum selbst seine Theologie stark am Symbolismus von Punkt, Win­ kel und Kreis orientiert ist. Das Schema zeigt auch abstrakt, wie sich die Bedingtheit (nicht Bestimmtheit) seelisch-geistiger Vollzüge durch den wirkkausalen Prozeß der Natur vereinbar machen läßt mit der Freiheit des Willens. Ja, es zeigt schon die leitende Intuition, mit der Leibniz später die Wahl- und Entscheidungsfreiheit einem automaton spirituale zuschreibt und als spontaneitas rationalis oder spontaneitas intelligentis bestimmt, die weder eine absolute Indifferenz des Willens noch ein Ausbrechen aus dem Determinationsgeschehen zuläßt. Die >Natur der Freiheit< ist rationale Selbst-Determination des intellectus ipse. Leibniz' ge­ zeichnete Hieroglyphe des Pentagons ist im Anhang (s. u. 593) abgelichtet. Zu ihrer Verdeutlichung habe ich das Schema im folgenden konkretisiert, ferner durch Stichworte und zusätzliche, eingeklammerte Buchstaben er­ gänzt (s. u. 59, Abb. 1 ). Die einfach gesetzten, lateinischen Termini finden sich in der Erklärung, die Leibniz seiner Zeichnung hinzugefügt hat; die kursiv gesetzten deutschen stammen von mir. Das Pentagon veranschaulicht den >>Processus Actionum moralium«, den Thomasius im Geist der aristote-

Gesichts-Punkt, Vorstellungshorizont und lntellectus ipse

-

88 Zur Begriffsgeschichte vgl. König: Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch, HWP VII 363-375. 8 9 Eine erste Deutung habe ich gegeben in Das Leib-Seele-Pentagon und die Kombinatorik

attraktiver Vorstellungen - Ein folgenreiches Konzept der Leibnizschen Frühphilosophie.

90 Vgl. die Stellen zur »Veranschaulichung des metaphysischen Mechanismus«, die unter­ sucht werden bei Axelos : Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz, 1 70-1 76. Ein exemplarischer Beleg aus den Nouveaux Essais ist unten in Anm. 96 genannt.

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actio externa m '

( p) Hände

vom

obj ectum extern um Abb. 1 : Das erläuterte Leib-Seele-Pentagon

lischen Ethik, aber nach Leibniz' Einschätzung bereits »more Mathematico« in einzelnen Etappen erklärt (A VI 1, 53, 10 u. 21 f.).91 Die geometrische Fi­ gur integriert alle 1 7 Schritte, mit denen Thomasius den Prozeß von der Af­ fektion der Sinne über die Selbstbestimmung des Willens bis hin zur Aus­ übung einer vorsätzlichen Handlung beschreibt. Auf diese Weise übersetzt Leibniz die ganze aristotelische Psychologie in zeitgenössische Physiologie. Die Psychologie von »De animaErkenntnisphysiologieverkantetAspekt< verwendet werden, der an eine Sache angelegt wird . 1 06 Die bloß sinnlichen Anschauungen (species 1 04 Kepler: Ad Vitellionem paralipomena: »Quomodo idolum seu pictura haec spiritibus vi­ soriis, qui resident in retina et in nervo, conjungatur, et utrum per spiritus in cerebri cavernas ad animae seu facultatis visoriae tribunal sistatur, an facultas visoria seu quaestor ab Anima datus, e cerebri praetorio foras in ipsum nervum visorium et retinam, seu ad inferiora subsellia descen­ dens, idolo huic procedat obviam, hoc inquam Physicis relinquo disputandum.« (Werke, li 1 5 1 f.). Als historische Untersuchung hierzu vgl. Lindberg : Auge und Licht im Mittelalter, insb. 3 1 2-359. »Perspektivist« ist Lindbergs Wiedergabe des Terminus »perspectivus«, der bei »Autoren im späten Mittelalter« j eden >>Angehörigen der mathematischen Optiktradition« bezeichnete, z. B . Euklid, Ptolemäus, Alkindi, Alhazen, Roger B acon, Witelo, John Pecham usw. (436, Anm. 1 ) . 10 5 Der Eindeutigkeit wegen ist im folgenden Leibnizens Schwanken zwischen den kleinen Buchstaben, die er in der Zeichnung verwendet, und den großen Buchstaben, die er (nicht im­ mer) im erläuternden Text gebraucht, durchgängig zugunsten der kleinen vermieden worden. 1 06 Beim späten Leibniz findet sich sowohl die realistische als auch die übertragene Bedeu­ tung: zunächst das ungenau eingrenzbare Zentrum im Kopf oder in der leiblichen » masse orga­ nisee, dans laquelle est le point de veue de l'ame« (Systeme nouveau, GP IV 484); dann auch die

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sensibiles), die an der Peripherie der lntellektualsphäre vor Augen stehen, durchleuchtet der Intellekt e am inneren Horizont seiner Vorstellungen (species intelligibiles) ZU abstrakten Gedanken oder noemata. Das durch k schematisierte Gebilde, das vor Augen schwebt, symbolisiert also eine Anschauung, sofern es passiv von außen einfällt, dagegen eine Vorstellung, sofern es von innen produktiv entworfen wird. Die Phantasie, gleichsam das Medium des Verstandes, bildet ihre Phantasmata in den Vorstellungs­ horizont oder inneren »Gesichtskreis« ein. 1 07 So visualisiert Leibnizens Schema den aristotelischen Gedanken, daß alles Denken auf Vorstellungsre­ siduen angewiesen bleibt und auch die Ideen mit Hilfe von Vorstellungsbil­ dern gedacht werden1 08, daß aber die Anschauungen der Stoff sind, aus dem die Vorstellungen gebildet werden. 1 09 Zugleich zeigt das Schema aber auch eine geheime, in der bisherigen Forschung unerkannte Verbindung mit je­ ner Ergänzungsformel, die schon der dreiundzwanzigj ährige Leibniz am sensualistischen Grundsatz vornimmt und in seinen Spätschriften erläutern wird : » Limitandum hoc modo: nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu. Nisi ipse intellectus « . 1 1 0 Das Pentagon zeigt, daß die berühmte Formulierung, in der »einst Jahrzehnte das Resurne seines >erkenntnistheo­ retischen< Nachdenkens sehen zu können geglaubt haben« 1 1 1 , auf den gleichsam naturalen Mechanismus a priori der lntellektualsphäre zielt. Das Hin- und Herreflektieren des intellectus ipse zwischen Punkt e und in­ nerer Peripherie bedarf zwar gegebener Sinnesempfindungen. Es formt je­ doch eine ganz eigene, final geordnete Welt, die sich aus dem sinnlichen >Material< nicht erklären oder gar verstehen läßt. Leibniz beschreibt den in»augen des verstandes«, die eine abstrakte »Ordnung« aus dem »rechten gesichts-punct« be­ trachten (GP VII 1 20). 1 0 7 Vom >>Horizont oder gesichtsCraiß« spricht Leibniz im Brief an einen Unbekannten, aus der Zeit zwischen 1 667 und 1 672 (A Il 1, 2 1 6, 1 8) . 1 08 V g l . Aristoteles : De anima, III 7. Die Seele denkt niemals o h n e Vorstellungen [phantas­ mata] (43 1 a 1 6 f.) . Das Denkvermögen denkt die Ideen mittels der phantasmata (43 1 b 2). 1 09 Vgl. ebd.: Die phantasmata sind wie aisthemata ohne hyle (432 a 9 f.). Für die denkende Seele sind die phantasmata wie aisthemata (43 1 a 14 f.). 110 Die Korrektur findet sich in einer kritischen Randbemerkung zu Johann J oachim Becher: Appendix practica über seinen Methodum didacticam, München 1 669. Leibniz hat sie vermutlich im Sommer 1 669 verfaßt (A VI 2, 393, 26). 1 1 1 So Hochsteuer im Vorwort zu A VI 2 . Leibniz' ganze Formel einschließlich des »nisi ipse intellectus« sei ein »gut gelernter Satz, den er wohl dem Unterricht seines Lehrers Jacob Tho­ masius verdankte, aber auch bei Sperling hätte lesen können : Ein Ergebnis des Tabula-rasa­ Streites der damaligen Aristoteliker« (A VI 2, XXIV). Das ist sehr wahrscheinlich, obwohl sich ein früherer Beleg des nisi-Satzes bisher nicht gefunden hat. Leichtfertig ist j edoch die Fol­ gerung von Schüßler: Leibniz ' Auffassung des menschlichen Verstandes, 8 1 , daß Leibniz' For­ mel »nicht von ihm selbst stammen kann>in ihm residiert gleichsam die Quelle und Einsichtskraft, aus der die Bäch­ lein, d. h. die Tätigkeiten und Einsichten herausströmen, die von den durch die Sinnesempfindung heranschwebenden Bildern hervorgerufen werden« (54, 26-28). 1 1 2 Der noch zu erläuternde intellektuale Schematismus besteht also im extroversen Rückproj izieren der a sensu introversen Bilder auf den Horizont der Einbildungskraft. Auch die Vorrangstellung, die dem Gesichtssinn im Hinblick auf das Er­ kennen eingeräumt wird, kann am Pentagon verdeutlicht werden. Der aus­ gezeichnete Modus, in dem das Sehen die Außenwelt repräsentiert, liegt darin, daß die winzigen molekularen Texturen, die als Anschauungen vor den perspektivischen Horizont schweben, für sich schon extensive, figür­ liche Größen sind. Weil sie sich selbst als entzweigeteilt oder distinct vor­ stellen, können sie vom Zentrum aus weiter aufgelöst und verdeutlicht werden. Töne, Geschmacks-, Geruchs- oder Tastqualitäten spannen keine solchen diskreten Quanta auf, sondern laufen ohne den obj ektivierenden Abstand zwischen Punkt und Peripherie im Erleben zusammen; sie sind confus im Sinne dieser Verschwommenheit1 1 3 und nicht eigentlich >>verwor­ ren«, weil sie gar keine vom Vorstellen feststellbare Ordnung besitzen, die nachträglich durcheinandergebracht werden könnte. Es ist kein Zufall, daß nur jene im Sehen konstruierbaren, in sich quantitativen Qualitäten dem mechanistischen Denken von jeher als >>primäre>tangens et inclusus« (54, 1 9 f.), und seine sphärische Figur >>volubilissimum mobilissimumqve« (53, 34 ). Aller­ dings hütet sich Leibniz, den ohnehin rein intelligiblen Punkt der Geist­ seele, der kein mögliches Obj ekt empirischer Hirnforschung werden kann, wie Descartes in einem bestimmten Gehirnorgan zu lokalisieren. Ein etwas späterer Brief erläutert die spezifisch reflexive Operation des >>eingeschlossenen« Verstandes und nennt zugleich das zweite Argument für die Punktualität der >>mens «, d. h. des Gemütes oder der anima rationa­ lis. Daß >>auch mens selbsten eigentlich in puncto tantum spatij bestehet, hingegen ein Corpus einen platz einnimbtweil das Gemüth sein muß in Loco concursus«, d. h. im Schnittpunkt der, 24 3 ./3 4. 1 699, GP II 1 7 1 f.) . Solche Stellen belegen, daß Leibnizens gelegentliche Illustra­ tion der Differenz von distinkt und konfus durch das akustische Beispiel des Meeresrauschens eine sekundäre Metaphorisierung der ursprünglich visuellen Begrifflichkeit darstellt.

1 1 6 Vgl. Descartes: Les passions de l'ame. Die Epiphyse ist der »principal siege de l'ame« (Art. 34, AT XI 354). »Et on peut aysement concevoir que ces images ou autres impressions se reünis­ sent en cette glande, par l 'entremise des esprits qui remplissent !es cavitez du cerveau« (Art. 32, ebd. 353). 1 1 7 Ebd., Art. 34, AT XI 354 f.; Art. 4 1 -44, ebd. 359-362. Vgl. die Abbildungen Nr. 23-39 im Traite de l'homme, AT XI, Appendix nach 734. Zum cartesischen Epiphysenmodell vgl. die aus­ gezeichnete Erläuterung durch ein Regelkreisschema von Harnmacher in seiner Einleitung zu Descartes: Die Leidenschaften der Seele, XXVII-IL. 1 1 8 In De incarnatione Dei seu De unione hypostatica von 1 669-70 sind die wichtigsten Stichworte versammelt: »In Corpore humano non putandum est animam omnibus qvae in eo sunt corpusculis hypostatice uniri, cum perpetuo transpirent, sed in ipso centro cerebri flori cui­ dam substantiae fixo et inseparabili, subtilissime mobili in spirituum animalium centro inhaeret et substantialiter unitur ita ut nec morte separetur« (A VI 1, 533, 7- 1 0).

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»aller bewegungen die von den objectis sensuum unß imprimirt werden. Dann wann ich schliesen will, daß ein mir vorgegeben Corpus gold sey, so nehme ich zusammen seinen glantz, klang undt gewicht, undt schliese darauß daß es gold sey«. Es »muß also das gemüth ahn einem orth sein, da alle diese Linien visus, auditus, tactus zusammen fallen, undt also in ei­ nem punct. Geben wir dem Gemüth einen grösern platz alß einen punct, so istß schon ein Cörper, undt hat partes extra partes, ist daher sich nicht selbst intime praesens undt kann also auch nicht auff alle seine stücke undt Actio­ nes reflectiren, darinn doch die Essentz gleichsamb deß Gemüthß bestehet. Gesetzt nun das gemüth bestehe in einem punct, so ist eß unzenheilig undt unzerstörlich« . 1 1 9 Die vergemeinschaftende Koordination heterogener Wahrnehmungen der fünf Sinne, die Aristoteles Kotvi] uicr8T] crtc; nannte, setzt ein gemeinsames Sensorium (Kotvov uicr8TJ tfJ ptov) voraus, das eine Identität von Identität und Differenz darstellt. 120 Diese Struktur aber hat der Punkt in seinen Winkeln. Die bloße Verbindung heterogener Wahrneh­ mungen zu einem Wahrnehmungskomplex ist aber noch kein Privileg des Geistes. Leibniz wird sie auch Tieren, die in der Ferne eine Gestalt beäugen, belauschen und wittern, nicht absprechen wollen. Die »Essenz« des Intel­ lekts besteht vielmehr in einem spontanen Reflektieren auf die vernetzten Sinnesqualitäten, welches das Empfindungskonglomerat als eine Repräsen­ tation von Eigenschaften eines Obj ektes interpretiert und begrifflich er­ schließt, um was für ein Objekt es sich handele, z. B. um Gold. Dieses ak­ tive Reflektieren des Verstandes, das im nächsten Abschnitt erläutert wird, ist ein ganz besonderer Fall j ener allgemeinen »Reflexion«, unter die Leib­ niz nochmals alle bisherigen Funktionen in einem >>Umriß« der physiologi­ schen Bewegung zusammenfaßt. Um »nach dem entworfenen und aufgestellten Schema die Bewegung selbst zu erklären«, greift er zur Analogie aus der >> Optik« und >>Statik des Sehens « und vergleicht die Durchströmung der leiblichen Organe von den spiritus mit der Durchstrahlung transparenter Stoffe vom Licht. >>Die Einfallsstrahlen des Objekts können als Radius aufgefaßt werden, die Sin­ nesorgane und das, was sie hindurchlassen, als durchsichtiges Glas . « (56, 1 6- 1 8)121 Das ist zunächst eine aptissima analogia (56, 22), weil sie die 1 1 9 An Herzog Johann Friedrich, 2 1 . Mai 1 6 7 1 , A II 1 , 1 08, 1 1 -2 1 . 1 20 De anima III I , 425 a 27; D e juventute 467 b 2 8 ff. Beides ist nicht zu verwechseln mit den »gemeinsamen wahrgenommenenSpiegel< des Geistes und der Phantasie122, die sich im zeitgenössisch anatomischen Begriff des saeptum lucidum niederschlägt1 23, aufnehmen kann. Ferner werden nach dem Vorbild von Hobbes die opti­ schen Termini der reflexio und refractio zu Grundbegriffen der ganzen Be­ wegungslehre, unter die sogar die Mechanik der organischen Antriebe (co­ natus) gebracht werden kann. 1 24 Bevor Leibniz das erläutert, gibt er aber seiner Hieroglyphe mit einem einzigen Wort eine neue Wendung. Er wolle nichts im einzelnen »Über die Grobheit des Durchsichtigen festsetzen«, denn es sei »offensichtlich, daß das Gröbste [crassissimum] das äußere Viel­ eck sein muß, wie die Schanztechniker [Fortificatorii] es nennen, daß der äußere Kreis vom zweiten Feinheitsgrad [gradus tenuitatis], das innere Viel­ eck vom dritten und der innere Kreis vom vierten Feinheitsgrad sein muß« (56, 1 8-2 1 ). Der Leib ist also nicht nur wegen der fünf Sinne als ein Penta­ gon schematisiert. Das Pentagon, das noch in der Architektur des U. S.-Ver­ teidigungsministeriums Vorbild einer optimalen Defensivanlage ist, erklärt vielmehr den ganzen kunstvollen Bau des Leibes zum Bollwerk, durch das ein Individuum geschützt wird. Leibniz' Skizze, die wahrscheinlich un­ mittelbar von Weigel angeregt ist1 2S, geometrisiert also den Topos von der Festung des Verstandes 126: Das innere Pentagon ist die Burgmauer, das äu122 Zur Vorgeschichte von Platon bis Francis Bacon vgl. Konersmann: Lebendige Spiegel.

Die Metapher des Subjekts, insb. 75-124.

1 2 3 Hier ist v. a. zu nennen Kenelm Digby: Demonstrativ immortalitatis animae rationalis, sive tractatus duo philosophici, in quarum priori natura et operationes corporum, in posteriori vero, naturae animae rationalis [. . .] explicantur, Editio secunda auctior, Paris 1 655. I m ersten Traktat, Kap. 35, § 1 -3, berichtet Digby von der Entdeckung des »S(a) eptum Lucidum«, das mitten im Zentrum der Hirnhöhlen aufgehängt ist. Diese durchsichtige Kammer gilt ihm als Knotenpunkt, in dem alle neuronal transmittierten »species« zusammenlaufen. Digby nennt den Fokus, in dem die »phantasiakleine Perzeptionen< von den um­ gebenden Körpern hat, die nur durch die Introversion der Aufmerksamkeit verdrängt werden. Das frühe Schema macht augenfällig, daß ein Lebewesen immer Sinneseindrücken der Umwelt ausgesetzt ist, auch wenn diese oft nur unmerklich schwach ins Apperzeptionszentrum weitergeleitet werden. Aus der zum Zentrum hin immer feiner werdenden Organstruktur ergibt sich, daß j ede Strahlung von außen nach innen fortgepflanzt wird, auch wenn die Refraktion der spiritus, d. h. psychophysisch die Affektion, stark ist. Was schließlich Sinne affiziert, affiziert auch das leibliche Selbstgefühl und dringt damit zum Verstand durch, womit die Möglichkeit einer Selbst­ affektion des Verstandes ohne gegebene Außenweltimpulse nicht ausge­ schlossen ist. 1 32 Was schließlich vom Wirkradius auf diejenige Linie >>ein­ fälltentweder praktisch oder bloß zum Erkennen gehörig>Das bedeutet, entweder zieht es Bt

»lmo videtur potius sie dieendum, repercuti in externo isto nunqvam prorsus et omnino, aut si plane repercutiatur id fieri sensu in alia intento et non advertente. >in E residet voluntas« (57, 32). Leibniz wird folglich einräumen, daß auch Wahrnehmungen, die nicht unter gegebenen Zwecken beurteilt werden, »ins Zentrum« e gelan­ gen. Sie affizieren dort j edoch nicht die voluntas imperans (60, 8), die iden­ tisch ist mit dem praktischen, zielgerichteten Verstand. 1 34 Nur im Sinne dieser fehlenden Affektion des Begehrens sagt Leibniz, daß solche Perzep­ tionen nicht >>in centrum« gelangen. Gleichwohl zeigt die Möglichkeit, daß etwas in den Blickpunkt geraten kann, ohne ins Zentrum des geistigen Au­ ges vorzudringen, einen Aspekt des Schemas, den Leibniz später geltend machen wird. Nicht bei allen Perzeptionen kommt es auch zu einer >>Ap­ perzeption«, d. h. zur bewußten Gewahrwerdung eines äußeren oder inne­ ren Obj ekts. 1 35 Nicht alles, was ins Blickfeld gelangt, wird auch durch eine >Heranziehung< (adperceptio) in den Blickpunkt konzentriert und gerät dort unter einen intellektuellen Gesichts-Punkt.

1 33 »Porro qvod incidit in intelleeturn vel est practicum vel solum cognoscitivum. S.(eu) vel trahit nos vel repellit; vel non afficit. Si non afficit, turn incurrit qvidem intellectus sphaeram, sed non in centrum pervenit, atqve ita neqve ut utile, neqve ut noxium neqve ut indifferens ab in­ tellectu concipitur. « 1 34 In einer anderen Adnote macht Leibniz z u Thomasius' Definition d e r voluntas a l s »actio spontanea, cujus principium [ . . . ] est in agente«, die Anmerkung: »non differt ab intellectu« (A VI 1, 45, 1 7 f. u. 34). 1 35 Daß Leibniz' Neologismus der Apperzeption zwei Grundbedeutungen hat, ist bekannt seit den Arbeiten von Lange: Über Apperzeption ( 1 8 9 1 ), 83-85; Salomon: Zu den Begriffen der Perzeption und Apperzeption von Leibniz bis Kant ( 1 902), 24-27; Lüdtke : Kritische Ge­ schichte der Apperzeptionsbegriffe ( 1 9 1 1 ), 46-48; Grau : Die Entwicklung des Bewußtseinsbe­ griffs ( 1 9 1 6), 1 79 f. Im weitesten Sinne meint »apperceptio« j ede Bewußtwerdung überhaupt, im engeren Sinne die introvertierte Aufmerksamkeit vernünftigen Reflektierens (s. u. 509).

Die Wurzeln des multiperspektivischen Universums

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Wird aber der intellectus practicus affiziert und zu einer Entscheidung durch Abwägung verschiedener Objektsvorstellungen (prohairesis) ge­ drängt, so bedarf es einer Orientierung an gedanklichen Koordinaten, nach denen der Nutzen und Schaden, aber auch die ethische Qualität der Handlungsziele eingeschätzt werden kann. Für diese praktische Orientie­ rung im perspektivischen Vorstellungshorizont macht Leibniz nun zusätz­ liche Parameter geltend.

Die Kombinatorik der Vorstellungen in der selbstreflexiven sphaera moralis und die bedingte Freiheit des Willens In die innere Sphäre des leiblichen -

Bollwerks integriert Leibniz nun Erhard Weigels skurril geistvolle Vor­ stellung von der »sphaera moralis« (s. u. 75, Abb. 2). 1 36 Veröffentlicht wurde Weigels Konstrukt nicht von ihm selbst, sondern von seinem be­ rühmten Schüler Samuel Pufendorf1 37, dem man schon 1 663 in Jena nach­ sagte, daß er sein Naturrecht >>aus der handschriftlichen Euklidischen Ethik unseres Weigel abgekupfert« habe. 138 Leibniz identifiziert die sphaera Weigeliana (55, 3 3 ) 1 39 mit der sphaera intellectus oder dem beweg­ lichen Vorstellungshorizont, dem >>volubilissimum mobilissimumqve« (53, 34) im festen Schanzwerk des Körpers. Um die verständige Reflexion und Kombinatorik der Vorstellungen an einem Beispiel zu erläutern, geht Leibl l6 Zu Weigels » geometrischer« Konzeption von Ethik und Rechtslehre und ihrer Entwick­ lung bei Pufendorf vgl. Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht, 76-99. Zur »sphaera mora­ lisinventa ingenieusement des figures, qui representoient des choses morales« . Andererseits schränkt er ein, die Allegore­ sen glichen den Tafeln des Kebes, die eher das Gedächtnis stützen, als der Urteilskraft demon­ strative Erkenntnis zu gewähren (A VI 6, 385, 1 7-26); ein ähnlicher Hinweis findet sich in spä­ teren Zusätzen zur Nova methodus (A VI 1, 276, 34-37). =

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niz von Weigels moralischer Allegorese aus, weicht aber in zwei Punkten von dessen Darstellung ab. Während Weigel ein heliozentrisches Modell zugrundelegt, vergleicht Leibniz die drehbare lntellektualsphäre mit der Erde, so daß die Bezeichnung des Affektbereichs zwischen innerer und äu­ ßerer Sphäre nachträglich einleuchtet: er ist die »atmosphaera« (s. o. 62), die den Verstand gleichsam umhüllt. Daß der Erdglobus in die Mitte des Schemas projiziert wird, heißt nicht etwa, daß der junge Leibniz auch ei­ ner geozentrischen Kosmologie verhaftet wäre. Vielmehr wählt er das Erd­ modell nur um einer Analogie willen, die unten zu erläutern ist. Zweitens gibt Leibniz seiner inneren Sphäre nicht die dreidimensionale Tiefenillu­ sion, die in Abb. 2 durch die elliptische Schrägzeichnung hervorgerufen wird. Dadurch kommt es beim Betrachter zu einer gewissen Irritation der Perspektive. Das Pentagon ist so gezeichnet, daß man von oben auf es hinabblickt. Die mit der Erdkugel verglichene lntellektualsphäre ist je­ doch so dargestellt, daß sie gleichsam von vorne betrachtet wird. So erge­ ben sich »Zwei Durchmesser oder, wenn es eine Kugel sein soll, zwei Kreise, von denen der eine a-b, der andere c-d sei « . Sie bezeichnen » zwei Achsen : eine, die der Äquatorachse der Weltkugel gleicht, und eine andere, die ihrer Eklipsenachse entspricht. Und der Antarktispol sei b, gleichsam nach unten gerichtet, der Arktispol aber a« (54, 2 1 -26). Die scheinbare Ungereimtheit, daß die Polarachse der Erde und der »sphaera Mundi« hier axis aequatoris heißt, erklärt sich also daraus, daß dasj enige, was in der Verstandessphäre den obersten Punkt bezeichnet, innerhalb des Pentagons den hintersten Punkt auf der Waagrechten a-b bildet. Dieser zeichentechnische Schönheitsfehler, der die gedankliche Vertikale mit der physischen Horizontale konfundiert, kann im folgenden übergangen werden. Leibniz identifiziert das selbstreflexive Zentrum, also den mathemati­ schen Punkt e der lntellektualsphäre, mit dem aristotelischen tätigen Ver­ stand (volle; 7tOtllttK6c;), den inneren Horizont der lntellektualsphäre dage­ gen, also des ganzen physischen Punktes, mit dem leidenden Verstand (volle; na911ttK6c;). Das vorstellungsgebundene Hin- und Herdenken oder Reflek­ tieren des nous (ouivow) besteht im Entwerfen der Phantasmen aus dem Zentrum an die Peripherie des Vorstellungshorizontes und ihrer erneuten Sammlung in den Mittelpunkt. Während beim bloßen Anschauen die Licht­ radien von außen in den Blickpunkt » konkurrieren«, entspricht der intel­ lektualen Durchleuchtung der Bilder die zweiphasige Einheit extro- und in­ traverser Minimalbewegungen. Die Diskursivität des Denkens verlangt das »Diskurrieren« der species intelligibiles (54, 1 8 f.) an den Horizont (e-k) und wiederum das konzentrierende Konkurrieren der vorgestellten Formen in

Die Wurzeln des multiperspektivischen Universums

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Himmels-Arktispot (Iex divina)

E Himmels-Antarktispot (prohibitum) Abb. 2 : Weigels »sphaera moralis« bei Pufendorf

den intellektualen Gesichts-Punkt (k-e) . 1 40 Die ganze Dynamik in der Lichtsphäre der Phantasie ist das erleuchtende Werk des tätigen Verstan­ des. 141 Leibniz faßt intellectus agens und intellectus patiens also nicht als zwei getrennte Wesenheiten auf, sondern als das spontane und das rezeptive Moment in der Selbstbewegung des Iumen naturale. Er bezieht die aristo­ telische Bestimmung »unvermischt« deshalb auf die ganze Sphäre, die nach dem Tod vom Körper abgetrennt wird. In dieser christlichen Lesart der Unsterblichkeit liegt also das dritte Argument, den Geist in einem phy­ sischen Punkt lokalisiert zu denken, in dem alle Spuren des Individuums bewahrt bleiben.142 Wie die weiteren Frühschriften erläutern, kann der tä­ tige Verstand als bloß mathematischer Mittelpunkt nur im Vehikel seiner 1 4 0 Die terminologische Unterscheidung zwischen atomi concurrentes und atomi discurren­ tes spielt auch für Gassendi eine wichtige Rolle beim Verhältnis der Seele zu ihren Korpuskeln. Hierbei faßt Gassendi den Spiritus als quidam veluti [los substantiae subtilissimus, seu quadam

mobilissimarum, ac propter meatus discurrentium libere Atomorum contextura (Syntagma phi­ losophicum, Opera li, 227 a; ähnlich 239 b). 1 4 1 Vgl. Aristoteles : De anima. Weil die Anschauung in besonderem Maße Wahrnehmung ist, erhielt die Vorstellungskraft (phantasia) ihren Namen vom Lichtschein (phaos) (III 3, 429 a 1 -3). Der tätige Verstand bildet alles als eine Fähigkeit (hexis) wie das Licht (phos) (III 5, 430 a 1 5) . 1 4 2 Nach d e r vorherrschenden Deutung v o n De anima III 5, 430 a 1 0-26, i s t n u r d e r tätige Verstand choristos und amiges, damit aber auch athanatos oder aidios.

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Lichtsphäre bis zur Auferstehung >Überleben>Es wird aber manchem wundersam und gleichsam unstimmig und absurd erschei­ nen, daß dasjenige, was in der Figur dargelegt ist, zugleich von der Anziehungs- und Absto­ ßungstätigkeit handelt. Darauf erwidere ich: es sind unterschiedene Tätigkeiten, und die eine ist gleichsam die angeborene des Gewissens, die andere die der Nützlichkeit, die selbstverständ­ lich nicht angeboren, sondern erworben ist. Und wenn man dies auf den Habitus überträgt, wenn man zuläßt, daß in der Tat die moralischen Winkelgrade nicht zum Obj ekt, sondern zur Geisteshaltung gehören, dann wird die Sache noch schöner erklärt. Denn das Gewissen ist beim Menschen umso mehr ausgelöscht, j e übler die Gesinnung ist. Folglich wird seine (des Gewissens) Tätigkeit aussetzen. « (55, 27 -32)

Die Wurzeln des multiperspektivischen Universums

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auch die Vorstellungen selbst (durch das mit ihnen verbundene Quantum an Lust- oder Unlustempfindungen) real wirkende Kräfte freisetzen. Nicht jede lustbesetzte Vorstellung aber, zu denen nach Leibniz auch die Kontem­ plation Gottes gehört1 54, fesselt als isolierte Größe den Willen. Vielmehr kommt es durch die Vielzahl der konkurrierenden und reflexiv abzuwägen­ den Vorstellungen zu einem Spiel der Kräfte, bei dem sich j eweils die stär­ keren Antriebsimpulse durchsetzen. In das Kraftfeld der Imagination, das nur im indivisiblen Brennpunkt des intellectus agens unterbrochen ist, spielen zum einen die natürlichen Triebkräfte der mit Sinnenlust besetzten Vorstellungen hinein. Zum anderen kommt es mit der Brechung der Vor­ stellungsradien im Mittelpunkt auch zur Unterbrechung des natürlichen Kausalnexus, weil die Spontaneität des Geistes die Vorstellungen auf ihre Vereinbarkeit mit intellektuellen Fixpunkten wie dem summum bonum hin überprüft. Der geistige >point de vue< ist daher als das Zentrum der Vor­ stellungskombinatorik die lebendige Vermittlung von Natur und Freiheit. Weil der geistige Brennpunkt selbst die Kraft hat, die anziehenden und ab­ stoßenden Vorstellungen im reflexiven Akt der Entscheidungsfindung in der Schwebe zu halten und nach den besten verfügbaren Kriterien abzuwä­ gen, sind in ihm die Trägheitskräfte der Materie aufgehoben. Seine Vorstel­ lungs-Kraft, Widerstandskraft gegenüber blinder Natur, muß sich aber auch körperlich manifestieren. Leibniz erläutert diese Realisierung einer ausge­ wählten Vorstellung, indem er die Bewegungslehre seines Schemas auf den Konflikt der Vorstellungen anwendet. Wenn der Strahlungsradius eines äußeren Gegenstandes durch die Senso­ rien hindurch ins intellektuale Zentrum gelangt und den Willen affiziert, >>so ist zu beachten, welchen Winkel er zur Eklipsenachse oder zum Durch­ messer c-d bildet«, d. h. als wie groß seine >Nähe< zum Nützlichen oder Schädlichen beurteilt wird (57, 26 f.). Die Nähe oder Ferne eines augenfäl­ ligen Obj ekts k zu den Maßstäben des Guten und Nützlichen kann also durch Winkelgrade dargestellt werden . 1 55 So zeigt das Pentagon, wie der Wille durch äußere Faktoren zwar nicht bestimmt, wohl aber bedingt oder endlich ist. Denn obwohl die Ermittlung der besten Vorstellung nur dem Verstand obliegt, liegt es nicht in seiner Macht, ob er überhaupt affi1 54 >>DEUM ipsum amamus super omnia, qvia voluptas est omni cogitabili voluptate major rei omnium pulcherimae contemplatione frui« (Elementa juris naturalis 4, A V I 1, 46 1 , 27 f.). 1 55 Dem alltagsprachlichen Wortfeld der Bewußtseinsnähe, wonach wir >naheliegende< und >abgelegene< Vorstellungen unterscheiden, ringt Leibniz folgende Definitionen ab, die sich auf den dargestellten Fall beziehen: »Distantia k minor qvam 45. gr. a C est non-indifferentia intellectualis. Distantia maj or ab A qvam b est turpitudo (ingens) moralis. Distantia tarn parva et soltim II graduum a C est ingens uti!itas respectu summi boni falsi, qvod ille homo habet. «

(59, 33-35)

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ziert wird. Der Wille ist nicht Herr darüber, welche Obj ekte ihm wann und wo in die Augen fallen und unter welchen Hinsichten des Handlungskon­ textes die Orientierungskoordinaten herangezogen werden. Auch die unbe­ zwingbare Freiheit des Willens, d. h. der »bestimmenden Vernunft (ratio determinans) «, die das »primum movens morale et dignissimum« bildet, steht also unter leiblichen und leibexternen Bedingungen (60, 12 f.). Rückt der Impuls des Obj ekts aber ohne störende Erregung des Affektbereichs in den Gesichts-Punkt, so kann der Verstand beginnen, frei zu reflektieren. Falls das Wahrnehmungsobj ekt k etwa als nützlich beurteilt wird, so hat der Verstand das Objekt in eine Beziehung zum höchsten Guten oder zu einem Teilziel gesetzt. Die gedankliche Reflexion wird auch im Schema als reflexio dargestellt, welche die Orientierungsradien miteinander ver­ knüpft oder kombiniert. Hierbei verhalten sich die Koordinaten wie >>Obersätze«, unter die die begrifflich schematisierten Anschauungen, d. h. die Vorstellungen, für praktische Syllogismen >>subsumiert« werden.156 Die Heterogeneität zwischen der einzelnen Anschauung und dem allgemei­ nen Begriff, die Aristoteles problematisiert und Kant im Schematismus zu vermitteln sucht, macht Leibniz nicht eigens zum Thema. 1 57 Das Schema der Vorstellungskombinatorik kann die unterschiedlichsten Reflexionsverhältnisse, d. h. die Konstellationen zwischen den Orientie­ rungsmaßstäben des Guten bzw. Nützlichen und den fraglichen Vor­ stellungen veranschaulichen : vom einfachsten Reflexionstypus der Nutzer­ wägung, wonach ein augenfälliges Objekt k als dienlich für leitende Zwecke erkannt oder unter mehreren nützlichen Objekten als das beste ausgewählt wird, über den Zielkonflikt, bei dem die herangezogenen Zwecke durch eine neu sich eröffnende Perspektive durchkreuzt werden, bis zum Gewissenskonflikt zwischen dem sittlich Gebotenen und dem Nützlichen oder gar bis zur Pflichtenkollision zwischen zwei Zwecken, die in gleicher Nähe, d. h. geometrisch in gleichem Winkel zum höchsten Gut stehen. Eine Reflexion auf das kleinere Übel erfolgt z. B., indem die durch Winkelgrade dargestellte Nähe oder Ferne der einzelnen Ziele zum j eweils Bestmöglichen eingeschätzt wird. Auch Weigel stellt mit seiner >>sphaera moralis« die aristotelische mesotes als Ergebnis einer >> Tugendrech1 5 6 »Nam illa praecepta et radii mentis sunt majoris propositionis instar, in qva se insinuat et subsumtionem praebet> Gedächtnistäuschung>tota entitas>individuum seipsum in­ dividuare>Pythagorici Ionge sapien­ tiores [ . . . ] Deum definierunt per sphaeram, cujus centrum est ubique, peri­ pheria autem nusquam>centrum actionum moralium«) . 1 73 Wie Leibniz wenig später erläutern wird (s. u. 293-296), stellt die dynamische Einheit des Radius mit dem Mittel­ punkt der sphaera intellectus nur die Partizipation an der sich mitteilenden göttlichen Idee überhaupt dar. 1 74 Die j eweilige Ausrichtung des Geistes auf einem bestimmten Radius dagegen markiert schon die charakteristisch >ge­ neigte< Selbsttätigkeit eines bestimmten Individuums, das nach seiner Art gleichsam mit der Gnade wirkt, die ihm durch den concursus oder influxus divinus zuteil wird. Im >Seelenfünklein< des indivisiblen Punktes ist das flie­ ßende Licht der Gottheit zu einem einzigartigen seelischen Reichtum kon­ zentriert, der mit keinem anderen Individuum geteilt wird. Leibniz geht je­ doch mit Weigel über den traditionellen Symbolismus des Lichtes hinaus. Denn im Pentagon verknüpft er die Tradition der Lichtmetaphysik mit der Lichtstrahlenmechanik der zeitgenössischen Optik zum Theologumenon von der multiperspektivischen Repräsentation Gottes im Spiegel der Geister. Fast alle Zeilen der meisterhaften Elegie, die der vorliegenden Arbeit als Motto voranstehen, sind in dem frühen Schema vorgebildet. Die kosmologi­ sche Vereinnahmung der Lichttheologie, die mit der »Hypothesis physica nova« schließlich zum System heranreift, klingt schon in Pufendorfs Referat der sphaera moralis an, wonach Gott >>ad analogiam systematis Copernicaei> kleine Göttlichkeit [deunculeitas ] >Der ( geschaffene) Geist und 1 73 Eiementa jurisprudentiae universalis, 5 1 6. 1 74 Schon im Februar 1 663 hatte sich Leibniz einen Sammelband gekauft, der auch Eilhard Lubinus : Phosphorus, de prima causa et natura mali, Rostock 1 6 0 1 , enthält (Vgl . A VI 2, 1 9, 1 7 f. u. 2 1 ). Lu bin kommentiert dort das biblische omnia facta sunt in numero et mensura: »Nu­ merorum ratio est divinae mentis radius in mentes hominum transfusus, estque quasi rationis humanae radix et basis• ( 1 49). 1 75 Eiementa jurisprudentiae universalis, 5 1 5 f.; dort mit einer manieriert allegorischen Zu­ ordnung des Dekalogs zu den einzelnen Planeten (5 1 6-5 1 9). 1 7 6 De conatu et motu, sensu et cogitatione, vermutlich von 1 6 7 1 , A VI 2, 285, 7 f.

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GOtt unterscheiden sich lediglich wie das Endliche und das Unendliche. « Leibniz hat folgende Analogien vor Augen: »Wie nach Zerstörung der Ge­ schöpfe GOtt übrig wäre, so bleibt nach Zerstörung des Körpers der Geist übrig. Und wie GOtt die Dinge denkt, die er mit keinem sinnlichen Vermö­ gen wahrnimmt, weil sie aus seiner eigenen Natur folgen, so < denkt sie) auch der Geist. Wie der Geist, der über die wirklich existierenden Dinge nachdenkt, Einsicht und Wille (d. h. einen Affekt) hat, so hat GOtt das Wort und die Liebe. « 1 77 Im letzten Punkt sind die Appropriationen der Tri­ nität genannt, mit denen Leibniz in seinen Adnoten zu Bisterfeld das Ex ipso, per ipsum et in ipsum sunt omnia (Röm. 1 1 , 36) auslegt: Der Vater ist als potentia das >>principium«, aus dem alles geschaffen ist, der Sohn als sa­ pientia das >>m � dium«, durch das alles ist, und der Geist als amor der »finis« , auf den hin alles hin entworfen i s t ( A V I 1 , 1 56, 8 u. 33; 1 58, 6 u. 32 f.). Auf die Struktur der Einsicht bezogen, die den erschaffenen Geist zur imago tri­ nitatis macht, ist der Vater, d. h. der »fons Deitatis et tarnen caeteris personis coaeternus« 1 78, das Erkenntnisschaffende und Erkennende (intellectivum, intelligens). Der Sohn, der durch die Selbsterkenntnis des Vaters gezeugt wird, ist als das ewige Wort das Erkennbare und Erkannte (intelligibile, in­ tellectum). Der Spiritus, der von Vater und Sohn gemeinsam ausgehaucht wird, ist die vollendete Erkenntnis (intellectio), die das Wollen in sich schließt. 1 79 Während aber die innergöttlichen, unräumlichen >>actiones ad intra>divisae« sind1 80, sind ihre »opera ad extra«, d. h. hier die geschöpfliehe Dreiheit im lebendigen Spiegel der sphaera intellectus, >>indivisae« . t s t In logischer Hinsicht sind die drei Momente der trinitarischen Perichorese ungeteilt, weil keines ohne die anderen aktual bestehen kann; denn selbst 1 77 »Mens et DEus non differunt nisi ut finitum et infinitum.« - »Quemadmodum destructis creaturis superesset DEus ita destructo corpore superest Mens. Et uti DEus cogitat ea quae nullo sensu percipit, quia ex sua natura sequuntur, ita et Mens. Ut Mens de actu existentibus co­ gitans habet intelleeturn et voluntatem seu Affectum, ita DEus verbum et amorem.« ( Trinitas. Mens, wahrscheinlich von 1 67 1 , A IV 2, 288, 5; 287, 1 9-288, 2) 1 7 8 Demonstrationum catholicarum conspectus, 1 668-69, A VI 1 , 496, 1 . 1 79 Leibniz trifft diese Zuordnung i m Demonstrationum catholicarum conspectus (A V I 1 , 495, 1 7 f.) und i n der Defensio trinitatis von 1 669 (ebd. 526, 1 3 u . 27 f.). Vgl. auch Systema theo­ logicum, 1 9 . I 80 In der Defensio trinitatis deutet Leibniz d i e Realdistinktion folgendermaßen: Gott ist nicht so »strictissime unum«, als daß es in i hm nicht drei »realiter seu ante Operationern mentis distincta« gäbe. Die »tria fundamenta realiter distincta« zerstören j edoch nicht die Einheit Got­ tes, da eine » multitudo et compositio« nicht »per se« ein Zeichen von Unvollkommenheit ist, sondern nur dann, wenn diese Dreiheit eine separabilitas und somit corruptibilitas nach sich zieht (A VI 1, 526, 26-34). 1 8 1 Demonstrationum catholicarum conspectus, A VI 1, 496, 3.

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das Erste (das einsehende Subj ekt) ist kein »intelligens « ohne das Zweite (das Eingesehene) und das Dritte (die intentional gerichtete Einsicht): »Denn es ist ein einziger Geist, der wohlgemerkt einmal in sich selbst reflektiert wird ; er ist das, was einsieht, was eingesehen wird und dasj enige, wodurch er ein­ sieht und eingesehen wird « . 1 82 In physischer Hinsicht scheint die Ungeteilt­ heit der drei Momente problematischer. Die Ideenbildung des endlichen Geistes schematisiert das Pentagon so, daß die vom Blickfeld ins geistige Auge einfallenden Anschauungen (species sensibiles) aus dem Gesichts­ Punkt heraus durch Vorstellungen (species intelligibiles) überlagert werden. Daß die Momente dieser punktuellen reflexio eine physisch unteilbare Ein­ heit bilden, wird sich vom epistemischen Status her als eine Mischung aus Postulat, Hypothese, Glaubensgewißheit und Analogieschluß erweisen (s. u. 1 1 6 f.). Für Leibniz hat die >>kleine in einem Punct begriffene Welt« des Geistes deshalb drei unteilbare Momente, weil die Sphäre als ganze in allen Weltbränden unzerstörbar ist. Einem winzigen >> Kern der substantz« implantiert, kann sie sich mit dem Tod >>in eine solche subtilität zusammen ziehenweder fewer noch wasser noch einige sichtbahre gewalt schaden>instrumentum et velut vehiculum Animae>Schattenriß>im Raum>images de l'Univers« sind . 1 B7

2. Divinarum ac humanarum rerum notitia: Grundfragen der Zentralwissenschaft vom Naturrecht ( 1 664) Zum Wintersemester, im Oktober 1 663, kehrte Leibniz aus Jena nach Leipzig zurück, um sein juristisches Fachstudium abzuschließen. Die Rechtswissen­ schaft fiel ihm nach eigenen Worten sehr leicht, weil er sein philosophisch-me­ thodologisches Problembewußtsein früh geschult hatte. 1 88 So war es nicht 1 8 5 Im Demonstrationum catholicarum conspectus heißt es von der Trinunitas: »Ejusdem adumbratio in Spatio: ex Puncto, Linea, Superficie; in Corpore: ex materia, figura et motu.« (A VI 1, 495, 20 f.). Die Defensio trinitatis stellt richtig: »Nec multiplicatur DEUS. Qvemadmo­ dum enim si differunt realiter in corpore : magnitudo, figura, et motus, non seqvitur ideo etiam necessario tria esse corpora, unum qvantum, alterum figuratum, tertium motum. Cum idem Ia­ pis: cubitalis, rotundus et gravis esse possit: ita si differant realiter in mente judicium, idea, et intellectio, non seqvitur tres esse mentes. « (Ebd. 527, 20-24) In Trinitas, Mens variiert Leibniz die Dreiheit von » CORPUS. MUNDUSalles in allem< wäre. Und alle schwe­ ren Teile um das Zentrum würden in einen Punkt zusammengedrängt. Wenn nämlich zwei Körper an demselben Ort sein könnten, was hieße dann noch >mehrere< oder >alle< ? « (79, 9- 1 3)2 1 1 Einen Leib haben heißt, dessen Identität bis z u einem gewissen Grad gegen andere konkurrierende Körper zu behaupten, wie das Bollwerk des Penta­ gons es symbolisiert. Hörte die Beanspruchung des leiblichen Eigenraumes auf, so wäre alle Pluralität und Diversität der Individuen ausgelöscht, weil al­ les in das Nichts eines einzigen Punktes kollabieren würde. Ist Körperlichkeit das begrenzte Ausräumen von anderem, so zeigt das Pentagon umgekehrt die Geistigkeit als das Einräumen von anderem in einem Medium symboli­ scher Repräsentation. Im Horizont des Vorstellens und in der vernünftigen Rücksichtnahme auf andere kann der Behauptungs- und Expansionstrieb der vitalen Natur >gespiegelt>ratio« zukomme oder ob immerhin >>justitia« ohne >>ratio« in sie falle, bevorzugt Leibniz die letzte Frage, da sie dem Obersatz gleichkommt. Rechtsgelehrte wie de Roy2 1 7 oder Ungebauer2 1 8 halten es zur Begründung eines Rechts­ verhältnisses für »hinreichend, daß Vernunft auf seiten dessen vorliegt, der das Recht regelt oder erläßt, während es nicht zugleich nötig ist, daß sie auch dem Geregelten selbst innewohnt [sufficere ad rationem Juris, ut ratio sit in regulante seu conditore juris, non itidem opus esse, ut sit in re­ gulato] « . Leibniz hält dies j edoch für unzulänglich, weil eine theologische Letztbegründung des universalen Rechtsraumes damit ausgeschlossen ist. Wenn das Naturrecht als höchster Grund der göttlichen Vernunft, als >>ratio quaedam summa in Deo existens « soll gedacht werden können, muß auch den Tieren wegen ihrer participatio an Gott eine Art Recht zugeschrieben werden.219 Das stoische Naturrechtsdenken leistet das, indem es Gott als >>per omnia diffusum instar formae internae>die Welt selbst GOTT zu nennen [ipsum Mundum DEUM appellare] von innen her zukommt, das durch das Recht geregelt wird [rationem regulato intrinsice inesse] >ubi animus non est, jus nullum est« . Deshalb sind auch die gleichsam sittlichen In­ stinkte der Menschen, z. B. >>die zärtlichen Gefühle [crtopyai] « der Eltern für ihre Kinder, >>nicht Recht, aber bis zum höchsten Grade mit dem Recht übereinstimmend [non jus, sed ad summum juri conformes] >Recht>Jus igitur in brutis non est nisi avaA.oyig. >mißbraucht>rationis vestigiaStoffwechsels< der Individuen, trotz des Verschwindens und Nachrückens von Soldaten und Bürgern, bleiben der völkerrechtlich entscheidende Name und bis zu einem gewis­ sen Grad selbst die äußere Form bestehen. Zum anderen erklärt die Deu­ tung des organischen Stoffwechsels nach Art einer ständigen internen Selbstreparatur der Argo, weshalb die drei vorhergehenden Abschnitte der Quaestio XIII von der Einheit des Lebendigen handeln.235 Der conti­ nuus rerum fluxus oder perpetuus sensibilium fluxus fordert nun eine natur­ philosophische Erklärung heraus, >>auf welche Weise das Lebendige eines bleibt [quomodo vivens unum maneret] « (90, 27-9 1 , 3). Bevor Leibniz 2 33 Vgl. Plutarch: Vitae parallelae, Theseus, Kap. 23. 2 34 So kann Leibniz auch Grotius zustimmen, der Senecas Diktum, » neminem nestrum eun­ dem esse in senectute qui fuit iuvenis« (Seneca: Epistulae 58, 22), allein »de materia« verstanden wissen will (De jure belli ac pacis, Il 9, 111 2). 2 35 Vgl. auch Hobbes : De Corpore XI 7. Er führt die navis Thesei zum Beweis dafür an, daß »propter perpetuum corporis humani fluxum Luz>auch noch im Palast des Verstorbenen regierenfons-vitae-Passus< dokumentiert erstmals ein Konzept der psy­ chosomatischen Einheit, das ein Hauptmotiv bei der Entwicklung der gan2 3 6 Er verweist auf j ene >>großen Zwistigkeiten« selbst unter den Peripatetikern über das Wachstum der Lebewesen (de accretione viventium), über die Zabarella im Liber de accretione ausführlich berichtet habe. Unterstellt man, daß Leibniz schon hier Mißtrauen gegen die substan­ tiellen Formen der Scholastik hegt, dient ihm der Hinweis auf Duns Scotus wohl dazu, eine große Autorität auf die eigene Seite zu ziehen. Scotus' Versuch, den Problemknoten »mit dem Schwert des Äquivalenzbegriffs zu durchhauen«, laufe nämlich darauf hinaus, daß sich beim Lebendigen sowohl die Form als auch die Materie verändert, »quod est contra Aristot. «. Schließlich lobt Leibniz die Averroisten, Zimara, Zabarella »und andere Italiener«, die den Geist des Aristoteles näher betrachtet und »eleganter« erklärt hätten, auf welche Weise das Lebendige eines bleibt. Von dieser eleganten Erklärung wird nicht einmal ein Schatten angedeutet. (90, 3 1 -9 1 , 3) 2 3 7 Eine informative Kurzdarstellung mit Literaturhinweisen gibt Kölling: Luz, HWP V 569-7 1 . 2 3 8 »Et negandum etiam est fieri unquam, u t homo omnes partes amittat, certe prohabile est, certis partibus animam quasi firmius implantatam esse, ut alibi vitae fons sit, alibi rivuli discur­ rant, eas vero semper permanere. judaeorum vero Rabbini lepide habitaculum animae struxe­ runt in certa parte corporis, quod nulla vi, nulla malleo dijici possit, atque illa in aula mortuo etiam homine regnare jusserunt. « In der Neuauflage des Specimen von 1 669 hat Leibniz die Be­ zeichnung » Luz« in Klammern hinzugefügt (9 1 , 34).

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Erster Teil · Der Weg zum Systemzyklus ( 1 663-1 669)

zen Monadenlehre bleiben wird. Was Leibniz hier öffentlich als fons vitae mit seinen rivuli referiert, hatte er in der Privatnotiz des Leib-Seele-Penta­ gons auf den Sphärenmittelpunkt e bezogen : »in eo residet qvasi fons et vir­ tus intellectiva, unde rivuli, nimirum actus et intellectiones [ . . . ] exiliunt« (s. o. 66). So verknüpft er das Theologumenon des >>Lebensquells«239, in dem actus primus und actus secundus koinzidieren, mit der Entelechie im Gehirn. Die Frage, ob dem Herzen oder dem Gehirn die Obergewalt über den Organismus zuzuerkennen sei, beantwortet Quaestio VII. Sie soll den Streit der Physiologen und Mediziner »de Principatu Partium Ani­ malis« weitgehend schlichten (8 1 , 30-33). Um alte Wortstreitereien zwischen der Sizilianischen Schule und Aristo­ teles einerseits und der Hippokratischen Tradition andererseits zu ent­ schärfen, weist Leibniz darauf hin, daß Galen an einigen Stellen sowohl »corfacultates animae« (in Abb. 3 A und B oben) haben damit ihre relative Autonomie an ein wirk­ kausal erklärbares Uhrwerk feinster Korpuskularbewegungen abgetreten; die drei Arten von Spiritus sind zu homogenen Fluida innerhalb des Leibes geworden. Verbindet man die Erklärungen des Pentagons mit dem >fons-vi­ tae-Passus< und der Quaestio VII, so erweist sich der >>Lebensquell «, d. h. das entelechiale Zentrum der Spontaneität, das beim Menschen durch die >> rivuli« oder Radien der Intellektualsphäre auf sich reflektieren kann, als identisch mit dem mathematischen Mittelpunkt e des Pentagons, der einem physischen Punkt im Gehirn fest >>eingepflanzt« ist. Da der >fons-vitae-Pas2 4 1 »Sane enim i n corde incipit natura, at in capite desinit, quippe perfectiori . Sanguis affec­ tuum quasi materia cordi adest, cerebrum intellectionis quasi subjectum capiti : cor maxime ad esse, caput ad bene esse est destinatum. [ . . . ] Si cor tanquam separatum quoddam animal est, ca­ put est tanquam separatus quidam homo: sicut enim in illo separatim et in se spectato sensus esse fertur; ita in hoc separatim considerato sine alterius concursu membri intellectio est. Et ut finiam, sit cor in munitissimo loco collocatum, caput est in summo; utque illi securitatem, quia maxime necessarium est; ita huic decorem, quia nobilissimum, natura praestitit. >drollige>habitaculum animae« vorschickt, müssen andere Texte des frühen Leibniz herangezogen werden, die sein hintergründiges Leitmodell verdeutlichen. Ohne dieses Konzept, das Leibniz Kern der Substanz nennt, bleibt die Argumentation der Quaestio XIII zur personalen Identität völlig unverständlich.244 Facultates Causae efficientes

S • n .s u s o z t frnu.s S,pnsu.s ln t Q t n u s A pp • fl tii J , Hotus

Partes

2. v i l al�s: · Ca/or (Kühlung, Nahrung )

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3. n atura/ps :

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Abb. 3:

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Ferneis Schema zur Physiologie

2 44 Schon Hochstetter betont in der Rezension von Hunfeld: Leibniz en zijn Monadenleer, 1 62, daß die Idee vom Kern der Substanz im Specimen von 1 664 >>deutlich angelegt« ist.

Die Wurzeln des multiperspektivischen Universums

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In der Meditation »De incarnatione Dei seu De unione hypostatica>drolligesLokalisierung der Seele< im Gehirn gilt dabei le­ diglich dem Selbststeuerungszentrum der Entelechie oder dem >Haupt­ wohnsitz< der anima rationalis, die beim Menschen die anima vegetativa und die anima sensitiva >>der Kraft nach einschließt«. Eine wirklich geteil-

245 »Porro Mens creata s. imperfecta non unitur omni corpori, sed ei tantum in qvo radicata est, et a qvo separari non potest. V. g. in Corpore humano non putandum est animam omnibus qvae in eo sunt corpusculis hypostatice uniri, cum perpetuo transpirent, sed in ipso centro ce­ rebri flori cuidam substantiae fixo et inseparabili, subtillisime mobili in spirituum animalium centro inhaeret et substantialiter unitur ita ut nec morte separetur. « 2 4 6 Gassendi beschreibt im Syntagma philosophicum d e n »spiritus« d e r »animalia« a l s >>flo­ rem substantiae subtilissimum; seu quandam mobillissimarum, ac propter meatus discurren­ tium libere Atomorum contexturam« (Opera li 227 a). Diesen höchst feinen Kern identifiziert er unmittelbar mit der Tierseele selbst, die im Gegensatz zur unkörperlichen, unsterblichen anima rationalis mit dem Tode zerstört werde : »Videri ergo potius esse Animam substantiam quandam tenuissimam, ac veluti florem materiae, cum speciali dispositione, habitudineve, et symmetria partium intra ipsam massam crassiorem corporis degentium« (II 250 b). Auch Gas­ sendi erblickt in dieser »substantia [ . . . ] immutabilis perseverans«, die er im » humid um infixum« lokalisiert, den Garanten der leiblich-seelischen Einheit. Es geht ihm also nicht nur um die »ae­ quivalentia« der Teile, die auch von denen vertreten wird, »qui Anima! compararint cum Argo navi« (li 584 b f.). »Et quoniam aliunde Animae contextura ex suis illis tenuissimis, mobilissi­ misque corpusculis constans ex aliis consimilibus eodem alimento contentis sie iacturam sui fac­ tam reparat, ac una cum corpore adolescit, vigescit, senescit, ut suffectio quoque, et aequivalen­ tia in ea locum habeat; heinc efficitur, ut quo initio propendet, semper deinceps propendeat« (II 582 b). Beim Menschen gehören zu dieser fest verwurzelten Substanz natürlich auch die »spe­ cies impressae«, die in der »phantasia« des »Cerebrum« dauerhaft eingeprägt sind (II 585 b f.).

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Erster Teil · Der Weg zum Systemzyklus ( 1 663-1 669)

te anima triplex lehnt Leibniz mit Aristoteles ab.247 Die anima im wei­ teren Sinne j edoch, d. h. die erlebende und sich artikulierende Ganzheit des Individuums, >sitzt< natürlich nirgendwo, sondern ist traditionsgemäß >per operationem< überall im Leib gegenwärtig.248 Wie Leibniz später sagen wird, >>drückt« die Seele sich unmittelbar im Körper >>aus« (s. u. 507-5 1 1 ). Das Verhältnis zwischen dem in >>rivuli« auseinanderlaufenden >>fons vi­ tae« und dem >>flos substantiae« wird deutlicher in Leibniz' deutschsprachi­ gem Brief an Herzog Johann Friedrich vom 2 1 . Mai 1 67 1 . Er ist ein Schlüs­ sel zum Verständnis der drei Quaestionen zur psychosomatischen Identität, weil er mit Freude am Detail zeigt, wie Leibniz den heraklitischen Fluß des Stoffwechsels mit der relativen Erscheinungskonstanz des Organismus zu verbinden sucht und wie das Argonautenschiff des Leibes durch j ene per­ fekte Identität >>in indivisibili« zusammengehalten werden soll. >>Ich bin fast der meinung, daß ein ieder Ieib, so wohl der Menschen alß Thiere, Kräutter undt mineralien einen Kern seiner substantz habe, der von dem Capite mortuo, so wie eß die Chymici nennen ex terra damnata et phlegmate bestehet, unterschieden . Dieser kern ist so subtil, daß er auch in der asche der verbrandten dinge ubrig bleibt, undt gleichsamb in ein unsichtbarliebes Centrum sich zusammen ziehen kann«. Leibniz geht davon aus, daß >>in dem foetu oder frucht der Thiere « jenes seit Aristoteles so genannte »punctum saliens249 den Kern des gantzen Cörperß bereits in sich begreifft« (A II 1 , 1 08, 3 1 - 1 09, 3). Wie eine aufmerksame Lektüre der folgenden Stellen zeigt, liegt im Begriff des flos substantiae, den Leibniz im Deutschen mit Kern der Substanz wiedergibt, eine gewisse Tücke. Er bezieht sich der Sache nach auf die feinstoffliehen spiritus der zeitgenössi­ schen Physiologie. Wie das Pentagon jedoch zeigte, muß man unterschei­ den zwischen dem zentralen >> Kern« oder >>flos«, d. h. dem flüssigen Spiri­ tus eines Individuums, der um die innerste Sphäre konzentriert ist, und dem peripheren >> Kern« oder >>flos«, d. h. den spiritus, die aus dem Zentrum >era­ diiert< werden und durch den ganzen Körper zirkulieren. Die Zweideutig­ keit wird auch durch Notizen aus der Pariser Zeit belegt, nach denen der flos substantiae >>per totum corpus diffusum« ist oder als aetheria substan­ tia, toto corpore diffusa, beschrieben wird, >>per quam sentiat anima; quae

2 47 Schon 1 663 heißt es im VI. Korollarium zu De principio individui: •Hominis soltim una est anima, qvae vegetativam et sensitivam virtualiter includat.anima tota in corpore toto< vgl. Thomas von Aquin: Summa theologica, I 76, 8. 2 49 Zum beseelten •springenden Punkt [crny11it ail!a-rivTJ ] « vgl. Aristoteles : Historia anima­ lium, VI 3 .

Die Wurzeln des multiperspektivischen Universums

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nervos inflet, quae contrahat, quae displodat«250 (zur Erläuterung s. u. 457). Die bildliehe Unstimmigkeit, daß gerade ein » Kern>BlüteWesenskern< des Individuums ausmacht. >>Nun glaub ich ferner, daß dieser Kern der substantz in einem Menschen weder ab noch zu nehme, obgleich sein Kleidt undt Decke in stetem fluß begriffen undt bald weg raucht, bald wiederumb aus der lufft oder speise sich vermehrt. [ . . . ] Wirdt nun einem Menschen ein gliedt abgeschnitten, so ziehet sich dieser Kern der substantz zurück zu seiner brunnquell undt behält auff gewisse maase die bewegung, alß wann das gliedt noch da wäre. Wie dann Leute denen ein arm abgehawen, sagen, daß ihnen offt düncke sie hätten ihren arm noch undt fühleten alle finger, welches von den zurück bliebenen spiritibus, oder Kern der substantz herrühren muß. > Kann nun das geschehen wann ein Gliedt abge­ schnitten wirdt, so kann eß auch geschehen wann sie alle geläset undt zer­ störet werden, dann sich nichtß desto minder der Kern des gantzen Cörperß in eine solche subtilität zusammen ziehen wirdt, daß ihm weder fewer noch wasser noch einige sichtbahre gewalt schaden könne. > Luz« der Juden sei die konzentrierte Substanzblüte mitsamt der eingewur­ zelten Entelechie >>unbezwingbar« durch äußere Gewalt. (A II 1 , 1 1 6, 1 727; 1 1 7, 1 f.)253 Nimmt man die Appendix mit dem Brief zusammen, ergeben sich fünf Resultate. 1 . Das Konzept des unverbrennbaren flos substantiae beruht auf alchemi­ stischen Vorstellungen.254 Daß sich diese seminale >>tinctura« in ein >>un2 53 »Sciendum est enim in omni re esse centrum qvoddam seminale diffusivum sui, et velut tincturam continens motumqve rei specificum servans. Constat hoc ex plantarum regeneratione ( ea saltem qvae controversia caret) ex seminibus, ex vi plastica seminis in utero, ex essentiis Chy­ micorum. Similiter ergo in ossibus, in carne nostra praeter terram illam damnatam, phlegma, ca­ put mortuum, ut Chymici vocant, pars subtilior in spiritibus concentrata latet. Qvae resecto membro, aut putrefacto ad fontem vitae, cui ipsa anima implantata est, redit. Constat hoc, vel eo experimento qvod ii qvibus manus pesve abscissus est, saepe eos sentire, sibi qvasi superstites, vellicari in illis, titillari, dolere videntur: nulla alia ratione, qvam qvod Spiritus ille subtilis qvo membri velut substantia continebatur, superstes eosdem nunc qvoqve motus exercet. [ . . . ] Etiam Iudaei fabulantur, in ossiculo qvodam, ipsi Luz vocant, animam cum flore substantiae ad omnes casus invictam superesse.« 2 54 Eine erste Erläuterung gibt hier das berühmte Lehrbuch des Andreas Libavius : Alchemia, Frankfurt 1 597 (2. Aufl.: Alchymia, ebd. 1 606). Leibniz referiert 1 671 Libavius' Ansicht zur Bluttransfusion (A IV 1, 546, 1 1 f.) und beruft sich 1 676 gerade im Kontext des flos substantiae auf ihn (A VI 3, 479, 1 4 f.). Libavius, der die Quacksalbereien der paracelsischen Alchemie heftig angreift und als ein Gründervater der wissenschaftlichen Chemie gelten darf, beschreibt die >>ex­ tractio«, d. h. die Abtrennung der feinen »Essenz« vom grob materiellen »Corpus«, folgender­ maßen. Bei der »putrefactio« etwa werden die himmlischen oder ätherischen »essentiae« vom zusammengesetzten, krassen Elementarischen nur so weit getrennt, daß »durch die geöffneten Kapseln die Essenz hinaustreten kann, in der die substantielle Mischung [crasis substantialis] verwurzelt ist«. Hieraus ergibt sich, daß in den gemischten Dingen, die von der elementarischen Einfachheit weiter entfernt sind, »außer den Elementen noch etwas im Inneren enthalten ist, das man auch für unverbrennbar [!] hält [aliquid interius esse praeter elementa, quod etiam incom­ bustibile putant] « (1, Kap. XXIII). Während j ene zurückbleibende »crassietes elementaris« auch »Corpus«, »caput mortuum«, »fex« oder »recrementum« genannt wird, gilt die extrahierte Es­ senz oder Quintessenz als »quasi medulla et pars nobilissima substantiae totius in elementis pro­ ducta, et quasi seminata, in quorum quoque sinu conservata est, et ad nobilitatis suae perfectio­ nem innutrita« (II, Tr. II, Kap. I ; ähnlich I, Kap. XXIII u. Kap. XXXVIII). Die »Blüte« ist die extrahierte » geistartige Substanz des Stoffes [flos spirituosa rei substantia est] «, die entweder von der Natur selbst oder durch chemische Sublimiertechniken hervorge­ trieben wird. Daß sie »flüchtig und geistartig [volatilis et spirituosus] « ist, zeigt sich an der Art ihres Hervortretens. »Denn sie dunstet aus dem Zentrum heraus an die Oberfläche oder sie taucht auf [exhalat enim ad superficiem e centro, vel emergit] « . »Daher ist sie aber auch von ganz feiner und durchdringender Substanz und geht bei den Körpern selbst durch deren winzigste Bahnen [inde vero etiam subtilioris penetrantiorisque est substantiae, pervadit cor­ pora etiam exilibus meatibus] « . Die substantielle Blüte besteht »vornehmlich aus j enen Dingen, deren essentielle Kraft mehr im flüchtigen und feinen Teil besteht [potissimum ex illis rebus, quarum essentialis virtus in volatili parte subtilique magis consistit] Prädizierens« überhöht.258 Der Inbegriff für dieses dreifache prae wird schließlich prästabilierte Harmonie heißen. 3. Der subtile Kern der Substanz nimmt auch die Grundbedingung der prästabilierten Harmonie zwischen Leib und Seele vorweg, nämlich den Bruch mit einem bestimmten Verständnis der >anima separata>Substanz« zum wichtigsten und fruchtbarsten Begriff seines Systems erklärt260, liegt nicht zuletzt an der gut versteckten Neube­ setzung >des< traditionellen Substanzbegriffs mit den Konnotationen des flos substantiae. Man kann nicht deutlich genug darauf hinweisen, daß die einfache Substanz oder Monade später zwar als principium incorpo­ reum bestimmt wird, zugleich aber aufgrund der alchemistischen Differen­ zierung zwischen corpus und spirituslflos nichtsdestoweniger als vollstän­ dige Einheit des Spontaneitätsquells (vis activa) mit seiner flüssigen Matrix (vis passiva) gedacht wird. Weil Leibniz' spekulatives Interesse v. a. an der unbezwingbaren Freiheit der selbstreflexiven Sphäre und ihrer Auferste­ hung hängt, scheint es ihm im Zeitalter der >>verbesserten«, d. h. kausal-me­ chanisch erklärenden >>Philosophie« nun >>nötig, daß in j edem Körper ein innerstes, unkörperliches, substantielles Prinzip eingeräumt wird, das vom Stoff abgetrennt ist«. Er glaubt, >>daß dieses Prinzip genau dasj enige ist, was die Alten und die Scholastiker >Substanz< nannten, auch wenn sie sich nicht deutlich erklären und noch viel weniger ihre Ansicht beweisen 2 5 8 Nicht nur die fünf Prädikabilien werden dadurch >rühmenswürdigBekanntmachung< der gloria Dei. Zur Begriffsgeschichte vgl. Baumgartner/Kolmer: Prädikabilien, Prädikabilienlehre, HWP VII 1 1 78 - 1 1 86; Weidemann : Prädikation, ebd. 1 1 94-1 208. 2 59 Allein in den Nouveaux Essais finden sich folgende Stellen: »Je crois avec Ia ph1part des anciens que tous !es genies, toutes !es ames, toutes !es substances simples creees sont touj ours jointes a un corps, et qu'il n'y a j amais des ames qui en soient entierement separees«; »les ames humaines et toutes !es autres ne sont j amais sans quelque corps«; "[ 'ame n'est jamais sepa­ ree de tout corps«; »tous !es esprits finis sont tousj ours joints a quelque corps organique>dem der Geist eingepflanzt ist [punctum illud cui mens implantata est] « (A II 1 , 1 1 6, 2; ähnlich A VI 1 , 535, 1 8), ist nichts anderes als das postulierte Minimum leiblicher Unver­ sehrbarkeit, an welchem die Vereinbarkeit von traditioneller Geistmetaphy­ sik und neuzeitlichem Mechanizismus hängt. Auch die Erinnerungsfähig­ keit ist nach diesem Tribut an die Korpuskularphilosophie nicht möglich ohne eine Speicherung materieller Spuren. Zwar stiftet vorwiegend das in­ dividuelle Bewußtsein die personale Einheit im Fluß des Stoffwechsels : >>mens et memoria rerum gestarumqve nos eosdem facit, non caro non ossa; [ . . . ] cum corpora continuo fluxu et reparatione insensibiliter varien­ tur« (A II 1, 1 1 6, 1 -5). Aber die Einheit des Bewußtseins überhaupt ist nicht möglich ohne den konzentrierten Kern, der selbst nicht zum verwes­ lichen »Fleisch und Gebein« gehört. Wie die materielle Bedingtheit des Geistes im einzelnen durch physiologische Hypothesen ausgelegt wird, ist hier ganz unerheblich. Die widerspruchsfreie Denkbarkeit von Freiheit und personaler Unsterblichkeit verlangt nur eine unzerstörbar individuelle Feinmaterie, so daß etwa >>der numerisch identische Leib, der gesündigt hat oder nicht«, dereinst >>auch die Freude oder den Schmerz empfinden wird«. Der spirituelle Sphärenleib, der sich als vehiculum animae vom irdischen Körper abtrennen kann, muß selbst erhalten bleiben. Nur in dieser rabbini­ schen Fassung, die durch neue naturphilosophische Argumente geläutert werden kann, läßt sich von einer »abgetrennten Seele« sprechen.262 26 1 »Ich will weisen vi principiorum Philosophiae Emendatae, necesse esse ut detur in omni corpore principium intimum incorporeum, substantiale a mole distinctum, et hoc illud esse qvod veteres, qvod Scholastici substantiam dixerint, etsi neqviverint se distincte explicare, multo minus sententiam suam demonstrare« (an Herzog Johann Friedrich, Oktober 1 6 7 1 , A II 1, 1 63, 29-32). 262 Programmatisch notiert Leibniz im Demonstrationum catholicarum conspectus: » ldem

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5. So zeigen Brief und Anhang schließlich, wie sich die in Quaestio XIII des »Specimen« genannten »gradus Identitatis« verstehen und aufeinander beziehen lassen. Sie bilden eine Bedingungshierarchie, bei der die stärkere Stufe j eweils tragender Grund der schwächeren bleibt. Der stärkste Identi­ tätsgrad, der bei körperlichen Ganzheiten möglich ist, d. h. die identitas omnimoda, >>quae consistit quasi in indivisibili [ . . . ] et omni mutationi re­ pugnat« (9 1 , 1 7 f.), kommt der sphärischen Matrix mitsamt dem einge­ pflanzten Lebensquell zu, in die sich der flos substantiae kontrahiert. Daß die intelligible Sphäre des Punktes mit seinen Winkeln als ganze >>in­ divisibel« ist, wird Leibniz erst 1 67 1 im Rückgriff auf Cavalieris Geometrie der Indivisiblen darzulegen suchen (s. u. 476 f.). Hier genügt der bloße Hinweis, daß die indivisible Sphäre die Identität des Individuums >erklären< soll : >> Omne indivisibile individuum >partes essentiales« erhalten bleiben ( ebd. 1 9-2 1 ). Wie der Passus über die Phantomschmerzen zeigt, erhält der konzentrierte flos substantiae die lebensnotwendigen Organe und ihre Funktionen aufrecht, indem er die spiritus aussendet, die durch die Glieder des Leibes zirkulieren. Die partes principales wie Lunge oder Leber, die sich von den partes accessoriae wie z. B. den Haaren unterscheiden las­ sen (93, 1 8-23), »permanieren«, auch wenn ihre Materie im Fluß des Stoff­ wechsels nach und nach ausgetauscht werden mag. Mit Hilfe des Spiritus­ kreislaufs zwischen Zentrum und Peripherie greift die substantiierende, unveränderliche Identität der inneren Sphäre auf die substantiierte, funktio­ nale Identität der Organe über und ist als verganzheitlichendes Ganzes in den Teilen des Organismus gegenwärtig. Das hält Leibniz für eine mögliche Erklärung der scholastischen Formel: >>Substantiam cuiusque rei esse Ens indiuisibile, consistens in indivisibili et quod sit totum in toto et totum in qualibet parte« (502, 1 4 - 1 6). Und so läßt sich auch die >>intrikate« Frage be­ antworten, »was es heißen kann«, daß ein lebendiges Ganzes »durch einen Spiritus zusammengehalten wird [quid sit uno spiritu contineri] « (93, 2; vgl. 92, 3 1 ). Die funktionale Wesenseinheit der Organe ermöglicht dann schließ­ lich den dritten und schwächsten Einheitsgrad, die identitas formalis oder relative morphologische Einheit. Diese Konstanz des Phänotyps (species numero corpus qvod peccavit vel non, gaudium vel dolorem sentiet. [ . . . ] Anima separata ante redditum corpus visionem beatificam habere potest. Concil. Lateran. « (A VI 1, 499, 1 6- 1 8, kor­ rigiert nach A VI 2, 530) »Explicatio status medii animae separatae nova ratione, concordat prin­ cipiis Judaeorum.« (Ebd. 3 f., korrigiert nach A VI 2, 530)

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seu forma) war in den oben bei Alphenus genannten Fällen gemeint (9 1 , 2 1 -23). Damit wird zumindest abstrakt plausibel, inwiefern die von Leibniz bloß aufgelisteten drei »gradus IdentitatisSciendum est enim in omni re esse centrum qvoddam seminale [ . . . ]« und » Constat hoc ex plantarum regeneratione [ . . . ), ex essentiis Chy­ micorum• (A II 1, 1 1 6, 1 8-2 1 ). 265 So das »Similiter ergo• in der Appendix (ebd. 1 1 6, 2 1 ) und der Passus im Brief: » Kann nun das geschehen wann ein [!] Gliedt abgeschnitten wirdt, so kann eß auch geschehen wann sie alle [!] gelöset undt zerstöret werden• (ebd. 1 09, 12 f.). 266 So im Brief: »ich bin fast [!) der meinung, daß ein ieder Ieib [ . . . ] einen Kern seiner sub­ stantz habe• (ebd. 1 08, 3 1 f.). In der Pariser Notiz De sede animae von 1 6 76 heißt es: »Nimirum arbitror [!) florem substantiae esse corpus nostrum. Hunc florem substantiae in omnibus muta­ tionibus subsistere perennem. Adumbratum per Luz Rabbinorum.• (A VI 3, 478, 1 8-20)

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und einem religiösen Glauben.267 Vielleicht wegen dieses mehrfachen epi­ stemischen Status wird Leibniz' früher >Kerngedanke< vom Kern der Sub­ stanz selbst eine erstaunliche >Substantialität< bewahren, die von der frü­ hen Ätherhypothese bis zum Spätwerk nur etwas modifiziert wird. Die verwickelte Herkunft dieses Konzeptes kann hier nicht verfolgt wer­ den.268 Es steht im Traditionsnetz zwischen Auferstehungstheologie, para­ celsisch ausgerichteter Alchemie, mikroskopisch beobachtender Biologie und » Iatrochemie«269 sowie den Anfängen der wissenschaftlichen Che­ mie.270 Man mag dieses Konzept für kühn phantastisch halten, aber auf dieser phantastisch geometrisierbaren Axiomatik beruht die Monaden­ lehre. Die Vorstellung vom Kern der Substanz, der in der »sphaera intellectus « konzen­ triert ist und das physiologische Korrelat des geistigen Gesichts-Punktes bildet, hat schließlich auch eine Konsequenz, die über das juristische Pro­ blem von Quaestio XIV hinausgeht. Bei der rechtswissenschaftliehen Streit­ frage, »ob ein Schlafender gegenwärtig ist [an dormiens sit praesens] ganz und gar abwesen­ den« Geist. Wie die Erklärungen zum psychosomatischen Pentagon und zum Kern der Substanz nahelegen, will Leibniz sich weder abstrakt auf die Seite des Platonismus schlagen, dem zufolge wir >>eigentlich Seele sind [nos proprie animum esse] «274, noch mit Alphenus die komplementäre Halbwahrheit der Epikureer vertreten, der gemäß wir >>aus kleinsten Teil­ chen bestehen [ex particulis minimis consistere] « . Doch selbst wenn man mit Vallesius argumentiere, daß >>der Mensch Seele ist, seine Lebensgeister aber strenggenommen nur vermittelst ihrer Wirksamkeit an einem Ort ge­ genwärtig sind, so daß >>ein Geist ohne intellektuelle Tätigkeit auch nicht gegenwärtig« ist, so könne man daraus doch nicht folgern, daß auch >>der Schlafende nicht gegenwärtig ist« .275 Der leiblich-seelischen Ganzheit >>an­ gemessener« wäre es vielmehr, wenn man argumentierte, daß das körper­ liche, >>materiale Moment der Gegenwart zum Wesen gehört, d. h. zum kör­ perlich zufälligen Dasein, das formale Moment dagegen zur Einsicht in das, was verhandelt wird>inchoative>als körperlich, nicht j edoch als moralisch und rechtsfähig an­ wesend zu beurteilen>reflektiertGeistesabwesenheit>non esse speciem quandam B ruti, hoc est Animalis prorsus distincti ab Homine; sed esse Hominem inchoatum« (Syntagma philoso­ phicum, Opera II 258 b). 2 79 Zu Leibniz'späterer Einteilung der Kräfte vgl. die Tabelle bei Stamme! : Der Kraftbegriff in Leibniz ' Physik, 1 93 .

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und Linie bestimmt.280 Auch dieser ganze Gedankenkreis ist also in den frü­ hesten Schriften >inchoativ gegenwärtig>Ansätze zu einer juristischen Aussagenlogik«, die hier nicht erörtert zu werden brauchen.283 Für die philosophische Entwicklung bedeutsamer ist die »Disputatio arith­ metica de complexionibus«, mit der sich Leibniz am 1 7. März 1 666 um eine Dozentur an der Philosophischen Fakultät bewarb. Aus diesem Nukleus, >>möglicherweise schon im Herbst 1 665 oder gar noch früher« verfaßt, er­ wuchs bald >>die umfangreichste seiner Jugendarbeiten«, die weitgehend more geometrico aufgebaut ist284 und den Rahmen einer Disputations­ schrift sprengte : die »Dissertatio de arte combinatoriaBis ins hohe 280 Specimen dynamicum, Unveröffentlichte Fassung (SD 66). 28 1 Disputatio juridica (prior) de conditionibus, Leipzig 1 665 (A VI 1, 97- 1 24); Disputatio juridica posterior de conditionibus, Leipzig 1 665 (ebd., 1 2 5 - 1 50). Eine 2. Auflage beider Teile erschien 1 669 in den erwähnten Specimina juris (s. o. 92, Anm. 1 90); vgl. A VI 2, 559 f. 282 Leibniz galt bereits der unterhalb einer verwirrten Oberfläche stringente Aufbau des Corpus ]uris als höchst geeignet ftlr den mos geometricus. Er übergehe nicht, >>daß die alten Rechtsgelehrten bei der Abfassung des Rechts mit einem so großen Genie und einer so großen Tiefe zu Werke gegangen sind, daß es eher eine Arbeit des Anordnens als eine des Ergänzens sei, ihre Bescheide auf höchst gewisse und beinahe mathematische Beweise zurückzuführen [in cer­ tissimas ac pene mathematicas demonstrationes (. . . ) redigendi] « (A VI 1, 1 0 1 , 28-3 1 ) . 28 3 Vgl. hierzu Schepers : Leibniz ' Disputationen •De Conditionibus>verschwieg« (A VI 1 , XV).286 Im folgenden werden nur die philosophischen Gedanken der Schrift erläu­ tert. Weil sie für Leibniz' Idee einer mathesis universalis grundlegend sind, müssen sie ausführlicher behandelt werden. Der barocke Untertitel der Dissertation zeigt den enzyklopädischen Gel­ tungsanspruch der >>kombinatorischen Technik« : In ihr soll >>nach den Grundlagen der Arithmetik eine Lehre von den Komplikationen und Transpositionen durch neue Regeln aufgebaut und der Nutzen beider über den gesamten Umkreis der Wissenschaften aufgezeigt« werden; zu­ gleich sollen neue >> Keime der Denkkunst oder Ermittlungslogik ausge­ streut werden« (A VI 1, 1 65).287 Ist der >>Sitz« der Kombinatorik die Arith­ metik (ebd. 1 68, 4), so fragt sich, wo die Arithmetik selbst ihren Platz im orbis scientiarum hat. Leibniz räumt ihr einen Ehrenplatz ein, den sie in der Geschichte selten innehatte : sie soll die Form der Metaphysik sein. Um diese Inthronisierung der Arithmetik (und mittelbar auch der Geome­ trie) in ihrem Sinn zu verstehen, ist zunächst zu sehen, wie Leibniz im Zuge der neuzeitlichen Technisierung des Wissens den Zweck wissenschaftlichen Denkens umreißt. Wenn Natur berechenbar werden soll, muß das Denken sich als Rechnen formieren, d. h. als zählendes oder messendes Kombi­ meren. a) Denken als Rechnen : Das synthetisch-analytische Verfahren als natürliche Technik des Verstandes Wie der Vorstellungsmechanismus des Leib-Seele-Pentagons veranschau­ licht hatte, faßt Leibniz den >>intellectus ipse« als selbstreflexive Sphäre, in deren Vorstellungshorizont die empirischen Anschauungen als Objekte beurteilt und auf ihre Zweckdienlichkeit hin geprüft werden. Der praktisch Bisher liegen nur Teilübersetzungen vor: deutsch Fragmente, 29-59; englisch Loemker, 1 1 71 33. 286 Vgl. hierzu Leibniz' anonyme Erklärung in den Acta Eruditorum, Februar 1 69 1 . Hier äu­ ßert er sich anläßlich eines ohne sein Wissen erfolgten Nachdrucks dieses Werkes (Frankfurt a. M. 1 690) mit kritischem Stolz über seine Jugendschrift (A VI 2, 549 f.). Guhrauer: Leibnitz, I 38, wertet ähnlich wie die Herausgeber von A VI 1, »daß die mannichfaltigen und vielseitigen Richtungen des j ungen Philosophen sich hier wie in einem Brennpunkte vereinigen« und daß hier bereits »die Keime« seiner größten späteren >>Entdeckungen und Entwürfe« liegen. 28 7 »Dissertatio de arte combinatoria, in qua ex arithmeticae fundamentis complicationum et transpositionum doctrina novis praeceptis exstruitur, et usus ambarum per universum scientia­ rum orbem ostenditur; nova etiam artis meditandi, seu logicae inventionis semina sparguntur. «

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affizierte Verstand schätzt hierfür die Nähe einer Obj ektsvorstellung zu den utilen und ethischen Orientierungskoordinaten ein, und es kommt zu j ener vorsichtigen, rücksichtigen und umsichtigen »Reflexion« im Spiegel des Geistes, die Aristoteles dianoia nennt, Erhard Weigel als Hin- und Her­ gehen des Geistes beschreibt und Bisterfeld als Ebenbild der trinitarischen Perichorese von Wirken (potentia), Wissen (sapientia) und Wollen (amor) deutet. Bei konkurrierenden Intentionen ist eine vermittelnde Vorstellung zu finden. Im ethischen Reflektieren ist das vergleichende Auswählen eines Dritten aber verwandt mit dem Ermitteln der richtigen Mitte zwischen zwei Extremen. Deshalb spricht Weigel von einer »Tugendrechnung« . z ss Jede Rechenoperation ist ein >>Messen«, ein inneres Abschreiten der vergli­ chenen Vorstellungen nach Maßeinheiten auf das je Angemessene hin. Der alles geschaffen hat nach Maß, Zahl und Gewicht, hat dem Menschen nicht nur ein sinnliches >>Augen- und Ohrenmaß« für das Sehen und Hören sei­ ner Harmonie geschenkt, sondern auch ein intellektuelles Maß, >>die allge­ meine Eins« des Verstandes, damit auch das Ebenbild quantitativ einschät­ zen kann, was zu tun ist.289 Das logistikon der praktischen Vernunft hat eine quasi mathematische Natur, weil im Vergleichen die unterschiedenen Verhältnisse (rationes) abgewogen werden und schließlich das rechte Maß, die recta ratio errechnet wird.290 Entsprechend geht die >>Willensangewöh­ nung« dahin, durch >>innere Lenkung, die den Willen frei läßt [ . . . ], das, was die recta ratio, die rechenschaftliehe Vernunft, sagt, wie von innen her, aus Herzensgrund und Liebe zu Gott«, auszuführen.291 >>Rechnen« heißt >>rationes reddere, subducere, ratiocinari, Rechenschaft und Ursach geben oder aus und nach gewissen Rechenschaften und Ursachen etwas, dessen Wissenschaft (wo nicht Wirklichkeit) dadurch verursacht wird, er­ forschen, finden und darstellen« .292

Addition und Subtraktion: Die Grundrechenarten des Denkens und die Al­ chemie der Sprache Mit Weigel bezieht sich Leibniz bei der Beschreibung der mensura durch die mens auf Hobbes. Um die Grundlinien der ars com­ plicatoria zu ziehen, geht er zunächst auf die Natur des kombinierenden Ge­ sichts-Punktes ein. Der Name ars complicatoria ist eigentlich treffender als ars combinatoria, weil nicht j ede >>complicatio>combinatio«, d. h. eine -

288 28 9 2 90 29 1

Weigel : Aretologistica, Die Tugendübende Rechen-Kunst, 1 40 u . ö. E bd. 60-8 1 . E bd. 68 f. Weigel: Specimen Deliberationis Mathematicae, 1 1 f.; sowie: Von der Würckung Des Ge­ müths, die man das Rechnen heist, 1 2 . 2 9 2 Aretologistica, Die Tugendübende Rechen-Kunst, 69, 4 u . ö .

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Verknüpfung von nur zwei Elementen ist ( 1 94, 24 f.).293 Prinzipiell sind Ver­ knüpfungen in allen möglichen natürlichen Zahlen zu berücksichtigen. Im Bemühen um eine exakte, an der Arithmetik orientierte Terminologie schreibt Leibniz die Zweierverknüpfung oder combinatio als >>com2natio«, die Dreierverknüpfung oder conternatio als >>con3natio«, die Viererver­ knüpfung oder conquaternatio als >>con4natio« usw. ( 1 72, 32 f.) Alle Ver­ knüpfungen aber werden vom lebendigen Punkt des Geistes erzeugt, der eine unio ( 1 nio) ist. Deshalb habe Hobbes, der >>profundissimus principio­ rum in omnibus rebus scrutator«, zu Recht festgestellt, >>daß jedes Werk un­ seres Geistes eine Rechnung ist, daß in ihr entweder durch Addieren eine Summe oder durch Subtrahieren eine Differenz errechnet wird [ omne opus mentis nostrae esse computationem, sed hac vel summam addendo vel subtrahendo differentiam colligi] « .294 Und wie in der Algebra und Ana­ lysis die zwei »erstrangigen Zeichen >plus< und >minus< [primaria signa + et -] « sind, so gibt es in allem Denken >>die zweifache Kopula >ist< und >ist nicht< [est et non-est]; dort setzt der Geist etwas zusammen, hier teilt er es [illic componit mens, hic dividit] « .295 ( 1 94, 25-30) Daher ist alle begriffliche Erkenntnis eine Synthese (Komplikation) oder Analyse (Explikation) gege­ bener Merkmalselemente. Hobbes hat die additive Synthesis und die subtraktive Analysis der Merkmale beim Erkennen durch das Beispiel dessen erläutert, der in der Ferne etwas Unbekanntes (aliquid obscure) wahrnimmt. Zunächst subsu­ miert er den Gegenstand unter den Begriff corpus, bis er beim Herannahen beobachtet, daß das Obj ekt seinen Ort wechselt und somit als res animata zu bestimmen ist. Identifiziert er bei noch größerer Nähe auch die Gestalt, Stimme oder andere signa animi rationalis, so folgert er, daß es sich um ein animal rationale oder einen Menschen handelt. >> Homo« erweist sich also als >>idea composita«, in der die drei genannten Merkmale zu einem Korn2 93 Leibniz verwendet den Gattungsbegriff >> Komplikation« im Bereich der Geometrie ( 1 87, 2 8 - 1 89, 1 1 ), aber auch i m B ereich des Rechts ( 1 89, 25 u. 3 1 ) und der Moral ( 1 9 1 , 34). Die Fü­ gung »Ars Complicatoria« gebraucht er j edoch selten ( 1 94, 24; 1 99, 1 u. 24; 2 0 1 , 1 5; 202, 3 u. 20), weil • Kombination« und •Kombinatorik« schon damals eingeprägte Begriffe sind. 2 94 Vgl. Hobbes : De corpore, I, 1, 2 (OLM I, 3). Hobbes betont hier, daß auch die anderen Grundrechenarten wie •multiplicare et dividere« zur »computatio>scientia nobilissima« bewertet {Dutens II 2, 1 28). Als informativen Überblick hierzu vgl. Marx : Leibniz in seinen Beziehungen

zur Arzneiwissenschaft.

3 02 So heißt es später in der Protogaea, 40: » Neque enim aliud est natura, quam ars quaedam magna. «

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gen hat ( 1 93, 34 f.).303 Sie erweitert die encheiresis naturae durch eine Tech­ nik der gedanklichen Abbreviatur. Der Analyse der Begriffe entspricht in der Chemie die >solutio< der Mischungen in homogene Materien durch die Verfahren der >segregatiodistractioseparatioabstractio< und >sub­ ductiocoa­ gulatio< durch >compositio< und >mixtioconfusio< bewirken. Während sich bei den logischen >Magi­ sterien< aus einer >species composita< allenfalls ein >Elixier< bereiten läßt, können aus der >species simplex< durch die Abtrennung der >essentia< vom natürlichen, grob sprachlichen >COrpus< die feineren >extracta< gewon­ nen werden : die >quinta essentia>spiritus« und >>flos substantiae« einer künstlichen Idealsprache.304 Das Laborieren an der Sprache gelangt durch vollständige Analyse der Begriffe zur >prima materia< des Denkens. Ein all­ gemeines Verfahren zur Auflösung der zusammengesetzten Begriffe käme schließlich dem legendären >Alkahest< gleich, j enem universalen Lösungs­ mittel, durch das alle verfestigten Begriffe verflüssigt und in eine zweck­ dienlichere Ordnung verwandelt werden könnten (s. u. 464, Anm. 2 1 1 ) . Wer Herr ist über die Elemente, ist auch Meister über ihre Verbindungen und Transmutationen. Das erkennt Leibniz v. a. bei den a priori definieren­ den Wissenschaften, die das resolutiv-kompositive Verfahren seit j eher aus­ üben. In ihnen wird durch die variierende Komplexion einer geringen An­ zahl von Elementen eine unabsehbare Mannigfaltigkeit von Einzelfällen erzeugt. Das Geheimnis der Berechenbarkeit der Begriffe liegt also in ihrer kontrollierten Simplifikation und Komplikation. Wer diese Methoden ver­ vollkommnet, perfektioniert die Wissenschaften.

Die Perfektionierung der Kombinationstechnik durch mathematische Re­ kombination der Elemente Der große Nutzen der ars complicatoria zeigt -

sich am reinsten in der Geometrie, die aus letzten Elementen, d. h. ihren De­ finitionen, Axiomen und Postulaten, ihre Fälle konstruiert und Lehrsätze ableitet. So war Keplers Konstruktivismus >>in complicandis figuris geome­ tricis« bahnbrechend, um das >natürliche< Verfahren der Geometrie zu ver-

3 0 3 Der spätere Begriff »characteristica universalis« findet sich beim frühen Leibniz noch nicht, obwohl die Sache schon intendiert ist. Leibniz spricht 1 666 nur von einer polygraphia universalis und einer scriptura universalis (202, 1 3 u. 8), weil er im Gefolge von Lull und Kireher zunächst an eine schriftliche Denotation des Begriffsalphabets denkt. 3 04 Die chemischen Begriffe in einfachen Anführungszeichen finden sich allerdings nicht in De arte combinatoria. Sie sind tabellarisch gegliedert bei Libavius : Alchemia, XII f.

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vollkommnen und die Erzeugungsgesetzlichkeit j eder figura composita aus den complicationes einer figura simplex zu beschreiben ( 1 8 7 f. ). Auch die juristische >> Kunst, Fälle abzufassen [Ars casuum formando­ rum] «, läßt sich von der doctrina de complexionibus her verstehen. Die Rechtswissenschaft ist u. a. deshalb der Geometrie verwandt, weil beide Disziplinen ihre >>elementa« und ihre >>Casus« besitzen. Die Elemente oder einfachen Dinge (simplicia) sind in der Geometrie Figuren wie das Dreieck, der Kreis usw., in der Rechtswissenschaft etwa der Prozeß, das Versprechen, die Entäußerung usw. Die >>Casus« sind die >>complexiones« dieser Elemente, die in beiden Wissenschaften >>auf unendliche Weise ab­ wandelbar« sind. Während aber Euklid die >>Elementa Geometriae>Elementa juris > Termini quorum complicatione oritur in Jure diversitas casuum>Personen, Sachen, Handlungen und Rechte>personarum genera« gliedern sich einerseits in die natürlichen, die für gewöhnlich

nach Geschlecht (wie Mann, Frau oder Zwitter), Krankheit (wie Tauber, Stummer oder Blin­ der), Lebensalter (wie Embryo, Knabe, Jüngling, Heranwachsender, Mann oder Greis) oder anderen rechtsrelevanten physischen Kriterien unterschieden werden, andererseits in die künst­ lichen Personen wie die Sprößlinge der Familie, Körperschaften oder Kollegien. - 2. Die ele­ mentaren Einteilungskriterien der »Res« sind: beweglich oder unbeweglich, teilbar (homogen) oder individuell, körperlich oder unkörperlich; im besonderen: Mensch, zahmes, wildes, toll­ wütiges oder schädliches Geschöpf, Pferd, Grundstück, Gewässer usw. sowie insgesamt alle Dinge, zu denen es ein eigentümliches Recht gibt. Wie Leibniz im Einklang mit Hobbes' Re­ formulierung der stoischen Wissenschaftsordnung (Logik, Physik und Ethik) fordert, sind diese Unterschiede »aus der Physik zu ermitteln«. - 3 . Die rechtsrelevanten »Actus« sind einerseits als natürliche zu betrachten (mögen sie nun ein Endergebnis hinterlassen oder nur von vorüberge­ hender Wirkung sein): z. B. die Zurückbehaltung oder Übergabe einer Sache, Einbruch, Gewalt, Tötung, Körperverletzung oder Schädigung, wobei die näheren Umstände ebenfalls aus der Physik zu ermitteln sind; andererseits sind sie zu betrachten als moralische: z. B. als freiwillige, erzwungene, notwendige oder gemischte Handlungen, als bekundende oder nichtbekundende, wobei unter die signifikanten Handlungen natürlich Worte, Beratungen, Aufträge, Vorschriften, Versprechungen, ln-Empfang-Nehmungen und Bedingungen fallen, und schließlich als Hand­ lungen mit oder ohne Rechtswirkung. - 4. Zu den Unterteilungen der »]ura« gehören Sachen­ rechte oder persönliche Rechte, reine, erweiterte oder aufgehobene Rechte, übertragbare oder an eine Person oder Sache geknüpfte; zu ihren Arten zählen das Eigentums-, Vorschlags- und Nutzrecht, sachliche oder persönliche Dienstbarkeit, Nießbrauch, Nutzen, Eigentum, Besitz­ recht oder Erwerb eines Ersitzrechtes, Erlaubnis und Verpflichtung, administrative, regierende oder ordnende Rechtsgewalt sowie schließlich die Rechte innerhalb des Rechtsverfahrens selbst,

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Leibniz betont, daß er von den elementaren Termini der vier juristischen Begriffsklassen hier nur diejenigen vorgebracht habe, die ihm zur Verdeut­ lichung seines Anliegens in den Sinn kamen, so daß diese durch andere >>ter­ mini simplices« zu vervollständigen seien. Eine solche Liste dürfe lediglich die termini revera simplices enthalten, >>deren Vorstellung nicht aus anderen gleichartigen zusammengesetzt ist [quorum conceptus ex aliis homogeneis non componitur] « . Allerdings genüge es bei den Topoi, in deren Anord­ nung das hauptsächliche Kunststück liegt, diejenigen termini complexi, die den termini simplices sehr nahe kommen, unter einen besonderen Titel einzuordnen. Ein Beispiel ist die >>Wiedergutmachung«, die sich zusam­ mensetzt aus der wechselseitigen >> Verpflichtung« von Personen ·>>ZU einer teilbaren und gleichartigen, d. h. vergleichbaren Sache, die auf beiden Seiten aufgelöst wird in die Gesamtheit der konkurrierenden Rechtsansprüche«. ( 1 90, 1 8-25) Leibniz will mit der Musterprobe eines juristischen Begriffsalphabets verdeutlichen, daß aus den termini simplices eine fast unendliche Anzahl von Fällen hervorgeht, wenn sie teils mehrfach untereinander, teils mit an­ deren durch eine Kom2nation, Kon3nation usw. verknüpft worden sind und sich innerhalb derselben Komplexionsstufe auch ihr Stellenwert ändert ( 1 90, 26-28). Die Reduktion des Komplexen auf Elemente ist v. a. in Wis­ senschaften aussichtsreich, welche die Fülle möglicher Fälle bereits durch Definitionen beschränken. Die Jurisprudenz erfüllt diese Bedingung, weil ihre Elementarbegriffe schon auf der abstrakten Ebene pragmatisch defi­ nierter Tatbestände, wie Tötung oder Körperverletzung, liegen, ohne daß der Dschungel konkreter Sachverhalte katalogisiert werden müßte. Leibniz räumt jedoch ein, daß gerade aus der Mehrdeutigkeit der >>actus significan­ tes« - gleichsam der speech acts mit ihren unterschiedlichen illokutionären Rollen - jede >>verborum varietas et interpretatio ex Grammaticis« ent­ springt ( 1 90, 6 f.). Als zweite Wissenschaft, die abstrakt definiert und damit prinzipiell in Elemente zerlegbar ist, nennt Leibniz die Theologie. Nach der juriszentri­ schen Analogie (s. o. 93 f.) liegt in ihr das gleiche Verhältnis der Begriffe (terminorum ratio) vor wie in der Rechtswissenschaft. Theologie ist im also etwa Anklage, Berufung und Wiederaufrollung des Prozesses in einem begrenzten Rah­ men. ( 1 89 f.) Viehweg: Die juristischen Beispielsfälle in Leibnizens Ars Combinatoria, 88, hat im Keim die­ ses juristischen B egriffsalphabets zu Recht »den ersten Versuch« gesehen, »den im B ereich der ganzen Zahlen erarbeiteten Grundgedanken des Kombinationsverfahrens in das Bereich der üb­ rigen Begriffe zu überführen, mithin einen Schritt, der schließlich die außerordentliche Idee der allgemeinen Charakteristik nach sich zog> Komplikation« von Elementen verstanden werden. Aus dieser Auffassung der Wissenschaften als eines Rechnens mit spezi­ fischen Elementen oder atomaren Begriffssynthesen war Leibniz nach eige­ nen Angaben schon im Knabenalter die Vision einer >Allgemeinen Wissen­ schaft< erwachsen. Sie ist zu begründen in einer lingua oder characteristica universalis, in der alle Begriffe >>pulchre« geordnet sind. Diese enthält die >>ars inveniendi et judicandi« zugleich, insofern ihre >>notae sive characte­ res« dasselbe leisten wie die arithmetischen Zeichen bei den Zahlen und die algebraischen Zeichen bei den abstrakt gefaßten Größen.308 Den später 3 0 7 Das ist nicht schon eo ipso »ein für den Staat wie für die Kirche höchst gefährlicher Ver­ gleich«, wie Welzel : Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1 46, anmahnt. Leibniz referiert mit der Analogie, die er in der Nova methodus in leicht erweiterter Form wiederholen wird (A VI 1, 294, 1 2-23; s. u. 1 8 7 f.), zunächst nur sehr scharfsinnig das rechtliche Selbstverständnis der Kirche seit ihren Vätern. Leibniz selbst ist weit davon entfernt, durch die Darlegung der Parallelität eine theokratische Identifizierung zu befürworten. Die Analogie beschränkt sich nämlich nur auf das forum internum der dritten Naturrechtsstufe (s. u. 2 1 1 ). 3 0 8 So Leibniz in der autobiographischen Skizze De numeris characteristicis ad linguam uni­ versalem constituendam (um 1 6 79), die mit dem »vetus verbum> D E UM omnia pondere, mensura, numero fecisse« (VE Nr. 1 52, IV, 669-675 [hier 670]; der la­ teinische Text ist mit einigen Varianten gedruckt in GP VII 1 84- 1 89). Weil die Aufzeichnung für die Vorgeschichte von De arte combinatoria wichtig ist, seien die wichtigsten Etappen referiert. Die Idee der Universalsprache gehöre zu den ursprünglichen chimaerae in cerebro des Kna­ ben, die sich seinem Geist »sehr tief eingeprägt« hätten. Noch bevor er vom Beweisverfahren der Geometer etwas hörte, habe er seinen erstaunten Lehrern u. a. eine dubitatio de praedica­ mentis vorgelegt. So wie man nämlich über »praedicamenta seu classes notionum simplicium« verfüge, so müsse man auch ein » novum praedicamentorum genus« finden können, »in quo et propositiones ipsae (seu Termini complexi) ordine naturali disponerentur«. Bei seinen Studien zur Errichtung dieser »praedicamenta Terminorum complexorum, seu propositionum« sei er auf die erstaunliche Betrachtung gestoßen, daß sich ein »Alphabetum cogitationum huma­ narum« erdenken lassen müsse, »et quod literarum huius Alphabeti combinatione et vocabulo-

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noch von Frege geteilten Traum vom enzyklopädischen »Alphabetum« mit einer mathematischen Formelsprache sucht Leibniz schon 1 666 zu realisie­ ren (202, 4 f.).

b) Übersichtlichkeit und Entscheidbarkeit : Die öffentliche Bedeutsamkeit des enzyklopädischen Gedankenalphabets Seine Methode zum Universalalphabet hat Leibniz fünf Jahre später für fast ausgereift erklärt. >>In Philosophia habe ich ein mittel funden, das j enige was Cartesius und andere per Algebram et Analysin in Arithmetica et Geome­ tria gethan, in allen scientien zuwege zu bringen per Artern Combinatoriam [ . . . ]. Dadurch alle Notiones compositae der ganzen Welt, in wenig simpli­ ces als deren Alphabet reduciret, und aus solches alphabets combination wiederumb alle dinge, samt ihren theorematibus, und was nur von ihnen zu inventiren müglich ordinata methodo mit der zeit zu finden ein weg ge­ bahnet wird.« Eine Begründung aber, weshalb diese >>invention, dafern sie wils Gott zu Werck gerichtet, als mater aller inventionen>das impor­ tanteste gehalten« werden darf, gibt Leibniz nicht.309 Auch in »De arte combinatoria« wird nicht erläutert, worin ihr incredibilis fructus für das ge­ nus humanum liegen soll ( 1 94, 23). Weil das Begriffsalphabet mit dem Plan der scientia generalis einerseits zu den aufwendigsten Projekten des mittle­ ren Lcibniz gehört3 10, andererseits zu den schwierigsten und umstrittensten Themen in der Leibniz-Forschung31 1 , sollen einige Prolegomena den prak­ tischen Sinn des Planes erläutern. rum ex ipsis factarum analysi omnia quae ratione constant et inveniri et dijudicari possent>Alphabet der menschlichen Gedanken« hilfreich sein, durch dessen kombinierte und ana­ lysierte Buchstaben sich >>all dasjenige, was durch Vernunft feststeht, ent­ decken und beurteilen lassen« würde (s. o. 1 29 f., Anm. 308). Die Ein­ schränkung der Begriffselemente auf das, >>was durch Vernunft feststeht [quae ratione constant] « und nicht empirisch bedingt ist, macht Leibniz schon in »De arte combinatoria>ad theoremata, seu propositiones quae surrt aeternae veritatis, seu non ar­ bitrio DEI sed sua natura constant« ( 1 99, 1 -3).316 Weil nach der skizzierten Theo-Logik diejenigen Sätze von ewiger Wahrheit sind, die in Gottes un­ vordenklichem Wesen und nicht in seiner Willkür begründet sind, fällt der Umfang der beiden Formeln quae ratione constant und quae sua natura constant exakt zusammen. Also geht es auch bei der ars inveniendi um die göttliche Vernunft. >De singularibus non est scientia.< Deshalb sind keine >>propositiones singulares« (wie >>Augustus war Herrscher der Römer«), die man >>quasi historicae« nennen kann, als beweisfähige Grundlagen der Kombinatorik zugelassen; aber auch keine »observationes« (wie >>Alle Er­ wachsenen in Europa haben Kenntnis von Gott«), d. h. >>propositiones uni­ versales«, deren Wahrheit jedoch >>non in essentia, sed existentia fundata« ist und die somit nur >>gleichsam durch Zufall, d. h. durch Gottes Belieben [quasi casu, id est DEI arbitrio] >bei einer Entscheidung die ganze Tafel von Nutzen und Kosten auf beiden Seiten zusammenrechnen, d. h. die Vor- und Nachteile nicht bloß zählen, sondern auch korrekt abwiegen [non taoturn numerare sed et recte ponderare] kann>niemals zu einer allgemeinen Prüfung ihrer Bilanzen gelangen wollen>in über­ triebener Größe>mercatores>Elemente« der öffentlich rele­ vanten Wissenschaften beweisbar zu machen und mit Hilfe der Kombina­ torik zum enzyklopädischen Ring zusammenzuschließen, eine solche ab­ kürzende und orientierende Kraft besitzt, kann sich erst nach der Analyse seines Systemzyklus zeigen. Leibniz war zeitlebens darüber >>verwundert«, daß bislang >>kein Sterblicher« eine >>so bedeutende Angelegenheit« wie die Universal-Charakteristik auf den Weg gebracht hat.324 Er nennt aber schon 1 666 Vorläufer des Proj ekts, und seine kritische Abgrenzung gegen diese zeigt am besten, wie er sich die Verbindung von Gedankenalphabet, Cha­ rakteristik, Enzyklopädie und Begriffskalkül in der Universal- Kombinato­ rik gedacht hat.m

Die Kritik der Lullschen Universal-Kombinatorik und die Regeln eines arithmetisch formalisierten Begriffskalküls Leibniz unterscheidet zwi­ schen der Universal-Kombinatorik der Begriffe (der ars scientiarum com-

3 22 De numeris characteristicis ad linguam universalem constituendam, VE Nr. 1 52, IV 674, 673 GP VII 1 88 f., 1 87. 3 23 »Ecce igitur usum vocabulorum ad nervosam compendiositatem, ad memoriam, imo qvodammodo lucem, saltem attentionem. « (Elementa juris naturalis 5, A VI 1, 474, 20 f.) » Vi­ detis qvantum sciendi compendium contineatur in definitionibus artisqve Combinatoriae prae­ dicamentis qvae molimur. « (Ebd., 476, 4-6) - Leibniz bemerkt dies im Hinblick auf seine dif­ ferenzierte Substitutions-Tabelle zur Naturrechts-Ethik (475). 3 2 4 De numeris characteristicis ad linguam universalem constituendam, VE Nr. 1 52, IV 671 GP VII 1 86. 3 2 5 Knobloch: Die mathematischen Studien von G. W. Leibniz zur Kombinatorik, 56, faßt das Problem so zusammen: »Will man LEIBN!Zens erweitertes Verständnis vom Wesen der ars combinatoria genauer darstellen, so sind zwangsläufig Begriffe wie lingua universalis oder =

=

realis, ars inveniendi, ars characteristica, calculus ratiocinator, encyclopaedia, scientia generalis usf. mit zu berücksichtigen. Erschwert wird die Aufgabe dadurch, daß LEIBNIZ kein einheitli­ ches Gliederungsschema eingehalten hat, da er stets auf der Suche nach neuen Entwürfen, bes­ seren Formulierungen, klareren Darstellungen wargleichsam die Folgerung« aus jener, weil sie die ideale Notation der Begriffstafeln leisten soll (20 1 , 1 5- 1 7). >>Nam Termini primi, ex quorum complexu omnes alii constituuntur, signentur notis, hae notae erunt quasi Alphabetum« (202, 4 f.). Entsprechend prüft Leibniz auf der Suche nach den elementaren tabulae vel praedicamenta (202, 3) zunächst den histo­ risch ersten Entwurf einer Begriffskombinatorik bei Raymund Lull, später die ersten Versuche, eine ideale Zeichensprache für die Elementar- und De­ rivativ-Begriffe zu erfinden. Weil fast alle Realien und Begriffe aus Teilen zusammengesetzt sind, läßt sich ihre materiale Verschiedenheit aus der Fülle unterschiedlicher Ver­ knüpfungen rekonstruieren. Daher lassen sich »mit Hilfe der Komplexio­ nen nicht bloß die Arten der Dinge [species rerum], sondern auch deren Grundeigenschaften [attributa] ermitteln>Lastern>Größersein, Gleichheit und Kleinersein nichts anderes als Übereinstimmung und Verschiedenheit der Größe>Fragen> Ob etwas sei, betrifft die Existenz, die die Dauer allererst auf sich bezieht; Was betrifft die Wesenheit, Warum die Ur­ sache, Wovon den Gegenstand, Wieviel die Größe, Wie beschaffen die Qua­ lität, die ja eine Gattung der absoluten Prädikate bildet. Wann betrifft die Zeit, Wo den Ort, Wie die Form und Womit den Zusammenhang. Alle diese Begriffe sind entweder bezogen auf Prädikate oder auf diese zu beziehen. Und warum hat Lull das Wie lange vergessen : fällt es nicht mit der Dauer zusammen ? >partim manca, partim superflua«. Denn bei den Tugenden hat Lull zuerst die vier Kardinaltugenden aufgezählt, dann die vier theologischen. >>Warum also hat er noch die Geduld hinzuge­ fügt, die doch als enthalten gilt in der Tapferkeit ? Warum die Frömmigkeit, die in der Liebe zu GOTT enthalten ist ? Natürlich, um die Lücke zur Neun­ zahl auszustopfen ! « ( 1 93, 32 - 1 94, 4) Was Leibniz am Lullschen Alphabet am meisten gutheißt, ist die Liste der Subjecta. Denn hier findet er die natürlichen >>Stufen der Wesen : GOTT, Engel, Himmel (nach der peripatetischen Lehre das unzerstörbare Wesen), Mensch, das vollkommenere Tier (d. h. das, was Einbildungskraft besitzt) und das unvollkommenere ( d. h. das, was bloß Sinnesvermögen hat, wie man den Zoophyten nachsagt), die Pflanze, die gemeinsame Form der Kör­ per (dergleichen aus der Mischung der Elemente stammt, an der alle unbe­ seelten Dinge teilhaben) sowie die künstlichen Gegenstände (die er Instru­ mente nennt) « ( 1 94, 5-9).335 Der Beifall für diese Stufenleiter der Natur, die schon im »Specimen« angedeutet war, belegt, daß bei Leibniz das neuplato­ nische Schema von der Pyramide der Wesen im Hintergrund steht. Leibniz kritisiert gar nicht erst die offenkundige Unzulänglichkeit des Lull­ schen Alphabets im ganzen, das außer den 9 x 6 Elementarbegriffen noch auf ungeklärte Zusatzbegriffe336 rekurrieren muß und bei dem die logische Stim­ migkeit der Figuren, z. B. das Auftauchen der Triaden innerhalb der zweiten Figur, fraglich bleibt. Vielmehr verweist er bloß auf das >>in j eder Hinsicht aus­ gereifte Urteil« des >>großen« Gassendi. Wer bei Gassendi nachschlägt, findet ein wenig schmeichelhaftes Fazit : die Ars Lullii scheine gegenüber den alten Logiken eine >>Logica et intricatior et vanior« zu sein : >>nihil innovatum foret in Scholis, sed perstaretur semper in iisdem [ . . . ] nugamentis« .337 335 »Sunt enim hi inprimis Emium gradus: DEUS, Angelus, Coclum (ex doctrina peripate­ tica Ens incorruptibile), Homo, Brutum perfectius, (s. habens imaginationem), imperfectius (seu sensum solum, qualia de 1;rooq>(rrot>Perfectio, Terminatio, Privatio«. 33 7 Gassendi: Syntagma philosophicum I, I, Anfang Kap. 9. (Opera I 59 a). - Lull wurde in

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Von den Nachfolgern und Erneuerern der Lullschen Kombinatorik er­ wähnt Leibniz außer Giordano Bruno und Agrippa von Nettesheim beson­ ders Alsted338 und den »unsterblichen« Athanasius Kircher, geht aber nicht näher auf ihre Entwürfe ein. Kireher hatte seit längerem eine ars magna sciendi oder nova porta scientiarum mit dem Titel Combinatoria in Aus­ sicht gestellt, >>in der über alle Dinge mit unbegrenzten Argumenten dispu­ tiert und eine summarische Kenntnis aller Dinge erreicht werden könne« .339 Leibniz hofft gerade von Kircher, >>daß ein Mensch mit diesem ungeheuer­ stell Genie, tiefsinniger als Lull« und andere, >>in das Innerste der Dinge [in intima rerum] eindringen möge« und dasj enige ausführe, was er selbst nur im Umriß skizzieren will. Seine eigenen folgenden >>lineamenta« seien da­ gegen nur ein erster Versuch, der nicht bloß >>zur Erweiterung der Arithme­ tik« beitrage, sondern noch mehr >>die Quellen der Ermittlungskunst« zu­ gänglich mache. Seine Grundzüge der ars combinatoria sollen zumindest >>das Amt eines Heroldes ausüben>das, was auch Bacon von Verulam in seinem Katalog der Desiderate zum Wachstum der Wissenschaften getan hatbei den Menschen die Ahnung von einer so großen Kunst hervorrufen>ersten Vorgeschmack>Speci­ men mirabile Praedicamentorum artis Com2natoriae ex GeometriaExplikationen< der Merkmale, die in den zusam­ mengesetzten Begriffen oder >Komplikationen< enthalten sind. Deshalb wird zunächst j eder Terminus in partes formales zerlegt, d. h. es wird seine definitio festgesetzt. Die Teile werden ihrerseits in Teile zerlegt, was eine der Geschichte nicht nur der Ehrenname »doctor illuminatus«, sondern auch der Spottname »doctor phantasticus« zuteil (Platzeck: Raimund Lull, I 42). 33 8 Leibniz beruft sich ( 1 92, 29 f.) nicht auf Alsteds Clavis artis Lullianae et verae logicae, Straßburg 1 609, sondern auf die kurze Architectura artis Lullianae innerhalb des Thesaurus artis memoriae, Braunschweig 1 6 1 2 (vgl. auch 203, 23 f.). 339 Kirebers Werk erschien erst drei Jahre später unter dem Titel Ars magna sciendi sive Combinatoria, 2 Bde, Amsterdam 1 669.

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Definition der Definition der Begriffe bedeutet, bis hin zu den atomaren partes simplices oder termini indefinibiles. 340 Diese ultimi termini werden nicht weiter durch Definition, sondern durch Analogie verstanden. 2. Die ermittelten termini primi werden zu einer Klasse geordnet und mit bestimmten notae gekennzeichnet, am zweckmäßigsten mit Nummern. 3. Zu diesen Primärbegriffen gehören nicht bloß res, sondern auch modi oder respectus, d. h. Termini nicht nur für Substanzen, sondern auch solche der Qualität, Quantität und Relation. 4. Weil nun alle abgeleiteten oder derivativen Begriffe (termini orti) durch ihren Abstand zu den primären unterschieden sind, je nachdem, aus wel­ cher Mehrzahl von Primärbegriffen sie zusammengesetzt sind oder wie groß der Exponent ihrer Verknüpfung ist, müssen genau so viele Klassen eingerichtet werden, wie es Exponenten gibt. Begriffe einer gemeinsamen Klasse sind also diej enigen, die aus derselben Anzahl von Primärbegriffen zusammengesetzt sind. 5 . Die aus einer Kom2nation abgeleiteten Begriffe werden charakterisiert durch diej enigen Primärbegriffe, aus denen sie zusammengesetzt sind. Weil die Primärbegriffe durch Zahlen gekennzeichnet sind, bezeichnen folglich zwei Zahlen zwei zusammengesetzte Begriffe. 6. Diej enigen Begriffe, die aus einer Kon3nation abgeleitet sind oder Komplexionen mit einem noch größeren Exponenten bilden, d. h. die Be­ griffe, die sich in der dritten Klasse und den darauf folgenden befinden, können j eweils auf so viele verschiedene Arten beschriftet werden, wie ihr Exponent Komplexionen hat. Dieser Exponent gibt damit zugleich die Anzahl der in einem Oberbegriff verknüpften Dinge an. ( 1 94, 35 1 95, 1 8) Die so entstehende Subordinationspyramide bildet ein Stammbaum­ schema, in dem die oberste Klasse die Stammbegriffe enthält und die Ver­ zweigungen sich wie Wurzeln nach unten in eine wohlgegliederte Vielfalt ausdifferenzieren. Je weiter eine Klasse von der ersten (obersten) entfernt ist, desto größer ist folglich die Variation oder der Komplexitätsgrad. »Denn die Begriffe der vorhergehenden Klasse sind immer gleichsam unter­ geordnete Gattungen [genera subalterna] zu denjenigen Begriffen der fol­ genden Variation.« Das Stammbaumschema findet seine Entsprechung in der mathematischen Formalisierung. Werden die Primärbegriffe durch j e eine Zahl gekennzeichnet, so wird ein abgeleiteter Begriff, d e r z. B. eine Kon3nation bildet (d. h. aus drei einfachen Begriffen zusammengesetzt ist) und somit in die dritte Klasse gehört, am zweckmäßigsten durch die J• o Vgl. Hobbes: De co rp ore, I, 5, 10 (OLM I, 54 f.).

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charakteristischen drei Zahlen seiner Primärbegriffe markiert. Hierfür be­ dient sich Leibniz folgender Symbolisierung durch >>quasi-fractiones« . 7 . Sooft ein abgeleiteter Begriff außerhalb seiner Klasse benannt wird, kann er als eine Art Bruch (in der folgenden Mustertafel als Schrägstrich I gekennzeichnet) werden, so daß der Zähler [numerator] die Zahl der Stelle innerhalb der Klasse angibt, der Nenner [nominator] hingegen die Rang­ ordnungszahl der Klasse. ( 1 94, 34- 1 95, 29) Im folgenden >>Stegreifversuch« erläutert Leibniz diese praxis artis com2natoriae, indem er Primärbegriffe nur für die Geometrie vor­ schlägt. Auch sollen nicht alle Primärbegriffe aufgestellt werden, son­ dern nur diej enigen, die durch ihre >> Komplikation« für die Errichtung festgesetzter abgeleiteter Begriffe hinreichen. Für die Definitionen hätte sich Leibniz lieber der genaueren Methode der Eiementa Euclidis bedient. Doch es mußte eine Symbolsprache verwendet werden, durch welche die Kasus und andere grammatische Funktionen relativ schnell erschlossen werden können. Zur syntaktischen Verknüpfung verwen­ det Leibniz griechische Partikel. Eine Anzahl mehrerer Dinge wird re­ präsentiert durch ihre Hinzufügung in einer runden Klammer, so daß z. B. (3) für >3 mal< oder >von dreien< steht; eine unbestimmte Anzahl dagegen wird durch die Zahl 1 5 in runden Klammern symbo­ lisiert (weil die 1 5 . Definition in Klasse I >>mehrere« lautet). Zur Vereinfachung der Lektüre habe ich die Übersetzung mehrdeutiger lateinischer Begriffe und ihrer Verknüpfungen in spitzen Klammern ergänzt. Klasse I enthält die >>termini primi« der Geometrie: >> 1. Punctum. 2. Spatium. 3 . lntersitum (Zwischenliegendes). 4. Adsi­ tum seu Contiguum ( Nebeneinanderliegendes oder Angrenzendes). 5 . Dissitum (Außereinanderliegendes). 6. Terminus, seu quae distant ( Grenze oder: was einen Abstand bildet). 7. Insitum ( Innewohnendes). 8. Inclusum ( Eingeschlossenes) (v. g. centrum est insitum circulo, inclu­ sum peripheriae (z. B. ist der Mittelpunkt dem Kreis innewohnend, aber von der Peripherie eingeschlossen) ). 9. Pars. 1 0. Totum. 1 1 . Idem. 1 2 . Di­ versum. 1 3 . Unum. 1 4 . Numerus. 1 5 . Plura, v. g. 1 , 2, 3, 4, 5, etc. 1 6 . Di­ stantia. 1 7. Possibile. 1 8 . Omne. 1 9. Datum. 20. Fit (Es geschieht bzw. entsteht). 2 1 . Regio ( Richtung). 22. Dimensio. 23. Longum. 24. Latum. 25. Profundum. 26. Commune. 27. Progressio, seu Continuatum. « Klasse II enthält Komplexionen aus Klasse I mit dem Exponenten 2 , d. h . Kom2nationen von Primärbegriffen: >> 1 . Quantitas est 1 4. t&v 9 ( 1 5) « (weil 1 4 für >>Numerus« steht, 9 für >>Pars « und 1 5 für eine unbe­ stimmte Anzahl, ist also zu lesen: >> Quantität ist die Anzahl von Tei-

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lenerster Terminus aus Klasse II> QuantitasDas Gleiche A ist dasselbe an Quantität>3 . Continuum est A ad B si toi'> A T] 9. est 4. et 7. t{il B >Ein Kontinuum von A nach B liegt vor, wenn von A der Teil zusammenhängend ist und B innewohnt 1 . Majus est A habens tilv 9. 2/3 . t{il B> Größer ist A, wenn es einen Teil hat, der gleich groß ist wie B >3 . Linea, 1 /3 . t&v 1 (2)imitare creationem>Essentiae rerum sunt sicut numeri>numerus suus characte­ risticus« zuschreiben zu können, auch von den >>eruditissimi homines« nicht verstanden wurde.350 Die Unterscheidung des spatium corporale vom spatium entitativum teilt auch die Universal-Kombinatorik in zwei Gebiete auf. Alle Bewegungen von Körpern lassen sich nach dem Prinzip der Analytischen Geometrie dar­ stellen und zugleich arithmetisch erfassen. Die reine Physik ist nichts als eine mathematische Kombinatorik definierter Begriffe, nach der die Bewe­ gungsgesetze und Lagen kombinierbarer und permutierbarer Raumele­ mente beschrieben werden. Weil die Relationen des intelligiblen Raumes da­ gegen nicht greifbar sind, müssen sie in der scriptura universalis gleichsam kartographisch symbolisiert werden. Für die allgemeine Verständlichkeit dieser Polygraphie bietet sich auch hier eine geometrische Zeichensprache an, in der die >>termini primi« des gedanklichen Alphabets in einem >>Alpha­ betum« von >>notae« dargestellt sind. Seine Zeichen sind >>so natürlich wie möglich« dem Gegenstand anzupassen. >>Z. B. bieten sich zur Kennzeich­ nung einer Eins ein Punkt an, für die Zahlen Punkte, für die Relationen eines Wesens zu einem anderen eine Linie, für die Verschiedenheit der Re­ lationen die Gattungen von Winkeln oder von Grenzen in den Linien. Wenn diese Zeichen folgerichtig und erfindungsreich festgesetzt sind, wird eine Universalschrift ebenso leicht sein wie die übliche; auch kann sie ohne jedes Lexikon gelesen werden351 , und zugleich wird eine grundlegende 35 0 De numeris characteristicis ad linguam universalem constituendam, VE Nr. 1 52, 670 GP VII 1 84. 35 1 Leibniz prüft in diesem Zusammenhang verschiedene Versuche von Vorgängern und Zeitgenossen, eine Universalschrift zu finden. Er stützt sich u. a. auf Caspar Schott, der im VII. Buch seiner Technica curiosa sive mirabilia artis (Würzburg 1 667) über die Zeichenkünste anderer berichtet. Leibniz kritisiert außer der Methode eines unbekannten Spaniers auch die Technik von Johann Joachim Becher: Character, pro notitia linguarum universali, Frankfurt 1 66 1 . Sie legt ein lateinisches Lexikon zugrunde, in dem die Namen in rein alphabetischer Rei­ henfolge angeordnet und durchnumeriert werden. Dazu sollen Lexika erstellt werden, in denen die Namen aus den einzelnen Muttersprachen genau in derj enigen Reihenfolge angeordnet sind, die denen des lateinischen Lexikons entsprechen - ein Verfahren, das undurchführbar ist wegen der Synonyme, der Mehrdeutigkeit der Namen und der ständigen Mühseligkeit des Nachschia­ gens (20 1 , 1 7 - 202, 2). =

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Kenntnis aller Dinge aufgenommen werden. Jede Schrift dieser Art wird also gleichsam durch geometrische Figuren und Bilder entstehen, wie einst die ägytischen oder heute die chinesischen; doch werden ihre Bilder nicht auf ein bestimmtes Alphabet oder auf Buchstaben zurückgeführt, wodurch eine unglaubliche Belastung des Gedächtnisses nötig würde«. (202, 5 - 1 2)352 Die mathematisch-metaphysischen Anfangsgründe für beide Teile der Universal-Kombinatorik, für die geometrische Topik wie für die geometri­ sierende Topologie der intelligiblen Relationen, legt Leibniz schon in den neun Kapiteln seiner Vorrede. Sie machen die Raumwissenschaft abbildbar auf die intelligible Ordnung, die quantitas corporum auf die quantitas en­ tium. Weil die Vorrede eine Art Gegenentwurf zum kategorialen Rahmen des Lullismus ist, wurde ihre Analyse hier bis zum Schluß aufgespart.

Die Wissenschaft von der göttlichen Zahl und ihrer figürlich dargestellten Ordnung Leibniz beginnt »altissime«, mit Definitionen zur Metaphysik, -

und reduziert die fundamentalen Eigenschaften des Seienden (Entis affectio­ nes) auf die drei Kategorien, die bei Aristoteles auf die Substanz folgen. Während qualitas die » absolute« Eigenschaft oder den absoluten >>modus>respektivensooft wir mehreres zugleich als Eines unterstellen [quoties plura simul tanquam Unum supponimus] >was wir in ei­ ner einzigen Handlung des Verstandes, d. h. zugleich, denken [quicquid uno actu intellectus, s.(eu) simul, cogitamus] >daß die Zahl allein aus der Teilung des Kontinuums entspringe und nicht auf unkörperliche Dinge angewandt werden könne>eine Art unkörperliche Figur356, die der Ver­ einigung aller möglichen Wesen entsprungen ist, z. B. GOTTES, eines mat des konstruierenden Verstandes bei Leibniz hervorhebt, ist die Polemik von Kabitz: Philo­ sophie des jungen Leibniz, ganz unverständlich, der Cassirers Auslegung >>eine pure Fiktion« nennt ( 1 3, Anm. 1 ) . 354 In seiner Disputatio d e casibus perplexis in jure, d i e noch 1 666 erschien, korrigiert Leibniz diese Chronologie durch den Hinweis auf »Fr. Vieta, summus in Gallis Mathematicus (cui ho­ dierna Analysis, quam vocant Speciosam, a Cartesio aucta [!], fundamenta maxime debet)« (236, 5-7.) Fran�ois Vietes In artem analyticam isagoge seu algebra nova war 1 59 1 in Tours erschie­ nen. 355 Franciscus a Schooten : Principia matheseos universalis seu introductio ad geometriae me­ thodum Renati Des Cartes, edita ab Erasmus Bartholinus, Leiden 1 65 1 . 35 6 Nicht nur a n diesem Gedanken, sondern fast auch a n der Formel wird Leibniz festhalten. »Nihil est quod numerum non patiatur. ltaque numerus quasi figura quaedam metaphysica est, et Arithmetica est quaedam Statica Universi, qua rerum gradus explorantur« (De numeris cha­ racteristicis ad linguam universalem constituendam, VE Nr. 1 52, IV 669 GP VII 1 84, dort nach einer gestrichenen Lesart). =

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Engels, eines Menschen und einer Bewegung, die zugleich eine Vier bil­ den«.357 Diese scheinbar abstruse Vierheit gibt einen tiefen Einblick in Leibniz' mystische Theologie. Denn nach der theologischen Dimension des Pentagons und des >> Kerns der Substanz« ist diese Vierheit die schöpfe­ rische Vereinigung schlechthin. Gott ist der Lebensquell, der als intelligi­ bler Mittelpunkt das Sein eines j eden Wesens kontinuierlich erschafft und erhält. Für eine private Hypothese von den Engeln aber finden sich bei Leibniz Stichworte, die in der Forschung noch nicht gedeutet wurden. >>Ei­ nige vermuteten mehr im geistreichen Scherz als im Ernst, Engel seien Menschen aus einer früheren Welt: die Geretteten die guten und die Ver­ dammten die Teufel. So werden sie auch j etzt weiterexistieren.«358 Im Blick auf die Idee des >>flos substantiae« kann kein Zweifel daran bestehen, daß Leibniz den Engel eines Menschen mit seinem präexistenten >> Kern der Substanz« identifiziert, der vom verweslichen Corpus unterschieden ist und seinen innersten »Winkel« bildet.359 Mit dieser Deutung des unsichtbar gegenwärtigen mundus intelligibilis inmitten der mechanisch beurteilten Welt kann im Zeitalter der Korpuskularphilosophie die traditionelle Lehre von den reinen Formen und Mittelwesen zwischen Gott und den Geschöp­ fen widerspruchsfrei gedacht werden, ohne daß der Glaube beeinträchtigt wird. Wieder dürfte es Weigel gewesen sein, der Leibniz die mystische Be­ ziehung zwischen »angelus« und >>angulus« nahegebracht hat. Bedenkt man schließlich, daß das ständige Einfließen von Gottes >>fons vitae« über die >>rivuli« oder Winkel, d. h. mit Hilfe des Engels im Menschen, zugleich der Ursprung der Bewegung ist360, dann scheint das Beispiel für die >>figura incorporea« einer Vierzahl, welche der >>unio« mehrerer Wesen entspringt, reiflich überlegt. Leibniz liebt solche Anspielungen (s. u. 553). Ist die Zahl also »etwas Allgemeinstes [quiddam Universalissimum] «, Metaphysik aber die >>doctrina eorum quae omni entium generi sunt com­ munia«, dann gehört die Zahl formaliter ins Zentrum der Metaphysik, so­ fern vom juriszentrischen Sinn der Schöpfung abgesehen wird. ( 1 7 1 , 5-9) Da die Weisheit Gottes alles nach Zahl erschaffen hat, ist die Arithmetik die göttliche Wissenschaft schlechthin. Diese >>pythagoreisch-platonische 35 7 »Falso autem Scholastici credidere Numerum ex sola divisione continui oriri nec ad in­ corporea applicari posse. Est enim numerus quasi figura quaedam incorporea orta ex Unione Entium quorumcunque, v. g. DEI, Angeli, Hominis, Motus, qui simul sunt Quatuor«. 35 8 »Qvidam ingeniose magis qvam vere conj iciebant, angelos esse homines prioris mundi, salvatos bonos, damnatos diabolos. lta et nunc fore. > Grundkonzeption des Systems, nach welcher das Universum ein harmonisches, mathematisch-logisch gegliedertes Ganzes ist, Metaphysik und Mathematik daher als die grundlegenden Wissenschaf­ ten und die demonstrative Methode als die eigentlich wissenschaftliche Me­ thode zu betrachten sind«.361 Leibniz erläutert das in keiner anderen Schrift so deutlich wie in »De arte combinatoria«, deren ganze Begriffsordnung weitestmöglich aus der Mathematik, näherhin >>ex intima Variationum doc­ trina« genommen wird. Sie allein gebe dem Geist einen Leitfaden, mit dem er fast >>per omne infinitum« hindurch forschen kann, und sie fasse die har­ monia mundi, die intima constructiones rerum und die series formarum in eines zusammen ( 1 87, 24-26). Dem objektiven Konstruktivismus, der die Strukturen der Dinge durch Gottes Verstand erzeugt sein läßt, entspricht ein subj ektiver >Rekonstruktivismus< in Logik und Physik. Dieser Paralle­ lismus ist die Grundlage der theoretischen Satzwahrheit, die unter den obengenannten Begriff der >>convenientia« fällt.362 Leibniz' Modell der Pro­ portionskonvergenz faßt einerseits die Differenz zwischen den Konstruk­ tionen des unendlichen und den Rekonstruktionen des endlichen Verstandes rein quantitativ und somit als kommensurabeJ.363 Andererseits setzt die prinzipielle Uneinholbarkeit der Differenz die Approximation an die >>in­ nersten Konstruktionen der Dinge« zu einer regulativen Idee herab. Bacons epochentypische Vision der augmentatio scientiarum wird durch diese >schlechte Unendlichkeit< ebenso relativiert wie festgeschrieben. Die Unabschließbarkeit des Erkenntnisfortschritts wird allerdings vom frühen Leibniz nicht konsequent bedacht, da er zunächst am atomistischen Naturkonzept festhält. Zwar wird das Axiom aufgestellt, daß >>j eder Körper unendlich viele Teile hat oder, wie man für gewöhnlich sagt, daß das Kon­ tinuum ins Unendliche teilbar ist«.364 Doch entweder hat Leibniz hier nur die geometrische Teilbarkeit, nicht die physische Spaltbarkeit vor Augen36S, oder er geht fahrlässig mit dem Begriff des Infiniten um und meint eigent­ lich nur das Indefinite der Teilung mikrophysikalischer Erforschung.366 3 6 t Kabitz: Philosophie des jungen Leibniz, 6, 1 1 f. 3 62 In einer frühen Anmerkung zu Thomasius hält Leibniz fest, daß die »Veritas [ . . . ] Meta­ physica« »in convenientia rei cum intellectu Divino [ ! ] « bestehe, die veritas »logica« dagegen •in conveniemia intellectus cum re>nur der Abstand eines Teiles zu einem gegebenen anderen Teil betrachtet« werden, weil ein absoluter An­ fangs- und Endpunkt nicht vorhanden ist. Die Abstände werden daher >> ausgedrückt durch eine oder mehrere Linien, die eine Figur umschließen, am besten durch einen Kreis« :

37 0 »Ut lingua philosophica exprimi posset per numeros seu Arithmeticam, ita scriptura phi­ losophica posset etiam exhiberi per linearum ducturn seu geometriam, ita ut omnia problemata ac theoremata scientiarum non sint futura nisi theoremata Arithmeticae aut Geometriae, quibus alia omnia significari possunt. Quare ut in numeris semper explorari veritas potest, per novena­ rium, ita in lineis per tentamenta . « ( Characteristica, um 1 6 78-8 1 , VE Nr. 1 76, IV 798 GP VII 41) 371 Zum sprachphilosophischen Kontext vgl. Simon: Sprache und Raum. =

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Weil es nur bei der absoluten Lage >>ein größtes Verhältnis in bezug auf die Vorrangigkeit und Nachrangigkeit [prioritatis et posterioritatis ratio maxima] « gibt, heißt sie am besten >> Ordnung (ordo)>Anordnung (dispositio)«, die relative Lage dagegen >>Nachbarschaft (vicinitas)« oder >>Zusammensetzung (compositio) «.372 Lag nach den obigen Erläuterungen die variabilitas complexionum von 4 Elementen bei 1 5, so wird die variabi­ litas ordinis, d. h. das Variationspotential der Teile bei der absoluten Lage, durch deren Variationen schlechthin berechnet: >>Res 4 possunt transponi modis 24«, nämlich : 1 x 2 x 3 x 4, oder in der heutigen Form : 4! ( 1 72, 4-1 8). Nach diesen mathematisch-metaphysischen Anfangsgründen der Univer­ sal-Kombinatorik kann alles, was als Element oder Vielheit von Elementen gilt, der mathesis universalis unterworfen und kartographisch verortet oder vermessen werden. Denn wenn fast alle realia und conceptualia Teile haben, so >>mÜssen notwendig alle Dinge, die der Art nach unterschieden sind [quae specie differunt], sich entweder dadurch unterscheiden, daß sie an­ dere Teile haben« (daher der Nutzen der Lehre von den Komplexionen oder Verknüpfungen), >>oder dadurch, daß sie eine andere Lage haben« (da­ her der Nutzen der Lehre von den Dispositionen oder den unterschiedli­ chen Lagen der Teile zu ihrem Ganzen). Die Variation der Verknüpfungen betrifft also die Verschiedenheit der Materie (diversitas materiae), die Varia­ tion der absoluten Lagen die Verschiedenheit der Form (diversitas formae) . ( 1 77, 2 - 5 ) Leibniz erörtert i n seiner Dissertation zwölf mathematische Pro­ bleme mit exemplarischen Nutzanwendungen. Während ihre Anwendung auf das spatium corporale v. a. den Stand seiner atomistischen Naturphiloso­ phie zeigt, läßt ihre Anwendung auf das spatium entitativum Ansätze seines kategorialen Gegenentwurfs zum Lullismus erkennen.

3 72 Daß die relative Lage keine Priorität der Reihen- oder Rangfolge und somit auch keine Stellenvariation zuläßt, erläutert Leibniz am Einfall des Friedrich Taubmann, der als Dekan der Philosophischen Fakultät im öffentlichen Programm der Universität Wittenberg die Reihe der Magisterkandidaten in einem Kreisschema zusammengestellt habe, damit die neugierigen Leser nicht erkennen sollten, wer den »Schweineplatz«, d. h. den letzten Platz in der Bewertung einnahm.

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Erster Teil · Der Weg zum Systemzyklus ( 1 663-1 669)

Das Alphabet der Atome und die Komplikation ihrer Figuren: Zur Vermes­ sung des physischen Raumes - Der Nutzen der kombinatorischen Komple­ xionslehre für die Beschreibung und Berechnung des physischen Raumes ist offensichtlich. Von den zwei Problemen der ars inveniendi, zu einer ge­ gebenen Anzahl von Elementen deren Komplexionen zu finden, interessiert Leibniz am meisten die Ermittlung der Fälle bei einer Einteilung : z. B. die Frage, ob die in den Digesten tradierte Einteilung der Mandate in 5 Arten erschöpfend ist373, die Berechnung der möglichen Tonmodulationen bei ei­ ner OrgeJ374 oder die Ermittlung der Anzahl der Modi beim kategorischen Syllogismus. 375 Aufschlußreich für Leibniz' frühen Mechanizismus ist seine kombinato­ rische Rekonstruktion der bei Aristoteles vorgetragenen Anzahl der Ele­ mente, d. h. der »Arten des einfachen wandelbaren Körpers [corporis sim­ plicis mutabilis species] « .376 Ihre Zahl entspringt bei Aristoteles »ex numero Qualitatum primarum«, von denen er 4 voraussetzt (das Trockene und 373 •Bei den Rechtsgelehrten wird, De Mandato, Inst. 3, 27, I. 2, folgende Einteilung ge­ macht: Ein Mandat wird auf 5 Arten herbeigeführt: zugunsten des Auftraggebers, zugunsten des Auftraggebers und des Beauftragten, zugunsten einer dritten Person, zugunsten des Auf­ traggebers und einer dritten Person sowie zugunsten des Beauftragten und einer dritten Person. Die Zulänglichkeit dieser Einteilung werden wir folgendermaßen aufspüren. Ihre Grundlage ist das Ziel ,für wensubstantielle Form< billigen als dasj enige, wodurch die Substanz des einen Körpers sich von der des anderen unterscheidet ? Nichts ist richtiger als seine >erste Ma­ terie>Tatsächlich haben zuerst die Scholastiker so abschätzig von der Mathematik geurteilt, daß sie mit aller Anstrengung darauf hinarbeite­ ten, die Mathematik aus der Zahl der vollkommenen Wissenschaften auszu-

30 Moll: Der junge Leibniz, I 94-96, vertritt die These, daß Leibniz mit der Unterscheidung zwischen abstraktem Disputieren und konkretem Explizieren eine ganz spezielle Weigelsche Unterteilung der philosophia naturalis innerhalb der pars generalis aufgegriffen habe. Vgl. Wei­ gel : Analysis aristotelica, sect. 111, membr. 2, cap. 5, §§ 9-23. Das ist j edoch sehr konstruiert. Auch daß die Anerkennung der Haltbarkeit des Aristoteles innerhalb der »physica generalis« eine exklusive Eigenart Weigels war (I 1 9), darf man bezweifeln. Immerhin bescheinigt Moll großzügig, daß » Leibniz zusätzlich bei Gassendi noch einiges über Aristoteles gelernt« habe (1 96) und verweist auf eine Parallelstelle bei Gassendi zur Differenz zwischen abstraktem Dis­ putieren und konkretem Explizieren (II 1 1 7, Anm. 205). - Fragwürdig ist auch Molls Korrektur, die seine These von Leibniz' treuer Gefolgschaft gegenüber Weigel stützen soll. Daß die >>Mei­ nung der >ReformatoresEntweder wird gezeigt, daß die refor­ mierte Philosophie mit der aristotelischen versöhnt werden kann und ihr nicht widerspricht. Oder es wird darüber hinaus gezeigt, daß die eine durch die andere nicht nur erklärt werden kann, sondern auch muß, ja daß sich bereits aus den aristotelischen Prinzipien genau das ergibt, was von den Neueren mit so viel Pomp angepriesen wird. Auf dem ersten Weg wird die Möglichkeit der Versöhnung, auf dem zweiten ihre Notwendigkeit dar­ gelegt, obwohl freilich die Aufgabe schon als gelöst gelten darf, wenn die Versöhnung als möglich erwiesen wird>Autorität von de Raey verleitet« worden sei ( 1 2, 1 8 f.), der ihm diese >>Meditationen eingeflößt« habe ( 1 3 , 29). Dem hält Leibniz entgegen : >> Ich fürchte wahrlich nicht, daß Du glauben könntest, was ich bis jetzt gesagt habe, sei von de Raey ab­ geschrieben, oder ich folgte mehr seiner Autorität. Derartige Gedanken sind von mir schon erwogen worden, längst bevor ich von de Raey auch nur gehört habe. [ . . . ] Auch ist de Raey nun wirklich nicht der erste und einzige, der Aristoteles und die Neueren miteinander versöhnen will. Sca­ liger37 scheint mir der erste gewesen zu sein, der den Weg geebnet hat; in unseren Zeiten scheinen mir Kenelm Digby und sein Anhänger Thomas White dasselbe lange vor de Raey öffentlich von sich gegeben zu haben jener im Buch >Von der Unsterblichkeit der SeelePeri­ patetischen lnstitutionen>bleibt noch übrig, ihre Wahrheit aus sich selbst zu erweisen. Gerade so kann die christ­ liche Religion anerkannt werden, teils aus Vernunft und Geschichte, teils aus der Heiligen Schrift« (2 1 , 29-3 1 ).41 Zu dem Vielen, was der Schüler dem Lehrer zu >>beteuern wagt«, gehört deshalb auch eine fast schon end­ zeitliche Hoffnung, die sich mit der konkreten Ausgestaltung der refor­ mierten Philosophie verbindet. Wenn in ihr die beiden Extreme im Zeitalter der Berechnung, pietas und scientia, vermittelt sind und die Notwendigkeit Gottes für die entgötterte Natur erwiesen ist, kann >>den Atheisten, Sozinia­ nern, Naturalisten und Skeptizisten niemals überzeugungsstark entgegnet werden, solange diese Philosophie nicht fertiggestellt ist. Diese halte ich wahrhaftig für einen letzten Liebesdienst Gottes, den er seiner ins Greisen37 Julius Caesar Scaliger: Exotericarum Exercitationum liber XV. de subtilitate ad Hierony­ mum Cardanum, Paris 1 557. Leibniz zitiert ihn seit De principio individui häufiger. 3 8 S. o. 69, Anm. 123. 39 Thornas Anglus (Albius bzw. White): Institutionum peripateticarum ad mentem [ . . . ] K. Digbaei pars theoretica. Item appendix theologica de origine mundi, Lyon 1 646. 4 0 Abclias Trew: Physica aristotelica conscripta et redacta ad methodum accurate demonstra­ tivam, Nürnberg 1 656. 4 1 »Nunc conciliata iarn curn Aristotele philosophia reforrnata, restat, ipsius per se veritas ostendatur, prorsus quernadrnodurn religio Christiana, turn ex ratione et historia, turn ex scrip­ tura sacra probari potest.«

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alter gekommenen Welt gleichsam als einzige Planke schenkte, mit der sich fromme und kluge Menschen aus dem Schiffbruch des j etzt hereinbrechen­ den Atheismus hinüberretten sollten. Wie gering auch die Bekanntschaft mit gelehrten Männern war, die mir seit kurzer Zeit zuteil wurde, ich schau­ dere, sobald ich daran denke, wie vielen ich schon begegnet bin, die beides zugleich waren : geistvolle Köpfe und gänzliche Atheisten [ . . .]. Ich danke Gott von ganzem Herzen, daß er mich mit diesem Rüstzeug der Philoso­ phie [ . . . ] gewappnet hat«, um die >> Geschosse« des Atheismus42 mühelos >>abzuwehren« . (24, 3-8).43 Vor der Skizzierung des mechanistisch vereinnahmten Aristoteles, mit dem die christlichen Glaubensgeheimnisse vor dem atheistischen Schiff­ bruch gerettet werden können, ist zu erläutern, was Leibniz unter dem mechanice explicare versteht und wo er mit seiner atomistischen Form des Mechanizismus auf Probleme stößt. Beides verdeutlicht er in einer Skizze44, die er spätestens April 1 668 im Tumult eines Wirtshauses nieder­ schrieb und die 1 669 ohne Wissen und Nennung des Autors unter dem Titel » Confessio naturae contra atheistas« erschien.45 4 2 Leibniz denkt hier, in einem seltenen Anfall frommen, aber etwas blicktrübenden Eifers, v. a. an Jean Bodin: Colloquium heptaplomeres de abditis rerum sublimium arcanis - sechs Bü­ cher, die vor 1 593 verfaßt worden waren, nach Bodins Tod 1 596 in von der Zensur bedrohten Abschriften kursierten und erst 1 857 durch L. Noack vollständig veröffentlicht wurden. Leibniz wünscht sich (nicht nur) gegenüber Thomasius, daß sie nie erscheinen mögen. Bodin bekenne sich hier als »hostis [ . . . ] religionis Christianae«, und selbst die Dialoge des Vanini seien im Ver­ gleich damit eine spaßige Kleinigkeit (24, 8- 1 1 ). Als kurze Erklärung dafür, weshalb Bodins Dialog zwischen den sieben Religionen ein gefährliches Gift sei (so Leibniz an Arnauld, No­ vember 1 6 7 1 , A II 1, 1 76, 17 ff.), führt er in einem Brief an Spitzel vom Dezember 1 669 an, daß die Wortführer des jüdischen und mohammedanischen Gesetzes sowie der Vertreter der bloßen Naturreligion hier besser wegkommen als die Christen (A I 1, 8 1 , 13 ff.) . - Leibniz hat sich zwischen Herbst 1 668 und Frühjahr 1 669 Auszüge aus dem Colloquium gemacht und sie mit wenigen kritischen Bemerkungen versehen (A VI 2, 1 2 5 - 1 43). Hatte er zunächst noch pauschal abwehrend auf dem Kopf der ersten Seite resümiert: »NB. Haec omnia sunt op­ time refutata ab Hugone Grotio, Calixto, et Henicho, de veritate religionis Christianae« (ebd. 1 26, 24 f.), so beurteilte er den Heptalog später milder und befürwortete 1 7 1 6 sogar eine kritisch kommentierte Ausgabe (Dutens V 337). 43 »Quod superest illud confirmare ausim, Atheis, Socinianis, Naturalistis, Scepticis, nun­ quam nisi constituta hac philosophia solide occursum iri : quam ego profecto munus Dei credo senectae mundi datum velut vnicam tabulam, qua se viri pii ac prudentes in incumbentis nunc Atheismi naufragio seruaturi sunt. Ego quantulacunque mihi fuit ab exiguo tempore virorum doctorum notitia, horresco tarnen, quoties cogito, in quot simul et ingeniosos, et prorsus atheos inciderim. [ . . . ] Deo ex animo gratias ago, quod iis me praesidiis philosophiae [ . . . ] instruxerit, quibus eius tela nullo negotio repuli«. 44 Turck: Die Metaphysik der Natur bei Leibniz, 1 8, hat sie treffend »das Programm der neuen mechanistischen Naturphilosophie« genannt. 45 Im Hauptbrief an Thomasius schreibt Leibniz: » Ich habe einst in Muße, aber umgeben von den hastigen Geschäftigkeiten in einer Gaststätte, etwa zwei Papierbögen vollgeschrieben, auf denen ich versuchte, akkurater als sonst üblich die Unsterblichkeit der Seele und die Exi-

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b) Die Autonomie der mechanischen Naturerklärung und die begründungslogische Notwendigkeit metaphysischer Postulate Das >>Bekenntnis zur Natur gegen die Atheisten« besteht aus zwei Teilen, die je einen theologischen Beweis enthalten. Das Beweisziel von >>PARS I . « lautet, >>daß sich über die körperlichen Phänomene keine Rechenschaft ablegen läßt46 ohne ein unkörperliches Prinzip, d. h. Gott [quod ratio Phae­ nomenorum Corporalium reddi non possit, sine incorporeo Principio, id est DEO.« (A VI 1, 489, 5 f.)47 Wie verträgt sich das mit der durchgängigen mechanischen Erklärbarkeit der Natur ohne Rekurs auf Gott, die Leibniz ebenfalls forderte ?

Die Qualitäten der Körper selbst und die multiperspektivische Variation ih­ rer Erscheinungen: Mechanizismus und perspektivischer Realismus - Mit dem Fortschritt der mathematicae artes und mit der Erforschung der rerum interiora >>per Chemiam et Anatomiamrationes ex Corporum figura motuque velut mechanice reddi posse>gleichsam auf mechanische Weisemachina mundi«56 zunächst nur in der Astronomie, wo sich das Planetensystem all­ mählich wie ein Glockenspiel darstellte und die >>animae motrices« der Him­ melskörper seelenlosen >>vires« weichen mußten57, so fand der Mechanizis­ mus mit Descartes auch Einlaß in die Anthropologie.58 Die Auffassung der Natur nach dem Analogon der Maschine »erklärt« deshalb so viel, weil wir Maschinen selbst konstruieren und daher ihre technischen Funktionen und Gesetze exakt beschreiben können. In diesem Sinne nennt auch Leibniz den menschlichen Organismus ein verwirrtes Uhrwerk59, den ordo puleher der unbeseelten Natur im ganzen aber >>horologium Dei«, weil die Körper als solche keine >>sapientia>appetitus>hoc Horologio Mundi>rationem mechanicam reddereex motu [ . . . ] et magnitu­ dine figuraque>was ebenso ist, als ob man ihre Wesenheit anschaut«) -, wie diese Stadt >>anders erscheint, wenn man sich ihr von außen nähert« ( >>was ebenso ist, als ob man Qualitäten eines Körpers wahrnimmt«), und >>wie sich die äußere Ansicht der Stadt selbst verändert, je nachdem, ob man sich ihr von der östlichen oder von der westlichen Seite usw. nähert : so wandeln sich entsprechend der Verschiedenheit der Organe auch die Qualitäten« (A II 1, 1 8, 1 1 - 1 5).67 Die multiperspektivische Variation eines Stadtpanoramas wird bis in die Spätschriften Leibniz' Lieblingsbeispiel bleiben, um die Differenz zwischen den Körpern als solchen und ihrer Er­ scheinung für uns zu erläutern.68 Denn es vereinbart die realistische Mini­ malontologie der exakten Naturwissenschaften mit einer Philosophie der Erscheinung, die nach und nach fast transzendental-idealistische Züge er­ halten wird. Zwar ist der empirische Realismus bei Leibniz wenig raffiniert ähnlich im Discours de metaphysique, 12: »On peut meme demonstrer que Ia notion de Ia gran­ deur, de Ia figure et du mouvement n'est pas si distincte qu'on s'imagine, et qu'elle enferme quel­ que chose d'imaginaire et de relatif a nos perceptions« (GP IV 436). 6 7 >> Vti enim eadem ciuitas aliam sui faciem offert, si a turri in media vrbe despicias (in Grund gelegt) quod perinde est ac si essentiam ipsam intueare; aliter apparet, si extrinsecus accedas, quod perinde est ac si corporis qualitates percipias; et vt ipse ciuitatis externus aspectus variat, prout a latere orientali aut occidentali, etc. accedis : ita similiter pro varietate organarum variant qualitates.« Vgl. an Arnauld, November 1 6 7 1 , A li 1, 1 70, 22-25. 68 Vgl. etwa Discours de metaphysique, 9 (GP IV 434); Monadologie 57 ( G P VI 6 1 6).

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gegenüber demj enigen, den Kant später bei der Widerlegung des subjekti­ ven Idealismus vertritt; denn dem frühen Leibniz gilt der Raum noch als ein substantiell Reales. Gleichwohl ist das einzige, was Leibniz als Wesen­ heit der körperlichen >>res ipsa« gegenüber ihren subj ektiven Erscheinungs­ weisen festhält, nur das variable Ensemble ihrer primären Qualitäten. Wenn er behauptet, daß >>die Wesenheit (eines Körpers) von ihren Qualitäten nur durch die Beziehung zur Sinnlichkeit unterschieden ist [essentiam a quali­ tatibus suis non nisi relatione ad sensum differe] « ( 1 8, 8-1 1 ), so meint er mit den variierenden Qualitäten nur die wahrgenommenen. Die Form des Körpers selbst, die j eder Außenweltrealismus mehr oder weniger re­ flektiert unterstellt, ist dagegen nur die Lage der Binnenkorpuskeln zuein­ ander, die als immun gegenüber ihrer >multiplikativen< Darstellung in den unterschiedlichen Gesichts-Punkten gedacht wird. Die >>wahrnehmbaren Qualitäten verhalten sich so zur Form des Körpers selbst, wie sich die Ver­ schiedenheit der Erscheinungen zur Anlage der Stadt selbst verhält; diese Erscheinungen wandeln sich mit veränderter Stellung des Betrachters auf vielfältige Weise« ( 1 1 , 2-4).69 Dieser Außenweltrealismus des Leibnizschen Perspektivismus steht heute gern unter Naivitätsverdacht. Doch scheint es zu dieser minimalisti­ schen Ontologie unter zwei Aspekten kaum eine Alternative zu geben. Sie hält erstens eine Bedingung für alle Realitätsgewißheiten fest, die auch der (post)moderne >Perspektivist< und >lnterpretationist< kaum abstreifen kann: Die Ursache dafür, daß ich vom Kölner Dom aus etwas anderes sehe als vom Eiffelturm, muß irgendwie von der >>Form« der Städte selbst abhän­ gen, was immer diese Form sein mag, wenn kein Auge sie mehr wahr­ nimmt. Es ist gewissermaßen die Unsterblichkeit des Auges, das sich nicht wegdenken kann und ein widersinniges Reden von >Dingen an sich betrach­ tet< provoziert, welche das Optische oder die Turmperspektive des Kopfes als die gegenüber allen anderen Sinnen privilegierte Zugangsart zur essentia ipsa auszeichnet: >> Visus enim ad rem videtur se habere, vt is, qui ex summa turri urbem despicit« ( 1 1 , 4 f.). Nur wenn der visuelle, vom Vorstellen und Denken interpretierbare Gesichts-Punkt, den das Pentagon durch das Zen­ trum e darstellt, ein leibgebundener Fluchtpunkt des Räumlichen bleibt, in den von außen sinnliche Gegebenheiten einfallen, behält die Rede von unterschiedlichen optischen Perspektiven, die zugleich Bedingungen für verschiedene abstrahierte Weltbilder sind, ihren Sinn. Ließe sich dem Ge­ sichts-Punkt nicht mittelbar, durch seine Gebundenheit ans optische Senso6 9 »Qualitates sensibiles ita se habent ad formam ipsius rei, uti se habet ad ipsum vrbis situm varietas apparemiarum, quae mutato intuentis situ multipliciter variamur« .

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rium, eine Lage zusprechen, so käme es mit der Ortsbewegung des Kopfes und des Sehfeldes auch nicht zu verschiedenen Stand-Punkten und somit nicht zur »varietas apparentiarum«. Auch läßt sich ohne die ontologische Hypothese einer bewußtseinsunabhängigen Struktur ein Unterschied zwi­ schen den standpunktbedingten Veränderungen der Panoramen und den betrachtungsunabhängigen Veränderungen der Stadtanlage, die wir etwa bei einem Erdbeben in einer Geisterstadt unterstellen, nicht mehr explizie­ ren. Deshalb bleibt eine exakte Korrespondenz zwischen den visuellen Per­ zeptionen in einem Gesichts-Punkt und den leiblichen Affektionen durch Grenzpunkte der Außenwelt das Hauptpostulat der Prästabilierten Har­ monie/0 Von der Turmaussicht des Kopfes, d. h. von der massiven >Evi­ denz< gestalthaften Sehens aus werden folglich auch die anderen Sinne inter­ pretiert : >>Das Gehör ist auf derselben Höhe dem von außen Betrachtenden ähnlich. Der Tastsinn gleicht demj enigen, der die Gassen der Stadt im Durchkriechen von nahem berührt. So ist es durch die nicht ungeschickte Ansicht von Soner71 erläutert worden, der das Akzidens von der Sache selbst lediglich in Hinsicht auf den Wahrnehmenden unterschieden hat. Dies ist, wenn man jene ersten ( Qualitäten), Größe, Figur und Bewegung, davon ausnimmt, sehr richtig.> Grundrisses >Mecha­ nischbestmöglichen Welt>Musculi nostri caeteraeque partes motrices animalis, quatenus mechanice agunt [!] ad Elastri modum, inanimati rationem habent, usuque moderato roborantur et ad varia aptantur. « (A VI 2, 554, 36-38) 75 »II faut tousjours expliquer mathematiquement et mechaniquement, pourveu qu'on s�a­ che que !es principes de Ia mechanique ne dependent point de Ia seule etendue« (an Foucher, 1 686, GP I 383). - »De vouloir tout expliquer Mechaniquement en Physique, ce n'est pas un crime ny impiete« (an Philippi, Januar 1 680, GP IV 285). - •Je croy que tous !es phenomenes de Ia matiere sont explicables par des loix mechaniques Confessio naturae« lautet, >>daß nicht einmal der Ursprung dieser ersten Qualitäten in der Natur des Körpers gefunden werden kann [ne harum quidem primarum qualitatum originem in natura corporis reperiri posse] « /8 Die erhoffte Beweisabsicht ist, hierdurch die »naturalistae nostri«, d. h. die Vertreter eines mechanistischen Reduktionis­ mus ohne Gott, davon zu überzeugen, >>daß die Körper sich nicht genügen und ohne ein unkörperliches Prinzip nicht bestehen können« . (A VI 1 , 490, 8-1 1 ) Um zu zeigen, daß dasj enige, >>quae in corporibus sensu apparent«, nicht hinreichend begründet werden kann >>sine suppositione causae incor­ poralis«, zieht sich Leibniz in die epoche einer gleichsam cartesianischen Meditation zurück, um nach Einklammerung aller praejudicia ein rein ge­ dankliches >>anatomen corporis« durchzuführen (489, 27-29). Der Beweisgang beginnt mit einer definitio corporis, die mehr oder min­ der deutlich von allen Menschen geteilt werde, nämlich >>spatio inexistere« . Daß Leibniz dies ausdrücklich eine Kombination zweier Termini (spatium und inexistentia) nennt und zunächst nur eine Analyse des Raumbegriffs vornimmt, zeigt schon, daß sein Begriff vom Körper nicht, wie der von Descartes, bloß geometrisch-phoronomisch beschränkt ist, sondern mit der >>inexistentia« auch dynamische Attribute hinzunimmt.79 Leibniz legt dar, daß der zureichende Grund (>>ratio plena«) für die besondere Größe, Figur und Bewegung eines gegebenen Körpers weder in den Primärqualitä­ ten noch in kausal erforschbaren Eigenschaften gefunden werden kann.

(490, 1 2- 1 6) 77 Von einer »Autonomie der mechanischen Naturerklärung« bei »fehlender Eigenständig­ keit« spricht im Hinblick auf den späten Leibniz auch Gurwitsch: Philosophie des Panlogismus, 3 6 1 ; er folgt hiermit Gueroult: Dynamique et metaphysique leibniziennes, 1 5 9 ff. 78 Kabitz : Philosophie des jungen Leibniz, 56, hat bemerkt, daß Leibniz mit dieser und der ähnlichen Formulierung, »qualitates istae ex definitione corporis deduci non possunt« (490, 12 f.), die falsche Erwartung weckt, als ließen sich »die Eigenschaften der Gestalt und Größe überhaupt nicht aus dem Wesen des Körpers erklären« . Tatsächlich meint Leibniz hier nur, daß sich nicht alle primären Qualitäten, nämlich nicht die tatsächlichen Bewegungen, aus dem Begriff des Körpers ableiten lassen. 79 Kabitz: Philosophie des jungen Leibniz, 56, bemerkt treffend: • Leibniz geht [ . . . ] aus von einer Definition des Körpers, welche im Grunde auf diejenige Descartes' und Hobbes' hinaus­ kommt: das Wesen des Körpers besteht in seinem Dasein im Raum.matter in motion< als ein Letztes hinzunehmen oder nicht. Kaum eine andere Stelle zeigt so deut­ lich, wie sehr Leibniz die Überzeugungskraft von Beweisverfahren bei sol­ chen letzten Fragen überschätzt. Wenn man ihn in irgendeinem Sinne als >Rationalisten< bezeichnen darf, dann in diesem. Der Verdacht berührt wohlgemerkt nicht die Pflicht zur rationalen Begründung und Rechtferti­ gung des Handelns. Er betrifft das Vertrauen in die motivierende Kraft for­ maler Argumente für einen Umsturz der Überzeugungsbereitschaft. Als ob das Lebensgefühl eines Atheisten durch die Bewußtmachung einer unvoll­ ständigen Kausalkette umgestimmt würde ! Was die >> Confessio>spatio inexistere« ist noch nicht ausgeschöpft, wie der folgende Gedankengang zeigt. 83 >> Ich werde hier, weil dies Aufgabe einer tieferen Untersuchung wäre, davon schweigen, daß bisher nicht einmal die Ursache der Festigkeit der Körper von irgend j emandem aus der Natur der Körper selbst abgeleitet worden ist. «84 Statt näher auf die >>consistentia corporum« einzugehen, begnügt sich Leibniz damit, drei dynamische Grundeigenschaften der Körper darzulegen, die alle der physischen Konsistenz, d. h. dem >>inexistere« des Körpers, nicht seinem >>spatium«, entspringen.

8 3 Ähnlich wie Strecker: Der Brief des Leibniz, 55 f., und Kabitz (s. o. 239, Anm. 79) gelangt auch von Engelhardt, 423, Anm. 4, zu der falschen Einschätzung, Leibniz lege mit der Formel »Spatium inexistere>die moderne Definition des Körpers nach Descartes zugrunde«, der zu­ folge das Wesen des Körpers bloß darin besteht, »ein in die Länge, Breite und Tiefe ausgedehn­ tes Ding« zu sein (vgl. Descartes : Principia philosophiae, II 4, AT VIII 42). - Im Gegensatz zu ihnen hat Turck: Die Metaphysik der Natur bei Leibniz, 2 1 , erkannt, daß die Konsistenz gerade dasjenige am Körper ausmacht, was ihm »zusätzlich über die Räumlichkeit hinaus zukommt«, und insofern genau dasjenige ist, was Leibniz im Hauptbrief an Thomasius das »Corpus physi­ cum« (im Unterschied zum »corpus mathematicum«) nennt. 8 4 »Tacebo hoc loco, quia altioris indaginis res est, ne causam quidem consistentiam corpo­ rum hactenus ab ullo ex ipsa corporis natura redditam esse« . Das mißversteht von Engelhardt, 35, folgendermaßen: »Hier muß ich mich nun noch länger aufhalten, da die Tatsache gründ­ licherer Überlegung wert ist, daß bisher nicht einmal [ . ] abgeleitet worden ist« . Abgesehen von der Evidenz des »tacebo« begründet Leibniz durch den mit >>quiaresistentia« oder der Bewegungswiderstand besteht darin, >>daß ein großer Körper einem kleinen nicht weicht, der gegen ihn stößt>daß Körper oder Teile von Körpern untereinander zusammenhängen«. Dieser molekulare Zu­ sammenhalt ist wichtig, weil aus ihm j ene qualitates tactiles resultieren, die man gewöhnlich die >>sekundären«86 nennt. Als Beispiele nennt Leibniz konträre Empfindungsqualitäten wie Festigkeit und Flüssigkeit (soliditas­ fluiditas), Härte und Weichheit (durities-mollities), Glätte und Rauhigkeit (glabrities-aspritudo), Zähigkeit und Brüchigkeit (tenacitas-fragilitas), aber auch nicht-konträre Eigenschaften spezifischer Materien, die für die Metall­ verarbeitung wichtig sind : Zerreibbarkeit (friabilitas), Nachgiebigkeit beim Ziehen (ductilitas), Verformbarkeit durch Hämmern (malleabilitas) sowie Schmelzbarkeit (fusibilitas). Die >>reflexio« schließlich, wie Leibniz seit dem >Pentagon< die Repulsion oder den Rückprall nennt, besteht darin, >>daß ein harter Körper, der gegen einen anderen nicht ausweichenden stößt, zurückgestoßen wird [quod corpus durum corpori non cedenti impingens reflectitur] « . (49 1 , 1 9-23) Leibniz sieht keine Möglichkeit, die Quelle dieser drei Eigenschaften, die Konsistenz, aus den geometrischen Primärqualitäten der magnitudo, figura und mobilitas abzuleiten. In dieser Irreduzibilität entdeckt er einen Erden­ rest, der für den mechanisch erklärenden Physiker zu tragen peinlich ist. Denn sie läuft darauf hinaus, daß die >>consistentia« entweder als eine vierte primäre Obj ektsqualität gelten muß oder, falls sie sich nicht auf einen deut­ lichen Begriff bringen läßt, daß sogar ihre drei Resultanten in drei neue, unvermittelt nebeneinander bestehende Objektsqualitäten auseinanderbre­ chen. Angesichts dieser mißlichen Prinzipienvermehrung ist Leibniz' fol­ gende Äußerung nicht ironisch gemeint, sondern eine Beschwörung des epi­ stemologischen Wunschtraums kausal-mechanischer Naturerklärung. >>Wer mir den Grund dieser Eigenschaften aus der Gestalt, Größe und Bewegung der Materie ableitete, den würde ich gerne einen großen Philosophen nen­ nen.« ( 49 1 , 24 f.)87 Daß die Grundeigenschaften der Resistenz, der Kohäsion und des Rückstoßes bislang nicht mechanisch, d. h. nicht rein aus den Bewe8 5 Leibniz hat die Einschränkung der Formel ••quod corpus grande parvo impellenti non ce­ dit« durch ein »ceteris paribus• wohl nur aus Flüchtigkeit vergessen und nicht leugnen wollen, daß der Bewegungswiderstand außer von der Größe der Körper auch vom Gewicht und der Dichte der Masse abhängt, so daß z. B . eine große Papierkugel einer kleineren Bleikugel weniger Bewegungswiderstand entgegensetzt als umgekehrt. 86 Nach der Korrektur in A VI 2, 529, ist »qualitates [ . . . ] secundas• statt »fecundas>fast einzigen Weg«, auf dem Bewegungs­ widerstand und Rückstoß mechanisch erklärt werden könnten, nämlich: >>daß ein Körper einem anderen, der gegen ihn stößt, deshalb Widerstand leistet und ihn selbst zurückstößt, weil seine Teile auf der Oberfläche un­ merklich in Richtung auf den gegenstrebigen Körper bewegt werden>Nehmen wir an, daß der stoßende Körper nicht auf derj enigen Linie einfällt, auf der die Teile des Körpers, der gestoßen wird, entgegentreten werden, sondern auf einer anderen Linie, möglicherweise einer schiefen; natürlich würde dann sofort j ede Gegenwirkung, j eder Widerstand und Rückstoß aufhören, was gegen die Erfahrung ist>vielmehr reißt er die übrigen Teile, die mit ihm zusammenhängen, mit fortinstrumenta implicatoria«, wel­ che die Teilchen zusammenhalten sollen, selbst absolut »fest und zäh« sind. Ihre eigene Festigkeit läßt sich nicht wieder erklären, auch nicht durch die Vorstellung immer feiner werdender >>Haken von Haken ins Unendliche«.92 ( 492, 4-7) Leibniz erkennt in der Hypothese des physikalischen Atomismus zwar eine scharfsinnige Antwort auf die Schwierigkeit, >>in ultima corporum resolutione« eine letzte Ursache für den inneren und äußeren Zusammen­ halt der Materie zu benennen. Mehr als ein bloßer Name sind die insecabilia corpuscula j edoch nicht, wenn kein weiterer Grund für die Kohäsion und Unzerteilbarkeit der letzten Teilchen angegeben wird. Mit der Annahme unterschiedlich gestalteter Atome und ihrer molekularen Komplexionen könnten vielleicht die variae corporum sensibilium qualitates erklärt wer­ den. Unerklärt bleibt aber die intraatomare und interatomare Bindung der Materie: >>In istis ultimis corpusculis nulla apparet ratio cohaerentiae et in9 1 Magnenus : Democritus reviviscens sive de vita et philosophia Democriti, Pavia (Ticini) 1 646. Leibniz hatte diese Schrift schon in De arte combinatoria (A VI 1, 2 1 6, 26 f.) in einem Zuge mit Gassendis Epikur-Darstellung zitiert. 92 »Sed unde ipsis tenacitas ? an hamos hamorum supponemus in infinitum ? Sed quae dubi­ tandi ratio in primis erit, ea et in secundis et tertiis erit sine fine«.

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secabilitatis« .93 Die Vorstellung von unspaltbaren Bausteinehen der sichtba­ ren Welt verliert ihre Faszination durch die Einsicht, daß die Unspaltbarkeit selbst ein Glaubensinhalt, wenn nicht gar >irrational< bleibt.94 Denn es gibt keinen Grund auszuschließen, daß die Teilchen bei entsprechend großem Druck durch andere spitze und scharfe Teilchen zerspalten werden können (492, 7- 1 1 ). So entdeckt Leibniz bereits 1 668 eine markante Aporie des Atomismus.95 Ist er szientifisch schon ein Atomist mit schlechtem Gewissen, bleibt er es

93 Somit trägt schon der frühe Leibniz das Hauptargument vor, das er 1 690 in der Demon­ (GP VII 284-88) näher ausführen wird. Leibniz referiert zwar noch den Versuch einiger »veteres«, die intraatomare Haftung folgendermaßen zu erklären: »partes Atomorum ideo cohaerere, quia null um intercedat vacuum«. Diese Vorstellung sei j edoch so ab­ surd, daß die Neueren sich ihrer schämten. Einen fehlenden Zwischenraum zwischen den Ma­ terieteilchen zur Ursache für deren Zusammenhaften zu erklären, liefe darauf hinaus, »daß alle Körper, die einmal aneinandergegrenzt haben, unzertrennlich nach dem Vorbild der Atome zu­ sammenhängen müssen, weil an keiner Berührungsstelle zwischen den Körpern ein leerer Raum dazwischentritt. Nichts ist ungereimter als eine solche ewige Zusammenhaftung, und nichts ist weiter von der Erfahrung entfernt« (492, 1 2 - 1 6). Nach dieser Theorie würde die Natur bald zu einem einzigen Atomkomplex erstarren. - Die Theoria motus abstracti (A VI 2, 275, 1 2 - 1 5) ver­ weist darauf, daß die abenteuerliche Erklärung referiert ist bei Gassendi: Syntagma philosophi­ cum (Opera I, 258 f.). 94 Auf diese Schwäche, gegen die schon Laktanz polemisiert hatte (vgl. Laßwitz: Geschichte der Atomistik, I 19 f.), verwies auch Descartes: Principia philosophiae, II 20, AT VIII 51 f. Ein etwas naives Unterlaufen des zureichenden Grundes versucht C apek: Leibniz an Matter and Memory, 84. Laktanz' Einwand sei »silly«, »a basic misunderstanding of the logic of ato­ mism«; angeblich brauchen die Atomisten gar keine Erklärung der Kohäsion, »since the cohe­ sion of the atoms and of their parts - including the hooks, proj ections, etc. - followed from their definition« ! 9 5 Mol l : Der junge Leibniz, I 1 2 1 , glaubt, daß Leibniz in der Confessio naturae eine »drei­ fache Aporie« i n der »Substanztheorie des Atomismus« entdeckt habe: 1. das alte philosophi­ sche Problem der Entstehung der spezifischen Körpergestalten; 2. die zureichende Erklärung sowohl der Herkunft des >motus localis< wie seiner Auswirkungen; 3. das Problem von Ko­ häsion und >Soliditas< von Körpern«. Wie der Beweisgang der Confessio zeigte, hält Leibniz j edoch die Punkte 1 und 2 weder für Aporien noch überhaupt für Mängel des atomistischen Konzeptes, sondern für prinzipielle Grenzen j eder naturwissenschaftlichen Erklärung. Viel­ leicht erklärt sich Molls Mißverständnis - das sich auch schon bei Strecker: Der Brief des Leib­ niz, 56, und bei Kabitz : Philosophie des jungen Leibniz, 58, findet - u. a. aus seiner unklaren Ver­ hältnisbestimmung von Atomismus und Mechanizismus. Wenn Moll behauptet, Leibniz zeige sich 1 668 »unbefriedigt« von »der mechanistischen Theorie und der damit verbundenen quan­ tifizierenden Methodik«, weil » diese« die » Problematik« der angeblichen »drei Aporien« »nicht rational aufzuklären« erlaube (ebd.), so vermengt er Leibniz' spezifisch atomistischen Materie­ begriff mit dem mechanistischen Methodenbegriff, obwohl er die Differenz beider abstrakt re­ klamiert (li 1 0 1 u. 1 1 5). Daß Moll beide Ebenen ständig vermischt, zeigt auch der Titel seines II. Bandes. Ein »Übergang vom Atomismus zu einem mechanistischen Aristotelismus« unterstellt, daß beide Begriffe eine echte Standpunkt-Dichotomie markieren und daß Leibniz den atomisti­ schen Ansatz der Confessio in den Briefen an Thomasius verlassen hat. Molls Datierung des an­ geblichen Übergangs ist zudem unklar. Einerseits soll Leibniz sich »im Jahre 1 668 endgültig vom atomistischen Substanzbegriff distanziert« haben (II 1 00; auch II 89 u. I 1 7). Andererseits

stratio contra atomos

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theologisch noch mit gutem. Denn hier ist nicht nur ein Erklärungsdefizit, sondern endlich j ener gordische Knoten, der würdig ist, durch den deus ex machina aufgelöst zu werden (s. o. 232 u. Anm. 50). Deshalb sei es »rich­ tig«, zur Begründung der Unteilbarkeit der Atome >>letztlich die Zuflucht zu Gott zu nehmen, der j enen letzten Grundlagen der Dinge ihre Festigkeit verbürgt« .96 Gott bewahrt die Atome und somit ein Lieblingsmodell der mechanischen Naturerklärer - eine wahrlich salomonische Vermittlungspo­ sition ! >>Ich wundere mich, daß weder Gassendi noch ein anderer unter den höchst scharfsinnigen Philosophen des Jahrhunderts diese glänzende Gele­ genheit ergriffen hat, um die göttliche Existenz zu beweisen. Denn bei der letzten Auflösung der Körper wird offenbar, daß die Natur der Hilfe Got­ tes nicht entbehren kann« . (492, 1 7-20) Leibniz nennt diesen >physikali­ schen< Gottesbeweis >>demonstratio ex eo principio : qvod in corporibus nulla sit origo consistentiae« (494, 1 1 ) und beendet Teil I der » Confessio na­ turae« mit einem theologischen Resümee, in dem drei weitere der fünf im » Conspectus« unterschiedenen Gottesbeweise gut zu erkennen sind. >>Da wir aber bewiesen haben, daß Körper > La douleur n'est que dans l'entendement« (AT IV 85). 10 5 So etwa Jonas: Organismus und Freiheit, 82, Anm. 9, der sich j edoch nur auf Descartes bezieht. Er verläßt sich blind auf die einschlägige Materialsammlung von Cohen Rosenfield: From Beast-Machine to Man-Machine, und zitiert Descartes-Stellen falsch oder unvollständig. 1 06 Nach der Nova methodus sind Tiere deshalb dressurfähig, weil ihr Lust- und Schmerz­ empfinden durch Belohnung und Bestrafung konditioniert werden kann (A VI 1, 267-270 u. 275, 7- 1 1 ).

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gen Descartes - in den Bannkreis des radikalen Flügels der Cartesianer. Der früheste Beleg, der den Tieren expressis verbis das Empfinden abspricht, ist der Brief an Hobbes vom Juli 1 670, wo es heißt, >>daß es bei Tieren keine wirkliche Empfindung gibt, sondern nur eine scheinbare : nicht mehr, als es eine Schmerzempfindung in siedendem Wasser gibt« (A II 1 , 58, 27 f.). Nicht früher zu datieren ist der vierte Entwurf der » Eiementa juris natura­ lis« (im folgenden EJN), in dem Leibniz sich über den >>volkstümlichen Irrtum« derer erhaben wähnt, >>die sich auch in den vernunftlosen Lebewe­ sen irgend was weiß ich für ein Etwas von Vernunft einbilden, das sie selbst Sinnesvermögen nennen« (A VI 1, 465, 2 f.) I 07; ähnlich EJN 5 mit der Unter­ scheidung zwischen Person und Sache : >>Person ist j eder, der sich liebt, d. h. j eder, der durch Lust oder Schmerz erregt wird. Tiere haben weder Lust noch Schmerz noch Sinnesempfindung: nicht mehr als eine Maschine oder ein Spiegel>Furcht« gezogene Schlußfolgerung handelt. >>Wenn Sie sich doch auch etwas deutlicher über die Natur des Geistes ausgelassen hätten ! Denn auch wenn Sie die Empfin­ dung richtig definiert haben als eine dauernde Rückwirkung, so gibt es doch [ . . . ] in der Natur der bloß körperlichen Dinge keine wirkliche dau­ ernde Rückwirkung; vielmehr scheint sie bloß den Sinnen so, während sie tatsächlich unterbrochen ist und stets durch etwas neues Äußeres her­ vorgerufen wird. So fürchte ich, daß man nach dem Durchdenken aller Pro­ bleme sagen muß, daß es bei Tieren keine echte Empfindung gibt, sondern nur eine scheinbare : nicht mehr, als es eine Schmerzempfindung in sieden­ dem Wasser gibt. Eine echte Empfindung aber, wie wir sie in uns selbst wahrnehmen, kann nicht bloß aus der Bewegung von Körpern erklärt wer­ den; zumal jener Satz, den Sie häufig anführen: jeder Beweger ist ein Kör­ per, meines Wissens nirgendwo bewiesen worden ist« (A II 1 , 58, 2330). 1 09 Die >fürchterliche< Schlußfolgerung läßt sich erahnen; sie ergibt =

1 0 7 Das Konzept, geschrieben zwischen 1 670 und 1 67 1 , spricht von denen, »qvi sibi in brutis qvoqve nescio qvid rationis qvod ipsi sensum vocant, populari errore fingunt«. 108 »Persona est qvisqvis amat se seu qvisqvis voluptate vel dolore afficitur. Brutis nec volup­ tas nec dolor nec sensus, non magis qvam machinae aut speculo« (korrigiert nach A VI 2, 528). 1 0 9 »De natura Mentis utinam etiam aliqvid distinctius dixisses. Qvanqvam enim recte defi­ nieris sensionem: reactionem permanentem, tarnen [ . ] non datur in rerum mere corporearum natura reactio permanens vera, sed ad sensum tantum, qvae revera discontinua est, novoqve aliqvo externo semper excitatur. Ut proinde verear ne omnibus expensis dicendum sit in brutis non esse sensionein veram, sed apparentem, non magis qvam dolor est in aqva bulliente: at .

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sich aus drei verketteten Argumenten, die sich so formulieren lassen : 1. Alle >Tierseelen< setzen sich rein aus Körpern zusammen (dieses Argument teilt Leibniz im Brief stillschweigend mit Hobbes 1 1 0). 2. Alle Empfindung ist eine reactio permanens. 3. In der Natur der bloßen corporea kann es keine solche dauerhafte Rückwirkung geben. 4. Folglich können Tiere keine Empfindung haben. Die drei dunklen Voraussetzungen sind zu erläutern.

Die Austreibung des Animismus aus der Wissenschaft - Die Argumente 2 und 3 werden in EJN 6 vorbereitet. >>Bei Tieren gibt es weder Lust und Schmerz noch Empfindung, geschweige denn Vernunft. Denn wie es kein Leben, d. h. keine verschiedenartige spontane Bewegung bei Pflanzen und Tieren gibt (außer dem täuschenden Anschein nach, denn wir meinen, daß sie sich selbsttätig bewegen, weil wir ihre Motoren nicht erkennen) - so gibt es bei ihnen auch keine Empfindung, d. h. kein Wirken auf das eigene Erleiden. Äußere Verhältnisse machen beim Tier die Empfindung aus, näm­ lich Repräsentation und geregeltes Wirken. Jedes Wesen, das wahrnimmt, repräsentiert nämlich teils wie ein Spiegel ein Obj ekt, teils läuft es auf gere­ gelte und auf ein Ziel hin geordnete Weise ab wie ein Uhrwerk.lebendiger Spiegel< monadischer Innerlichkeit. Entsprechend ist das sensornotorische System der Tiere ein horologium, ein Funktionszusam­ menhang ohne >inneren Sinn>Automatenmentalite primitive< einer animistischen Allbeseelung waren. >>Wenn j emand erstmals einen Spiegel sähe, ohne hierüber aufgeklärt zu sein, so würde er sich vermutlich einbilden, daß eine Erkenntnis in diesem verarn sensionern qvarn in nobis experirnur, non posse solo corporurn rnotu explicari. Praesertirn curn illa propositio: omnis motor est corpus, qvae saepe uteris, non sit qvod sciarn, unqvarn de­ monstrata« . 1 1 0 S o auch Kulstad : Leibniz an Apperception, Consciousness, and Reflection, 70: >>Beasts have no incorporeal soul. This is already implicit in the [ . . . ] Ietter to Hobbesin einer weniger umsichti­ gen Weise« gefolgt sei. Epikur »teilte den Tieren Vernunft zu, insofern er die vernünftige Seele aus jenen Atomen zusammengefügt sein ließ, welche er auch den Tieren beilegte« . Die Konsequenz sei aber gefährlich : »Was [ . . . ] den Christen für die Rettung der Unsterblichkeit der Seele übrig bleibt, wenn sie den Tieren ihre Vernunft zuerteilen, sehe ich nicht.« Unter­ scheide man nämlich nicht streng die immaterielle und somit unzerstörbare anima rationalis des Menschen von der korruptiblen anima sensitiva der Tiere, so laufe man Gefahr, entweder die Geistseele der Sterblichkeit preis­ zugeben (so Hobbes) oder zu sehr die >>rationis vestigia« bei den Tieren zu betonen (so Aristoteles); im letzten Fall unterschieden wir uns nicht »sub­ stantialiter«, sondern bloß »graduell [intensione] « von den Tieren (A VI 1 , 84, 1 8-33).1 1 8 Man sieht, wie Leibniz allein deshalb auf der Materialität der >Tierseele< beharrt, weil er noch keine Möglichkeit sieht, ihre Immaterialität mit einer Wesensdifferenz zur menschlichen Seele verbinden zu können. Weshalb aber trieb ihn dieses frühe, theologisch motivierte Hauptargument nun plötzlich zur Leugnung des Empfindens bei Tieren ?

Die Trägheit der mens momentanea und die Spontaneität unseres Geistes Die Argumente 2 und 3 finden sich, eng zusammengespannt, erstmals 1 668/69 im » Conspectus«: »Ümnis sensio reactio durans, v.(ide) Hob­ b.(ius), sed haec in corporibus nulla« (A VI 1, 495, 1 f.). Die Berufung auf Hobbes zeigt, daß beide Argumente aus Leibniz' intensiver Beschäftigung mit dessen Psychophysik erwachsen. Aber erst das berühmte fundamenturn praedemonstrabile Nr. 1 7 der » Theoria motus abstractiactioEindruck< auf der Linie f-g-h-i), die Leibniz mit Hob­ bes den conatus alienus contrarius nennt, ruft als physische >>reactio>Reactio [ . . . ] est motus partium corporis a centro ad circumferentiam>Empfindung ist das durch die Reak­ tion entstandene Phantasma eines nach außen gerichteten conatus des Sinnes1 1 9 »Nullus conatus sine motu durat ultra momentum praeterquam in mentibus. Nam quod in momento est conatus, id in tempore motus corporis: hic aperitur porta prosecuturo ad veram corporis mentisque discriminationem, hactenus a nemine explicatam. Omne enim corpus est mens momentanea, seu carens recordatione, quia conatum simul suum et alienum contrarium (duobus enim, actione et reactione, seu comparatione ac proinde harmonia, ad sensum, et sine quibus sensus nullus est, voluptatem vel dolorem opus est) non retinet ultra momentum: ergo caret memoria, caret sensu actionum passionumque suarum, caret cogitatione. « - Ähnlich schreibt Leibniz am 1 1 . März 1 67 1 an Oldenburg: »Ümne corpus esse mentem momentaneam, ac proinde sine conscientia, sensu, recordatione. Si ver6 in uno corpore possent ultra momen­ tum perseverare duo contrarij conatus simul, omne corpus foret mens vera.>diversitas identitate compensata« (A VI 1 , 484, 33) und weist darauf hin, daß die Harmonie umso größer sei, je größer die Verschiedenheit sei, wenn diese nur rückführbar ist auf eine Einheit; >>denn nicht in der Identi­ tät, sondern in der Varietät kann es Grade geben«. 123 Weil die Psyche selbst eine harmonische Struktur ist, bildet die letztliehe Rückführung von Varia­ tionen auf die Einheit das >>Verhältnis j eder Lust und j edes Schmerzes und schließlich aller Affekte [ omnis voluptatis dolorisqve, omnium deniqve af­ fectuum ratio] « (ebd. 485, 6). Ist Lust >>perceptio harmoniae«, d. h. bele­ bende Steigerung der körperlich-geistigen Ganzheit durch >spannende< Va­ riation, so Schmerz umgekehrt >>perceptio [ . . . ] anarmoniae«, d. h. entweder hemmende Spannungslosigkeit oder umgekehrt >Überspannung< der Ein­ heit durch nichtintegrierbare Dissonanzerfahrungen ( 483, 4 ). 124 Wenn be­ reits das Erleben einfacher Empfindungsqualitäten der äußeren Sinne die vergleichende Kontinuität des Bewußtseins durch seine sukzessiven Erleb­ nispunkte hindurch voraussetzt, so erfordert erst recht das Selbstgefühl mit seinen Extremzuständen der Lust und Unlust die Kohärenz der memoria mit ihrer kontrastharmonisch »verglichenen alten und neuen Empfindung [comparato sensu vetere et novo] « . Aus der negativen Einheit des zeitlich Differenten heraus kann es erst zur Erstreckung des Zeitbewußtseins auf die Zukunft kommen, d. h. auf eine >>erschlossene Vorerwartung einer künf­ tigen Empfindung [ collecta expectatio sensus futuri] « ( 483, 5 ). Dieser psychischen Permanenz des Erlebens korrespondiert nun die phy­ sische reactio permanens. Warum glaubt Leibniz, daß diese bei Tieren un­ möglich sei ? Die >Begründung< findet sich in der >>schwehren Doctrina de puncto, instanti, indivisibilibus, et conatu « . Sie erklärt, weshalb Leibniz vom Bewegungsmoment (conatus) her argumentiert statt von der erstreck­ ten Bewegung (motus): >> Gleich wie Actiones Corporum bestehen in motu,

1 2 3 >>Major harmonia est cum diversitas major est, et reducitur tarnen ad identitatem. (Nam non in identitate, sed varietate gradus esse possunt).Pentagons< wurde dargelegt, daß Leibniz - analog zum aristotelischen Zentralorgan - »das GemuethtÖtendem Blick< und seiner ungeheue­ ren Stringenz liegt j edoch kein geringes Verdienst. Denn mit seiner um 1 678 erfolgenden >Bekehrung< zur instinktnäheren Ü berzeugung von der Emp­ findungsfähigkeit der Tiere hatte er erkannt, daß zum einen die weitverbrei­ tete Annahme bloß körperlicher >Tierseelen< auf einen Holzweg führt und daß zum anderen die Unterstellung seelischen Empfindens bei anderen We­ sen überhaupt einem intuitiven Analogieschema entspringt, dessen Triftig­ keit streng wissenschaftlich oder kausal-mechanisch gar nicht entscheidbar ist. >>Es hat keine größere Gewißheit für mich, daß andere Menschen den­ ken, als daß Tiere empfinden« P28 So war es also die eigene >Jugendsünde< einer hypermechanistischen Naturentseelung, die Leibniz nach einem Jahr­ zehnt zu der virtual >animistischen< Gegenthese provozierte, >>daß in jedem Körper eine Art Empfindung und Begehren ist oder eine Seele, und daß es daher genauso lächerlich ist, allein dem Menschen eine substantielle Form und Wahrnehmung oder Seele zuzuschreiben, wie zu glauben, daß alle Dinge nur um des Menschen willen gemacht worden seien und daß die Erde der Mittelpunkt des Weltalls sei « . 129 Nach seinem frühen Anthropo­ zentrismus sollte Leibniz einen wissenschaftskritisch geläuterten Virtual­ animismus entwickeln. Seine eigene metanoia ließ ihn später heftiger gegen Descartes 1 30 und andere Neuerer wie Honoratus Fabri auftreten, die die preting the difference between mind and matter in terms of different temporal spans. « C apek erinnert auch daran, daß Bergsen sich in L 'Energie spirituelle ausdrücklich auf Leibniz' Formel vom »esprit instantane« berufen hat (96). 1 28 >>Non magis certurn mihi est alios homines cogitare, quam bruta sentire.>die Seelen der Tiere und die ihnen analogen Entelechien, mit Ausnahme allein der menschlichen, den Gegnern preis­ gaben>sponte sua>Zu beweisen, daß es keine anderen Wesen in der Welt gibt außer Geist, Raum, Materie und Bewegung [proban­ dum . . . est, nulla dari entia in mundo : praeter Mentem, Spatium, Materiam, Motum] >figura>magnitudo>situs>numerus>keine We­ sen, die in Wirklichkeit vom Raum, von der Materie und der Bewegung ab­ getrennt sind, sondern nur Verhältnisbestimmungen, die vom hinzutreten1 3 1 •Nam Honoratus Fabri (quicum aliquod mihi juveni commercium fuit), [ . . . ] arcem Pe­ ripati, quam debebat tueri maxime, nempe animas brutorum analogasque illis Entelechias, una excepta humana prodidit adversariis« (an des Bosses, 2. Februar 1 706, GP II 294). Leibniz machte sich zwischen Herbst 1 670 und Frühj ahr 1 672 Auszüge aus Fabris Physik. Vgl. insb. A VI 2, 1 8 8, 28-32. 1 3 2 Ähnlich Kulstad : Leibniz on Apperception, Consciousness, and Reflection, 71 f., der den Begründungszusammenhang nicht untersucht hat. Leibniz' »Cartesian view« habe begonnen >>at some time in 1 668 or 1 669«. Er vermutet allerdings : >>perhaps under the influence of [ . . . ] Clauberg and Velthusius« . 1 33 Schon Strecker: Der Brief des Leibniz, 1 0 f., hat diesen Satz d e n >> Kernpunkt d e r meta­ physischen Ansichten« des Mainzer Leibniz genannt.

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den Geist zwischen Raum, Materie, Bewegung und ihren Teilen gebildet werden [non sunt entia a spatio, materia, et motu realiter distincta, sed tao­ turn habitudines inter spatium, materiam, motum et earum partes a mente superueniente factae] « (22, 4-6). Daß es ausschließlich vier Wesenheiten seien, die nach der Vollrasur mit der >novacula Occami et Nominalium< üb­ riggeblieben sind, ist natürlich nicht beweisbar; allenfalls, daß sich mit die­ sen intramundaneo Entitäten und ihren relationalen Bestimmungen die >>Phänomene der Welt>möglichen Ursachen>erklä­ ren>lectio recentiorum philosophorum>daß es sogar andere Dinge nicht einmal geben kanndaß andere Wesen außer Geist, Materie, Raum und Bewegung nicht nötig sindhinreichend vorgeführt>daß die Hypothesen der Neueren, die allein diese Wesen für die Begründung der Phänomene heran­ ziehen, die besseren Hypothesen sind. Es ist nämlich ein Mangel der Hypo­ these selbst, Annahmen zu machen, die nicht nötig sind>Hypotheses esse meliores quae sunt clariores> imaginierte>menschliche Geist>sich nichts anderes vorstellen als Geist (nämlich wenn er sich selbst denkt), Raum, Materie, Bewegung und dasjenige, was aus deren gegenseiti­ ger Vergleichung entspringt. Was immer man darüber hinaus beifügt, sind nichts als Worte, die zwar genannt und miteinander auf unterschiedliche Weise kombiniert, nicht aber erklärt und eingesehen werden können. Denn wer kann sich ein Wesen vorstellen, das weder der Ausdehnung noch des Denkens teilhaftig ist ? Wozu ist es also nötig, unkörperliche See­ len bei Tieren und Pflanzen, substantielle Formen bei Elementen und Me­ tallen vorauszusetzen, die ohne Ausdehnung sind ? >Nunc ostendamus, nullis aliis rebus ad explicanda mundi phaenomena et causas eorum possibiles reddendas opus esse, imo nec alias res esse posse; quanquam si ostenderimus aliis re­ bus praeter mentem, materiam, spatium et motum opus non esse, eo ipso satis confectum erit Hypotheses recentiorum, qui his solis rebus ad reddenda phaenomena vtuntur, esse meliores. Vitium enim Hypotheseos est non necessaria assumere.« 1 35 »lam vero mens humana nihil aliud imaginari potest, quam mentem (quando scilicet co­ gitat seipsam), spatium, materiam, motum, et quae ex his inter se varie comparatis resultant,

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hin folgerichtiger seien hier Campanella in >>Empfindung und Magie der Dingefalso«, doch >>congruenter [ . . . ] suis Hypothesibus «, j enen formae substantiales un­ beseelter Dinge, die keine Ausdehnung haben sollen, sensus, scientia, ima­ ginatio und voluntas zuschrieben. Am gleichen mythologischen Animismus leide auch Agrippas » Verborgene Philosophie« 1 38, die jedem Ding einen En­ gel als Hebamme zuschreibt, und was Scaliger » Über die plastische Kraft>Auf solchem Weg kehrt man zu ebensovielen Götterchen, wie es substantielle Formen gibt, und zu einem fast heidni­ schen Polytheismus zurück. Auch können gewiß alle, die von j enen unkör­ perlichen Substanzen der Körper reden, ihre Ansicht lediglich durch eine Metaphorik darlegen, die sie von den Geistern hernehmen. Deshalb näm­ lich ist j enen Substanzen ein Begehren und jener natürliche Antrieb zuer­ teilt worden, aus dem sich dann auch, abrakadabra, eine natürliche Einsicht ergibt. Von daher stammt auch das Axiom: >die Natur tut nichts vergeb­ lichjedes Ding meidet seine ZerstörungGleiches freut sich an Glei­ chemdie Materie strebt nach edlerer Form< . Obwohl in Wahrheit gar keine Weisheit, kein Streben in der Natur ist, ergibt sich doch eine schöne Ordnung daraus, daß sie das Uhrwerk Gottes ist. Aus dem Gesag­ ten leuchtet ein, daß die Hypothesen der reformierten Philosophie den scholastischen Hypothesen vorzuziehen sind, weil sie nicht überflüssig, sondern im Gegenteil klar sind.philosophie paresseuse< derer, die ihre vis pla­ stica, ihren Areheus oder andere okkulte Agentien in die empirische Kau­ salforschung hineintragen wollen, bleibt nämlich die Maxime der » Confes­ sio naturae« gültig, daß die Forschung die Natur hypothetisch entgöttern muß, um ihren Kausalnexus aufzudecken. Die vier letzten >>entia in mundo«, welche die wissenschaftliche Entzauberung überleben sollen, er­ läutert Leibniz kurz.

Die substantielle Realität des Weltraums - Der Raum ist beim frühen Leibniz die Sphäre, in welche die Trinität ihre Figuren einschreibt. Auch Aristoteles habe zugestanden, »daß das Mathematische, d. h. der Raum oder seine Be­ stimmtheit, die Figur, eine Substanz sei ['t"U J.L>beinahe substantieller als der Körper selbst [spatium ipso pene corpore est substantialius] « . Was Kant als zweites Argument für die transzendentale Idealität des Raumes als Anschauungsform a priori vorbringen wird 1 4 1 , gilt Leibniz gerade als Beweis für dessen primordiale Realität vor j edem Einzel­ körper und jeder Anschauung. Denn wenn man im Gedankenexperiment >>den Körper entfernt, bleibt der Raum mit seiner Abmessung bestehen, wel­ cher leer heißt, wenn kein anderer Körper nachrückt. Umgekehrt bleibt je­ doch kein Körper, wenn der Raum entfernt wird [sublato corpore manet spa­ tium et dimensio eius, quod nullo alio corpore succedente vacuum dicitur, non contra sublato spatio manet corpus] « ( 1 1 , 1 6- 1 8). Die dreidimensionale Substanz des Raumes ist demnach die >einräumende< Realbedingung der Möglichkeit von Phänomenen schlechthin. Leibniz begründet j edoch die These, >>Spatium esse substantiam, figuram esse quiddam substantiale« ( 1 9, 20 f.; vgl. 20, 3), nicht näher. Er betont nur, der Raum als >>locus [ . . . ] vniuer­ salis omnium rerum« sei >>das ursprünglich-ausgedehnte Wesen, d. h. der mathematische Körper, der natürlich nichts anderes enthält als drei Abmes­ sungen [Spatium est Ens primo-extensum, seu corpus mathematicum, quod scilicet nihil aliud continet quam tres dimensiones] « (2 1 , 32-34). 1 42 1 4 1 V gl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 38 f., AA III 52 f. 1 4 2 Schon in der frühen Adnote 43 zu Stahl hieß es : »lmo vero Mathematica magis de Sub­ stantiis agit qvam Physica, Spatium n.(empe) est primum extensum.« (A VI 1, 3 1 , 32 f.). Moll : Der junge Leibniz, 11 1 87, Anm. 320, behauptet, daß Leibniz' >>Auffassung von der Sub­ stanzialität des Raumes auf den Jenenser Lehrer Weigel zurückzuführen« sei, weil es bei Weigel heißt: >>Spatium Substantia formaliter immobilis«.

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Leibniz stößt sich aber schon vom demokritschen Atomismus ab, der zwischen den Atomen den leeren Raum postuliert.143 Ihm scheint nun, »daß weder die Leere noch die Fülle notwendig sind, sondern daß die Na­ tur der Dinge auf beide Arten erklärt werden kann [neque vacuum neque plenum necessarium esse, vtroque modo rerum natura explicari posse] >Zweitrangig­ ausgedehnte Wesen, d. h. dasj enige, was über die Ausdehnung, d. h. den mathematischen Körper hinaus auch einen natürlichen Körper besitzt, d. i. Bewegungswiderstand (Antitypie), Grobheit, Raumerfüllung und Un­ durchdringlichkeit, welche darin besteht, daß (ein Körper) von einem ande­ ren herannahenden Wesen gleicher Art gezwungen wird, entweder diesem anderen zu weichen oder ihn zu bremsen« (2 1 , 34-22, 2 ) . 1 44 Leibniz wieder­ holt damit seine Definition aus der » Confessio naturae«, wonach die verein­ zelte Materie ein >>ens, quod est in spatio« oder besser ein >>ens spatio coex­ tensum« ist (22, 3). Unklar gefaßt sind aber jetzt die Eigenschaften jenes zweiten, dynamischen Moments (der Inexistenz), die sich bislang nicht aus den geometrischen Primärqualitäten ableiten ließen. 1 45 Leibniz subsu­ miert diese dynamischen Eigenschaften nun unter das >>Corpus physicum«, das nicht auf das >>Corpus mathematicum« der Primärqualitäten reduzierbar ist. 1 46 Während aber die Grobheit als Spezifikum bestimmter Materien gar kein echtes Attribut zu sein scheint, bleibt das Verhältnis von Resistenz, Antitypie und lmpenetrabilität sehr vage. Da der neu hinzugekommene Be-

1 43 Demokrit, FVS (Diels, Kranz), B 125: In Wahrheit gibt es nur ii'rojla Kai KEvov. 1 44 »Materia est ens secundo-extensum, seu quod praeter extensionem vel corpus mathema­ ticum habet et corpus physicum, id est, resistentiam, avnw1tiav, crassitiem, spatii repletiuita­ tem, impenetrabilitatem, quae consistit in eo, vt alio tali ente adueniente cedere, aut alterutrum cogatur}< 1 45 Ähnlich Turck: Die Metaphysik der Natur bei Leibniz, 2 1 , der hier allerdings auch die wohlunterschiedenen Eigenschaften aus der Confessio naturae zu einer einzigen kontrahiert. »Es zeigt sich sehr schnell, daß Leibniz sich keineswegs über die Natur dieser abwechselnd als Undurchdringlichkeit, Kohäsion (cohaerentia), Dichte (crassities), Raumerfüllung (spatii re­ pletivitas), Widerstand (resistentia) und Konsistenz (consistentia) bezeichneten Eigenschaft der Körper im klaren ist. « 1 4 6 Daß Leibniz die Dichotomie zwischen »Corpus mathematicum« und •corpus physicum« von Gassendi übernommen hat, bemerkt schon Wernick: Der Begriff der Materie bei Leibniz, 1 0, Anm. 4. Belegstellen gibt Moll: Der junge Leibniz, II 146 u. 1 64, Anm. 289.

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griff »Antitypie« als Widerständigkeit gegen das Bewegtwerden bestimmt wird 147, mithin dasselbe wie die »resistentia« in der » Confessio naturae« meint, scheint er mit der oben definierten »impenetrabilitas « zusammenzu­ fallen, die nur eine graduelle, keine absolute Undurchdringlichkeit be­ sagt.148 Sofern »Antitypie« zum Oberbegriff für alle Widerstandskräfte der Materie avanciert, die mechanisch nicht erklärbar sind, verweist sie schon auf den späteren Begriff einer metaphysischen vis passiva, den der frühe Leibniz noch entbehren zu können glaubt (s. u. 53 1 -543). Der doppelten Konstitution der natura corporis »per Extensionern et An­ titypiam>nihil [ . . . ] ponen­ dum est in corporibus, quod non ex definitione Extensionis et Antitypiae fluat>eine bloße Erscheinung und ein Phan­ tasiegebilde>nicht bloß sehen, sondern zugleich auch berühren, d. h. das, bei dem sie Widerstand erfahren, nennen sie einen Körper>bei den Dingen zu vergewissern, daß es keine bloßen Phantasiegebilde sind>Antitypie besteht darin, nicht zusammen mit einem anderen ( Körper) am seihen Ort sein zu können, sondern j eweils den anderen fortbewegen bzw. vom anderen gebremst werden zu müssen [avnw1tia est, non posse cum alio esse in eodem spatio, sed alterotrum moueri aut quiescere debere] « (23, 26 f.). 1 4 8 Deshalb ist der Inkonsistenzvorwurf von Kabitz: Philosophie des jungen Leibniz, 64, ge­ genstandslos, der die Undurchdringlichkeit i m Sinne » absoluter Härte und Solidität« mißver­ steht. 1 49 Ähnlich heißt es von der >> materia primamutatio­ nes>vulgo et recte>Entstehen und Vergehen, Ver­ mehrung und Verminderung, Anderswerden und Ortsveränderung [gene-

1 5 1 Ähnlich 20, 1 5 : »Materia per se motus expers est.« 1 5 2 So hat es schon Strecker: Der Brief des Leibniz, 1 1 , formuliert. 1 53 Daß Leibniz den Glauben an diese Reduzierbarkeit Aristoteles selbst zuschreibe, unter­ stellt fälschlich Strecker: Der Brief des Leibniz, 26-3 8 . Seine Auftürmung widersprechender Aristoteles-Stellen schießt daher ins Leere.

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ratio, corruptio, augmentatio, diminutio154, alteratio et mutatio loca­ lis1 55) « . 1 56 Bei Mehrung und Minderung ist die Reduzierbarkeit auf den mo­ tus localis157 am augenfälligsten, »denn die Veränderung der Quantität bei einem Ganzen erfolgt, sobald ein Teil den Ort verändert und entweder hin­ zutritt oder verschwindet« . 1 58 Auch läßt sich die Veränderung an einem Körper erklären als ein Entstehen und Anderswerden verschiedener Dinge an ihm . 1 59 Wenn z. B. >>feststeht, daß Fäulnis aus jenen Würmern besteht, die mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmbar sind, wird eine Fäulnisinfek­ tion ein Anderswerden des Menschen und das Entstehen eines Wurmes be­ deuten. Ähnlich hat Hooke in seiner Mikrographia160 gezeigt, daß Rost an einem Eisen ein feines entsprossenes Wäldchen ist. Rosten wird also ein Anderswerden des Eisens, aber ein Entstehen von Büsehein sein«. 1 61 Und schließlich könne auch das Anderswerden (äUoirocnc;) oder die qualitativ erlebte Veränderung >>erklärt werden durch eine feine Bewegung von Teil­ chen [explicari per subtilem partium motum] « ( 1 7, 27-3 1 ) . Hier beginnt je­ doch Leibniz' Überschreitung der mechanischen Erklärungskompetenz, die metabasis eis allo genos vom Physischen ins Psychische. >>Weil z. B . weiß dasj enige ist, was am meisten, schwarz aber dasjenige, was am wenigsten Licht zurückspiegelt, so werden weiß diejenigen Dinge sein, deren Oberfläche viele kleine Spiegel enthält. Dies ist der Grund, wes­ halb schäumendes Wasser weiß ist; denn es besteht aus zahllosen Bläschen. Soviele Bläschen es aber gibt, so viele Spiegel gibt es auch, während zuvor fast das ganze Wasser nichts als ein einziger Spiegel war; genauso wie bei einem zerbrochenen Glas ebensoviele Spiegel entstehen, wie es Trümmer 1 54 Vgl. etwa Platon: Leges X, 893 b ff. 1 55 Vgl. etwa Platon: Parmenides 1 3 8 b-c; Theaitetos 1 8 1 d. 1 5 6 Alle Arten zusammen finden sich bei Aristoteles : Physik III 1, 201 a 8 - 1 5 u. V 1, 225 a f. 1 57 Der motus localis eines Körpers wird definiert als seine » mutatio spatiigeneratio« und » motus« nivellieren soll. Denn »eine Erzeugung erfolgt im Augenblick, eine Bewegung hingegen schrittweise; die Erzeugung ist nämlich nicht die Bewegung, sondern das Endziel einer Bewegung [generatio fit in instanti, mo­ tus est successiuus, nam generatio non est motus, sed finis motus]« ( 1 8, 1 6 f.). 1 60 Robert Hooke: Micrographia: or some physiological descriptions of minute bodies, Lon­ don 1 665. 1 61 »Mutatio enim quantitatis in toto fit, dum pars locum mutat, et vel accedit vel decedit. [ . . . ] Et praenoto eandem numero mutationem esse generationem et alterationem diuersorum, v. g. cum constet, putredinem consistere in vermibus illis nudo visu insensibilibus, erit infectio aliqua putrida alteratio hominis, generatio vermis. Similiter Hookius in micrographia ostendit, rubiginem in ferro esse subtilem syluulam enatam; rubiginescere igitur erit alteratio ferri, gene­ ratio paruorum fruticum.«

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gibt. Dies ist auch die Ursache dafür, daß zerschlagenes Glas heller ist als heiles. « ( 1 7, 32- 1 8, 2).1 62 Indem Leibniz die qualitativen Veränderungen im Farbempfinden auf ihre physikalischen Entsprechungen reduziert, ge­ langt er zu der kühnen Folgerung, >>daß allein durch die Veränderung der Figur und der Lage auf der Oberfläche die Farben entstehen. Dasselbe könnte [ . . . ] in bezug auf das Licht, die Wärme und alle Qualitäten [!] leicht erklärt werden>Wenn aber sogar die Qualitäten sich le­ diglich durch Bewegung verändern, so wird sich natürlich auch die Substanz verändern. Denn wenn alle oder auch nur einige Bedingungen sich geändert haben, ist auch die Sache selbst aufgehoben [Iam vero, si qualitates per solum motum mutantur, eo ipso et substantia mutabitur: mutatis enim omnibus, imo et quibusdam, requisitis, res ipsa tollitur] >res inaudita [ . . . ] hactenus >Die Theologie oder Metaphysik handelt von der Wirkursache der Dinge, nämlich vom Geist. Die Moralphilosophie (d. h. die praktische bzw. staats­ bürgerliche Philosophie - denn wie ich von Dir Die Mathematik (ich verstehe hierunter die reine, denn die üb­ rige ist ein Teil der Physik) handelt von der Form oder Idee der Dinge, nämlich von der Figur« als der Grundbestimmung des Raumes. >>Die Phy­ sik handelt von der Materie der Dinge und ihrer aus ihrer Verknüpfung mit den restlichen Ursachen resultierenden einzigen Eigenschaft, nämlich der Bewegung. « (20, 1 0- 1 4) 1 68 Das wäre in der Tat eine >>pulchra [ . . . ] scientiarum harmonia« (20, 9) wenn sie nicht die äußerste Schwundstufe einer Weltdeutung formulierte, in der die große Analogie der Wesen zerfallen ist in ein Reich lebendiger Geister und in ein lebloses Uhrwerk stummer Materie.

3. Substanz als Selbstentfaltungseinheit der Individualidee : Leibniz' Grundlegung seines Zentralbegriffs Von den vier >>entia in mundo« aus erschließt sich nun Leibniz' mechanisti­ sche Reformulierung der aristotelischen Physik, insbesondere der substan­ tiellen Form (eidos), die zunächst auf die mathematisch behandelbare Formursache zugeschnitten wird. Innerhalb dieser Revision wird zugleich der Begriff der tätigen Substanz begründet, den der frühe Leibniz noch al­ lein für den Geist reserviert, später aber analog auf die ganze Natur über­ tragen wird.

a) Die mechanistische Revision der aristotelischen Physik Das theologische Interesse an einer entgötterten Natur führte Leibniz in einen seelenlosen kosmischen Maschinenraum. Deshalb kann er in der gewöhnlichen Deutung des aristotelischen eidos nur eine abergläubische Mystifikation erblicken, die den deterministischen Kausalnexus mit selbst­ tätigen Enteleebien durchbricht, den Gottesbeweis des primus motor immo-

1 68 » Theologia seu Metaphysica agit de rerum Efficiente, nempe mente, Philosophia moralis (seu practica vel ciuilis, nam, vt a Te didici, una eademque scientia est) agit de rerum Fine, nempe Bono; Mathesis (puram intelligo, nam reliqua physicae pars est) agit de rerum forma vel idea, nempe figura, Physica agit de rerum Materia, et eius cum ceteris causis complexu resultante vnica affectione, nempe Motu . « (Vgl. Aristoteles : Physik li 7, 1 9 8 a 21 ff. Daß Aristoteles hier dem »Physiker« die Behandlung aller vier Ursachen zur Aufgabe macht, zeigt, wie viel wei­ ter sein Begriff der »physis« ist im Vergleich zum eingeengten mechanistischen Naturbegriff.) Etwas anders stellt sich Leibniz' Aufteilung der vier Wissenschaften dar im Demonstrationum catholicarum conspectus (A VI 1, 494, 4-6); s. o. 2 1 9.

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tus zerstört und fast einen heidnischen Polytheismus restauriert. »Wenn wir [ . . . ] in den Körpern was weiß ich für unkörperliche und gleichsam geistige substantielle Formen zugestehen, kraft deren ein Körper sich selbst bewe­ gen kann, kraft deren der Stein abwärts und das Feuer aufwärts strebt, kraft deren die Pflanzen wachsen und die Tiere aus eigenem Antrieb laufen, und das alles ohne irgendeinen unkörperlichen Anreger außerhalb - dann ver­ sperren wir uns selbst den am meisten geeigneten Weg, Gott zu beweisen, und es bricht jener hervorragende Lehrsatz des Aristoteles (•alles, was sich bewegt, hat die Ursache seiner Bewegung außer sich>causa motus in corporibus« sind. Er defi­ niere zwar die Natur als >>principium motus et quietis« und nenne Form wie Materie >>Natur«, obgleich die Form mehr als die Materie. Doch hier­ aus folge nicht die scholastische Interpretation, >>daß die Form irgendein immaterielles, obgleich blödes Wesen in den Körpern sei, das selbst aus ei­ genem Antrieb, ohne Mitwirkung einer äußeren Sache dem Körper Bewe­ gung verleihe, z. B. dem Stein eine Abwärtsbewegung [formam esse ens quoddam immateriale, brutum tarnen in corporibus, quod ipsum sua sponte sine externae rei concursu motum corpori verbi gratia lapidi deorsum prae­ beat] « . Die Form sei für Aristoteles zwar >>causa et principium motus «, nicht jedoch im Sinne einer Erstursache ; denn das verstoße gegen das von ihm selbst bewiesene Trägheitspostulat: corpus (non) movetur, nisi ab ex­

trinseco moveatur. (20, 1 7-24) Inwiefern die Form qua Figur eine bloß relative Bewegungsursache ist, zeigt das Beispiel der Kugel auf einer ebenen Fläche. Wenn sie einmal ruht, wird sie sich >>per se« in alle Ewigkeit nicht bewegen, sondern nur durch einen äußeren Impuls. Sobald ein anderer Körper gegen die Kugel stößt, ist dieser das >>Prinzip der übertragenen Bewegung [principium mo­ tus impressi] « . Die Form der Kugel hingegen, die >>globositas «, ist das >>Prinzip der aufgenommenen Bewegung [principium motus suscepti] « . Form und Materie beider Körper bedingen also die Bewegungsübertra­ gung. Denn wäre der Körper nicht rund gewesen, wäre er dem stoßenden nicht so leicht gewichen. Somit scheint sich das >>conceptum Scholasticum« der immateriellen substantiellen Form nicht aus ihrer aristotelischen Defi­ nition zu ergeben (20, 24-29). 16 9 Das lateinische Original s. o. 225, Anm. 26.

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Im Zentrum des verdunkelten Aristoteles, den Leibniz vom scholasticus fumus ( 1 1 , 24) befreien will, steht also diejenige artspezifische Wesensform, welche die anorganischen Materien sowie pflanzliche und tierische Entele­ ebien charakterisiert. Entmythologisiert werden sollen allein die formae eiementarum metallorumque substantiales extensionis expertes und die ani­ mae brutorum plantarumque incorporeae (22, 23-25), d. h. traditionelle Deutungen j ener aristotelischen forma in materia (d öo� EV tfl uA.n)1 70, wel­ che die Form roher Naturstoffe und Artefakten sowie den inneren Bauplan von Organismen bezeichnet. Unangetastet läßt Leibniz dagegen die spiritu­ elle forma in anima (�:iöo� f.v tfl \IJUXf1) 1 7 1 , die der Mensch beim Planen als eine dem Material äußerliche Zweckidee vor Augen hat. Sie bleibt als >>rea­ liter a materia abstracta forma« (20, 3 1 ) eine metaphysische Form. 1 72 Wäh­ rend die körperliche Form eine bloße Verhältnisbestimmung ist, bleibt die lebendige spirituelle Form ein >>ens absolutum« . 1 73

Die substantielle Form des Körpers als komplexe Integralfigur - Thomasius hatte die Aristoteles-Deutung seines Schülers zunächst bloß als oberfläch­ lich empfunden, bevor sie ihn selbst verunsicherte. 1 74 In der Forschungs­ literatur dagegen hat man inzwischen fast einhellig Leibniz' •gewaltsamen
>einge­ pflanzt« ist, gehört sowohl das immaterielle Spontaneitätszentrum, das im mathematischen Punkt e des >Pentagons< schematisiert ist, als auch der phy­ sische Punkt der spirituellen Feinmaterie oder des zentralen flos substantiae, der durch die sphaera intellectus dargestellt ist. Deshalb ist es der Sache nach keine Neuerung gegenüber der frühen Hieroglyphe des >Pentagons>Idee« bezeichnet. Auf der Ebene des rein gedanklichen Operierens bleibt noch folgende Be­ stimmung, die im ersten Satz einen Chiasmus bildet : >> In der Idee ist in ideel­ ler Weise sowohl die leidende als auch die tätige Kraft, der tätige wie der leidende Verstand enthalten. Soweit der leidende Verstand mitwirkt, ist Ma­ terie in der Idee; soweit der tätige Verstand mitwirkt, ist Form in der Idee.« (5 1 2, 1 2 - 1 4)22 1 Weil aber den rein mentalen Operationen zwischen dem ent­ werfenden Apperzeptionszentrum (intellectus agens) und den introvers re­ zipierten Anschauungen bzw. den extrovers entworfenen Vorstellungen im Horizont der lntellektualsphäre (intellectus patiens) ein korrespondierender physischer campus von Radien zugeordnet wird, glaubt Leibniz keine >me­ tabasis< zu begehen, wenn er auch die winkelbildenden Radien selbst »Ideen« nennt. >>Die Vereinigungen von Geist und Körper sind die Ideen, wie Winkel die Vereinigungen eines Punktes mit Linien sind. Die Ideen ent­ sprechen den substantiellen Formen der Dinge [Uniones Mentis et Corporis sunt Ideae, uti Anguli uniones puncti cum lineis. Ideae sunt idem cum formis rerum Substantialibus] . « (5 1 0, 3 1 -33) Nur vermittelst der übergreifend be­ greifenden Formung winziger materieller Texturen aus dem Gesichts-Punkt heraus kann der intellectus ipse sich seine innere Welt entwerfen. »Mens« ist >>eine kleine in einem Punct begriffene Welt, so aus denen Ideis, wie centrum ex Angulis bestehet, denn angulus ist pars centri, ob gleich ( das) centrum in­ divisibel« bleibt (A II 1 , 1 63 , 2-4). Die Individuiertheit j edes ideenbildenden Zentrums durch seine einmalige leih- und ortsbedingte Perspektive ist das zweite Merkmal von Leibniz' späterem Substanz begriff, das mit dem frühen Konzept der substantiellen Form des Geistes vorweggenommen wird. Leib­ niz weiß sich hier mit denen im Einklang, die behaupten : >>Formam substan­ tialem esse principium individuationis« ( 5 1 0, 1 8 f.) . Daß die substantielle Form als Idee und diese als lebendige Beziehung des Punktes auf die ionerste Sphäre aufgefaßt werden kann, betrifft aber 22 1 »In Idea continetur idealiter et potentia passiva et activa, intellectus agens et patiens. Quatcnus concurrit intellcctus patiens, catenus in Idea est materia; quatenus intellectus agens, eatenus forma.«

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nicht nur die im menschlichen Geist gebildeten subjektiven Ideen, sondern ebenfalls die seinsverleihenden Ideen im göttlichen Geiste, an denen auch die geist- und leblosen Geschöpfe partizipieren. Während die geistbegabten Geschöpfe durch ihr ideenbildendes Zentrum auch ein eigenes principium actionis gegenüber dem göttlichen Allmittelpunkt haben, subsistieren die leblosen Körper lediglich in der göttlichen Idee. >>Die Substanz j eden We­ sens ist nicht so sehr der Geist als vielmehr die Idee des mitwirkenden Gei­ stes [Substantia cuiusque rei non est tarn mens, quam Idea mentis concur­ rentis] >principium motus et quietishypostatischen Union>Deus et mens>Mens et Corpus>Corpus e t Corpus>per se>per mentem commu­ nem>Mens et Mens>ein unvollkommener Geist wirkt nur durch seinen Körper nach außen [mens imperfecta extra se non agit nisi per Cor­ pus>durch vermittelnde Körper [per corpora intermedia] « wirken. Die Möglichkeit einer 6. Verknüpfung, nämlich der hypostatischen Vereinigung Gottes mit allen Körpern oder dem totus mundus, hält Leibniz für proble­ matisch. (ebd. 533, 1 - 1 3 ) Der Text konzentriert sich auf drei dieser Vereini­ gungsarten: die fragliche Union jeder menschlich individuellen mens susten­ tans mit ihrem eigenen Leib (2.); die erhaltende Vereinigung der göttlichen mens concurrens mit den kontinuierlich geschaffenen geistlosen Körpern (6.); und die theologisch wichtige übernatürliche Vereinigung eines indivi­ duellen Geistes mit dem göttlichen Geist, sei sie nun dauerhaft (in Christus) oder nur ein vorübergehender Gnadenakt (4.). Die Vereinigung von Geist und Körper hatte Leibniz bisher oft genug durchexerziert : Die menschliche Seele kann nicht mit allen corpuscula des Leibes hypostatisch vereinigt sein, weil diese dem ständigen Stoffwechsel unterworfen sind. Unabtrennbar >>verwurzelt [radicata] « ist sie nur mit dem winzigen physischen Punkt (der sphaera intellectus), dem beweglichen centrum cerebri, aus dem die spiritus anima/es ausgestrahlt werden (533, 61 0). Die substantielle Vereinigung der anima rationalis (punctum mathema­ ticum) mit ihrer Matrix (punctum physicum) scheint die einzige Möglich­ keit zu sein, um die kausale Korrelation zwischen physiologischen Impulsen der Außenwelt und mentalen Akten denken zu können. Denn die unio men­ tis et corporis ist wie j ede hypostatische Vereinigung keine bloße >>Berüh­ rung, sondern ein unmittelbares Zusammenhängen, d. h. eine gemeinsame Bewegung oder Wirkung [non est contiguitas, sed continuitas, seu motus vel actio communis] « . Ohne die Vereinigung von Leib und Seele in der punktuellen Matrix könnte keine Wechselwirkung des einen auf das andere, mithin auch keine >>cognitio>nichts Neues bei ruhenden Körpern [nihil no­ vum contingit qviescentibus corporis] >zwar der Geist nicht in Bewegung ist, aber alle seine Tätigkeiten mit einer Bewegung von Körpern einhergehen [ mentem non qvidem moveri, sed omnes eius actiones fieri cum motu cor­ porum] «, läßt sich deshalb prinzipiell auch erklärbar machen, wie Gottes Geist mittelbar, durch seine Vereinigung mit allen Körpern, die Tätigkeiten des menschlichen Geistes auf nicht-diskursive Weise erkennt (535, 7- 1 7).

Atome, Geister und die Prinzipien

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An der natürlichen Interaktion von mens und corpus im physischen Punkt des zentralen flos substantiae hält Leibniz fest, obwohl sie durch sein neues Verständnis der creatio continua aller Körper bedroht scheint. Werden nämlich alle Körper, während sie bewegt werden, >>ständig geschaf­ fen [continuo creantur] «, so sind sie >> über einen Moment hinaus mit Gott vereinigt. Wie aber einer, der über den Augenblick hinaus nicht an einem Ort ist, nicht als in diesem ruhend erachtet wird, sondern nur vor­ übergeht, so sind die Körper, die über einen Moment hinaus nicht mit Gott vereinigt sind, nicht im eigentlichen Sinne vereinigt, sondern bloß vorüber­ gehend>Schwierigkeit>nicht geschaffen, während Gott auf sie wirkt [non creantur, dum Deus in eas agit] > Geister sind frei und haben das Prinzip ihrer Tätigkeit in sich [mentes sunt liberae, et habent princi­ pium actionis in se] >auf welche Art>mit den Geistern hypostatisch vereinigtnicht anders vereinigt sind als durch Bewegung, in der Bewegung aber nicht kontinuierlich existieren>wenn es einen Punkt gibt, der mit dem Geist auf substantielle oder hypostatische Weise vereinigt ist, und dieser bei der Bewegung nicht vernichtet wirdFensterlosigkeitTüren und Fenster< hätte ! Man wird Leibniz j edoch be­ scheinigen müssen, daß er sich wie nur wenige >>subtilissimi>arcana rerum>Ergo (ich ergänze hier ein offensichtlich fehlendes >nonmira monstra« erschienen wären (534, 27 f.). Weil der physische Punkt im Unterschied zum mathematischen Punkt der Seele eine gleichsam infinitesimale Ausdehnung hat, endet die Überle­ gung zur psychophysischen Union angesichts der ständigen Neuschaffung alles Ausgedehnten mit einer offenen Frage, nämlich >>inwiefern der Geist, der einem Punkt des Körpers eingepflanzt ist, in einer sich verlierenden Be­ wegung nicht ebenfalls verlorengeht. Ob man sagen muß, daß Punkte nicht verlorengehen, weil sie nicht Teile, sondern Grenzen der Körper sind, und weil in bezug auf Punkte j ene Beweisführung über Körper aufhört ? Ein Punkt nämlich ist zu j edem beliebigen Zeitpunkt in einem gewissen Raum­ punkt. Dasjenige aber, was sich in einem Körper außerhalb von Punkten befindet, ist irgendwann einmal an keinem Ort. Zu dieser Zeit also ist es nichts. Erstaunlich anzunehmen ! Aber diese Geheimnisse der Dinge be­ greifen nur wenige, und auch nur dann, wenn sie sehr scharfsinnig sind« (535, 1 8-23).226 Die Stelle deutet an, daß Leibniz die creatio continua ei­ gentlich als eine creatio discontinua denkt, sofern das Geschehen in der Zeit als >>Aggregat punktueller, diskreter Einheiten«227, gleichsam als atomar gequantelt, aufgefaßt wird - wie bei den arabischen Mutakalli­ mun.228 Wie Leibniz im Hauptbrief an Thomasius deutlicher formuliert, habe er >>bewiesen, daß alles, was bewegt wird, ständig erschaffen wird und daß die Körper in einem beliebigen Augenblick während einer zu­ schreibbaren Bewegung etwas sind, wohingegen sie in einer beliebigen Zeit zwischen den Momenten einer zuschreibbaren Bewegung nichts sind « .229 Diese Deutung der perpetua creatio in motu (A II 1 , 23, 33 u. 24, 26) splittert das scheinbare Bewegungskontinuum auf und versteht es 226 »Qvaeritur qvomodo Mens qvae corporis puncto implantata est eo in motu intereunte non etiam interit. An dicendum est puncta non interire, qvia non partes corporum, sed termini, et qvia de punctis cessat illa circa corporis demonstratio. Punctum enim qvolibet instanti est in certo puncto spatii, at id qvod in corpore praeter puncta est, aliqvando in nullo loco est, eo igitur tempore est nihil. Mirabiliter. Sed haec arcana rerum pauci capient nec nisi subtilissimi . « 22 7 S o schon Cassirer: Leibniz ' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, 494. 22 8 Vgl. Laßwitz : Geschichte der Atomistik, I 1 34-1 50. Über die logische Verknüpfung ihrer beseelten, »punktuellen Substanzen« mit ihrer Lehre von der »fortwährenden Schöpfung>motus [ . . . ] quietulis interruptus«, wie Leibniz im Rückblick der » Theoria motus abstracti« selbstkritisch resümiert, als er das Konzept der diskontinuierlichen Bewegung schon wieder verlassen hat (A VI 2, 265, 8). Solange er es vertrat, mußte es ihm unheimlich sein, der Spontaneität des >>ens per se subsistens« eine subtile spirituelle >>forma substantialis« korrespondieren zu lassen, die immer wie­ der von einem Nichts zum anderen hinübergerettet werden muß.

c) Die eine absolute Kreativität in den vielen substantiellen Ideen ihrer Kreaturen Indem Leibniz seine Revision der >substantiellen Form< theologisch abrun­ det, skizziert er schließlich das dritte Merkmal seines späteren Substanzbe­ griffs : die individuelle gedankliche Bestimmtheit alles Kreatürlichen durch die göttliche Idee. Er entgegnet zunächst dem Einwand, nach seiner neuen >> Hypothese« zum Substanzbegriff und zur Transsubstantiation hätten >>alle Körper nur eine einzige substantielle Form, nämlich den mitwirkenden göttlichen Geist« ( 5 1 1 , 23-25).230 Das ist schon für die komplexe Integral­ figur lebloser Körper, zu der auch der verborgene Kern der Substanz ge­ hört, abwegig. Vielmehr gibt es für j ede varia dispositio materiae auch eine varia forma et idea. Das wird garantiert durch die ursprüngliche Un­ terschiedenheit aller Urbilder im göttlichen Intellekt, die Leibniz mit der platonischen Tradition >>Ideen«, mit der aristotelischen >>substantielle For­ men« nennt. Gottes Intellekt bleibt ein einziger, auch wenn sich der Spiritus Gottes beim schöpferischen Wirken nach außen in eine Unendlichkeit ver­ schiedener Gestaltungen dirimiert. >>Obwohl nämlich der göttliche Geist derselbe ist, so ist er doch nicht als der mitwirkende göttliche Geist der­ selbe. Der göttliche Geist besteht nämlich aus den Ideen aller Dinge. Weil folglich die Idee einer Sache A eine andere ist als die Idee einer Sache B, so ergibt sich daraus, daß bei der Sache A eine andere Idee des göttlichen Geistes mitwirkt als bei der Sache B. [ . . . ] Die Idee bei Platon läuft folglich auf dasselbe hinaus wie die substantielle Form bei Aristoteles. Daher leuch­ tet ein, daß es nicht eine substantielle Form für alle Körper gibt, sondern verschiedene Formen für verschiedene Körper« (5 1 1 , 24 - 5 1 2, 3).231 Was 2 3 0 »Obiicient fortasse varia nec contemnenda : Nempe ex hac hypothesi sequi unam om­ nium corporum esse formam substantialem, scilicet mentem divinam concurrentem. Sed hoc non sequitur. « 2 3 1 »Etsi enim mens divina s i t eadem, n o n tarnen mens divina concurrens e s t eadem. Mens divina Ideis omnium rerum constat. Cum igitur alia sit Idea rei A, alia Idea rei B consequens

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Erster Teil · Der Weg zum Systemzyklus ( 1 663 - 1 669)

für das Vorhergedachtsein eines jeden Körpers gilt, gilt erst recht für j edes geistige Individuum. Daß die »mens universalis seu Divina« (509, 1 2 ) trotz der Realunterschie­ denheit ihrer unendlich vielen Ideen unteilbar ist232, gründet in ihrer un­ räumlichen Punktualität.233 Nach dem traditionellen theologischen Sym­ bolismus, den Leibniz mit dem » Kern der Substanz« neu auslegt, ist der Mittelpunkt der unendlichen intelligiblen Raumsphäre in allen Wirkzentren der Schöpfung gegenwärtig. Daher erweist sich von allen Deutungen der seinsverleihenden und -erhaltenden göttlichen Idee die des »Winkels« als die >>passendste>Wie die Winkel wohlgemerkt nicht den Punkt teilbar machen, so machen auch die Ideen nicht GOTT bzw. den Geist teilbar. Sie liegen nämlich tatsächlich in einem Winkel, so wie die Gei­ ster in einem Punkt> modus omnipraesentiae DEI> Concursus ( generalis) DEI cum Creaturis>Modus« der Teilhabe stilisieren, weil er jedem Körper eines Wesens j enen Kern der Sub­ stanz zuschreibt, der dem Zentrum der subj ektiven Ideenbildung im men­ schlichen Geist analog ist, auch wenn nicht j eder Körper ein eigenes spon­ tanes Aktionszentrum besitzt. Hier kommt die theologische Dimension der Leibnizschen Rede zum Vorschein, nach der jeder geistlose Körper ein Au­ genblicksgeist (mens momentanea) ist: Der >>Deus indivisibilis Spatium EntisNatürlich würde ich, wenn drei in Lebensgefahr sind und nur zwei gerettet werden können, auf jeden Fall den retten, dem ich ohnehin mehr als einem einzigen anderen dem Recht nach ver­ pflichtet bin, den anderen aber den Umständen entsprechend. Was aber, wenn die Situation so bestellt ist, daß dieser eine, dem ich die Lebensrettung vor einem anderen schuldig bin, nicht gerettet werden kann, ohne daß dabei mehrere zugrunde gehen ? Ich glaube, daß mehrere, auch wenn es keine Freunde sind, dem einen Freund vorzuziehen sind. Aber wie weiter ? Ob schon zwei andere meinem Vater vorzuziehen wären oder erst zehn oder gar hundert ? quaestio aequiquaestio pietatis< verwandelt, je mehr Schicksal gleichsam an jedem Be­ rechnungsfaktor hängt. Schon beim eigenen Notwehrkampf um die ret­ tende Planke können Billigkeit und Pietät widerstreiten. >>Ist es erlaubt, an­ deren das Nötigste zu entreißen, weil es für einen selbst notwendig ist ? Geschieht es nach menschlichem und göttlichem Recht, einen anderen von der Planke hinabzustoßen, mit deren Hilfe er ans rettende Ufer schwimmen würde ? Darauf ist zu antworten, es sei erlaubt, wenn man alle Erwägung der Pietät beiseite gesetzt hat, nur aus der nackten Billigkeit, unabhängig von aller Erwägung GOTTES und des künftigen Lebens . «89 Weil Leibniz ausloten will, wie konsequent man beim Aufrechnen von Menschen und Gütern sein darf, kann und muß, steigert er das Konfliktpo­ tential seiner Experimentallogik bis ins Äußerste. Mit der folgenden Quan­ titätssteigerung werden aber die Proportionen der Ausgangstabelle von innen her zersprengt. Wie undeutlich die Gewichtungen schon auf einer einzigen Dringlichkeitsstufe werden, zeigen Leibniz' Versuche ihrer Fixie­ rung. Vom abstrakten Schema der Hilfsgebote her scheint scheint folgendes noch plausibel : >> Obwohl es billig ist, daß ich den Schaden von tausend an­ deren durch meinen eigenen ausgleiche, nämlich wenn davon mein Wohl und Wehe nicht abhängt, so ist es doch nicht billig, daß ich durch mein ei­ genes Unglück das Unglück der anderen ausgleiche« . Denn die mangelnde Rücksicht auf das labile Gleichgewicht des eigenen Glücks kann jemanden »ins Elend stürzen, so daß keiner dazu gezwungen werden sollte, von sei­ nem erworbenen Glück auf einen mittleren Zustand hinabzusteigen, wenn er dem Unglück des anderen abhilft« (443, 6-1 0).90 Leibniz erkennt, 88 In EJN 3 zieht Leibniz die seit Platon (Respublica 488 a ff.) geläufige Metaphorik des Staatsschiffes bewußt heran und bemerkt mitten in der Neuaufnahme der Schiffbruch-Konstel­ lationen: »Plures Respublicae seu saltem congregationes particulares sint velut plures naves in eadem classe« (456, 1 7). 89 »An liceat aliis necessaria auferre qvia sibi necessaria sunt, an ius fasqve sit alium tabula deturbare, cuius ope enataturus est. Respondendum est seposita pietatis consideratione licere, ex nuda aeqvitate, praecisa DEI et futurae vitae consideratione« (456, 1 2 - 1 4). 90 »Sed pergamus, cum aeqvum sit me damnum mille aliorum meo redimere, qvod scilicet nullius sit ad miseriam felicitatemqve momenti (nam hoc ipsum miseriam efficere potest, felici-

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Zweiter Teil · Der Systemzyklus von 1 669- 1 672

mit Kant zu sprechen, die indirekte Pflicht, für die eigene Glückseligkeit zu sorgen, weil diese eine B edingung für die Pflichterfüllung ist, deren Ver­ nachlässigung die Hilfsfähigkeit und Hilfsbereitschaft reduziert. Die Dringlichkeitsstufung von damnum und miseria ist auch unter diesem Aspekt bedeutsam. Willkürlich scheint dagegen Leibniz' Festsetzung, ich sei zwar >>verpflichtet, durch meinen Schaden die Schäden von tausend an­ deren wieder auszugleichen«, sofern deren Schäden >>in den Grenzbereich zum Unglück fallen, nicht j edoch bei nur zwei oder drei Personen« (442, 34 f.). Nach dem Pfeil-Schema der billigen Proportionen gilt dieses Hilfsge­ bot zunächst ohne Einschränkung, obwohl es nicht stricto jure strafrecht­ lich eingeklagt werden kann.91 Es ist nicht einzusehen, warum die Zumut­ barkcitsgrenze ausgerechnet bei zwei bis drei Personen liegen sollte. Die Verunklarung der Proportionen wird noch greifbarer bei den Fällen miseria contra miseriam. Um die Spannbreite konkurrierender Bevorzu­ gungskriterien zu ermitteln, verschärft Leibniz nochmals den Konflikt beim Abwägen zwischen dem Unglück des eigenen Vaters und dem Un­ glück von 2, 1 0 oder 1 00 Fremden, indem er die Liebe zum Vater kollidie­ ren läßt mit dessen Beurteilung nach rechtlichen Maßstäben.92 Er kehrt dann aber zur vereinfachten Frage zurück, die nun keine des strengen Rechts mehr ist. >> Ob es billig ist, daß ich das Unglück meines Vaters dem Unglück von tausend anderen vorziehe oder bereits dem Unglück von zweien oder hunderten, wobei ein Kettenschluß stattfindet« ? Zur Ent­ scheidung zieht er den scheinbar abgelegenen, kriegspolitisch aber leicht tate possessa dej ici, adeo ut nemo cogatur de felicitate possessa in statum medium decedere mi­ seriae alterius causa NB), non tarnen aeqvum est me miseria mea aliorum miseriam redimere, etsi debeam damno meo redimere aliorum felicitatem.>daß sich mein Vater in Feindeshand befindet und die Feinde ihn unter höchster Folterqual töten werden, falls ich ihnen nicht hundert andere zur grausamen Hinrichtung ausliefere. Was um Him­ mels willen sollte ich tun ?« >>Damit nicht j emand einwendet, daß ich ver­ pflichtet sei, diese (schreckliche) Wahl zu unterlassen«, modifiziert Leibniz den Fall dahingehend, daß die hundert nicht noch auszuliefern, sondern be­ reits gefangen sind, so daß >>der Feind mir die freie Wahl läßt, ob ich lieber meinen Vater oder die hundert anderen unter Folterqualen hingerichtet wissen will, und daß alle ( 1 0 1 ) sterben werden, wenn ich mich nicht bis zum nächsten Morgen entscheide«. (443, 1 1 - 1 7)93 So wird deutlich, daß unter bestimmten Umständen großer Not das tra­ gische Abwägen von Menschenleben unvermeidbar ist, daß der Entschei­ dungsverzicht ebenfalls eine Entscheidung wäre und daß unter extremen Bedingungen auch Schuld auf sich nimmt, wer nicht zu wägen wagt und sich unschuldig aus der Rechenoperation heraushalten möchte. Leibniz' ei­ gene Entscheidung zum Nachteil des leiblichen Vaters fällt ohne Hin- und Herwägen von Billigkeitsprinzipien, aber mit j enem inneren Zögern aus, das ein Zeichen von Humanität sein könnte. Sie geschieht aus einer pietas, die stärker ist als die Pietät gegenüber der Blutsverwandtschaft : >>Ich glaube mich dessen besinnen zu müssen, daß ich in stärkerem Maße ein Bruder bin angesichts GOTTES, des alleinigen Vaters, als ein Sohn [Credo me memi­ nisse potius debere me fratrem esse sub uno parente DEO qvam filium] « (443, 1 7). Vorausgesetzt wird auch hier, daß keine vorrangigen Prinzipien des strengen Rechts die Wahl einschränken.94 Auf diesem unsäglichen Komplexitätsgrad bricht Leibniz' kombinatori­ sche Gedankenkette zur Ermittlung von Naturrechtsnormen ab und zer­ läuft sich in exemplarischen Analysen zum Konflikt zwischen jus strictum, aequitas und pietas. Den Tod des Vaters eher zu billigen als den von 1 00 Fremden, mag noch von einer geheimen mathematischen Suggestion zeh93 » Qvaeritur vero an aeqvum sit me miseriam parentis mille aliorum miseriae praeferre, an saltem duorum, an centum, ubi sorites locum habet. Pone parentern meum apud hostes esse et hostes eum occisuros cum summo cruciatu, nisi eis 1 00 alios ad cruciatum dedam. Qvid faciam obsecro. Imo ponamus alium casum, qvia aliud est dedere, aliud relinqvere. Ponamus inqvam hostem mihi optionem dare, parentern meum an 1 00 alios occidi cum cruciatu malim, et si non eligam intra crastinum (ne qvis dicat me debere supersedere optione), occisurum omnes. « 9 4 Es könnte j a der Fall sein, »daß j ene hundert d i e Hinrichtung verdient haben«. Oder, noch komplizierter: »was tun, wenn sie zwar Strafe verdienen, nicht j edoch Folter oder Tod ? « Die Konstellation gleicht hier dem Bevorzugungskonflikt beim Schiffbruch: »ob dann, wenn zwei in Lebensgefahr sind, bei völligem Gleichgewicht (der Kriterien) eher derj enige preiszu­ geben ist, bei dem das Unglück mit Schuld verknüpft ist ? Dies halte ich auf alle Fälle für gewiß« . Doch in einem »Casus paritatis« i s t d i e Entscheidung leichter, >>während zwischen meinem Vater und den hundert anderen diese Gleichheit nicht gegeben ist« . {443, 1 8-2 1 )

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ren. Ins Wanken gerät aber auch diese Scheinsicherheit, wenn man die Per­ sonenzahl allmählich bis auf 2 verringert. »Ist es erlaubt, auch diese dem Vater vorziehen, oder muß man in der Grössenordnung um zehn Personen bleiben ? « In einer rein formalen Betrachtung, die bei solchen ernsten Inhal­ ten leicht geschmacklos wird, gleicht die Aporie dem antiken Phalakros-So­ phisma. Wie der Megariker Eubulides fragte, ab wie vielen ausgefallenen Haaren man von einer Glatze sprechen muß, so fragt der Py�:hagoreer Leib­ niz, ab wie vielen fallengelassenen Personen man bei der Rettung seines Vaters von Ungerechtigkeit oder Unbilligkeit sprechen muß .95 Daß die Grenze sich nicht exakt bestimmen läßt, mit der ein Quantum in eine an­ dere Qualität umschlägt, ändert allerdings nichts an der pragmatischen Notwendigkeit quantifizierender Einschätzungen. Leibniz wird j edoch durch diese Grenzunschärfe derart irritiert, daß ihm zwischendurch die Frage kommt : >>Üb Zahlen überhaupt irgend etwas zur Sache beitragen [An numeri qvicqvam ad rem pertinent] « ? (443, 2 1 -23) Die Irritation seines moralischen Empfindens legt sich aber wieder, denn am wenigsten ein Po­ litiker wie Leibniz könnte behaupten, daß die Anzahl von Menschenleben bei notabwendenden tragischen Entscheidungen völlig gleichgültig wäre. Als aporetisches, wenn auch nicht desaströses Ergebnis der experimentel­ len Kombinationskette zeigt sich also eine doppelte Unschärfe, welche für die ins Politische ausgeweiteten Proportionen der Verhältnismäßigkeit nicht einmal innerhalb der abstrakten Fallkombinatorik eine eindeutige Letztnormierung mehr zuläßt. Erstens verschwebt die quantitative Ge­ wichtung selbst ins Ungefähre. Das wird noch deutlicher, wenn nicht nur die Gewichte auf einer Dringlichkeitsstufe abzuwägen sind (z. B. der Tod des Vaters gegen den von Hunderten), sondern eine Abwägung verschiede­ ner Stufen erfolgen muß (etwa beim Geiseldrama der bloße Schaden von zehntausend gegen den Tod von fünf Personen). Obwohl die Proportionen allgemeingültig, d. h. auf alle Rechtssubj ekte anwendbar bleiben, wird also ihre bestimmende Funktion von einem gewissen Komplexionsgrad an frag­ würdig. Bezogen auf Schädigungsverbote dürften sie in einfachen Fällen noch relativ deutlich bleiben. Je mehr Verantwortung aber der einzelne hat, desto mehr konfligierende Schadensfelder muß er auch gegeneinander abwägen und umso abstrakter wird seine Entscheidung im allgegenwärti­ gen casus concursus. Dies scheint weniger eine Theorieschwäche des Leib­ nizschen Ansatzes zum Naturrecht zu sein als eine schmerzliche Einsicht in den Weltlauf und die Endlichkeit des Menschen. Die Trennunschärfe al95 Leibniz hatte den Phalakros schon im Specimen von 1 664 als eine Spezies der sophismata »quaeritur, a quoto pilo amisso quis calvus fiat« {88, 1 2 - 1 7).

insolubilia referiert :

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les gerechten Ausgleichens, gleichsam die Trägheit von Justitias Balken­ waage, gilt noch stärker für die Anwendung der Proportionen auf die Hilfs­ gebote. Im vertrauten Kreis der Familie und Freunde werden die intuitiv berücksichtigten Gewichtungen nur selten fragwürdig. Der politische Ent­ scheidungsträger dagegen, der Rücksicht auf möglichst alle anderen neh­ men muß, findet sich in einem ständigen casus concursus widerstreitender Hilfsansprüche; oder, wie Leibniz wenig später sagen wird : »Weil ein guter Mensch alle liebt, so entspringen notwendig immer zahllose Widerstreite von Liebestendenzen«.96 Jede wirkliche helfende Zuwendung ist, gemessen an dem auch intellektuell überfordernden Maßstab einer absoluten Situa­ tionsgerechtigkeit, zugleich eine Abwendung von möglichen anderen Hilfe­ leistungen. Zweitens zeigt schon die bloße Subsumtion exemplarischer Einzelfälle unter die Tatbestände von lucrum, damnum oder miseria ein so weites Feld subjektiven Ermessens, daß Leibniz am Ende kaum noch Antworten gibt. Zunächst versucht er noch, etwa die konkrete Frage : >>hin ich ver­ pflichtet, mir einen Arm abtrennen zu lassen, damit andere gerettet wer­ den ? « , zu verallgemeinern, indem er ein bislang vernachlässigtes Kriterium zur Differenzierung innerhalb einer Dringlichkeitsstufe einführt, nämlich die Zeitdauer. >>Bin ich verpflichtet, einen großen Schmerz, d. h. ein Un­ glück für kurze Zeit, zu ertragen, um nicht nur das langfristige, sondern das ewige Unheil anderer zu vermeiden ? « Die miseria exigui temporis wird zunächst als Zusatzkriterium zur Entscheidung der obengenannten dramatischen Rechtsfragen ins Auge gefaßt. Das Wissen, daß mein Vater ohne irgendeine Schuld qualvoll hingerichtet würde, wäre ein dolor ma­ gnus, der mir nicht zugemutet werden, d. h. zu dem mich kein strenges Recht zwingen kann. Ähnlich ist es beim Freund. Stricto jure darf ich seine Rettung derj enigen der hundert anderen vorziehen, >>weil ich nicht zu ei­ nem großen seelischen Schmerz, d. h. zu kurzzeitigem Unglück gezwungen werden kann. Nach billiger Verhältnismäßigkeit ist mir das jedoch nicht er­ laubt [qvia non possum cogi ad magnum animi dolorem, seu miseriam bre­ vis temporis. At ex aeqvitate non licet] « . Bei der Frage aber, wie lange ein >>kurzer Schmerz« dauern mag, gerät die Argumentation endgültig ins Wan­ ken. >>Sich am Ellbogen zu stoßen« ist für keine echte miseria exigui tem­ poris zu halten. Ist aber umgekehrt die Amputation eines Armes oder das Wissen um die Hinrichtung Nahestehender ein bloß vorübergehender Schmerz ? Die Grenzen werden noch undeutlicher, wenn man bedenkt, 9 6 »Cum vir bonus amet omnes, innumerabiles semper concursus amorum oriri necesse est« (EJN 5, 480, 1 1 f.).

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daß wegen der Verhältnisgleichheit von miseria contra miseriam und dam­ num contra damnum der Zeitfaktor auch auf die Stufe des bloßen Schadens anzuwenden wäre. (443, 23-33) An dieser Stelle reißt nicht nur bei Leibniz der Argumentationsnerv. Das kombinatorische Gedankenexperiment hat gezeigt, daß die Proportionen der Verhältnismäßigkeit unentbehrliche Kriterien für die Schädigungsver­ bote des strengen Rechts und für die Hilfsgebote der Billigkeit sind. Das scheinbar kalte Durchrechnen, das bei Leibniz eine so große ethische Sen­ sibilität verrät, hat aber auch die Grenzen der Obj ektivierbarkeit ethischer Handlungsmaßstäbe eindrucksvoll vor Augen geführt. Selten in der Ge­ schichte des Naturrechts dürfte in einem so schmalen Text so viel Methodik zu so weitreichenden Konsequenzen geführt haben. Unbeachtet von der Nachwelt hat Leibniz in seinen frühen Aufzeichnungen die Gründe dafür niedergelegt, weshalb er auch später zwar immer auf der Gültigkeit inva­ rianter Proportionen des Gerechten insistiert, niemals aber eine Doktrin von Rechts- und Tugendpflichten entwickelt hat. Auch nach dem Schiff­ bruch eindeutiger Letztnormierung bleibt die Gedankenführung seiner frü­ hen Reflexionen erstaunlich konsequent. Denn nun stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Rechts- und Billigkeitspflichten, insbesondere nach den Grenzen der Erzwingbarkeit der Hilfsgebote. Deutlicher zu be­ stimmen ist also, »was billig ist, obwohl es nicht verlangt werden kann [qvae aeqva sunt etsi exigi non possunt] « ( 444, 2 f.). Daß es » zweierlei ist, ob man gerecht oder billig handelt«, war Leibniz lange klar, nicht aber, wie sich der Unterschied genau bestimmen läßtY Gerecht ist zu­ nächst das Erlaubte oder Nicht-Verbotene, billig das zu begehen Gebotene. Unterhalb der Billigkeit gelten die streng rechtlichen Unterlassungsgebote. Deshalb läßt sich zwar definieren : »lustum est qvod iniqvum non est«; nicht aber ist umgekehrt schon billig, was nicht ungerecht ist (455, 26). Bei den Hilfspflichten der aequitas treten zwei Fragen in den Vordergrund : 1 . Wel­ che Hilfeleistungen sind durch die stufenversetzten Proportionen der Rechtsgleicheit rational geboten als das spezifische >debitum aequitatis< ? 2 . Welche von diesen Verhältnismäßigkeiten können über ihr inneres Gebo­ tensein hinaus a) vom Staat als eine Rechtspflicht erzwungen oder b) auch

Das Problem der staatlichen Erzwingbarkeit von Billigkeitspflichten

-

97 Leibniz hat hinter dem »aliud [ . . . ] justurn agere, aliud aeqvum agerebilligen< ist, nur >>difficillime generaliter« definieren ( 455, 32).9 8 Denn die Proportionen, die in den vier Dringlichkeitsstufen des Pfeil-Schemas dargestellt sind (s. o. 3 1 8), zeigen bloß die gebotene Ab­ hilfe bei gegebenen Übeln und sind außerdem der distributiven Gerechtig­ keit gemäß nach den Verdiensten des einzelnen zu staffeln. >>Billigkeit ist die Verhältnisgleichheit zwischen Gütern und Verdiensten. Verdienst ist hier der mit einem Privatwohl verknüpfte Einsatz für das öffentliche Wohl. « Leibniz berücksichtigt dabei auch ein volkswirtschaftliches Argu­ ment. >>Somit ist Billigkeit die größtmögliche Ausgeglichenheit der Güter unter mehreren Personen, die ohne Beeinträchtigung der Gütererzeugung im allgemeinen stattfinden kann. Hieraus wird klar, daß das Problem nicht hinreichend gründlich auf Proportionen zurückgeführt werden kann, nicht besser als die Tugend auf das Einhalten des mittleren Maßes. « (454, 27-30)99 Weil für die spezielle Zuteilungs-Billigkeit Klugheitsregeln hinzutreten müssen, kann auch sie definiert werden als >>Klugheit, in ausgewogenem Verhältnis Güter und Übel zu verteilen [prudentia in dispensandis bonis malisqve] « . Von ihr zu unterscheiden ist die gebotene Hilfsverpflichtung ohne Ansehen der Person, die Leibniz auch Bereitschaft zur Freundlichkeit nennt : >>Amicabilitas est prudentia in dispensandis bonis, seu qvousqve pro­ clesse debeamus.« Dagegen ist die justitia im engeren Sinne des Erlaubten die >>prudentia in dispensandis malis, seu qvousqve nocere liceat« ( 456,

32-34). Zur Eingrenzung der allgemeinen Billigkeitspflichten, die auch ohne Ge­ genleistung nach dem bloßen proportionalen Gefälle geboten sind, faßt Leibniz die Gewichtungen in immer neuen Versuchen unter dem positivem Aspekt (Förderung von Gütern) und dem negativem (Vermeidung von Übeln) zusammen. >>Billig ist es, das Glück des anderen zu fördern, soweit dadurch nicht das eigene verletzt wird, und das Unglück des anderen unter 9 8 An der Stelle: •lustum est in animo. Aeqvum in re« (455, 21 f.) ist •justum« wohl zu ver­ stehen im Sinne von •justitia«, weil auch das Gerechte als Norm in einer Sache, d. h. in einer Proportionalität besteht. Dem entspricht ungefähr die Unterscheidung aus De complexionibus: •aliud [ . . . ) est mediocritas affectuum; aliud rerum« (230, 4 f.). 99 •Aeqvitas est aeqvalitas rationis bonorum cum ratione meritorum. Meritum est hoc loco bonum publicum privato connexum. Ut adeo aeqvitas sit aeqvalitas bonorum inter plures, salva eorum productione in universum quanta maxima haberi potest. Hinc patet non posse rem satis solide ad proportiones revocari < korrigiert nach A VI 2, 528), non magis qvam virtutem ad me­ diocritatem. «

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Vermeidung des eigenen Unglücks zu verhindern«; oder, in einem Dreistu­ fenschema, welches das lucrum und die indemnitas zum utile zusammen­ faßt: billig ist es, »dem, was für einen anderen vorteilhaft ist, den Vorrang zu geben vor dem, was für einen selbst überflüssig ist, und das, was für einen anderen notabwendend ist, für wichtiger zu achten als das, was für einen selbst bloß vorteilhaft ist. >daß ich dir etwas Vorteil­ haftes einräume, wenn dies für mich nicht unschädlich oder auch nur nicht nützlich ist, dazu kann ich von dir nicht gezwungen werden>daß ich dir aber das Notwendige gewähre, sehr wohl. Dies ist zugleich ein Grundsatz der Billigkeit>exigi non pos­ suntWarum aber kann ich von einem anderen nicht verlangen, d. h. ihn nicht zwingen, daß er mir hilft und nicht bloß nicht schadet ? >weil auch ich ihm selbst keine Sicherheit gewährleisten kannUnwahrscheinlichkeit von Elend>die Anzahl der Menschen, durch die einzel­ nen, durch das Maß an Unglück bzw. seine UnwahrscheinlichkeitMeinung« und durch >>einen gesteigerten Grad und Zuwachs an Qualität>wenn die Menschen in Erwar­ tung nicht nur von Sicherheit, sondern auch von weiteren Gütern leben>Über10 4 >>Porro si qvis homo aut Concilium ita fortis sit, ut praestare omnibus securitatem possit, imo felicem reddere, is j ure alios cogere potest, et ab omnibus juvari debet ad communem feli­ citatem.« (In der Formel » homo aut Concilium« zeigen sich deutliche Spuren von Leibniz' An­ eignung des Hobbesschen Naturrechts-Denkens.) Vgl. auch 443, 3 5 - 444, 1 .

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zeugung, glücklich zu sein«. Denn einen bewußtseinsexternen Maßstab für eine >Vorhandenheit< von Glück kann es nicht geben. Das faßt Leibniz in einem großen Wort zusammen: >> Glücklich ist, wer sich für glücklich hält, solange er sich dafür hält [Felix est qvi se felicem putat, qvamdiu pu­ tat] « (446, 2 8 ) . 1 05 Das Glas, das dem einen noch halbvoll scheint, gilt dem anderen schon als halbleer. Deshalb ist es für die Stabilität des Staates >>äu­ ßerlich, ob die Bürger sich wahrhaft oder nur wahnhaft im Zustand von Si­ cherheit befinden. Denn auch wenn die Sicherheit eines Staates bereits auf­ gelöst ist, löst er sich doch nicht eher auf, bis das öffentliche Vertrauen in die Sicherheit aufgelöst ist«. ( 446, 20-30)106 Weil also nicht nur die berühmten >Verhältnisse>Unglück« und >>Not« bewußt wurde. Sie kann allein vom Richter geschlossen werden, der bei den casus dubii des positiven Rechts dem Na­ turrecht Geltung verschafft. Soweit das Widerstandsrecht sich nicht auf die unterste Billigkeitstufe, die Lebensrettungspflicht, gründet, stellt sich auch die Frage, >>ob ich zu be­ strafen bin«, wenn ich einem anderen >>mit Gewalt dasj enige abpresse, was billig ist« (444, 1 f.) . 1 20 Leibniz' Antwort befriedigt nicht mehr und nicht weniger als viele Versuche im Laufe der Jahrhunderte, die naturrechtliche Verhältnismäßigkeit dort zu fixieren, wo große Not nicht bis zur akuten Lebensgefahr geht. >>Es ist nicht erlaubt, das strenge Recht um der Billigkeit willen zu verletzen, es sei denn mit der sicheren Erwartung, daß es«, d. h. die Verletzung, >>siegreich und verborgen bleiben wird. So hat ein einziger vitate, qvousqve securus salutis esse possum, teneor ad omittenda alia praesidia salutis jussu ci­ vitatis. Et eius qvi mihi de felicitate spondere potest, jussu teneor omnia alia remittenda, jussu eius praesidia et instrumenta felicitatis. Igitur ei qvi me securum praestat felicitatis ad omnia simpliciter deferenda teneor. Qvalis est DEUS. Hinc patet jure resisti civitati, ubi miseriam mihi intentat, aut felicitatis qvam aliunde praestare non potest praesidia eripit. Neqve enim qvod a miseria securum me praestat, felicitatem eripere potest. Hinc etsi civitas me jure morte puniat, ego tarnen jure resistam, nisi scilicet sit aliqva ratio ultra mortem.« - Ähnlich heißt es in den Eiementa juris civilis von 1 6 70-72: » Ü mnes subditi obedientiam debent, id est parere, quantum salvis rebus suis licite possunt. « (A VI 2, 82, 22 f.) 120 »Si per vim extorserim aeqvitatem ( Konj ektur nach A VI 2, 527), an puniendus sum. «

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bettelarmer Mensch nicht das Recht, über einen habgierigen Reichen herzu­ fallen und ihn auszuplündern; auch haben Bauern nicht das Recht, die Rei­ chen zu berauben. Falls es aber hunderttausend weise Bauern geben könnte, so bestünde kein Zweifel, daß sie sich zu Recht aus einer allgemeinen Not­ lage befreiten, wenn sie nur sicher wären, daß nicht ein noch größeres Un­ glück daraus folgen würde, wie es von der Zügellosigkeit und Verwirrung dieser Leute zu erwarten ist.« (456, 23-27) 1 2 1 Leibniz nennt also zwei Legitimitätskriterien für d i e Billigung einer Rechtsbeugung. Erstens ist die Anzahl derj enigen, die in Not sind, nicht unerheblich. Was bei einem einzigen fragwürdig ist, könnte gebilligt wer­ den bei einer Kollektivnot von Hunderttausenden. Zweitens zielt die Er­ laubnis nisi certa spe victoriae et obtentionis, die auf den ersten Blick perfide wirkt, auf einen hohen Gewißheitsgrad bei der Einschätzung des Gelingens der Notabwendung und des Ausbleiheus verheerender Folgen. Leibniz' martialischer Irrealis bei den centena millia rusticorum sapientum zeigt aber gerade, daß er das geschichtliche Zusammentreffen beider Bedingun­ gen für unwahrscheinlich hält. Beim Aufstand von Massen, die durch Not aufgewühlt sind, werde eher die confusio siegen, als die certitudo des insgesamt größeren Gutes sich bewahrheiten.122 Deshalb stellt sich bei möglichen Konflikten zwischen jus strictum, aequitas und pietas das Pro­ blem der Erkenntnisgewißheit. An sich, d. h. im göttlichen Verstand, bilden die Proportionen der Natur­ rechtsstufen eine eindeutige Erfüllungshierarchie. »Alles Gerechte gehört, wenn GOTT ist, zur Billigkeit; dasselbe gehört, wenn man GOTT voraus­ setzt, auch zur Pietät.« (444, 34 f.) 1 23 Deshalb gelten aber für die religiöse Rücksichtnahme ultra mortem, die Leibniz oben erwähnte, nicht etwa an­ dere Maßstäbe der aequalitas. Vielmehr tritt für den Gläubigen ein Ver­ pflichtungsgrund hinzu, der das Grundrecht auf Lebenserhaltung gleichsam in die Ewigkeit erhöht. 124 Zugleich geschieht beim Monarchen der respu1 2 1 >> lus strictum aeqvitatis causa violare non licet, nisi certa spe victoriae, et obtentionis, v. g. uni mendico divitem avarum involare, et depraedari ius non est, nec rusticis divites destruere. At si centena millia rusticorum sapientum dari possent, non est dubium qvin recte se a miseria pu­ blica liberarent, si certi essent non secuturam majorem qvae a licentia confusioneqve eorum ho­ minum expectanda est.für uns Vorsorge trägt«, kann er uns durch seine ausgleichende Ge­ rechtigkeit auch >>glücklich machen, wenn wir nur wollen«, d. h. wenn wir alles tun, >>was er für gut befindet>dasj enige, was der Harmonie der Dinge dient>besondere Harmonie der Geister für gut befindet, so kann diese, wenn sie ins Disharmonische verdreht worden ist, nur durch Strafe auf harmonische Verhältnisse zurückgeführt werden> Kenntniseine sichere Kenntnis [Scientia est notitia certa) «, Meinung dagegen eine nur >>wahrscheinliche Kenntnis [Opinio est notitia probabilis] >Klarheit ist die Kenntnis aller Teile von etwas Erkanntem [Claritas est notitia om­ nium partium cogniti) > Urteilskraft ist die Fähigkeit zu urteilen, d. h. eine gegebene Sache zu durchdringen und in ihre Teile aufzulösen [ludicio­ sitas est virtus judicandi seu penetrandi, resolvendiqve in partes rem propo­ sitam] >die kleinste Gefahr der Verfehlung meiden, auch wenn ihm der größte Gewinn in Aussicht stünde«, indem er die Dringlichkeit seines Handeins gewissenhaft gegen dessen Erfolgswahr­ scheinlichkeit abwägt. Zu unterlassen ist ein Handeln, dessen Gelingen viel­ leicht >>sehr wahrscheinlich, aber nicht sonderlich fruchtbar ist«, >>jedoch sehr schädlich, wenn es fehlschlägt« (47 1 , 31 f.; 22-24). 126 Dieses vorsichtige Abwägen des für uns letztlich Unberechenbaren, diese Bindung der Gewiß­ heits- an die Gewissensprüfung, hatte Leibniz bei der obigen Klausel nisi certa spe victoriae et obtentionis vor Augen. Daher überrascht es nicht, daß er seine Überlegungen zum legitimen Widerstand beendet durch die Verknüpfung der physischen Not mit der Gewissensnot. Im weltlichen >>Staat geschieht die Vermutung ( der Rechtmäßigkeit) zugunsten des Ober­ hauptes; das heißt, daß ihm in allem zu gehorchen ist, wenn nicht unser Glück beeinträchtigt zu werden oder Unglück zu drohen scheint. Für die­ jenigen aber, die GOTT anerkennen, ist die Welt ein einziger Staat, dem alle anderen Staaten unterworfen sind127; somit ist es nur dann erlaubt, sich dem Staat zu widersetzen, wenn mit Gewißheit feststeht, daß davon ein insge­ samt größeres Gut abhängt, d. h. daß GOTT es für gut befindet. Weil das aber höchst selten feststeht, ist es gewiß, daß man sich dem Staate höchst selten widersetzen darf« (445, 2-6).128 Bei der Einschätzung der eigenen Not, erst recht aber der Not anderer, ist folglich eine wirkliche Notwendig­ keit des Widerstandes selbst nicht ohne Not einzuräumen.129 126 »Hinc minimum peccandi periculum maximo etiam commodo proposito vitabit vir bo­ nus«; »enim potest aliqvid esse probabilissimum, et tarnen si succedat parum fructuosum, si fru­

stretur valde damnosum«. 1 2 7 Welchen großen Wert für Leibniz die Alleinigkeit der mundi civitas hat, zeigt die Stelle, wo er das » Reich (imperium)« definiert und sich dabei selbst präzisiert: »Imperium est familia civitatum. Seu civitas imperans, cui aliae parent. Etsi accurate loqvendo non sit nisi una [!]. Et ita esset imperium systema civitatum foederatarum.« (446, 6 f.) 128 »In Civitate praesumtio est pro rectore, id est per omnia ei parendum est, nisi appareat felicitatem nostram tangi aut miseriam imminere. Sed apud eos qvi DEUM agnoscunt una est mundi civitas, caeterae huic subditae, ut non liceat resistere Civitati, nisi certo constet maius inde bonum universi pendere, id est esse gratum DEO, qvod cum rarissime constet certurn est, rarissime resisti posse civitati. « 1 2 9 Leibniz hat seine frühesten Gedanken zum Widerstandsrecht stets beibehalten. Wie schon beim B eispiel der Bauernaufstände hat er immer die Gefahr gesehen, daß die Folgen von Aufruhr oft schlimmer ausschlagen als das ursprüngliche Übel selbst. Im Specimen zur pol-

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Angesichts dieser Reflexion auf die Fraglichkeit der Erkenntnisgewiß­ heit wird man Leibniz keine Leichtfertigkeit vorwerfen können, wenn er gegen Grotius und Arnisaeus1 30 das Widerstandsrecht als ultima ratio ver­ teidigt. 1 3 1 Der Rekurs auf die civitas Dei dient bei ihm nicht einer funda­ mentalistischen lnstrumentalisierung weltlicher Interessen, nicht einer theokratischen Vermischung des weltlichen forum externum mit dem fo­ rum internum des Gewissens . 1 32 Er soll vielmehr zeigen, daß der einzelne sich nicht aus der civitas terrena heraus in einen rechtsneutralen Raum flüchten kann, sondern sich mit dem Widerstand gegen die irdische doch einer höheren Gerichtsbarkeit unterstellt: der respublica und dem regnum DEI super homines ( 1 68, 1 4 f.; 1 90, 33; 294, 1 4). Bei Leibniz ist die civitas Dei der civitas terrena nicht entgegengesetzt, sondern schließt diese wie ein Subsystem ein. Wir Menschen sind » Legaten Gottes«, und unser Gewis­ sen ist ein >>Stellvertreter-Gott« in der Universalharmonie. Weil Gott der >>gemeinsame Monarch aller« bleibt, kann es den >>reinen Naturzustand der Menschen außerhalb j edes Staates«, wie Hobbes ihn fingiert, faktisch nicht geben.133 Nach der beim späten Leibniz kaum veränderten Idee des im irdischen Reich gegenwärtigen göttlichen1 34 ist >>die Welt selbst ein gro­ ßer Staat; in ihm verhalten sich die Geister entweder wie Söhne oder wie Feinde < Gottes>, die übrigen Geschöpfe aber wie Knechte « . 1 35 So wird

nischen Königswahl von

1 669 warnt er vor der Gefahr, daß eine allgemeine »audacia resistendi superioribus« leicht in einen Bürgerkrieg ausartet (A IV 1, 14, 22). 1 3 0 »Nam qvae Grotius et Arnisaeus scripsere de j ure Civium contra potestatem (korrigiert nach A VI 2, 527) semper irresistibili, ea nescio an defendi qveant.« {445, 7-9) Leibniz meint wahrscheinlich die Stellen bei Grotius : De jure belli ac pacis, I IV, insb. II 1; sowie bei Henning Arnisaeus : Doctrina politica, A msterdam 1 643, Kap. 1 1 . 1 3 1 Zu Leibniz' durchgängigem, wenn auch » immer mit äußerster Vorsicht« behandeltem Festhalten am Widerstandsrecht vgl. auch Schiedermair: Das Phänomen der Macht und die Idee des Rechts, 3 3 1 -333; sowie Ruck : Die Leibniz 'sche Staatsidee, 88 f.; 92-94. 1 3 2 Gegenüber der Behauptung, Leibniz' Leitidee sei die »Theokratie« gewesen (so etwa Schmalenbach: Leibniz, 1 73 - 1 79), hat Larenz : Sittlichkeit und Recht, 233, richtiggestellt, beim » Gottesstaat« handle es sich für Leibniz nicht um ein »politisches Programm« für ein »ir­ disch-politisches Gemeinwesen«, sondern um die »sittlich-religiöse Idee« einer »die irdische Wirklichkeit durchgreifende[n) und überhöhende[n) moralische[n} Weltordnung«. m »Nos enim sumus Legati DEi, conscientia nobis Vice-DEus, seu Judex controversiarum.« (Anmerkung zu Jakob Merlo, A VI 2, 1 5 1 , 6 f.) » Neqve diffiteris supposito Mundi Reetare nul­ lum esse posse hominum statum pure naturalem extra omnem Rempublicam, cum Deus sit om­ nium Monarcha communis« (an Hobbes, 1 3 ./23 . Juli 1 6 70, A II 56, 28-30). 1 34 Vgl. hierzu Schneiders : Respublica optima. Zuzustimmen ist auch seiner These, wonach sich spätere »Variationen« dieser Konzeption »aus dem j eweiligen Kontext erklären; eine Ent­ wicklung findet kaum statt, wohl aber [ . . . ) eine Entfaltung und Verknüpfung verschiedener An­ sätze« {6). 1 35 » Ipse enim mundus grandis quaedam respublica est, in qua mentes vel filiorum vel ho­ stium, ceterae creaturae, seruorum instar habent.« (An Thomasius, 1 9 ./29. Dezember 1 670, A II 1, 73, 27 f.)

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schließlich am Widerstandsrecht erkennbar, wie die Einsicht in die unver­ meidbaren Konfliktfälle, die gleichsam zwischen den Stufen der harmoni­ schen Proportionen hindurchlaufen, Leibniz zur dynamischen Auffassung der disharmonischen Universalharmonie führte (s. o. 26-33). Unter den dis­ harmonischen oder zumindest kontrapunktischen Spannungen, welche das Harmoniegeschehen durchläuft, bildet das völlige Auseinandertreten von irdischem und göttlichem Recht eine äußerste Dissonanzerfahrung, die für jede Theodizee zu berücksichtigen ist. 1 36

b) Die vermittelnde Logik der Liebe (justitia universalis) Den wenigen Interpreten hat Leiboizens 1 670 einsetzende Zentrierung des Naturrechts im Begriff der Liebe große Verlegenheit bereitet. 137 Nicht ohne Grund hat man das Aufblühen der Worte amor und caritas aus dem nüch­ ternen Juristenherzen als Ausdruck eines Gesinnungswandels, ja einer Be­ kehrung gedeutet. 1 38 Im Lobpreis der Liebe inmitten einer haßverblendeten Welt (s. u. 359 f.) könnte zwar ein Bekehrungserlebnis mitschwingen. Doch besteht hier die Gefahr, einer perspektivischen Täuschung zu erliegen. Leibniz hatte schon früher die pietas mit der charitas und dem amor DEI identifiziert. 1 39 Bislang hatte er aber sein Augenmerk ganz auf die Gewin­ nung j ener normativen Kriterien gerichtet, die es nur auf den zwei unteren 1 3 6 In diesen Zusammenhang gehört die vorausweisende Stelle am Ende von EJN 6: »Daß Gemälde durch Schattierungen, Gesänge durch Dissonanzen geschmückt werden, insofern diese zuletzt auf eine Harmonie zurückgeführt werden, ist gewiß. Dieser Gedanke ist von gro­ ßem Gewicht, denn aus ihm folgt das geregelte Verhältnis j eder Lust und j edes Schmerzes und überhaupt aller Affekte. Ja, was noch wichtiger ist: dies ist der einzige Weg, die Sticheleien der Atheisten abzuwehren, >deren zweifelnder Geist von der Frage beunruhigt wird, ob denn Göt­ ter für die Erde Sorge tragen, oder ob ihr denn gar kein Lenker innewohnt und die sterblichen Dinge in ungewissem Zufall dahinfließen< (vgl. Cl. Claudian : In Rufinum, I 1 ). Hierbei spräche die Harmonie der Welt für einen GOTT, die Verwirrung der menschlichen Angelegenheiten dagegen für blinden Zufall. Denen aber, die dies tiefer erforschen, scheint die Wirrnis von sechs­ tausend Jahren (seit Beginn der Welt), die gleichwohl einer gewissen eigenen Harmonie keines­ wegs entbehrt, im Vergleich mit der Ewigkeit sich wie ein einziger mißtönender Takt zu verhal­ ten, der im Ausgleich durch eine andere Dissonanz zum Einklang des Ganzen zurückgeführt wird und somit die Bewunderung für den das Unendliche in sich begreifenden Lenker ver­ mehrt. « {485, 4- 1 3 ) 1 3 7 Daß » i m Laufe des Jahres 1 670 [ . . ] der Begriff der Liebe [ . . ] mehr und mehr i n d i e Er­ örterung der Gerechtigkeit einbezogen wird«, ist der Tatbestand, den es zu deuten gilt {Schnei­ ders : Naturrecht und Gerechtigkeit bei Leibniz, 6 1 9). 1 3 8 So v. a. Mulvaney : The Early Development of Leibniz 's Concept ofjustice. Er spricht von einer »conversion« (67, 69), einem »radical change of heart>prudentia juvandi et nocendi praemii poenaeqve causa«, 453, 23 f.) hinausgeht zur spezifisch sittlichen justitia universalis140 der höchsten Naturrechtsstufe. Sie ist durch den >>amor« oder die >>Caritas sapientis« definiert. 141 Liebe bricht nicht etwa mit den Proportionen für er­ laubtes Benachteiligen und gebotenes Helfen, sondern ist nur das höchste Motiv, die erzwingbaren Rechtspflichten und die nur in ihren Grundstufen positivierbaren Billigkeitspflichten rein aus innerer Verpflichtung zu >erfül­ len< oder gar zu übersteigen (Röm. 1 3, 1 0). Für Leibniz' Integration aller gerechten Handlungsantriebe in die Stufen des >ordo amoris< lassen sich vier Gründe unterscheiden, die im folgenden nacheinander erläutert wer­ den : 1 . die inhaltliche Vervollständigung der Motivationen, 2. die Einsicht in die Unzulänglichkeit aller positiven, d. h. kontextisolierten Definitionen des justum, 3 . die Entdeckung, daß sich in der Liebe die Selbstbezogenheit alles Handeins vereinbaren läßt mit der Selbstzweckhaftigkeit anderer Per­ sonen. 4. ist stets zu beachten, wie Leibniz mit der Idee der weise verteilten Liebe die menschliche Gerechtigkeit durchgängig von ihrer Ebenbildlich­ keit zur göttlichen her auslegen kann. Der kleine Gott der Welt (zum >>deunculusCaritas sapientis> Virtus moralis est virtus volendi. Justitia est virtus volendi qvod justurn est« (454, 7 f.). - Einen materialreichen Überblick über die höchste Naturrechtsstufe gibt Grua: La justice humaine selon Leibniz, 125-228.

1 4 1 Obwohl sich diese endgültige Formel erstmals im Brief an Herzog Johann Friedrich vom Mai 1 677 findet (A I 2, 23, 1 7), trifft doch das Urteil von Schneiders : Naturrecht und Gerech­ tigkeit bei Leibniz, 625 f., zu, daß sich später »der Sache nach durch diese neue Bezeichnung we­ nig geändert hat>amare est delectari alterius bonisAlienität< und werden trotz ihrer absoluten Vereinzelung zu einem Moment des eigenen Selbst oder gar zum alter ego. 144 Die Entgrenzung dieses Vertrautheitserle­ bens auf prinzipiell alle Menschen der großen civitas mundi ist das Gefühl eines religiösen Weltbürgertums, das Leibniz >>pietas« nennt. Sie ist das Be­ wußtsein, daß alle Wesen von Gott als ihrem gemeinsamen Urquell abstam­ men. Daß durch die Erfahrung universaler Verwandtschaft die innere An­ teilnahme am Anderen verstärkt wird, hat Leibniz ausdrücklich vermerkt. In den Digesten schreibt Florentinus : »Daraus, daß die Natur eine Ver­

wandtschaft unter uns geschaffen hat, folgt, daß es frevelhaft ist, wenn ein Mensch dem anderen nachstellt« . 145 Leibniz interessiert an diesem natu­ ralistischen Fehlschluß nur das Antecedens. »Verwandtschaft>ein dop­ peldeutiges Wort; denn zum einen bezeichnet es die Ähnlichkeit, zum an­ dem die gemeinsame Abstammung. Beides trägt dazu bei, die Gewalt eines Menschen gegen den anderen zu hemmen : die Ähnlichkeit, weil wir mit Ähnlichem mitleiden, sofern sich an die Vorstellung vom Übel anderer die unseres eigenen Übels knüpft; die Abstammung erhält ein noch feineres Gefühl von Identität aufrecht, durch das die Ähnlichkeit gesteigert wird« (432, 23-28).146 So ergänzt die religiöse Pietät die natürliche Verwandtschaft 1 44 Daher sagt Leibniz später, Karneades' These von der Gerechtigkeit als höchster Dumm­ heit sei der Unkenntnis von der Grenzbestimmung der »qnA.av8pcmtia« oder »Caritas sapientis« entsprungen [ex ignorata ejus definitione natum]. Ihr mangele die Urerfahrung des "feJicitatem alienam asciscere in suam« (Vorrede zum Codex juris gentium diplomaticus, GP III 386 f.). 1 45 »Cum qvandam inter nos cognationem natura constituerit conseqvens hominem homini insidiari nefas esse«. Vgl. Dig. 1, 1 (De justitia et jure), I . 3 . Die Stelle zitiert auch Grotius : De jure belli ac pacis, Prolegomena, Kap. 1 4 . 1 4 6 »Cognationis ambigua vox est, vel enim significat similitudinem, vel derivationem. Utraqve potest aliqvid ad vim hominis in hominem reprimendam. Illa, qvia similibus compati­ mur, ob imaginem mali nostri malis eorum cohaerentem; derivatio continet affectum qvendam teneriorem, identitatis qvo similitudo acuitur. «

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um die kreatürliche und erweitert die Grenzen der natürlichen, >patholo­ gisch affizierten< Liebe, die im >>congaudendo bonis alterius, condolendo malis« besteht (IV 1 , 35, 9 f.), durch das kultivierte Bewußtsein universaler Verantwortlichkeit, auch wenn diese Verbindlichkeit im Handeln niemals hinreichend eingelöst werden kann. Leibniz hält den Unterschied zwischen der naturwüchsigen Allernächstenliebe und der zum geistigen Habitus ver­ allgemeinerten Menschenliebe später dadurch fest, daß er der Naturrechts­ stufe der Billigkeit die Erfüllungsmotivation der Caritas zuordnet, der Pie­ tät aber die universale Liebe, die höhere Billigkeitspflichten auch ohne Wechselseitigkeitserwartung erfüllt. 147 Ihre im folgenden darzustellende vermittelnde Logik gilt also in gewissem Grade auch für das nur >billige< Rudiment der Liebe. Weil die Hinwendung zu bestimmten Personen eine gewisse Abwendung von anderen nach sich zieht, ist die Liebesfähigkeit des einzelnen begrenzt. So stimmt der Weltlauf traurig, wenn man ihn am Ideal der omnes personas umfassenden religiösen Liebe mißt. >>Wir alle aber würden alle lieben, wenn wir nur hinschauten und die Augen erhöben zu der Universalharmonie. Gegenwärtig sehen wir, verblendet durch Eigen­ liebe und teils rasend vor Ehr- oder Habsucht, teils erschlafft vom Luxus, die anderen ohne Zuwendung des Herzens an. Wir leben in der Welt, in der größtmöglichen Versammlung, wie ein einsamer, in einem lebendigen Menschen geborener Parasit, der nichts ahnt oder auch nichts wissen will von der wunderbaren Anordnung und der Vernunft, die die ganze Ma­ schine beseelt, der bloß für sich geboren ist und die edelsten Glieder wahl­ los konsumiert. Wie wenige gibt es, die wir näher kennenzulernen uns be­ mühen, die wir nicht schon auf den ersten Blick unausstehlich finden oder geringschätzen aufgrund der jämmerlichen Unbedachtsamkeit unserer Vor­ urteile ! Wir ergründen und erforschen sie bloß, um uns eine Erlaubnis zum Verachten oder Hassen zu geben, d. h. um sie zu verlachen, herabzuwürdi­ gen oder bestenfalls bis zu ihrem Verschleiß auszunutzen - von der Art, wie unser Wohlwollen gegenüber dem Lastvieh ist -, nicht um sie wirklich zu lieben. So rennen wir, der eine verschlossen gegen den anderen, wie Blinde mit den Köpfen gegeneinander. Auch wenn weithin allen ein Weg offen­ stünde, würden wir ihn nur auf Gegenseitigkeit freigeben. Wir könnten durch gegenseitige und dadurch aufrichtige Liebe nicht nur furchtlos, son­ dern auch glücklich sein und gehörig die Annehmlichkeit des Lebens genie­ ßen. Gegenwärtig aber treiben wir bloß ein gegenseitiges Quälen und Ge1 47 »Jus strictum in j ustitia commutativa, aequitas (vel angustiore vocis sensu caritas) in ju­ stitia distributiva, denique pietas {vel probitas) in justitia universali: unde neminem laedere, suum cuique tribuere, honeste (vel potius pie) vivere« (Vorrede zum Codex juris gentium diplo­ maticus, GP III 3 8 7).

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quältwerden und bezichtigen uns mit gegenseitiger Schuldzuweisung ab­ wechselnd der verstockten Bosheit.« (48 1 , 1 8-33). 148 Daß die religiöse Liebe, die das bloß instrumentelle Wissens- und Wirk­ verhältnis zum anderen aufhebt, kosmopolitisch ist, liegt also in ihrem >Gegenstand>Mens Universi « selbst die >>rerum harmonia, seu principium pul­ chritudinis in ipsis« (499, 1 0 f.), so besteht der Dienst an ihm auch in der Liebe zu allen seinen Geschöpfen. Daher läßt sich sagen, >>daß Caritas, daß Amor Dei super omnia, und die wahre Contritio, an der der Seeligkeit versicherung hanget, nichts anders sey als amare bonum publicum« (IV 1 , 532, 1 2- 1 4), oder: >>idem esse amare omnes et amare Deum, seclern harmo­ niae vniversalis« (A II 1 , 1 74, 8). Weil die habitualisierte Menschenliebe auch die höheren Billigkeitsproportionen ohne äußeren Zwang zu erfüllen sucht, kann das aeqvum definiert werden als : >>alle anderen zu lieben, sooft es in Frage kommt [amare alios omnes, qvoties qvaestio incidit] « (465, 1 6). >> Gerecht« im universalen Sinne ist daher nur, >>wer alle liebt« . 1 50 Obwohl die Pietät alle Personen berücksichtigt, kann sie natürlich nicht im gleichen Maße allen helfen und die natürliche Gebundenheit an die Nächsten über1 4 8 >>Ümnes vero amaremus omnes, si modo intueremur, si oculos attolleremus ad Harmo­ niam Universalem. Nunc amore nostri occaecati, et vel ambitione aut avaritia furentes, vel luxu torpentes, alios sine animi adversione videmus, agimus in mundo, in maximo coetu, velut soli instar vermis in homine vivo nati, qvi structurae admirabilis, rationisqve totam machinam animantis ignarus incuriosusve, et tantum sibi natus, nobilissima membra sine delectu consumit. Qvotusqvisqve est, qvem pernoscere curemus, qvem non ad primum conspectum aut oderimus aut contemnamus, miserabili temeritate praejudiciorum. Qvos ediscimus, ideo tantum explora­ mus, ut liceat contemnere aut odisse, id est ut rideamus aut deprimamus vel ad summum, ut uta­ mur, etiam cum ipsorum consumtione, qvalis in jumenta nostra benevolentia est; non ut ame­ mus. Ita alter alteri occlusus, caecorum instar capitibus concurrimus, cum late omnibus pateat via, modo invicem aperiremur. Possemus amore mutuo eoqve sincero non securi tantum, sed et beati esse, et vere frui commoditate vitae; nunc cruciamur cruciamusqve invicem et mutua culpa stultam malitiam alternis incusamus. « 1 49 »Amoris autem principium pulcritudo, e x qva tandem voluptas animiSprechhaltungBrief­ freundschaft< dagegen ist mit der bedächtigen Wortwahl auch der Raum für falsche Vorstellungen und echte Verstellungen größer. 1 5 1 Aber selbst die >>Zarteren Freundschaftendurch Weis­ heit gewürztgradus familiaritatis< unterscheiden, die sich wie konzentrische Kreise vom Mittelpunkt der Selbst- und Gottesliebe aus über die Nächstenliebe bis zur Peripherie der Fernstenliebe erstrecken: von der Familie und den Freunden über Ge­ meinde und Staat hinaus in die civitas mundi. Wie schon der Beruf den Ver­ kehr innerhalb bestimmter >Kreise< nach sich zieht, so hängt es von vielen kontingenten Faktoren ab, wer im Wirkradius der eigenen sphaera activita­ tis der je >Nächste< ist. Naturgemäß fallen die Aufgaben zur Vermittlung der Liebestendenzen bei einem Schäfer anders aus als bei einem Diplomaten wie Boineburg, dessen Machtbalance für die Reichspolitik im Spannungs­ feld zwischen Rheinbund und Türkenkriegen eine abstraktere, >kältere< Berücksichtigung der Partikularinteressen verlangte. 1 53 Leibniz hat die ka­ suistischen Kombinationen der Seenot nicht zuletzt deshalb so ausführlich untersucht, weil ihr jus eligendi für den allgegenwärtigen casus concursus 1 5 1 Leibniz hat auch dies in seiner anonymen Flugschrift zur polnischen Königswahl zum Ausdruck gebracht, obwohl ihr agitatorischer Charakter zur Behutsamkeit dabei mahnt, alle Äußerungen unmittelbar für Leibniz' eigene Meinung zu halten. •In amicitia mutuus amorAuch wenn es übrigens Aufgabe des gerechten oder guten Menschen ist, alle zu lieben, so gibt es für die Liebe doch Stufen. Beim Ver­ brecher und ebenso beim Idioten wird doch die Menschlichkeit geliebt, beim Einfältigen die Redlichkeit, beim Windbeutel das Talent und auch beim Schlechtesten von allen zumindest die Anlage zum Guten. [ . . . ] Wes­ sen Wohl also erstrebt werden kann, der kann geliebt werden. Wer immer geliebt werden kann, der muß es auch. [ . . . ] Im Konfliktfall aber ist der Schlechtere nachzuordnenTalenten< unumgänglich im politischen Interesse an der Vermehrung der öffentlichen Wohlfahrt. Wem die Liebe zu Gott sich im amare bonum publicum bezeugt, dem rät die Klugheit, im Interesse aller gezielt die Besten zu fördern, die fähig und willens sind, mit ihrem Pfunde für die Allgemeinheit zu wuchern. Die Liebe im Zeitalter der Berechnung geht dann auf die Maximierung der Harmonie durch die Wahl des j eweils >>summarisch größeren Gutes>dividieren>Weil Verbesserungen eher die Struktur einer Multiplikation als die einer Addi­ tion haben, fügt eine Verbesserung folglich dem Besseren mehr an Gutem hinzu als dem Schlechteren, auch unter sonst gleichen Bedingungen. Denn wenn zwei verschiedene Zahlen mit der gleichen Zahl multipliziert 1 54 •Caeterum etsi j usti seu boni sit amare omnes, sunt tarnen gradus amori. In scelerato si­ mul et inepto humanitas tarnen amatur, in simplice probitas, in nebulone ingenium: in omnium pessimo saltem materia boni [ . . . ], cuius ergo bonum qvaeri potest, is amari potest. Qvisqvis po­ test debet. [ . . . ] Sed in casu concursus cedere deterior debet«. 1 55 •Si plures juuandi sibi obstent, praeferendum esse vnde sequatur bonum in summa maius : hinc in casu concursus, ceteris paribus, meliorem, id est, publici amantiorem«. • luuare autem esse multiplicare, et nocere diuidere« (an Arnauld, November 1 6 7 1 , A li 1, 1 74, ! O f. u. 1 9 f.).

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werden, ergibt sich bei Vervielfältigung der größeren mehr als bei der klei­ neren : 2 x 2 4, aber 2 x 3 6. Die binäre Multiplikation fügt also einer 2 nur eine 2 hinzu, einer 3 aber eine 3 . Je mehr j emand hat, desto mehr ge­ winnt er durch Multiplikation. « (482, 3-8)1 5 6 Kaum eine andere Stelle zeigt so deutlich, wie Leibniz mit den beiden Vokabeln caritas und amor das christliche Ethos des Nächsten und das antike aristokratische Ethos der Po­ lis zu verbinden sucht. I S? Der ins Unüberschaubare wachsende Komplexitätsgrad zwischen­ menschlicher Verflechtungen, der sich aus der Anzahl der berücksichtigten Personen einerseits und den unterschiedlichen Vertrautheits- und Wert­ schätzungsgraden andererseits ergibt, läßt es unmöglich erscheinen, für die Liebe ein allgemeines Gesetz des Handeins zu formulieren. Wie Leibniz bei den Proportionen des Gerechten und Billigen feststellen mußte, zerfa­ sert sich durch die Quantitätssteigerung auch die recta ratio bei der » ge­ rechten« Verteilung der Liebe. Deshalb läßt sich nur postulieren, daß die Verteilung der endlichen Liebe auf die Ökonomie des Ganzen unter ethi­ schem Aspekt nicht blind erfolgen darf, sondern nach Maßstäben der Weis­ heit oder zumindest der Klugheit geschehen muß. Denn ich kann »unge­ recht sein nicht (nur) durch Haß auf den, dem ich schade, sondern ( schon) dadurch, daß mir die Liebe zu mir selbst oder zu einem Dritten mehr gilt als die Liebe zu dir [possum injustus esse non odio eius cui noceo, sed amore mei aut tertii amori tui praevalente] « (463, 7 f.). Wie der Schluß von EJN 2 zeigt, wurde Leibniz durch Campanellas Ethik dazu angeregt, den >ordo amoris< als eine traditionsgebundene und kriterien=

=

1 5 6 »Qvia emendationes multiplicationis potius qvam additionis naturam habent, plus ergo boni addit emendatio meliori qvam deteriori, etiam caeteris paribus. Qvia si duo numeri per eundem multiplicentur, factus a majore plus addit multiplicatio qvam factus a minore. bis duo sunt 4. bis 3 sunt 6. Multiplicatio ergo per binarium ad 2 addit 2, ad 3 addit 3. Qvanto qvis plus habet, tanto plus multiplicatione lucratur. >armen studiosis unterhalt [ . . ] zu schaffen« und »arme Leute [ . . ] vom Bettelstab zu praeserviren«) mit dem exponentiellen Wachstum von Schätzen, die »sich selber mehren und viel 1 000 Menschen nuzen könnenjudiciositas circa id qvod bonum malumve est Lebens­ kunst oder Kunst, für sein Glück zu sorgen [ars vivendi seu ars procurandae sibi felicitatis] >bezieht sich also auf ein Wissen, nicht auf das allgemeine, aber auf das unter allgemeinen Regeln subsumie­ rende Wissen; denn sie wird >praktisches Wissen< genannt, weil es ein mit ihr umfangsidentisches Können gibtZwangszubeglücken>Das Gut eines Freundes im wahren Sinne wird von uns um seiner selbst willen erstrebt, auch ohne Rücksicht auf seine Nützlichkeit [ . . . ]. Gleichwohl ist dieses Gut, auch wenn es nicht mit Rücksicht auf seine Nützlichkeit erstrebt wird, doch seiner Natur nach entweder nützlich oder ungewiß bzw. (noch schlimmer) ganz schädlich. Seiner Natur nach nützlich ist j enes Gut, das niemand mißbrauchen kann. Alles, was des Miß­ brauchs nicht fähig ist, ist auch des schädlichen Irrtums nicht fähig. Zu einem schädlichen Irrtum nicht fähig ist allein derj enige, der weiß, was zu tun am besten ist. Die Wissenschaft vom Besten heißt Weisheit, so wie die Wissenschaft vom Guten Klugheit heißt. Folglich ist das seiner Natur nach dem Freund nützliche Gut allein dessen Weisheit. [ . . . ] Alle anderen Güter wie Talent, Kraft, Schönheit, Reichtum usw. sind des Mißbrauchs fä­ hig>virtus mora­ lis>virtus volendi>(virtus) bene volendi>benevolentia generalisallgemeine guthwilligkeit der weisheit gemäß « 167 eine erworbene Willens­ haltung ist, erklärt, warum es bei ihr zu einem >Selbstzwang< kommen kann. Die durch widerständige Triebe begrenzte Kraft des Wohlwollens gibt sich erst durch die Beachtung ihres universalen Anspruchs j enen hin­ reichend starken >Ruck>ganze Summe der Tugend besteht darin, daß die Affekte nichts vermögen außer zu gehorchen«. Deshalb gibt es >>keine sogenannte moralische Tugend außer einer einzigen«, nämlich >>Herr zu sein über seine Lebensgeister und sein Blut : sich glühend ereifern, sich erheben und wieder abkühlen zu können, sich freuen und leiden zu können, sooft, solange und so heftig man will« (462, 34 - 463, 3). 1 68 Geschieht die >>Zügelung der Af­ fekte [affectuum frenatio] « durch die imperia rectae rationis des justurn oder aequum (46 1 , 2 1 f.), so läßt sich von einem Handeln aus Gerechtigkeit sprechen. Im Unterschied zu den bloß klugen Antrieben der justitia parti­ cularis ist die justitia universalis der >>Wille zu tun, was billig ist, weil es bil­ lig ist [voluntas agendi qvod aeqvum est, qvia aeqvum est] « . Sie erkennt also über >Beweggründe< hinaus einen rein rationalen Verpflichtungsgrund an : >> Obligati sumus (debemus) ad id (id) qvod aeqvum est« (464, 1 6 f.). Die vernünftig ermittelte Norm könnte j edoch niemals isoliert zum tatsäch­ lichen Beweggrund werden, ohne in der >>virtus amandi« lebendig zu sein (455, 24). Mit ihrer Bestimmung als >>habitus amandi omnes« 1 69 wird Leib­ niz allmählich bewußt, daß Liebe als Geist des Wohlwollens kein züge­ lungsbedürftiger extremer Affekt wie der Haß ist 1 70, auch wenn sie weise 1 66 Vorrede zum Codex juris gentium diplomaticus, GP III 387. 1 6 7 Einleitung zur Scientia generalis, GP VII 1 1 4. Ähnlich Unvorgreifliches Bedencken über eine Schrift, genannt Kurze Vorstellung ( 1 698- 1 70 1 ), Grua 43 1 : »Denn die wahre justiz, wie sie von allen verstaendigen und ehrreichen Ieuten genommen wird, bestehet nicht in der impuni­ taet, sondern bedeutet eine allgemeine Gutwilligkeit, der Weissheit gemaess.« 1 68 »Apparuit totam virtutis rationem in eo consistere, ut affectus nihil possint, nisi obedire atqve ita virtutem moralem, qvam vocant, non nisi unam esse, esse ut sie dicam dominum spi­ rituum et sangvinis sui, posse incandescere, insurgere, refrigescere, gaudere, dolere, cum velis et qvamdiu et qvam vehementer velis « . 1 6 9 Obwohl s i c h diese Formel erst in EJN 5 findet (4 6 5 , 23 ), i s t doch d e r Gedanke d e s klugen »amare alios omnes« spätestens in EJN 4 ausgeprägt (465, 1 6). Auch wird schon in EJN 3 die » Iustitia« in einem nachträglichen Zusatz als »virtus amandi seu amicitiae« definiert (455, 24 f.). 1 70 So auch Schneiders : Naturrecht und Gerechtigkeit bei Leibniz, 6 1 6 . Der Haß werde nun »nicht mehr als ein mit der Liebe gleichberechtigter Affekt aufgefaßt«. - Allerdings zeigt sich Leibniz noch in EJN 3 befangen in der Hobbesschen Anthropologie, die von einer ursprüngli­ chen »voluntas laedendi« ausgeht (De cive, I 4). Leibniz schreibt: Wir »dürfen den einen nicht mehr hassen, als es für den anderen nötig ist [neqve unum ultra odisse, qvam alteri opus est] « (455, 6). Inwiefern ist Haß aber überhaupt » nötig« ? Im Schädigen anderer ohne Not kann er wie ein Naturereignis auftreten; davon zu unterscheiden ist aber die weniger häßliche als prag­ matische B ereitschaft, zwecks Vermeidung eigener Not eine Schädigung anderer zu billigen.

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verteilt werden muß. Daher kann es >>sowohl Feindschaft als auch Krieg ohne Haß und somit ohne Feindseligkeit geben; so z. B., wenn wir gegen andere nicht aus Abneigung gegen sie selbst, sondern um unseres Vorteils willen kämpfen>toto genere>Der Vereinigungsdrang, d. h. zu lieben, was man vor lauter Liebe fressen möchte, ist nicht Liebe. Denn wie wir für gewöhnlich sagen, daß wir die Speisen lieben, deren Geschmack uns ergötzt, so müßten wir auch sagen, daß der Wolf das Lamm liebt. Folglich unterscheidet sich die erotische Liebe der ganzen Art nach von der eigentlichen.> Caritas und Gerechtigkeit können nicht getrennt von einander behandelt werden. Weder Moses noch Chri­ stus, weder die Apostel noch die frühen Christen haben einen anderen Maßstab der Gerechtigkeit überliefert als den, der in der Liebe ist. Nichts rühmen die Platoniker, nichts die mystischen Theologen, nichts die ehr­ fürchtigen Menschen aller Völker und Länder mehr, nichts rufen sie mehr an und nichts bestürmen sie mehr als die Liebe. Auch ich bin, nach­ dem ich zahllose Begriffe von Gerechtigkeit geprüft hatte, schließlich in diesem zur Ruhe gekommen. Ihn habe ich als den vorzüglichsten ermittelt, weil er sowohl allgemeingültig als auch wechselseitig ist. >Caritatis et Iustitiae inseparabilis tractatio. Non Moses aliam, non Christus, non Apo­ stoli, non veteres Christiani, Iustitiae regulam dedere, nisi in dilectione. Nihil Platonici, nihil

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Da alle Versuche scheitern, das >justum universale< durch eine kontextinva­ riante, obj ektive Gesetzesnorm außerhalb des wohlwollenden Für-Richtig­ Haltens zu bestimmen, formuliert Leibniz am Ende als Quintessenz seiner Ethik, »daß für das Gerechte« im universalen Sinne und damit natürlich auch (im Sinne von 1 . Tim. 1, 9) »für den Gerechten kein Gesetz vorgege­ ben sei [justo Iegern positam non esse] « (473, 7). 1 75 Damit knüpft er an die augustinische Deutung des paulinischen pleroma nomou (Röm. 1 3 , 1 0) »Dilige, et quod vis facCaritas recte ordi­ nataaufgehoben< werden können und nur in ihrer abstrakten Absolutheit zu kritisieren sind. Bei der apagogischen Durchmu­ sterung erweisen sich die positiven Definitionen entweder als zu eng oder als zu weit oder als tautologische Formalism en, teilweise sogar mit zirkulären petitiones principii. Theologi Mystici, nihil omnium gentium partiumqve homines Pii celebrant magis, inclamant, urgent, qvam Amorem. Ego qvoqve post tentatas innumerabiles Iustitiae notiones in hac tao­ dem conqvievi, hanc primam reperi, et universalem, et reciprocantem. « 1 75 Die Formeln legem justo positam non esse oder justo non est Lex posita finden sich beim späten Leibniz immer wieder. Belegstellen gibt Heinekamp : Das Problem des Guten bei Leib­ niz, 99 f. 1 76 Augustinus : In epistolam ]oannis ad Parthos tractatus, VII 8; Migne PL 35, 2033. 1 77 Die Formel findet sich allerdings bei Leibniz erst später, z. B . in den Modalia et Eiementa juris naturalis ( 1 678-82), VE Nr. 255, VI 1 1 30, 1 3 : »Justitia est charitas recte ordinata«. 1 7 8 Bereits Trendelenburg: Bruchstücke in Leibnizens Nachlass zum Naturrecht gehörig, 276, hat bemerkt: Leibniz »bietet [ . . . ] verschiedene Definitionen des Gerechten, j edoch nur um sie kurz zu widerlegendas was aus der Abwendung eigener Not ge­ schieht>wäre es nicht erlaubt, den eigenen Vorteil dem eines anderen vorzuziehen« (462, 1 6). 1 86 Als umgekehrter Fehler einer zu weit gefaßten Begriffsgrenze erweist sich die Definition des Gerechten als >>dasj enige, was geschieht, um eigenen Schaden zu vermeiden«. Denn dann >>wäre es gerecht, das (zerbrechende) Glas dem sterbenden Knecht vorzuziehen« (462, 1 4- 1 6). 1 87 Das Definiens quod fit sui damni vitandi causa liefe also darauf hinaus, dem unverhältnis­ mäßigen, rücksichtslosen Gewinn- bzw. Nachteilvermeidungs-Streben die Weihe des Gerechten zu verleihen. Zeigen die bisherigen Definitionen die Unmöglichkeit, den Merkmals­ umfang des >> Gerechten« angemessen über faktische Schädigungsgrenzen zu bestimmen, so enthält das Definiens bei den folgenden Versuchen bereits Kriterien zur subjektiven Beurteilung der Schadensgrenzen. Sie sind keine naiv seinslogischen Bestimmungen mehr, sondern reflexionslogische. Trotz der Reflektiertheit ihrer Norm erweisen sie sich j edoch als bloß suggestive Begriffsversprechungen, die normativ unterbestimmt bleiben. Zu solchen Tautologien gehören die Bestimmungen, »daß man wohlbedacht tue, was man von anderen verlangt«, die Goldene Regel, »daß man nichts fordere,

18 4 »An j usturn est, qvicqvid non est causa belli, sed ita injustum esset in casu concursus malle alium qvam se perire.« 1 8 5 In EJN 2 findet sich folgende Erläuterung. »Es ist gewiß, daß ein Krieg nicht allein aus Not, sondern auch um des Nutzens willen gerecht ist, falls j emand diesen an sich gerissen hat oder ihn zu entreißen droht - folglich scheint auch ein Krieg gegen jemanden gerecht zu sein, der bei der Verteidigung des gemeinsamen Nutzens nicht mithilft, obwohl er könnte« (444, 1 4- 1 6). Bei diesem Verlust einer utilitas, der noch keine direkte necessitas darstellt, ist etwa an die legitime Rückeroberung eines wegen seiner wirtschaftlichen Reichtümer okkupierten Landes zu denken. Dann allerdings wäre das bellum justurn nur die defensive Gewalt gegenüber der offensiven Gewalt des Aggressors, also keine eigentliche » causa belli>was nicht den Einspruch eines Klugen verdient. So ist es allerdings ; doch es ist ja die Ungerechtigkeit, die den Ein­ spruch hervorruft und nicht etwa umgekehrt der Einspruch, der die U nge­ rechtigkeit bewirkt« (462, 19 f.) . 1 89 Das Urteil des Klugen, der weiß, was ge­ recht ist, setzt also bereits j enes zureichende Kriterium voraus, das allererst zu ermitteln wäre. Als ähnlich zirkulär durchschaut Leibniz auch die Kon­ sensformeln des Gerechten, bei denen sich die Nacktheit des unterbe­ stimmten Definiens in eine appellative Aura kleidet : >> all dasj enige, was bei einsichtigen Leuten ungeahndet bleibt « 1 90, »was vor dem Forum der Weisen der Welt gerechtfertigt werden kann«, »was mit dem besten Ge­ meinwesen vereinbar ist« (Grotius) 1 9 1 , »was der Natur gefällt« (Pallavi­ cino), >>was der Weise und Mächtige billigt« oder >>was dem Stärkeren nütz­ lich istanimal rationale< mit sich selbst die physische wie logische Natur betrifft, so daß auch Störungen der Gesundheit die >vita sibi concors< in ein ungerechtes Ungleichgewicht brächten (462, 2 7-29). 1 94 Der von Leib­ niz mit pedantisch sprachanalytischer Wachsamkeit aufgewiesene Mangel läßt sich nicht dadurch beheben, daß man die physis und somit das Begeh­ rungsvermögen (epithymetikon) zugunsten eines bloß formalen orthos Io­ gos aus dem Definiens streicht; denn wenn man all dasj enige gerecht nennt, >>was mit der richtigen Vernunft übereinstimmtj eder Irr­ tum, selbst wenn er nur für den Irrenden schädlich ist, ein Verbrechen sein>Üb Gerech­ tigkeit die Tugend ist, die richtige Mitte zwischen zwei Affekten des Men­ schen gegenüber einem anderen einzuhalten, nämlich zwischen Liebe und Haß ? Für diesen Gedanken habe ich mir selbst als Knabe außerordentlich stark Beifall geklatscht. 1 97 Denn als ich frisch von der Schule des Peripatos kam, hatte ich noch nicht verdauen können, daß alle übrigen Tugenden als 1 94 »Auch ist nicht all dasjenige gerecht, was mit der vernünftigen Natur übereinstimmt; denn was dies besagen will, ist, daß gerecht sei, was ohne Entstellung mit ihr zusammenbestehen kann; dies bedeutet für gewöhnlich übereinstimmen. Dann aber wären Krankheiten ungerecht. « 1 9 5 >>An potius j usturn esse qvicqvid congruit rectae rationi, sed ita omnis error, etiam non nisi erranti damnosus crimen erit.« 1 96 Aristoteles selbst hatte diese Reduktion der charakterlichen auf intellektuelle Vorzüglich­ keit schon bei Sokrates kritisiert und die wechselseitige Durchdringung von ethischen und dia­ noetischen Vorzügen auch sprachlich zum Ausdruck bringen wollen, indem er die Tugendfor­ mel » KU�U �OV op9ov A.oyov>was nicht gegen das Gewissen verstößt« zwei Probleme. Erstens setzt die con­ scientia consequens als >>Erinnerung an die eigene Tat« schon die Norm­ kenntnis dessen, was als gerecht oder ungerecht zu gelten hat, voraus (463, 1 7 f.).202 So hart nämlich >>der innere Folterknecht«, d. h. die Gewis­ sensangst, uns auch zusetzen mag, so sehr bleibt das Gewissen inhaltlich doch ein >>Orakel« (463, 20-27).203 Zweitens verliert das Gewissen wieder seine ethische Bedeutung, wenn es verallgemeinert wird zum Bewußtsein jeder von uns begangenen Tat, >>deren Erinnerung uns bedrückt, d. h. die 200 »lnjuriam autem sibi facere, non est ex severe loqventium more.• - Zu den präzisen Phi­ losophen der Gerechtigkeit gehört erneut Aristoteles, nach dem die Gerechtigkeit als einzige Tugend stets »auf den anderen bezogen [ rrpo � E't&pov] •, also kein bloßes Selbstverhältnis ist (Eth. Nie. V 3, 1 1 29 b 26 - 1 1 30 a 1 3). 201 • Qvare nec j usturn erit, qvicqvid in aliis juvandis laedendisqve prudentiae adversum non est. Seqvetur enim ubi semel laedendi jus est injustum esse, qvi non qvam artificiosissime lae­ dat.• Diesen Selbsteinwand machte Leibniz schon in EJN 2 (434, 27-29). - Den Versuch, die Gerechtigkeit »Über die Klugheit zu definieren«, erkennt Leibniz auch aus folgendem Grund für •sehr mißlich•: wenn nämlich • gesetzt wird, daß kein GOTI sei•, wird • gerecht alles das sein, was ungestraft erwartet werden kann [Iustitiam a prudentia definire debeas. An non valde ambiguum est, si ponatur nullus esse DEUS. lustum erit, qvicqvid impune sperari potest] • (454,

10 f.).

202 »An vero justurn est, qvod non est contra conscientiam. Sed qvid est hoc contra conscien­ tiam esse, cum conscientia sit memoria proprii facti « . 20 3 •Aber, so m a g m a n einwenden, e s gibt doch gewisse angeborene Kenntnisse [notitiae i n ­ natae], u n d e s i s t u n s e i n gewisser Zeuge für d a s Gerechte u n d Ungerechte eingegeben, d e r stär­ ker als j eder Einwand ist und die Bösen gerade durch das Schuldbewußtsein der Freveltat mar­ tert. Denn unsere Natur ist durch den bewundernswürdigen Ratschluß ihres Urhebers so ver­ faßt, daß, falls sich keine andere Strafe fände, doch gewiß diese Strafe für unsere Vergehen bleibt: der Schmerz des Täters. Aber dieses Orakel mögen die befragen, die es wollen. Die es wollen, werden entdecken, daß j ener innere Folterknecht die Angst ist [intestinum istum torto­ rem esse metum] : eine Angst, so betone ich, vor der Strafe durch einen Richter, den man nicht täuschen und dem man nicht entfliehen kann. Der Ahnung von einem solchen Richter, die auch den einfachsten Gemütern beim Anblick dieses Universums eingeflößt wird, können sich auch die Ruchlosesten nicht entziehen, so sehr sie dies auch wünschen mögen.«

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von

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wir bereuen«. »Wenn man es so definiert, wird j eder Schaden, den wir uns selbst durch unsere Schuld zugefügt haben, ungerecht sein«. Conscientia wäre nur ein erhabener Name für die platte Reue von Versäumnissen, zu denen auch der Ärger über vertane rücksichtslose Übervorteilungen ge­ hörte, und wieder hätten wir die Ungereimtheit einer Ungerechtigkeit ge­ gen uns selbst.204 Wenn das Gerechte nur das wäre, wovor das Gewissen keine Bestrafungsangst haben muß, wäre also kriteriell nichts gewonnen; es bliebe nur das unlautere Duckmäuserturn vor der Rache Gottes. Deshalb hatte Leibniz schon zuvor empfohlen, man möge diese Definition doch in­ haltlich »ausführen> Wo also werden wir endlich festen Halt finden nach so vielen Schwankungen hin und her ? Ob Gerechtigkeit die innere Haltung sein mag, das Wohl eines anderen um des eigenen Wohles willen zu erstreben ? Dies kommt der Wahrheit, wenn auch einer etwas verdrehten, am nächsten. Es gibt bei der Gerechtigkeit eine Rücksicht auf das Wohl des anderen wie auf das eigene; nicht aber in der Weise, daß die Berücksichtigung des eigenen Wohles der Zweck der B erücksichtigung des fremden Wohles wäre. Sonst folgte daraus, daß wir einen Unglücklichen zu Recht seinem Verderben überließen, aus dem wir ihn fast ohne Mühe erretten könnten, falls eine Belohnung für die Hilfeleistung sicher ausbleibt. Doch dies verabscheuen alle als frevelhaft, selbst diej enigen, die keine Erwägung eines zukünftigen Lebens dabei anstellen. Ganz zu schweigen davon, daß die Gesinnung aller Guten ein solch merkantiles Verhältnis zur Gerechtigkeit verwirft. Und was sollten wir auch von GOTT sagen, den als Werkzeug zu betrachten doch un­ würdig ist. >lieben wir den, dessen Wohlergehen unsere Freude ausmacht [ama­ mus eum, cui bene esse delectatio nostra est] « (464, 34 f.). Im Unterschied zur instrumentalisierenden Aneignung des anderen und zur vereinnahmen20 9 >>Duplex est ratio bonum alienum cupicndi, altera propter nostrum, altera qvasi nostrum, illa aestimantis, haec amantis; illa domini affectus est in servum, haec patris in filium, illa indi­ gentis erga instrumentum, haec amici erga amatum, illic propter aliud expetitur bonum alienum, hlc propter se. At, inqvies, qvomodo ficri potest ut bonum alienum sit idem cum nostro, et tarnen propter se expetatur. « 2 1 0 »Nam omne jucundum per se expetitur, et qvicqvid per se expetitur jucundum est, caetcra propter jucundum, ut faciant, ut servent, ut contraria tollant.« 2 1 1 Zum Begriff der »ontologischen Einsamkeit« und dem damit gegebenen Transzendenz­ bedürfnis vgl. Schmidt: Subjektivität und Sein, 83-89.

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den Vereinigung mit dem anderen im appetitus unionis ist die selbsterwei­ ternde Freude am Glück anderer eine Selbstvervollkommnung, die aus­ schließlich im geistigen jucundum ihren >Lohn< findet. In der Fähigkeit, Glück im Glück anderer erleben zu können, ist das auf materielle Vorteile bedachte Ich gleichsam vergessen und aufgehoben in einem höheren Selbst, welches das Selbst des anderen miteinschließt.212 Das >>Wohl des anderen« kann also genau dann >>nicht bloß zu unserem eigenen werden, sondern auch um seiner selbst willen erstrebt werden«, wenn >>für uns angenehm ist, daß es anderen gutgeht« (464, 32-34).21 3 Weil das, was für andere gut ist, für das liebende Selbst angenehm ist, kann und muß es sich in aller Hin­ gabe für andere niemals verlieren oder verleugnen. Wie Leibniz später nur wiederholt, liegt in der Einbeziehung des anderen in das eigene Selbst, in der Fähigkeit, >>fremdes Glück in das eigene aufzunehmen«, das Geheimnis der Liebe und ihrer >dilatatio animi>schwierige Knoten« gelöst, wie es eine >>von al­ ler Rücksicht auf Nutzen freie«, >>nicht lohndienerische Liebe« geben kann, die gleichwohl das eigene Selbst vervollkommnet.2 1 4 Leibniz beschreibt die Paradoxie uneigennütziger Selbstvervollkommnung2 1 5 durch tätige Liebe nicht als >egoistisch>Auch das Wohl derer, die wir lieben, suchen wir um unserer Freude willen, die wir aus ihrem Glück gewinnen. Denn Lieben heißt am Glück des anderen Freude finden. Gott selbst lieben wir über al­ les, weil die Lust, die Kontemplation dieses allerschönsten Wesens zu ge2 1 2 Heinekamp : Das Glück als höchstes Gut i n Leibniz ' Philosophie, 1 02, spricht glücklich von einer •Selbstbezogenheit des Handelns« ohne »egoistischen Charakter«. 2 1 3 >>Ergo facile imelligi potest, qvomodo bonum alienum non nostrum tantum fieri possit, sed et per se expetatur, qvoties scilicet jucundum est nobis, bene aliis esse.>Amare autem sive diligere est felicitate alterius delectari, vel quod eodem redit, felicita­ tem alienam asciscere in suam. Unde difficilis nodus solvitur, magni etiam in Theologia mo­ menti, quomodo amor non mercenarius detur, qui sit a spe metuque et omni utilitatis respectu separatus: scilicet quorum felicitas delectat eorum felicitas nostram ingreditur, nam quae delec­ tant per se expetuntur. « (Vorrede zum Codex juris gentium diplomaticus, GP III 3 8 7) - Hostler: Leibniz 's Moral Philosophy, 47 f., hat Leibniz' Vermittlung von • egoism and altruism« im Ver­ gleich zu Vorgängern so zusammengefaßt: >> Leibniz' solution to the problern [ . . . ] hinges upon the logical point that my good, though the formal object of the will, need not be coextensive with its material object; for that may be good for others as weil as for myself« . Fischer: Leibniz und die Idee eines universalen Rechts, 1 3 7, sagt vom »Geist der Karität« bei Leibniz treffend: er » bereichert sich durch Schenken«. 2 1 5 Weil die ethisch gebundene Selbstliebe gerade •in der Verwirklichung des Guten Voll­ kommenheit, Selbsterfüllung und Glück findet«, gehören »die Selbstvervollkommnung und das Glück [ . . . ] in Leibniz' Philosophie untrennbar zusammen« . In dem für sich schon lustvol­ len Streben nach »Vollkommenheit« scheint deshalb in der Tat das Schlüsselprinzip der Leibniz­ schen Ethik zu liegen, wie es im Ansatz dargestellt worden ist von Heinekamp : Das Problem des Guten bei Leibniz, 1 04 sowie 1 33 - 1 90. - Mit Kam gesprochen bleibt Prinzip der Leibnizschen Ethik die Glückswürdigkeit, nicht die isolierte Glückseligkeit.

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nießen, größer ist als j ede andere denkbare Lust. humana naturaEpicuri de grege porcimauvaise foi< in die Ethik ein, auf die Leibniz heftig reagiert. Auch was >>um seiner selbst willen [per se] >jucundum>alle, was sie auch immer reden mögen, oder sie han­ deln zumindest danach, was sie auch immer empfinden mögen. Man be­ frage j ene Stoiker, jene Luftschiffer und Wolkenflieger, die von überirdi­ schen Dingen reden und vorgeblich Feinde der Lust, in Wahrheit aber Feinde der Vernunft sind. Man betrachte und erforsche ihre Handlungen oder Regungen, und man wird merken, daß sie auch nicht einen Finger rüh­ ren können, ohne zugleich ihrer hohlen Philosophie eine Lüge anzuheften. Die Ehrbarkeit selbst ist nichts anderes als die Freudigkeit des Herzens. Wenn man Cicero aufmerksamer zugehört hat, wo er für die Ehre und ge­ gen die Lust Reden schwingt, so vernimmt man, wie er sich prächtig ausläßt über die Schönheit der Tugend, über die Häßlichkeit des Verbrechens, über ein Gewissen, das im Busen eines freudigen Gemüts mit sich im Frieden ist, über das Gut eines unbescholtenen Rufes, über die Unsterblichkeit des Na­ mens und den Triumph des Ruhmes. Aber was soll in all diesen Dingen um seiner selbst willen erstrebt werden außer Lust ? (Um seiner selbst willen, betone ich, denn im übrigen ist es auch eine weitere Frucht des Ruhmes, daß er die Macht vermehrt; denn er bewirkt, daß wir geliebt oder ehrfürch­ tig geachtet werden.)>Unterscheidung zwischen dem gegenwärtigen Vergnügen {plai­ sir present) und dem Glück (bonheur)« als einer »beständigen Freude« stärker betont hat. 22 7 »Pulchra expetimus qvia jucunda sunt, pulchrum enim definio cuius contemplatio ju­ cunda est. Duplicatur autem j ucunditas reflexione, qvoties contemplamur pulchritudinem ipsi nostram, qvod fit conscientia tacita virtutis nostrae. Sed qvemadmodum duplex in visu refractio contingere potest, altera in lente oculi, altera in lente tubi, qvarum haec illam auget, ita duplex in cogitando reflexio est, cum enim omnis mens habeat speculi instar, alterum erit in mente nostra, alterum in aliena, et si plura sint specula, id est plures mentes bonorum nostrorum agnitrices, major Iux erit, miscentibus speculis non tantum in oculo lucem, sed et inter se, splendar collec-

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Das Streben nach ethischer Selbstvervollkommnung bedarf also der An­ erkennung durch andere lebendige Spiegel. Der >Altruist< dagegen, der die >>heimliche>auch ohne Rücksicht auf einen Vorteil [etiam sine utilitatis respectu] « angestrebt (A IV 1 , 35, 3 1 ). Gerade deshalb ist die Formulierung, >>bonum alienum qvaerendum esse propter nostrumecho et reflexio et duplicatio>absque beatitudinis comparandae motivo« .232 Das schließt nicht aus, daß neben dem allgemei­ nen Erleben von pulchritudo oder harmonia auch die nachträgliche Verge­ wisserung der eigenen Harmonie die Kraft zu weiterem Handeln stärken mag. Beides sind notwendige Schlüsselerfahrungen, durch welche der Ha­ bitus der Gerechtigkeit erworben und gemäß der Didaktik der »Nova me­ thodusverstärkt< werden kann.233 Schließlich ist bei Leibniz' Be­ tonung der voluptas und delectatio contemplationis anderen Glücks auch zu bedenken, daß er zunächst an den Beispielen der Freundschaft und ihren feineren Stufen hilfreicher Zuwendung orientiert ist. Sein Ausnahmebei­ spiel zu Anfang dieses Kapitels legt es deshalb nahe, daß er bei dringliche­ ren Hilfeleistungen, z. B. bei der Rettung unbekannter Personen vor dem Ertrinken, die antizipierende Vorstellung des anderen Glücks (etwa die dankbare Freude des Geretteten) für abwegig hält. Wo andere in Not sind und schnell gehandelt werden muß, liegt die Lust anderer und erst recht die eigene ganz außerhalb des Vorstellungshorizonts. Hier fokussiert die necessitas moralis (30 1 , 9) die Aufmerksamkeit ganz auf die imperia rec­ tae rationis (46 1 , 2 1 ), so daß die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut. Gegen Leibniz' abschließende Integral-Definition der Gerechtigkeit als Geist der klugen oder gar weisen Liebe234 ließe sich am Ende einwenden, daß diese Bestimmung genauso unzulänglich sei wie die zuvor kritisierten Definitionsversuche. In der Berufung auf >>die Liebe« könnte man sogar, angesichts der umgangssprachlichen Konnotationsbreite und Überstrapa­ ziertheit dieses Namens, das asylum ignorantiae einer Naturrechts-Ethik erblicken, die an die Stelle rationaler Kriterien schließlich doch den >Brei des Herzens< (Hege!) gesetzt hat. Der Vorwurf normativer Vagheit und Ver­ schwommenheit, den sich meistens einander mißverstehende Ethiker wech­ selseitig zuschieben, wäre blind gegen Leibniz' Bemühungen, durch die subtile Kasuistik der Seenot und Geiselnahme invariante, obgleich abstrakt 2 3 t De diligendo Deo, VII 1 7, Migne PL 1 8 1 , 984. 2 3 2 CEuvres completes, Paris, Lilie, Besan�;on 1 848-1 852, 111 424. m Leibniz erläutert die Definition der >>IUSTITIAamare alios omnes qvoties qvae­ stio incidithonnete homme< mit der römischen Tradition >>vir bonus«. Der Status dieser Formel, die sich wegen der Emanzipation der Frau und trotz der einfältig erbaulichen Konnotationen zur Not mit >> guter Mensch« übersetzen läßt236, kann erst später erläutert werden (s. u. 392 f.). Der intui­ tiven Unmittelbarkeit des sittlichen Empfindens ist die folgende innere Lo­ gik des Herzens nicht bewußt. Das Herz schlägt zwar, aber sein Taktgefühl vergleicht nicht, zählt und rechnet nicht. Doch wie die Musik, so könnte auch die Liebe >>eine verborgene arithmetische Übung eines Geistes« sein, >>der nicht um sein Zählen weiß« .237 Erst wenn die bewußtseinsunterschwel­ lig eingespielten Gewichte und Wertschätzungen der sozialen Beziehungen irritiert · und fraglich werden, kommt es zu einer reflexiven Abwägung des­ sen, was juridisch-moralisch erlaubt, verboten oder geboten ist. Es sind drei Gedan­ ken, durch deren Verknüpfung Leibniz zum Begründer der deontischen Logik 2 3 8 wurde. 1 . Was zu tun oder zu lassen sei, wird dort zum Problem,

Die deontische Logik liebender Rücksichtnahme

-

2 3 6 In einer Zivilisation >after virtue>dasj enige, was durch die Gesetze nicht näher bestimmbar ist, j eweils dem freien Ermessen eines guten Menschen überließen; ebenso wie Aristoteles in seiner Ethik alles, was in Regeln nicht miterfaßbar ist, dem freien Ermessen eines Klugen anheimstellte, wie es der Einsichtige be­ stimmen würde« (480, 22-24).239 2. Die billige Auslegung des gesetzlichen Interpretationsspielraums darf nicht gegen andere Rechte und Pflichten verstoßen. Leibniz gewinnt deshalb schon die wichtigsten juridischen Mo­ dalien, indem er die >>qualitates morales « (s. o. 1 90 f.) als Qualitäten oder >>Eigenschaften des guten Menschen im Hinblick darauf« versteht, >>was zu tun oder zu ertragen ist« (480, 32 - 48 1 , 2)240: >>Recht ist die Ermöglichung [Ius est potentia] für einen guten Menschen [viri boni] Verpflichtung ist die Notwendigkeit [Obligatio est necessitas] «

( 480, 25 f./41

Das geltende Recht erteilt also eine Vollmacht, im Spielraum seiner >von außen< abgesteckten Grenzen handeln zu dürfen. Die Verpflichtung betrifft indessen nicht nur das juridische Nicht-dürfen bzw. Sollen (Rechtspflich­ ten), sondern zugleich auch die >obligationes internae< der Moralität (Tu­ gendpflichten). 3. Zu den zwei Modalbegriffen des deomisch Möglichen und Notwendigen den dritten durch Negation des ersten zu gewinnen, brauchte Leibniz kein formallogisches Genie, wohl aber einen Fingerzeig auf die Fruchtbarkeit. Den Wink auf das deomisch Unmögliche gab ihm immer, manchmal nicht [ . . . ], sofern er nicht diesen Gedanken bei irgendeinem Scholastiker ge­ funden hat>quaerere« an, das zum » officium no­ strum« gehört (C 5 1 7; es handelt sich um die Catena definitionum ad justitiam pertinentem, etwa 1 678- 8 1 VE Nr. 62, I 206, 24 f.). =

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Elemente des Naturrechts

»epistemische« (die an Descartes' Evidenzkriterium anschließende »intelli­ gitur«-Formel).253 >>Möglich

getan werden kann d. h. richtig ist in irgendeinem Falle [was sich klar und deutlich einsehen läßt]

Unmöglich

nicht getan werden kann

d. h. richtig ist in keinem, d. h. nicht irgendeinem Falle [was sich nicht klar und deutlich einsehen läßt]

ist alles, was

Notwendig

nicht nicht getan werden kann

d. h. in j edem Falle richtig, d. h. in keinem Falle unrichtig ist [dessen Gegenteil sich nicht klar und deutlich einsehen läßt]

ungetan bleiben kann

d. h. in irgendeinem Falle nicht richtig ist [dessen Gegenteil sich klar und deutlich einsehen läßt] «

Zufällig

(466, 1 -4; das in VI 2, 528 Nachgetragene habe ich in den eckigen Klam­ mern ergänzt).254 Setzt man diese Erläuterungen in der vorherigen Tabelle der modalia juris auf der rechten Seite ein, so ergibt sich etwa für den zwei­ ten Modus die Aussage : Ungerecht bzw. unerlaubt ist alles, was von einem guten Menschen nicht getan werden kann, d. h. was er in keinem (oder nicht irgendeinem) Falle für richtig halten oder klar und deutlich einsehen kann. Mit der quantarenlogischen Formalisierbarkeit alles dessen, was in bestimmten Fällen von jedem, der alle liebt, weise zu bedenken ist, hat Leibniz den Zugang zu einem streng wissenschaftlichen Naturrecht gefun­ den, in dem alle Sätze aus der bloßen >>Definition des guten Menschen be­ wiesen werden können und nicht etwa von Induktion und Beispielen ab2 53 Ich übernehme die Zuordnung der drei Termini von Poser: Zur Theorie der Modalbe­

griffe, 1 7.

!

!

2 54 So deute ich, in leichter Abwandlung der Darstellung von Poser: Zur Theorie der Modal­ begriffe, 1 7, die folgende Schachtelung bei Leibniz:

»Possibile impossibile . " . est q v1c q VI d nece�sar�um contzngens

l

[ Qvod Qvod Cuius Cuius

potest non potest non potest non potest non

l

fieri seu qvod verum est

qvodam nullo, seu non qvodam casu. omm,. non qvodam non qvodam non

intelligitur non intelligitur . clare d1stmcteqve] >scien­ tia justi>dem guten Menschen möglich ist [qvod viro bono possibile est] was dem guten Menschen unmöglich bzw. notwendig, d. h. zu unterlassen unmöglich ist [qvod viro bono impossibile et necessarium, id est omissu im­ possibile est}< . Strenggenommen reichte es für die Pflichtenlehre sogar, wenn sie bloß vom deomisch Unmöglichen handelte, >>weil durch die Natur der Dinge alles solange unter das zu tun oder zu unterlassen Mögliche fällt, bis ein begründeter Verdacht des Gegenteils aufscheint>vir bonusGegenstand< der Ethik einerseits kein unerreichbares Ideal wie der stoische Weise ist, legt Leibniz durch suppositio formalis nahe : ein >>guter Mensch> IURISPRUDENTIA est scientia justi [ . . . ] . Scientiam voco, etsi practicam, qvia ex sola definitione Viri boni omnes eius propositiones demonstrari possunt, neqve ab inductione exem­ plisqve pendent, etsi harmonia variarum legum, consensuqve prudentium scripto non scrip­ toqve, ac populorum voce publica egregie illustrentur, et apud homines demonstrationum inca­ paces etiam confirmentur« . 2 5 6 »Sufficit necessaria impossibiliaqve, imo impossibilia enumerari, inde caetera tacendo in­ telligentur. Qvia omnia per naturam rerum factu omissuve possibilia habentur, donec contrarii suspicio cum ratione oboriatur. «

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Handlungen >>die geringste Gefahr der Verfehlung vermeiden« (47 1 , 31 f.). Daß andererseits die wirkliche Existenz des >>guten Menschen«, >>der alle liebt«, nichts fraglos Gegebenes ist257, bringt Leibniz durch suppositio ma­ terialis bei den Theoremen zur lntelligibilität zum Ausdruck, wo es um die bloße Merkmalsanalyse eines Begriffs geht. >>Alles, was sich in j edem Falle bei >dem, der alle liebt>denn >das Gebo­ tene< und >das für den guten Menschen Notwendigedas Not­ wendige< und >das, was sich in j edem Falle einsehen läßt< [ . . . ] fallen zusam­ men« (473, 1 -3).258 Der ontische Status des vir bonus, qui amat omnes schwebt also zwischen einer problematischen Selbst- bzw. Fremdzuschrei­ bung, soweit man sich bzw. andere zum Maßstab des Guten zu machen ge­ willt ist, und einer regulativen Idee, die sich vom Menschen nur graduell er­ füllen läßt259, während sie in der unendlichen Güte Gottes, der ebenfalls >>alle liebt«, ihr vollkommenes Sein hat. Auch hier zeigt sich die Fruchtbar­ keit von Leibnizens gradualisierendem Denken. Wie >> Grade« der Liebe in Vertrautheit und Wertschätzung eingeräumt werden, so auch Grade der ethi­ schen Güte. Denn j eder ist nur so weit wirklich fähig, alle zu lieben, wie sein guter Wille, d. h. seine virtus benevolendi ( 454, 7 -9) oder virtus amandi seu amicitiae ( 455, 24 f.) reicht. Daß sich niemand ohne Vorbehalte mit dem >>gu­ ten Menschen« identifizieren wird, macht also die (selbst)kritische Dimen­ sion des Naturrechts aus. Soweit j edoch die >>doctrina de justo et doctrina de officiis« (435, 3) Lehrsätze aus dem, >>der alle liebt«, ableitet, hat das Na­ turrecht dagegen eine doktrinale Dimension. Weil auch Gottes Liebe durch die harmonischen Proportionen seines Verstandes den Menschen gegenüber verpflichtet ist, handelt die Doktrin zugleich von den obersten Regeln der göttlichen Güte.260 Sie skizziert also auch eine deomische Theo-Logik. Von den Definientien des vir bonus, aus deren Kombinationen die Theo­ reme durch perpetua analysis gewonnen werden (467, 21 f.), seien hier nur einige genannt, die etwas über Leibniz' unterschwellige Anthropologie ver­ raten. Das Begriffsalphabet, das in EJN 6 teilweise differenzierter ausfällt 2 57 »Ich kümmere mich hier aber nicht darum, was es geben mag oder auch nicht; vielmehr schluHfolgere ich bloß, indem ich vom Einzelfall absehe [Ego vero hoc loco non euro qvid detur aut non detur, sed abstracte ratiocinor] « (EJN 2, 437, 24 f.). Vgl. auch 432, 3 1 -3 3 . 2 5 8 » Qvicqvid omni casu intelligitur in amante omnes, e s t debitum; [ . . . ] qvia debitum e t ne­ cessarium viro bono, necessarium et qvod omni casu imelligitur [ . . . ] coincidunt« (korrigiert nach A VI 2, 529). 2 59 Ähnlich Schneiders : Naturrecht und Gerechtigkeit bei Leibniz, 620 f. Der vir bonus werde einerseits >>nicht eigentlich mehr als reale Person verstanden, sondern praktisch zum De­ duktionsprinzip gemacht«; andererseits werde er zur »Idee« erhoben, »an der j eder reale vir bo­ nus zu messen ist«. 260 » Quatenus homines DEO, et DEUS hominibus obligetur; homines jure stricto, de condigno; DEUS jure laxe dicto, seu de congruo.« (Demonstrationum catholicarum conspectus, 496, 12 f.)

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als in EJN 5, stellt den »vir bonus« als >>qvisqvis amat omnes« (466, 1 0; 48 1 , 9 ) an die Spitze der Begriffspyramide und zerlegt die zwei explikativen Ter­ mini amat und omnes weiter in atomare Merkmale. Leibniz hat diese Be­ griffsverzweigung in einer Tabelle schematisiert (475). Von dem Hauptbe­ griff amare, erläutert als felicitate alterius delectari, sei hier wiederum nur der erste Term entfaltet. >> Glücklichsein [felicitas) « kann wegen seiner un­ hintergehbaren Subjektivität ( >>felix est qvi se felicem putat, qvamdiu pu­ tat Bestzustand einer Person [status personae optimus] >Person>termini indeclarabiles>qvisqvis amat se seu qvisqvis voluptate vel dolore affi­ citur>Status optimus>eine Anhäufung von Akzidentien>ein zufälliges Prädikatdie andere Art von Zuschreibung als ein Namedie Zu­ schreibung, durch die eine Sache gekennzeichnet ist>das im höchsten Grade Gute« , gut >>all dasj enige, was von einem begehrt wird, der es gründlich kennt>wissen, was eine Sache

26 1 Schon dieses Zitat zeigt, daß j ene von Trendelenburg bei Leibniz vermißte subsumtions­ logisch und deduktiv eindeutige Normierung des Besonderen durch die allgemeinen Natur­ rechtsregeln nach Leibniz' eigenem Urteil unmöglich ist: »So lange Leibniz nicht sagt, was denn die Glückseligkeit sei, [ . . . ] so lange fehlt den Umrissen der Inhalt, dem Allgemeinen die bestimmte Kraft des Wesens« (Trendelenburg: Das Verhältniss des Allgemeinen zum Besan­ dem in Leibnizens philosophischer Betrachtung und dessen Naturrecht, 248 f.). 262 Vgl. Hobbes: De homine, XI 1 5: »Bonorum autem maximum est, ad fines semper ulte­ riores minima impedita progressiofaustisch< kontinui­ tätslose Unruhe findet der Gedanke im Leviathan, I 1 1 : »Felicitas progressus perpetuus est ab una cupiditate ad alteram« (OLM III 77). 26 3 »Cum autem detur bonorum progressus in infinitum conseqvens est statum optimum consistere in non impedito ad ulteriora semper bona progressu. Qvies in appetendo, seu status in qvo nihil optes, non felicitas est, sed torpor. Ne sentit qvidem bonum suum qvi non optat continuationem, sed nec delectatio est sine harmonia, nec harmonia sine varietate.möglich« und >>irgend j emand« einsetzen läßt, für das Ungerechte >>un­ möglich« und >>keiner«, für das Gebotene »notwendig« und >>j eder«, für das Unterlaßbare >>zufällig« und >>irgend j emand nicht« (469, 23-28). Eine Kostprobe : >>Das, dessen Unterlassung nicht unterlaßbar ist, ist unge­ recht«, und umgekehrt. >>Denn >nicht irgendeiner nicht nicht< bedeutet >je­ der nichtJeder nicht< fällt zusammen mit >keinemSachlichkeit< ist, >>daß sich die Grundfesten des mensch­ lichen Schlußfolgerns als fest verschanzt und gesichert gegen alle Angriffe der Skeptizisten erweisen«. ( 469, 2 7 - 470, 2)269 2. Die >> Theoreme, in denen die juridischen Modalbegriffe mit den lo­ gischen [. ] verknüpft werden«, sind etwas aufschlußreicher. Sie zeigen zum einen Fallstricke der deomischen Logik selbst auf. So läßt sich z. B . .

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26 5 » Optimum est maxime bonum. Bonum est qvicqvid appetitur a pernoscente [ . . . ] . Pernos­ cere est, nosse qvid res agere aut pati possit sei!. tum per se, turn aliis combinata«. 266 Etwa: »Alles Ungerechte ist zu unterlassen geboten. Und: Alles Gebotene zu unterlassen ist ungerecht« (469, 1 f.). 26 7 Etwa: »Alles Gebotene ist auch gerecht. Denn alles Notwendige ist möglich>avec intemperance et non sans sophisme« vor, ohne überhaupt auf den Text einzugehen. 26 9 »Auf diese notwendige Überflüssigkeit [necessaria superfluitas] wollen übrigens auch die Geometer, die doch besonders kurz und bündig schreiben, nicht verzichten. Denn wer sieht nicht, daß zwei Geraden keinen Raum umschließen können, daß sie nicht mehr als nur einen Punkt gemeinsam haben können ? Und doch sind diese Dinge, die selbst Kindern einleuchten, von Euklid mit so kunstreicher Anstrengung bewiesen worden, nicht damit wir sie kennenler­ nen, sondern damit wir es wissend verstehen; denn hier gibt es nichts Neues außer der Beweis­ kraft selbst. Sogar für die Philosophen ist dieser Hinweis von Nutzen, damit sie nicht unter dem trügerischen Anschein des Klaren und Selbstverständlichen irgendeine Behauptung unbewiesen durchgehen lassen; denn auf diese Weise sehen sie, daß so offenkundige, so abgegriffene und durch ständige Denk- und Sprechgewohnheit eingeschliffene Axiome dennoch bewiesen wer­ den können und ebenso auch müssen.«

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das Axiom »Alles Gerechte ist möglich« nicht umkehren in >>Alles Unge­ rechte ist unmöglich«; denn das, was faktisch getan wird, hat einen größeren Umfang als das, was ein Liebender übers Herz oder ein Weiser gleichsam über seinen Verstand bringt (470, 1 3- 1 8).270 Ebensowenig erlaubt der Satz >>Alles Notwendige ist geboten« den Umkehrschluß >>Alles Gebotene ist notwendig«; denn mit dem Unterschied zwischen innerer moralischer Nöti­ gung und physischer Nezessierung wäre auch die Freiheit aufgehoben (470, 24-27). Zum anderen deduziert Leibniz wichtige überlieferte Rechtsregeln. So ergibt sich etwa das juristische Unmöglichkeitsaxiom lmpossibilium nulla obligatio est (Dig. 50, 1 7, 1 85, Celsus ; auch in der Form des Ultra posse nemo obligatur)271 aus dem Lehrsatz >>Alles, was unmöglich ist, ist auch unge­ recht«. Hieraus erhellt, daß es >>auf Unmögliches kein Recht« gibt und im Sinne eines Rechtspostulates unmögliche Dinge bzw. Leistungen >>weder an­ geboten noch veräußert noch übereignet werden können« (470, 9 - 1 2 u. 22).272 Ebenso wichtig ist der Lehrsatz, der das Notrecht begründet und um die deontische Not-Abwendung erweitert : >>Alles Notwendige ist ge­ recht [Omne necessarium justurn est] « (470, 30). Später wird auch die vitale Not-Abwendung deduziert: >>Alles zum Überleben Notwendige ist gerecht [Omne necessarium ad salutem justurn est] « (468, 13 f.; vgl. 473, 24 ff.). 3 . Wirklich bedeutsam wird die scientia justi erst mit den »Lehrsätzen, die das Gerechte mit dem Existierenden verknüpfen«. 273 Um die praesumtio juris, d. h. die Vermutung der Rechtmäßigkeit, zugunsten des Angeklagten zu ent­ scheiden ( >>Ümnis actus in dubio justus habetur«), verknüpft Leibniz die » Grade« der Wahrscheinlichkeitslogik mit der Suppositionenlehre ( 468, 1 0 f.). Die Lei bnizsche Theo-Logik unterstellt: >>Eine Handlung ist eher gerecht als ungerecht. Das bedeutet : Eine Handlung wird im voraus als gerecht an­ genommen. schlechthin möglichMögliche< hat bei den Modalbe­ griffen denselben Stellenwert wie >irgend j emand< bei den Beweisen. >Irgend j emandem unmög­ lich< heißt aber noch nicht >schlechthin unmöglichUnmöglichen< entspricht dem allgemeingültigen Quantor >keiner> Kleinere« im Sinne der >kleineren Version< auslegt : Solange kein Verdacht des Gegenteils begründbar ist, befindet sich alles Handeln im >Spielraum< des von Natur aus Richtigen, in der >Freiheit vom Gesetz>zugunsten der Freiheit, der Erlaubnis und der Offenheit; gegen die Knechtschaft, die Verpflichtung und die Festge­ legtheit. Die Vorannahme fällt zugunsten des kleineren Risikos und der Zu­ rückhaltung, zugunsten des Machbaren und Bewährten aus ; gegen das Große und Aufwendige, gegen Wagnis und Veränderung« .277 Die Option pro licentia zeigt, daß Leibniz das Gerechte und Gebotene nicht von der ab­ strakten Allgemeinheit inhaltlich vorgegebener Sollensforderungen her ver­ steht, sondern von der konkreten Lage des Individuums her, das in seinem lebendigen Vollzug, in seiner Antriebslogik der Bedürftigkeit und Notwen­ digkeit, die vom geltenden Recht unterbestimmten Normen erst ermitteln bzw. in der internen Modallogik seiner Liebe vermitteln muß. Theologisch fußen hierauf der Ansatz beim >mundus possibilis< im gött­ lichen Intellekt und das Lehrstück von der Rechtfertigung des Sünders vor dem Angesicht Gottes. Um die paulinische Version auf einen interkon­ fessionellen Sinn hin auszulegen, revidiert Leibniz die lutherische Lehre vorsichtig in drei Punkten. Die Versetzung in den Gnadenstand geschieht nicht schlechthin >sola fidefides, quae per caritatem operatur< (Ga!. 5,6). Sie ist ferner keine bloß zudeckende Nichtanrechnung, sondern eine tatsächlich tilgende Hinwegnahme der Sünden. Schließlich ist 2 75 »Actus est facilius indebitus qvam debitus. lmo actus praesumitur indebitus. « 2 76 »Denn e s geschieht eher, d a ß etwas möglich ist, a l s d a ß etwas unmöglich ist. F ü r Mögli­ ches wird nämlich nichts anderes erfordert, als daß es zugrundegelegt wird, für Unmögliches aber, daß, während es zugrundegelegt wird, zugleich sein Gegenteil zugrundegelegt wird. Also wird mehr für das Unmögliche als für das Mögliche erfordert. Folglich geschieht es eher, daß eine Handlung gerecht ist, als daß sie ungerecht ist. Ja, vielmehr sind die erforderlichen Be­ dingungen, d. h. die Grundlagen des Möglichen in den Grundlagen des Unmöglichen enthalten, nicht j edoch umgekehrt. Im voraus angenommen aber wird das, dessen Grundlagen auch die Grundlagen des Entgegengesetzten sind, nicht aber umgekehrt. Im voraus angenommen werden heißt also, auf gewisse Weise seinem Gegenteil im voraus mit zugrundegelegt werden, der Natur nach das Frühere sein. Folglich wird die Handlung im voraus als gerecht angenommen.« 2 77 » Hinc apparet praesumtionem esse pro libertate, pro licentia, pro indifferentia. Contra servi ­ tutem, obligationem, determinationem. Praesumtio est pro minore, pro negante, pro possibilitatc, pro duratione; contra maius, contra id qvod facti est, contra difficultatem, contra mutationem.«

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die heiligende Erneuerung des Menschen auch keine bloße Imputation der >justitia Christi extra nosReich der Gnade< entspringt.278 Leibniz macht aus diesen Punkten fast ein >sola caritatekonservative< Supposition »Contra difficultatem, con­ tra mutationem« dient der Vermeidung der audacia, d. h. eines leichtsinnigen Planens mit hochkomplexen Bedingungsreihen und ihren unüberschaubaren Fernwirkungen. Die Bevorzugung der kleineren Version bedeutet aber nicht, 2 7 8 Auf das theologisch wichtige Verhältnis von Liebe und Gnade kann hier nicht näher ein­ gegangen werden. Die abgründige Frage, inwieweit der gefallene Wille aus sich heraus fähig ist, die habituelle Menschenliebe i n sich zu erwecken und zu kultivieren, bleibt bei Lei bniz offen. In De possibilitate gratiae divinae (A VI 1, 535 f.), das zur Vermeidung eines unfruchtbaren Wort­ streites das Kontroversvokabular des Gnadenstreites durch neue Definitionen ersetzt, bleibt undeutlich, wie der Modus des für gute Werke notwendigen »concursus DEI extraordinarius « z u verstehen ist, zumal Leibniz' seine »Tabula Opinionum« ganz auf d a s allgemeine Problem der Providenz und Prädestination verlagert. Außerdem zeigt die Schrift Von der Allmacht und Allwissenheit Gottes und der Freiheit des Menschen (ebd. 53 7-546), daß Leibniz das Erheischen theoretischer Gewißheit in dieser Materie ohnehin für praxisirrelevant, ja schädlich hält. Ent­ scheidend ist allein, daß die »auxilia gratiae« die Freiheit des Willens so wenig aufheben, •wie ein Ratgeber einen um Rat Fragenden zwingt« ( Conspectus, ebd. 496, 32 f.), und daß der freie Wille selbst ein Glied innerhalb des Determinationszusammenhangs bildet. Damit verbietet sich von selbst die •faule Regel [A.6yos upy6s] (wie es die Rechenmeister nennen)>Hinc apparet, justo Iegern positam non esse; si sola caritas (korrigiert nach A VI 2, 529) adsit, nullum scelus committi posse, aut si qvid committatur desinere scelus esse: qvin imo qvi Caritatem habeat esse impeccabilem, ultra omnes gloriationes sapientis Stoicorum. Adde cari­ tate seu contritione expiari hominem, peccata deleri : caritate simul et poenitentiam et satisfac­ tionem contineri, caritatem ergo purgatorium parare sibi. Caritati fidem inesse, caritate imitari nos DEUM, caritate uniri DEO, caritate beari.«

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daß stets die wahrscheinlichere Handlung vorzuziehen ist. Wer alle liebt und zugleich seine Kompetenz in mathematischer Wahrscheinlichkeitslogik nicht wieder waghalsig überschätzt, wird zur Mehrung der Maximalharmonie viel­ mehr nach gewissenhaftester Einschätzung des Risikopotentials die insge­ samt leichter zu verantwortende Handlung auswählen.280 Ganz unschuldig bleiben kann im technischen Zeitalter auch die belehrteste Unwissenheit nicht; denn ohne nähere Bestimmung der Existenz- und Koexistenzwahr­ scheinlichkeit, also ohne eine mutmaßende collectio omnium circumstantia­ rum kann nicht »ausgemacht werden, ob die Handlung wahrscheinlicher nach einer gerechten als nach einer ungerechten aussieht« (472, 5-7).28 ! Alle weiteren Theoreme, in denen die ethischen Modalien mit den Defi­ nientien des »vir bonus « kunstgerecht verknüpft werden, kommen über be280 Leibniz, der seine subtilen Überlegungen nicht im Sinne irgendwelcher Probabilisten miß­ bräuchlich verdreht wissen will, begründet die ethische Relevanz der Probabilistik folgenderma­ ßen. •Das eher Eintretende [faciliora], das Wahrscheinlichere [probabiliora}und das im voraus An­ zunehmende [praesumendaj ist nicht immer sogleich auch das zu Befolgende [seqvenda], d. h. das beim Handeln von einem klugen Menschen für gewiß zu Haltende. Denn [ . . . ] etwas kann höchst wahrscheinlich sein und dennoch nicht sonderlich fruchtbar, wenn es glückt, aber sehr schädlich, wenn es fehlschlägt. Dies wird gewiß kein einsichtiger Mensch in Kauf nehmen. Umgekehrt kann etwas sehr fruchtbar sein, wenn es glückt, aber nicht sonderlich schädlich, wenn es fehlschlägt. In diesem Falle wird es gewiß keine Unbesonnenheit geben, die auf Waghalsigkeit hinausläuft. Folg­ lich ist erst dann das Wahrscheinliche zu verfolgen, wenn das Verhältnis der Erfolgswahrschein­ lichkeit der Handlungen größer ist als das umgekehrte Verhältnis ihrer Wirkungen, d. h. wenn die Handlung A viel eher glückt als die Handlung B, obwohl die Wirkung von B besser wäre als die von A; oder, anders gesagt, wenn das Produkt, das aus Wahrscheinlichkeit und Fruchtbarkeit gebildet wird, bei A größer ist als bei B. Gesetzt den Fall, daß die Wahrscheinlichkeit von Hand­ lung A gleich 5 ist, ihre Fruchtbarkeit gleich 4, so wird das Produkt 20 betragen. Wenn nun die Wahrscheinlichkeit von Handlung B gleich 6, ihre Fruchtbarkeit gleich 3 ist, wird das Produkt le­ diglich 1 8 betragen. Folglich wird eher die Handlung A zu verfolgen sein als die Handlung B, auch wenn sie weniger wahrscheinlich ist. Daher wird ein guter Mensch schon die geringste Gefahr der Verfehlung vermeiden, auch wenn ihm der größte Gewinn in Aussicht stünde« (47 1 , 20-32). ­ Diese frühe Stelle zeigt, daß ein ursprüngliches Motiv für Leibniz' spätere Entwürfe zur • Logik des Kontingenten«, zur • Kunst der Einschätzung der Wahrscheinlichkeiten«, j a zu einer • Logik des Lebens« (vgl. Couturat: La logique de Leibniz, 239-282) aus seiner Ethik stammt. Ähnlich Jacobi : Zur Konzeption der praktischen Philosophie bei Leibniz, insb. 1 58- 1 6 1 . 28 1 Leibniz erläutert dies durch Verdeutlichung der Unterscheidungskriterien • zwischen dem, was eher eintritt, dem, was wahrscheinlich ist, und dem, was im voraus anzunehmen ist. Was eher eintritt, ist das, was in stärkerem Maße selbstverständlich [per sc intelligibilius] ist, d. h. was weniger Bedingungen erfordert. Wahrscheinlich ist dasjenige, was überhaupt in stärkerem Maße verständlich ist oder, was dasselbe ist, in stärkerem Maße möglich [possibilius] ist. Daher wird für die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit einer Sache nicht nur erfordert, daß sie eher existiert, sondern auch, daß sie eher mit den übrigen gegebenen Dingen koexistiert. [ . . . ] Das aber, was eher eintritt, und das, was im voraus anzunehmen ist, unterscheiden sich wie das Kleinere und der Teil. Das, was eher eintritt, ist nämlich dasj enige, in dem kleinere oder weniger Dinge erfordert werden als in seinem Gegenteil; das im voraus Anzunehmende ist dasjenige, dessen Bedingungen nur einen Teil der Bedingungen seines Gegenteils ausmachen. Alles im vor­ aus Anzunehmende ist folglich etwas, das eher eintritt, nicht aber umgekehrt. Denn auch j eder Teil ist kleiner als das Ganze, nicht j edes Kleinere aber Teil eines Größeren« (472, 1 - 1 0).

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griffskombinatorische Äquivalente für den, »der alle liebt«, nicht hinaus. Auch die wichtigsten falten nur die Merkmale dessen aus, was in den Tabel­ len der Modal-Axiome bereits enthalten ist - sei es unter dem Aspekt der /ntelligibilität2 82, der logischen Transponierbarkeit von Begehungs- und Unterlassungspflichten2 8 3 oder des Modalgefälles2 84• Der Begriff des qui amat omnes läßt auch hier stets unterbestimmt, was im Einzelfall als ethisch möglich (erlaubt) oder notwendig (geboten) beurteilt wird, d. h. welche Ge­ setze des positiven Rechts mit welchen ermittelten Proportionen des stren282 Für das deontisch Mögliche etwa: >>Alles Gerechte läßt sich in irgendeinem Falle bei >dem, der alle liebtdem, der alle liebtMöglich< heißt >was in irgendeinem Falle geschiehtdas Gerechte< und >irgendeine Handlung dessen, der alle liebt< zusammen« (472, 1 61 8). - Entsprechend gilt für das deontisch Notwendige etwa : »Alles Gebotene läßt sich in j edem Falle bei >dem, der alle liebt< einsehen. >In j edem Falle< bedeutet >wie auch immer geartet man diesen Fall zugrundelegtZu j edem Zeitpunkt< «; und um­ gekehrt: »Alles, was sich in j edem Falle bei >dem, der alle liebtgeboten ist alles, dessen Unterlassung ungerecht ist [omne injustum omitti est debitum] « (469, 7). Wenn man Leibniz mit kantischen Begriffen auslegt, ist dies alles, was aus >reiner Vernunftintellectus ipse< a priori gesagt werden kann. Für die Beurteilung dessen, was in concreto ethisch notwendig ist, muß daher der formale Begriff >>qui amat omnes >amans LiebendenSpinnennetz« der historisch angehäuften Fachgelehrsamkeit zu vereinfachen.287 Als idea­ les Hilfsmittel zur mnemotechnischen Entlastung hegt Leibniz schon hier den Traum einer >>universalwissenschaftlichen Maschine [Machina Panepi­ stemonica] « (476, 1 9).288 Keine vier Jahre später, am 9. Januar 1 675, wird er in der Academie Royale des Seiences zu Paris seine Rechenmaschine vor­ führen. Leibniz' ganze Naturrechts-Ethik indessen, sein origineller Versuch einer neuen Verhältnisbestimmung von Recht und Moral, sollte die phänomenosätzlich miteinzuberechnen sind also alle existierenden Individuen, die von Gottes Verstand zu­ gleich denkend erzeugt werden. 286 Die bloße Zergliederung von Begriffen fördert nicht automatisch die Klarheit. Denn es gibt »viele tausend Definitionen von einem und demselben Definierten, die gleich wahr, nicht j edoch in gleichem Maße klar sind. Je klarer sie vielmehr sind, desto weniger kurz und bündig [Dantur enim . . . multa millia definitionum ejusdem definiti aeqve vera, non aeqve clara. Sed qvo clariora, hoc minus compendiosa] « (478, 33-35). 28 7 »Man sehe nur, welch große Abkürzung des Wissens in j enen Definitionen und Katego­ rien der Kombinationstechnik enthalten ist, die wir aufzustellen suchen. Von hier aus wird deut­ lich, daß die Bücher nur so strotzen vor Verschiedenheit an Fällen, vor Vielheit an Gegenstän­ den, vor Überfülle an Worten und Unendlichkeit an Fragen, bis zur Verzweiflung am Wissen. Dies ist es, was uns mit Albernheiten quält, was uns j ene Zeit raubt, die besser der Erfahrung als der Theorie einzuräumen wäre, was so viele Papiere angefüllt und so viele Geister in den Wahnsinn getrieben hat, was den Scholastikern, den Legisten, den Kasuisten unendlich viele Schriften an die Hand gegeben hat und was, wie Bacon (vgl. Novum organum, I 95.) es trefflich formulierte, aus uns Spinnen statt Bienen gemacht hat - uns, die wir nicht die Wunderwerke GOTTES und die Harmonie der Dinge wahrnehmen, sondern aus uns selbst heraus ein Netz spinnen, das immer nur in sich zurückläuft, wie unendlich an Verschiedenheit, so unfruchtbar an Nutzen.« (476, 4-12) 288 Vgl. hierzu die Erläuterung des Plans für zwei neue mathematische Maschinen, die »Le­ bendige Rechenbanck« und die »Lebendige Geometria«, im Brief an Herzog Johann Friedrich, Oktober 1 6 7 1 , A II 1, 1 60, 24- 1 6 1 , 6.

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logische Konkretheit und das Differenzierungsniveau der frühen Jahre nie wieder überbieten. Alle späteren Entwürfe zur scientia justi und scientia fe­ licitatis2 8 9 sind in systematischer Hinsicht nur unwesentliche Differenzie­ rungen zu den drei Naturrechtsstufen und zur deomischen Modallogik290 mit ihren Definitionsketten.291 Das allgemeine Schema, das Leibniz in sei­ nen Frühschriften festhielt, scheint fast alles zu sein, was sich über den in­ dividuellen Geist der Liebe für eine wissenschaftliche Ethik im Zeitalter der Berechnung sagen läßt.

28 9 Zur Übersicht über die spätere Gerechtigkeitslehre vgl. Schneider: Justitia universalis, 3 86-483, der sie allerdings erst ab 1 679 »ZU einem gewissen Abschluß gelangt« sieht (39 1 ); fer­ ner Schneiders : Naturrecht und Gerechtigkeit bei Leibniz, 624-650. 2 90 So erweitern etwa die Modalia et Eiementa juris naturalis (um 1 678-1 682) die »debita« und »illicita« um ihre » gradus« (VE Nr. 255, VI 1 1 30- 1 1 37). 2 9 1 Auch Grua: ]urisprudence universelle et theodicee selon Leibniz, 1 2, konstatiert »Ia pn!­ cocite et I a constance des vues de Leibniz« hinsichtlich der Naturrechts-Ethik, »sauf quelques nuances de detail«.

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I I . H A RM O N I S C H E A L L K O N S P I RAT I O N : K o s M O L O G I E , P H O R O N O M I E U N D P N E U M AT O L O G I E Von den geplanten >>Elementa Philosophiae« (s. o. 2 1 8 f.) konnten die »Eie­ menta juris naturalis« einen Einzelbereich der Enzyklopädie getrennt ab­ handeln, nämlich die >>prima principia« der ethischen Hälfte der Philosophia Practica, die De Civitate handelt. Die Elemente der theoretischen Philo­ sophie hingegen, also die Eiementa Logicae (De Mente), Matheseos (De Spatio) und Physicae (De Corpore), lassen sich in Leibnizens erstem Systemzyklus kaum voneinander isolieren (A VI 1 , 494, 4-6). Denn die geo­ metrische Fassung der mens als eines Grenzpunktes im Raum schreibt dem Geist einen >>wahren Ort>wie er selbst ist«, nicht aber >>zugleich zu ihm von den Körpern aus durch Reflexion emporge­ stiegen« sei, sei er auch nicht >>ins Innerste« des Geistes >>eingedrungen« (A VI 2, 285, 1 7-2 1 ).2 Da Leibniz die natura mentis, deren Idee causa finalis ist, als Gipfelpunkt der natürlichen Stufenleiter betrachtet\ taucht sie als causa efficiens von Bewegung (A II 1 , 20, 8 - 1 6) zweifach an der Grenze zur Naturphilosophie auf. Denn Bewegung kann einerseits als physisches Prinzip betrachtet werden, wenn sie im Teil >>De Corpore« auf konkrete Phänomene bezogen wird. Deren Mannigfaltigkeit aus wenigen Gesetzen abzuleiten ist Zweck einer >>physikalischen Hypothese«. Andererseits kann Bewegung als mathematisches Prinzip betrachtet werden, wenn in einer >>De Spatio« handelnden Phoronomie von allen spezifischen Körpern abstrahiert wird. Entsprechend hat Leibniz seine frühe Opposition von konkreter, angewandter und abstrakter, reiner Mathematik (s. o. 1 84 u. 2 8 1 f.) auch im Titel seiner zwei komplementären Mainzer Hauptschrif­ ten zur Naturphilosophie geltend gemacht.4 Mit diesem schediasma du1 » Locum verum mentis nostrae esse punctum quoddam seu centrum« (an Arnauld, Novem­ ber 1 67 1 , A II 1, 1 73, 1 4). 2 »Quia Cartesius uno solum modo contemplatus est mentem, ut ipse est, non simul ad eam a corporibus ascendit reflexione, ideo non ad intima penetravit.« 3 Im Brief an Arnauld, November 1 67 1 , beschreibt Leibniz drei gradus dieser Stufenleiter: von der Geometrie oder philosophia de loco zur philosophia de motu seu corpore, und von hier hinauf zur scientia de mente (A II 1, 1 72, 16 f.). 4 Schon Wernick: Der Begriff der Materie bei Leibniz in seiner Entwickelung, 1 6, hat darauf hingewiesen, daß die Einteilung in abstrakte und konkrete Bewegung sich bei Hobbes findet; vgl. etwa De corpore, III 24, 9, OLM I 3 1 4. Leibniz erachtete Hobbes' Isolierung einer von der Existenz abstrahierenden Wissenschaft bereits 1 664-65 für so wichtig, daß er sie in seiner zweiten Adnote zu Stahls Metaphysik festhielt: Hobbes habe sein »opus de corpore« eingeteilt

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Kosmologie, Phoronomie und Pneumatologie

plexS, das im folgenden zu erörtern ist, suchte Leibniz sich im Frühling 1 67 1 der gelehrten Welt z u empfehlen. Hierfür widmete e r die »Hypothesis physica nova>neuen physikalischen Hypothese«. Durch den Rigorismus seiner hypermechanistischen Naturemsedung ist ihm der lebendige Kosmos zu einem toten Weltraum verstummt. Nur die Geister, die im horologium 10 Pierre de Carcavy, der B etreuer der Königlichen Bibliothek und Akademie zu Paris, be­ richtete Leibniz am 1 0. Juli 1 67 1 über das Echo der Fachkollegen: »Ils ont trouue quelque dif­ ficulte et obscurite« (A II 1, 1 39, 16 f.). Das ließ den um Sonnenklarheit bemühten Leibniz nicht gleichgültig.

Kosmologie, Phoronomie und Pneumatologie

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mundi herrschen, bilden gemeinsam mit dem Weltmonarchen ein erhabenes Reich der Zwecke über einem für sich zwecklosen Reich der Natur. Zwar hat alles Kreatürliche seine letzte Subsistenz in der göttlichen Kreativität seiner je individuellen Idee; doch nur den mentalen Konzentrationen der Universalharmonie kommt eine eigene Substantialität zu, weil sie mit dem spontanen Aktionszentrum ihres Körpers als einzige Selbstentfal­ tungseinheiten oder »entia per se subsistentia« gelten (s. o. 283-296). Ihre punktuellen >lnnenwelten< mit den konkurrierenden Strebungen der Abnei­ gung oder Liebe bilden in hypostatischer Union mit der winzigen sphaera intellectus ein ganzheitliches »individuum«. Die leblose Körperwelt hin­ gegen ist zerfallen in ein wesenloses »dividuum« hin- und hergestoßener Teilchen. 1 1 Mit der gleichzeitigen Einsicht, daß der Atomismus die inter­ und intrakorpuskulare Kohäsion der Materie nicht erklären kann (s. o. 245-247), ist Leibniz gleichsam bei einem Nullpunkt der Physik angelangt, der ihm einen großen Spielraum für die Bewältigung seiner ursprünglichen Interessen eröffnet. Die Freiheit in der Deutung der Phänomene ist nur durch zwei Vorgaben gebunden. Zum einen muß als subtiler Kern der Sub­ stanz j enes dauerhafte punctum physicum bewahrt bleiben, das als proxi­

mum instrumenturn et velut vehiculum animae in puncto mathematico con­ stitutae (A II 1, 1 0 8 f.), als fons vitae des präformierten Organismus und als notwendige physische Bedingung der freien Selbstreflexion (s. o. 63-85) so­ wie der Auferstehung (s. o. 1 03- 1 1 7) gedacht wird. Die >Unhaltbarkeit< der Atome wirft indessen die Frage auf, was die körperliche Welt >im Innersten zusammenhältkein Körper, der wahrgenommen wird, ruht« (A VI 2, 1 66, 1 0 f.) . 1 5 Das er­ ste greift der Ätherhypothese vor, wonach >>alle Körper mehr oder weniger schwer oder leicht sind, solche Körper aber eine Tendenz haben, eine Ten­ denz aber eine feine Bewegung ist« . Das zweite ist davon >>losgelöstJeder Körper, der wahrgenommen wird, wirkt auf den Wahrnehmenden. Nun ist aber j ede Wirkung eines Körpers eine Bewegung. Folglich ist jeder Körper, der wahrgenommen wird, bewegt« (ebd. 1 65, 1 1 - 1 4). 1 6 Für d i e folgenden drei d e r vier Fraglichkeiten findet sich eine solche all­ gemeine Vorentscheidung nicht. Jeder Körper ist zwar mögliches Objekt innerhalb des perspektivischen Erfahrungsfeldes, das vom Gesichts-Punkt aus durch den >> GesichtsCraiß (Horizont) >4. ist es ungewiß, ob diejenigen Körper, die aneinandergrenzen, an den Oberflächen angrenzen oder nur an bestimmten Punkten und Linien«. Diese vier Fraglichkeiten sind nur ei­ nige von mehreren disjunktiven Hinsichten, die bei j edem gegebenen Kör­ per unentscheidbar bleiben müssenY Weil die j eweilige Antwort einerseits wichtig für die mathematisch exakte Beschreibung einer konkreten Bewe­ gung ist1 8, andererseits aber beide Deutungsalternativen >mit gleichem Recht< unterstellt oder geleugnet werden können, beschreibt der Jurist die Unzulänglichkeit der Sinneswahrnehmung für die Physik als eine Un­ fähigkeit, die quaestio juris in der Natur, d. h. die Frage nach der Notwen­ digkeit einer Bewegung und somit nach der Allgemeingültigkeit ihrer Be­ urteilung zu beantworten. Weil die Wahrnehmung >>beim Erforschen der notwendigen Umstände einer Tatsache unvollkommen ist, kann sie über dasjenige, was sozusagen eine Frage des Rechts und der Vernunft ist, d. h. in einem vorliegenden Fall über die aus dem Faktum oder aus den gegen­ wärtigen Umständen resultierende Bewegung nicht urteilen« . Weil die wichtigsten Vorgaben gleichsam im blinden Fleck der Sinnlichkeit liegen, bedarf sie einer Extrapolation durch rationale Erwägungen. ( 1 66, 1 0- 1 9) 1 9 Leibniz erkennt zunehmend, daß das ungewisse Oszillieren des Sinnen­ scheins noch weiter reicht und schließlich j ede konkrete Modifikation der drei Primärqualitäten (motus, figura, magnitudo) betrifft. >>Videtur omnis motus et quies esse relativa« ( 1 6 1 , 3 0 f.). Auch die Frage, ob es in der obj ek­ tiven Realität so etwas wie gerade Linien gebe, läßt sich nicht empirisch konstatieren, sondern allenfalls innerhalb einer physikalischen Theorie vor­ entscheiden : >>Bewegungen, die für die sinnliche Wahrnehmung geradlinig sind, sind wohlgemerkt Abteilungen eines Großkreises um die Erde«, 1 7 Weitere Ungewißheiten d e s Sinnlichen nennt d i e Theoria motus abstracti, A VI 2, 273, 23-27. 18 Bei den vier genannten Unzulänglichkeiten der Wahrnehmung » macht es einen großen Unterschied, ob ein Körper ruht oder nicht, ob er aus vielen Körpern besteht oder nicht, ob er aus angrenzenden Teilen besteht oder nicht, und ob er einen anderen Körper in einem Punkt, einer Linie oder einer Fläche berührt«. 1 9 » [ . . . ] 2.) quia incertum est an corpus quod sentitur, proprie sit corpus an corpora, 3.) quia incertum est an corpus quod sentitur sit discontiguum an contiguum, 4.) quia incertum est an corpora se contingentia, contingant superficiebus, an vero tantum lineis et punctis. [ . . . ] Cum igitur sensus in necessariis facti circumstantiis explorandis sit imperfectus, de eo quod ut sie di­ cam, j uris vel rationis est, seu in proposito casu de motu ex facto seu circumstantiis praesentibus consequente, judicare non potest«.

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d. h. aus kosmologischer Perspektive unmerklich gekrümmt. 2 0 So rechtfer­ tigt sich die Zweiteilung der Bewegungslehre in eine abstrakte und eine konkrete Theorie zunächst schon durch die Einsicht in die Unmöglichkeit, die »prima motus principia« auf die sinnliche Wahrnehmung zu gründen ( 1 66, 14 f.). 2 1 Bewegung kann also nicht nur, sondern muß für die Zwecke der Wissenschaft >>auf zweifache Weise betrachtet werden: durch Vernunft und Sinneswahrnehmung«. Extrapolationsbedürftig auf das Unmerkliche hin ist die Sinnlichkeit mit ihrer begrenzten Reichweite ; ihren blinden Fleck muß die Vernunft, d. h. der folgerichtig kombinierende Verstand durch wohlüberlegte Vor-Urteile erhellen: >>Die Wahrnehmung kann der Vernunft keine Präj udizien geben ; die Vernunft kann jedoch unabhängig von der Wahrnehmung Vorentscheidungen treffen; d. h. wenn die Wahr­ nehmung der Vernunft zu widersprechen scheint, so ist zu folgern, daß et­ was verborgen liegt, was außer eben diesem resultierenden augenscheinli­ chen Widerspruch nicht wahrgenommen wird « . Die Unzulänglichkeit der bloßen Sinnesdaten ohne Vor-Urteile der a priori konstruierenden Vernunft ist aus Leibniz' Sicht von Galilei, Hobbes, Descartes und Huygens nicht deutlich genug erkannt worden. ( 1 59, 1 3 - 1 7) 22 Wenn bereits die Phänomene des Sinnenscheins für wissenschaftliche Aussagen interpretationsbedürftig sind, so müssen erst recht Gesetzmäßig­ keiten zwischen den Phänomenen rational ermittelt werden. Das Verhalten der Körper innerhalb des perspektivischen Feldes ist mehrdeutig, allenfalls intuitiv durch eingespielte Sehgewohnheiten vorgemustert, und muß durch Schlußfolgerungen rekonstruiert werden. So scheint für die sinnliche Ge­ wißheit ein großer ruhender Körper von einem kleineren nicht fortgestoßen werden zu können; wir sehen, daß ein Haus durch den Wurf eines Steines nicht erschüttert wird. Die ratio aber hat, anders als der sensus, nach Leib­ niz einen >>Beweis« dafür, >>daß ein ruhender Körper, und sei er auch noch so groß, von einem bewegten Körper, sei dieser noch so klein und seine Be­ wegung noch so gering, fortgestoßen wird . « Dies könne aus Phänomenen bewiesen werden, die der eingespielten Vorstellung als gewiß gelten. Tat­ sächlich stehe fest, >>daß ein größerer Körper der Wahrnehmung nach nicht 20 >>NB. Motus ad sensum recti sunt portiones magni circuli circa tellurem.« ( 1 66, 20) 2 1 •• Longe alias esse Motus veras Regulas, quam apparent. Nam pleraque moveri insensibi­ liter, quae quiescere videntur; pleraque quae videntur unum corpus, non esse nisi congeriem plurium« (an Oldenburg, 28. September 1 670, A II 1, 63, 3-5). 22 »Motus dupliciter tractari potest ratione et sensu, et sensus rationi praejudicare non pot­ est, ratio tarnen sensui, id est, quando �pparet sensum rationi contradicere, concludendum est subesse aliquid quod non sentiatur, nisi effectu isto suo: &vavnoAnalogie der Erfahrung< und folgert, daß auch der größere Körper, entgegen dem Sinnenschein, »von dem kleineren mit der schwächeren Bewegung fortgestoßen wird, wenn auch auf unmerkliche Weise. Würde nämlich durch eine schwächere Bewegung, sie sei 3, nichts bewirkt, so würde auch durch eine verdop­ pelte Bewegung 6, eine verdreifachte Bewegung 9, ja durch eine unend­ lich vervielfachte Bewegung nichts bewirkt, weil unendlich mal 0 0 ist« ( 1 59, 1 8-26).23 So ergibt die Deutung der Bewegung als einer mathematisch faßbaren Wirkungsgröße, daß auch bei der leisesten Berührung alle im Stoßmoment angrenzenden Partikeln (contigua) bewegt werden: Die ma­ thematische Rationalität ist auf dem Weg, das insensibile durch das Infini­ tesimale zu extrapolieren. Nun besagt aber die obige starke These, daß das größte Ruhende vom kleinsten Bewegten nicht nur erschüttert, sondern auch fortgestoßen wird. Daß dies eher ein privates Vor-Urteil des frühen Leibniz als ein allgemein rationales ist, zeigt das Folgende. Obwohl die Sinne selbst nicht täuschen können, weil nur der Verstand urteilt, erweckt doch die prinzipielle Unabgeschlossenheit sinnlicher Erfah­ rung in einem unabsehbaren Ausmaß fahrlässige Präj udizien, die sich bei näherer Betrachtung als widersprüchlich erweisen können.24 Wegen der prinzipiellen Unschärfe der Wahrnehmung postuliert Leibniz eine rein ra­ tionale »doctrina de abstracta motuum ratione«, aus der alle »experimenta« zu entfernen sind. Die exaktesten Vor-Urteile für diese theoria motus ab­ stracti liefert die Mathematik, weil sich nach der Analytischen (Euklidi­ schen) Geometrie alle Bewegungen eindeutig konstruieren und in Zahlen­ werte übersetzen lassen. Wie die Elemente des Naturrechts beweisen auch die prima elementa de motu ( 1 64, 27) nach dem Vorbild der ratiocinia geo­ metrica nicht »ex facto et sensu«, sondern »(ex) terminorum definitioni­ bus« ( 1 60, 1 -3). Weil alle spezifischen Materien aufgrund ihrer unterschied­ lichen Dichte, Härte, Schwere usw. die Bewegung mitbedingen, wird in den >>Fundamenta motuum« keine einzige konkrete Bewegung formuliert.25 Die rationale Phoronomie beschreibt, in naturrechtlicher Analogie, den unge=

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2 3 Dieses Argument der kontinuierlichen Summation hatte auch Hobbes in seinem Brief­ wechsel mit Descartes gegen diesen geltend gemacht; vgl. AT III 287-292 u. 300-3 1 3 . 2 4 »Sensus nostros nunquam mendaces, plerumque tarnen dissimulatores esse>aether« durch >>fluidum subtile« ersetzt wird. Nur einige Texte zur Physik verraten, daß die Ätherhypothese zwar im Detail modifiziert und mathema­ tisch präzisiert wird49, im ganzen aber der unwiderrufene Rahmen der prä­ stabilierten Harmonie bleibt. Schon die Herkunft des Leibnizschen System­ begriffs aus der Kosmologie50 zeigt an, daß die Hypothese vom Äther, dem alle Körper einverleibt sind, die universale Perspektive der Leibnizschen Philosophie ist, die noch den Briefwechsel mit Newton-Clarke dominiert. Allerdings wird die spätere hypothesis harmoniae praestabilitae, die Leibniz selbst einmal unter Originalitätsdruck »systema LeibnitianumÄther« oder >>spi­ ritus universalis« mit dem >>spiritus mundi«, der » anima mundi«, dem »pneuma« oder der >>quinta essentia« identifiziert (s. u. 455 f.).61 Die »Neue physikalische Hypothese« ist Leibniz' >>einzige vollständig ausgearbeitete Schrift« zum »nichtmathematischen Teil der Physik«. Sie 5 6 An Thomasius, 1 9./29. Dezember 1 670, bemerkt Leibniz über seinen kosmologischen Ansatz : » Totum tarnen hypothesis est, vt in naturalibus pleraque, sed qua nescio, an habuerimus hactenus leuiorem et faciliorem. « (A li 1, 74, 21 f.) 57 » Causas naturales alias qvam probabilissimas qvaerere temerarium est, qvamdiu nondum totam naturam inspeximus.« (An Conring, Mai [ ?] 1 6 7 1 , A li 1, 94, 21 f.) 5 8 »Hypothesis nostra non parvo veritatis indicio omnes conciliat«. Was Leibniz hier von den konkurrierenden Theorien über die Glastropfen behauptet (A VI 2, 252, 27), bezieht er auf seine Theorie als ganze : >>Sufficit ea attulisse, quae sectae omnes, salvis domesticis opinioni­ bus, ferre possunt« (ebd. 246, 8 f.). 59 Auf Hobbes hat schon Laßwitz: Geschichte der Atomistik, li 449, hingewiesen. Eine au­ ßerordentliche Nähe hat Leibniz' Hypothese des zirkulierenden Äthers auch zu Huygens' Theorie vom zirkulierenden und gravierenden Fluidum; vgl. Sabra: Theories ofLight from Des­ cartes to Newton, 1 62 f. Leibniz nennt weitere Anreger in A VI 2, 302, 15 ff. 60 Historische Bestimmungen des Äthers als der Substanz des Himmels referiert Gassendi im Syntagma philosophicum (Opera, I 497-504 ); geozentrische und heliozentrische Hypothesen zum Kreislauf der Gestirne im flüssigen Äther werden ebd., 6 1 0-630, referiert. 61 Eine Vorstufe dieser historischen Synthese findet sich in einem Konzept von 1 670-71 , in dem Leibniz das Gemeinsame zwischen der aristotelischen >materia primamateria sub­ tilis< hervorhebt: »Die Erste Materie des Aristoteles läuft auf dasselbe hinaus wie die Feine Ma­ terie des Descartes. Beides ist ins Unendliche teilbar. Beides entbehrt für sich einer Form und einer Bewegung. Beides erhält Form durch B ewegung. B eides nimmt Bewegung an durch einen Geist. Beides wird zu gewissen Kreisdrehungen [gyri] geformt, und bei den Wirbeln [vortices] des Aristoteles ist die Festigkeit nicht größer als bei denen des Descartes. Beide Wirbel erhalten Festigkeit von der Bewegung, weil es nichts gibt, das sie durcheinanderbringt, auch wenn De­ scartes selbst diese Ursache der Festigkeit nicht angegeben hat. Jeder einzelne Wirbel breitet seine Wirkung über die eingedrückte Bewegung wegen der Kontinuität der Materie auf den an­ deren Wirbel aus. Denn auch Aristoteles leitet nicht weniger als Descartes oder Hobbes alle be­ sonderen Dinge allein von der Bewegung der allgemeinen Kreisdrehungen ab. Daher sprach Aristoteles nur den erstrangigen Kreisdrehungen Intelligenzen zu, weil aus dem Zusammenlau­ fen dieser Kreisdrehungen die Wirkungen der übrigen folgen. [ . . . ]« (A VI 2, 279, 28-36) Die in der alchemistischen Tradition geläufige Gleichsetzung der prima materia mit dem Äther findet sich auch bei Hobbes: De corpore, IV 27, 1, OLM I 364.

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umfaßt erstmals und letztmals >>das ganze Spektrum der im 1 7. Jahrhundert bekannten natürlichen Phänomene« .62 Sie gibt explizit zwar nur einen Aus­ schnitt aus der umfassenden Hypothesis de systemate mundi63, da sie bloß die Bewegungen von Erde und Sonne beschreibt, die für die phaenomena nostri orbis (223, 3) wichtig sind. Weil Leibniz sich j edoch dem >>Systema Copernicanum« anschließt (256, 20), wird vom Zentrum der Sonne aus stets der universi systematis unicus universalis motus (248, 1 7 f.) mitbedacht. Diese kosmologische Perspektive ist das wesentlich Neue gegenüber der » Confessio naturae« und den Briefen an Thomasius, die aus der Partikular­ perspektive isolierter Elemente argumentierten. Der Perspektivenwechsel von der regionalen >>Partikelmechanik« zur universalen >>Systemmecha­ nik«64 wird nötig, weil sich die konkrete Dynamik der Körper nicht hinrei­ chend aus ihren Figuren und Binnenbewegungen ableiten läßt. Die ab­ strakte Maxime der mechanistischen Naturerklärung aus Größe, Figur und Bewegung läßt nämlich die Frage ganz unbeantwortet, >>welche Figur und welche Bewegung zugrundegelegt sein muß, um diesen ganzen Appa­ rat von Körpern, Qualitäten und Veränderungen, den wir auf dieser Welt­ bühne wahrnehmen, aufs leichteste hervorzubringen« .65 Leibniz betont, er habe >>immer [ ! ] geglaubt, daß alles, was man über die vielfach gestalteten Atome, über die Wirbel, Absplitterungen, Zweige, Haken, Angeln und Kü­ gelchen und so viel anderes Zubehör sagt, eher eine Spielerei des Geistes ist, die von der Einfachheit der Natur und erst recht von den Erfahrungen ent­ fernter ist und unfruchtbarer, als daß man sie handgreiflich mit den Phäno­ menen verknüpfen« kann.66 Die Ätherhypothese, deren Grundzüge also 62 So Stammel : Der Kraftbegriff in Leibniz ' Physik, 9 1 , der hinzufügt: » Leider hat Lcibniz nie eine Bestandsaufnahme unternommen, welche Sätze der Theoria motus concreti auch in sei­ ner späteren Physik Gültigkeit haben.« (92) 6 3 Eine Skizze zu diesem Gesamtsystem hat Leibniz zwischen Frühjahr und Herbst 1 67 1 niedergeschrieben, A VI 2, 293-299. 64 Ich verwende die Begriffe hier wie Freudenthal: Newton und Leibniz. Partikel- und Sy­ stemmechanik, ihre philosophischen Voraussetzungen und Konsequenzen. Freudenthal, der al­ lerdings die späteren Schriften zur Dynamik untersucht, verdeutlicht die zwei Methoden am folgenreichen Beispiel der Elastizität: »Newton nahm an, daß, ebenso wie die Körper, auch die kleinsten Partikeln der Körper unelastisch seien, und mußte daher annehmen, daß die Ge­ samtquantität der Bewegung (und daher die > KraftBlasen>leitet die Bewegungen und Wir­ kungen der Blasen und Arten überhaupt von der einen, umfassenden Bewe­ gung des ganzen Systems ab>höchsten und abstraktesten>von den tiefsten Experimenten der Chemiker aufsteigtdurch das sehr einfache und aus der Verfassung unserer ganzen Erdkugel erklärbare Phänomen der Schwere bzw. der Elastizität auf mechanische Weise die Theorie mit der Beobachtung>oecono­ mia systematisdem Äther sozusagen einverleibt [incorporatus] istuniversalis circulatio aetheris>alle Dingein einer ständigen inneren Bewegung [in perpetuo

es untersucht werden könnte, und so vage, daß es durch Ahndung in alles Beliebige umgedeutet werden kann« (Summa hypotheseos physicae novae, A VI 2, 328, 1 6- 1 8). 6 7 Weitere Indizien für eine längere Latenzzeit sind die Feinheitsgrade im Pentagon (s. u. 459 f.), das Stichwort von der ätherischen » aura« im Conspectus von 1 668/69 (s. u. 46 1 ) und die Tatsache, daß die später mit dem Äther identifizierte prima materia schon in der kosmogo­ nischen Skizze des Hauptbriefes an Thomasius (s. o. 276 f.) als welterfüllender Urstoff gedacht wurde (A II 1, 1 6, 23-1 7, 2 1 ). Cassirer: Leibniz ' System in seinen wissenschaftlichen Grundla­ gen, 504, hat sogar schon im Hinweis der Nova methodus auf einen »subtilis motus«, aus dem alles abgeleitet werden könne (A VI 1, 287, 1 5- 1 7), das » Programm« der Hypothesis erkennen wollen. 68 » Cartesii Gassendique maximorum sane virorum sectatores, et quicunque in summa illud docent, ex magnitudine, figura et motu explicandam omnem in corporibus varietatem, habent me prorsus assentientem. Credidi tarnen semper, quicquid de atomis varie figuratis, de vorti­ cibus, ramentis, ramis, hamis, de uncis, globulis tantoque alio apparatu dicatur, lusui ingenii propius, a naturae simplicitate, et omnino ab experimentis remotius, aut j ejunius esse, quam ut manifeste connecti cum Phaenomenis possit. Praesens autem Hypothesis corpuscula vaga et dilabentia, turn inter se per bullas unit, turn motus effectusque bullarum et omnino specierum, ab universi systematis unico universali motu deducit, atque ita hinc a summis et abstractis orsa, illinc ab imis Chemicorum experimentis ascendens, in simplicissimo et ex totius globi nostri statu explicabili gravitatis elaterisve Phaenomeno theoriam observationi mechanice, magna cum claritate et harmonia connectit.«

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intestino motu] « begriffen sieht (255, 22-24) und später alle augenschein­ liche Ruhe als unmerklich kleine Bewegung auffaßt. Von der naturwissenschaftlichen Integrationskraft untrennbar ist die theologische Dimension der Neuen Hypothese, die Leibniz im Dezember 1 670 Thomasius darlegt. Wie Anaxagoras, dessen Kosmologie er soeben mit Enttäuschung studiert habe (vgl. Sokrates in Platons Phaidon, 97 b 99 d), vergäßen auch die neueren Naturphilosophen über den causae mate­ riales rerum die causae rationales. Anaxagoras habe die Welt trotz der ein­ geräumten Herrschaft der mens (voil�) über die materia so behandelt, »als ob das Prinzip der Dinge allein die Materie wäre und die Welt samt ihrer Notwendigkeit aus blinden Finsternissen nach demokritischer Lehrart auf­ getaucht sei«. Dabei leuchte doch aus dem Universum j ene sapientia aucto­ ris hervor, die das horologium mundi gleich zu Anfang so einrichtete, daß zwar »alles zusammen wie mit einer gewissen Notwendigkeitdie für die sinnliche Wahrneh­ mung geradlinige, schnellste Bewegung des Äthers, die auf j eden wahr­ nehmbaren Punkt ringsherum fortgepflanzt wirdres hinreichend erfüllt [satis plenum] « . Eine schlechthinnige Fülle (omnimoda plenitudo) hingegen erlaubt der Zustand der Welt nicht (223 , 4-7; 224, 23-26).80 74 Hierin sieht Leibniz den »vielleicht einzigen und ersten Beweis für die notwendige Bewe­ gung der Erde« (223, 12 f.). 75 In der Theoria motus abstracti erläutert Leibniz diesen Punkt näher und äußert seine Be­ reitschaft, ihn im Falle einer Belehrung zu revidieren (A VI 2, 274, 28 - 275, 6). 76 Auch nach Leibniz' Theorie erfolgt ein solcher Energieverlust, j edoch weitaus langsamer. Daraus lasse sich folgern, »daß die Sonne unmöglich von Ewigkeit her geleuchtet haben kann, es sei denn, daß sie stets wieder erneuert würde« (224, 27-29). 77 »Denn ob eben alles voll ut nullus sit praecise locus corpore vacuus, will ich noch zur zeit nicht determiniren« (an von Guericke, 1 7. August 1 6 7 1 , A I I 1, 1 46, 26 f.). 78 »Lux est motus aetheris ad sensum rectilineus celerrimus in quodlibet punctum sensibile circum circa propagatus« (235, 28 - 236, 1; ähnlich 247, 1 7- 1 9). 79 Daß der Schall keine Bewegung der Luft ist, folgert Leibniz aus dem Experiment, bei dem ein in einem luftleeren Gefäß angebrachtes Glöckchen von außen gehört werden kann. •(So­ nus) consistit ergo in motu aetheris, sed moderato et in circulos abeunte ut lapide aquae iniecto videmus, cum Iux consistat in forti et recto partis subtilioris« (236, 27-3 1 ). Breger: Elastizität als Strukturprinzip der Materie bei Leibniz, 1 1 4, hat darauf hingewiesen, daß Leibniz hier der »fal­ schen Interpretation« eines Experimentes durch Otto von Guericke aufgesessen ist. 80 Die Unentbehrlichkeit eines gewissen physischen Vakuums (nicht etwa eines Vakuums an

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Mit dem Wirken des Lichtes beginnt die Urgeschichte der Erde, die Leib­ niz in seiner späteren »ProtogäawÜst und leer< gewesen sei, d. h. ins­ gesamt gleichartig (totus homogeneus), der Dichte nach weder so dünn wie Luft noch so dick wie Erde, mithin von wässriger Beschaffenheit. Weil alle Festigkeit aus internen Bewegungen zu erklären ist, findet sich dann in diesem Erdzustand »keine Kohäsion der gleichartigen rotierenden Kugel außer in den Linien, die parallel zum Äquator verlaufen. Folglich konnten alle wahrnehmbaren Parallelen und ihre konzentrischen Linien voneinander wegtreten und sich zertrennen, sobald das Licht in die meisten einfiel«. An den Einbruchstellen der Sonnenstrahlen platzt nun die Erde auf und läßt den Äther eindringen. Durch dessen viele Einschläge wird das mei­ ste zum Erdzentrum hingetrieben, so daß der größere, dickgepreßte Teil der Materie, der sich auf dem Boden sammelt, zu festerer Erde wird, das Wasser darüberschwappt und der verdünnte Rest als Luft nach oben entweicht. Den eindringenden Äther aber, der anfangs über den Wassern schwebt, die er dann in feste Erde und Luft zerteilt, identifiziert Leibniz mit dem »Spiritus Domini«, der alles lebendig oder zumindest regsam macht.83 »Würde er weggenommen, so verwandelte sich alles wieder in einen trägen, unzusam­ menhängenden und toten Staub«. (224, 3 0 - 225, 12; vgl. A II 1 , 1 27, 2225) Aufgrund seiner extremen Feinheit durchdringt der zirkulierende spiri­ tus mundi (255, 33) auch das Erdinnere und erzeugt dort unterschiedlich große und dicke Gefäße in der Materie, die Leibniz allgemein »Blasen (bul­ lae) « nennt. Die Bildung solcher Hohlräume wird begünstigt durch die anArten usw.) begründet Leibniz schon in § 36 von De rationibus motus: » Wenn kein Vakuum

eingeräumt wird, kann es keine geradlinige bzw. keine andere nicht in sich zurücklaufende Be­ wegung geben. Infolgedessen wird, wenn das Vakuum einen Widerspruch einschließt, auch eine gerade Linie einen Widerspruch enthalten, und mit dieser die ganze Geometrie. Gleichwohl

kann meines Wissens durch keinen zureichend notwendigen Grund [satis necessaria ratione] die Notwendigkeit eines Vakuums bewiesen werden.gefestigt und zusammengehalten werden [solidantur et continen­ tur] von Ost nach West>aether terram circumdans>von West nach Ost>receptacula aetheris>Elementenquinta essentia< des Äthers in prinzipiell homogene Stoffe von bloß verschiedenen Feinheitsgraden auf. Da das Feuer sich nochmals ableiten läßt, reichen vier Grade aus. Um keine Wesensunterschiede zu sug,

­

8 4 Leibniz hat diesen Prozeß der »ebullitio« viel ausführlicher dargestellt im Brief an de Car­ cavy, 20. Juni ( ?) 1 67 1 (A II 1, 1 26, 1 8 - 1 2 8, 6). 8 5 »Dasselbe Phänomen zeigt sich auch in den Glashütten, wo aus einer kreisförmigen Be­ wegung des Feuers und aus einer geradlinigen Bewegung des Spiritus Glas erzeugt wird - die einfachste Art künstlich hergestellter Dinge. Ähnlich sind aus der kreisförmigen Bewegung der Erde und der geradlinigen Bewegung des Lichtes die Blasen entstanden.« (226, 1 1 - 1 3 ) 8 6 D i e knappe Erklärung dieses motus contrarius retardationis e t obnitentiae (226, 1 f.) ist so dunkel, daß sie in den wenigen Arbeiten der Forschung übergangen wird; so auch bei Laßwitz : Geschichte der Atomistik, II 450-463. 87 Leibniz hat die abgeleiteten circulationes und gyrationes der Wirbel in seiner Summa hy­ potheseos physicae novae deutlicher hervorgehoben (vgl. insb. A VI 2, 356-373).

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gerieren, spricht Leibniz lieber von »vier größeren Massen [quatuor massae grandiores] « als von » elementa« (245, 1 ; 243, 5-9): Terra wird genannt, was im gebundenen Zustand überwiegend dicht und grob ist, d. h. aus bullae densae besteht (227, 1 0). Aqua heißt dann eine »Anhäufung zahlloser Bla­ sen«, die sich ihrerseits aus feineren Blasen zusammensetzen, d. h. im Ver­ gleich zur Erde >>ausgeleert« sind (congeries bullarum innumerabilium ex­ haustarum) (24 1 , 7 f ). Aer läßt sich entsprechend als >>feines Wasser [aqua subtilis] « auffassen; die Luft wird zusammen mit den Wolken rund um die Erde gedreht (226, 23-25; 236, 32). Aether ist schließlich dasj enige, was hypothetisch als feinster Stoff (subtilissimum) angesetzt wird. Als das Medium der dünnsten Stoffverteilung ist der Äther am wenigsten in an­ dere Gefäße eingeschlossen und kann deshalb >>frei oder zumindest freier« als die anderen Massen genannt werden (228, 8 f.). Mehr als diese vier Hauptgrade anzunehmen ist nicht nötig (243, 8 f.), denn Feuer kann erklärt werden als >>Ansammlung des hervorbrechenden und zersprengten Äthers und der Luft [aetheris aerisque erumpentis et displosi collectio] « (227, 7 f.). Es entsteht, >>wenn Äther durch die Berstungen zahlloser Blasen hau­ fenweise zersprengt wird>Äther« traditionell für ein Medium stehe, dem >>viele andere und bedeu­ tende Wirkungen« beigemessen werden (246, 1 3 -23; zur Erläuterung s. u. 455-467). Während die Existenz des Äthers >>durch Vernunft und Erfah­ rungen [ratione et experimentis] geschlußfolgert« ist (243, 29 f.), bleiben die drei übrigen Massen zweckmäßige, auf die Alltagserfahrung bezogene Stufen, um das überwiegende Dichtigkeitsniveau gegebener Materien ein­ zuteilen. Alle vier Grade sind also rein relationale Bestimmungen.88 >>D i e wässrigen Blasen sind i m Vergleich z u d e n luftigen erdig, u n d d i e luftigen haben im Vergleich zu den ätherischen dieselbe Proportion«. Weil alle spe­ zifischen Materien auf einem Kontinuum abnehmender Dichte, d. h. eines zunehmenden Unterteiltseins in feinere Teile liegen89, zwischen den ver­ schiebbaren Extremen eines Kontinuums aber eine >>vielteilige Ausbrei­ tung« liegt90, so >>hindert« im Prinzip >>nichts daran, daß es noch einen wei­ teren Äther gibt, von dem wir uns nichts träumen lassen dürfen«, der im Verhältnis zum Dichtegrad des postulierten Äthers gleich fein ist >>wie das Wasser im Verhältnis zur Erde und die Luft im Verhältnis zum Wasser« . Daß Leibniz später diesen unendlich subtilen Äther tatsächlich postuliert .

88 cavy, 89 90

» Neqve enim aqva et terra, adde et aerem, differunt nisi bullarum subtilitate.« (An de Car­ 22. Juni ( ?) 1 67 1 , A II 1 , 1 27, 2 1 f.) Vgl. 247, 8 - 1 4 . »Multiplex enim h i c inter extrema latitudo est« {243, 34).

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hat9 1 , zeigt die fast spielerische Konsequenzbereitschaft seiner Problemlö­ sungsversuche dort, wo ohnehin nur Hypothesen möglich sind. Zugleich sieht er aber, daß die unendlichen Grade, die mit der Unabschließbarkeit des Kontinuums eröffnet sind, weder »in unsere Rechnung fallen können« noch zu fallen brauchen, weil sich wegen der durchgängigen Proportions­ gleichheit >>nichts an den Phänomenen ändert>medium transplantationis motuum in distans>Jede M aterie ist elastisch und zu j eder Materie gibt es bis ins Unendliche eine wesentlich feinere Materie, die die Elastizität der erstgenannten Materie bewirkt.« (Vgl. z. B . Specimen dynamicum, II 3 f., SD 46-48 = GM VI 248, und den undatierten Brief an de Vol­ der, GP II 1 6 1 f.) 9 2 Im dritten Vorentwurf zur Theoria motus abstracti heißt es: »jede Wirkung eines Körpers

auf einen anderen Körper ist ein Anstoß [Omnis actio unius corporis in aliud corpus est impul­ sus}. « Aus der »Angrenzung« des stoßenden Körpers an den gestoßenen »folgt aber, daß es keine Wirkung des Körpers in die Ferne gibt [Ex contiguitate vero sequitur ut nulla detur Actio corporis in distans] « ( 1 70, 1 - 1 2 ; ähnlich 1 69, 28). 93 An von Guericke, 1 7. August 1 6 7 1 , A II 1 , 1 48, 7. 94 Leibniz nimmt den außergewöhnlichen Bewegungen den Schein des Übernatürlichen, in­ dem er sie für motus physici erklärt, die lediglich für die sinnliche Wahrnehmung (quantum sensu apparet) nicht der Schwere oder anderen principia mechanica entspringen (237, 25 f.). 95 Motus sympathici et antipathici gibt es nur dem sinnlichen Anschein nach; näher betrach­ tet zeigt sich: »Nulla est in corporibus [,] nec antipathia nec sympathia« (240, 9 f.). 9 6 Ähnlich an Oldenburg, 1 1 . März 1 6 7 1 : »Ümnia vel naturae vel artis, ut sie dicam, horo­ logia et machinamenta, vel a Gravitate, vel ab Elatere pendere, re expensa nemo diffitebitur« . Dies sei der Angelpunkt seiner ganzen Überlegungen (A II 1 , 88, 3 1 - 89, 2).

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Schwere und Elastizität als regulierende Systemeigenschaften des universa­ len Gleichgewichts - Schwere und Elastizität sind für Leibniz keine Eigen­ schaften der isolierten Körper, sondern (neben dem Magnetismus97) Grund­ beschaffenbeitell des ganzen kontingenten Weltsystems (totius systematis affectiones ). Deshalb ist zunächst ihre teleologische Funktion im System zu beschreiben, dann ihr mechanisches Funktionieren im einzelnen zu er­ läutern. Was Leibniz über die gravitas sagt, gilt daher auch für die vis elastica9 8 : sie ist causa bzw. clavis für die meisten außergewöhnlichen Bewegungen der Welt (227, 20-22). Schwere und Elastizität sind zugleich auch die beiden wichtigsten Regulativa, mit denen die oeconomia systematis insensibilis (224, 1 0) ihr störanfälliges Gleichgewicht immer wieder verteidigt.99 Im ju­ riszentrischen Paradigma gesprochen resultieren >>GRAVITAS« und >>ELA­ TER« aus der >> Kraft des Äthers, der sich wieder auf die ihm gebotene [!] Kreisdrehung verteilt [vis aetheris se in debitam sibi circulationem disper­ gentis] systematis status> Fließgleichgewicht>Wächter des Gleichgewichts>ein j edes Ding auf j edes andere ein, so daß alle Dinge in der Welt anders als jetzt sein würden, falls nur ein Ding als aufgehoben oder verän­ dert vorgestellt würde« . 1 05 Wie die Ozeanwellen zwischen den Küsten un­ merklich schwache >>Rückprallbewegungen [repercussiones]« hervorrufen (376, 1 -29), so gibt es auch im universalen Fluidum nichts, das gegeneinan­ der gleichgültig wäre. Der Äther als gemeinsames >>Band« (A II 1 , 1 45, 2) zwischen den groben Körpern bewirkt in statu systematico, daß >>alle auf den Verkehr aller harmonisch zusammenwirkend sind, alle einander ange­ paßt, alle durch gewisse Perioden hindurch verlaufend [omnia in omnium usum conspirantia, omnia sibi accomodata, omnia per periodos quasdam decurrentia] « (A VI 2, 3 1 5, 1 2 - 1 6). Schwere und Elastizität sind die Ursa­ chen dieser universalen >AkkomodationEt verum est in mundo quod Hippocrates asseruit de Corpore humano, m'tvta cruppotu Kai crU!!ltVota d vut. (Demonstratio substantiarum incorporearum (Herbst 1 672 [ ?], A VI 3, 87, 22-25). Vgl. Monadologie 6 1 , GP VI 6 1 7; ähnlich Specimen inventorum, GP VII 3 1 1 . 1 04 »Mens imperfecta extra s e non agit nisi per Corpus« (De incarnatione Dei seu De unione hypostatica, A VI 1, 533, 4 ). 1 0 5 »Unaquaeque res influat in aliam quamcunque ita ut si ipsa sublata aut diversa esse fin­ geretur, omnia in mundo ab iis quae nunc sunt diversa sint futura« (an de Volder, 6. Juli 1 70 1 , GP II 226).

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Die ratio mechanica der Schwere (227, 23 f.) wurde schon mit den vier Hauptgraden im Dichtekontinuum angedeutet. Während die groben mas­ sae der Schwere unterliegen oder gravitieren - aer et aqua et terra in ae­ there gravitant (228, 3) -, ist der zirkulierende Äther die >>causa gravitatis>alles Ungleichartige stört die Kreisdre­ hung eines gleichartigen Flüssigenversucht< oder >strebt< der Äther als ein für sich genommen gleichar­ tiges Flüssiges (per se homogeneum liquidum) danach, alle Materien zu durchdringen, die seiner Zirkulation im Wege stehen (227, 28-35). Seinen conatus circularis behindern die dichteren, festeren Stoffe am stärksten, weil in ihnen mehr Erde als Äther enthalten ist. Deshalb kann der Äther nicht sogleich durch ihre Poren hindurchströmen. 1 06 Entsprechend staffelt sich das spezifische Gewicht nach dem Dichtegrad. Der Äther durchdringt >>am meisten Wasser und Luft, ja überhaupt die durchlässigeren Stoffe [po­ rosiores]. Daher sinkt Erde im Wasser herab - falls nicht ihre Oberflächen>mehr a n Äther als das Wasser selbst enthalten - und Wasser in der Luftin die Höhe>noch mehr verwirren>Überall in jedem Teilgebotene Verteilungsgerechtigkeit< des Drucksystems. 1 09 Entspringt die Gravitation also der Unfähigkeit des Äthers, die Partikeln der dichteren Stoffe auf Anhieb zu durchdringen, so entspringt die Elasti­ zität umgekehrt seiner Fähigkeit, die in den gröberen Stoffen enthaltenen feineren zu zerteilen (249, 3 0 f.) . 1 1 0 Da Leibniz mit der vis elastica Phäno­ mene zu erklären sucht, die sich erst bei einem gerraueren Blick auf die mo­ tus vulgares als >>schwierig aufzulösen>Warum prallen harte Körper zurück, wenn sie gegen andere harte stoßen>allgemeingültig>Warum [ . . . ] tritt ein Körper, der gegen einen anderen ruhenden gestoßen ist, gleichsam durch eine Vertauschung an die Stelle des anderen, überträgt aber seine Bewegung an den anderen>dejicere>Denn der Äther wirft diejenigen Körper auseinander, die dichter sind, als es seiner stärksten zertrennenden Bewegung gemäß ist, wenn er es vermag (wenn die Körper z. B. aus einem schlecht vereinten Haufen solcher Stoffe bestehen, die er nicht zu meistern vermag); hieraus entspringt die elastische oder wiederherstellende Kraft nicht bloß der zusammengepreßten, sondern folgegemäß auch der gedehnten Körper, denn j ede Dehnung eines Teils bedeutet die Pressung eines anderen. Wenn der Äther sie nicht auseinanderzuschla­ gen vermag (wenn Körper in i hren Gefäßen enthalten sind, die durch eine besondere Zirkula­ tion verstärkt sind), so wirft er die Körper zu Boden; hieraus entspringt die Schwere.« (256, 23-28; ähnlich A II 1, 8 1 , 3-7; 98, 28-3 1 ; 1 03, 1 0 - 1 6; 1 2 8, 8 - 1 3 ; 1 47, 9- 1 3 ; 1 47, 9-23; 1 49, 1 4-23) I I I Ähnlich an Oldenburg, 28. September 1 670, A II 1, 63, 8 - 1 2 .

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daß die Sache so eingerichtet wurde; denn wenn sie ohne dieses Gesetz der Reflexion wäre, könnte weder Sehen noch Hören in ihr stattfinden«, weil es keine Ordnung von Licht und Schall gäbe. Bei der aequalitas anguli inci­ dentiae et reflexionis handelt es sich zunächst um eine berechnungsdien­ liche Als- Ob-Betrachtung, deren elegante mathematische Form verführe­ risch ist. In ihrer naiven Anwendung unterstellt sie, daß es tatsächlich, sei es beim schrägen (im folgenden Schema a) oder beim senkrechten Anstoß ( b), eine » geradlinige Bewegung der anstoßenden Körper [rectus impin­ gentium motus] Grad und Zu­ stand der Lockerheit [gradus statusque raritatis] >physica extraordinaria>aus kleinsten Ursachen größte Wirkungen vollbracht werden [a minimis maximae res geruntur] >

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Reaktion also scheinbar größer als die Aktion ist. Sie finden sich v. a. im Tier­ reich I Ja, wo nicht nur die zwei mechanischen Arten der Kraftvermehrung (durch denAbstand von der Richtlinie 1 3 1 und die Wucht beim Fall) anzutreffen sind, sondern auch ein besonderes augmentum potentiae physicum auftaucht, das Leibniz » Bewegungsdrang [nisus}« nennt1 32 und am Beispiel der Muskel­ anspannung verdeutlicht (228, 1 1 - 1 3 u. 249, 22-26). Die von Willis 133 bei der Muskelbewegung konstatierten Zersprengungen unmerklicher »sclopeta« lassen sich als Berstungen von Bläschen mit unterschiedlicher Äther-Mas­ sen-Mischung deuten. Die Heftigkeit der von Lower1 34 untersuchten >>vis con­ trahens« bei der Muskelanspannung - j enerfortissimus nisus, den wir täglich in uns selbst erfahren - läßt sich nicht hinreichend aus der Konfiguration des Muskelgewebes erklären, sondern verlangt das ständige Nachfließen feinerer Stoffe durch den concurrens totius atmosphaerae nisus des Äthers (249, 1 3-2 1 u. 9 f.) Die heftigen Wirkungen der Muskelkraft, aber auch die des gespannten Bogens, des Schießpulvers oder des Giftes werden folglich >>nicht durch die Kraft des besonderen Stoffes vollbracht, den wir für tätig haltenarbeitenden SystemsNatur< für prin­ zipiell überbrückt, da er die Physis als eine Komplexion von bewegten Real­ figuren auffaßt. 137 Später hat er diesen Geometrizismus verworfen. t38 Die TMA beweist rein aus mathematischen >>Definitionen von Begriffen« ( 1 60, 3). Da aber »alle Grundbeschaffenheit des für sich genommenen Körpers [omnis affectio corporis per se sumti]> Problema Generale « der TMA besteht darin, •alle möglichen Linien, Figuren, Kör­ per und die allen Linien entsprechenden Bewegungen auf physische Weise zu konstruieren [om­ nes possibiles lineas, figuras, corpora, et motus secund um omnes lineas, Physice construere] « . • D i e geometrische ( Konstruktion) enthält d i e Verfahren, nach denen die Körper konstruiert werden können, freilich oft allein durch Gott, insofern nämlich die Körper (von uns) nicht in ihren Verwicklungen erkannt werden« (270, 1 1 f. u . 1 6 - 1 8). 1 3 8 •Einst habe ich geglaubt, daß alle Bewegungsphänomene aus rein geometrischen Grund­ sätzen erklärt werden können, ohne irgendwelche metaphysischen Lehrsätze heranzuziehen, und daß die Stoßgesetze allein von der Zusammensetzung der Bewegungen abhängen; durch tiefere Betrachtung aber habe ich begriffen, daß dies unmöglich ist« (Entwurf aus der Spätzeit, GP VII 280). 1 39 • Corpora enim quiescentia nihil aliud sunt quam mera puncta sine unione, sine lineis, sine superficiebus nisi spatij cui insunt«. Sie sind wie arena sine calce (an Oldenburg, 28. Sep­ tember 1 670, A II 1, 64, 30 f.).

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thematische Punkte beschreibt, haben keine Bindung und bilden kein Kon­ tinuum. HO Sie fallen zusammen mit dem Äther im Urzustand, der als ru­ hende materia prima »nihil« oder >nicht etwas< ist, also vom erfüllten >>Spa­ tiumSand ohne Kalk>auch die Größten von den Kleinsten leicht bewegtgerechtes Verhalten< ohne Verpflichtung und Imperativ er­ folgt. Deshalb bildet er die zwei unteren Naturrechtsstufen auf die Ebenen der abstrakten und konkreten Bewegung ab. 145 Sein Ausbau der juriszentri­ schen Analogie wird für das wiederbeseelte Universum nach dem cartesia­ nischen Intermezzo der empfindungslosen Tiermaschinen wichtig werden. Denn das Stufenkontinuum der Geschöpfe verlangt mit seiner durchgängi­ gen Korrespondenz von Form und Materie, vis activa und vis passiva, Seele und Leib, Zweck- und Wirkursachen, daß in jedem Stück Materie der Uni­ versalrepublik eine Art Zwergstaat von Monaden gesehen werden kann. Von den duo genera motuum in mundo entsprechen die motus puri seu privati dem >jus strictumjus privatum seu proprietatis< ist; seine abstrakten Bewegungen gehören zum vorstaatlichen status natu­ rae purus. Die motus publici seu a systemate affecti entsprechen dagegen der >aequitasjus publicum< ist; ihre konkreten Bewegun­ gen bilden den zivilen status systematicus (3 1 4, 8 - 1 0; 3 1 5, 7- 1 1 ). >> Private Bewegungen« führen die Körper aus, wenn sie (in der geometrischen Isola­ tion der TMA) >> gedacht werden, wie sie im Leeren oder in einem ruhenden Medium getragen werden«, das keinen Widerstand leistet. >>Öffentliche oder in verschiedenem Grad konkrete Bewegungen werden sie ausführen, wenn das Medium am meisten zur Bewegung beiträgt, und zwar nicht nur beim Widerstehen, sondern auch beim Bewegen oder Tragen« (3 1 4, 1 0- 1 2; vgl. 3 3 7, 1 8-26). 1 46 Von vielen möglichen Unterscheidungsaspekten zwischen rein privaten und systembedingt öffentlichen Bewegungen mu­ stert Leibniz sieben durch (3 1 4, 23 - 3 1 5, 1 8). Hier seien die zwei wichtig­ sten erläutert, die das Rückstoßen und Fortstoßen (die Analoga von Ab­ wehr und Angriff) betreffen. 1 . Ein Hauptunterschied liegt darin, >>daß die durch ihre private Bewe­ gung getragenen Körper nicht zurückprallen, wenn sie nicht weiterkom1 44 Den Gegensatz von Bindung und Bewegungsfreiheit formuliert Leibniz als Lockerung von particula densitate constricta auf einem liber campus motus (246, 29). 1 45 Die folgenden Ausführungen finden sich in den zwei Entwürfen Leges reflexionis et re­ fractiones demonstratae, die Leibniz vermutlich in der zweiten Jahreshälfte 1 67 1 niederschrieb, A VI 2, 309-322. 1 4 6 »Privatos ( motus) exercebunt corpora, si in vacuo aut medio quiescente ferri cogitentur; publicos et varie concretos, cum medium plurimum ad motum confert non obsistendo tantum sed et movendo seu ferendo.«

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men können, die von der öffentlichen Bewegung getragenen aber reflektiert werden« . Allgemeiner formuliert : »Die von der öffentlichen Bewegung ge­ tragenen Körper suchen bei einem zuwiderlaufenden Hindernis einen Weg, um auszuweichen; die von ihrer privaten Bewegung beförderten werden al­ lein durch die Zusammensetzung ihrer Bewegungstendenzen bestimmt [sola conatuum compositione determinantur] und weichen nicht vom Weg ab. Wenn daher zwei gleich schnelle Körper auf derselben Linie zu­ sammenprallen, so kommen sie durch ihre reine Bewegung zur Ruhe; aber durch die öffentliche Bewegung prallen sie zurück« (3 1 4, 29 - 3 1 5, 4). Da nach der Ätherhypothese j eder Rückprall (reflexio) durch die Rück­ Hutung der beim Stoß herausgepreßten Feinmaterie vermittelt wird, beruht die öffentliche oder systembedingte Bewegung auf den interkurrierenden Partikeln, die das »MediumRandbedingungen< erschlossene Ei­ genbewegung des Körpers, die im vorliegenden Fall durch die gerade Linie seines Aufprallens dargestellt ist. Der stricto jure gegebene >Eigensinn< aller unreflektierten Körper ist somit das >Geradeausun­ beugsamHilfe< vor Augen, die der private impetus durch alliierte Körper erfährt. >>Denn die durch die reine oder eigene Bewegung fortschreitenden Körper erneuern ihre Schwungkraft nicht, sobald diese einmal gebrochen ist, selbst wenn das Hindernis wiche. Diej enigen Körper aber, die durch eine fremde Schwung­ kraft und insbesondere vom System getragen werden, spannen, wenn sie 1 47 » Kein Körper würde, für sich betrachtet«, d. h. als >Privatperson>Ebenbilder«, die vitalen Kreisläufe des Atems und des Blutes. Sie alle werden ermöglicht durch die elastisierende Wirkung des Fluidums im planetarischen System . 1 5 1 Von Leibniz nicht eigens hervor­ gehoben wird umgekehrt die Minderung der zum Fort- und Durchstoßen nötigen Schwungkraft bei Körpern, welche >>gegen den Strom des geordne­ ten Systems [contra torrentern constituti systematis] « ankämpfen (227, 14 f.). So hat z. B. der in die Höhe geworfene Ball die Schwerkraft, d. h. einen Hauptkreislauf der >Öffentlichkeit< gegen sich. Angesichts dieser Beispiele ist Leibniz' Schlußfolgerung fast trivial, daß sich alle Unterschiede zwischen privaten und öffentlichen Bewegungen auf einen einzigen reduzieren lassen: >>Im reinen Naturzustand [ . . . ] ist alles geistlos« und wird >>durch die Zusammensetzung der Bewegungstendenzen bestimmt. Im systematischen Zustand scheint alles mit einer gewissen Intel­ ligenz zu geschehen und durch einen wunderbaren Grund zu den Gesetzen der Harmonie, Weisheit und Gerechtigkeit getrieben zu werden« (3 1 5, 1 0- 1 4) . 1 52 Nun gibt es aber nach Leibniz weder im Naturrecht noch in der Physis einen reinen Naturzustand, in dem bloß die conatus isolierter Privatbewe­ gungen addiert und subtrahiert werden könnten. So setzen etwa die Lehr­ sätze der TMA, die den angulus incidentiae et reflexionis betreffen, das geo­ metrisch nicht begründbare, konkrete Faktum des Rückstoßes in abstrakt idealisierter Form als Spezialproblem voraus (268, 3 1 - 269, 25; 2 7 1 , 1 1 28). In Recht und Natur werden vermittelnde >natürliche Gemeinschaften< (s. o. 1 95) vorausgesetzt, in denen die privaten Ausrichtungen bereits durch andere >zurückgebogen< und ihre Schwungkräfte von anderen unterstützt 1 49 » Quia corpora motu puro seu proprio progredientia fractum semel impetum non resu­ munt, etsi impedimentum cesset; at quae alieno impetu et inprimis a systemate feruntur cum primum liberatiora sunt, intendunt vires, quia systema ipsum occassionem se restituendi non negligit.« 1 5 0 Vgl. hierzu die Erläuteru ngen in 23 1 , 1 1 - 1 3 u. 232, 1 6- 1 8 . 1 5 1 »Jam si motus vitalis a reactione est, erit a b Elatere, per superiora, ergo a b Aetheris cir­ culatione. Ab eadem esse Motum Oceani in tellure, analogum Sanguinis circulationi in corpore, supra dieturn est: idem est de motu aeris, seu vento. « (253, 24-26) 1 5 2 »Septima et hoc loco postrema esto, ad quam turn antecedentes turn aliae omnes mihi re­ duci posse videntur. In statu naturae puro [ . . . ] omnia sunt bruta (,) conatuum compositione de­ terminantur, in statu systematico omnia videntur intelligentia quadam fieri, miraque ratione ad harmoniae sapientiae et justitiae Ieges exigi« .

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oder gehemmt werden. Obwohl die konkreten, bewundernswürdigen und lebensnotwendigen Ieges systematis nach der geometrischen Schöpfungs­ lehre letztlich aus der combinatio abstrakt privater Bewegungen resultieren (3 1 5, 20 f. ), findet sich doch in der wirklichen Natur keine reine Privatbe­ wegung, weil alle Körper durch Schwere oder Elastizität an der öffentlichen Bewegung des Äthers partizipieren. Im kosmischen Fluidum, durch das al­ les miteinander »konspiriert« (3 1 5, 1 4; 344, 24), ist strenggenommen nichts rein. Das ineffabile rerum omnium commercium macht j edes Seiende zu einem >>Symbioticum«, das >>cum alio« wirkt und leidet; andernfalls gäbe es ein >>membrum Reipublicae Entium inutile« (vgl. A VI 1, 1 53, 1 4- 1 7 u. 28; 1 55, 32). Vom aequilibrium systematis her gedacht gibt es sogar nur eine einzige öffentliche Bewegung, die sich in die Großkreisläufe der Schwere und Elastizität untergliedert. Selbst die geradlinige Privatbe­ wegung eines Sonnenstrahls ist eine Fiktion, die von der Interferenz und Ablenkung des Lichtes durch die Elastizität des Mediums abstrahiert (3 1 4, 1 4-22). Die motus puri seu bruti des Privaten (3 1 5, 20) verdanken sich nur dem geometrischen Denken, das vom Gesamtsinn abstrahiert und für sich >sinn­ los< ist15\ also aus dem dynamischen Gefüge den >Geist heraustreibt< und dann die Teile ohne >geistiges Band< (vgl. A II 1 , 1 45, 1 -4) in der Hand be­ hält. Diese Austreibung des Weltgeistes oder spiritus mundi gehört zur blo­ ßen Partikelmechanik, die durch die kosmologische Perspektive der teleo­ logischen Systemmechanik zu relativieren ist. Die TMA zeigt, daß selbst die rationale Kinematik, welche die Privatbewegung der Körper metho­ disch verabsolutiert, >geistvolle< Einsprengsel benötigt, sobald die Reflexion beim Stoß zu klären ist. Falls die Bewegungstendenzen (zum Begriff >>co­ natus>so wird wechselseitig die Stoßrichtung verlassen, d. h. es wird eine dritte mittlere zwischen ihnen ausgewählt, falls es diese geben kann, wobei die Geschwin­ digkeit der Bewegungstendenz erhalten bleibt [ . . .]. Hier findet sich gleich­ sam der Gipfel an Rationalität in der Bewegung, da die Sache nicht allein durch die geistlose Subtraktion gleicher Bewegungstendenzen erfolgt, son­ dern auch durch die Auswahl einer näherliegenden Bewegung - eine Auswahl, die wunderbar und doch anscheinend notwendig ist für die Klug­ heit>daß das Ganze größer ist als der Teik 1 54 Jene Wahl einer dritten, mittleren Bewegung dagegen ist nichts Geringeres als das physische Analogon zur rationalen Option eines vermittelnden Zweckes bei konfligierenden Zielvorgaben. Sie rührt also bereits an die finale Dimension des >>höchst vornehmen Prinzips« vom zureichenden Grunde alles Kontingenten: »Nichts ist ohne Grund>die Theor>der Natur wohl einstimmende und auff die Experienzen sich reimende Hypotheses ersinnen« und >>mit deren concinnität die weisheit Gottes preisen« . 1 56 Eine forma bruta der justitia commutativa herrscht im physischen Natur­ zustand durch die blinde Addition und Subtraktion von Privatbewegungen, bei denen unmittelbar der stärkere Körper siegt. Die bürgerliche Verfassung konkreter Bewegungen steht dagegen wie j ede civitas >>sub superiore« (s. o. 205 ), d. h. in der Kosmologie unter der stellvertretenden Herrschaft des Äthers . 1 57 Der allesdurchdringende Äther ist die >>causa universalis ubique praesens« (23 8, 2), das erste Instrument der lenkenden Mitwirkung Gottes bei seiner Schöpfung. Er ist der >> Geist des Herrn«, der mit seinem >>gebo­ tenen Kreislauf« auf den hierarchischen Zirkeln der natürlichen Dichte die 1 54 Die Theoria motus abstracti erläutert dieses Prinzip so: Wenn die Bewegungstendenzen zweier zusammenstoßender Körper, die sich nicht zu einer einzigen Bewegung zusammenset­ zen können, ungleich groß sind, subtrahieren sie sich gleichsam gegenseitig dergestalt, daß die kleinere Bewegungstendenz des einen Körpers wie ein Teil von der größeren des anderen abgezogen wird, wobei die Stoßrichtung des stärkeren erhalten bleibt (Fundament 22, 268, 5 f.). 1 55 »Si conatus incomponibiles sunt aequales, plaga mutuo deceditur, seu tertia intermedia, si qua dari potest, eligitur, servata conatus celeritate [ . . . ] . Hic est velut apex rationalitatis in motu, cum non sola subtractione bruta aequalium, sed et electione tertii propioris, mira q uadam, sed necessaria prudentiae specie res conficiatur, quod non facile alioquin in tota Geometria aut pho­ ronomica occurit: cum ergo caetera omnia pendeant ex principio illo, totum esse majus parte, [ ] hoc unum [ . . ] pendet ex nobilissimo illo [ . . ] Nihil est sine ratione«. 1 5 6 Grundriß eines Bedenkens von Aufrichtung einer Sozietät, A IV 1, 535, 3-6. 1 57 Der Äther ist superior als alles andere (243, 30; 246, 1 7). . . .

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>>Haushaltung« und das >> Gleichgewicht« des Ganzen verbürgt und sich ins Unterste herabläßt. Der >>Spiritus Domini« ist der geheime Exekutor einer justitia distributiva, die das strenge Recht durch Billigkeit kompensiert und, wie im Spruch des Anaximander, alles zu seiner Zeit zu dem Grunde rich­ tet, aus dem es herkommt. Durch die Schwere wirft der Äther alle wieder nieder, die sich durch gewaltsame Bewegungen in eine »ungerechte« Höhe verstiegen haben. Durch seine elastische »vis restitutivakleinen Weltchen, die unserem Auge unzugänglich sind« (ebd. 223, 1 8-2 1 ). 1 67 Daß Leibniz überhaupt den blasen- oder kugelförmigen Aufbau der Ma­ terie im >>Weltenrad« für eine sehr erklärungsfähige Hypothese hält, hat au­ ßer der Ätherzirkulation noch einzelne physikalische Gründe, die hier nicht geklärt werden können. 1 68 Daß Leibniz außerdem den Verdacht einer unendlichen Unterteiltheit des großen Globus in globuli für begründbar hält, ergibt sich aus drei Punkten. Mehr als solche Verdachtsmomente, 165 Ähnlich hält Leibniz es im Specimen demonstrationum de natura rerum corporearum ex phaenomenis von 1 6 7 1 für einen zu beweisenden Satz: » Ümnia ex globulis constare. « (A VI 2, 309, 1 ) 1 66 S o verstehe ich folgende Sequenz i n der Theoria motus abstracti: »bullas (velut proprium quendam mundulum, propriam atmosphaeram, proprios polos, et magnetismos, et electricis­ mos, propriam lucem)« (A VI 2, 2 7 1 , 2 1 -23 ). 1 6 7 »Nam alios eidem aetheri interspersos magnos parvosque globos circa suum centrum mo­ tos, in quibus eadem, quae in terra nostra, fieri proportione possunt, id est, non planeras tantum quos videmus, sed et innumerabiles quosdam velut mundulos parvos, quos non videmus, nunc non consideramus«. 168 Sie finden sich z. T. in den Entwürfen zur Summa hypotheseos physicae nova, die eine nä­ here Begründung aber noch für ein Programm ausgeben : » Üstendetur a me aliquando nihil ma­ gis rationi consentaneum de ROTA MUND I dici posse, quam totum spatium Universi Globulis contiguis constare, iisque nunquam dissolvendis.« (A VI 2, 3 4 1 , 20-22)

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die für die Unendlichkeit sprechen, sind angesichts der empirischen Unent­ scheidbarkeit nicht möglich. 1 . Seit der » Confessio naturae« hatte sich eine absolute Kohäsion kleinster atomarer Körper als unerklärbar erwiesen; denn es läßt sich kein Grund angeben, waru m Korpuskeln nicht bei vehe­ mentem Druck und Stoß zersplittern können. 1 69 Leibniz hält deshalb nur noch am Namen, nicht mehr am Begriff des Atoms fest, wenn er folgert, daß sich »in minimis atomis« eine >>innumerabilium specierum varietas« verberge (255, 27 f.). 2. Die Hypothese vom Äther, der als Ursache von Schwere und Elastizität zugleich selbst geringfügig schwer und elastisch ist, wirft die Frage nach der Notwendigkeit eines unendlichen Regresses zu immer höheren Feinheitsgraden auf - eine Konsequenz, die in Leibniz' Erwägung eines Superäthers bereits anklang (s. o. 427 f.). Wegen der bloß relationalen Staffelung der Elemente nach Dichtegraden im mathemati­ schen Kontinuumsschema und wegen der unterschiedlichen Grade an Fülle oder Leere innerhalb eines Materiegefäßes scheint hier eine unterste Grenze des Unterteiltseins willkürlich, ja inkonsequent. 3. Schließlich wird die Wahrscheinlichkeit einer unendlichen Wiederkehr analoger Strukturen eher nahegelegt durch die sensationellen Entdeckungen, die mit den verfei­ nerten Mikroskopen angeblich gemacht wurden. Leibniz hatte zwar gerade eine neue Art von optischen Linsen entwor­ fen, hierzu eine kleine Schrift »Notitia opticae promotae« verfaßt und sie keinem Geringeren als Baruch Spinoza zur Beurteilung vorgelegt . 1 70 Da ihm jedoch die technischen Geräte fehlten1 7 1 , war er auf die Beschreibungen der berühmten »Mikrographen« wie Athanasius Kireher und Robert Hooke angewiesen. Diese wollten >>beobachtet haben, daß die meisten Phä­ nomene, die wir bei den größeren Dingen wahrnehmen, in entsprechender Proportion von einem, der Luchsaugen hätte, auch bei den kleineren Din­ gen entdeckt würden. 1 72 Wenn dies ins Unendliche fortgeht (was gewiß 1 6 9 Von Körpern, die für andere Körper »Gefäße [vasa] « oder >>einschließend [consistentia] « sind, wird daher gelten: »neque absolute dura, neque absolute mollia sunt, sed mediam quandam rationem habent« (25 1 , 1 1 - 1 3). 1 70 Im Brief vom 5 . Oktober 1 67 1 (»A Monsieur [ . . . ] Spinosa Medecin tres celebre et philo­ sophe tres profand a Amsterdam « ) schreibt Leibniz nur einen einzigen Satz, der nicht die Optik angeht: »Puto visam Tibi Hypothesin meam Physicam novam; sin minus, mittamEinwicklung< oder >Einschachtelung< (involutio) beschreibt (244, 4), ist die hypothetische Weltenflucht als eine unendliche Verschachtdung von Kosmen aufzufassen. Diesen Gedanken aber streut Leibniz fast unvermittelt zwischen seine (al)­ chemischen Ausführungen zum ätherischen >>Kern>Schale>Anaxagoristae>eine Substanz mit dem identisch ist, was in ihr inhaltlich überwiegt>beim Kleinen kein Kleinstes, sondern stets ein Kleineres gibt« und daß >>in j eder Substanz die Bestandteile enthalten sind, aus denen>j ede beliebige andere hervor­ gehen kann>Homoiomerien> Et qu'il n'y a point d'atome qui ne contienne un monde de creatures, tout estant sub­ divise actuellement a l'infini. Wiederholungen« der Makrostrukturen auf der Mikroebene . 1 77 Er schwankt hier aber zwischen der Annahme unendlich vieler Replikationen auf seiten der Natur (infinitae ÖJlOlOJ.U:pdw;, 242, 3) und der Annahme un­ bestimmt vieler Wiederholungen (»indefinitae replicationes seu homoeo­ mereiae«, 245, 1 f.) . 1 78 Dabei vertritt er seine gleichzeitig vorgetragene These, daß es >> im Kontinuum tatsächlich [ . . . ] unendlich viele Teile« gebe, mit der vollen Bewußtheit, daß dieses aktual Unendliche nicht mit dem >> Indefiniten« zu verwechseln ist, welches auch nach Descartes >>nicht in der Sache, sondern im Denkenden« liegt.1 79 Das Schwanken zwischen ei­ nem aktual und einem potentiell infiniten Unterteiltsein der Materie in Mi­ krokosmen findet sich auch in einem anderen Text aus dieser Zeit. Zwar schreibt Leibniz: >>Sunt in quolibet corpore dato creaturae infinitae. [ . . . ] Nullae sunt Atomi, seu corpora quorum partes nunquam distrahuntur. « Die Formel aber, auf die er seine These zuspitzt, zeigt erneut das Unausge­ reifte : »Materia actu dividitur in partes infinitas. « 1 80 Es heißt wohlgemerkt nicht, daß die Materie in Wirklichkeit von sich aus geteilt ist (etwa >actu di­ visa est>dividitur«, ohne daß Leibniz dies bedacht haben müßte, auf den subj ektiven Prozeß, in dem sie von uns zerlegt wird. Daher bleibt zu fragen, ob Leibniz' Fügung >>actu dividitur« nicht widersin­ nig ist. 1 B 1 Seine Rede von >>jenen ins Unendliche verlaufenden Wiederho­ lungen, falls es sie gibt [illis, si quae sunt, in infinitum replicationibus«

1 77 Die Auffassung von Beeley: Leibniz und die Vorsokratische Tradition, 36, daß Leibniz seine vier •Elemente ausdrücklich auch als >Homöomerien< [ . . . ] bezeichnet«, teile ich nicht. Leibniz' These: •sunt quatuor massae grandiores seu elementa, indefinitae replicationes seu [!] homoeomereiae« (245, 1 f.) grenzt die Vierheit der Elemente gerade gegen die quantitative Unbestimmtheit der Wiederholungen ab. 1 7 8 Den Grund dafür, daß die mögliche Weltenschachtelung zumindest indefinit wäre, sieht Leibniz darin, daß mit der unbegrenzten Teilbarkeit des Kontinuums auch die • zusammenset­ zenden Prinzipien« der Materie für uns •unbestimmt« bleiben müssen, und zwar wegen der Vielfalt an Feinheitsgraden bei den Körpern und wegen der Unmöglichkeit, die Materie • für sich kausaltheoretischen Inkonsequenz« der Materietheorie bei Anaxagoras und ihrer versuchten Korrektur bei Leibniz vgl. die Andeutungen bei Beeley: Leibniz und die Vorsokra­ tische Tradition, 39-4 1 .

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Zweiter Teil · Der Systemzyklus

von

1 669-1 672

vom 22. Juni ( ?) 1 67 1 vielleicht gespürt, als er bei seiner Erklärung der durch die Erd- und Ätherzirkulation erzeugten bullarum insensibilium quadam infinitas das Problem des letzten Grundes für die Konsistenz an­ schnitt und dabei ein wahrlich überraschendes Argument geltend machte. Es genüge, eine >>ursprüngliche Kohäsion>durch die ge­ wisse sinnlich nicht wahrnehmbare und primär harte Körper gleichsam gewölbt werden, durch deren Verhakung wiederum die sekundär harten Körper gefestigt werden>um der Ein­ sehbarkeit willen vorauszusetzen; denn andernfalls wäre nicht verhindert, daß es ein Fortschreiten ins Unendliche und gleichsam immer neue kleine Welten in j edem beliebigen Atom gäbemens< oder >anima rationalis< eingepflanzt ist und die als eine Bedingung der Auferstehung gedacht wer­ den (vgl. ebd. 1 08 - 1 1 7). Dieser Kern der Substanz muß >>naturaliter indis­ solubile>vnzertheilig undt vnzerstoerlich>primär hart>intelligentiae causasupponieren>im Äther zerstreuten>mensEintreten< in die Vielheit des Leibes >>Vorstellungen der Lichtmetaphysik bestimmend« sind . 1 87 Auf die intelligiblen mikrokosmischen Lichtsphären, Vorläufer der Monaden, spitzt Leibniz dann seinen phoronomischen Begriff des »conatus« zu.

2. Die mikrokosmischen Lichtsphären im Äther Die mystische Bedeutung der Ätherhypothese hatte sich in der Verklärung des Weltmechanismus durch die Lichtmaterie des »Spiritus Domini« (225, 1 0) gezeigt. Weil dem >>aether« in einer langen Tradition >>bedeutende Wir­ kungen« zugeschrieben wurden (246, 1 9), will auch Leibniz nicht auf diesen Namen verzichten. In zwei Briefen vom Juni 1 67 1 beruft er sich auf Philo­ sophen aller Völker und Epochen, die von einem spiritus universalis spra­ chen, >>von dem die Dinge, die ohne Vernunft sind, Leben und Bewegung erhalten«. Daß Leibniz ausdrücklich >>gewisse Stellen bei Aristoteles« nennt1 88, verleiht der Ätherhypothese eine neue Pointe. Sie erweitert näm­ lich die mechanistische Revision der aristotelischen Naturphilosophie (s. o. 2 70-283) um die Zeugungs- und Vererbungslehre. Die Theorie der Äther­ blasen reformuliert die peripatetische Lehre von der Auswicklung und Bewegung der Organe durch das angeborene, in einer schaumigen Bla­ se eingekapselte Pneuma des Lebenskeimes. 1 89 Zur Tradition, an die Leib­ niz anknüpft, gehören aber auch Bücher und Fragmente >>Platonicorum, Stoicorum; veterum, recentiorum; Chemicorum, Democriticorum«, ja sogar >>Ürientalium«, die von einem aether, einer quinta essentia, anima

1 86 In der Nova methodus hatte Leibniz die »doctrina Pneumatica« als diejenige Disziplin definiert, die »de Entium incorporeorum actionibus ad extra« handele (s. o. 1 83). In diesem Sinne wird » Pneumatique« auch in den Nouveaux Essais wieder aufgenommen (vgl. A VI 6, 56, 15 f.; 57, 29; 329, 1 4; 527, 3). 1 8 7 Kaulbach: Der philosophische Begriff der Bewegung, 41, Anm. 1 8. 1 88 »Ümnes omnium gentium temporumque philosophi de Spiritu quodam Universali, seu Anima mundi disseruere, unde vita rebus ratione carentibus et motus : ne Aristotelis quidem loca desunt« (an Oldenburg, 8 ./ 1 8. Juni 1 6 7 1 , A II 1, 1 22, 24-26). 1 8 9 Auf den Zusammenhang zwischen dem schon genannten proton dektikon (s. o. 436, Anm. 1 20) und den biologischen Funktionen des Pneumas bei Aristoteles kann hier nicht näher ein­ gegangen werden. Vgl. hierzu Solmsen: The Vital Heat, the Inborn Pneuma and the Aether, so­ wie Lesky : Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken.

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mundi oder materia subtilis handeln. 1 90 Erstmals in seinem ganzen Werk gibt Leibniz dem >Kern der Substanz< denjenigen Namen, der ihm von der alchemistischen Tradition her zukommt: die »QuintessenzPentagons< an, wonach die extroversen radii mentis in eine handlungsproduktive eradiatio spirituum ex intellectu umgesetzt werden (s. o. 84 f.). Sofern der spekulierende Spiegel des Geistes nicht nur einfal­ lende Lichtstrahlen empfängt, sondern aktiv auf diese reflektiert, bildet er selbst Lichtstrahlen, welche den >Sehstrahlen< korrespondieren. Während aber das sichtbare Licht des Makrokosmos die schnellste und geradlinige Bewegung des Äthers ist, handelt es sich bei den Strahlungsradien in der mikrokosmischen sphaera intellectus um subtile Ätherwellen, die zwischen dem mathematischen Mittelpunkt und der Peripherie hin- und hergehen. Nur zur Erzeugung äußerer Handlungen wird der Spiritus nach außen er­ adiiert und pflanzt sich vom feinen Hirngewebe durch die gröberen Stoffe des Leibes fort. Leibniz hatte das Analogon zwischen Makro- und Mikro­ kosmos im >Pentagon< angedeutet, indem er vier gradus tenuitatis im Boll­ werk des Organismus unterschieden hatte, die nun den vier Massen seiner Kosmologie entsprechen (A VI 1, 56, 1 8-2 1 ): In der Verstandessphäre, d. h. im konzentrierten flos substantiae, wiederholt sich der vom Äther oder von 1 9 8 »Discrimen est tarnen inter corpus insecabile quietum per se, et motum tamum motu aliorum et inter id quod sponte sua in linea recta motum, caeteris motum imprimit.« (De ple­ nitudine mundi, A VI 3, 525, 24-26)

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der Quintessenz erfüllte Himmel; die Radien dieser Lichtmaterie gehen als spiritus anima/es durch die Nervenbahnen zunächst in j ene »Atmosphaera inter sphaeram sensus et sphaeram intellectus« über, die Leibniz abkürzend mare atmosphaerae genannt hatte (ebd. 57, 1 1 ; 5 8 , 8), weil sich Luft als fei­ nes Wasser auffassen läßt; schließlich gelangen die Spiritus in die gröbste, erdhafte Masse des Leibes, wo sie im sensornotorischen Teil in eine äußere Handlung umgesetzt werden (ebd. 58, 1 4-2 1 ). Wenn man den Unterschied zwischen den selbstreflexiven Mikrokosmen der Geister und den einfachen Mikrokosmen der bloß passiv lichtreflektierenden Körper (d. h. der unbe­ seelten Kerne der Substanz) einmal außer acht läßt, kann also j eder kleinste transitorische Materiepunkt oder j ede bulla als ein proprius mundulus ver­ standen werden, der seine propria atmosphaera und propria Iux hat (A VI 2, 2 7 1 , 2 1 -23). Die zunächst phantastisch anmutende, gewiß durch Kepler angeregte Analogie zwischen Mikro- und Makrokosmos 1 99, Apperzeptionszentrum und Zentralsonne, spiritus anima/es und spiritus mundi2 00 macht zumindest abstrakt nachvollziehbar, inwiefern der Äther in der kosmischen wie in der physiologischen Wirkfolge nach außen das »erste Aufnahmefähige [proton dektikon] >in hoc spiritu>keine andere Bewe­ gungsursache außer der Sonne vorausgesetztSonne< des Geistes. Allerdings ist der spontane Ursprung der makro- und mikrokosmischen Bewegung, der ungeschaffene Lichtquell des göttlichen und menschlichen Intellekts selbst, nicht mechanisch erklär­ bar. Das gebärende Urlicht, das alles erleuchtet, kann selbst nicht theore­ tisch beleuchtet werden; allenfalls das »erstgeborene Licht, das später in eine Sonne zusammengezogen wurde [Iux primigenia post in solem col­ lecta] > le soleil et la lumiere des amessphaera intellectus< selbst.204 Leibniz' Lokalisierung des Lebens- und Lichtquells im ätherischen Kern der Substanz zeigt nun eine weitere Funktion der Ätherhypothese, auf die sein Brief an de Carcavy anspielt. Die Lichtmaterie ist für ihn auch deshalb »etwas mehr als eine Hypothese>theore­ mata seu rationes>observationes>elementa verae philosophiae accuratae demonstrata>die Geometrie, d. h. die Philosophie, die vom Orte handelt, die Stufe zu derj enigen Philo­ sophie, welche von der B ewegung oder vom Körper handelt«; und diese er­ baut wiederum >>die Stufe zur Wissenschaft vom Geist« (A II 1 , 1 72, 1 51 7).226 Dieser epistemologischen Dreistufung, die den Aufstieg (ascensus) der Seinspyramide vom Körper zum Geist beschreibt (A VI 2, 285, 1 72 1 ) , entspricht im Blick des Synthetikers Leibniz zugleich eine historische Dreistufung: Euklid hatte die >>de Magnitudine et Figura« handelnden Ele­ mente der Geometrie zusammengestellt, die vor kurzem durch Cavalieris geometria indivisibilium und durch Wallis' arithmetica infinitorum eine wichtige Erweiterung erfuhren.227 Hobbes habe dann die >>de Corpore seu Motu« handelnden Elemente der rationalen Phoronomie228 ansatzweise aufgestellt, so daß Leibniz deren Zentralbegriff des conatus übernehmen kann. >> Eiementa de Mente« aber habe noch niemand zuwege gebracht. Hier sieht Leibniz sich als Pionier (A II 1 , 1 1 4, 1 5 f.; auch A VI 2, 395, 8- 1 3 u. 285, 1 -3). Weil die oberen Stufen systematisch wie historisch die unteren enthalten, bedient sich auch die >>doctrina de Mente«, die jetzt über Geometrie und Phoronomie noch >>darübergebaut wird [superstrui­ tur] «, der geometrischen Methode (A II 1 , 1 1 4, 2 f.). Die Möglichkeit, daß der Gipfelpunkt der Natur, die >> ganze natura mentis geometrice erclae­ ret werden>in puncto seu centroin lingua mathematica< niedergeschrieben ist (s. o. 20-26). Da Gott in der Schöpfung geometrisch verfährt, können alle konkreten Bewegungen, auch wenn sie wegen der ungleichartigen Materien von den reinen, abstrakten Gesetzen abweichen, approximativ im Sinne ei­ nes >>Als Ob>Handeln Gottes innerhalb der Haushaltung der Dinge verfährt geometrisch [praxis DEI in oeconomia rerum geometrisans] . Denn auch wenn es durch die Natur der Dinge unmög­ lich ist, daß irgendein Körper gänzlich hell, durchsichtig, flüssig, schwer, weich, spann bar, bieg­ bar, hart, warm usw. ist, auch wenn es unmöglich eine Bewegung gibt, die ganz genau stetig, gleichförmig, gleichförmig beschleunigt oder gebremst, geradlinig oder kreisförmig, reflektiert, refringiert oder ausgetauscht ist, auch wenn es unmöglich ist, daß die Wirkung des Magneten, des Lichts oder des Schalls zu j edem beliebigen angehbaren Punkt hindurchgelangt usw. - so geschieht es doch, daß, auch wenn sich alle diese Dinge, mit höchster Genauigkeit wahrgenom­ men, nicht wirklich so verhalten, doch für die sinnliche Wahrnehmung sich so zu verhalten »

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simale gehenden Bewegungstendenzen (conatus) des Geistes. Die Notwen­ digkeit, auch die » mens« geometrisch-phoronomisch zu erklären, sieht Leibniz in der Zweckdienlichkeit des mos mathematicus, dem Wissen Klar­ heit und Beweisbarkeit zu verschaffen (A VI 1 , 53, 2 1 ; 346, 1 5 f.; 390, 1 9 f.). Wie wichtig für ihn Beweisbarkeit im Reich des Geistes ist, zeigen die be­ sonderen Inhalte der >>Demonstrationes Catholicae«, die von diesem Teil des philosophischen Systemzyklus getragen werden sollen. Leibniz hat seine krönenden Eiementa de mente, mit denen er ein Euklid im Reich des Geistes werden will, im Sommer 1 67 1 erst in Entwürfen kon­ zipiert, nicht aber ausgeführt.230 Sie sollen 1 . die >>prima principia>Wahrheit>Möglichkeit« bewiesen werden (A II 1, 1 1 4, 1 6-24; ebd. 1 63, 6 - 1 64, 1 ) . Als möglich darf etwas gelten, solange es nicht als widersprüchlich erwiesen ist. Unter 1 a) angedeutete demonstrationes de jure naturali (A II 1, 90, 34; A VI 2, 395, 1 1 ), welche die naturrechtliche philosophia moralis betreffen (A II 1, 1 62, 6), wurden bereits dargestellt, soweit der frühe Leibniz sie syste­ matisiert hat (s. o. 3 8 6-403); ähnlich die zu 2 a) gehörenden Verfahrensbe­ weise für das willensbedingte Recht (s. o. 1 99-202). Die Prinzipien der scientia de mente, die für die Rechtswissenschaft von Belang sind, scheinen nach dem obigen Plan anthropologische Elemente wie die Freiheit des scheinen, so daß es für unsere Nutzanwendung auf dasselbe hinausläuft, als ob sie sich so ver­ hielten. Und so können durch eine unglaubliche Wohltat GOTTES die Optik, Musik, Statik, Ela­ stik, die Technik von Stoß und Schlag, die Myologie oder Technik der Muskelbewegung, j a die Pyrotechnik wie die gesamte Mechanik und alles, was zu den aus Physik und Mathematik ge­ mischten Wissenschaften gehört, den reinen Wissenschaften zum Trotz, bis hin zu Lehrsätzen, die im Hinblick auf die sinnliche Erfahrung nicht trügen (es sei denn durch Zufall), getrieben werden« (Hypothesis physica nova, A VI 2, 255, 2 - 1 3). 2 3 0 Leibniz wirbt in seiner Briefbeilage vom 2 1 . Mai 1 67 1 um die Gunst des Herzogs Johann Friedrich, in dessen Dienste er zu treten hofft: »Alles habe ich im Geiste vorweg konzipiert, ver­ knüpft und mit entsprechenden Farben ausgemalt; um es aber nach Art der Beweise auszufüh­ ren und bedächtig, streng, ja pedantisch niederzuschreiben, brauche ich Zeit und Muße. Diese vermochte ich mir bisher noch nicht zu verschaffen. Wenn ich sie, wie ich hoffe, finde, werde ich vielleicht dereinst bewirken, daß diese Müßiggängereien, wenn j emand sie korrekt einschätzt, nützlicher sind als Tagesgeschäfte.« (A II 1 , 1 1 4, 3 1 -34)

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menschlichen Willens und die Ökonomie von Schmerzvermeidung und Glücksgewinn, Selbsterhaltung und Selbstvervollkommnung, aber auch Ar­ gumente für ein Leben nach dem Tod zu enthalten, dessen Erwartung das ethische Handeln zusätzlich motiviert. Weil die unter 1 b) angesprochenen Beweise der natürlichen Theologie demonstrationes existentiae Dei und de­ monstrationes immortalitatis animae umfassen (A VI 1 , 494 f.; vgl. A II 1 , 1 62 f.), werden die relevanten Prinzipien aus den »Elementa d e mente« zu­ nächst um Argumente von der Einfachheit des göttlichen und von der Un­ zerstörbarkeit des menschlichen Geistes kreisen. Zu ihnen gehört auch der Begriff der Existenz, der weder definiert noch erläutert werden kann, >>nisi supposita Mente« (A II 1 , 1 1 4, 24-28). Weil der Begriff >>mens « schließ­ lich nicht nur die >>eigenschafft der Menschlichen Seelealler verstaendigen gemuether> Goett­ lichen Providentz>in omni corpore >principium intimum incorporeum, a mole distinctum>SubstanZElemente des Geistesdas, dessen Teil unbeträchtlich ist [cuj us pars non consideratur] « (Hobbes).245 Während bei der indivisi­ blen substantiellen Ganzheit der Spontaneitätsquell (fons) unräumlich bleibt, müssen seine diskurrierenden Bächlein (rivuli) als instrumentelle Teile des Unteilbaren246 darstellbar sein. Daher definiert Leibniz den Punkt eigenwillig als >>dasj enige, dessen Ausdehnung Null beträgt, d. h. dessen Teile keinen Abstand haben [cujus extensio nulla est, seu cujus partes sunt indistantes], dessen Größe unbeobachtbar, unbezeichenbar oder klei­ ner ist als das, was durch ein Verhältnis zu einer anderen sinnlich wahr­ nehmbaren Größe, es sei denn einer unendlichen, dargestellt werden kann, d. h. dessen Größe kleiner ist, als je gegeben sein kann [cujus magni­ tudo est inconsiderabilis, inassignabilis, minor quam quae ratione, nisi in­ finita ad aliam sensibilem exponi possit, minor quam quae dari potest] dabile< oder mögliches Obj ekt einer sinnlichen Anschauung werden kann, überhaupt eine magnitudo haben soll, die doch neben figura und motus als mechanische Primärqualität der Körper gilt, ist denkwürdig. Vielleicht um das Paradoxe zu überspielen, deutet erst fund. praed. 1 8 an, daß mit den >>partes [ . . . ] indistantes« des soverstandenen Punktes seine Winkel ( >>Anguli in puncto«) gemeint sind (266, 23). Der Punkt, von dem die TMA handelt, ist also kein bloßes Symbol zur Grenzmarkierung247, son2 44 Vgl. Euklid: Eiementa I, Def. 1 . 2 45 Vgl. Hobbes: De corpore, XV 2 , OLM I , 1 77. 2 4 6 Die paradoxe Formulierung verwendet Leibniz im Brief an van Velthuysen, Mai 1 6 7 1 : In der TMA glaube er bewiesen zu haben, »esse partes indivisibilium, sed indistantes« (A II 1, 97, 19 f.). Der Wichtigkeit des Gedankens entsprechen die zahlreichen Formulierungen im Brief­ wechsel. •Ein Punkt ist nicht etwas Kleinstes und nicht etwas ohne alle Teile; er ist j edoch un­ ausgedehnt, d. h. ohne abstehende Teile [Punctum non esse aliquid minimum, et omnium par­ tium expcrs; esse tarnen inextensum, seu expers partium distantium« (an Oldenburg, 1 1 . März 1 6 7 1 , ebd. 90, 20 f.). »Es gibt Teile des Punktes, die aber keinen Abstand haben [Esse par­ tes puncti, sed indistantes]« (an Arnauld, November 1 67 1 , ebd. 1 72, 32). Die TMA zeige, >>daß in der Natur der Dinge nichts ohne Teile ist [nihil esse sine partibus in rerum natura]« (an 01denburg, 29. April [9. Mai] 1 6 7 1 , ebd. 1 02, 12 f.). 2 47 Kaulbach: Der philosophische Begriff der Bewegung, 36 f., hat darauf hingewiesen, daß sich bei Leibniz •ein ganz neuer Aspekt« des Punktbegriffs gegenüber Aristoteles geltend macht. •Der Punkt, den Leibniz hier im Auge hat, ist nicht wie die Grenze ein Einschnitt an einem Körper, sondern etwas sehr Selbständiges. « Seine Vermutung, daß · hier bereits monado-

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dern ein hypostasierter Scheitelpunkt: » Ein Winkel ist die Quantität im Zu­ sammenlauf-Punkt, d. h. die Abteilung eines Kreises, der kleiner ist, als sich beschreiben läßt, d. h. eines Mittelpunktes: die ganze Lehre von den Win­ keln handelt von den Größen des Unausgedehnten [Angulus est quantitas puncti concursus, seu portio circuli minoris quam qui assignari potest, id est Centri: tota de Angulis doctrina est de quantitatibus inextensorum] . « (267, 1 0- 1 2) Zur wunderbaren Natur der Punkte, die in der TMA wie Wesen aufge­ faßt werden, zählt Leibniz also die Winkel hinzu, um so zwei heterogene Welten phoronomisch und kausal zu überspielen: den im mathematischen Punkt bestehenden metaphysischen Gesichts-Punkt (die >>mens in puncto«) einerseits und den im unendlich kleinen physischen Punkt bestehenden Kern der Substanz (>>punctum illud, cui mens implantata est« bzw. >>cui ipsa anima implantata est«, A II 1 , 1 1 6, 2 u. 23) andererseits. Sofern der den Winkeln oder dem Strahlenbündel eingelagerte geistige Gesichts-Punkt rezeptiv ist, kann er vermittels des ihn umgebenden Brenn- oder Stoßpunk­ tes >>vom Körper her leiden, d. h. eine sinnliche Wahrnehmung erhalten>wieder auf den Körper wirkenWunder>der Punkt nicht teilbar ist in Teile, die außerhalb der anderen Teile liegenteilbar in Teile, die zuvor nicht außerhalb der anderen Teile liegen, d. h. in Teile, die sich zuvor durchdringenPunktesPunkt>Jeder Punkt ist ein Raum [!], der kleiner ist als jeder mögliche gegebene [omne punctum esse spatium minus quovis dato] >Unend­ lichen>rudimenta seu initia linearum figurarumqueGleich wie Actiones Corporum bestehen in motu, so bestehen Actiones mentium in conatu, seu motiis, ut sie dicam, minimo vel puncto«.254 (>Actio mentis< meint hier nicht die ge­ nuin gedankliche >operatio>conatus«, der in Leibniz' Entwicklung die >>tendentia>Be­ wegungstendenzen in unterschiedliche oder entgegengesetzte Richtungen« haben, auch wenn die Gesamtbewegung des Körpers nur eine einzige ist.257 Die akribisch mikrologische scientia motuum sucht daher j ede Bewegung als eine Zusammensetzung kleinerer Bewegungstendenzen (compositio conatuum) zu analysieren, obwohl wegen der indefiniten Teilbarkeit der Partikeln und ihrer Eigentendenzen ein kleinster, schlechthin unzu­ sammengesetzter conatus eine bloße mathematische Fiktion bleibt.258 Da­ durch können in der Phoronomie z. B. Beschleunigungen durch Addition und Subtraktion beschrieben und, weil alle conatus gerichtete Bewegungs­ größen sind, vektoriell dargestellt werden.259 In der Dynamik oder Kräfte2 54 An Herzog johann Friedrich, 2 1 . Mai 1 6 7 1 , A II I , 1 08, 9-1 1 ; ähnlich an Oldenburg, 29. April (9. Mai) 1 67 1 , ebd. 1 02, 23: » Quod in corporibus praestant spatia et motus, id in mentibus puncta et conatus« . 2 55 Leibniz verwendet im zweiten Vorentwurf z u r TMA noch »tendentia« für einen motus subtilis (A VI 2, 1 65, 12 f.) 2 56 Die erste Fassung der Theoria motus abstracti unterscheidet z. B.: conatus penetrationis; conatus divulsionis; conatus in eandem plagam (ebd. 1 77 f.); conatus circa proprium axem; co­ natus progrediendi et regrediendi; conatus praetervehendi et cedendi ( 1 78 u. 1 8 1 , 24). 2 57 In Abgrenzung gegen Huygens hält Leibniz als Grundsatz der »doctrina nostra de Co­ natu>Datur [ . . ] conatus quidem ad diversa seu contraria, sed non motus« ( 1 85, 15 f.); oder: »Diversi conatus eidem corpori imprimantur« (273, 7 f.). Die Theoria motus abstracti be­ weist dies als 1 2 . Fundament: » Possunt [ . ] in eodem corpore simul esse plures conatus contrarii« (265, 1 6 f.). 2 5 8 Die wichtigen Aufzeichnungen De conatu et motu, sensu et cogitatione, A VI 2, 280-287, die nach Abfassung der konkreten und abstrakten Bewegungstheorie geschrieben wurden, las­ sen vermuten, daß Leibniz mit diesem Mainzer Lehrstück nicht zufrieden war. Die Unsicher­ heit betrifft u. a. die Möglichkeit einer unendlichen Zusammensetzung. Falls man zulasse, daß auch geradlinige Bewegungen sich aus vielen conatus zusammensetzen, so werde folgen: »Mo­ turn in qualibet recta compositum esse ex conatibus in infinitis« (ebd. 2 8 1 , 1 - 1 8). Später schränkt Leibniz sogar ein, daß seine B eweise dann korrekt seien, »wenn es eine einfache Be­ wegungstendenz gibt [dato conatu simplici] « (284, 8 f.). 2 59 »Si hanc compositionem conatuum sequimur, omnia fient addendo et subtrahendo, nihil tertiam eligendo. « (282, 4 f.) So kann z. B. ein » motus acceleratus« entstehen, >>quoties corpus accipit duos conatus inaequales in plagam eandem« (28 1 , 1 4 f.). .

. .

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lehre, die Leibniz in Mainz noc:1 kaum entwickelt hat260, können mit der Summation der conatus auch intensive physikalische Größen wie der Luft­ druck oder der gravierende bzw. elastische Drang des Äthers261 beschrieben werden, mit denen Körper mehr oder weniger stark auf andere wirken. Was Leibniz später das > Lebendigwerden toter Kräfte< nennt, erklären die fund. praed. 8- 1 1 indirekt als eine Ausräumung derjenigen Hindernisse, welche die Bewegungstendenzen der Körper an ihrer Ausrichtung hindern. Nach dem Trägheitsaxiom wird j edes Ding, >>sobald es einmal zur Ruhe gekom­ men ist, für immer ruhen, falls nicht eine neue Ursache von Bewegung hin­ zukommt«; umgekehrt >>wird sich etwas, das einmal in Bewegung gesetzt ist, für immer mit derselben Geschwindigkeit und Stoßrichtung weiterbe­ wegen, soweit dies in ihm selbst liegt«, also keine >>äußerliche Ursache« hin­ dernd oder verändernd einwirkt.262 Wenn man daher von aller Materialität und Widerständigkeit der Körper abstrahiert263, so wird >>alles, was sich be­ wegt, wie schwach es auch immer und wie groß auch sein Hindernis sein mag, seine Bewegungstendenz durch alles Widerständige hindurch im erfüll­ ten Raum fortpflanzen ins Unendliche und wird deshalb allen anderen Din­ gen seine Bewegungstendenz einprägen : denn man kann nicht leugnen, daß das Bewegte, auch wenn es aufhört, sich fortzubewegen, zumindest hier­ nach drängt. Und so wird es streben oder, was dasselbe ist, anfangen, belie­ big große Widerstände fortzubewegen, auch wenn es von diesen Hindernis­ sen überwältigt wird« (A VI 2, 265, 1 2 - 1 6).264 In der Art des Strebens oder Anfangens zeigen sich zwei Wesensunter­ schiede zwischen dem conatus oder >>initium motus« ( 1 85, 1 7; 264, 27 f.) 260 Leibniz hat noch keinen Namen für diese »doctrina«, die die •productio motuum per motus« beschreibe und »non de figura, sed vi et effectu« handele (282, 1 5). 26 1 Die Hypothesis physica nova sprach deshalb vom conatus aetheris circulum suum resti­ tuendi (234, 27), von den conatus extrorsum tendentes des Lichtes (247, 1 8), vom conatus ad in­ itium gespannter Körper (254, 1 8) und vom conatus se restituendi des Äthers auf den angemes­ senen gradus raritatis et densitatis (257, 3 f.). 262 >> Nam (8.) ubi semel res quieverit, nisi nova motus causa accedat, semper quiescet. (9.) Contra, quod semel movetur, quantum in ipso est, semper movetur eadem velocitate et plaga.« (265, 8-1 0). Die Erläuterung des •quantum in ipso est« durch • nisi sit causa extrinseca mutans« holt Leibniz nach in 266, 31 f. Vgl. auch 1 69, 9- 1 6 u. 1 60, 2 9 - 1 6 1 , 2. 26 3 Daß dies nach Leibniz kontrafaktisch zur gegenwärtigen Weltverfassung verliefe, zeigt eine Parallelstelle : »Wenn ein Körper nichts anderes wäre als Bewegung, so würden alle Körper durch alle hindurchgehen, oder j ede Fortpflanzung (der Bewegung) wäre ohne Widerstand. >mens momentanea« oder >>mens instantanea« eines bloß körperlichen punctum concursus in disparate Refle­ xionen und Refraktionen.265 Sie erlöschen als solche, auch wenn sie im Re­ flektiertwerden auf anderes übergehen und insofern mittelbar erhalten blei­ ben. Dagegen werden die in den mentalen Gesichts-Punkt konkurrierenden sinnlichen Species oder Lichtstrahlen von der >mens permanens< in genuin psychische Regungen oder >>Vergleichungen « umgesetzt, in denen die ge­ genläufigen Bewegungstendenzen des Außenweltreizes (der intraverse co­ natus alienus contrarius) und des eigenen Sensoriums (der extroverse cona­ tus suus) über den Augenblick hinaus festgehalten werden. So liegt das physische Spezifikum der Geister nicht schon darin, daß ihre Aktionen >>in conatuinitium motusalles das, was unter anderen gleichartigen Dingen nicht [ . . ] wahrgenommen werden kann [quicquid inter caetera sentiri (. . . ) non potest] « (A VI 2, 494, 1 9). Die mechanische Vor­ stellung vom Verschwimmen der Bilder in einem weichen Medium zeigt sich auch in Leibniz' Paraphrase eines Sokrates-Zitates aus Platons Theaitetos (A VI 3, 307, 2 0 - 308, 1 ) . S. o. 66, Anm. 1 1 3. 286 Leibniz macht daraus schon wieder fast einen Gottesbeweis: Ohne Gott i s t e s unmöglich, »eine Uhrsach zu haben (da doch nichts ohne Ursach ist) warumb die Dinge, so doch koenten nicht seyn, etwas seyn; und denn ferner, warumb die dinge, so doch koenten confus und [!] ver­ worren seyn, in einer so schoehnen unaussprechlichen harmoni seyn« ( Grundriß eines Beden­ kens von Aufrichtung einer Sozietät, A IV 1 , 532, 7-1 0). .

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später auf alle Substanzen übertragen wird (A VI 2, 283, 2-4).287 Zu ihr ge­ hört zunächst das unmittelbare Bewußtsein der durchgängigen eigenen identitas gegenüber Äußerem in den >>undefinierbaren« Akten des Den­ kens, Wahrnehmens und Wirkens überhaupt. >>Was immer j enes >ich denke< und j enes >ich nehme wahr< sein mag: gewiß ist, daß ich mich und anderes, d. h. deren Unterschiedenheit wahrnehme. «288 Die organisierte Einheit des Vorstellenden, der während des Denkens >>multa« und zugleich ein >>unum in multis « denkt (283, 1 5 f.), verbürgt die relative Einheit des Vorgestellten. Im räumlichen Nebeneinander zweckmäßig gefügt ist schon die bloß sinn­ liche Mannigfaltigkeit der außenweltbezogenen sensio, also der konkurrie­ renden introversen >conatus< noch diesseits aller logischen Verknüpfung. >>Einen Körper wahrnehmen heißt vieles zugleich wahrnehmen«, und >>wahrgenommen werden« heißt >>harmonisch sein« .289 Der Grad der perzi­ pierten Harmonie hängt j edoch nicht nur vom Aufbau des Sensoriums ab, sondern auch vom aufmerksamen Überlegen, mit der die ins Sehfeld einfal­ lenden Perzeptionen im Gesichts-Punkt reflektiert und unter einen Begriff subsumiert werden. Die cogitatio oder >>perceptio cum reflexione« (493, 1 0 u . 26) harmonisiert also die sensual gefügten Repräsentationen untereinan­ der auf der Ebene des Begriffs und gleicht sie einander an. Soweit Denken als Wahrnehmen im >>inneren Sinn« gelten kann290, ist >>Denken nichts an­ deres als das Wahrnehmen der Vergleichung« .291 Es verwandelt das sinn­ liche Gegenüber, das sich unmittelbar als ein Du hier vorstellt, in einen di­ stanzierten Gegenstand, der als jener dort mit anderem zusammengestellt wird.292 Die Spitze dieser begrifflichen Neutralisierung bildet das Etwas 28 7 » L'etat passager qui enveloppe et represente une multitude dans l 'unite, ou dans Ia sub­ stance simple n'est autre chose que ce qu'on appelle Ia Perception« (Monadologie 1 4, GP VI 608). Perzeptionen stellen die Außenwelt in der Innenwelt dar; sie sind »representations du compose, ou de ce qui est dehors, dans Ie simple>Nam sensum [ . . ] intelligo tarn internum quam externum« (Nova methodus, A VI 1 , 555, 1 7 f.). Den sensus internus nennt Leibniz im Conspectus einen sensus immediatus cogitationis ( ebd. 494, 1 9). 2 9 1 »Nihil aliud cogitatio quam sensus comparationis« . Daß Leibniz zunächst »sensus har­ moniae« geschrieben hatte, darf wohl als Einsicht verstanden werden, daß der Harmoniebegriff zu unspezifisch ist, da er auch auf die äußere sensio zutrifft. Daß Leibniz die cogitatio dann ein­ fach als »sensus plurium simul aut unum in multis« definiert, erklärt sich aus seiner Absicht, an dieser Stelle eine Kurzformel zu finden, wie das einleitende »breviusPentagon< als radius mentis beschrieb, wird in die Zeit vorausgeworfen, so daß ein homogener >Zeit­ raum< entsteht. Die individuell erlebten Eigenzeiten im geistigen Punkt, die als solche inkommensurabel sind, können also nur indirekt dadurch ver­ glichen werden, daß die Zeit nach den Urfiguren von Punkt und Strecke dargestellt wird. Es ist daher ein Postulat der TMA und j eder Wissenschaft, daß >>ein Augenblick dem anderen gleich« sei, so daß die Zeit >>durch eine gleichförmige Bewegung auf derselben Linie dargestellt«, d. h. das Verflie­ ßen des j e Gegenwärtigen in das stetige Fließen von Maßeinheiten integriert werden kann.295 Leibniz hat sich bei seinen >>observationes de mente« (395, 20) gerade deshalb näher mit dem Phänomen der Träume beschäftigt, weil die räumli­ che und zeitliche Darstellung in ihnen einer anderen Ordnung folgt als im Wachbewußtsein. Werden die Augen, also die Fenster des >äußeren Penta­ gons< zur Außenwelt geschlossen, so entsteht eine andere Welt. Es stellt sich dem Träumenden anders dar, als der Wachende es sich vorstellen würde. Träume haben keine >geraden LinienAbsichtenHinsichten>die Begründung schuldig geblieben« sei. Die Kritik übersieht j edoch, daß hier der assertorische Duktus einen ähnlich de­ finitorischen und postulatarischen Charakter hat wie bei den vorherigen »fundamenta praede­ monstrabiliaDingen< auf der objektivierenden Ebene der grammatisch 3. Person verlorengeht. Vielmehr bricht die ganze 1 . Person zusammen, d. h. aus der selbstreflexiven Perspektive die Verknüpfung des gegenwärtigen Zustandes »cum caetera tua vita, seu tecum ipso«, damit aber auch die Grenze zu anderen Personen {276, 24). >>Dann erst steht fest, daß wir wach sind, wenn wir uns erinnern, aus welchem Grund wir in den gegenwärtigen Ort und Zustand gekommen sind, und wenn wir die wohlgefügte Verknüpfung der Dinge, die uns erscheinen, untereinander mit den vorhergehenden erkennen. In Träumen entdecken wir weder diese Verknüpfung, noch sind wir verwundert, daß sie fehlt« {276, 24-28).296 Wie das Erwachen an fremden Orten zeigt, reicht für das >>recolligere sese [ . . ] Sich besinnen« die bloß gegenständliche Orientierung im Raume nicht hin. Erst mit der beruhigenden Beantwortung der Frage »die cur hic ?« setzt die Gewißheit ein, daß die private Innenwelt wieder eine finale ratio zur >gemeinsamen>zumindest implizit«, d. h. durch die re­ lative Zweck-Mittel-Hierarchie des absichtlichen Handelns, >>alles auf ein letztes Ziel gerichtet« ist, hat der Träumende diese Beziehung auf die >>Summe der Dinge« nicht {276, 2 1 f.).297 Das Gefühl zu träumen stellt sich daher auch beim Wachen ein, sobald erlebt wird, daß die Einzelwahr­ nehmungen ihre Einbettung in einen Zweckzusammenhang verlieren - sei es in tiefem Glück, wo die Gerichtetheit des linearen Zeitbewußtseins im gedehnten Augenblick vergessen wird, oder im wachen Alptraum, wo die wichtigsten Handlungslinien, an denen die Kohärenz der Person hängt, ins Ohnmächtige entgleiten, so daß man sich wie bei dem von Leibniz be­ schriebenen >>unangenehmen Traumgesicht [ingrata species] « die Augen >>mit den Fingern aufreißen« möchte, >>damit sie Licht einfallen lassen« (277, 1 f.). Obwohl Träume keine für das Handeln zweckmäßige Re-Präsentation der außenweltliehen Vielheit bieten, haben sie doch eine eigene Harmonie und >>erstaunliche kunstvolle Stimmigkeit« in ihrer Präsentation.298 Sie liegt .

2 96 »Unde et hoc somnii a vigilantis sensu discernendi Kpmi pwv est, quod turn demum constat nos vigilare, cum recordamur qua ratione in locum statumque praesentem venerimus, videmusque rerum quae apparent inter se cum praecedentibus aptam connexionem, quam in somniis nec deprehendimus adesse, nec abesse miramur. « 2 97 »Somnus a Vigilia distat, quod in Vigilia omnia a d finem ultimum implicite saltem diri­ guntur. At somnianti ad summam rerum nulla relatio est.« 2 98 Im Conspectus plant Leibniz einen B eweis für die Unkörperlichkeit der Seele >>ex mirabili concinnitate somniorum« (A VI 1, 495, 3); das klingt seinerseits recht wunderbar.

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in der »Ausformung der Erscheinungsbilder«, die durch ein »selbsttätiges Zusammenlaufen augenblicklich erzeugt wirdfeiner ist als j ede, die wir im Wachen durch viel Übung hervorbringen könntenniemand den Grund angeben>Dem Schlafenden treten oftmals Bilder nie zuvor ge­ sehener großartiger Gebäude vor Augen, während es mir als Wachendem doch schwerfallen würde, es sei denn durch viel Einübung, dies zu vollbrin­ gen oder mir auch nur eine Idee des kleinsten Häuschens zu bilden, die an­ ders wäre als die Idee derer, die ich gesehen habe. Wenn ich doch nur die wunderbaren Reden, Bücher, Briefe und Gedichte, die ohne jeden Zweifel auch gut sind, obwohl nie zuvor gelesen, zurückgewinnen könnte, die ich ohne alle Formgebung [absque ulla conformatione] im Schlaf aufgelesen habe, als ob sie schon damals zusammengefügt und den eigenen Augen un­ terworfen worden wären ! >ratio> Ganze Reden, die mit Sicherheit nicht ohne Urteil sind, ganze Gespräche und Erörterungen bieten sich uns dar, 2 99 »Unum est in somnis maxime admirabile, et cujus rationem credo reddere nemo potest, efformatio specierum hoc concursu spontaneo in momento facta, elegantior quam possimus vi­ gilantes multa meditatione.« J o o Vgl. Hobbes : De corpore XXV, 9, OLM I 327.

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nicht weil wir gegenwärtig über sie urteilen, sondern weil ein Urteil, das über sie gefällt worden ist, mit den Bildern wiederkehrt.« (277, 1 1 - 1 9)301 Die in den Traumbildern gleichsam sedimentierten und wachgerufenen Urteile erweitern also den Stoff der Repräsentationen, aus denen die un­ willkürliche >ars combinatoria< der Phantasie eine neue Welt zusammen­ fügt. Die logischen Einsprengsel steigern die Variabilität beim Assoziieren mehrerer Bildkomplexe. Das aktuale Urteilen dagegen behindert das spon­ tane Zusammenschießen der Bilder, weil es im Dienst des Willens steht und sich nur negativ auf Anschauungen bezieht, um an ihnen Unterscheidungen im Hinblick auf Zwecke festzumachen. Die mit dem Urteilen verbundene Distanz und Willensanspannung läuft schon der Bereitschaft zuwider, sich überhaupt den Bildern zu überlassen. »Die Phantasie verhindert den Schlaf nicht; aber das Urteil verhindert ihn, am meisten die Reflexionen auf sich selbst. Deshalb kann niemand, und wenn er sich zerreißen würde, schlafen, während er über das Schlafen nachdenkt [ . . . ] Wenn aber die Phantasie von einer angenehmen Vorstellung besetzt wird, tritt der Schlaf ein« (278, 1 41 7).302 Die Hemmung des Phantasiespiels durch die Aktivität des Willens gilt auch für das Entwerfen bestimmter Vorstellungen. Die kunstvollen Bil­ der, Lieder, Gedichte, Bücher, Versammlungen, Häuser und Gärten, die im Traum »sponte velut in momento« erzeugt werden, könnten »animo«, d. h. vom willentlichen Wachbewußtsein, »non sine Iabore« geformt werden (278, 1 -4 ). Leibniz faßt daher den Zusammenbruch des dijudizierenden Ich-Bewußtseins beim Einschlafen als eine » Konversion« zur Autonomie des komponierenden Es-Bewußtseins. Es müsse für das Träumen »ein ich weiß nicht was für ein architektonisches und harmonisches Prinzip in un­ serem Geiste geben, das sich, sobald es davon befreit ist, die Ideen zu un­ terscheiden, zu ihrem Zusammenfügen umwendet« (278, 6-8).303 Der Eindruck, dem Schlafenden falle leicht zu, was der Wachende ver­ geblich sucht304, ist freilich zu relativieren. Nicht j edem gibt der Herr im Schlafe wohlkomponierte Träume, zumindest nicht immer auch plastische Erinnerungen an sie. Vielleicht ragt die alte Feindschaft zwischen den Ta3 0 1 » lntegrae enim sermocinationes, quae certe sine judicio non sunt, colloquia, disputatio­ nes, nobis occurrunt, non quod nunc de iis judicemus, sed quod judicium de iis factum cum spe­ ciebus recurrat.« 3 02 » Phantasia non impedit somnum, sed j udicium eum impedit, maxime reflexiones in seip­ sum, unde non potest aliquis etsi se ruperit dormire dum de dormiendo cogitat [ . . . ] . Sed si phan­ tasia occupetur imagine aliqua jucunda sequitur somnus« . 3 03 »Necesse est igitur esse nescio quid in mente nostra architectans et harmonicum, quod a dijudicandis ideis liberatum se convertat ad componendas. « 3 04 Im Hinblick auf d i e Fähigkeit, sich unnatürliche » monstra« auszumalen, zieht Leibniz tatsächlich diese Bilanz: » Vigilanti quaeruntur, dormienti se offerunt.« (278, 6)

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lenten der Urteilskraft und der Erfindungsgabe, die Leibniz auf den Wach­ stufen vom Ich denke zum Mich dünkt bemerkt, auch in die Schlafstufen vom Ich träume zum Mir träumt hinunter. Die häufige, mehr oder weniger starke »disproportio ingenii et judicii«305 scheint nur bei wenigen im ver­ mittelnden Spürsinn (sagacitas) aufgehoben. Er ist »die Fähigkeit zu finden, d. h. Dinge untereinander zu vereinigen, ihre Ähnlichkeiten und Unähn­ lichkeiten zu erfassen, zu verbinden und zusammenzusetzen. Wie das Ur­ teil auf Beziehungen der Verknüpfung beruht, so die Findung auf Bezie­ hungen der Ähnlichkeit« .306 Zum Spürsinn gehört nach allem Bisherigen auch die Fähigkeit, die divinatorischen Spuren der Träume, ihre Sinnhaftig­ keit ohne Sinn, gleichsam ins Wachen hinüberzuretten. Ihre lntegrierbar­ keit in die Unterscheidungen des Begriffs hängt davon ab, wie stark sie im nachhinein als repräsentativ beurteilt werden können. Als komplex kombinierte Re-Repräsentionen einstiger Außenwelterfahrungen repräsen­ tieren Träume zunächst nichts. Weil sie aber das Medium sind, in dem das Individuum seine vergangenen und gegenwärtigen Zustände verwebt, kön­ nen ihre Spuren repräsentativ für die seelische Verfassung des Träumenden werden. Wie der Gott des Orakels sagen und verbergen sie nichts, sondern geben Winke. Wollen sie dem Erwachenden etwas >bedeutenTüren< der Seele zur Außenwelt verschlossen. Immer noch ziehen Geräusche, Gerüche oder Tastempfindungen in die Residenz des geistigen Punktes ein, auch wenn sie nur dunkel wahrgenommen wer­ den. Die aktualen Repräsentationen der leiblichen und außenweltliehen Vielheit können j ederzeit mit ins Traumspiel der Vorstellungen einbe­ zogen werden, so daß unentscheidbar bleibt, ob gewisse Bilder rein asso­ ziativ oder vermittels neuer körperlicher Eindrücke hervorgerufen wer3 0 5 Leibniz bezieht diese Formel zunächst auf » Laboranten, Charlatans, Marckschreyer, Al­ chymisten, und andere Ardeliones, Vaganten, und Grillenfanger« (A IV 1, 550, 2-6). Der Kon­ text ist j edoch die Gegenläufigkeit von Kunst und Verstand überhaupt (ebd. 549, 1 9 - 552, 24). Ähnlich antagonistisch sind Erfindungsgabe und solides Urteil auch bei den Schriftstellern: »In­ geniosi in scribendo dicendoqve sunt etiam qui solidi non sunt, et solidi qvi non ingeniosi. Per exemplum Feldenus scribit solide non ingeniose. Hobbius utrumqve. Ciceronis eloqventia plus soliditatis, Senecae, Taciti, Plinii, ingenii habet. « (A VI 1, 453, 3 1 -34) 3 06 »Sagacitas est virtus inveniendi id est res inter se conferendi, earum similitudines dissimi­ litudinesqve observandi, combinandi, componendi. lta ut j udicium nitatur relationibus conne­ xionis, inventio relationibus similitudinis.>Unmöglichkeit des Ausruhens vom Denken [impossibilitas quiescendi a cogitando ]« spricht.308 ( >>Cogitare« ist hier ein sehr weit zu fas­ sender, an Descartes' Formel vom semper cogitare der Seele sich anlehnen­ der Oberbegriff für j ede Aktivität des Gemütes.309) Wie der Leib, so kommt auch die Seele im Schlaf nicht zur völligen Ruhe. Leibniz hat noch bei sei­ ner späteren Deutung der schwunggebenden >>inquietude de nostre Hor­ loge« beide Dimensionen vor Augen.310 Leibniz' Analysen zur unterschiedlichen Repräsentation und Verknüp­ fung der Vielheit im Schlaf- und Wachbewußtsein bestätigen den aristoteli­ schen Gedanken von der Wahrheit aller unwillkürlichen Perzeptionen. Leibniz hat ihn später theologisch überhöht. Wie der allumfassende >>Blick Gottes«, mit dem j ede Monade einen begrenzten Ausschnitt des Univer­ sums individualperspektivisch teilt, »immer wahrhaftig ist, so auch unsere Perzeptionen; vielmehr sind es unsere Urteile, die aus uns stammen und uns fehlleiten« .3 1 1 Diese genuine Wahrheit, die dem >Wahrnehmen< im Deutschen volksetymologisch zugebilligt wird, ist von der Wahrheit des sachlichen Für-wahr-Nehmens zu unterscheiden. Deshalb hebt Leibniz beim erkenntnistheoretisch problematischen Verhältnis zwischen der na­ tura rei und den phaenomena, das er mit seinem Lieblingsbeispiel der mul­ tiperspektivisch variierten Stadt illustriert {303, 25 - 3 04, 4 ), den Unterschied zwischen den unmittelbaren und den beurteilten Wahrnehmungen hervor: »Alles, was unmittelbar empfunden wird, ist wahr; d. h. alles, was der Geist für sich empfindet, empfindet er wahrhaftig. Wenn daher der Geist träumt, 3 0 7 Ein gutes Beispiel hierfür ist Leibniz' Erklärung der Pollution (venus spontanea), die bei den Beobachtungen zu den Mirabilien des Traums »nicht zu übergehen« sei. Daß sie »allein durch starke Einbildung [sola forti imaginatione], vermittels der inwendig sich bewegenden Le­ bensgeister, aber ohne Reibung der Glieder« entstehe, ist nur eine mögliche Theorie, die die Frage nach äußeren Anreizungen der Einbildungskraft während des Schlafes unberücksichtigt läßt (277, 7- 1 0). Leibniz hat später eingeräumt, daß Träume sich, » mais d'une maniere moins distincte«, auch auf die Organe und den übrigen Körper beziehen (GP IV 5 1 9). 3 08 An Arnauld, November 1 6 7 1 , A li 1, 1 73, 1 3- 1 6. 3 0 9 Entsprechend stellt Leibniz die Frage, weshalb das Bewußtsein auch im Tiefschlaf, j a selbst im todesnahen Koma, strenggenommen nicht gänzlich erlischt ( »curnam homines semper cogitent, nec ullo momento cesset anima, neque in sopore, neque in Apoplexia, neque in ipsis vicinis mortis« , A VI 2, 395, 26 f.). Daher lautet die These i m Brief an Oldenburg vom 29. April (9. Mai) 1 6 7 1 : » Mentem ab agendo desistere non posse« (A li 1, 1 02, 20). 3 1 0 Vgl. Nouveaux Essais, li 20, § 6 f., A VI 6, 1 66, 20, u. ö. 3 1 1 Discours de metaphysique 1 4 : »Et comme Ia veue de Dieu est tousjours veritable, nos per­ ceptions le sont aussi, mais ce sont nos j ugemens qui sont de nous et qui nous trompent.« (GP IV 439). Leibniz ergänzt, daß der Blick Gottes, anders als der diskursive Inbegriff sämtlicher Einzelperspektiven, » encor tout autrement« sei, nämlich intuitiv (ebd. 440).

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daß er denke, so wird er bereits wahrhaftig denken«, nämlich im Sinne des Reflektierens überhaupt; »nicht j edoch wird er auch wahrhaftig sehen, wenn er zu sehen träumt« (306, 1 8-20).31 2 Ein Irrtum wird erst möglich, wenn das Individuum vom Erlebnisstandpunkt zum Erkenntnisstandpunkt wechselt und ein von ihm unterschiedenes Obj ekt zu >>sehen« beansprucht. Zur Abgrenzung gegen diese Sachwahrheit oder veritas rerum (306, 1 6 f.) könnte man die Wahrheit des unwillkürlichen Erlebens >Zustandswahrheit< nennen. Der Ausdruck entspricht Leibniz' naturalisierendem Ansatz, der einen Mechanismus visueller und mentaler Zustände annimmt. >Optische Täuschungen< haben ebenso ihren zureichenden Grund in der Natur der Dinge wie die absurdesten Traumverbindungen, bei denen der Intellekt >ei­ gentlich nichts dahinter< erkennen kann. Sie bleiben unschuldig, solange sich kein Anspruch auf allgemeingültige Erkenntnis mit ihnen verknüpft. Leibniz faßt seine Ausführungen zum Parallelismus psychischer Regun­ gen und physischer conatus und zur harmonischen Repräsentation der Viel­ heit in der mentalen Einheit zusammen in einer Skizze der >>natura liberi arbitrii seu voluntatis>in einem Verlauf von Bewegungen«, so ein Geist >>in einer Harmonie von Bewegungstendenzen. Die gegenwärtige Bewegung eines Körpers entsteht aus der Zusammensetzung seiner vorher­ gehenden Bewegungstendenzen; die gegenwärtige Tendenz eines Geistes aber, d. h. sein Wille, entsteht aus der Zusammenfügung der vorhergehenden Harmonien in eine neue«, d. h. aus der gedanklichen Synthesis vergangener Intentionen in einen leitenden Zweckentwurf und, insofern die Antizipation l 1 2 » Quicquid immediate sentitur verum est; seu quicquid mens sentit in se, vere sentit, unde si mens somniet se cogitare, cogitabit jam vere; non tarnen si somniet se videre, videbit. «

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des erstrebten Gutes lustvoll motiviert, »aus einer Lust« .313 Wie Leibniz nun präzisiert, ist es die >>Beibehaltung« nicht nur >>aller Bewegungstendenzen«, sondern »sogar der Vergleichungen in diesen, d. h. aller seiner Zustände, die den Geist ausmacht« und vom erinnerungslosen Körper unterscheidet (A VI 2, 285, 3 f.).314 Die Fähigkeit, die verinnerlichten Repräsentationen zu ver­ gegenwärtigen und aus ihrem Fundus durch Rekom2nationen, Rekon3na­ tionen usw. neue Zielvorstellungen vergleichend zu entwerfen, macht den Geist zu einem so flexiblen Bewegungsprinzip seines Leibes, daß dessen Bewegungsrichtungen für andere nicht vorhersehbar sind. Während zur Pro­ gnose des Bewegungsablaufs bei anorganischen Körpern >>lediglich die letz­ ten Bewegungstendenzen in Betracht kommendie zuvor stattgefunden haben« (ebd. 285, 22-25).3 1 5 Das nützt j edoch für eine Prognose wenig, weil die spontane Selbstorganisa­ tion der memoria, welche die conatus als die letzten körperlichen Momente assimiliert, letztlich nur ihren individuell finalen Gesetzen folgt. Schon die in­ tuitive, ohne intellektuale Reflexion ausgewählte Kombination handlungs­ produktiver Vorstellungen bildet eine zusätzliche Determinante im mechani­ schen Bewegungsgefüge, weil der Grund für das spontane Anfangen einer neuen Ereignisreihe allein in der psychischen, organisch zweckmäßigen Kau­ salität des Repräsentationszentrums liegt.3 1 6 Das rationale Abwägen von Zweckvorstellungen auf die gewichtigste hin bildet nur den Gipfel dieser te­ leologischen Überformung der Natur. Bei den >>Reflexionen« bloßer Körper ergibt sich die Richtung des Rückpralls nur aus der Addition und Subtraktion ihrer Bewegungstendenzen (282, 4 f.). Eine >>mittlere Art von Linie« wird nur dann >>ausgewählt«, wenn sich ihre richtungsverschiedenen conatus nicht hin­ reichend geometrisch zusammensetzen lassen (28 1 , 3-7). 3 1 7 Demgegenüber 3 1 3 »Vt corpus in motuum tractu, ita mentem in conatuum harmonia consistere; motum cor­ poris praesentem oriri ex praecedentium conatuum compositione; conatum mentis praesentem, id est voluntatem ex compositione harmoniarum praecedentium in vnam nouam seu voluptate« (an Arnauld, November 1 6 7 1 , A II 1, 1 73, 1 9-22). 3 1 4 »Ergo conatuum omnium retentio, imo comparationum in iis, id est omnium sui statuum. Hoc facit mentem.« 3 1 5 >> Hoc differunt actiones corporis a mente, quod in corpore non nisi postremi conatus considerantur, in mente retro omnes. « 3 1 6 Davon abgesehen, daß auch d i e Bewegungen d e r Körperwelt letztlich v o n Gott harmo­ nisch gefügt sind, kann man also hier einen weiteren »Grund« gegenüber dem blind mechani­ schen Wirken finden: >>Ratio cur aliquid sit, est, quia j am est; aut quia harmonicum est. Ex illo actiones corporum, ex hoc mentium. « (284, 1 f.) 3 1 7 »Quid vero si sint conatus inaequales ? nihilominus conservari poterunt. Eligetur aliud intermedium lineae genus. «

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besteht die spezifisch mentale >>Reflexion« bei konkurrierenden Bewegungs­ tendenzen darin, daß allererst durch kreatives Problemlösungsverhalten her­ auszufinden ist, wie zwecks Vermittlung aktual vorgegebener Richtungen zu handeln sei. Das liberum arbitrium besteht allgemein darin, daß >>der Geist aus un­ endlich vielen möglichen (Bewegungstendenzen) eine im Hinblick auf das Gegebene bestimmt [mens ex infinitis possibilibus ( conatibus) determi­ nans ad datum] « (28 1 , 1 9 f.). Ausgewählt wird derj enige conatus, >>der am meisten harmonisch ist [qui est apJlOVtKO>tato�] « (282, 9 f.). Die »Elemente des Naturrechts>moralische Macht«, weil er als einzig gegenwärtiger Retter keine anderen finden und zwingen kann, Über­ lebenshilfe zu leisten. >>Es gibt keine Überschreitung der physischen Macht von seiten der moralischen [Excessus potentiae moralis super naturalem nullus est] Fensterlosigkeit< kennzeichnet. Sie wird ihn schließlich dazu bewegen, die psychophysische Beeinflussung zur >>prästabilierten Har­ monie« umzudeuten. Weil die Frühschriften eine einzige ausführliche Dar­ legung des >Pentagons< waren, genügt ein Ausblick, um zu zeigen, daß die Verwandlung der neuen physikalischen in die neue metaphysische Hypothese die frühe Kosmologie vervollständigt, ohne sie preiszugeben.

319 3 20 Figur 32 1

»Si plures amores collineent, efficacia utriusqve componitur in unam.« Eine vektorielle Darstellung der conatus im Parallelogramm findet sich in A VI 2, 2 8 1 ,

14.

»Wenn zwei (gegeneinanderlaufende Bewegungstendenzen) gleich groß sind, wird die Wirksamkeit beider ausgelöscht [Si ( duo conatus contrarii) sint pares, extingvitur efficacia utriusqve}< ( 479, 25 ). 3 22 »Si duo amores occurrant, vincit major. « (479, 23) 3 2 3 So die treffende Formulierung von Schneiders : Naturrecht und Gerechtigkeit bei Leib­ niz, 62 1 , der diese Korollarien zur Liebesethik nur kurz streift.

D RITTER T E I L Ausblick i n eine sprechende und verklärte Welt (1686-1716)

Ein Sprung vom Werk des 26jährigen Leibniz zum reifen System zeigt, daß dieses eine Art Wiederbeseelung der Welt im Zeitalter der Berechnung ist. Das frühe Schema des Pentagons mit seiner intelligiblen Lichtsphäre ist nun universalisiert und bleibt der Schlüssel, um die eigenwillige Rehabilitie­ rung der nichtmenschlichen substantiellen Formen (die um 1 678 mit der Anerkennung einer Empfindungsfähigkeit bei Tieren beginnt) mit der rea­ listischen Minimalontologie des Mechanizismus zu vereinbaren. Die Kon­ zeption >>einfacher Substanzen« oder >>Monaden « 1 überträgt den frühen, auf die Geister eingeengten Substanzbegriff in gradualisierender Analogie auf die ganze Natur und verleiht allem eine >>Seele« und >>Perzeption « .2 In die zunächst als mechanisch beurteilte Natur werden überall metaphysi­ sche Atome\ substantielle Atome\ beseelte Punkte5 oder metaphysische Punkte6 hineingelegt. Es ist dieser Panpsychismus innerhalb der Welt­ mechanik, der in den Augen der Nachwelt so phantastisch anmutet. Im 1 Leibniz verwendet die Begriffe »einfache Substanz« und »Monade« synonym. Den Termi­ nus »Monade«, der im folgenden bevorzugt werden soll, verwendet Leibniz j edoch erst seit ei­ nem Brief an Michel Angelo Fardella vom 1 3 . September 1 696 terminologisch. Im Unterschied hierzu meint »körperliche Substanz« die lebendige Einheit einer Monade mit ihrem Leib : >>Sub­ stantiam corpoream voco, quae in substantia simplice seu monade (id est anima vel Animae ana­ logo) et unito ei corpore organico consistit. tot< macht. Ferner kann nicht als ge­ klärt gelten, inwiefern diese abgekapselten Einheiten keinerlei Kommuni­ kation miteinander haben und gleichwohl in universeller Verbindung ste­ hen sollen.8 Schließlich scheint die >Fensterlosigkeit< der Monaden auch dem Außenweltrealismus zu widersprechen, den die perspektivischen Spie­ gelungen des Universums in lebendigen Gesichts-Punkten doch vorausset­ zen. Die folgende Skizze ist ein grober, vorläufiger und in seiner Kürze gewiß anfechtbarer Versuch, d ie Einheit d ieser Probleme von d er Leibniz­

schen Frühphilosophie her in drei Schritten darzulegen und zur Diskussion zu stellen. I. Erstens ist zu skizzieren, weshalb Leibniz sein frühes Verständnis der psychophysischen Kausalität einer folgenschweren Korrektur unterwarf und eine physische Beeinflussung zwischen Körper und Seele sowie zwi­ schen Monaden verneinte. Da seine ursprünglichen Interessen an den kom­ plementären Perspektiven von mechanisch berechnender Universalma­ thematik (scientia) und religiös sinnverstehender Individualmetaphysik (pietas) hingen, mußte er beide systematisch vermitteln in einem Kausa­ litätskonzept, das eine Alternative zum influxus physicus bot. Diese Alter­ native, die Leibniz später prästabilierte Harmonie nannte, läßt sich als psychophysischer Expressionismus verstehen : Der seelische Mittelpunkt übersetzt die sinnlichen Eindrücke seines Körpers spontan in introverse Repräsentationen und umgekehrt die Regungen seiner Innenwelt in extro­ verse, körperliche Darstellungen. Diese Kausalität des Ausdrückens, die in den Frühschriften begründet wurde (s. o. 485-487), gibt der mechanisch reduzierten Welt ihre gleichsam sprechende Tiefe zurück. II. Zweitens ist die Einheit der Grundmotive zu zeigen, die Leibniz dazu brachten, das Modell des seelischen Atoms zum graduell gestuften Analo-

7 Systeme nouveau de La nature et de La communication des substances, aussi bien que de L'union qu 'iL y a entre l'ame et Le corps, GP IV 477-487. 8 Zum Aufriß des Problems vgl. Busche : FensterLosigkeit - Leibniz ' Kritik des Cartesiani­ schen •lnfluxus Physicus< und sein Gedanke der energetischen EigenkausaLität.

Die Wiederbeseelung der Welt

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gon der ganzen Natur zu machen. Die » große Analogie«9 des Seienden war auch im Zeitalter der Berechnung zu »bewahren«. 1 0 Unter der Hegemonie der bloß kausalen, partikelmechanischen Erklärungsperspektive war die Natur zu einem gespenstischen Uhrwerk ohne >inneren Sinn< verstummt. Noch bevor für die erhabene Gesellschaft der Geister das Liebesethos einer kosmopolitischen pietas proklamiert wurde, waren die animae brutorum plantarumque incorporeae nicht eben pietätvoll aus der respublica entium verbannt worden. Die zur grenzenlosen Jagd der scientia freigegebene Na­ tur war nur noch als eine zwecklose >res extensa< in den Blick gekommen, die gegen alle Teilungen gleichgültig ist wie eine unendliche Flucht wesen­ loser Schachtelpuppen. Damit war die Realität der Phänomene und der Ge­ genstand der Naturwissenschaften ebenso zum Problem geworden wie die heikle Korrespondenzbeziehung, die im theoretischen Wahrheitsanspruch des multiperspektivisch gespiegelten Universums vorauszusetzen ist. Die aktuale Unendlichkeit korrespondierender vires primitivae sollte nunmehr einen ersten Grund zur Unterscheidung der realen von bloß imaginären Er­ scheinungen abgeben. Zugleich griff Leibniz aber auf den letzten, zurei­ chenden Grund zurück, auf dem die ausgleichende justitia universalis und die christlichen Glaubensgeheimnisse ruhen. Um die »grandes difficultes de l'origine et de la duree des ames et des formes « zu vermeiden, baute er seine frühe Idee vom unzerstörbar präformierten Ätherkern der Sub­ stanz zur Dynamik der ursprünglichen Kräfte aus. 1 1 Die aktiven Zentren, die in ihrem Lichtleib inkarniert sind und sich zu organisierten Aggregaten verbinden, erklärte er zu den wahren Atomen des Universums. Weil das präetablierte Lichtreich dieses nach Existenz drängenden mundus possibilis in der Tat >>etwas mehr als eine Hypothese« (s. o. 4 1 8), nämlich eine my­ stisch theologische Deutung des Kosmos war, nannte Leibniz es vorsichtig das System der >>Monaden«. Er verzettelte das System in Tausenden von Aufzeichnungen und Briefen. Daß es sich um die Lichter vom ersten Lichte dreht, hat er auch den drängendsten Briefpartnern nur angedeutet. Die Verklärung, ja Sakralisierung des Weltmechanismus, auf die Leibniz' ver­ borgene Lichtmetaphysik hinausläuft, war mit der frühen Systemmecha­ nik der Ätherhypothese schon vorweggenommen worden (s. o. 446-448). 9 Von d e r » grande analogie« zwischen Mensch, Tier u n d Pflanze spricht Leibniz in den

Nouveaux Essais (II 9, § 1 1 , A VI 6, 1 39, 2; ähnlich lii 1 0, § 1 4, ebd. 343, 2 1 ).

10 »Meae enuntiationes universales esse solent, et servare analogiam« (an des Bosses, 1 1 . Juli 1 706, GP II 3 1 1 ) . 1 1 U m diesen Schwierigkeiten z u entkommen, müsse man annehmen, »que !es formes con­ stitutives des substances ayent este creees avec le monde, et qu' eil es subsistent tousjours« (Systeme nouveau, GP IV 479).

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Dritter Teil · Ausblick in eine sprechende und verklärte Welt ( 1 686- 1 7 1 6)

Der zur Erklärung von Stoß, Schwere und Elastizität postulierte spiritus mundi mit seinem fließenden Licht im Stoffwechsel des kosmischen corpus mysticum hatte die finale Deutungsperspektive zur harmonischen Allkon­ spiration entgrenzt. Da der späte Leibniz in die Kreisläufe des Äthers über­ all metaphysische Punkte einzeichnete, konnte er die Phänomene bewah­ ren, ihren Status j edoch völlig neu auslegen. Weil die Analogie der Natur überall ein analogum animae1 2 verlangte, wurde die wissenschaftliche prae­ sumtio juris zugunsten des Finalismus umgekehrt. Die Beweislast fiel nun den Leugnern der Tierseelen zu. 1 3 Somit konnten weiterhin alle körperli­ chen Bewegungen mechanisch erklärt werden. Das kausale Erklären selbst aber konnte wieder beurteilt werden als eine methodisch reduzierende Be­ trachtung der Natur, die im Interesse an Berechenbarkeit weitgehend von der sprachlichen Wurzel der wahren Wirklichkeit, d. h. von der Einmalig­ keit, Sinnhaftigkeit und Spontaneität eines expressiven Geschehens abstra­ hiert. 111. Drittens ist die mystische Einheit von Theologie und Kosmologie, die der frühe Leibniz in seiner »neuen physikalischen Hypothese« grund­ legte, auch für die metaphysische Hypothese seines >>neuen Systems« offen­ zulegen. Die vollständige Durchdringung des Reiches der Macht vom Reich der Weisheit entspricht dem kosmischen Kreislauf des Äthers, der als himmlische Lichtmaterie das Dunkel der Erde durchströmt. Der Äther ist das Medium der Allgegenwart und regulären Mitwirkung Gottes in der Welt, über das auch den Geistern die Gnade mitgeteilt wird. In den Harmonien des Spiritus oder Pneuma, die der Schöpfer durch den Abgrund seiner Schöpfung haucht, wird alles lebendig. In seinen erschaffenen beseel­ ten Spiegeln bündelt sich der Glanz des ungeschaffenen Lichtes, in seinen individuellen Ausdrücken drückt das ewige allgemeine Wort seine Herr­ lichkeit aus. Alle drei Linien zur Rekonstruktion des perspektivischen Universums sind vom frühen Leibniz aus entwickelt und neu. Um diese Linien deutlich hervortreten zu lassen und nicht durch Einzelheiten zu verstellen, ist es an­ gezeigt, das seit Leibniz' Pariser Zeit hinzukommende verwickelte Motiv­ geflecht und die diesbezügliche Forschungsliteratur auszublenden, obwohl beides berücksichtigt wurde. 1 2 Vgl. insbesondere GP li 1 7 1 , 270; GP IV 395 f., 5 1 2; GP VII 3 1 4, 3 1 5, 501 , 502. 1 3 » Idque confirmat ipsa rerum analogia. Cum enim in brutis omnia quoad perceptionem et sensum perinde se habeant ac in homine, et natura uniformis sit in varietate sua, uniformis quoad principia, varia quoad modos: verosimile est brutis etiam perceptionem inesse, immo praesumuntur b ruta perceptione praedita, donec contrarium probetur. « (Zur Seele der Tiere, GP VII 329)

>Fensterlose< Spontaneität und Leiblichkeit

I.

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D I E P E R S P E KT I V I S C H E VE R M ITTLU N G VON > F E N ST E RL O S E R< S P O NTAN E I TÄT U N D L E I B L I C H K E I T I M P SY C H O P H Y S I S C H E N E X P R E S S I O N I S M U S

Um die >>Summe der DingeMonadenaggregat< syn­ thetisiert, nochmals ergänzt werden durch eine dritte Perspektive, die in seiner Frühphilosophie kaum aufgetreten war. Sie kann als solipsistische Im­ manenzperspektive bezeichnet werden, weil sie im metaphysischen Ge­ sichts-Punkt verbleibt, ohne einen obj ektivierenden B ezug auf das ihm Äu­ ßerliche herzustellen, sei dies der eigene Leib oder eine andere Monade. Die finale Deutungsperspektive der expressiven Punkte wird j etzt zur übergrei­ fenden, vermittelnden lntegralperspektive, welche die kausal-mechanische Erklärungsperspektive und die solipsistische Immanenzperspektive zu un­ selbständigen Aspekten herabsetzt. Leibniz charakterisiert den solipsisti­ schen Standpunkt der isolierten Monade als >Fensterlosigkeit>kein Mittel zu erklären, wie der Körper etwas in der Seele geschehen lassen kann, oder 1 4 »Ego vero nihil aliud ubique et per omnia pono quam quod in nostra anima in multis ca­ sibus admittibus omnes, nempe mutationes internas spontaneas, atque ita uno mentis ictu totam rerum summam exhaurio . « (An de Volder, [ 1 705], GP II 276)

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umgekehrt « . 1 5 Was keine gemeinsame Natur hat, kann sich nicht wechsel­ seitig etwas kommunizieren oder einflößen. 2. Das zweite Argument gegen eine unmittelbare psychophysische Wechselwirkung war schon beim frü­ hen Leibniz angeklungen (s. o. 498) und betrifft v. a. die extroverse Richtung des Einfließens. Es ist nicht bloß »inconcevable «, wie die für sich werk­ zeuglose Seele in die Bewegung der spiritus anima/es des Gehirns eingreifen könnte. 1 6 Vielmehr ist schon diese Vorstellung ein Relikt magischen Den­ kens, das aus der Wissenschaft zu verbannen ist, auch wenn sie im Alltag pragmatisch sinnvoll bleibt. Könnte ein Geist bloß durch >Willenskraftfensterlosen< Seele liegt also in einer radikalen Selbstkritik. Sie betrifft aber nur die bisherige Auffassung der Kausalität zwischen dem Erlebniszentrum und dem physischen Aktionszentrum der Entelechie, in dem die neuronalen Impulse zusammenlaufen. Dagegen ent­ hielt die wechselseitige Repräsentation, die Leibniz zwischen den conatus der Innen- und der Außenwelt konstatiert hatte (s. o. 476-500), bereits die Alternative zum Konzept der psychophysischen Wechselwirkung. Diese war bloß zu einer Kausalität der richtungsverschiedenen Überset­ zung umzudeuten. Der >>parallelisme parfait entre ce qui passe dans l'ame et entre ce qui arrive dans Ia matiere« blieb weiterhin zu postulieren, da auch der intellectus ipse bei seinen abstrakten Gedanken gewisser Zeichen für die Einbildungskraft ( »images ou traces materielles «) bedarf, die ein Korrelat im Gehirn haben. Die Übersetzung zwischen den >>fonctions de l'ame« und den >>fonctions des organes « muß daher >>reciproque« sein.20 Somit können alle schematischen Verdeutlichungen der Körperfunktio­ nen durch das Pentagon, insbesondere die Lichtreflexionen bei der visio und intellectio in der sphaera intellectus, beibehalten werden. Allerdings sind j etzt auch die species sensibiles so zu deuten, daß sie nicht mehr un­ mittelbar von außen >in< den Intellekt einfallen oder eingedrückt werden. Vielmehr werden auch sie spontan vom erlebenden Mittelpunkt des Be­ wußtseins erzeugt, wenn auch vermittels spiritueller Eindrücke von Licht­ strahlen ins innere Sensorium. Was das gewöhnliche System der Beeinflus ­ sung für hinreichende Ursachen b e i einer >Bestimmung d es B ewußtseins
merklich berührt« werden, damit die Seele >>mit Hilfe des Gedächtnisses « zunächst in Zeichen übersetzen kann, >>was ihr Gehirn und ihre Organe mit Hilfe des Buches finden«, um die Erinnerun­ gen dann individuell moduliert in Äußerungen des Gesanges rückzuüber­ setzen.46 Mit der Idee des wechselseitigen psychophysischen Expressionismus wird die Psychologie des Bewußten relativiert. Weil den geringsten Bewe­ gungen des Körpers dunkle Perzeptionen entsprechen, bilden Leib und Seele eine ständig aktive Ganzheit47, die mittelbar von allen Veränderungen des Universums betroffen wird und sich sinnhaft zu ihnen verhält. Das In­ dividuum webt seine charakteristische Einheit durch die Vernetzung auch dieser zahllosen dunklen >>Spuren oder Ausdrücke« .48 Ferner werden durch

43 »J'avoue qu'il ne depend pas de l'ame de se donner tousjours des sentiments qui luy plai­ sent, puisque !es sentimens qu'elle aura, dependent de ceux qu'elle a eus« (Addition a l'explica­ tion du systeme nouveau, GP IV 579). 44 Vgl. hierzu Leibniz' Erläuterungen in den Nouveaux Essais zur Assoziation der Ideen ei­ nerseits, 11 33, A VI 6, 270 f., und zum Urteil, zur Wahrscheinlichkeit, zu den Graden der Zu­ stimmung und zur Vernunft andererseits, IV 1 4- 1 7, ebd. 456-495. 45 >>Anima interne quidem sine corporum adminiculo operari potest, sed non extra. Semper tarnen ejus actionibus internis externa in corporibus respondent.« (An des Bosses, 3 1 . Juli 1 709, GP II 378) 4 6 V gl. Extrait du Dictionnaire de M. Bayle article Rorarius, GP IV 549 f. Leibniz greift den Vergleich von Bayle auf. 47 Wegen der ständigen »tourbillons internes« des Körpers darf man folgern, daß auch die Seele niemals »sans perception« ist. (Nouveaux Essais II 1, § 9, A VI 6, 1 1 1 f.) 4 8 »Ces perceptions insensibles marquent encore et constituent le meme individu, qui est ca­ racterise par !es traces (ou expressions), qu' elles conservent des estats precedens de cet individu, en faisant Ia connexion avec son estat presentFensterlose< Spontaneität und Leiblichkeit

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das >> L'ame doit exprimer l e corps«49 die finale Eigengesetzlichkeit des See­ lischen, die mechanische Erklärbarkeit des Körpers und die Phänomene ihrer wechselseitigen Bedingtheit gewahrt.50 Die Seele erhielte ohne einen Leib, der mittelbar >>das ganze Universum ausdrückt«51, gar keine introver­ sen Repräsentationen52; und der Körper wäre ohne Seele kein Realaus­ druck, sondern bloß eine stumme res extensa, die keine Sinnzusammen­ hänge >>symbolisiert«. 53 Entsprechendes folgt für die Kausalität zwischen Individuen. Daß Mona­ den >>keinerlei Kommunikation miteinander«54 oder >>Einwirkung>in metaphysischer Strenge«56 eine weitreichende Einsicht. Lebewesen können nur auf dasj enige reagieren, was zu ihrer spezi­ fischen Merkwelt gehört. Menschen können sich nicht gegenseitig Gedanken und Empfindungen einflößen. Sonst könnte etwa einem Blindgeborenen mit­ geteilt werden, was erlebte Farbe ist. Kommuniziert werden können vielmehr immer nur Lichtstrahlen, Schallwellen usw., nicht aber subjektive Akte oder Bedeutungen. Ein Individuum gibt dem anderen nicht erst im Reden und Handeln, sondern durch seine ganze leibliche Erscheinung mehr oder weni­ ger deutliche Äußerungen oder Zeichen, die von diesem spontan in einen see­ lischen Ausdruck rückübersetzt und mit einer gewissen Bedeutung besetzt werdenY Spricht eine Seele, so spricht schon die Seele nicht mehr, sondern ihr Leib. Die Erlebniswelten beider Individuen verbleiben in ihrer >ultima so49 Addition a l'explication du systeme nouveau, GP IV 579. 50 »Et tout cela fait voir, comment on peut dire d'un coste que l'ame et le corps sont inde­ pendans l'un de l'autre, et de l 'autre coste que l'un est incomplet sans l'autre, puisque naturel­ lement l 'un n'est j amais sans l 'autre.« (Addition a l'explication du systeme nouveau, GP IV 573) Auf diese Weise findet die psychophysische »dependence mutuelle« ihren »sens veritable et phi­ losophique« (Essais de Theodicee 66, GP VI 1 3 8). 5 1 »Et comme ce corps exprime tout l'univers par Ia connexion de toute Ia matiere dans le plein, l 'ame represente aussi tout l'univers en representant ce corps, qui luy appartient d'une ma­ niere particuliere« (Monadologie 62, GP VI 6 1 7). 5 2 »Selon moy l'office de l'ame en partie est d'exprimer son corps. Sans le corps, sans !es or­ ganes eile ne seroit pas ce qu' eile est« (an Jaquelot, nach September 1 704, GP VI 570). 53 » Les composes symbolisent [ . . . ] !es simples« (Monadologie 6 1 , GP VI 6 1 7). 54 Das Systeme nouveau spricht von »substances qui n'ont point de communication ensem­ ble« (GP IV 486). 55 »Une substance particuliere n'agit j amais sur une autre substance particuliere et n'en patit non plus« (Discours de metaphysique 1 4, GP IV 440). 5 6 Leibniz' Neues System formuliert die Probleme » dans Ia rigueur de Ia verite metaphysi­ que« (GP IV 453), »a Ia rigueur metaphysique« (ebd. 475) oder »selon Ia rigueur metaphysique« (ebd. 483). 57 Hier liegt eine große Nähe des Leibnizschen Expressionismus zum Ansatz von Simon: Philosophie des Zeichens, insb. 76-84 u. 278-282. Die Differenz liegt u. a. darin, daß Sirnon die metaphysische Belastung des Begriffs der Repräsentation reflektiert und sich von j eder on­ tologischen Standpunktnahme freihält.

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litudoerklärt< werden soll. Am Maßstab seiner zurei­ chenden Bestimmung läßt sich zugleich die Abstraktheit unserer prädizierten Ursachen ermessen. Zwar läßt sich allgemein unterscheiden zwischen einem Verhalten, das durch konfuse, sinnlich bedingte Repräsentationen direkt aus­ gelöst wird, und willkürlichen Handlungen, die einen hohen Grad an begriff­ lich deutlicher Reflexion, damit aber an begründeter Selbstfestlegung65 und somit an Vollkommenheit oder Freiheit gegenüber dem Körper ausdrük­ ken.66 Wie j edoch z. B. die Kausalverhältnisse zwischen zwei Individuen im 5 8 Ähnlich deutet auch Lenders : Die Verwendung des Terminus •Kommunikation< bei Leib­ niz und Wolf[, 1 9-22, das Leibnizsche Theorem der »communicatio substantiarum>Zeichen«, ohne daß es zu einem >>Übertragen« von >>Eigenschaften« »von einer Monade in eine andere« komme. 59 »Je crois [ . . ] qu'il est tres vray de dire que !es substances agissent !es unes sur !es autres, pourveu qu'on entende que l'une est cause des changemens dans l'autre en consequence des loix de ! 'Harmonie« ( Eclaircissemem du nouveau systeme, GP IV 495). Ähnlich Nouveaux Essais III 3, § 6, A VI 6, 290. 60 >>Car j e tiens que non seulement l'ame et le corps, mais encor toutes !es autres substances creees de l'univers sont faites l'une pour l'autre, et s'expriment mutuellement, quoyque l'une se rapporte plus Oll moins mediatement a l 'autre selon !es degres du rapport. « (Addition a l'expli­ cation du systeme nouveau, GP IV 578) 6 ! Die »influence ideale d'une Monade sur l'autre« unterscheidet sich von der »influence physique« nur dadurch, daß sie keine direkte Einwirkung »sur l'interieur de l'autre« bedeutet (Monadologie 5 1 , GP VI 6 1 5). 62 An Jaquelot, um September 1 704, GP VI 570. Sowohl die psychophysische als auch die intermonadische Wechselbedingtheit kann metaphysisch heißen, da stets der übersetzende me­ taphysische Punkt im Spiele ist. 63 »Modificationes unius Monadis sunt causae ideales modificationum alterius monadis« (an des Bosses, 24. Januar 1 71 3, GP II 475). 64 Leibniz macht dieses Wortspiel im Brief an des Bosses, 19. August 1 7 1 5 : »Addo, et super­ fluum esse influxum, cur enim det monas monadi quod jam habet ? « (GP II 503) 6 5 »Eo major est libertas, quo magis agitur ex ratione, et eo major est servitus, quo magis agi­ tur ex animi passionibus. Nam quatenus agimus ex ratione, eo magis sequimur perfectionem no­ strae naturae; quo vero magis ex passionibus agimus, eo magis servimus potentiae rerum extra­ nearum.« (Definitionen zur Scientia generalis, GP VII 1 09) 66 »Car en tant que l 'ame a de Ia perfection, et des pensees distinctes, Dieu a accommode le corps a l'ame, et a fait par avance que le corps est pousse a executer ses ordres: et en tant que .

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einzelnen beurteilt werden, hängt bereits vom bestimmten Standpunkt des Beurteilenden ab : Wie weit läßt sich die reflektierte Spontaneität beider Indi­ viduen in kausal-mechanischer Erklärungsperspektive auf eine körperliche Bedingtheit reduzieren, ohne daß die final verstehende Deutungsperspektive beansprucht werden muß ?67 Leibniz behauptet zu Recht, durch seine Hypothese des psychophysi­ schen Repräsentationsgeschehens die »parfaite independance« der Seele aufgewiesen zu haben wie kein System zuvor.68 Das Postulat der »Harmo­ nie pn!-etablie entre les modifications de l'ame et du corps«69 ist sein Ver­ such, eine >>hypothese possible« für alle j ene Phänomene der Kausalität zu finden70 und dabei die >>correspondance entre l' Ame et le corps« als eine ewige Staunenswürdigkeit anzuerkennen, ohne daß sie ein unnatürli­ ches Wunder wäre.71 Trotz der Zusammengehörigkeit der introversen und extroversen Übersetzungsrichtung behandelt Leibniz die leiblichen Reprä­ sentationen bei weitem nicht so ausführlich wie die seelischen. Ein Grund hierfür liegt darin, daß zu den leiblichen Ausdrucksphänomenen, die in der psychosomatischen Diagnostik wichtig sind, auch unwillkürliche Regun­ gen wie das nervöse Kratzen an den Fingernägeln zählen, das gelegentlich beim angestrengten Nachdenken auftritt (s. o. 486). Die Deutung solcher Symptome führt alsbald zu unüberprüfbaren Unterstellungen. So lebens­ bedeutsam solche Deutungen sind, so sehr verleiten sie in der Kausal­ forschung zum Mißbrauch, sobald den unwillkürlichen Körperspannungen eigenständige seelische >Ursachen< zugeschrieben werd en. Mit gleichem Recht könnte man dann den Durst, den die Pflanzenseele im finalen Ana­ logieschema durch ihre welken Blätter ausdrückt, in der kausalen Erklärung zu einer Wirkursache hypostasieren. Leibniz' Wissenschaftsideal hingegen besteht darin, selbst die Affekte und Krankheiten so weit wie möglich me­ chanisch abzuleiten.72 Auf der Skala bedingter Freiheit reicht es aus, die l 'ame est imparfaite, et que ses perceptions sont confuses, Dieu a accommode l 'ame au corps, en sorte que l 'ame se laisse incliner par !es passions qui naissent des representations corporelles« (Essais de Theodicee 66). Vgl. Monadologie 49, GP VI 6 1 5; auch GP III 636. 6 7 So verstehe ich die lakonischen Bemerkungen im Discours de metaphysique 1 5, GP IV 440 f., in den Essais de Theodicee 66, GP VI 1 39, und in der Monadologie 52, GP VI 6 1 5 . 6 8 Vgl. Systeme nouveau, G P I V 485. 6 9 An Hartsoeker, 30. Oktober 1 7 1 0, GP III 509. 70 Vgl. das Eclaircissement zur Ausräumung von Bayles Schwierigkeiten mit dem Systeme nouveau, GP IV 5 1 8 . 7 1 Sie sei eine » merveille perpetuelle«, nicht aber ein »miracle perpetuelle« (Fünftes Schrei­ ben an Clarke, GP VII 4 1 2). Der Discours de metaphysique 33 spricht vom »grand mystere de l'union de l'ame et du corps« (GP IV 458). 72 Vgl. Hartmann u. Krüger: Directiones ad rem medicam pertinentes. Ein Manuskript G. W: Leibnizens aus den Jahren 1671112 über die Medizin, insb. 4 1 , 57 u. 6 1 .

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Leibbewegungen von da an als »akkommodierte« Ausdrücke von Seeli­ schem zu verstehen, wo die Seele »als von außen handelnd begriffen wird«.73 Daß Leibniz vorwiegend die Übersetzung körperlicher Eindrücke in seelische Ausdrücke zum Thema macht, hat einen weiteren Grund. Von dieser introversen Übersetzungsrichtung hängt nämlich die Antwort auf die Frage ab, wie sich trotz der >Fensterlosigkeit< überhaupt von einer Erkennt­ nisrelation sprechen läßt. Um darzulegen, wie Leibniz im Rahmen der drei abstrakten Perspektiven durchaus einen empirischen Realismus bewahrt, ist im folgenden die Expression der Außenwelt in der Innenwelt zu verdeutli­ chen. Die Kapitel II und III zeigen dann, wie die kosmotheologische Deu­ tungsebene das scheinbar zauberlose Faktum einer materiellen Außenwelt ins Mysterium verwandelt. Indem Leibniz den prästabilierten psychophysischen Expressionismus analog auf die ganze Natur überträgt, depotenziert er die Perspektiven des kausal-mechanischen Erklärens und der solipsistischen Erlebnisimma­ nenz zu zwei notwendigen, aber für sich unzureichenden Aspekten der fi­ nalen Deutungsperspektive. Indem diese die als mechanisch beurteilte Rea­ lität der Phänomene vom intelligiblen Punkt her versteht, sucht sie die Monade in der Welt mit der Welt in der Monade zu vermitteln, den Stand­ punkt der modernen Naturwissenschaften mit dem Standpunkt der neu­ zeitlichen Subj ektivität. Dabei bleibt aber die monadische lmmanenzper­ spektive, durch die Leibniz das aristotelische anima est quodammodo omnia im Horizont des cartesischen Substanzdualismus auslegt, stets als kritisches Korrektiv im Hintergrund erhalten. Denn sie hält die Erinnerung fest, daß auch das kausale Erklären und das finale Deuten zunächst zwei Perspektiven einer Monade sind. Sofern die Erlebnisimmanenz j edoch ge­ genüber der Wirklichkeit anderer leibgebundener Monaden auch kausal ab­ solutgesetzt wird, verliert sie ihre kritische Macht. Aus der dritten, final in­ tegrierenden Perspektive der psychophysischen Harmonie betrachtet ist sie dann eine bloße >>fiction metaphysique«, die den » ordre des choses« nicht mehr kohärent deuten kann, weil sie isolierte seelische Innenwelten >>sans connexion« einräumt.74 Für die Deutung der Außenwelt als Monadenall 73 >>Et cette nature de l'ame estant representative de l'univers d'une maniere tres exacte (quoyque plus ou moins distincte), Ia suite des representations que l 'ame se produit, repondra naturellement a Ia suite des changemens de l'univers meme: comme en echange lc corps a aussi este accommode a l'ame, pour !es rencontres ou eile est con�ue comme agissante au dehors« (Systeme nouveau, GP IV 485). 74 Das betont Leibniz gerade in den Erläuterungen zum Systeme nouveau, GP IV 5 1 9. Daß die Seele auch unabhängig von anderen korrespondierenden Körpern dieselben aktualen Emp­ findungen hätte, ist nur eine methodische >>Fiktion«, die zeigen soll, daß die gegenwärtigen Per­ zeptionen sich aus den vergangenen entwickeln (ebd. 5 1 7 u. 577 f.).

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muß sie ähnlich aufgehoben werden wie die >physische Fiktion< der Einflö­ ßung, die dem verabsolutierten mechanischen Erklären entspringt.75 Im Rahmen dieser drei abstrakten Perspektiven hat Leibniz die in der Frühphilosophie begründete Analogie zwischen Sonne und Apperzeptions­ punkt zu einer >Copernikanischen Wende< ausgeweitet, die in der For­ schung noch kaum gedeutet ist.76 Wie die heliozentrische Weltperspektive des Kopernikus das geozentrische Weltsystem relativiert hat, so soll das Neue System der harmoniae praestabilitae hypothesis die alte Vorstellung der psychophysischen und intermonadischen Beeinflussung auf den philo­ sophischen Standpunkt heben. Die Absolutheit der Ich-Sonne, um die sich alles dreht, ist nur eine der drei Perspektiven, die im Monadenall zu vermitteln sind. Deshalb darf die Integralperspektive, die mit der >> Genau­ igkeit metaphysischer Wahrheiten« die >>Weite und Unabhängigkeit unserer Seeledurch die Kraft, die er j eder Substanz verliehen hat> Kraft oder Ten­ denz>die sie ihren Körper ausdrücken läßt>expressive>bei Gelegenheit>in der Ordnung der NaturErklärung< der Wahrnehmungen, die Leibniz auf der Ebene der Zweitursachen gibt, um die schlechte Mythologie der physischen Ein­ flößung zu ersetzen. 86 Sein Rekurs auf die Erstursache, welche alle Perzep­ tionsfolgen letzlieh prästabilisierend programmiert hat, bietet zwar eine zu78 Leibniz war wohl der erste, der Malebranche und andere Neukartesianer » occasionali­ stae« genannt hat (an de Volder, 10. November 1 703, GP II 257). 79 Systeme nouveau, GP IV 494; vgl. GP I 383. Die folgenden Zitate ohne Werkangabe fin­ den sich alle in dieser Hauptschrift mit ihren Erklärungen und Zusätzen. 80 »Ür c'est tousjours Dieu qui donne ces sentimens : il le fait immediatement dans le systeme des causes occasionnelles; il le fait mediatement par Ia nature qu'il a establie dans !es deux autres systemes« (GP IV 579). Vgl. ebd. 580. 81 Nach dem richtigen Verständnis gelte, »Ce systeme nouveau differe seulement de celuy des causes occasionnelles en ce que Dieu dans le nouveau systeme ne produit !es impressions que mediatement, par Ia force qu'il a donnee a chaque substance« (GP IV 578). Die »Sensations« können »non pas immediatement« von Gott kommen, es sei denn durch die allgemeine, konti­ nuierliche Emanation (ebd. 573). 82 Leibniz spricht von der nature expressive der Seele (GP III 70; 72; 342). 83 »Cependant on peut dire que Ie sentiment agreable d'une chaleur moderee, et Je sentiment douleureux d'une chaleur excessive sont egalement representatifs des mouvemens de Ia matiere« (GP IV 575). 84 »Et en effect nostre ame a tousjours en eile Ia qualite de se representer quelque nature ou forme que ce soit, quand l 'occasion se presente d'y penser. « (Discours de metaphysique 26, GP IV 45 1 ) So aktualisieren wir z. B . Wahrnehmungen von Sonne und Sternen »dans le temps que nos sens sont disposes d'une certaine maniere« (ebd. 28, GP IV 453; vgl. A VI 6, 50, 1 3). 8 5 »II est vray que Dieu n 'a pas besoin du corps, absolument parlam, pour donner a l'ame les sentimens qu 'elle a, mais il en a besoin pour agir dans ! 'ordre de Ia nature qu'il a etablie, ayant donne a l 'ame des le commencement et une fois pour toutes cette force ou tendance qui Ia fait exprimer son corps. « (GP IV 5 74) 86 »Sa nature«, nämlich der Seele, »est d'exprimer le corps, ce que j e mets a Ia place des in­ fluences du corps« (GP IV 583).

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sätzliche Gelegenheit für eine pulcherrrima divinitatis comprobatio 8 7, >er­ klärt< j edoch ebensowenig wie der Okkasionalismus. Auch Leibniz postu­ liert · für die Empfindungen >Causae occasionales>nichts weniger als überna­ türlich>eine natürliche und gewöhnliche Sacheganz natürlicher Effekt>repräsentierenden Natur>dasj enige ausdrücken muß, was in ihrem Körper [ . . ] und in gewisser Weisein allen anderen Körpern geschiehtNa­ tur der Seeleaus ihrem eigenen Grunde>in vollkommener Übereinstimmung mit den Dingen außerhalb>Widerhall